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S.

Döpke - Anna und die fliegende


Weihnachtspyramide
( eine Hörbuchversion von diesem Text gibt es auch auf der
Seite www.youtube.com/SD4785 )

1. Die Entdeckung
Die Schatten der Nacht waren längst aus all ihren Ecken und
Ritzen hervorgekrochen, als Anna vor der Haustür ihres
Wohnblocks angekommen war. Aufgeregt wühlte sie in den
Taschen ihres längst zu klein gewordenen Anoraks nach dem
Schlüssel. Sie wollte so schnell wie möglich hinein, denn ein
kalter Wind wehte an diesem Tag durch das Land, der sie bis
unter die Haut ausgekühlt hatte. Dummerweise konnte sie ihn
ausgerechnet jetzt nicht finden.
So ein Mist! Dann musste sie wohl bei ihrem Nachbarn
klingeln, einem alten grimmigen Herrn, der sich ständig
aufregte, wenn man ein klein wenig zu laut das Radio anstellte
und ihn dabei beim Mittagsschlaf störte. Immer wenn man ihm
im Treppenhaus oder auf dem Hof begegnete, wurde sein
bitterböses Gesicht noch finsterer. Aber das tat er bei anderen
Leuten auch. Es schien, als würde er alle Menschen dieser Welt
abgrundtief hassen.
Dort wollte Anna auf keinen Fall klingeln, aber bei der netten
Frau Schmidt konnte sie nicht klingeln, denn die war vor
kurzem zu ihrer Tochter nach Braunschweig gefahren, wo sie
die Weihnachtszeit verbringen wollte.
Aber was würde sie dort oben schon erwarten?
Nichts als eine kleine, kalte und hässliche Wohnung. Es würde
lange Zeit dauern, bis es dort oben warm wurde. Da konnte sie
genauso gut hier unten auf dem Hof auf ihre Mutter warten.
Wenn sie zusammen hineingingen, würde es dort wenigstens
nicht ganz so leer und trostlos sein. Außerdem musste sie nach
der Haustür auch noch die Wohnungstür öffnen und da hätte ihr
auch keiner der Nachbarn helfen können. Nur der Hausmeister,
ein äußerst unangenehmer, älterer Herr, der sich ständig über
seine viele Arbeit beschwerte und keine Kinder leiden konnte,
weil sie im Treppenhaus die Wände beschmierten und überall
ihren Kaugummi hinklebten.
Anna schlenderte über den Hof, wo das letzte Herbstlaub auf
den pfeifenden Windböen umhertanzte. Sie fror noch ein wenig
mehr und auch die vielen Lichterketten, Weihnachts- und
Schneemänner, die ihr aus allen Fenstern so warm und hell
entgegenleuchteten, konnten daran nichts ändern. Sie erinnerte
sich an einen singenden Weihnachtsbaum, den sie im Kaufhaus
gesehen hatte. Der Kitsch schien in dieser Weihnachtszeit
wieder einmal grenzenlos zu sein und alles Dunkle und
Grausame zu überdecken, als gebe es kein Leid auf der Welt.
Ihr eigenes Fenster war dagegen völlig dunkel. Nicht einmal
die kleinste Kerze leuchtete ihr entgegen, als ob dort überhaupt
niemand wohnte. Sie ging schnell weiter.
Vor dem Nachbarhaus waren eine Mutter und ihre Tochter
gerade dabei, einen Weihnachtsbaum vom Autodach zu
nehmen. Zwei kleine Jungs hopsten und sprangen singend und
lachend um sie herum. Die Familie war nicht sonderlich
vornehm und doch war Anna voller Neid auf sie. Ihre eigene
Mutter war bisher nicht dazu gekommen, etwas für das
Weihnachtsfest vorzubereiten. Sie musste ständig arbeiten und
am Wochenende lag sie kaputt auf dem Sofa herum.
Geschwister hatte Anna auch keine, dabei wünschte sie sich
nichts sehnlicher als eine Schwester. Eine Schwester, mit der
sie über all ihre Sorgen und Probleme reden konnte. Ihr könnte
sie die Geheimnisse ihres Herzens anvertrauen und wenn es
ihnen schlecht ging, würden sie sich gegenseitig aufheitern und
all die bitteren und traurigen Stunden ihres Lebens wären nicht
mehr ganz so traurig und bitter. Ein großer Bruder, wie
Susanne ihn hatte, wäre allerdings auch nicht übel. Der hatte
sie damals manchmal beschützt, wenn die frechen Kinder aus
ihrer Klasse sie über den Schulhof schubsten und ihnen die
Pausenbrote klauten.
Susanne war Annas beste und einzige Freundin in der Klasse
gewesen, aber vor einigen Wochen war sie weggezogen und
seitdem war sie allein, völlig allein.
Der kalte Wind trieb ihr die Tränen in die Augen. Sie griff in
ihre Hosentasche nach einem Taschentuch. Und wie sie dort so
herumwühlte, fand sie zwischen all den Tüchern doch
tatsächlich den Hausschlüssel.

Als sie endlich oben war, war es beinahe sieben Uhr. Der Tag
war fast um, wieder einer dieser trüben Tage, der ohne jede
Freude an ihr vorübergezogen war. Und der Anblick der leeren
Wohnung stimmte sie kaum fröhlicher. Da es nur 14°C war,
beeilte sie sich, die Heizung einzustellen.
Ihre Mutter würde erst sehr spät nach Hause kommen, weshalb
sie sich selber Abendbrot machte. Sie holte Brot, Käse und
Wurst aus dem Kühlschrank, in dem ansonsten gähnende Leere
herrschte. Sie stellte das Radio ein. Zu dieser Zeit wurden fast
nur noch Weihnachtslieder gespielt wurden, was ihr allmählich
auf die Nerven, wo ihr selbst doch kein bisschen nach
Weihnachten zumute war. Schweigend kaute sie an einer Stulle
und hörte zu, wie ein paar Kinder ihre Wunschzettel vorlasen.
Mein Gott, was hatten die nur für Ansprüche!
Vor lauter Wut drehte sie wieder ab. Sie selbst wünschte sich
in diesem Moment doch nichts sehnlicher, als dass ihre Mutter
endlich nach Hause käme.
Sie sah sich in der Küche um und stellte fest, dass ihre
Wohnung von innen genauso unweihnachtlich aussah wie von
außen. Außer einem Schneeflockenbild, das sie in der Schule
gemalt hatte, erinnerte nichts daran, dass Weihnachten vor der
Tür stand. Sie hatte in der Schule zwar auch noch einen roten
Weihnachtsmann aus Pappe mit einem flauschigen Wattebart
gebastelt, aber den hatte Inga, die blöde Ziege, zerrissen.
Einfach nur so aus Spaß. Und auch mit der Ordnung war es
nicht gut bestellt. Auf der Spüle stapelte sich das Geschirr und
geputzt hatte schon lange keiner mehr. Es war ein trauriger
Anblick.
Doch da kam ihr plötzlich eine Idee! Eine Idee, wie ihr
vielleicht doch noch ein wenig weihnachtlich zumute werden
konnte. Ach, es war eine wundervolle Idee, aber zunächst
musste sie das Geschirr abwaschen und ihre Einkaufstaschen
leeren.

Zu der Wohnung, die Annas Mutter gemietet hatte, gehörte


auch ein kleiner Kellerraum. Den benutzten sie zum Abstellen
ihrer Fahrräder, für Lebensmittel und Werkzeuge. Ansonsten
war der ganze Raum voll von gestapelten Kisten und Kartons
aus ihrem alten Haus. Sie hatten in ihrer Wohnung viel zu
wenig Platz und lagerten die meisten ihrer übrig gebliebenen
Habseligkeiten im Keller.
Anna kam manchmal hierher, wenn sie allein sein wollte. Dann
sah sie sich all die alten Sachen an und erinnerte sie sich an die
schöne, alte Zeit zurück, als sie noch alle zusammen auf dem
Bauernhof gelebt hatten: Sie, Mama und Papa, Oma, Tante
Elke und natürlich ihre Cousins Frank und Tom.
Es war eine wirklich tolle Zeit gewesen. Sie war mit ihren
Cousins und den Nachbarskindern durch die Wiesen und
Wälder ihres Dorfes gezogen, hatten Hütten und Staudämme
gebaut und in einem Baggersee das Schwimmen gelernt. Und
dann all die vielen Tiere auf dem Hof. Zu herrlich!
Immer wenn Anna im Keller auf ihrem kleinen Hocker saß,
lebte sie wieder in der alten, heilen Welt, die ihr ansonsten so
unerreichbar weit entfernt vorkam und musste nicht mehr an
die schlimmen Erlebnisse in der Schule denken. Dafür wurde
sie umso trauriger und niedergeschlagener, wenn sie in ihre
kleine, trostlose Wohnung zurückkehren musste. Deswegen
kam sie nur selten hierher.
Diesmal war sie aber nicht gekommen, um an alte Zeiten zu
denken, sondern um etwas zu suchen: Eine
Weihnachtspyramide aus dem Erzgebirge. Tante Elke hatte sie
der Oma im letzten Jahr zu Nikolaus geschenkt, als sie so
krank gewesen war und immer nur im Bett liegen musste. Da
hatte sie ein bisschen Abwechslung gehabt und fühlte sich
nicht so allein, wenn die aus Holz geschnitzten Hirten, Schafe
und Engel auf ihrem Nachttisch Karussell fuhren.
Anna erinnerte sich, wie sie damals bei der Oma am Bett
gesessen und die Pyramide beobachtet hatte. Oh, wie hatten sie
sich da auf das Weihnachtsfest gefreut. Besonders schön war es
am Abend, wenn sich vom Schein der Kerzen und dem
Schatten des Propellers die geheimnisvollsten Muster an der
Decke bildeten, wie bei einem Gespenstertanz.
Und genau deswegen kramte sie sie jetzt wieder hervor. Damit
ihr ein klein wenig weihnachtlich zumute wurde.
Allerdings durfte sie sich nicht von der Mutter erwischen
lassen. Die hatte die Pyramide bei ihrem Umzug wegwerfen
wollen. Sie meinte, sie fände sie kitschig, aber in Wirklichkeit
wollte sie nur alle Erinnerungen an Tante Elke ausmerzen.
Anna hat nie so richtig verstanden, warum sich die beiden
gestritten hatten, denn ihre Mutter sprach mit ihr nicht darüber,
egal wie oft sie danach fragte. Sie ahnte nur, dass es etwas mit
dem Tod der Oma und des Vaters zu tun hatte.
Die Weihnachtspyramide hatte sie dennoch retten können. Sie
hatte sie in einen Karton gepackt und diesen heimlich in den
Möbelwagen geschmuggelt. Und nun musste dieser Karton
irgendwo zwischen all den vielen anderen Kisten liegen. Der
Raum war ziemlich zugerümpelt, aber nach einem langen und
mühsamen Hin- und Hergeräume hielt sie ihn schließlich in der
Hand. Na endlich!

Als sie oben angekommen war, war ihre Mutter immer noch
nicht zu Hause. Trotzdem schoss sie sicherheitshalber die Tür
ihres Kinderzimmers hinter sich ab.
Ihr Zimmer war ziemlich klein. Sie hatte ein Etagenbett, unter
dem sich ein Kleiderschrank befand. Außerdem gab es dort
noch einen Schreibtisch, der vorm Fenster stand und an der
Wand ein kleines Bücherbord. Das war dann aber auch schon
alles. Und trotzdem blieb ihr kaum Platz zum Spielen.
Nun aber stellte sie die Pyramide auf dem Schreibtisch ab. Sie
steckte in jeden der sechs Kerzenhalter eine Kerze und zündete
mit einem Streichholz alle Dochte der Reihe nach an. Schon
setzte sich der Propeller in Gang und mit ihm drehten sich die
beiden Ebenen und ihre Figuren: auf der oberen Ebene drei
Engel, auf der unteren drei Hirten und zwei Schafe. Nachdem
Anna auch noch das Licht ausgeknipst hatte, wurde es richtig
unheimlich im Zimmer, wie das Bett, der Schrank, das Regal
und die Zimmerwände nur noch von dem schwachem Schein
der Kerzen angestrahlt wurden. Sie sah nach oben. Es sah aus,
als jagten sich die Geister des Lichts und die Geister des
Schattens gegenseitig über ihre Zimmerdecke. Sie rannten im
Kreis, wichen voreinander zurück, aber keine Seite schaffte es,
die andere zu besiegen.
Ach, was war das schön, so ruhig und entspannend. Sie mochte
es lieber ein wenig gruselig, als von riesigen, protzigen
Lichterketten angestrahlt zu werden. Viele Minuten saß sie nur
da und genoss das einzigartige Schauspiel, blickte in den
Schein der Kerzen, wie die Steinzeitmenschen vor Tausenden
von Jahren stundenlang ins Lagerfeuer geschaut hatten.
Langsam aber wurde sie müde. Ihre Augenschlitze wurden
enger und sie fiel in einen Trance, in dem sie alles andere um
sich herum vergaß.
Plötzlich aber schreckte sie hoch!
Etwas Seltsames war geschehen. Sie ließ sich in die Stuhllehne
zurückfallen und sah sich die Pyramide noch einmal aus der
Ferne an, stellte aber fest, dass alles genauso aussah wie
immer. Trotzdem konnte sie das Gefühl nicht loswerden, dass
einer der Hirten leicht mit dem Kopf genickt hatte. Es war
keine besonders große, sondern nur eine winzig kleine
beiläufige Bewegung gewesen, die sie nur am Rande bemerkt
hatte. Aber nun, als sie ein wenig genauer hinschaute, war
davon absolut nichts mehr zu sehen.
„Vielleicht habe ich mich ja doch getäuscht“, murmelte sie.
Sie vergaß, was sie gesehen hatte und blickte wieder stumm
und starr in das Kerzenlicht. Die Müdigkeit breitete sich immer
weiter in ihr aus. Sie merkte, dass es nicht mehr lange dauern
würde, bis sie…
Sie schreckte auf!
Was war das?
Wieder hatte sie das Gefühl, mit der Pyramide sei etwas
passiert. Da hatte einer der Engel doch tatsächlich mit dem
Flügel geschlagen und war sogar ein klein wenig in die Höhe
geflogen. Und auch das Muster an der Decke war nicht mehr
das Gleiche. Es war kaum noch zu sehen, da der Raum
oberhalb der Kerzen erfüllt war von bunten, leuchtenden
Farben, die aufgeregt umherschwirrten.
Aber auch diesmal war es nur ein sehr kurzer Eindruck, der
verschwand, sobald sie genauer hinsah.
Trotzdem wurde ihr die Sache langsam unheimlich.
Irgendetwas schien hier zu passieren! Mit der Pyramide war
etwas nicht in Ordnung, obwohl sie genau wusste, dass das
alles völlig absurd war und überhaupt nicht sein konnte. Sie
beugte sich vor, um das Ganze etwas genauer zu untersuchen.
Sie hielt den Propeller fest, dass die Ebenen zum Stillstand
kamen und fuhr mit dem Finger über all die hölzernen Figuren,
auch über den Engel, der gerade noch mit dem Flügel
geschlagen hatte. Aber nichts geschah, in den kleinen
Holzfiguren war nicht der geringste Hauch von Leben. Sie zog
ihren Finger wieder zurück und ließ dem Propeller freien Lauf.
Eigentlich sollte ich damit aufhören, dachte sie.
Es war einfach alles zu verrückt, um sich noch weiter damit zu
beschäftigen. Sie sollte die Weihnachtspyramide lieber wieder
verstecken, bevor die Mutter zurückkam. Als sie aufstand
blickte sie ein letztes Mal in das Gesicht des Engels, aber es
blieb völlig starr und leblos.
Dann holte sie tief Luft um die Kerzen auszublasen… Und
genau in diesem Moment hörte sie plötzlich ein Geräusch!
Es war nicht besonders laut. Wäre es im Zimmer nicht so still
gewesen, hätte sie es wahrscheinlich gar nicht gehört, aber da
war tatsächlich der Laut eines Tieres gewesen, genauer gesagt,
das Blöken eines Schafes. Vor lauter Schreck verschluckte sie
sich an der eigenen Puste. Sie fing an zu husten, stieß dabei
gegen den Stuhl, verlor das Gleichgewicht und dann fielen sie
beide, Anna und der Stuhl, hintenüber und landeten auf dem
Pappkarton.
„Au!“ schrie sie, als sie sich den Hinterkopf an der Tür stieß.
Auch ihr Rücken, mit dem sie direkt an eine Kante des Stuhls
gestoßen war, tat weh. Einige Sekunden lang ließ sie ihren
Tränen freien Lauf. Aber die Überraschung über das, was
gerade geschehen war, war größer als der Schmerz.
Was war das? Wie konnte es sein, dass im 3. Stock eines
Mietshauses mitten in der Großstadt plötzlich ein Schaf blökte?
Sofort fiel ihr Blick zur Pyramide, die sich weiterdrehte wie
bisher und mit ihr die beiden Schafe der Hirten.
Das konnte kein Zufall mehr sein! Ein drittes Mal hatte sie sich
sicher nicht geirrt! Die Figuren schienen tatsächlich lebendig
zu werden. Anna war so verblüfft, dass sie eine gute Weile nur
dasaß und nicht mehr wagte sich zu bewegen oder etwas zu
sagen.
Doch dann kam plötzlich Leben in sie!
Sie sprang auf. Mit einem Riesenschritt schritt sie auf den
Schreibtisch zu, griff nach dem Band des Rollos und zog es mit
wenigen, kräftigen Zügen hoch. Ständig sah sie sich
angsterfüllt zur Pyramide um. Was war, wenn die Engel
plötzlich auf sie zugeflogen kamen und sie hinterrücks
überfielen?
Als das Rollo oben war, griff sie nach dem Fenstergriff und riss
das Fenster mit einem Ruck auf. Es gab ein großes Geschepper,
als ihre Blumentöpfe von der Fensterbank herunterpurzelten
und zu Boden fielen. Beinahe hätte sie auch noch die Pyramide
mit umgerissen. Für eine kurze Zeit stockte Anna der Atem,
aber sie beruhigte sich schnell wieder. Sie hatte jetzt wichtigere
Dinge zu tun.
Hastig ergriff sie die Weihnachtspyramide, obwohl es ihr davor
gruselte, sie zu berühren. In Windeseile hob sie sie in die Höhe
und warf sie in hohem Bogen aus dem Fenster hinaus.
Nicht eine Sekunde länger wollte sie mit diesem unheimlichen
Ding in einem Raum sein! Sie knallte das Fenster zu, stellte
ihren Stuhl wieder auf und setzte sich unruhig hin. Sie knetete
ihre Hände, die vor Aufregung nur so zitterten, die Gedanken
schossen ihr durch den Kopf.
Ihre Mutter hatte Recht gehabt. Man hätte die Pyramide sofort
wegschmeißen sollen. Sie bereute nun, dass sie sie gegen ihren
Willen aufgehoben hatte, aber damals hatte sie ja nicht wissen
können, dass die Figuren lebten. Sie stellte sich vor, sie wären
mitten in der Nacht zum Leben erwacht und hätten in ihrem
Zimmer herumgespukt. Ein kalter Schauer lief ihr über den
Rücken.
Nach einer Weile kehrte die Ruhe in ihren Körper zurück.
Ohne den Schein der Kerzen war es im Zimmer fast völlig
dunkel und sie knipste das Licht wieder an. Da fiel ihr Blick
unter den Tisch und sie sah, was sie angerichtet hatte. Einer der
beiden Blumentöpfe war völlig zerbrochen und überall hatte
sich dunkle Blumenerde ausgebreitet. Sie stellte den heilen
Topf auf die Fensterbank zurück und bückte sich, um die
Scherben des Anderen aufzusammeln. Da erstarrte sie
abermals.
Was das auf einmal für ein seltsames Rauschen?
Es schien von draußen zu kommen. Sie schreckte hoch und
stieß sich den Kopf an der Tischplatte.
„Aua!“
Dieser Tag war einfach zu viel für sie. Alles in ihrem Kopf
schien hin- und herzuschwanken. Langsam krabbelte sie unter
dem Tisch hervor, stand auf und sah zum Fenster hinaus, wo
langsam, aber sicher etwas Helles auftauchte, das sie jedoch
kaum erkennen konnte. Sie ging zur Tür zurück, stellte das
Licht wieder aus und als sie dann abermals hinausblickte, sah
sie es ganz deutlich vor sich.

Diesen Anblick würde sie ihr Leben nicht mehr vergessen!


Selbst fünfzig Jahre später sollte es noch manchmal
vorkommen, dass sie davon träumte. Sie erzählte diese
Geschichte all ihren Kindern und Enkelkinder, aber niemand
von ihnen wollte ihr glauben. Sie alle hielten es für eine
erfundene Geschichte, aber sie war tatsächlich wahr!
In der Luft vor dem Fenster flog die Weihnachtspyramide, die
noch vor wenigen Minuten auf ihrem Tisch gestanden hatte.
Zuerst war nur ihr Propeller und die obere Etage mit den
Engeln zu sehen, aber sie kämpfte sich Stück für Stück nach
oben, bis sie schließlich in voller Größe, direkt vor ihrem
verblüfften Gesicht, stehen blieb.
Ja, es war tatsächlich ihre Weihnachtspyramide, aber irgendwie
war sie es auch wieder nicht. Die Kerzen waren keine
gewöhnlichen Kerzen mehr, deren gelbe Flammen harmlos vor
sich hinflackerten und von jedem leichten Windstoß gelöscht
werden konnten. Jetzt sahen sie vielmehr aus wie
Flammenwerfer und die Flammen selbst glichen den kaum
sichtbaren, magisch blauen Flammen eines Sturmfeuerzeugs.
Erst als die Pyramide stehenblieb, wurden sie wieder etwas
gelber und schwächer. Der Propeller drehte sich von diesen
Flammen viel schneller als üblich, fast so wie der eines
Hubschraubers und daher kam auch das laute Rauschen. Über
dem Propeller tanzten bunte, durchsichtige Farbwesen umher,
genau wie sie es vor ein paar Minuten schon einmal gesehen
hatte. Aber in der Dunkelheit hatte das Ganze einen noch weit
magischeren Anblick.
Vor lauter Staunen konnte Anna überhaupt nichts sagen. Mit
offenem Mund stand sie da und schaute sich die
ungewöhnliche Flugschau an. Dann gab es plötzlich ein
hässliches, knirschendes Geräusch, als der Propeller gegen die
Scheibe rammte. Anna bekam eine Gänsehaut, aber die
Pyramide driftete sofort wieder zurück und legte sich schief.
Der Propeller bewegte sich von der Scheibe weg, während der
untere Teil der Pyramide an ihr andocken wollte.
Dann erkannte sie, wie sich einer der Hirten am unteren Gerüst
der Pyramide entlang hangelte. Um nicht herunterzufallen,
klammerte er sich mit einem Arm an einer Kerze fest. Mit der
Hand des Anderen klopfte er an das Fenster.
Sofort erwachte Anna aus ihrer Starre. Sie drehte sich um, griff
nach der Tür und wollte aus dem Zimmer flüchten. Aber
gerade, als sie die Klinke heruntergedrückt hatte, hörte sie die
leise Stimme des Hirten rufen: „Bitte lauf nicht weg, wir
werden dir nichts tun!“
Fassungslos blickte sie sich um.
Vielleicht träume ich einfach, dachte sie. Sie schloss ganz fest
die Augen und kniff sich mehrmals in den Arm, aber das Bild
vor dem Fenster war noch immer das Gleiche, nur dass der
Hirte wieder zurück zu seinen Kollegen auf dem Gerüst
getorkelt war. Er winkte ihr zu.
„Hallo! Kannst du uns verstehen ?“ brüllte er, so laut er nur
konnte. „Mach bitte das Fenster auf!“
Endlich hatte Anna den Mut zu antworten.
„Wer seid ihr?“ fragte sie und ging zaghaft auf das Fenster zu.
„Sprich etwas lauter, wir verstehen dich nicht!“ kam es vom
Hirten zurück. Anna wagte es tatsächlich die Frage ein zweites
Mal etwas lauter zu stellen.
„Das sagen wir dann, wenn du uns geöffnet hast!“ war die
Antwort.
„Woher soll ich wissen, dass ihr mir nichts tut?“
„Warum sollten wir dir etwas tun?“
„Ich habe euch eben aus dem Fenster geworfen.“
„Wir werden dir verzeihen. Aber nun mach bitte das Fenster
auf. Wir können uns nicht mehr lange in der Luft halten. Die
Kerzen sind so schlecht.“
Und als sie genauer hinsah, erkannte sie, dass die Pyramide
tatsächlich ein wenig am Schwanken war, als könne sie jeden
Moment abstürzen.
Endlich kam sie über ihre Furcht hinweg. Sie öffnete das
Fenster und konnte ihren Arm kaum rechtzeitig zurückziehen,
so schnell, wie die Pyramide zu ihr hereingeflogen kam. Sie
kehrte genau an den Ort zurück, an dem sie auch schon zuvor
gestanden hatte. Die Landung war nicht ganz sauber, denn sie
wackelte noch eine kurze Zeit hin und her, bis das Flackern der
Kerzen immer schwächer und der Propeller immer langsamer
wurde.
Als sie endlich stillstand, führten zwei der Hirten die Schafe
von der Pyramide herunter. Der Andere, der so etwas wie der
Pilot zu sein schien, lief währenddessen aufgeregt auf der
oberen Plattform umher. Er musste wohl kontrollieren, ob alles
ordnungsgemäß verlaufen war. Die Engel hingegen flogen
sofort in die Höhe hinauf. Jeder zog eine Trompete aus seinem
weißen Kleid hervor und feierte mit lauter Musik die
glückliche Landung.
Anna beobachtete das geschäftige Treiben aus einer sicheren
Entfernung. Sie wahr zu schüchtern, um die kleinen Wesen
anzusprechen. Außerdem war sie sich immer noch nicht ganz
sicher, ob sie nicht doch träumte. Alles in ihrem Kopf schien
sich zu drehen.
Doch plötzlich wurde sie von einem der Hirten angesprochen:
„Liebes Kind. Komm doch näher.“
Es war derjenige, der gerade am Fenster geklopft hatte.
Langsam bewegte sich Anna auf den Tisch zu.
„Setzt dich doch hin. Wenn du deinen Kopf so weit oben hast,
kann man sich schlecht mit dir unterhalten.“
Anna setzte sich. Sie tat nun alles, was der kleine Kerl ihr
sagte.
„Wie heißt du?“ fragte er.
„Anna.“
„Wie alt bist du ?“
„Neun Jahre. Aber wer seid ihr? Warum lebt ihr?“
„Haben wir nicht das Recht zu leben? Du lebst ja schließlich
auch“, giftete der zweite Hirte, der den beiden Schafen durchs
Fell kraulte, zwischen denen er es sich gemütlich gemacht
hatte.
Anna war etwas verblüfft über diese Antwort, dass sie für eine
kurze Zeit stumm wurde.
Dann war auch der Pilot mit seiner Arbeit fertig und kam zu
den anderen heruntergeklettert. Und als am Ende auch noch die
Engel ankamen, stand schließlich die komplette Besatzung vor
ihr auf dem Schreibtisch.
„Liebe Anna“, sprach der Pilot. Er hatte graues, gelocktes Haar
und einen Rauschebart, fast so wie der Weihnachtsmann. Er
schien schon recht alt zu sein und war offenbar nicht nur der
Pilot, sondern auch insgesamt der Anführer der Gruppe.
„Wir danken dir, dass du uns aus unserer Starre erlöst hast“,
fuhr er fort.
„Wieso habe ich euch erlöst?“ fragte Anna vollkommen
verwirrt.
„Durch die Wärme der Kerzen und die Wärme deiner Blicke,
ist auch die Wärme in unsere ausgekühlten Körper
zurückgekehrt. Wir danken dir dafür.“
„Wir danken dir dafür“, wiederholten die Engel im Chor und
donnerten einmal kurz in ihre Trompeten.
„Das verstehe ich nicht“, antwortete Anna. „Ihr ward doch
eben noch aus Holz... Wieso?“
„Ein böser Fluch wurde vor vielen hundert Jahren über uns
gelegt, aber der ist nun gelöst. Jedenfalls, solange die Kerzen
noch brennen.“
„Ja“, rief der Hirte, der bei den Schafen saß. Er schien noch
älter zu sein als der Pilot, war jedoch sehr klein und wirkte auf
Anna ein wenig komisch, wie ein leicht verwirrter, alter Mann
eben.
„Es war eine bösartiger Zauberer, der das getan hat“, schimpfte
er, „aber jetzt sind wir wieder lebendig. Und wenn ich den in
die Finger kriege, dann kann er was erleben, der Dreckskerl,
dieser Verfluchte, dieser, dieser…!“
„Darf ich dir vorstellen, dass ist mein Onkel Chrazzius“, sagte
der Pilot. Und dies“, er wies auf den dritten, noch eher jungen
Hirten, „ist Jonas, dann kommen die Engel Mio, Leo und Egon,
sowie die Schafe Polli und Wolli. Mein Name ist Dario. Ich bin
der Anführer und Pilot dieser Pyramide.“
Er streckte Anna die Hand aus und sie hielt ihm zum Schütteln
einen Finger hin. Das Gleiche tat sie auch bei den anderen
Passagieren.
„Seid ihr mir nicht böse, dass ich euch beinahe umgebracht
habe?“ fragte sie.
„Du konntest nichts dafür“, antwortete Dario. „Du hast dich zu
sehr erschrocken. Glücklicherweise konnte ich schnell genug
aus der Starre erwachen, um die Pyramide vor einem Aufprall
mit dem Erdboden zu bewahren.“
„Woher kommt es eigentlich, dass die Pyramide fliegen kann?“
wollte Anna voller Neugier wissen.
„Weiß du, mein Kind, dies ist keine gewöhnliche Pyramide“,
erklärte Dario. „Es ist eine Flugpyramide. Durch die Wärme
des Kerzenfeuers wird der Propeller so stark angetrieben, dass
sie fliegen kann wie ein Heißluftballon. Leider sind dies
ziemlich schwache Kerzen, die nicht viel taugen. Nur Kerzen
aus Bienenwachs können den Propeller so stark antreiben, dass
man damit hinfliegen kann, wohin man will, genau wie ein
Vogel oder eine Biene.“
„Wohin man will?“ fragte Anna aufgeregt.
„Wohin man will“, wiederholte Dario nickend.
„Auch in die Südsee?“
„Auch in die Südsee.“
Anna musste daran denken, dass Inga in den Ferien in der
Südsee gewesen war und wundervolle Photos mitgebracht
hatte. Sie gab mächtig mit ihren Reisen an, denn kein anderer
aus der Schulklasse war jemals so weit fort gewesen.
„Ach, wenn ich doch auch einmal in die Südsee fahren
könnte“, murmelte sie träumerisch vor sich hin.
„Wenn du willst ,können wir gerne einmal zusammen in die
Südsee fliegen“, meinte Dario. „Wir sind dir etwas schuldig.“
„Wie soll denn das funktionieren?“ wollte Anna erstaunt
wissen.
„Na mit unserer Pyramide natürlich, dummes Kind!“ zischte
der alte Chrazzius hervor.
Anna tippte sich an die Stirn.
„Ich bin doch viel zu groß. Wie wollt ihr mich denn
mitbekommen?“
„Wir müssen dich natürlich erst kleiner machen. Das ist doch
wohl klar!“ kam es von dem Alten zurück, der sich danach
wieder voll und ganz den Schafen widmete.
„Das ist doch wohl klar“, wiederholte Anna leise. Er hatte es
gesagt, als sei es das einfachste und normalste auf der Welt.
Nun ergriff Dario wieder das Wort: „Er hat Recht. Wir können
dich tatsächlich kleiner machen. Du musst nur einmal mit
deinem Finger durch alle sechs Kerzen streifen, einen
Zauberkeks essen und mir danach deine Hand geben. Dann
spreche ich einen kurzen Zauberspruch und schon bist du
genauso klein wie wir.“
„Aber es dauert doch einige Zeit bis man in der Südsee
angekommen ist“, fiel Anna ein. „So lange kann ich doch nicht
wegbleiben. Ich müsste erst mit meiner Mutter darüber
sprechen.“
„Bitte nicht!“ rief Dario. „Rede mit keinem Erwachsenen über
uns. Das könnte gefährlich für uns werden, weißt du?
„Aber meine Mutti ist nicht böse“, erwiderte Anna.
„Lass es bitte sein!“ widersprach Dario. „Wir können
Erwachsenen nicht trauen. Wir haben viele schlechte
Erfahrungen mit ihnen gemacht, weil wir so klein sind. Wenn
einer von ihnen in die Nähe kommt, musst du uns sofort
verstecken! Hörst du?“
Anna nickte und der Pilot kam wieder zum eigentlichen Thema
zurück.
„Mit dieser Pyramide können wir jedenfalls schneller reisen,
als du denkst“, sagte er. „Es könnte noch heute Abend
losgehen.“
„Oh nein“, meinte Anna. „Meine Mutti könnte jeden Moment
wiederkommen.“
„Nun gut. Wir müssten ja sowieso erst Kerzen aus
Bienenwachs haben“, sagte Dario. „Sobald deine Mutter
wiederkommt, bläst du die Kerzen aus und versteckst uns im
Schrank. Wir werden dann wieder aus Holz sein, aber wenn du
die Kerzen anzündest und in die Flammen siehst, dann werden
wir wieder auferstehen. Am besten siehst du immer im Kreis
herum, entgegen der Drehrichtung des Propellers. So geht es
nämlich am schnellsten. Du musst uns auf jeden Fall
versprechen, es zu tun, denn sonst müssten wir für immer aus
Holz bleiben.“
Anna versprach es ihnen mit einem deutlichen Nicken. Der
Gedanke an eine Reise in die Südsee begeisterte sie sehr. Sie
wollte einfach nur weg aus diesem kalten Land.
Selbstverständlich würde sie am nächsten Tag die Kerzen
anzünden. Die ganze Nacht würde sie an nichts anderes mehr
denken können.
„Dann ist es gut“, sagte Dario beruhigt. „Vielleicht sollten wir
das mit der Verkleinerung schon einmal ausprobieren, damit du
dich daran gewöhnst.“
„Au ja!“
Anna wurde es ganz warm vor Begeisterung, obwohl ihr bei
dem Gedanken daran auch ein klein wenig mulmig wurde.
Wie würde es wohl sein, plötzlich so klein wie eine Holzfigur
zu sein? Und wie würde es erst einmal sein, mit dieser
Pyramide zu fliegen?
Schließlich war sie noch nie im Leben geflogen. Dieser Tag,
der gerade eben noch so fürchterlich gewesen war, schien nun
der aufregendste ihres ganzen Lebens zu werden. Aber ein
plötzliches Klappern an der Haustür verhinderte die
Verwandlung.
„Auwei, ich glaube meine Mutti kommt zurück“, rief sie.
Sofort sprangen Chrazzius und Jonas auf und trieben die
beiden Schafe auf die untere Etage der Pyramide zurück. Als
das getan war, stellten sie sich selber ganz brav und ordentlich
auf, während die Engel zurück auf die obere Etage flogen.
Alles ging furchtbar schnell und als sie wieder an Ort und
Stelle standen, pustete Anna hastig die Kerzen aus. Sofort
verwandelten sich die kleinen Personen wieder zu Holz und
das geheimnisvolle Flimmern über dem Propeller verschwand
ebenfalls. Es wurde völlig dunkel im Zimmer und Anna wusste
nicht, wo sie mit der Pyramide so schnell hin sollte. Sie stellte
sie aufs Bett, legte vorsichtig die Bettdecke darüber und hofft
inständig, dass es keine Wachsflecken gab.
Dann ging draußen auch schon die Tür auf und sie hörte die
Schritte ihrer Mutter im Flur.
„Anna?“ rief sie. „Schläfst du schon?“
„Nein, Mama. Ich bin noch wach.“
Sofort öffnete Anna die Tür des Kinderzimmers, rannte auf die
Mutter zu und fiel ihr in die Arme.

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