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Der Rebell (Projekt Stellar Buch 4): LitRPG-Serie
Der Rebell (Projekt Stellar Buch 4): LitRPG-Serie
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Ebook490 pages7 hours

Der Rebell (Projekt Stellar Buch 4): LitRPG-Serie

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About this ebook

"In einem Körper oder körperlos, tot oder lebendig, ungeachtet meiner momentanen Gestalt und Verkleidung schwöre ich hiermit, mich stets dem Bösen entgegenzustellen und der Furcht zu trotzen, um die Menschheit zu beschützen..."

Sobald Greys wahre Identität ans Licht kommt, breitet der gewaltige Schatten seiner Vergangenheit in seinem Rücken die Flügel aus und ruft die unsterblichen Truppen auf die Esplanade, um den uralten Eid der Ersten Legion zu erfüllen.

Doch Macht wird nur ungern geteilt, und in dieser Hinsicht stellen die Archons der Stadt keine Ausnahme dar. Grey und seine Anhänger werden als Rebellen und Verräter bezichtigt, und es kommt zu einem Bruderkrieg in der letzten Zuflucht der Menschen...
LanguageDeutsch
Release dateMay 30, 2022
ISBN9788076195714
Der Rebell (Projekt Stellar Buch 4): LitRPG-Serie

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    Book preview

    Der Rebell (Projekt Stellar Buch 4) - Roman Prokofiev

    Alice

    »WIR SIND DA«, sagte Arachne.

    Die zackigen, schwarzen Klippen des Heiligtums der Geister – einer der gefährlichsten A-Zonen – ragten über ihnen auf. Nach allem, was Alice gehört hatte, war dies früher eine uralte unterirdische Festung im Besitz geheimnisvoller Inkarnatoren gewesen, an deren Namen sich niemand mehr erinnern konnte. Später hatte es hier offenbar einen heftigen Ausbruch gegeben, dessen Konsequenzen bis heute zu spüren waren.

    Alice schnüffelte, und ihre gestaltwandlerischen Instinkte merkten auf. Das monotone Pulsieren der A-Strahlung, die Klänge, die Gerüche und ihr Bauchgefühl, all das sagte ihr: Verschwinde auf der Stelle von hier!

    Inzwischen waren Alice und Arachne schon seit einer Weile allein unterwegs. Normale Menschen wagten sich nicht zu weit in dieses Gebiet hinein. Der Konvoi war weit hinter ihnen zurückgeblieben und hatte sein Lager im Vorgebirge aufgeschlagen. Alice war davon überzeugt, dass sie den weiten Weg aus einem bestimmten Grund zurückgelegt hatten. Sie planten irgendetwas. Hier braute sich eindeutig etwas zusammen.

    Alice hatte auch mehrere neue Besessene im Konvoi bemerkt: Äther, Kaira und Gremlin. Sie hatte ihre Spitznamen gehört und beobachtet, wie sie nach Lust und Laune kamen und gingen. Die drei schienen sie zu ignorieren. Letzten Endes war sie eben doch nur Arachnes Gefangene.

    Es machte also den Anschein, als hätte der Tod von Gnarl und Evyl die Pläne der Besessenen nicht allzu sehr beeinflusst. Alice zweifelte nicht daran, dass sie die ganze Zeit eifrig an etwas arbeiteten. Sie hatte mitbekommen, wie seltsam aussehende Fremde mitten in der Nacht zum Konvoi stießen. Sie hatte beobachtet, wie unbekannte, nicht mechanisierte Karawanen entladen wurden. Sie hatte den Geruch von Stahl und frischem Waffenöl in der Luft wahrgenommen – sowie den Hauch eines anderen Geruchs, gefährlich und derart schmerzhaft vertraut, dass sich ihr die Nackenhaare sträubten.

    Aber jetzt war sie wieder frei. Arachne hatte ihr sogar einen Teil ihrer konfiszierten Ausrüstung zurückgegeben. Die ehemalige Gestaltwandlerin hätte schon vor langer Zeit fliehen können, und doch hatte sie es bisher nicht getan. Es war Arachne gelungen, sie davon zu überzeugen, dass sich ihre Wege aus gutem Grund gekreuzt hatten und dass sie sie nun direkt zu Grey führten.

    Daher hatte Alice diesem neuen Deal zugestimmt, ohne zu zögern, auch wenn das bedeutete, dass sie ihren Cogitor – ihren gerade erst wiedergefunden Richie – deaktivieren und auf seine Unterstützung verzichten musste, um keinen neuen Verweis vom Stellar-System zu erhalten.

    Im Augenblick waren sie auf der Suche nach jemandem, der den uralten Flügelanzug reparieren konnte.

    »Wir sind da«, wiederholte Arachne und leckte sich nervös die schmalen Lippen.

    Ein Schwarm durchschimmernder Leeren schwebte träge in der Luft über riesigen, schiefen Türen. Einst mochten sie hermetisch verschlossen gewesen sein, doch jetzt sahen sie aus, als wären sie von einer unbekannten Kraft aufgerissen worden, die das Metall wie eine Ziehharmonika verbogen hatte.

    Dunkelheit war hinter einem schmalen Spalt am Eingang zu erkennen, und darin lauerten Kreaturen, die weitaus mächtiger waren als die Leere-Phantome, die ihn bewachten. Alice schürzte die Lippen, ohne es überhaupt zu bemerken.

    »Keine Sorge, sie werden uns nichts tun«, murmelte Arachne und spähte in die Finsternis. »Er weiß bereits, dass wir hier sind.«

    Sie klang allerdings nicht sehr überzeugt. Schließlich hatten sie auch keinen Verzauberer bei sich, und A-Monster stellten selbst für erfahrene Inkarnatoren eine ernsthafte Gefahr dar.

    Dennoch blieb ihnen keine andere Wahl. Dies war die Heimstatt desjenigen, der Engels Flügelanzug reparieren konnte.

    Alice und Arachne zwängten sich durch die zerstörte Tür. Die Leeren zeigten keinerlei Reaktion und setzten ihren lautlosen Tanz fort.

    Ein breiter Korridor schnitt sich durch den Fels und führte nach unten. Alice konnte an den Wänden Buchstaben und Zahlen erkennen, die seltsame Kombinationen bildeten. Dieser Ort musste früher als Utopia erbaut worden sein, viel früher.

    »Das war mal eine Forschungsanlage«, erklärte Arachne leise. »Eine von vielen. Sein Lager ist weiter unten. Komm mit.«

    Sie setzten ihren Weg durch die feuchte Dunkelheit fort. Hier konnten die alten Steine noch immer den einstigen Ausbruch bezeugen. Die gesamte Anlage wurde von A-Kreaturen heimgesucht. Lebewesen, die hier nichts zu suchen hatten. Alice wäre hier niemals allein reingegangen. Derartige Ausbrüche von A-Energie von jenseits des Randes blieben noch Jahre und Jahrzehnte später tödlich.

    Hin und wieder gabelte sich der Gang. Sie kamen an drei weiteren einst hermetisch versiegelten Eingängen vorbei, die entweder zertrümmert oder blockiert worden waren, wodurch der Eindruck entstand, dass hier irgendwelche Riesenmonster versucht hatten, sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen, wobei sie alles zertrümmert hatten, was ihnen in die Quere gekommen war.

    Die irrationale, erstickende Angst, die in der Gegenwart von A-Kreaturen stets vorhanden war, wurde immer intensiver. Seltsamerweise erwiesen sich die Leeren nicht als aggressiv. Offenbar beheimatete dieser Ort Monster eines weitaus größeren Kalibers, denen sie mit jedem weiteren Schritt näher kamen. Die Finsternis nahm ein Eigenleben an und ließ fantastische Schatten an den Wänden tanzen, während etwas Immaterielles und doch vollkommen Reales in den Tiefen erwachte.

    »Warte«, flüsterte Arachne. »Beweg dich nicht. Bitte greif es nicht an.«

    Sie schien sich zu fürchten. Was immer da in der Dunkelheit gelauert hatte, schien auf sie zugekommen zu sein und sie zu umringen.

    Die beiden Frauen erstarrten und beobachteten den Tanz der verzerrten Schatten der unsichtbaren Kreatur. Oder waren es mehrere? Man musste kein Verzauberer sein, um das lähmende Entsetzen zu spüren, das sie ausstrahlten.

    Eiskalte Panik schnürte Alice die Kehle zu. Ihr stockte der Atem. Das war etwas Vertrautes, und es ähnelte stark dem Gefühl, das das Biest ihr vermittelt hatte, schien nur unendlich intensiver zu sein.

    Nach einigen Momenten lautloser Inspektion zog die Präsenz sich in den Schatten zurück, als hätte sie auf irgendeine Weise herausgefunden, dass die Frauen berechtigt waren, sich hier aufzuhalten – oder als hätte sie einen stillen Befehl von jemand anderem erhalten.

    Nun fühlten sie sich etwas besser. Der unsichtbare Griff schwand von Alices Kehle, und sie konnte wieder atmen.

    »Was zum Teufel war das?«, fragte sie heiser.

    Arachne wischte sich mit einem Zeigefinger einen Schweißtropfen von der Stirn. »Das ist eine Art Wache«, antwortete sie leise. »Entweder ein Teufel oder ein Ahriman. Ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall sorgt die Kreatur dafür, dass hier keine Fremden hereinkommen. Davon gibt es hier eine Menge. Aber sie werden uns nichts tun.«

    »Hier gibt es überhaupt keine lebendigen Kreaturen«, murmelte Alice und sah sich nervös um. »Die hat es hier auch nie gegeben. Nur Monster. Geister. Sie sind überall. Warum sind wir hergekommen? Sag es mir.«

    Arachne lächelte. »Du bist schlau. Hier lebt in der Tat niemand. Das ist nur ein Zugangspunkt. Einer von vielen. Wir sind gleich da.«

    Nach einer Weile waren sie endlich angekommen. Das Labyrinth aus Korridoren hatte sie zu einem großen Raum mit eingestürzter Decke geführt, auf dessen Boden sich Müllberge türmten, deren Umrisse noch immer uralte Hightechausrüstung erkennen ließen. Ein rundes, schwarzes Podest befand sich in der Mitte, das durch Streifen aus altem, verfärbtem Metall in mehrere Abschnitte unterteilt war. Das Podest wirkte ebenso beschädigt und ungenutzt wie alles andere hier, doch sobald Arachne eine unsichtbare Tafel mit ihrem Generalschlüssel berührte, schimmerte im Inneren des schwarzen Steins ein blassblaues Azur-Licht.

    Alice hatte so etwas schon einmal gesehen. Das war ein extradimensionales Gerät: ein Eingang zu einem selbst geschaffenen Miniuniversum. Zu Zeiten von Utopia hatten die Menschen angefangen, das Konzept des Pseudo-Riemannschen Raums zu erforschen, und hatten sogar gelernt, selbst Cryptoren herzustellen. Dennoch verblassten ihre Errungenschaften im Vergleich zu der Meisterschaft, mit der die Shea ganze Welten erschufen. Damals hatte Prometheus die Geheimnisse ihrer Xeno-Technologien beherrscht und daher derart unglaubliche Gebilde wie die Monolithen, den Würfel und das Testgelände bauen können.

    Das hier war etwas Ähnliches. Ein Zugangspunkt zu einem Ort, der sich möglicherweise mehrere tausend Kilometer weit entfernt befand. Trotzdem konnte die Tatsache, dass dieser uralte Translokator an genau dieser Stelle der verlassenen uralten Festung errichtet worden war, nur eins bedeuten …

    Alice bekam nicht die Gelegenheit, diesen Gedankengang zu beenden. Arachne schien die Geduld verloren zu haben, denn sie verpasste ihr einen Stoß in den Rücken, durch den sie gezwungen war, hindurchzugehen.

    Grelles Sonnenlicht schien ihr in die Augen, das sie nach den dunklen Tunneln zuerst einmal blendete. Mit ihrem ausgeprägten Geruchssinn nahm sie sofort das Aroma von frischer Erde, Pflanzen und sehr vielen Lebewesen, durchsetzt von Metall, Plastik und Glas wahr. Vögel zwitscherten, Insekten summten, riesige Schmetterlinge flatterten über ihren Köpfen.

    Alice schaute sich um. Ein seltsamer Ort. Er wirkte wie eine Mischung aus einem Regenwald, einem riesigen Gewächshaus und einem Hightechlabor. Das trügerische natürliche Licht wurde in Wirklichkeit von einer blendend weißen Kuppeldecke erzeugt.

    Vage Erinnerungen stiegen in ihr auf. Sie hatte etwas Ähnliches schon einmal gesehen, in ihrem längst vergessenen früheren Leben, in dem das Sonnenlicht durch die verspiegelten Kuppeln der Ökostädte gedrungen war, deren gläserne Wolkenkratzer man üppig begrünt hatte und deren komplexe roboterhafte Maschinen in Koexistenz mit all den Pflanzen lebte. Sämtliche umweltfreundlichen utopianischen Arkologien ähnelten diesem Ort.

    Ihr A-Zähler pulsierte, und der blaue Balken füllte sich langsam, aber stetig. Bisher hatte sie die Quelle der A-Strahlung nicht ausmachen können. Es kam ihr fast so vor, als würde alles um sie herum Azur ausatmen.

    »Da wären wir«, sagte Arachne und atmete die frische Luft tief ein.

    Ranken überwucherten alles um sie herum. Sehr viele ungewöhnliche Pflanzen wuchsen in den unzähligen Töpfen entlang der Wände. Bunte Fische schwammen in riesigen, durchsichtigen Wasserblasen, die schwerelos in der Luft unter der weißen Kuppel schwebten und deren Bewegungen von unsichtbaren Energiestrahlen gesteuert wurden.

    Ein großer Schmetterling mit samtigen, rotschwarzen Flügeln landete auf Alices Hand. Sie erstarrte augenblicklich und spürte die seltsam stachlige Aura. Dies war ein Azur-Insekt, von dem ein mächtiges, außerweltliches Wesen Besitz ergriffen hatte. Man sah auf den ersten Blick, dass das Monster absichtlich in den Schmetterling verpflanzt worden war, genau wie man Alice vor langer Zeit das Biest eingesetzt hatte.

    »Fass sie nicht an, und sie lassen dich in Ruhe«, warnte Arachne sie.

    Wie sich herausstellte, waren sämtliche anderen Bewohner dieses Ortes genauso. Sie gaben alle dieselbe A-Strahlung ab und dienten alle als Wirt unterschiedlicher Geister. Einige mächtige Verzauberer hatten in früherer Zeit A-Kreaturen eingefangen und sie gezwungen, ihren neuen Meistern zu dienen. Einige Inkas konnten sogar mit Azur-Kreaturen kommunizieren. Dennoch hatte Alice noch nie von Animaturgen gehört, die derart meisterhaft mit Kreaturen von jenseits des Randes umgehen konnten.

    Oder doch? Wieder einmal drangen alte Erinnerungen an die Oberfläche – all jene finsteren Hinweise und geflüsterten Namen. Für sie bestand kein Zweifel daran, dass es unter den Anführern der Schwarzen Rose, die vor so vielen Jahren Experimente an ihr durchgeführt hatte, einige abtrünnige Inkas gegeben haben musste. Zudem waren dort auch mehrere andersdenkende Inkas gewesen, die weder zu einer der Gruppen oder einem der Clans der Stadt noch zu den Besessenen gehört hatten. Zu jener Zeit hatte die Erste Legion alle Hebel in Bewegung gesetzt, um die loyalen Inkas unter dem Banner von Stellar zu vereinen, und darüber hinaus alles versucht, um jeden auszulöschen, den sie als gefährlich für ihre Sache einstufte – was nichts daran geändert hatte, dass auch noch Jahrzehnte später neuer Streit an höchst unerwarteten Orten entbrannt war.

    Ein schmaler Pfad führte sie zu einer Freifläche, bei der es sich um eine kleine Erholungszone zu handeln schien. Alice beobachtete erstaunt, wie die Luft bebte und ein kleiner, runder Tisch mit drei Stühlen erschien.

    Ein Mann materialisierte sich auf einer der Sitzgelegenheiten.

    Ein Mann? Als er den Kopf drehte und Alice seine Augen sah, fing sie vor Wut und Furcht an zu beben. Er war weder Mensch noch Besessener. Auch wenn sie zweifellos einen Inkarnator vor sich hatte, konnte ihr Interface ihn einfach nicht identifizieren.

    ???

    A-Mensch

    Inkarnator

    Klasse: Lilith

    Endlich hatte ihr Interface sich entschieden. Vor ihr saß ein Lilith. So nannte man Menschen, die von Azur-Wesen übernommen worden waren.

    Genau das hatte man auch bei Alice versucht, als ihr das Biest eingesetzt worden war. Doch dieses Experiment war gescheitert. Wahre Liliths besaßen die vollständige Kontrolle über ihren Wirtskörper. Sie waren oftmals empfindungsfähig und äußerst gefährlich. Im Grunde genommen handelte es sich bei ihnen um Dämonen von jenseits des Randes, die menschlich aussahen. Indem sie in die Gemeinden der Menschen eindrangen, konnten sie unermessliche Schäden anrichten. Alice hatte von Fällen gehört, bei denen ihr Einfluss ganze Gesellschaften in Horden blutrünstiger Fanatiker verwandelt hatte.

    Der Mann wirkte nicht gefährlich. Er war groß und schlank, hatte glattes, schwarzes Haar und dünne, zarte Finger. Obwohl er einfache, schwarze Kleidung und keine Waffen trug, war er aufgrund seiner unglaublich starken Azur-Aura zweifellos als der hiesige Boss zu erkennen. Dies war die Kreatur, die Arachne aufsuchen wollte, um den Flügelanzug reparieren zu lassen.

    Ein Mundwinkel des Mannes verzog sich zu einem Lächeln. »Alice van der Heiden. Wie ich sehe, hat sich das Problem mit deiner Bestie erledigt. Das war ein interessantes Experiment.«

    »Wer bist du?«, stieß Alice krächzend hervor.

    Er hatte sie erkannt. Offensichtlich hatte er sie schon einmal gesehen. Er wusste vom Biest. Dann musste er etwas mit der Schwarzen Rose zu tun gehabt haben – oder war er sogar einer derjenigen, die das Experiment durchgeführt hatten?

    Eine Woge aus aufgestauter Wut stieg in ihr empor, so schwer und unlogisch, da Alice ganz genau wusste, dass sie ihm nicht gewachsen war. Er musste nur mit einer Augenbraue zucken, und schon würde sie von allen Geistern in der Nähe in Stücke gerissen.

    »Du hast bestimmt viele Fragen, nicht wahr? Zorn, einen alten Groll, das Verlangen nach Rache?« Der Mann schüttelte den Kopf. »Wer ich bin? Man kennt mich unter vielen Namen, und sehr viele davon sind längst in Vergessenheit geraten – oder wurden mit Absicht ausgelöscht. Einer davon lautete Leftie.«

    Leftie! Einer von Prometheus' drei Schülern, der geheimnisvollste von ihnen, der ebenso unerwartet verschwunden war, wie er zuvor aufgetaucht war. Alice wusste kaum etwas über diesen Inka, abgesehen von der Tatsache, dass einige seiner anomalen Erfindungen damals für einigen Aufruhr gesorgt hatten. Zwar diente er nicht der Stadt, gehörte jedoch auch nicht der Opposition an. Dennoch hatte die Legion eine beachtliche Summe für jegliche Informationen über seinen Aufenthaltsort ausgesetzt.

    »Du bist kein Mensch.«

    »Du auch nicht. Und jetzt beruhige dich wieder und setz dich. Dein Interface hat mich längst identifiziert, nicht wahr? Und es stimmt, ich bin in der Tat ein Lilith und basiere auf einem Azur-Wesen, das man als Ahriman bezeichnen würde – aber ich habe besagten Ahriman unter Kontrolle. Ich bin der Meister und nutzte nur seine Macht.«

    »Das ist nicht möglich!«

    »Oh doch, das ist es. Du warst eine der weniger glücklichen Testpersonen, während du mit mir das erfolgreiche Resultat desselben Experiments vor dir hast. Nach und nach ist es uns durch wissenschaftliches Herumprobieren gelungen, das Unmögliche zu erreichen.«

    »Schwarze Rose? Du?«, zischte Alice und weigerte sich, seine Einladung anzunehmen, sich hinzusetzen.

    »Die Schwarze Rose wurde schon vor langer Zeit durch Castors Gruppe eliminiert«, erwiderte Leftie, ohne mit der Wimper zu zucken. »Lass die Vergangenheit doch ruhen. Du hast bestimmt vom Schicksal der Schwarzen Prinzessin gehört, nicht wahr?«

    »Warum hast du dir das angetan?«

    Der Mann zuckte mit den Achseln. »Aus Neugier, würde ich behaupten. So viele neue Möglichkeiten. Der Rand und das Azur selbst sind die ursprünglichen Bausteine, aus denen dieses Universum errichtet wurde. Um sie zu studieren, sind wir gezwungen, alternative Methoden anzuwenden. Verstehst du, was ich meine?«

    »Nein. Warum musstest du …?« Alice drehte sich zu Arachne um, die warnend einen Finger auf die Lippen presste und sich anmutig auf dem Stuhl dem Mann gegenüber niederließ, um provokant mit den Wimpern zu klimpern.

    »Arachne, bitte. Lass es gut sein«, sagte Leftie, als hätte er sie erst jetzt zur Kenntnis genommen. »Deine kleinen Tricks ziehen bei mir nicht, und das weißt du auch. Warum hast du um dieses Treffen gebeten?«

    »Du bist der Einzige, der uns vielleicht helfen kann«, gestand Arachne.

    Leftie seufzte schwer. »Dann kommen wir mal zum Geschäft.« Er hielt wartend inne. »Und? Arachne? Ich bin ganz Ohr.«

    Statt ihm etwas zu sagen, rief Arachne ein Hologramm von Engels Flügeln über dem Tisch auf. Die durchscheinende Silhouette des uralten Exoanzugs leuchtete scharlachrot, und sämtliche Risse waren deutlich zu erkennen.

    »Von Engel«, murmelte der Mann träge. »Ein modifizierter Ikarus, Klasse Alpha plus. Prometheus' Werk. Er unterscheidet sich nicht so sehr vom Original. Die einzigen Abweichungen sind das Material, die A-Quelle des Anzugs und darüber hinaus die Kampfmodifikation, besser bekannt als Flügel. Er ist allerdings schwer beschädigt, wie ich sehe.«

    »Du musst ihn reparieren«, verlangte Arachne.

    »Ach, muss ich das? Zuerst einmal würde ich dafür einige wertvolle Ressourcen benötigen.« Er verlagerte seine Position auf dem Stuhl. »Außerdem bezweifle ich, dass du mich für diese Aufgabe überhaupt bezahlen kannst.«

    »Dieser Anzug ist für einen Inkarnator gedacht«, sagte Arachne langsam, »und du wirst ihn gratis reparieren. Als Geschenk … oder möglicherweise als Lösegeld?«

    »Als Lösegeld? Höchst interessant.« Leftie zog fragend eine Augenbraue hoch. »Und wer ist dieser geheimnisvolle Inka, wenn ich fragen darf? Der einzige Name, der mir da einfallen will, ist der von Prometheus, meinem alten Feind und Mentor.«

    Arachne schüttelte den Kopf. »Damit liegst du fast richtig, aber nicht ganz.« Sie beäugte ihn nachdenklich. »Ich werde dir jetzt die Ergebnisse meiner Nachforschungen zeigen, und danach setzen wir uns zusammen und überlegen uns, wie wir diesen Mist wieder in Ordnung bringen.«

    1

    DER KAMPF GEGEN RAVEN war endlich vorbei. Die drei Inkas der Sonnenaufgangs-Kampfgruppe starrten mich an. Oder vielmehr meinen Handschuh aus Blauem Stahl.

    Prometheus' Handschuh. Seine legendäre rechte Hand, das Zeichen des Großlegaten und ein Symbol der Macht, die er einst zum Herrschen und Bestrafen, Zerstören und Erschaffen genutzt hatte. Er war einfach unverwechselbar. Ein wahres Kunstwerk, das an ein Teil einer mittelalterlichen Rüstung erinnerte und dessen elegante Form die darin verborgenen fortschrittlichen Technologien erahnen ließ. Es machte fast den Anschein, als wäre er für Kreaturen entwickelt worden, die weitaus weiter entwickelt waren als Menschen. Tatsächlich wirkte er an der Hand eines Menschen fast wie ein Fremdkörper.

    Ich hatte die Werte und Funktionen des Gegenstands bereits überprüft. Der Handschuh bot eine ganze Bandbreite neuer Möglichkeiten, die ich alle in einem ruhigeren Moment genauer unter die Lupe nehmen wollte.

    Konfiguration

    L-Feld

    Translokations-Cryptor

    Analysator

    Die wichtigste Eigenschaft des Handschuhs war eindeutig »Schlüssel«, die es dem Besitzer erlaubte, den Nukleus zu betreten und die Kontrolle über das Stellar-System zu übernehmen.

    »Dann stimmt es also«, sagte Helios heiser. »Sie sind wirklich zurück.«

    Mein aktiviertes Psi-Feld ermöglichte es mir, ihre Gefühle zu spüren. Corvins Aura leuchtete hell und zuversichtlich und vermittelte mir seine Entschlossenheit und seinen Tatendrang. Helios gab eine Mischung aus Erleichterung und stockender Hoffnung ab, während Sentry eine fast schon abergläubische Furcht an den Tag legte.

    Ich nickte ihnen knapp zu und versuchte mich an einem Lächeln. Mein letztes Neuralsiegel hatte soeben die Wahrheit enthüllt.

    Bei meinem Vorgänger handelte es sich in der Tat um den Anführer der Ersten Legion und den legendären Gründer der Stadt. Ich wollte es nur ungern glauben, denn Prometheus' letzte Worte hatten mir eine enorme Verantwortung aufgebürdet.

    »Das ist zweifellos Prometheus' authentischer Handschuh«, stellte Sentry fest. »Aber wie ist das überhaupt möglich?«

    »Er ist Prometheus«, krächzte Corvin. »Allerdings wurde sein Gedächtnis gelöscht. Jetzt begreift ihr, dass ich recht hatte, nicht wahr? Alles fügt sich nun zusammen!«

    »Ich verstehe es noch immer nicht«, murmelte Sentry. »Du kannst sagen, was du willst, aber Großlegate sind die Einzigen, die ihre Ausrüstung nutzen können!«

    Da hatte er vollkommen recht. Ein Inkarnator, der kein Großlegat war, hätte den Handschuh nicht anfassen dürfen. Aber Prometheus schien ihn modifiziert und die Systemeinschränkungen entfernt zu haben. Wahrscheinlich hatte er vorhergesehen, dass es notwendig werden würde, sich komplett zurückzusetzen, und dafür sorgen wollen, dass der Gegenstand auch von jemandem mit niedrigerem Rang eingesetzt werden konnte – entweder von sich selbst oder einer dritten Partei. Als ich ihn aufgehoben hatte, musste sich der DNA-Schlüssel zurückgesetzt haben, sodass der Handschuh nun mir allein gehörte.

    »Stimmt«, erwiderte ich. »Er ist authentisch. Allem Anschein nach hat Prometheus ihn angepasst und die Beschränkungen entfernt.«

    »Warum reden Sie in der dritten Person von ihm? Sie sind doch Prometheus, oder nicht?«

    »Nein!«, fauchte ich und fügte hastig hinzu: »Es macht den Anschein, als wäre ich in der Vergangenheit er gewesen. Doch er existiert nicht mehr.«

    »Und wie sollen wir Sie heute nennen?«, wollte Helios leise wissen.

    »Grey«, antwortete ich. »Ich bin jetzt Grey.«

    Die Inkarnatoren tauschten einen Blick. Corvin nickte knapp. Helios nahm den Helm ab und fuhr sich durch das zerzauste blonde Haar. Sie sah zwar anders aus als im Bauch der Scilla, doch ihre abgehackten Bewegungen hatten sich nicht verändert.

    »Mit oder ohne Körper, tot oder lebendig …«, begann Helios und sah mir in die Augen.

    Sentry fuhr prompt fort: »… ungeachtet meiner aktuellen Gestalt oder Erscheinung, schwöre ich hiermit, mich stets dem Bösen entgegenzustellen …«

    »… und der Angst zu trotzen, um die Menschheit zu beschützen«, schloss Corvin in demselben Tonfall und stützte sich auf dem Griff seines Nothung-Schwerts.

    Auf einmal wurde mir bewusst, dass ich soeben den uralten Schwur der Ersten Legion vernommen hatte. Dieser war sehr lange Zeit nicht mehr ausgesprochen worden. Doch nun kamen den ersten drei Inkarnatoren abermals diese Worte über die Lippen, die in die Podeste so vieler Denkmäler eingraviert waren. Das ließ mich darauf hoffen, diese strahlende Woge, die sich nun in den Herzen dieser unsterblichen Krieger ausbreitete, auch andernorts wiederbeleben zu können.

    Einige kurze Augenblicke lang konnte ich mich durch ihre Augen sehen – und erschauderte, als mir das gesamte Ausmaß des riesigen Schattens bewusst wurde, der nun immer in meinem Rücken lauern würde.

    »Wir erkennen Sie an«, sagte Helios, »und wir halten unseren Eid.«

    »Offen gesagt gehen mir tausend Fragen durch den Kopf, die ich Ihnen gern stellen würde.« Sentry stand wieder auf. »Wie in aller Welt haben Sie überlebt? Corvin hat uns das Video gezeigt, aber das erklärt noch lange nicht alles. Wie sind Sie auf dem Schwarzen Mond gelandet? Wie kommt es, dass keiner der Besessenen, denen die Rückkehr gelungen ist, Sie je erwähnt hat?«

    »Und vor allem: Was haben Sie jetzt vor?«, fügte Helios an.

    »Das ist eine lange Geschichte«, erwiderte ich. »Zuerst muss ich zum Zentralterminal gelangen und den Stellar-Nukleus betreten. Wisst ihr, wo er sich befindet? Könnt ihr mir helfen?«

    Helios nickte. »Klar. Unsere Fragen können warten. Aber wir sollten das hier erst einmal zu Ende bringen und es ins Freie schaffen. Haben Sie Raven gesichert?«

    Von ihm war ziemlich wenig übrig geblieben. Der berühmte Vernichter der Besessenen war kaum mehr als ein paar blutige Fetzen auf den Felsen und Klippen um uns herum. Sentry setzte seine Telekinese-Fähigkeit ein, um Ravens Gewehr aufzuheben, das durch die Explosion weggeschleudert worden war. Der Lauf war aus einem leuchtenden Kristallstück geschaffen worden, den Kolben zierten komplexe Schnitzereien.

    »Im Turm liegen auch noch seine Dolche«, sagte ich, da mir seine Silberkrallen wieder einfielen. Zwar konnte man sie nicht berühren, ohne seine Hände mit Nekrose zu beflecken, aber als Technomant war Sentry bestimmt in der Lage, den DNA-Schlüssel auf irgendeine Weise zu deaktivieren. »Ihre Namen sind Ruin, Elend …«

    »… Kummer, Gift und Pein«, beendete Corvin den Satz für mich. »Ich gehe sie holen.«

    »Es ist nicht mehr viel Azur übrig. Und es gibt nur noch drei Genome.« Sentry beäugte mich fragend.

    Mir wurde bewusst, dass sie auf meine Entscheidung warteten, weil ich derjenige war, der bei unserem Sieg über Raven die entscheidende Rolle gespielt hatte.

    »Es gehört alles euch«, erklärte ich achselzuckend. »Ohne eure Hilfe hätte Raven mich garantiert erledigt.«

    »Aber wenn Sie sich nicht eingemischt hätten, wären wir alle von ihm erledigt worden«, widersprach Helios. »So funktioniert das nicht. Sie haben den Weg eines Verzauberers eingeschlagen, nicht wahr? Das hier ist ein äußerst interessantes Azur-Genom, das Sie sich mal genauer anschauen sollten.«

    Alle Genome, die Raven gedroppt hatte, waren großartig – doch bedauerlicherweise eignete sich keines davon für meinen niedrigen Rang. Zwei von ihnen, darunter Adaption, konnten nur von Corvin genutzt werden. Das dritte war hingegen in leuchtendem Blassblau eingerahmt.

    Miko warf aufgeregt die Hände in die Luft.

    Foglers Genom

    Typ: Azur

    Anziehung: Ermöglicht es Ihnen, unbewusst andere biologische Wesen mithilfe Ihrer Psi-Aktivität anzuziehen. Die Intensität der Fähigkeit hängt von der Stärke Ihrer Quelle ab.

    Anforderungen:

    Quelle (15)

    Neuronukleus

    Fähigkeitstyp: Aktiv

    Psychokinese: Ermöglicht es Ihnen, Materie durch Gedankenkraft zu manipulieren. Die Intensität der Fähigkeit hängt von der Stärke Ihrer Quelle ab.

    Anforderungen:

    Quelle (10)

    Thalamus-Upgrade (5)

    Neuronukleus

    Fähigkeitstyp: Aktiv. Die genauen Azur-Kosten hängen von der Form, dem Gewicht und der Größe der manipulierten Objekte ab.

    Exozytose von Ektoplasma. Ermöglicht es Ihren Körperzellen, Ektoplasma abzugeben, um Materie aufzulösen und in A-Energie zu verwandeln.

    Anforderungen:

    Hautgewebe-Upgrade (5)

    Quelle (5)

    Metabolismus-Upgrade (5)

    Neuronukleus

    »Denk nicht mal daran, dieses Angebot abzulehnen, Inkarnator! Dieses Genom ist genau wie Anführer des Rudels, weil es direkt mit der Macht der Quelle korreliert, und das ist unsere Trumpfkarte. Sie könnten eine wundervolle Synergie bilden, die unser Potenzial deutlich vergrößern würde.«

    »Meinst du Psychokinese, Miko? Ist das nicht dasselbe wie Telekinese?«

    »Nein, das ist viel besser! Das Potenzial ist ungemein größer und beinhaltet sogar die Elementarkontrolle. Denk nicht so lange darüber nach. Greif zu!«

    Sie war derart beharrlich, dass ich nickte und ihrem Flehen nachgab.

    Mit einem zufriedenen Grinsen schnippte Helios mit dem Finger und schickte mir das Icon des Genoms. Das blassblaue Bild der DNA-Spirale verschwand mit leichtem Kribbeln in meiner Handfläche.

    »Wie kommen wir hier wieder raus?«, wollte ich wissen.

    »Der Ausgang muss von außen aktiviert werden«, antwortete Sentry. »Wir wollten auf Nummer sicher gehen für den Fall, dass Raven uns alle erledigt. Aber draußen steht jemand, der uns helfen kann.«

    »Selbstverständlich für einen gewissen Preis.« Corvin schmunzelte. »Sie sind ihm schon begegnet.«

    Es stellte sich als sehr einfach heraus, hier wieder wegzukommen. Wir materialisierten uns schlichtweg auf den Translokatorplattformen, die den schwarzen Monolithen des Testgeländes umgaben.

    Dichter schwarzer Rauch hing in der Luft. Der Eingang zum Testgelände, den Corvin gehackt hatte, war nur noch ein Klumpen aus geschmolzenem Metall, das sich zu einem spiralförmigen Knoten verfestigt hatte und aussah, als wäre er von innen mit einem Schweißbrenner ausgehärtet worden. Das war zweifellos Helios' Werk gewesen. Im Moment hämmerte jemand dagegen und versuchte verzweifelt, hineinzugelangen.

    Zu meiner großen Überraschung sah ich die vertraute Gestalt und das ebenso vertraute Grinsen des Bosses der Katzen am Kontrollterminal stehen.

    »Danke, dass Sie meine Bitte erfüllt haben«, sagte Corvin und trat vom Podest.

    Der Mann zuckte mit den Achseln. »Sie sollten lieber ihm danken.« Er deutete mit dem Kopf auf mich. »Was tut man nicht alles für einen weiteren kleinen Klumpen Azurid?« Er nahm mich genauer in Augenschein. »Ich bin sehr froh darüber, dass mein Bauchgefühl mich nicht getrogen hat. Wie sagt ihr in der Legion doch immer? Ave, Cäsar!« Er machte eine Geste, die an den Legionärssalut erinnerte.

    »Bitte nicht«, knurrte Helios ernst. »Sie haben Prometheus ebenfalls einen Eid geleistet.«

    »Das ist korrekt. Disziplin lag mir noch nie.« Die Katze nickte und setzte die Kapuze auf. »Übrigens wartet ein Empfangskomitee auf Sie.«

    »Wie meinen Sie das?«, fauchte Helios.

    Er zuckte mit den Achseln. »Ich bin nicht lange genug geblieben, um es mir genauer anzusehen, vermute jedoch, dass es sich um Tallstar handelt. Was immer Sie auch vorhaben, so schlage ich vor, dass Sie sich in Bewegung setzen, da die Archons bereits unterwegs sind. Wir sollten unsere Rechnungen also lieber ein anderes Mal begleichen. Sie kennen mich ja, ich verabschiede mich nie …«

    Er trat auf die Wand zu und verschwand, wurde einfach vom Schatten verschluckt. Sein Psi-Feld löste sich in Nichts auf.

    Ich begriff es nicht. Bedeutete das, dass dieser gerissene Händler aus dem Mercada-Laden ebenfalls ein Inkarnator war und ein perfides Katz-und-Maus-Spiel mit mir spielte?

    »Wer ist er?«, fragte ich.

    »Ein alter Fuchs.« Corvin grinste. »Aber er erweist sich von Zeit zu Zeit aus durchaus nützlich. Sie sollten ihn im Auge behalten, Grey. Und jetzt geht alle zur Seite. Ich werde uns eine Tür schaffen.« Er zog sein Schwert und betrachtete den versperrten Eingang.

    Nach mehreren Schlägen gab der geschmolzene Klumpen seiner unglaublichen Waffe nach. Er schnitt ein Stück heraus, das auf der anderen Seite klappernd zu Boden fiel und die draußen wartenden Legionäre beinahe verletzte.

    Im Korridor wimmelte es bereits von bis an die Zähne bewaffneten Unsterblichen. Wir sahen uns einer Reihe an Waffenmündungen gegenüber, die auf uns gerichtet war. Der Sturmtrupp wurde von einem großen, dünnen Inka mit eindeutig asiatischer Augenform angeführt. Sein gefährlicher bionischer Achilles-Exoanzug ließ einen Krieger vermuten, was von meinem Interface sofort bestätigt wurde.

    Oscar »Tallstar« Mikoyami

    100 % Übereinstimmung

    A-Mensch

    Inkarnator

    Krieger

    Der silberne Stern eines Legaten glänzte hell auf seiner Schulter und sicherte dort das schwarze Cape der Unsterblichen-Kohorte. Er trat vor.

    »Halt!«, bellte er. »Was geht hier vor sich, Helios? Warum musstet ihr das Testgelände öffnen? Was ist mit Raven?«

    »Wir haben hier aufgeräumt«, erwiderte Helios und verharrte an Ort und Stelle. »Raven ist tot. Wir haben ihm den Rest gegeben. Gehen Sie ruhig rein und vergewissern Sie sich, wenn Sie wollen. Sie können Ihren Sturmtrupp wegschicken, Oscar. Die Leute werden hier nicht benötigt.«

    »Und geben Sie den Weg frei«, verlangte Corvin.

    »Das können Sie vergessen!«, entgegnete Oscar. »Ich habe Anweisungen vom Rat der Archons und einen persönlichen Befehl von Furius. Diese Person«, er richtete den Blick auf mich, »ist verhaftet.«

    Corvin schnaubte. »Diese Befehle können Sie den Archons jetzt in den Hintern schieben!«

    »Was haben Sie gesagt?«

    »Sie haben mich schon verstanden! Gehen Sie mir aus dem Weg! Sie kennen mich, ich bin kein Grünschnabel mehr und werde es nicht noch einmal sagen!«

    Die Spitze von Corvins Schwert schwebte dicht vor Oscars Gesicht. Corvin war in einer angespannten Kampfhaltung erstarrt.

    Die Unsterblichen, die den Eingang umringten, regten sich, während Oscar leicht zurückzuckte.

    »Was hat das zu bedeuten?«, stieß er mühsam hervor. »Was stimmt nicht mit Ihnen? Dieser Mann ist ein Feind der Legion!«

    »Das ist eine Lüge! Ich bin der Legion nicht feindlich gesinnt«, erklärte ich und trat vor.

    Ich legte die linke Hand auf Corvins Schulter, um seiner Impulsivität Einhalt zu gebieten. Danach holte ich die andere Hand unter dem Umhang hervor und enthüllte Prometheus' Handschuh.

    »Falls Sie dieses Objekt wiedererkennen, Oscar – falls Sie es alle erkennen …« Ich hob leicht die Stimme und ließ den Blick über die reglosen Legionäre schweifen. »Dann befehle ich Ihnen, uns passieren zu lassen.«

    Während ich das sagte, intensivierte ich die Kraft meines Psi-Felds. Weder die Unsterblichen noch Tallstar waren auf einen mentalen Angriff vorbereitet – und der Anblick des Handschuhs zeigte ebenfalls Wirkung. Widerstrebend setzten sie sich in Bewegung und machten einen Weg frei. Oscar musste Prometheus' Werk erkannt haben, da er mit offenem Mund verblüfft zurückwich, ohne den Blick vom Handschuh abzuwenden, als würde er befürchten, damit geschlagen zu werden. Angesichts seiner Gefühle hatte er früher einmal die Auswirkungen seines Zorns mit angesehen und verspürte nicht das geringste Verlangen, das nächste Opfer der Macht dieses Gegenstands zu werden.

    »Aus dem Weg«, wiederholte Corvin und betonte jede Silbe.

    Es funktionierte. Oscars Willenskraft gab nach wie ein Stahlrohr, das zu großem Druck ausgesetzt wurde. Der Legat der Unsterblichen machte uns still Platz.

    Wir gingen an ihnen vorbei und den langen Gang hinunter, der zu dem mir inzwischen vertrauten zentralen Fahrstuhl führte, dessen Schacht die gesamte Höhe des Arsenals entlangführte.

    »Die Archons werden nicht so einfach nachgeben«, merkte Helios nervös an. »Haben Sie einen Plan, Grey?«

    »Wir müssen zum Zentralterminal und Stellar-Nukleus«, betete ich herunter.

    »Warum?«

    »Das ist die Aufgabe, die ich von Prometheus erhalten habe. Aus diesem Grund ließ er den Handschuh im Turm zurück.«

    »Dann sollten wir uns beeilen.« Sie kaute auf der Unterlippe herum. »Die Vögelchen der Archons sind garantiert schon auf dem Weg hierher.«

    »Na, super.« Corvin kniff die Augen zusammen. »Ich träume schon seit Jahren von diesem Moment. Es wird Zeit, dass wir dieses Schlangennest endlich ausräuchern.«

    »Ja, aber die Schlangen haben noch nicht ihr ganzes Gift verspritzt. Bringen wir es hinter uns.«

    Zum Glück funktionierte der Fahrstuhl noch. Wir fuhren mehrere Minuten lang nach unten, bis die Kabine aus dem Schacht glitt und am Rand einer zylindrischen Höhle entlangglitt, die in eine mehrstöckige Anlage verwandelt worden war.

    Da ging mir ein Licht auf. Das war das unterirdische Silo, das ich in Prometheus' Vision gesehen hatte und in dem die Blauer Vogel damals untergebracht gewesen war. Ich hatte also richtig vermutete, dass es sich direkt im Herzen der Stadt befand, gut verborgen tief unter der Esplanade, dem Arsenal und dem Nadelturm. Es machte den Anschein, als wäre das Silo mehrmals neu gebaut worden und hatte sich so in einen mehrstufigen Bunker verwandelt. Tausende Tonnen verstärktes Plastik und ein robustes mehrstöckiges Gerüst schützten das Herz der Stadt. Das Zentralterminal von Stellar, das hier vor neugierigen Blicken geschützt war.

    Doch der kolossale Bunker sah tot und ungenutzt aus. In meiner Vision war rings um die Blauer Vogel eine Menge los gewesen. Nun herrschte hier Dunkelheit, die nur

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