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Das Tor
Dort, wo der Hang steil abzufallen beginnt und der Waldrand an die freie Grasfläche grenzt,
stehen zwei Birken. Ihre weißen Stämme mit den vielen dunkelbraunen Augen erschaffen ein
magisches Tor.
Ein Tor, das den dahinter liegenden Wald, der mit seinem dunklen Grün hier beginnt, weiß
umrandet.
Ein weißer Rahmen, ein weißes Tor.
Das Tor zu einer anderen Welt.
Das Tor zur Anderswelt.
Hervortritt aus einer anderen, längst vergangenen Zeit. Hervorgeht und jene grüne Grasfläche
hier betritt, hier Raum nimmt und zur Wirklichkeit wird.
Jetzt.
Eine Gleichzeitigkeit von Vergangenheit und Gegenwart.
Eine Raum-Zeit-Verschiebung.
Eine gegenwärtige Vergangenheit, die über unsere mögliche Zukunft erzählen will…
Eine Frau tritt aus diesem Tor hervor, mit offenem, hellbraun gewelltem Haar, das ihre Schul-
tern umspielt. Ihr bodenlanges, dunkelblaues Kleid ist in ihrer Taille einfach geschnürt. In
einem hellen, fast weißen Tuch trägt sie ihr schlafendes Kind.
Anmutig ihre Bewegungen, ihr rascher Gang. Berührend ihre Augen, ihr wachsamer Blick.
© Werner J. Neuner www.WernerNeuner.net 1
Gespräche mit dem alten Volk Das Tor
Ein Blick, der eine latente Besorgnis verrät. Ein Blick, der ihr nahes Heim anvisiert. Ihr Heim,
das ihr Sicherheit, das ihr Schutz geben wird.
Hinter ihr erscheint ein Mann, ihr Mann, der sie mit schnelleren Schritten einholt und sich
neben sie begibt. Ihr Mann, ein Krieger, bewaffnet mit Schwert, Speer und Schild. Ein be-
waffneter Krieger, der einzig den Schutz seiner Frau, den Schutz seines Kindes und den
Schutz seiner Sippe im Sinne hat.
Entschlossen und klar sein Blick.
Seine wahren Gefühle verbergend wirkt er dennoch sichtlich beunruhigt.
Beunruhigt und entschlossen zugleich. Zum Kampf bereit.
Zielstrebig sucht das Paar mit seinem Kind den Sicherheit gebenden Schutz ihres Heimes auf.
Und die Zeit vergeht, Geschichte findet statt, Geschichte, die geschrieben wird, aber auch
Geschichte, die ungeschrieben vergeht und dem Vergessen anheim fallen wird. Ungeschrie-
bene Geschichte, die nicht mehr erzählt wird.
Schicksale der Ahnen, die bei den Ahnen bleiben.
Schicksale aber, die den Nachkommenden mitgegeben und in die Wiege gelegt werden.
Schicksale, die den Faden der Schicksale der Nachkommenden weben.
Vergangenheiten, die wiederholt werden von den nachfolgenden Generationen, in neuen
Spielarten aber dennoch mit denselben Mustern.
Vergangenheiten, die gegenwärtig bleiben, die das Zeitentor zwischen den beiden Birken zu
erzählen weiß.
Und das Tor der weißstämmigen Birken eröffnet sich ein zweites Mal. Nun allerdings tiefer,
noch weiter dahinter reichend, weiter zurück gehend in die Ereignisse vergangener Zeiten.
Hinter ihr erscheint eine männliche Gestalt, mit vergleichbar faszinierender Schönheit. Auch
er in weiß erscheinender Kleidung. Auch er scheint von innen heraus zu leuchten. Und auch
seine Schritte hinterlassen kaum Spuren im Gras.
Das Tor zwischen den beiden Birkenstämmen weitet sich ein zweites Mal. Noch mehr Men-
schen in dieser edlen Schönheit treten daraus hervor und bewegen sich mit berührender Acht-
samkeit über den ebenen Platz.
Irgendwo in der Ferne höre ich Menschen rufen, nehme ihre Stimmen wahr. Doch all das ver-
schwimmt wie hinter einem Vorhang, einem Schleier, den ich kaum mehr durchdringen kann,
und auch nicht mehr durchdringen will…
Das, was sie sagt, der Klang ihrer Stimme, gleicht vielmehr einem Lied, einem Gesang von
berührender Schönheit.
Das Lied ihrer Stimme ist melodiös und erinnert mich an den Frühlingsgesang der Amsel. An
jene vielstimmige Melodie, die verkündet, dass die schweren Tage des Winters vergangen
sind, dass nun lichtere und vor allem wärmere Tage kommen werden. Jene harmonisierende
Melodie, die Geborgenheit schenkend das Herz berührt und einen tiefen Frieden verkündet.
Das Lied ihrer Stimme, die Worte der weißgekleideten Frau, erfüllen den Ort, reichen über
diesen Ort weit hinaus und erfüllen den gesamten Raum.
„Spürst du den Frieden?“, wiederholt sie gleichsam singend ihre Frage und blickt mich mit
ihren tiefgründigen Augen an.
Nicht nur ihre Schönheit erkenne ich in jenem Moment, auch ihrer inneren Weisheit werde
ich gewahr. Sie blickt mich mit einer unendlich liebevollen Ruhe an. Ihr Blick wendet sich
mir zu und alleine das erfüllt mich mit einer Liebe, die mich auf allen Ebenen berührt, die
mich überflutet.
Obwohl ich sie anblicke, kann ich dennoch ihr Gesicht kaum erkennen. Dieser gesamte Ort
hier, die Anwesenheit dieser weißgekleideten Frau, die Anwesenheit all dieser strahlenden
Menschen und die Gesänge deren Worte erscheinen mir wie in einem unwirklichen Traum.
Ohne selbst auch nur ein Wort ausgesprochen zu haben, antwortet mir die weißgekleidete
Frau. Sie scheint meine Gedanken wahrgenommen, gespürt zu haben.
„Dies ist der Friede, der wir sind.
Dies ist die Harmonie, in der wir sind.
Wir sind dieser Einklang, wir sind diese Ausgewogenheit.
Wir sind diese allumfassende Liebe.
All dies sind wir.
Wir waren dies seit jeher.
Und wir werden dies für immer sein!“
Diese ihre Worte, einem melodiösen Gesang, einem harmonisch tragendem Lied gleich, erfül-
len diesen Ort. Und mehr noch: Sie gehen über diesen Ort hinaus, verweben sich mit der At-
mosphäre des umliegenden Landes, streichen sanft über den ebenen bewaldeten Landstrich
unter uns und ziehen bis zu den Bergen hin, welche in der Ferne den Horizont umsäumen.
Wie Wellen ziehen sich ihre gesungenen Worte über den weiten Raum, hallen wider, kehren
aus der Ferne zurück, sammeln und formieren sich, um erneut in weiteren Wellen auszuströ-
men.
„Wer seid ihr?“, frage ich sie, einem inneren Impuls folgend.
Der Ort, an dem wir zu jener Einheit werden konnten, die wir heute sind, ist ein Portal, ein
kosmisches Tor, so wie die Erde eines ist. Ein Planet ist stets ein kosmisches Tor, durch das
sich Seelen einfinden und zu einer Einheit werden können.
Das planetare Tor der Erde habt ihr genutzt, um zu Menschen zu werden.
Das planetare Tor der Venus haben wir genutzt, um jene zu werden, die wir heute sind.
Wir haben uns einst, vor Äonen, auf Ischtar eingefunden. Wir, unsere Seelen, die wir waren.
Wir haben Ischtar, das planetare Tor gewählt, um dort eine Heimat zu finden. Wir haben die-
sen Ort gewählt, um uns zu einer Einheit zu verbinden, zu einem Wir sind.
Aus verschiedenen kosmischen Arealen haben wir uns dort eingefunden.
Zu einer Einheit haben wir uns dort verwoben, zu einer Einheit, die wir jetzt sind.
Wir sind die venusische Einheit, wir sind das venusische Kollektiv.
Wir sind jenes Wir sind, das den Namen Ischtar trägt.