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Seminararbeiten zu:
WS 2008
Universität Wien
Ich bestätige mit meiner Unterschrift, dass ich meine Matrikelnummer korrekt angegeben
habe und dass ich im aktuellen Semester berechtigt bin, Prüfungen im Rahmen jener
Studienrichtung abzulegen, deren Studienkennzahl ich korrekt und vollständig angegeben habe. Ich
bin immatrikuliert, habe die angeführte Studienrichtung inskribiert und habe die Studiengebühr
sowie den ÖH-Beitrag eingezahlt.
Überdies bestätige ich mit meiner Unterschrift, dass ich die vorliegende Arbeit eigenständig
verfasst habe und dass die dabei verwendeten Quellen im Literaturverzeichnis vollständig angeführt
sind. Die vorliegende Arbeit wurde zudem nicht für den Zeugniserwerb im Rahmen einer anderen
Lehrveranstaltung verwendet.
I. Ein Fallbeispiel
An der Universität Wien wurde im Wintersemester 2008 im Rahmen einer Vorlesung zum
Thema “Bildungsprozesse an Bildungsinstitutionen aus Sicht der psychoanalytischen Pädagogik”1
das folgende didaktische “Experiment” durchgeführt: die “orthodoxe” Rollenverteilung innerhalb
des universitären Rahmens, die vorsieht, dass Lehrpersonen LernerInnen gegenübergestellt werden,
wurde teilweise aufgehoben. Stattdessen waren alle an der Lehrveranstaltung beteiligten
StudentInnen dazu aufgerufen, den Inhalt der Lehrveranstaltung kollaborativ mitzugestalten. Sie
konnten sich dabei mit Ideen und Einwänden zum Thema, entweder während der Präsenzzeit, in der
sehr viel Raum für Diskussionen eingeräumt wurde, oder über eine virtuelle Lernplattform
einbringen. Der Lehrveranstalter ging zu Beginn jeder Vorlesung auf theoretische Grundbegriffe
und Modelle aus dem Professions-Diskurs der psychoanalytischen Pädagogik ein. Diese wurden
jedoch nicht einfach vorgetragen, sondern StudentInnen dazu aufgerufen, ihre Assoziationen zu den
genannten Begriffen und Modellen diskursiv einzubringen, sowie nach Verknüpfungen des
jeweiligen Begriffs mit dem Thema der Lehrveranstaltung zu suchen.
Im Forum war zudem mehr Freiraum, als in den Präsenzdiskussionen eingeräumt. Die
StudentInnen wurden eingeladen, sich frei zu allen Themen zu artikulieren, sofern diese in einem
herstellbaren Zusammenhang mit den in der Lehrveranstaltung aufgeworfenen Grundproblemen
standen.
Der unorthodoxe Aufbau der Lehrveranstaltung wurde durch ihr Thema, “Bildungsprozesse
an Bildungsinstitutionen”, legitimiert. Die Lehrveranstaltung selbst, als an einer Bildungsinstitution
stattfindende, sollte ihr eigener Gegenstand werden. Und die Aufforderung an StudentInnen, sich
theoretische Modelle in diskursiver Form kollaborativ zu erschließen, sollte den zweiten
Gegenstand der Lehrveranstaltung, Bildungsprozesse an Bildungsinstitutionen, anregen. Die im
Forum geführten Diskussionen wurden vom Lehrveranstaltungsleiter teilweise in der Präsenzzeit
aufgegriffen und als Beispiel für Bildungsprozesse an der Bildungsinstitution “Universität Wien”
herangezogen. Die StudentInnen generierten den Gegenstand der Lehrveranstaltung durch ihre
eigenen Reflexionsprozesse, zum zuvor abstrakt gefassten Gegenstand2. Zudem wandten sie
1 Der genaue Titel der Lehrveranstaltung lautete „Individuum und Entwicklung –
Entwicklung und Bildung 3. Schule, Familie und andere Bildungsinstitutionen
als Themen der Entwicklungspädagogik“.
2 In der Lehrveranstaltung selbst wurde der kollaborative Aufbau wie
geschildert legitimiert.
Die Lehrveranstaltung war der dritte Teil eines auf vier Semester angelegten Zyklus. Im
genannten Semester war sie kollaborativer gestaltet, als in den zwei Semestern davor, doch begann
die TeilnehmerInnenzahl nach der dritten Lehrveranstaltungseinheit rapide abzunehmen, was in den
Semestern davor nicht in diesem Maße beobachtbar war. Von ca. 120 Anmeldungen in der
Lernplattform und geschätzten 80-100 StudentInnen, die an den ersten Präsenzterminen teilnahmen,
begannen nur mehr geschätzte 40-50 regelmäßig in die Lehrveranstaltung zu kommen - und auch
diese Zahl nahm bis zum Ende des Semesters noch ab. Während in den ersten drei Wochen die
Diskurse im Forum aufblühten, nahmen auch sie nach dieser regen Aktivität signifikant ab. Gegen
Ende des Semesters gab es im letzten Monat praktisch keine Diskussionsbeiträge mehr. Lediglich
eine relativ kleine Gruppe von ca. einem Dutzend StudentInnen, beteiligte sich regelmäßig an den
Forumsdiskussionen. Sie wurde vom Lehrveranstaltungsleiter - teils provokativ, um
Diskussionsprozesse im Forum anzuregen - als “Elite” bezeichnet und im Forum ein Thread mit der
Frage eröffnet, wie die “Elitebildung” verhindert und bessere Rahmenbedingungen geschaffen
werden könnten, um mehr StudentInnen zu Kollaborationsprozessen zu motivieren.
Dieser Rückgang wurde zunächst darauf zurückgeführt, dass in diesem Semester -zum ersten
mal seit Beginn des Zyklus - regelmäßig nach jeder Sitzung Lehrveranstaltungsprotokolle auf der
Lernplattform allen zur Verfügung gestellt wurden. Zudem gab es Tonmitschnitte jeder
Lehrveranstaltung und die Ankündigung eines Skriptums, welches zu Ende der Semesters folgen
sollte. Neben diesen Hilfmitteln, die ein Absolvieren der Lehrveranstaltung ohne aktive Teilnahme
erleichterten, wurden von StudentInnen auch folgende mögliche Ursachen für die Elitebildung -
einerseits dem Verfasser dieser Arbeit, der sich als “Klassensprecher” zur Verfügung gestellt hatte,
ebenso wie im Forum - artikuliert:
- Einige KollegInnen fühlten sich von den Diskursen im Forum und der Präsenzzeit
- Der vom Lehrveranstaltungsleiter eingeführte “Elitebegriff” wurde von vielen als “erst recht
abschreckend” empfunden. StudentInnen berichtetem von dem Gefühl, in der Lehrveranstaltung nur
willkommen zu sein, wenn sie bereit wären, sich aktiv im Forum zu beteiligen; “bloßes” Zuhören
wurde dagegen, wie der wertende Elitebegriff implizierte, als abgewertet empfunden.
- Auch die Diskurskultur im Forum wurde kritisiert. Einige fühlten sich - weil im Forum nicht
auf jeden Beitrag geantwortet wurde - nicht ernst genommen. Und auch der
Lehrveranstaltungsleiter griff jeweils bestimmte Beiträge in der Präsenzzeit auf, die meisten jedoch
blieben unberücksichtigt und unbeantwortet.
- Viele berichteten, dass die anfängliche Flut an Beiträgen im Forum für sie nicht zu
bewältigen war. Fehlte man an einer oder zwei Sitzungen, war die Anzahl von Diskursen, die v.a. in
den ersten Wochen entstanden, nicht mehr zu bewältigen.
- Andere äußerten das Bedenken, die Lehrveranstaltung sei wie eine therapeutische Situation
gestaltet, in der der Therapeut (in diesem Fall der Lehrveranstaltungsleiter) von sich aus wenig
einbringt sondern primär Fragen stellt und Antworten kommentiert. Sie empfanden diese
Interaktionsform als für den Rahmen einer Vorlesung inadäquat.
- Auch die “doppelte Nähe” wurde als dem Setting einer Vorlesung nicht angebracht
empfunden. Die Diskurse sollten eine “Begeisterung” und “Nähe” zu den besprochenen
Grundthemen eröffnen, ebenso wie die persönliche Stellungnahme im Forum - mit eigenem Foto
und echtem Namen im Profil - eine “Nähe” zwischen den StudentInnen generieren sollte. Diese
doppelte Nähe empfanden einige als “hemmend”. Und zudem auch das Gefühl schlechtes Gewissen
zu haben, wenn man sich nicht so sehr für die Sache engagiert, wie der Lehrveranstaltungsleiter es
sich wünscht3.
Ausgehend von den im Forum artikulierten Bedenken, wurde zu Semesterende nach den
Prüfungen vom Autor dieser Arbeit eine Evaluation durchgeführt, die erheben sollte, inwiefern
diese Bedenken von den StudentInnen geteilt wurden. Dabei gab es zwei positive Überraschungen.
Einerseits wurde bei der Prüfung der beste Notendurchschnitt erreicht, seit Bestehen des Zyklus.
Andererseits war trotz der Abnahme der “aktiven” und “kollaborativen” TeilnehmerInnenzahl, das
3 Die Diskussionen um die möglichen Ursachen für den sich leerenden Hörsaal
fanden in einem geschlossenen Forum statt und sind nicht öffentlich zugänglich.
Ein Bedenken wurde von den StudentInnen besonders häufig bestätigt und soll in dieser
Arbeit aufgegriffen werden. Die meisten der befragten gaben an (23 von 54), sich nicht am Forum
beteiligt zu haben, weil sie sich eingeschüchtert fühlten. Und dies, obwohl der
Lehrveranstaltungsleiter - wann immer die Teilnahme im Forum Thema in der Präsenzzeit war -
betonte, dass jeder Beitrag, sei er auch noch so rhapsodisch, sei es eine bloße Frage, willkommen
sei. Kein einziger Beitrag im Forum wurde vom Lehrveranstaltungsleiter oder von den
StudentInnen als “falsch” oder “undurchdacht” beurteilt. Weder bestand die Gefahr, über
“unqualifizierte” Beiträge die eigene Note herabzusetzen, noch wurde die Formulierung
“unqualifiziert” vom Lehrveranstaltungsleiter überhaupt toleriert. Jeder Beitrag, so wurde von ihm
betont, sofern er Artikulationsbemühung des eigenen Problembewusstseins darstellt, war
willkommen und nach dem die Lehrveranstaltung begleitenden Bildungsbegriff5 Ausdruck von
Bildungsprozessen, unabhängig von seinem propositionalen Gehalt.
Ausgehend vom Problem der Hemmungen in der oben geschilderten Lernsituation, soll die
Frage aufgegriffen werden, wie diese Hemmungsgefühle vor dem Hintergrund des relativ
schwachen normativen Rahmens der Lehrveranstaltung verstanden werden können. “Schwache
Normierung” meint hierbei, dass die Teilnahme am Forum an fast keine normativen Vorgaben - wie
Stil, Reflexionsniveau, zu Rate gezogene Primärliteratur, gelernter Unterrichtsstoff etc. - gebunden
war. Es wurden m.a.W. keine Minimalnormen oder Standards formuliert, an welche die Teilnahme
im Forum gebunden war - die einzige Minimalnorm schien Fragebereitschaft.
Ob explizite Normierung auch zudem eine bildungsfördernde Funktion haben könnte, soll in
Teil II der Arbeit untersucht werden. Hierfür wird der Frage nachgegangen, inwiefern
Raumtrennung im genannten Fallbeispiel bildungsfördernde Funktion haben könnte. Raumtrennung
kann jedoch gerade anhand explizierter Normen vollzogen werden. Normierungen, das wird zu
zeigen sein, schaffen Räume. Raum wird dabei in Anlehnung an Löw über Syntheseleistung und
Spacing verstanden, d.h. (An)Ordung von Symbolen an einem Ort. Wie in Anlehnung an Bollnow,
Gebser und Foucault gezeigt werden soll, sind Räume wiederum Wiederspiegelungen von Identität.
Nimmt m.a.W. der oben genannte Lehrveranstaltungsleiter eine explizite Normierung der
Teilnahmebedingungen am Forum vor, schafft er einen Raum, ordnet er Handlungen, Güter und
Symbole auf bestimmte Weise vor. Diese Anordnung jedoch ist zugleich eine Artikulation seiner
eigenen Identität sowie der Professions-Identität, welche er als Lehrperson vertritt. Um Identität
jedoch in ihrer Erschlossenheit für andere verstehbar zu machen, sind erschlossene
Handlungsaufforderungen notwendig. Und gerade diesem Moment der Erschlossenheit von
Handlungsaufforderungen kann über (virtuelle) Raumtrennung Rechnung getragen werden. Fallen
dagegen mehrere Räume aufgrund mangelnder Explizierung von Normierungen an einem Ort
zusammen, werden die Normierungen - indem sie aus ihrer Erschlossenheit gerissen werden - miss-
oder gar unverständlich.
Wenn eine Identität sich m.a.W. verstehbar machen will, so kann sie es nur über die
Erschlossenheit eines von ihr normierten Raumes, der von anderen Räumen klar differenziert wird.
Derartige Raumtrennung lässt sich z.B. anhand eines Artikulationsbereiches für die
Profession, den Lehrveranstaltungsleiter sowie der beteiligten StudentInnen, virtuell realisieren.
Damit soll ein möglicher medienpädagogischer Bezug von Teil II der Arbeit zumindest angedeutet
und eine Möglichkeit praktischer Umsetzung des bildungsphilosophisch Diskutierten vorgeschlagen
werden.
IV. Methode
Beide Teile der Arbeit versuchen eine heuristische Kontextualisierung bisher etablierter
Identitätskonzeptionen mit der geschilderten Problemsituation. Die im jeweiligen letzten Kapitel
jedes Teiles ausgeführten praktischen Differenzierungsvorschläge könnten erprobt und
Hemmungsgefühl empirisch erhoben werden. Eine empirische “Plausiblisierung”, wie sie für die
Annahme von Hemmungsgefühlen anhand eines Fragebogens erbracht wurde, konnte für die
Differenzierungsvorschläge selbst nicht geleistet werden, weil diese im Rahmen der genannten
Lehrveranstaltung nicht durchgeführt werden konnten, ohne zu gravierende Einschnitte in den
didaktischen Aufbau der Lehrveranstaltung zu fordern.
I. Wozu Bildungsstandards?
Die Ergebnisse von PISA 2000 deuteten den Autoren der Studie zufolge auf gravierende
Mängel im deutschen Bildungssystem. Die Studie wurde von der OECD in Auftrag gegeben und
hatte zum Ziel, den Regierungen der getesteten Länder Indikatoren für die Erleichterung politischer
Entscheidungen, zur Verbesserung des Bildungssystems zur Verfügung zu stellen6. Dabei wurde von
einem funktionalistisch orientierten Grundbildungsverständnis ausgegangen und vier
Kompetenzbereiche differenziert: Lesekompetenz, mathematische, naturwissenschaftliche
Grundbildung sowie fächerübergreifende Kompetenzen7. Die Studie erhob explizit nicht den
Anspruch, anhand dieser vier Kompetenzmodelle Allgemeinbildung zu erheben. Vielmehr, so die
Autoren, stellen diese Kompetenzen erlernbare, handlungsorientierte Problemlösefähigkeiten dar8,
die im Interesse aller BürgerInnen stehen, sowie Voraussetzung für gelungene Lebensführung sind9.
Den Schulen sollen dabei weder curriculare Vorgaben gemacht, noch ein Bildungsbegriff im Sinne
Humboldts - als eine Verinnerlicherung diverser Daseins- oder Rationalitätsmodi - abgedeckt
werden10. Vielmehr wurden die in PISA erhobenen Basiskompetenzen als Vorraussetzung derartiger
Bildungsprozesse verstanden.
Die Erhebungen der Studie wiesen dabei darauf hin, dass ein Viertel der getesteten
Fünfzehnjährigen die Mindestkompetenz in Mathematik und Lesekompetenz, die ihrem Alter
entsprechen würde, nicht erreichen konnte11. Im Fall der Lesekompetenz erreichte ein Viertel die
zweite von insgesamt fünf aufbauenden Kompetenzstufen nicht12. Dabei trauten die Lehrpersonen
den SchülerInnen schwierigere Aufgaben zu, als sie letztlich lösen konnten13. Zudem fiel
Deutschland in den unteren Leistungsbereichen deutlich gegenüber anderen Ländern ab14. Dieses
schlechte Abschneiden bei Grundkompetenzen, die didaktisch leicht einlösbar sein sollten, wurde
6 Baumert 2001, 15
7 Baumert 2001, 15f.
8 Baumert 2001, 22
9 Baumert 2001, 29
10 Baumert 2001, 21
11 Klieme 2003, 13
12 Baumert 2001, 113
13 Klieme 2003, 30
14 Klieme 2003, 13
Bildungsstandards sollen - den Autoren der PISA-Studie zufolge - die Aufgaben der
öffentlichen Einrichtung Schule nach außen hin, d.h. für Eltern als auch SchülerInnen, transparent
machen und die Ziele pädagogischen Handelns explizieren16. Bildungsstandards würden dabei von
einer Input- zu einer Output-Orientierung führen und somit das Recht von SchülerInnen auf gleiche
Bildungs- und Verwirklichungschacen realisiert werden, indem der Staat durch
Leistungsüberprüfung für Qualität sorgt17. Die Idealvorstellung ist dabei, dass die Output-
Orientierung die Schulen nicht in ihrer Autonomie beschränkt, sondern lediglich einen allgemeinen
Kompetenzkanon vorgibt, innerhalb dessen die Schulen freie Hand haben, Curricula selbst zu
gestalten. So sollen lediglich allgemeine Kernkompetenzen formuliert werden und den Schulen die
Methoden ihrer Realisieriung frei überlassen werden18. Durch Bildungsstandards sollen
SchülerInnen sowie das Elternhaus relativ klare Orientierung darüber bekommen, welche
Entwicklungsmöglichkeiten an Schulen gefördert werden19 und auch Lehrpersonen sowie Schulen
Orientierungspunkte und Leitfäden für professionelles Handeln erhalten20.
Neben der Transparenz über die offiziellen Aufgaben des Schulsystems, erhoffen sich die
Autoren auch eine Entlastung für SchülerInnen. Im Gegensatz zum bisherigen, defizit-orientierten
Notensystem, streichen Mindeststandards positiv hervor, was bereits gekonnt wird21.
An dieser Konzeption von Bildungsstandards wurde von mehreren Seiten Kritik geübt.
Einerseits wurde z.B. in Frage gestellt, ob der Begriff der Basiskompetenzen noch etwas
gemeinsam habe, mit dem bisher v.a. in der deutschen Tradition prägenden Begriff der
Allgemeinbildung. Koch z.B. kommt zu dem Schluss, dass die rein funktionale Definition von
Kompetenzen wie sie PISA vorsieht, rein “vorwärtsorientiert” auf das Erlernen von
Werkzeuggebrauch aus sei, der nur ökonomischen Nutzen habe. Der Bildungsbegriff dagegen sei
15 Klieme 2003, 13
16 Klieme 2003, 19
17 Klieme 2003, 12
18 Klieme 2003, 50
19 Klieme 2003, 48
20 Klieme 2003, 51; 54
21 Klieme 2003, 28
Aus anderer Perspektive kritisiert z.B. Bellmann die Praktikabilität der Umsetzung von
Kernkompetenzen und der Output-Steuerung. Ihm zufolge gäbe es die Gefahr, dass aller
bildungsphilosophischen Überlegungen zum Trotz, in der entsprechenden pädagogischen Praxis
“perverse Effekte” das Ergebnis sein könnten26. Nach ihm ist durchaus vorstellbar, dass die Output-
Steuerung statt mehr Freiheiten für die Gestaltung von Lehrplänen und die Umsetzung von
Lernzielen letzlich gerade das Gegenteil, zu freier Schulwahl und Wettbewerb zwischen Schulen
führen könnte, ebenso wie zu einem “teaching to the test”27. Hierbei würde die Qualität des
Unterrichts von der Qualität des Tests abhängig, auf den hin unterrichtet wird. Und am Beispiel der
“charter schools” zeigt er auf, dass freier Wettbewerb zwischen Schulen eine Homogenisierung von
Unterrichtsmethoden hin auf Bewährtes zur Folge haben könnte28.
Eine weitere kritische Perspektive wirft Heid mit der Frage auf, ob aus dem bloßen
empirischen Fakt, dass ein Standard erfüllt wird, unmittelbar auf die dahinter stehende Qualität des
Unterrichts geschlossen werden kann29. Umgekehrt ist jedoch denkbar, dass Leistungen die ein
Schulsystem tatsächlich erbringt, jedoch nicht den Leistungsvorstellungen der TesterstellerInnen
korrelieren, nicht erhoben werden30. Heid betont, dass die Vorstellung der Sicherung von
22 Koch 2004, 188
23 Koch 2004, 189
24 Koch 2004, 189
25 Koch 2004, 187f
26 Bellmann 2005, 15
27 Bellmann 2005, 20f.
28 Bellmann 2005, 22
29 Heid 2007, 34
30 Heid 2007,44
III. Der Sinn der Explikation von Standards aus Sicht der beteiligten LernerInnen
Die genannten Kritiken greifen das Konzept der Bildungsstandards hinsichtlich der
Operationalisierbarkeit von Lernprozessen, dem Unterlaufen des klassischen Bildungsbegriffes
durch einen qualifikationsbezogenen Kompetenzbegriff sowie der Möglichkeit paradoxer, d.h.
unerwarteter Folgen, an. Sie werfen nicht die Frage auf, ob aus der Perspektive der LernerInnen
selbst die Formulierung von Standards nicht “enthemmende” Funktion haben könnte. Genau diese
Perspektive auf Bildungsstandards soll im weiteren Verlauf dieser Arbeit aufgegriffen werden.
Hierbei wird zunächst zu klären sein, was unter Standard genau zu versehen ist.
Während aus dieser Perspektive auf den Standardbegriff die oben genannten kritischen
Einwände keine Beantwortung finden können, gilt umgekehrt, dass die Einwände gegen diesen
Frageansatz nicht greifen. Hierbei wird nicht das Potenzial der Leistungssteigerung durch Standards
betont, wie etwa in der PISA-Studie, sondern inwiefern Standards im Sinne explizierter Normen
nicht emotionale Entlastung in Lernprozessen fördern könnten. Aus einer anderen Fragestellung
kommend, soll im Folgenden - auf anderem Argumentationswege als die PISA-Studie - die
Empfehlung von Standards im Sinne von explizierten Normen legitimiert werden.
31 Heid 2007, 39
32 Ruhloff 2007, 53
33 Ruhloff 2007, 50
Standards gelten in dieser Arbeit als mit Normen34. Jeder Standard ist eine Norm, nicht jedoch
jede Norm ist ein Standard. Standards meinen hierbei explizierte Normen und weniger
vereinheitlichte Normen. Normen sind Handlungsaufforderungen – etwa der Form “tue dies” -, die
mittels Symbolen an andere Bewusstseine gerichtet werden35. Eine Handlungsaufforderung kann
hierbei anhand eines Satzes, ebenso aber auch anhand eines singulären Zeichens vermittelt werden.
Normen können auch durch ein Kollektiv formuliert werden und Handlungsaufforderungen für die
Erfüllung bestimmter sozialer Rollen oder Praktiken artikulieren. Solange die innerhalb des
Rahmens einer sozialen Praxis geltenden Normen oder Handlungsaufforderungen befolgt werden,
gewinnt das handelnde Individuum innerhalb dieser Praxis geltende Rechte. Die geltenden Normen
sind hierbei für die handelnden Individuen kein kategorisches “Muss”, im Sinne eines
kategorischen Imperativs, sondern hypothetisch: sofern ein Individuum anerkanntes Mitglied einer
sozialen Praxis bleiben, sowie bestimmte Rechte haben will, “muss” es die geltenden Normen
befolgen. Sofern StudentInnen z.B. ein Zeugnis wollen, welches ihnen bestimmte Rechte verleiht,
“müssen” sie bestimmte Lerninhalte wiedergeben können. Sofern man das Recht will, ein Auto zu
fahren zu dürfen, “muss” man die Straßenverkehrsordnung befolgen.
34 Klieme 2003, 31
35 Dux 2000, 313
36 Searle 1995, 146
Hierbei wird Handlungsaufforderung sehr weit gefasst und umfasst neben offensichtlichen
Präskriptionen, die Sanktionen androhen, auch deskriptive Äußerungen - sofern diese auch an
andere Bewusstseine gerichtet sind. Selbst eine bloß deskriptive Äußerung wie “heute regnet es den
ganzen Tag.” hat normativen oder handlungsauffordernden Charakter in mindestens zweierlei
Sinne. Sie beschreibt nicht nur das Wetter, sondern - sofern sie an ein anderes Bewusstsein gerichtet
ist - artikuliert auch die implizite Aufforderung über das Wetter, und nicht über etwas anderes zu
sprechen. Zudem jedoch stellt sie den Anspruch, und dies ist ihr zweiter normativer Gehalt, dass so
über das Wetter nachzudenken sei, wie vorgemacht wurde. M.a.W. wird impliziert, dass dies eine
richtige und legitime Form des Nachdenkens über das Wetter sei. Die Deskription lässt sich in
folgende Präskriptionen aufbrechen: “denke mit mir gemeinsam über das Wetter nach!” sowie
“denke auf die von mir vorgemachte Weise über das Wetter nach!”.
Auch in diesem deskriptiven Beispiel werden Interessen ausgedrückt. Die bloße Deskription
des Wetters drückt das Interesse über das Wetter zu sprechen aus, ebenso wie das Interesse, das
Wetter richtig beschrieben zu haben. Diese Verbindung von Handlungsaufforderung und
Erwartungshaltung, dass dieser entsprochen werden solle, um bestimmte Interessen zu decken,
interessiert am Begriff der Norm in dieser Arbeit. Die Deskription selbst drückt das Interesse aus,
dass das angesprochene Bewusstsein die vermittelte Information und das Thema für sich relevant
oder bedeutsam werden lassen solle37. Wie Dux treffend feststellt, wird nicht nur gesagt, was getan
werden solle - über das Wetter nachzudenken - sondern zudem auch, dass es getan werden solle38.
In dieser impliziten Aufforderung, dass die eigenen Interessen respektiert werden, liegt das Sollen
der bisher behandelten Normen39.
Die Zeichen, welche die innerhalb der sozialen Praxis gültigen Normen repräsentieren,
können von ihrer normativen Funktion auch aufgehoben werden: zu Großereignissen gelten an
bestimmten Stellen Stoppschilder nicht mehr, weil innerhalb eines bestimmten Bereichs die soziale
Praxis des Autofahrens “aufgehoben” wurde. Diese Beobachtung plausibilisiert, dass Normen nicht
unabhängig von einer sozialen Praxis Geltung haben. Ebenso ist die Aussage, dass es regne, nur vor
dem “Background”40 anderer, gemeinsam geteilter Fähigkeiten, Wissensbestände, Interessen und
Praktiken verständlich.
Umgekehrt gilt aber, und hier liegt die Relevanz des Gesagten für die weitere Diskussion,
dass es keine soziale Praxis ohne Normen - im Sinne der Handlungsaufforderung - geben kann.
Handlungsaufforderungen definieren soziale Praxis. Sie drücken einerseits Interessen aus;
andererseits, wie etwas “richtig” getan wird, sodass diesen Interessen entsprochen wird. Auch die
im Fallbeispiel thematisierte institutionalisierte soziale Praxis des Studierens wird m.a.W. über
Normen - in dem hier verwendeten Sinne - konstituiert. Normen drücken dabei einerseits aus, was
bedeutsame Themen der inneruniversitären Auseinandersetzung sind, andererseits aber auch, wie
diese Themen im universitären Rahmen methodisch richtig erforscht werden sollten. Daneben
werden diese Normen – sofern es sich um offizielle Normierungen der sozialen Praxis des
Studierens handelt - von Sanktionsmaßnahmen als auch Statusfunktionen41 begleitet.
Für jede soziale Praxis gilt, dass sie durch Normierungen oder zu erfüllende
Handlungsauffoderungen erst konstituiert wird. Das sind all jene “Aufforderungen”, die den an der
sozialen Praxis teilnehmen wollenden Individuen nahe legen, was innerhalb der Praxis tunswert ist,
sowie, wie es getan werden “soll”. Das “Soll” ist hierbei, wie bereits dargelegt wurde, ein
hypothetischer Imperativ. Erst über derartige Handlungsaufforderungen entsteht soziale Praxis und
ein gemeinsamer Gegenstand, an den aus einer gemeinsamen methodischen Perspektive heraus
Annäherung stattfindet. Die Annäherung an den gemeinsamen Gegenstand gilt als innerhalb der
Paxis “Sinnvolles”. Werden diese Normen zudem versprachlicht sowie deren Erfüllung zur
offiziellen Bedingung der Teilnahme an dieser Praxis gemacht, wird die Praxis institutionalisiert.
Ein Bruch gegen das “Was” und “Wie” hätte Sanktionen zur Folge.
Eine derartige Norm war etwa die Rollenverteilung im Unterrichtsraum - dass Lehrpersonen
unterrichten und StudentInnen währenddessen zuhören “sollten”. Hierbei gab es Normen, die an die
Lehrpersonen selbst gerichtet waren, und andererseits auch Normen, die - vermittelt über die
Lehrperson - an die StudentInnen gerichtet waren. Hätten sowohl Lehrperson als auch StudentInnen
gegen diese in jeder Lehrveranstaltung implizit geltenden, dennoch offensichtlichen Grundnormen
verstoßen, hätten sie mit Sanktionsmaßnahmen rechnen müssen. Auch wenn dies nicht in jeder
Lehrveranstaltung ausdrücklich explizit gemacht wird, ist der Hörsaal nicht der soziale Ort, an dem
gemeinsam musiziert wird. Hätten StudentInnen oder der Lehrveranstaltungsleiter gegen diese
unausgesprochene Norm verstoßen, wäre den Beteiligten ohne lange Legitimation aufgefallen, dass
hier von den jeweiligen - gegen die Normen verstoßenden - Personen etwas grundsätzlich nicht
verstanden wurde und “falsch” gemacht wird.
Neben dieser Norm der Rollenverteilung gab es auch subtilere, von der Institution
vorgegebene, Handlungsaufforderungen. Im Vorlesungssaal z.B. war die höchste implizite und
Norm war diese Handlungsaufforderung insofern, als sie als implizit sinnvolle und
befolgenswerte oder bedeutsame galt, wenn auch keine offiziellen Sanktionsmaßnahmen bei deren
Nichtbefolgung angekündigt waren. Diese Sinnhaftigkeit der Handlugsaufforderung fand im
“Elitebegriff” Ausdruck. Nicht umsonst - diese Vermutung wurde auch im Forum geäußert - wurde
Dies waren aber nicht die einzigen einander ausschließendem Normen im Unterrichtsraum.
Neben dieser vom Lehrveranstaltungsleiter eingeführten Norm des selbsterschlossenen Wissens,
entstanden innerhalb des sozialen Handlungsraums der Vorlesung eigendynamisch Normierungen
aus den Interaktionsprozessen der StudentInnen selbst. Im Forum entstanden relativ schnell
“Diskursnormen”. Ohne dass hierbei etwas bewusst als Norm ausgegeben wurde, entstanden durch
bloßes Vormachen einer möglichen Denkbewegung im Forum “Vorgaben” und Aufrufe, wie über
welche Themen nachgedacht werden kann - und soll. Indem alle diese Handlungsaufforderungen,
d.h. Aufforderungen über etwas Bestimmtes auf eine bestimmte vorgegebene Weise nachzudenken,
jedoch zugleich auch den impliziten Anspruch erhoben, etwas richtig zu tun, und dieses Tun von
anderen auch ernst genommen werden solle, wurden sie zugleich auch zu Normen. In Parallele zum
Beispiel der Deskription des Wetters, die zugleich eine Präskription ist, weil die über das Wetter
nachdenkende Person ein Interesse daran hat, dass das Gegenüber ihre Meinungsäußerung
nachvollzieht und für sich bedeutsam werden lasse, fanden im Forum nicht nur deskriptive, sondern
zugleich auch präskriptive Prozesse statt. Jede Äußerung im Forum beschrieb nicht nur
Sachverhalte, sondern war zugleich auch Ausdruck eines Interesses, dass diese Beschreibung von
anderen StudentInnen zur Kenntnis genommen werden sollte. Stellungnahmen in einem Forum
ereignen sich nicht einfach, vergleichbar einem Naturereignis, sondern werden bestimmten
Interessen folgend getan.
Indem im Forum bloß deskriptiv Stellung genommen wurde, dies war der Kerngehalt des
bisherigen Überlegungen, wurde bereits präskriptiv vorgemacht, was von anderen zur Kenntnis
An dieser Stelle ist nur festzuhalten, dass der Lehrveranstaltungsraum normativ “überladen”
Werte sind “interiorisierte” Normen. Dann, wenn eine Norm als Handlungsanweisung nicht
nur verstanden wird, sondern es dem handelnden Individuum ein Bedürfnis wird, diese Norm auch
zu erfüllen, d.h. dem Aufruf der Erfüllung Folge zu leisten, wird sie zu einem Wert43. Betritt man
z.B. ein fremdes Land, begegnet man einer fremden Wertewelt noch als bloßer Norm, d.h. als
Aufruf zum Handeln, welches im Interesse anderer Individuen ist. Man lernt mit der Zeit, welche
Normen oder Aufrufe es wann zu befolgen gilt, um Sanktionsmaßnahmen zu vermeiden. Doch sind
diese Normen so lange nicht zu Werten interiorisiert worden, zu einem Bestandteil des eigenen Ich
geworden, als sie aus Angst vor Sanktionsmaßnahmen befolgt werden und es für die Handelnden
eigentlich “keinen Unterschied macht”, ob sie der Norm entsprechen oder sie verfehlen. Normen
sind also ein bloßer Ruf, der verstanden werden kann, jedoch mit dem Verstehen nicht notwendig
ein Bedürfnis einhergeht, dem Ruf auch - unabhängig von Sanktionsmaßnahmen - folgen zu wollen.
Sobald man jedoch beginnt sich zu schämen oder Schuld empfindet, eine Norm verfehlt zu
haben, ist sie interiorisiert worden. Und es scheint beobachtbare Tatsache, dass Bewusstseine
gegenüber dem Nichtbefolgen bestimmter Handlungsaufrufe Schuld und Scham empfinden können,
auch unabhängig davon, ob sie bei der Nichtbefolgung öffentlich beobachtet werden oder mit
Sanktionen zu rechnen haben. In Eriksons Modell der Identitätsentwicklung sind Scham und
Selbstzweifel in der Kindesentwicklung die ersten Anzeichen interiorisierter Normen44 und über
diese Bedeutsamkeitsbeziehung zu diesen Normen konstitutierter Identität. Sobald ein Kind
beginnt, ein Schamgefühl ohne Androhung von Sanktionsmaßnahmen zu entwickeln, hat es die
Normen in sein Selbstbild interiorisiert, dem es gerade nicht entspricht. Das Identitätsgefühl des
Kindes ist weiter geworden und umfasst neben seinem Vertrauen in bestimmte Bezugspersonen45
zudem auch das Gefühl, jemand bestimmer zu sein, der bestimmten Handlungserwartungen gerecht
werden kann - oder eben nicht.
Jene Normen oder Handlungsaufrufe, die zu einem Wert interiorisiert wurden, werden vom
handelnden Bewusstsein nicht bloß zur Kenntnis genommen - wie ein Bewussstsein z.B. zur
Kenntnis nimmt, dass in einem bestimmten Land andere Kleidungsvorschriften gelten -, sondern
Warum es eine derartige Beziehung zwischen Erfüllung eines Aufrufes zur Handlung, sowie
dem eigenen Selbstempfinden gibt, ist damit keineswegs geklärt. In dieser Arbeit wird lediglich als
Ausgangspunkt darauf verwiesen, dass - aus welchen Gründen auch immer - Bewusstsein immer
eine “Bedeutsamkeitsstruktur” hat, d.h. es für Bewusstseine “einen Unterschied macht”, was sie
erfahren - Bedeutsames oder Profanes - ebenso, wie es für sie “einen Unterschied macht”, ob sie
dem Handlungsaufruf des einem Bewusstsein Bedeutsamen gerecht werden können oder nicht.
M.a.W. scheint es beobachtbare Tatsache - auch wenn diese u.U. nicht näher erklärt werden könnte
-, dass Bewusstseine, sofern sie den Erwartungen eines bedeutsamen Gegenübers nicht gerecht
werden, Scham oder Hemmung empfinden.
Nach dem bisher Dargelegten haben Individuen nicht nur Kompetenzen, sondern zugleich
auch eine Bedeutsamkeitsbeziehung zu diesen Kompetenzen47. Diese Aussage kann am je eigenen
Bewusstsein erprobt werden: sofern es für das eigene Bewusstsein “einen Unterschied macht”, ob
man hinsichtlich einer bedeutsamen Fähigkeit kompetent ist oder nicht, nimmt man Kompetenz
nicht bloß zur Kenntnis, sondern ist davon betroffen. Kompetenz, ebenso wie andere Personen,
können Bewusstsein zu einem Anliegen werden.
Eine Norm erfüllen zu können erfordert Kompetenz. Bewusstseine jedoch verfügen nicht
einfach über Kompetenzen - oder eben nicht - sondern definieren sich, sofern Eriksons Modell der
Identitätsentwicklung stimmig ist, über ihre Kompetenzen als Iche48. Subjekten ist wichtig oder
bedeutsam, über bestimmte Kompetenzen zu verfügen - nämlich jenen, die in einem
Interiorisierungsprozess zu einem Wert geworden sind. Kann das Ich diese Kompetenzen erfüllen,
erfährt es Selbstachtung49, wird es ihnen dagegen nicht gerecht, empfindet es Scham.
46 Erikson 1973, 94
47 In Anlehnung an Dux’ Ausführungen über den bedeutsamen Anderen ist hier die
Rede von einer Bedeutsamkeitsbeziehung zu Kompetenzen. Dux 2004, 178
48 Spätestens ab dem Lebensthema des Werksinns oder der Leistung wird Kompetenz
bei Erikson als identitätskonstitutiv erfahren. Erikson 1973, 98ff.
49 Erikson 1973, 17ff.
Oben war die Rede von identitätskonstitutiver Funktion von Werten. Identität meint in diesem
Zusammenhang ein zeitlich ausgedehntes Selbstgefühl50, welches über kohärente
Bedeutsamkeitsbeziehungungen konstitutiert wird. In Anlehnung an Erikson definiert Taylor
Identität als jenen moralischen Raum, innerhalb dessen einem Bewusstsein bestimmte Personen,
Probleme, Bewusstseinsinhalte oder Kompetenzen bedeutsam, wichtig sind51. Keine Identität, in
dem von hier gebrauchten Sinne, hätten Bewusstseine dann und nur dann, wenn ihnen alles ihnen
Begegnende völlig gleich-gültig wäre, d.h. einerlei wäre, ob sie wüssten oder nicht, ob sie sich
entwickelten oder nicht, kompetent wären oder nicht, Schmerz erführen oder nicht, stürben oder
nicht. Sobald es “für jemanden einen Unterschied macht”, ob er sehen kann oder plötzlich
erblindete, existiert dieser “jemand” auch schon als Identität, d.h. ein sich mit dem “sehen Wollen”
identifizierendes Bewusstsein. In diesem Sinne haben auch Tiere Identität, sofern es für sie auch
tatsächlich “einen Unterschied macht”, ob sie sich in einem Schmerzzustand befinden oder nicht.
Auf Maschinen und bloße Gegenstände dagegen, lässt sich die Formulierung des “für jemanden
einen Unterschied machen” nicht anwenden. Für eine Maschine “macht es keinen Unterschied”, ob
Günter Dux legt in Anlehnung an Stern ein Modell von Interiorisierung vor. Bereits Erikson
sieht das soziale Umfeld des Kindes als unter bestimmten Bedingungen Selbstgefühl fördernd an.
Im Gegensatz zu Freud fasst er das Über-Ich nicht als eine reine Beschränkung der eigenen
Bedürfnisse auf, der sich das Ich unterwerfen muss, sondern als potenzielle Anregung für die
Entfaltung eines Selbstgefühls und Selbstachtung53. Dux spricht im Falle der nächsten
Bezugspersonen des Kindes, zu denen das Kind stark emotional unterlegte Bindungen aufbaut, von
“bedeutsamen Anderen”. Über diese Personen lernt das Kind sich selbst als bedeutsamer Anderer
zu verstehen54. Zudem übernehmen die bedeutsamen Anderen jedoch auch die Rolle der “Garanten”
gelungener Identitätskonstruktion ein. Sie vermitteln dem Kind nicht nur Kompetenzen, sondern
garantieren diesem zugleich, dass diese Kompetenzen einem gelungenen Lebensführung, einem
Was bei Erikson vorgedacht, bei Dux jedoch explizit ausgesprochen wird, ist, dass
Identitätsentwicklung auf bedeutsame Andere angewiesen ist. Kinder konstruieren sich ihre
Identität oder Bedeutsamkeitsbeziehungen nicht aus reiner Abwägung nach einem
Rationalitätskriterium heraus, sondern durch Anlehnung an für sie bedeutsame Andere. Sie
übernehmen dabei nicht nur Kompetenz sondern zugleich auch die Bedeutsamkeitsbeziehung zu
Kompetenz. Kinder lernen nicht nur etwas zu tun sowie zu wissen, sondern zugleich, dass es
wichtig ist etwas zu wissen und zu können. Im bloßen Vormachen von Kompetenz bieten die
Bezugspersonen dem Kind einen sinnhaften Identitätsentwurf an. Die Bezugspersonen übernehmen,
um es nochmal in Dux’ gelungener Fomulierung zu sagen, eine “Garantenstellung” für die
Sinnhaftigkeit dessen, was Kinder von ihnen lernen.
Nach dem bisher Dargelegten könnte das zunächst kontraintuitive Ergebnis, dass gute
Schulleistungen nicht notwendig zu hohem Selbstvertrauen führen57, verständlich werden.
Angenommen, dass die genannte Schülerin die im Mathematikunterricht geltenden Normen nicht
nur gerecht werden kann, sondern diese zudem als bedeutsame interiorisiert hat, hat sie eine
identitätskonstitutive Bedeutsamkeitsbeziehung zu ihren Mathematikkentnissen und nimmt diese
nicht bloß zur Kenntnis. Nach Erikson würde sie Stolz gegenüber ihren eigenen Kompetenzen
55 Dux 2004, 174
56 Datler 2003, 48
57 Löw 2003, 74
Das obige Beispiel veranschaulicht, dass Selbstgefühl nicht von “objektiver Leistung”
abhängt, sondern den subjektiv konstituierten Bedeutsamkeitsbeziehungen. Während für einige der
SchülerInnen in der genannten Klasse die Hausübung nicht gemacht zu haben, u.U. ein Gefühl des
Stolzes bergen kann, ist dies im Falle der Klassenbesten nicht der Fall. Ihr Selbstgefühl scheint -
zumindest teilweise - über ihre Bedeutsamkeitsbeziehung zu bestimmten Normen definiert, die
nicht einmal offiziell während der Mathematikstunde gelten müssen. So ist im Klassenraum keine
offizielle Norm, die Klassenlehrerin mittels eigener Kenntnisse zu übertreffen oder vor der Klasse
stets Kompetenz beweisen zu müssen. Offizielle Norm in der Klasse könnte dagegen sein, dem
Mathematikunterricht mit Bemühen zu begegnen, sowie die aufgetragenen
Handlungsaufforderungen zu erfüllen. Am Beispiel der Klassenbesten wird jedoch deutlich, dass
diese Normierungen auch überzeichnet werden können sowie identitätskonstitutive Funktion haben.
Das Dilemma der Klassenbesten ist hierbei, dass sie selbst sich Normierungen setzt, denen sie
kaum gerecht werden kann. M.a.W. ist denkbar, dass sie in ihrem Lieblingsfach, der Mathematik,
mit mehr Hemmung konfrontiert ist, als MitschülerInnen, die an nicht mehr als einer positven Note
interessiert sind, weil sie selbst sich Handlungsaufrufe stellen kann, welche uneinlösbar sind. Was
für ihr Selbstgefühl zählt, scheint nicht die objektive Leistung der Schülerin, sondern ihren je
eigenen bedeutsamen Handlungsaufrufen gerecht zu werden.
58 Datler 2003, 54
Nach dem bisher Gesagten kann an dieser Stelle die Problemsituation des Fallbeispiels neu
interpretiert werden. Es wurde argumentiert, dass Identitäten nicht nur wahrheitsfähige Sätze
produzieren und über Kompetenzen verfügen, sondern - sofern sie ihre Identität über Kompetenzen
definieren - es “macht für sie auch einen Unterschied”, ob sie mit dem Gesagten richtig liegen und
kompetent sind. Einem Wert wie Kompetenz gegenüber nicht gerecht zu werden, wird dabei von
den Identitäten als persönliches Versagen empfunden und von Hemmungsgefühlen begleitet.
Identitäten nehmen nicht bloß zur Kenntnis, etwas nicht verstanden zu haben, oder das richtige
Ergebnis nicht erfolgreich im Gehirn “abgespeichert” zu haben, sondern sind auch persönlich davon
betroffen, ob sie das “Gespeicherte” wiederfinden können.
Die im Forum geäußerten Hemmungen könnten einerseits mit der Interiorisierung dieser über
die Institution geforderten und als sinnvoll “garantierten” impliziten Norm des Wissen-Sollens
zusammenhängen. Stellungnahmen im Internet werden “verewigt” und bleiben - im unterschied zur
mündlichen Kommunikation - auch über längere Zeit hinweg gespeichert und damit potenziell
kritisierbar. Die implizite Forderung nach Wissensproduktion seitens der Institution, kann zwar
einerseits neue Identitätskonzeptionen anregen, ein neues Seinsgefühl. Umgekehrt jedoch, wie in
jedem potenziell verwirklichbaren Lebensthema bei Erikson, steht dem positiven Potenzial auch das
Negative des möglichen oder reelen Scheiterns gegenüber. Gerade dann, wenn StudentInnen die an
der Bildungsinstitution geltenden Normen interiorisiert haben, werden sie Hemmungen verspüren,
wann immer sie vor der Möglichkeit diesen Normen nicht gerecht zu werden stehen. Und dies
scheint unabhängig von ihren “objektiven” Leistungen.
Zudem jedoch bot sich neben dieser institutionell vorgegebenen und für die eigene Profession
als sinnvoll garantierten Handlungsaufforderung, sich bestimmte Wissensbestände anzueignen, auch
jene - durch den Lehrveranstaltungsleiter eingeführte - des selbsterschlossenen Wissens zur
Interiorisierung an. Hierbei war nicht mehr Wissen höchster Endzweck, sondern der Weg, auf dem
Auf der Grundlage der bisherigen Überlegungen kann dies so verstanden werden, dass der
offensichtlich wertende Begriff “Elite” einen Handlungsaufruf expliziert, der zugleich vermittelt,
dass man den Ruf interiorisieren, bedeutsam werden lassen solle. Obwohl keine offiziellen
Sanktionsmaßnahmen für “nichtelitäre” Beteiligung angedroht wurden, drückt der Begriff implizit
schon aus, dass die Handlungsaufforderung “elitär” zu werden, nicht nur im Interesse des
Lehrveranstaltungsleiters lag, sondern dies auch das Interesse der beteiligten StudentInnen werden
solle.
Wie in der Einführung erwähnt, war die Absicht der Einführung dieses wertenden Begriffes
wohl eine andere. Diese Wertung und Garantenstellung, dass es sinnvoller sei, sich kollaborativ zu
beteiligen, als “passiv” zuzuhören, wurde von StudentInnen dennoch nicht bloß zur Kenntnis
genommen, sondern bot sich zur Interiorisierung an. All jene, die von Beginn nicht zu
Kollaboration bereit waren, fanden sich plötzlich auf der Seite eines nicht als sinnvoll garantierten
Entwurfs und nicht mehr willkommen. Und all diejenigen, welche das Interesse hinter dem Aufruf
interiorisierten, standen wiederum vor der hemmenden Möglichkeit, dem Aufruf nicht gerecht zu
werden. Ähnlich dem Beispiel der klassenbesten Schülerin, kann die bloße Möglichkeit des
Scheiterns schon hemmend erfahren werden.
Sofern die Bildungsinstitution, die Lehrperson sowie die KollegInnen als GarantInnen für
gelungene Ausübung der Profession sowie gelungener Lebensführung akzeptiert werden, wird ein
Scheitern gegenüber ihren - ob impliziten oder expliziten - Handlungsaufrufen als hemmend
erfahren. Wenn Wissen zu einem Wert interiorisiert wurde, wird das nach Wissen strebende
Bewusstsein Angst vor dem Nichtwissen haben. Wenn Kollaboration zu einem Wert interiorisiert
wurde, wird das kollaborieren wollende Bewusstsein Angst vor musslungenen
Kollaborationsprozessen haben etc.
Doch waren die bisher dargestellten impliziten Handlungsaufrufe nicht nur potenziell
verfehlbar, sondern prinzipiell praktisch nicht einlösbar. Einerseits schlossen sich Handlungsaufrufe
der Institution und jene des Lehrveranstaltungsleiters teilweise gegenseitig aus. Man konnte nicht
zugleich beiden gerecht werden, sich sorgsam Wissen selbst erschließen und zugleich die
Wissensbestände der eigenen Profession abdecken. Dem kamen noch die Artikulationen der
StudentInnen hinzu, welche alle implizit den Anspruch stellten, ernst genommen und verstanden zu
werden. Bei ca. je 40 neuen Beiträgen in jeder der ersten Wochen, war dies alleine schon
uneinlösbar. Der “normativen Überladenheit” des Unterrichtsraumes, in dem verschiedene
Das Bewusstsein ist den eigenen Identifikationen nicht völlig hilflos ausgeliefert. Es kann
zwar nicht aus reinem Willensakt heraus Bedeutsamkeitsstrukturen generieren. Dennoch kann
Bewusstsein seinen Lebensraum so einrichten, dass darin auch Orte sind, an denen es bewusst
bestimmte Bedeutsamkeitsbeziehungen “pflegt”. Diese Orte, um die Brücke zur Ausgangsfrage
nach der entlastenden Funktion von Mindeststandards aufzugreifen, sind gekennzeichnet über
eindeutige Normierungen. Es sind Orte wie der Musikraum oder das Arbeitszimmer. Betritt man
diese, gelten bestimmte höchste Normen, welche zugleich von der normativen Überladenheit der
Alltagssituation entlasten. Bewusstsein kann sich entscheiden, eindeutig normierte derartige Räume
zu betreten und den dort geltenden Handlungsaufrufen Folge leisten. Das Befolgen der
Normierungen kann Erfahrung sowie Bedeutsamkeitsstukturen - welche vor Betreten des jeweiligen
Raumes nicht unmittelbar vorhersehbar waren - generieren. Ein konstanter Übungsprozess eines
Musikinstruments z.B., kann Bedeutsamkeitsstrukturen generieren, welche dem Bewusstsein völlig
neu sind; etwa die Bedeutsamkeit des Gewahrens eines bloßen Tonintervalls.
Bisher wurde nur die entlastende Funktion von Minimalnormen diskutiert, jedoch nicht
geklärt, ob es sich hierbei um Input- oder Output-Minimalnormen handeln solle. Auch wurde offen
gelassen, ob in Unterrichtsräumen geltende Minimalnormierungen in allgemeine
“Bildungsstandards” übergeführt, d.h. in allgemein gültige und zu vermittelnde Kernkompetenzen
transformiert werden sollten. Diese Fragen bleiben in dieser Arbeit unbeantwortet, auch die im
ersten Kapitel gegen Bildungsstandards in diesem Sinne formulierten Einwände. In dieser Arbeit
wurde nicht das Ziel verfolgt, den komplexen Begriff “Bildungsstandard” zu legitimieren, sondern
jenen der Minimalnorm. Es wurde gezeigt, dass soziale Räume wie Unterrichtsräume zwar nicht
notwendig schon standardisierte, dennoch immer schon normierte Räume sind. Sofern diese
Normierungen expliziert werden, kann normative Überladung vermieden werden, die Hemmung
und Handlungsunfähigkeit auslösen kann. Wie derartige explizite Normierungen in Zusammenhang
der genannten Lehrveranstaltung aussehen könnten, soll im nächsten Kapitel skizziert werden.
Der normativen Überladenheit des in der Einführung geschilderten Fallbeispiels, könnte über
diverse Commitment-Modi oder Teilnahme-Modi begegnet werden. Jeder Modus würde hierbei
einerseits bestimmte Interessen artikulieren und zugleich Minimalnormen formulieren, wie diesen
Interessen begegnet werden könnte. StudentInnen hätten vor der Entscheidungssituation gestellt
werden können, in welchem Commiment-Modus sie bereit wären, die Lehrveranstaltung zu
absolvieren. Folgende - an der Unterrichtssituation beteiligte - Interessen und diese artikulierende
Modi, hätten differenziert werden können:
A. Nicht-kollaborative Modi
1. Minimalmodus
Wenn StudentInnen mit den hier genannten Interessen in die Lehrveranstaltung gingen,
konnten sie diese nur mit Mühe meistern, denn die Kerntheorien kennenzulernen setzte voraus, sich
mit langen - über die Kernmodelle hinausführenden - Diskursen auseinandergesetzt zu haben. Es
gab keine offizielle Anerkennung dieses “nichtelitären” und “passiven” Commitments.
2. Maximalmodus
Interessen: das Interesse von StudentInnen, die Lehrveranstaltung mit “Sehr Gut”
abzuschließen, auch ohne kollaborative Beteiligung.
Commitment: das Skriptum lernen und zudem einen blog lernen, in dem die (unten
dargelegten) kollaborativen Prozesse anhand von Threadzusammenfassungen und
Zusammenfassungen von Artikeln aufgearbeitet werden.
B. Kollaborative Modi
1. Minimalmodi
Commitment: das Skriptum lernen und zudem einen Artikel anhand von Kernthesen und
einer Kontextualisierung mit den in der Vorlesung besprochenen Kernmodellen kontextualisieren.
Oder: das Skriptum lernen und eine Sammlung der besten eigenen Beiträge im Forum zur
Benotung abgeben60.
Oder: das Skriptum lernen und einen oder mehrere Forum—Threads moderieren und anhand
eines kurzen Artikels zusammenfassen61.
Das Exzerpt und die Kontextualisierung, sowie die Forumsbeiträge als auch die
Threadmoderation, könnten bei der Schlussprüfung eine Prüfungsfrage ersetzen und damit
garantieren, dass die Lehrveranstaltung zumindest positiv abgeschlossen wird.
2. Maximalmodi
Oder: das Skript lernen, die besten eigenen Forumsdiskussionen zur Benotung abgeben und
einen Artikel zusammenfassen/kontextualisieren62.
Oder: das Skript lernen, die besten eigenen Forumsdiskussionen zur Benotung abgeben und
zudem einen oder mehrere Threads moderieren und zusammenfassen.
Diese Form des Commitments könnte die schriftliche Prüfung zur Gänze ersetzen.
Allen diesen Beteiligungsmodi, ob Minimal- oder Maximalmodi, ist gemeinsam, dass sie erst
über klare Minimalnormen konstituiert werden. Sofern ein Commitment zu einem bestimmten
Modus eingegangen wird, findet eine offizielle Entlastung von den anderen, möglichen
Handlungsaufforderungen statt. Diese Modi stellen eine minimale Differenzierung der an der
genannten Lehrveranstaltung beteiligten Interessen, sowohl auf Seiten des
Lehrveranstaltungsleiters, der Institution als auch der StudentInnen dar, und könnten weiter
verfeinert werden. Wie eingangs erwähnt, wurden die Interessen heuristisch, anhand der im Forum
geäußerten Bedenken und persönlicher Rücksprachen mit dem Autor dieser Arbeit gesammelt und
erhoben. Dies kann nicht mehr, als eine erste Annäherung an mögliche beteiligte Interessen sein.
Es müssten zudem klare Bedingungen formuliert werden, wie die Exzerpte, Kontextualisierungen
und Moderationen aufgebaut sein müssten, sodass ein Mindestaufwand garantiert wäre. Und
inwiefern diese Modi tatsächlich eine relativ “ungehemmte” Form der Beteiligung ermöglichen
würden, müsste erst empirisch erhoben werden.
Das bisher Gesagte sollte eine Perspektive auf die Sinnhaftigkeit von Standards in Hinsicht
auf die Milderung von Hemmungen, unabhängig von etwaiger Steigerung oder Minderung von
Leistung, darlegen. Unter Standards wurden gesollte Handlungsaufforderungen oder Normen
verstanden, die eingeteilt werden können in Minimal- Regel- und Maximalstandards. Zudem konnte
auch differenziert werden, an wen sich die Standards richten, z.B. - im Rahmen einer
Lehrveranstaltung - an StudentInnen oder Lehrpersonen. Standards wurden in dieser Arbeit nicht
gleichgesetzt mit allgemeingültigen Unterrichtsnormen, seien dies Input- oder Outputerwartungen,
sondern als Standard galten die im Lehrveranstaltungsraum expliziterten geltenden Normen, mögen
diese von Normierungen anderer Lehrveranstaltungen abweichen oder nicht. Zumindest für die
Gruppe der StudentInnen, so die Argumentation, kann die Explikation von Normen in Form
artikulierter Standards Befreiung enthemmend, wenn auch nicht notwendig leistungssteigernd sein.
Der Lehrveranstaltungsraum vor aller expliziten Formulierung von Standards, ist als
institutionalisierter sozialer Praxisraum immer schon implizit vornormiert, d.h. in ihm wurden
immer schon Handlungsaufrufe an die teilnehmenden Bewusstseine gerichtet. Impliziten Normen
haben potenziell hemmende Funktion.
Am Modell der Identitätsentwicklung von Erikson sowie am Modell der Interiorisierung von
Dux wurde gezeigt, dass Handlungsaufrufe oder Normen von Bewusstseinen zu verinnerlicht
werden können. Die Erfüllung bestimmter Handlungsaufrufe kann einem Bewusstsein bedeutsam
und damit identitätskonstitutiv werden. Sobald jedoch eine Norm interiorisiert wurde, hat sie
potenziell hemmende Funktion, da mit dem Scheitern oder der bloßen Möglichkeit des Scheiterns
gegenüber der Handlungsaufforderung auch persönliche Versagensgefühle, Scham und Zweifel
(scheinbar) notwendig einhergehen. Jede Identitätsstufe des Eriksonschen Modells weist einen
negativen, von Hemmung beladenen Pol des Versagens gegenüber der möglichen positiven
Identitätskonstitution auf. Ob dies notwendig so sein muss, wird von Erikson nicht diskutiert und
wurde auch in dieser Arbeit nicht aufgegriffen. Scham und Zweifel werden von Erikson als über
Beobachtung gestützte Prämisse eingeführt, welche in dieser Arbeit übernommen wurde. Diese
Prämisse würde jedoch erklären, wie es selbst in der Interaktion zwischen einer “guten” Schülerin
und ihrer Lieblingslehrerin, wie es am Beispiel der Klassenbesten im Mathematikunterricht
dargelegt wurde, zu Hemmungssituationen kommen kann: Hemmung ist demnach nicht unmittelbar
Dieses Beispiel einer implizit geltenden, wenn auch nicht bewusst in den Klassenraum
eingeführten Norm, diente als Überleitung zum Versuch, das Eingangsbeispiel auf implizite
Normierungen hin zu untersuchen. Es wurde die Vermutung aufgestellt, dass in diesen gerade
aufgrund loser Normierung leicht Normierungen hineingetragen werden konnten und ihn normativ
überladen haben. Nicht nur gelten in diesem Unterrichtsraum implizit die von der Institution - wie
etwa Wissensproduktion - sowie die durch den Lehrveranstaltungsleiter in diesen Raum
hineingetragenen - wie etwa das selbsterschlossene Wissen. Auch die einzelnen StudentInnen
durften dank der losen Normierung im Forum eigene Normierungen in den Unterrichtsraum
einbringen. Bereits bloß deskriptive Stellungnahmen im Forum wurden als derartige Normierungen
gedeutet. Die Deskriptionen im Forum hatten einen mindestens zweifachen normativen
Sollensgehalt: hinter allen Artikulationen stand das Interesse (und damit das Soll), ernst genommen
zu werden, sowie das Interesse (und damit das Soll), die vermittelte Information für sich relevant
werden zu lassen.
Explizite Normierung des Lehrveranstaltungsraums jedoch, d.h. das Überführen von Normen
in offizielle (Teilnahme-)Standards, wurde als normativ entladend verstanden. Hierfür muss nicht
ein notwendiger Ausschluss der bisher in den Lehrveranstaltungsraum herangetragenen
Normierungen stattfinden, sondern es können unterschiedliche Teilnahme-Modi differenziert
werden. Über derartige explizit vornormierte oder standardisierte Räume, die bestimmte Formen
sozialer Praxis konstitutieren, kann Bewusstsein über Commitment Einfluss auf die ihm eigentlich -
zumindest direkt - unverfügbaren Bedeutsamkeitsstrukturen nehmen. Ein Bewusstsein kann sich
nicht entscheiden, was ihm bedeutsam und damit potenziell hemmend ist, es kann sich jedoch einer
sozialen Praxis, welche Bedeutsamkeitsstrukturen generieren kann, unter gleichzeitigem Ausschluss
und Entlastung von anderen Praktiken, “commiten”.
Diese Modi greifen zwar einerseits eine Pluralität an Normierungen auf, gleichzeitig aber
findet im Rahmen jedes einzelnen dieser Modi eine normative Entladung von den in den anderen
Modi geltenden Handlungsaufrufen statt. Jeder Modus wird dabei über bestimmte Minimalnormen
konstituiert. Werden diese nicht eingehalten, kann die Lehrveranstaltung nicht in diesem Modus
abgeschlossen werden. Erst über das offizielle Commitment an einen dieser Teilnahmemodi, ob nun
kollaborativ oder nicht, ob im Minimal- oder Maximalmodus, ob über Aufarbeitung von Artikeln
oder der Moderation von Threads, findet eine Verpflichtung gegenüber den im Modus herrschenden
Standards statt. Wird diesen entsprochen, kann nicht nur die Lehrveranstaltung positiv
abgeschlossen werden, sondern zugleich eine Entlastung von anderen im Lehrveranstaltungsraum
möglichen Normierungen.
Die Arbeit setzte mit dem Ergebnis der Diskussion um die Einführung von Bildungsstandards
ein und gelangte über einen anderen Argumentationsweg an ein ähnliches Resultat.
Bildungsstandards als explizierte Handlungsaufforderungen können demnach enthemmend wirken.
Sofern die Autoren der PISA-Studie für nach Außen hin explizierte und erfüllbare
Erwartungshaltungen plädieren, scheint diese Forderung durch diese Arbeit gestützt. Doch muss
nicht jede explizierte Norm zugleich auch standardisiert sein. Der Schritt hin zur Standardisierung
dieser Erwartungshaltungen kann aus dem Rahmen dieser Arbeit heraus weder legitimiert noch
kritisiert werden. Wie eine Explizierung von Handlungsaufforderungen im Zusammenhang mit dem
eingangs besprochenen Fallbeispiel aussehen könnte, wurde anhand der Differenzierung mehrerer
Teilnahmemodi vorgemacht. Die Teilnahmemodi stellen dabei explizierte Normen, jedoch
1. Räume
Diesem homogenen Raum stellt Bollnow den erlebten Wahrnehmungsraum entgegen, welcher
einen erlebten Achsenmittelpunkt hat. Der Achsenmittelpunkt ist der Sitz des Ichs und wurde oft
von der Psychologie zwischen den Augen, direkt hinter der Nasenwurzel verortet65. Im
Wahrnehmungsraum gibt es somit ein absolutes Zentrum, einen absoluten Schnittpunkt der
Raumachsen, aus dem Heraus der wahrgenommene Raum erfahren wird. Dieser Raum wird dabei
nicht anhand von Abständen und Koordinatenpunkten aufgespannt, sondern anhand subjektiver
Abstände zwischen Begegnendem und beobachtendem Ich. Es gibt hierbei zwar Nähe und Ferne,
doch nicht im Sinne diskreter Abstände. Ebenso wie beim mathematischen Raum gibt es ein
Achsensystem, dessen vertikale Achse jedoch fällt mit der Körperachse zusammen und ist damit an
die Position des Körpers gebunden. Die anderen zwei Achsen spannen die Horizontalebene des
Erdraums auf, auf der sich das Leben der Menschen abspielt66. Der Wahrnehmungsraum lässt sich
somit in Kategorien wie “oben”, “unten”, “vertraut”, “nahe”, “fern” fassen, nicht jedoch in
absoluten Raumabständen. Eine vertraute Stelle ist in Begriffen des erlebten Raumes “näher”, als
eine unbetretene - sei diese dem Körper des beobachtenden Bewusstseins auch in objektiven
Bollnow interpretierend könnte gesagt werden, dass die Unterscheidung dieser beiden
“Räume” mit der Cartesianischen Differenzierung von “res cogitans” und “res extensa“
zusammenfällt. Ebenso wie bei Descartes die res extensa, zeichnet sich der mathematische oder
drittpersonale Raum68 durch Größenangaben sowie Teilbarkeit von Strecken aus. Der erstpersonale
oder Wahrnehmungsraum dagegen, ist bestimmt über Erfahrungsqualitäten.
Der drittpersonale Aspekt von Raum wird von Löw69 als “Ort” thematisiert, welcher eine
einmalige geographische Position hat und unabhängig von beobachtenden Bewusstseinen ist70.
Ähnlich wie Koordinatenpunkte in Bollnows mathematischem Raum, lassen sich Positionen von
Orten über Längen- und Breitengrade präzisieren. Das Positionieren von Gegenständen oder
Personen an Orten nennt Löw “Spacing”71. Der Ort ist m.a.W. das Ziel einer Platzierung oder eines
Spacings72. Die platzierten Gegenstände sind jedoch - im Unterschied zu jenen im mathematischen
Raum - keine “reinen” Objekte, d.h. von allem Bewusstsein gereinigt. Wenn Löw von
Gegenständen spricht, die an Orten positioniert werden, meint sie damit generell sinnbeladene
Objekte, d.h. bedeutsame Personen, Gegenstände oder Handlungen. Diese platzierten Objekte sind
Damit will Löw jedoch nicht einen “objektiven” Raum einem “subjektiven”, erfahrenen Raum
gegenüberstellen, wie etwa Bollnow unterstellt werden könnte. “Orte” sind für Löw der objektive
Aspekt von Räumen76. Diese Konzeption von Räumen als zweidimensionale Gebilde, bestehend aus
objektivem Ort sowie subjektiver Syntheseleistung von sinnbeladenen Gütern, lässt sich in der
Terminologie erst- sowie drittpersonaler Perspektive auf Raum rekonstruieren, und durch den
Nachdruck auf “Perspektive” schon in der Terminologie eine Vergegenständlichung von Aspekten
vermeiden. Indem Löw von “Orten” sowie platzierten “Objekten” spricht, bietet sie die ontologisch
dualisierende Sprache des Descartes an, die sie zu vermeiden sucht77. An einer ontologisch
dualisierenden Sprache ist nicht einzuwenden, dass sie Differenzierungen vornimmt, wie jene, dass
Gegenstände hinsichtlich der Extension (reine Gegenstände der Naturwissenschaft) gedacht werden
können und andere hinsichtlich ihrer unmittelbaren Erfahrbarkeit (Gegenstände des Bewusstseins).
Auch Löw differenziert Spacing und Syntheseleistung, trennt aber deren Bezugsobjekte nicht
ontologisch. Der Schritt zur Ontologisierung der Gegebenheitsweise von Objekten zu Objekten
jedoch, der Schritt hin zur These, dass es Objekte gäbe, die “nichts anderes als bloß ausgedehnt”
wären, und andere, die “nichts anderes als bloß unmittelbar erfahren” seien, übersieht die
Möglichkeit, dass es sich hierbei nicht um zwei Objekte handeln könnte, sondern um dasselbe
Objekt, betrachtet aus erst- oder drittpersonaler Perspektive. Mit Kant gesprochen, könnte es sich
um zwei verschiedene Objekte der Anschauung78 handeln, die auf ein “Objekt an sich” bezogen
sind.
Räume sind nie bloß drittpersonale homogene Objektanordnungen, wie der mathematische
Raum. Dieser stellt eine Idealisierung der Anschauung dar79. Ebensowenig jedoch sind Räume bloß
erstpersonal, über reine subjektive Nähe und Distanzerfahrungen und Sinninseln definiert80, sondern
anhand (An)Ordnung von (sinnbeladenen) Objekten und Handlungen an bestimmten Orten.
73 Löw 2001, 46
74 Löw 2001, 153
75 Löw 2001, 159
76 Löw 2001, 15
77 Zu Löws Ablehnung des Substanz-Dualismus siehe ihre Ausführungen über die
Entstehung des Dualismus von Geist und Körper. Löw 2001, 118
78 Kant KdrV, B 33
79 Löw 2001, 265; 2003, 124
80 Löw 2001, 113
Bewusstsein muss Syntheseleistung nicht selbst aus dem Nichts hervorbringen, sondern baut
seine eigenen Ordnungen immer schon auf Anordnungen von symbolischen Objekten auf, die ihm
gesellschaftlich vorgegeben werden. Hierin liegt nach Löw die soziologische Relevanz dieses
Raumbegriffs, der ihr zufolge bei anderen Soziologen wie Giddens, Luhmann, Schütz oder
Bourdieu nicht zur Geltung kommt84. Dennoch übernimmt Bewusstsein - oder, wie Löw formuliert,
das “Subjekt” - diese Anordnungen nicht einfach, sondern ordnet die Objekte auch nach eigenen
Reflexionsprozessen um85. Diese Doppelstruktur von bereits angeordneten Objekten sowie der
Ordnungsleistung, welche durch das individuelle Bewusstsein geschieht, erlaubt die Vorstellung,
dass an einem Ort zugleich mehrere Räume - durch individuelle Anordnungsleistungen der
singulären Bewusstseine - entstehen86.
Während Löws Raumbegriff für diese Arbeit praktisch unverändert übernommen wurde, gilt
dies nicht für ihre Herleitung des Begriffes. Löw differenziert nicht klar genug zwischen dem
Begriff eines Beobachters in phänomenologischem sowie physikalischem Sinne. Während der
phänomenologische Beobachter jene Stelle hinter der Nasenwurzel einnimt und stets ein
beobachtendes Bewusstsein oder Subjekt ist91, meint Beobachter in physikalischem Kontext ein
“reines” Objekt, welches in Messrelation zu einem anderen “reinen” Objekt steht. Durch die
Äquivokation von “Beobachter” entsteht bei Löw die Vieldeutigkeit, dass Relativität von Raum -
auf die sie besteht92 - bei ihr einerseits bedeuten kann, dass die raumkonstituierenden Objekte
zueinander in Relation stehen, oder, dass die Objekte immer schon durch ein Bewusstsein oder
Subjekt in eine Relation gebracht werden. Für diese Arbeit interessiert lediglich die letztere These,
die konsistent aus einem Cartesischen Anfangsstandpunkt entwickelt werden kann, auch ohne
Rekurs auf Relativitätstheorie.
Durch ihren Rekurs auf Relativitätstheorie, scheint Löw Objekt-Objekt und Subjekt-Objekt
Beziehungen nicht zu differenzieren. Sie argumentiert, dass sich die Wandlung der klassisch
“absolutistisch” Newtonschen Objekt-Objekt-Relation93 hin zu einer “realtivistischen”, wie in der
88 Löw 2001, 18ff.
89 Löw 2001, 32
90 Löw 2001, 32
91 Für diese Arbeit reicht eine Gleichsetzung von Subjekt und Bewusstsein.
92 Löw 2001, 131
93 Löw 2001, 14
94 Löw 2001, 23
Bollnow fasst Räume als Spiegelungen der Strukturen von Bewusstsein. In den Anordnungen
von Gegenständen spiegeln sich die Strukturen des die Gegenstände anordnenden Bewusstseins
wieder. Ein derartiges Strukturmerkmal von Bewusstsein ist die bestimmende Mitte, ein innerer
“Ort”, an dem der Mensch “zuhause” ist95. Das ist ein weit verbreitetes theologisches Motiv, das
Motiv des gefallenen Menschen, welcher dieses “Zuhause” erst finden muss. Erst in seiner
bestimmenden Mitte, im “Zuhause”, findet das Bewusstsein einen Ruhepunkt und Geborgenheit96.
Bollnow charakterisiert diese innere Mitte des Menschen nicht näher. Das im Raum verortete Haus
jedoch, ist für Bollnow verräumlichtes Symbol dieser inneren Mitte. Der Innenraum des Hauses ist
dem ihn bewohnenden Bewusstsein Heiligtum oder Tempel und repräsentiert die bestimmende
Mitte des Menschen97. Durch etymologische Anspielung auf das lateinische “templum”, weist
Bollnow darauf hin, dass hiermit das “Herausgeschnittene” gemeint ist98. Das Haus “schneidet”
einen vertrauten Innenraum von einem unvertrauten Außenraum mittels Wände ab. Alles
Bewusstsein bewegt sich zwischen vertrautem Innenraum und fremdem Außenraum. Die innere
Struktur von Bewusstsein wird m.a.W. an der äußeren Struktur des Hausbaus ersichtlich. An der
Ausdeutung des Hausbaus, kann sich Bewusstsein selbst zum Thema machen.
Das Fremde wiederum, so Bollnow, erschließt sich das Bewusstsein über vereinzelte Wege
oder Pfade. Straßen, welche am vertrauten Innenraum des Hauses anschließen, führen das
Bewusstsein nicht unmittelbar in das Fremde, sondern in ein noch teils Vertrautes der unmittelbaren
Nachbarschaft. Und wo auch diese auf Wegen verlassen wurde, bewegt sich das Bewusstsein noch
in der teils vertrauten “Heimat” und nicht einem völlig Fremden99. Über das Vorvertraute, erschließt
sich Bewusstsein das Fremde. Dabei ist das Bewusstsein auf Ordnungen angewiesen. Es schafft
sich Raum, Weite, indem es - hier verweist Bollnow auf Heidegger - Auftauchendes “einräumt”100,
ihm einen Platz zuweist. Die menschliche Zwecksetzung objektiviert sich an räumlichen
Strukturen101. Nicht nur diese, nicht nur die bewussten Absichten schlagen sich in der
Raumgestaltung nieder, sondern, so würde auch Löw zustimmen, auch unbewusste Motive. Die
95 Bollnow 1960, 400
96 Bollnow 1960, 401
97 Bollnow 1960, 402
98 Bollnow 1960, 402
99 Bollnow 1960, 405
100 Bollnow 1960, 407
101 Bollnow 1960, 408
Der Schweizer Kulturphilosoph Jean Gebser macht sich diese hermeneutische, verborgenen
Sinn oder Bewusstseinsstrukturen entbergende Methode zunutze, um nicht nur vereinzelte Objekte,
sondern ganze Landschaften von Objekten, d.h. erschlossene Symbolkulturen, zu deuten. Gebser
deutet dabei nicht nur Architektur und Kunst, sondern auch Wissenschaft, Sprachformen, jede Form
von Objektivation, auf deren dahinterliegende Bewusstseinsstruktur hin aus. Für Gebser z.B. ist die
Wende hin zu Hausbau, bei dem Innenraum und Außenraum durch große Glasflächen miteinander
verbunden werden, ein Ausdruck für die Entstehung eines a-perspektivischen Bewusstseins,
welches sich über Selbst-Transparenz auszeichnet. Hierbei liegt eine zweifache Öffnung vor: das
Bewusstsein öffnet sich selbst gegenüber anderen Bewusstseinen, verbirgt sich nicht hinter kleinen
Fenstern, wie sie gerade im Mittelalter üblich waren. Andererseits aber sieht es durch diese weiten
Glasflächen auch in die Welt:
“Eine stärkere Form der Überwindung des einstigen Dualismus Innen:Außen läßt sich kaum
denken, denn hier wird sie im privatesten Bereich des Menschen, seiner Wohnung, geleistet; die
Abkapselung, die Isolation wird aufgegeben; der Mensch beginnt im Offenen nicht nur zu denken
und zu musizieren, sondern auch zu leben und zu wohnen”103.
Einen anderen Fokus als Gebser und Bollnow legt Foucault. Diesem geht es um die
Wiederspiegelung von Machtstrukturen in Raumstrukturen sowie deren Reproduktion durch
Anpassung an Raumstrukturen. Foucault wird hierbei oft mit seiner Analyse des Klassenzimmers
als Raum, der die darin geltenden Machtstrukturen äußerlich abbildet, zitiert: Die Bänke der
LernerInnen sind in Richtung der einen Bank der UnterichterInnen hin ausgerichtet. Es wird von
Beginn klargestellt, wer spricht und wer zuhört. In vielen Klassenräumen ist die Bank der
Unterichtenden zudem auf einem Podest montiert und somit von der gleichgemachten Schar an
ZuhörerInnen klar qualitativ herausgehoben. Dadurch wird ebenso wie an den Toiletten, in denen
Kopf- und Bein-Bereich durch Halbtüren sichtbar bleiben, Kontrolle ausgeübt, nicht angepasstes
Bewusstsein aussortiert und in hierarchische Strukturen gezwungen104. Ebenso wie bei Gebser und
An dieser Stelle ist die Beziehung zwischen Normen und Raum, wie er bisher definiert wurde,
näher zu klären. Räume werden erst über Normen konstituiert. Das wird in Löws Konzeption von
Raum nicht auf erstem Blick ersichtlich, denn sie spricht von Syntheseleistung von Gütern und
Handlungen, die an Orten durch Spacing positioniert werden, der Begriff der Norm kommt hierbei
jedoch nicht vor. Bei näherer Betrachtung erweist sich, dass der Begriff der Norm, wie er in Teil I
gefasst wurde - als auf Erfüllung bestehender Handlungsaufruf -, bereits im Begriff des “Guts” oder
der “Objekte”, welche in Syntheseleistungen zueinander in Relation gestellt werden, enthalten ist.
Wie bereits angedeutet, versteht Löw Güter und Objekte nicht als reine, sondern als mit Sinn
versehene soziale Güter. Diese Spiegeln nicht nur Bedeutsamkeitsbeziehungen, d.h. was einem
Bewusstsein wichtig ist, sondern stellen auch implizite Handlungsaufforderungen, wie mit ihnen
“richtig” umzugehen sei. Es sei an die Ausführungen über den präskriptiven Gehalt von
Deskriptionen in Teil I erinnert. Nicht nur Deskriptionen, sondern auch sinnbeladene Objekte haben
normativen Gehalt.
Im Rahmen eines Schulraums z.B., trägt ein Bleistift die inhärente, auf Erfüllung bestehende
Handlungsaufforderung - und damit Norm - in sich, dass er - in “richtiger” Verwendung - zum
Schreiben oder Zeichnen zu verwenden sei, nicht jedoch für andere Zwecke. Die “Klassentafel”
trägt die Handlungsaufforderung in sich, fachlich Bedeutsames darauf zu exponieren; die
Schulbank, darauf fachlich relevante Notizen zu verfassen; der Stuhl, darauf “ordentlich” zu sitzen.
Freilich können diese Objekte sich auch für andere Handlungen anbieten und werden auch für
andere Handlungen gebraucht, doch weisen schon die besonderen Formen dieser Gegenstände auf
deren inhärente Normierungen: eine Schultafel unterscheidet sich deutlich in ihrer Form von
Spieltafeln, auf denen Kinder nach Belieben zeichnen können; ebenso die Schulbank, welche kein
bloßer Tisch ist; und die Sitzgelegenheit, welche kein bloßer Stuhl oder gar Sessel ist. Schulbänke
Dass die Objekte, von denen hier die Rede war, nicht nur Träger von
Bedeutsamkeitsstrukuren sind und zugleich Dichte, Ausdehnung und Oberflächenbeschaffenheit
verfügen, sondern zugleich auch zu richtigem Umgang mit denselben auffordern, ist für deren
raumkonstitutiven Charakter von zentralem Belang. Erst über die inhärenten
Handlungsaufforderungen in den Objekten wird der Ort Klassenzimmer zum Raum des
Klassenzimmers, in dem die Objekte zwar aus drittpersonaler Perspektive völlig identisch sind,
wenn die Unterrichtsstunde endet, dennoch aber aus erstpersonaler Perspektive eine völlig andere
Bedeutung bekommen. Die Handlungsaufforderungen generieren erst den jeweiligen “Sinn” der
genannten Objekte.
Eine Re-Interpretation des von Löw zitierten Beispiels der Lads soll dabei das bisher Gesagte
In Rekurs auf Willis und Giddens versucht Löw die Stärke ihres Raumbegriffs zu
veranschaulichen. Sie zitiert das Beispiel der Lads, jener zwölf Jungen aus armen
ArbeiterInnenfamilien, die an ihrer Schule durch ihr unadaptives Verhalten negativ auffallen. Durch
ihre Protesthaltung erreichen sie letztlich das Gegenteil des Beabsichtigten, bleiben ohne Abschluss
und reproduzieren den sozialen Stand ihrer Eltern106. Die Lads fallen damit auf, dass sie sich ständig
zu Gruppen zusammenfinden und bestimmte Orte - innerhalb oder außerhalb des Schulgebäudes -
“okkupieren”. Ihnen stehen keine Ressourcen zur Raumgestaltung zur Verfügung und so sind sie
dazu gezwungen, auf ihre Körper und Gesten - als raumkonstituierende Objekte - zurückzugreifen.
Am Ort “Schule” bilden sie ihren eigenen gegenkulturellen Raum. Sie markieren über
Gruppenbildung an den Gängen, wo ihr Raum beginnt. Außerhalb des Schulgebäudes, jedoch zum
Ort “Schule” gehörend, bietet ihnen die Straße Ressourcen für Raumbildung. Auch dort finden sie
sich in Gruppen zusammen, die über die Objekte bestimmter Körperhaltungen, Gesten, sowie am
Boden zerstreuter Zigarettenstummel oder Graffiti ihren eigenen Raum konstituieren.
IV. Räume als erschlossene Handlungsaufrufe spiegeln die Erschlossenheit von Identität
Am Beispiel der Lads wurde einerseits Löws soziologische Perspektive der Reproduktion von
Machtverhältnissen durch Bildung von Gegenräumen skizziert, zudem jedoch aufgezeigt, dass die
Lads über Normierungen ihr eigenes Weltbewusstsein zum Ausdruck bringen und Normen wie
Körperhaltung, Gesten etc. letztlich ihre Form der Selbstmitteilung ihres Weltbewusstseins und
ihrer Interessen sind. Unabhängig davon, wie bewusst sich die Lads ihres Weltbewusstseins sowie
ihrer Normierungen sein mögen, wie gut sie es m.a.W. “verstanden” haben, bleibt es
nichtsdestotrotz ein ge- und erschlossener singulärer Sinn- und Identitätsentwurf. Ähnlich wie ein
einzelnes Wort alleine keinen Sinn hat, sondern dieser erst vor dem erschlossenen ganzen
“Background” der Sprachpraxis verständlich wird, ist Identität als Bedeutsamkeitsbeziehung ein
zeitlich überdauerndes und erschlossenes Gebilde, ebenso wie die Normierungen der Lads ein
109 Löw 2003, 120
Die “Einheit” von Räumen spiegelt die “Einheit” von Identitätskonzeptionen. Einheit meint
hier Erschlossenheit von Vereinzelungen innerhalb einer Sinnganzheit. Löw zitiert zwar Heidegger,
der den Raumbegriff vom Mittelhochdeutschen “Rum”, das “Lichtung oder freigeräumten Platz”113
meint, geht aber auf die darin implizierte “Einheit” der Lichtung, bei gleichzeitger Vielheit des
Platzierbaren, nicht näher ein. Stattdessen kritisiert sie die Vorstellung von Raum als Einheit, im
Sinne eines alle Objekte umfassenden singulären Raumes, der von den darin situierten Objekten
unabhängig existiert und nicht beeinflusst wird114. Diese “absolutistische” Raumvorstellung, so
Löw, spiegle sich auch in der Vorstellung eines Körpers als bloßes Gefäß und zu disziplinierende
Einheit und wird von ihr abgelehnt115. Während ihr in der Problematisierung des Körperbildes als
geschlossenes singuläres Objekt zugestimmt werden kann, rückt dennoch aus dem Blick, dass auch
Löw selbst von einer bestimmten Form der “Einheit” spricht, wenn sie von “Sinninseln” spricht, die
sich in räumlichen Strukturen niederschlagen116. Gerade der Inselbegriff impliziert erschlossene
Einheiten, ebenso wie ihr Synthesebegriff, der singuläre - wenn auch wandelbare -(An)Ordnung
von Objekten darstellt. Die einzelnen Objekte liegen dabei nicht ungeordnet im Raum, sondern
stehen in einem relationalen Gefüge zueinander. Wenn sie auch betont, dass “verinselter” Raum
inhomogen sei117, ist dieser Inhomogenität dennoch relative Einheit und Erschlossenheit inne.
Erst vor dem Hintergrund des (singulären) Raumes der Lads, haben die Normierungen der
Lads einen Sinn. Gerade aufgrund dieser Erschlossenheit singulärer Räume, kann ein Objekt - eine
in einem Raum geltende Norm - nicht einfach in einen anderen Raum hineingetragen werden, ohne
dass sich deren Sinn änderte. Der Armschlag der Lads wirkt innerhalb des Schulraums, von
Der Sinn der individuellen Handlungsaufforderung erschließt sich nur im Kontext des
jeweiligen Bezugsraumes. Die “absolutistische” Raumvorstellung als Gefäß ist somit nicht nur
Ausdruck einer “inadäquaten” physikalischen Sicht der Welt, die durch die Relativitätstheorie
überholt wurde, sondern legitimer Ausdruck der Erschlossenheitserfahrung von Bewusstsein.
Sofern Normen in ihrer Erschlossenheit befolgt werden, kann Verstehen statthaben. Und Verstehen
ist notwendige, jedoch - wie im nächsten Kapitel zu zeigen ist - nicht hinreichende Bedingung für
Bildungsprozesse.
I. Bildung
Marotzki lehnt seinen Bildungsbegriff an Hegels Dialektik des Geistes an. Dieser legt in der
Phänomenologie des Geistes eine Entwicklungslogik des Bewusstseins vor, in der absoluter Geist
über Stufen zunehmenden Selbstbewusstseins seiner selbst als absoluter Geist bewusst wird. Aus
diesem Entwicklungsmodell, dieser Schichtentheorie des Bewusstseins, übernimmt Marotzki das
Prinzip der Negativität als zentrales entwicklungsförderndes Prinzip118. Der Widerspruch, die
Negativität, ist dabei der Auslöser für eine Neukonstitution von Identität119. Bei Humboldt findet
das Negative oder Fremde, wobei hier die fremde Weltanschauung gemeint ist, Ausdruck in einer
eigenen Sprache120. Nicht nur gibt es fremde Sprachen, sondern in gewissem Sinne spricht jedes
Bewusstsein eine eigene Sprache. Über Aneignung von Sprache kann Bewusstsein jedoch Fremdes
verstehen121. In der Terminologie dieser Arbeit hieße dies, dass über das Erfüllen von
Handlungsaufforderungen Erfahrung oder Sinn rekonstruiert werden kann, Verstehen stattfinden
kann.
Für Marotzki ist “Verstehen” - das Deuten spezifischer Gesten vor dem Hintergrund der
Erschlossenheit der Äußerungssituation122 - noch nicht Bildung. Aufbauend auf Verstehensprozesse
gibt es Marotzki zufolge auch Bildungsprozesse. In Bildungsprozessen wird nicht primär
verstanden, sondern die Konstruktionsprinzipien der eigenen “Weltaufordnung” rücken in den
Fokus der Reflexion123. In Bildungsprozessen findet eine spezifische Form des Selbstbezugs statt, in
dem Subjekte ihrer eigenen Weltaufordnung als Weltaufordnung bewusst werden124. Gerade ein
derartiges Bemühen sollte an Bollnows, Gebsers und Foucaults Interpretationen von
Bewusstseinsstruktur aufgezeigt werden. Ihre Interpretationen hatten nicht das Verstehen eines
konkreten anderen Bewusstseins zum Ziel, sondern vielmehr die Struktur des Verstehens,
Bewusstseinsstruktur selbst. Genauso wie Verstehensprozesse misslingen können, ist denkbar, dass
die durch diese Autoren vorgeschlagenen Bewusstseinsstrukturen inadäquate Deutungen von
Bewusstsein sind.
Gerade durch die lose Vor-(An)Ordnung der Gegenstände im Raum und dem gleichzeitgen
Angebot an Artikulationsressourcen über die Lernplattform, konnten mehrere Räume an einem
(virtuellen) Ort entstehen. Alle drei Identitätsformen bemühten sich um Artikulation über das eine
Forum. Im ersten Teil wurde gezeigt, dass sich all diese Artikulationen als bloße Artikulationen
zugleich auch als Präskriptionen anbieten, d.h. verstanden werden wollen und damit dem
Gegenüber ein potenzielles Sollen konstituieren. Dieses Ineinanderlaufen der Artikulationen in
einem geschlossenen Artikulationsraum, gleicht dabei den Artikulationen der Lads, welche auf
Artikulationsressourcen der Schul-Identität zurückgreifen müssen.
Die Erschlossenheit der Artikulation wurde im Fall der Lads teils durch Ressourcenmangel
unmöglich, im Falle des Fallbeispiels durch die Verteilung singulärer Aufrufe in einem allen
Identitäten gemeinsamen Artikulationsfeld. Während im ersten Teil darauf aufmerksam gemacht
wurde, dass die sich am Unterrichtsort anbietenden Handlungsaufrufe - sofern sie interiorisiert
werden - Hemmungen auslösen können, und damit allen Aufrufen Folge zu leisten allein aus
Gründen der Grenzen der Belastbarkeit des eigenen Ichs unmöglich schien, dürfte dies im Fall der
Lads, die sich erst gar nicht auf die im Schulraum geltenden Handlungsaufrufe einlassen wollten,
wohl nicht so sein. Doch ist beiden Fällen gemeinsam, dass die Handlungsaufrufe nicht als solche
In der Lehrveranstaltung wurden einander als Fremdes begegnende Identitäten nicht als
solche ausgewiesen und ihnen ein geschlossener Artikulationsraum zur Verfügung gestellt, in dem
sie Sinninseln generieren konnten. Stattdessen wurden singuläre Artikulationen im Forum
übereinandergelegt, als wären es keine Artikulationsversuche von Identitäten, sondern selbständige
wahrheitsfähige Aussagen.
Als Prinzipien der Weltaufordnung dienten in dieser Arbeit z.B. Bollnows und Marotzkis
Entwürfe, dass Bewusstsein sich Fremdes über Rekurs auf das jeweils Vertraute erschließt125.
Ebenso die Deutung, das Bewusstsein stets über eine Erschlossenheit verfügt, die erst über
erschlossene Handlungsaufforderungen verstehbar wird. Diese Prinzipien könnten in der
Raumstruktur eines Unterrichtsraumes mittels Normierungen bewusst abgebildet werden, indem
z.B. erschlossene Artikulationsräume für alle beteiligten Identitäten zur Verfügung gestellt würden.
Die Raumstruktur zum Interpretationsgegenstand zu machen, gliche dann dem Versuch, die eigene
Weltaufordnung zu verstehen. Im Unterschied zu Bollnows, Gebsers und Foucaults Interpretationen
von Raumstruktur jedoch, denen spekulativer Charakter unterstellt werden könnte, hätten die
Wenn alle beteiligten Bewusstseine den Lehrveranstaltungsraum als Identitäten betreten und
als erschlossene Identitäten artikulieren, brauchen sie einen singulären Artikulationsraum dieser
erschlossenen Identität. In der Lehrveranstaltung wurde der Wunsch nach einem blog-Bereich für
alle StudentInnen geäußert. In diesem - vom gemeinsamen Diskussionsforum klar getrennten Raum
- könnten Bewusstseine ihr eigenes Problem- und Identitätsbewusstsein in Entwürfen
rekonstruieren. Hierbei würden nicht “fertige” Identitäten abgebildet, sondern in der
Artikulationsleistung selbst - ähnlich dem Verfassen eines Textes - Inkongruenzen auffallen, und zur
Revidierung einzelner Normierungen anregen.
Das Forum wäre der gemeinsame Raum, in dem Professions-Identität und StudentInnen-
Identität miteinander über gegenseitige Befolgung von Handlungsaufrufen verstehend begegnen
könnten. Die StudentInnen müssten dann m.a.W. bestimmte Grundmodelle gelernt haben, sich ein
bestimmtes fachliches Grundvokabular angeeignet haben. Umgekehrt jedoch müssten TutorInnen
sowie die Lehrperson, wenn Verstehen stattfinden sollte, Einblick in die Artikulationsbereiche der
StudentInnen genommen haben und die Auswahl der Grundmodelle auf die Fragestellungen der
StudentInnen abstimmen.
Die Ausgangsfrage in diesem zweiten Teil der Arbeit lautete, inwiefern explizite Normierung
bildungsfördernd sein kann. Dies sollte am Beispiel von Raumtrennung mittels expliziter
Normierung diskutiert werden. Räume wurden hierbei - in Anlehnung an Löw - als Verortung
(Spacing) von Objektrelationen (Syntheseleistung) verstanden. Objekte waren hierbei nicht “rein”,
d.h. unter bloß dritt-, sondern auch unter erstpersonaler Perspektive gefasst. In erstpersonaler
Hinsicht sind Objekte nicht nur ausgedehnt und bewegt, sondern fordern zu “angemessener”
Handlung auf, haben implizit normativen Charakter. Selbst Greifobjekte haben demnach immer
schon auch normative Ansprüche, d.h. Ansprüche darauf, wie mit ihnen “richtig” umgegangen
werden solle. Diese Normen wurden dabei verstanden als implizite Veräußerlichungen von
Bedeutsamkeitsbeziehungen des Bewusstseins. Selbst in bloßen Greifobjekten wie Tischen und
Stühlen werden - sofern sie Normativität transportieren - Bewusstseine implizit artikuliert. Bollnow,
Gebser und Foucaults Deutungen von Beuwsstsein sollten diese These plausibilisieren. Bewusstsein
erzeugt anhand dieser Objekte unbewusst verstehbare Entäußerung.
Am Beispiel der Lads wurde aufgezeigt, dass mehrere Räume und damit Objektrelationen an
einem Ort zusammenfallen können, ohne dass ein Verstehen - der hierbei einander fremden und
zusammentreffenden Bewusstseine - stattfinden würde. Ebenso wie es notwendig ist, einen Text in
seiner Erschlossenheit zu lesen und dessen Normierungen - in Form des Mitdenkens z.B. - zu
erfüllen, kann fremdes Bewusstsein nur über eine Erfüllung seiner Normierungen in ihrer
Erschlossenheit verstanden werden. Im Falle der Lads fand auf Seiten beider Bewusstseine wohl
kein Verstehen statt, das fremde Bewusstsein wurde nicht in seiner Fremdheit anerkannt und die
Erschlossenheit der Normierungen wurde über ein Zusammenfallen beider Räume am Schulort
aufgebrochen. Einzelnormierungen von Lehrpersonen wurden hierbei von den Lads aus ihrem
Erschlossenheitszusammenhang gerissen, vor den Hintergrund ihres eigenen Bewusstseins gestellt
und lächerlich gemacht. Umgekehrt galt dies genauso. Die Lads versuchten die Erschlossenheit
ihres Artikulationsraums zu bewahren, indem sie auch möglichst große körperliche Distanz zum
Schulraum einnahmen und auf der Straße oder am Gang Gruppen bildeten. Am Beispiel der Lads
wurde deutlich, dass sobald einzelne Objekte eines Raumes in einen anderen Raum hineingetragen
werden, sie ihre Erschlossenheitsbeziehung und damit ihren Sinn verlieren. Diese
Erschlossenheitsbeziehung der Objekte weist, wie weiter argumentiert wurde, auf die
Die “Einheit” von Räumen, ähnlich der Einheit von Sinninseln, die zueinander als relative
Einheiten in Relation stehen, wurde - in Rekurs auf den ersten Teil der Arbeit - als
Wiederspiegelung der narrativen Erschlossenheit der jeweiligen Identitätskonzeption interpretiert.
Bedingung für Verstehensprozesse ist die Vertextlichung der Erschlossenheit der eigenen
Identitätskonzeption in Form von zueinander in Kohärenz stehenden Normierungen. Derartige
Artikulation geschieht auch schon unbewusst, indem Identitäten z.B. eine konsistente Erzählung
ihrer Selbst zu formulieren versuchen. Über die die Anordnung von Objekten, d.h.
Syntheseleistung, werden Handlungsaufforderungen oder Normen geschaffen, deren Entsprechung
in anderen Bewusstseinen Erfahrung generieren kann. Normierungen sind notwendige aber nicht
hinreichende Voraussetzung für Verstehensprozesse.
Explizite Normierung ist auch nicht hinreichend für Bildungsprozesse, welche in Anschluss
an Marotzki verstanden wurden als Bewusstwerdung der eigenen Bewusstseinsstrukturen oder der
Konstruktionsprinzipien der eigenen Weltaufordnung. Verstehensprozesse, als Akte von
Bewusstsein, sind Gegenstand von Bildungsprozessen. Die Strukturmerkmale von verstehendem
Bewusstsein, wie sie in dieser Arbeit in Anlehnung an Bollnow und Marotzki tentativ
vorgeschlagen wurden, waren die Erschlossenheit des eigenen Identitätsentwurfs - repräsentiert
durch die relative Einheit der Räume - sowie das Erschließen eines Fremden über ein Einlassen auf
dessen Normierungen in ihrer Erschlossenheit.
In dieser Arbeit ging es mir aber ausschließlich um das Explizieren von Normen. Das könnte
durch den Standardbegriff, denn ich an einigen Stellen als synonym für explizierte Normen
verwende, verzerrt werden. Hätte ich den Standardbegriff jedoch vollständig aus meiner Arbeit
gestrichen, hätte mir die Verbindung zu dem im Seminar Besprochenen gefehlt. Und diese scheint
mir durchaus gegeben, auch wenn ich wohl in einer eigenen Arbeit die Differenzen zwischen
Normen und Standards herausarbeiten müsste.
Es sollte hoffentlich zumindest an meinen Beispielen deutlich geworden sein, dass die von
mir verteidigte Konzeption von Normen Pluralität an Erwartungen nicht nur zulässt, sondern erst
richtig zur Geltung kommen lässt. Diese Arbeit sagt dagegen nichts über die Legitimität von
Standards im Sinne allgemeiner Kernkompetenzen.
2. Ein weiterer problematischer Aspekt am hier verwendeten Begriff der Norm scheint mir,
dass er - im Unterschied zu dem in der PISA-Studie verwendeten - in keinerlei unmittelbarer
Relation zu Sanktionsmaßnahmen steht. Eine Norm ist in dieser Arbeit auch dann eine Norm, wenn
sie außerhalb eines Systems institutionalisierter Handlungsaufforderungen und
Sanktionmaßnahmen steht. Womöglich ist dies – etymologisch gesehen - eine illegitime
Verwendung des Normbegriffs, die ebenso unnötig Missverständnisse provoziert.
Wenn von Norm die Rede war, wollte ich in Anschluss an Dux den Aspekt des Aufrufs
betonen, dessen Befolgung in jemandes Interesse steht. Wird einer Norm nicht entsprochen, hat dies
einerseits zur Folge, dass ein aufrufendes Bewusstsein in seiner Erwartungshaltung enttäuscht
wurde, andererseits aber, dass das die Norm nicht befolgende Bewusstsein bestimmte (Verstehens-)
Erfahrungen nicht macht. Sanktion ist hier nicht mitimpliziert sondern erst Zusatzmoment von
Normen, die zugleich kollektive Formen von Praxis konstituieren.
3. Ich habe nicht problematisiert, dass Hemmungen zu minimieren letztlich zum Gegenteil
kritischer pädagogischer Haltung führen kann. Gerade eindeutig normierte Räume bieten sich auch
für Indoktrination an. Implizite Voraussetzung dieser Arbeit, die eigens legitimiert werden müsste,
war jedoch, dass Bewusstseine ohne Befolgung normativer Vorgaben keine Erfahrungsstrukturen
aus sich heraus generieren können und auch eine Position “reiner Vernunft”, aus der heraus vor aller
Erfahrung die Legitimität bestimmter Erfahrung versprechender Normen bestimmt werden könnte,
nicht denkbar ist.
4. Gerade aus pädagogischer Perspektive könnte überlegt werden, ob Hemmungen nicht auch
anders minimiert werden könnten, als über Normierung. Umgekehrt könnte auch gefragt werden, ob
Hemmungen nicht auch bildungsförderlich sein könnten. Dazu habe ich nur vage Vermutungen.
Dux, G. (2000). Historisch-genetische Theorie der Kultur: instabile Welten: zur prozessualen
Logik im kulturellen Wandel. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Dux, G. (2004). Die Moral in der prozessualen Logik der Moderne: warum wir sollen, was
wir sollen. Weilerswist: Velbrück Wissenschaft.
Klieme, E. u.a. (Hrsg.) (2003). Zur Entwicklung nationaler Bildungsstandards: eine Expertise
(3. Aufl.). Bonn: BMBF.
Löw, M. (2003). Einführung in die Soziologie der Bildung und Erziehung. Stuttgart: UTB.
Searle, J. R. (1995). The construction of social reality. New York: Free Press.
Taylor, C. (1996). Quellen des Selbst. Die Entstehung der neuzeitlichen Identität. Frankfurt
am Main: Suhrkamp.
dem Thema 41 der Lehrperson 31 dem Vortragsstil 22 dem Lehrplan 12 der leicht verdienten Note 2
2. Ich hatte einen Arbeitsaufwand von ca.: 0-10: 2 10-20: 19 20-40: 13 40-80: 12 mehr als 80: 3 k.A.: 3 Stunden
7. Die Ziele der Lehrveranstaltung (z.B. selbsterschlossenes Wissen) waren erreichbar angesetzt: ja 42 nein 4
8. Ich hatte in der Lehrveranstaltung mehr Erfolgserlebnisse, als in solchen mit Frontalunterricht: ja 30 nein 7
9. Ich hatte das Gefühl: „Um die Prüfung zu absolvieren, oder um der Vorlesung überhaupt folgen zu können, muss man eben an den kollaborativen
Prozessen teilnehmen.“ ja 28 nein 17
10. Ich fühle mich dank des Besuchs der Lehrveranstaltung emotional befriedigend über folgende Konzepte aufgeklärt:
deklaratives Wissen: 28 Stabilisierung innerer/äußerer Systeme: 29 Assimilation/Akkomodation: 30 Bindung: 33 Beziehung : 33
Übertragung/Gegenübertragung: 34 Bildung dritter Ordnung: 35 primäre/sekundäre Intersubjektivität: 35 Ich/Es/Über-Ich: 37 Bildung
erster Ordnung: 38 Bildung zweiter Ordnung: 38 Integration: 39 Primärerfahrungen: 40 in Sprache heben des Gewahrseins: 48
11. Ich habe folgende Konzepte nicht wirklich verstanden: Unterschied Bindung/Beziehung; Szenische Bildung als Transformation; Tertiäre und
Quartiere Intersubjetkvität; Bipolarität; Äquilibration; Prälogisch-Postlogisch; Containing;
Zusatz: Anerkennung in Form des Lob durch den LV-Leiter findet statt;
14. Ich will für Kollaboration auch bei der Prüfung z.B. eine Frage streichen können: ja 34 nein 6
15. Ich kann mir vorstellen, kollaborativ mitzuarbeiten, wenn es klare Handlungsanweisungen dafür gibt: ja 35 nein 2
16. Ich wünsche mir mehr praxisnahe Beispiele in der Präsenzzeit: ja 40 nein 4
18. Ich habe im Verlauf der Vorlesung den roten Faden oft verloren: ja 12 nein 35
19. Ich finde, dass Inhalte aus dem „Background“ intensiver in der Vorlesungszeit besprochen werden sollten: ja 27 nein 13
20. Ich erwarte mir in der Präsenzzeit primär (nur eines ankreuzen):
21. Ich finde Raum für Diskussion wichtig, würde dafür aber primär (nur eines ankreuzen):
22. Ich habe die Diskussionen im moodle interessant gefunden und teils darin geschmökert, aber nicht gepostet: ja 40 nein 2 ich habe gepostet 9
23. Ich war zu Beginn der Vorlesung regelmäßig zu den Präsenzzeiten anwesend, bin dann aber abgesprungen wegen:
dem versprochenen Skriptum 3 weil ich wenig gelernt habe 1 mir der Vortragsstil nicht liegt 2 ich Besseres zu tun hatte 2 weil ich den roten
Faden verloren habe 3 weil zu viel diskutiert wird 4 weil der Lehrveranstaltungsleiter selbst zu wenig Stellung bezieht 0 weil mir die Nähe, welche
in der Vorlesung gefordert wird, nicht zusagt 1 weil ich mich eingeschüchtert fühlte 2
andere Gründe mangelnde Zeit; Kind; Arbeit; andere LV; Uhrzeit; langer Weg zur Uni;
24. Ich habe schlechtes Gewissen, mich nicht kollaborativ beteiligt zu haben: ja 12 nein 29
25. Ich ging nach der Vorlesung oft mit dem Gefühl nach hause, „[...] nichts verstanden zu haben, [mich] nicht zu trauen, etwas zu sagen [...]“: ja 5
nein 31
26. Ich habe mich bisher am Forum nicht beteiligt weil (mehrfaches Ankreuzen möglich):
ich mich eingeschüchtert fühle 10 weil ich den Eindruck habe, dass was ich poste ohnehin niemanden interessiert 6 weil was ich zu sagen habe
schwer in einem kurzen Posting festgehalten werden kann 6 weil das Festhalten eigener Gedanken so mühsam ist 7 weil ich einige der sich am
Forumsdiskurs beteiligenden Personen nicht mag 2 weil ich Angst habe, dass der Lehrveranstaltungsleiter meine Postings bewertet 3 weil ich
Angst habe Unqualifiziertes zu posten 23
andere Gründe mangelnde Zeit; weil meine Gedanken oft schon vorher aufgegriffen werden; keine zeit, weil es mir mehr bringt persönlich zu
diskutieren; mag Foren nicht da mir grundsätzlich nicht gut tut lange vor dem PC zu sitzen; so viele andere Dinge zu tun; weil man nicht zur Elite
gehört; zu wenig Zeit; weil ich die elektronische Form des Austausches nicht mag und persönliche Gespräche vorziehe.
27. Ich wünsche mir, dass der Lehrveranstaltungsleiter sich im Forum aktiver beteiligt: ja 10 nein 16
28. Ich fühle mich von der Quantität der Beiträge im Forum erschlagen: ja 29 nein 17
29. Ich hatte schon mal schlechtes Gewissen, nicht alle Beiträge im Forum gelesen zu haben: ja 20 nein 35
31. Mich spricht das an: „Ich habe schon länger daran gedacht, mich auch im Forum zu „verwirklichen“. Und um ehrlich zu sein, ich scheue mich
immer noch ein wenig davor, weil das Niveau der Diskussionen hier dermaßen hoch geworden, bzw. angesetzt worden ist. Damit meine ich
inhaltlich höchst intelligent und auch stilistisch sehr ausgefeilt, also eigentlich spreche ich meine Bewunderung hier ebenso aus, wie meine Scheu.“
ja 26 nein 12
32. Mich spricht das an: „Es wird meiner Meinung nach [im Forum] stets mehr die Eigenperspektive dargelegt und diese auch ausführlich und in
Verwendung von Fremdwörtern argumentiert, allerdings zu wenig auf Einzelaspekte anderer Kollegen eingegangen.“ ja 8 nein 19
33. Mich spricht das an: „In der Vorlesung [...] hatte ich durch das ständige erwähnen der "Elite" [...] teilweise das Gefühl unerwünscht zu sein,
bloß weil ich an der Diskussion nicht teilnehme sondern lieber zuhöre...“ ja 21 nein 20 Elite? 1
34. „[I]ch wollte auch immer wieder mal etwas ins Forum schreiben, allerdings ist es [...] bei mir so, dass ich durch die anderen Beträge
eingeschüchtert bin. Genauso ist es in der Vorlesung selbst [, ... dort] habe mich bisher kein einziges Mal getraut etwas zu sagen, auch wenn es mir
auf der Zunge lag. Noch dazu bin ich ganz generell nicht so, dass ich unbedingt vor zig anderen Studenten reden möchte...“ ja 18 nein 16
39. Das Tutorium gab wichtige Hilfestellungen : ja 11 nein 0 Tutorium? 5 ich war bei keinem Tutorium 27
40. Ich schätze an der Vorlesung: den Inhalt; die Verknüfungen; den Stil; den Versuch des LV-Leiters immer an sich selbst zu arbeiten; die
Kockerheit/Entspanntheit; den Vortragenden; die Offentheit; die psychoanalytischen Aspekte; die Möglichkeit des offenen Diskurses; Vernetztes
Denken; ihren unglaublich anregenden und lebendigen Charakter; dass sie einen anderen Zugang zu Lernen schafft; Kooperation und Dynmaik; das
Neue; dass jeder wichtig ist; dass StudentInnen einbezogen werden und nicht über deren Kopf hinweg referiert wird; dass man sich barrierenfrei
einbringen kann; Offenheit des LV-Leiters; welches Ausmaß das moodle erreicht hat; Fallbesipiele; Lebensnähe; Hilfe von Mario; unterschiedliche
Ebenen des Kollaboratioven; die Zus.arbeit und Hilfbereitschaft unter StudentInnen; dass sich Prof. Stephenson viel Zeit für die StudentInnen
nimmt; Respekt; offener Vortragsstil; das Miteinander; die Art wie sie gehalten wird; gutes Klima; kompetenter und menschlicher Prof.;
Verinnerlichung des Stoffes wird leicht gemacht; neue Art des Abhaltens der LV; die Anregung selbst zu denken/vernetzen; Diskussionen während
der LV; Offenheit für eigene Meinungen; innovative Zugangsweise.
41. ADDENDUM: Verbesserungsvorschläge: Inhalte zu oft durchgekaut -> mehr Fakten; klare Trennung von kollaborativem Raum & Darstellung
von Inhalten und Modellen; ohne Inhalte fehlt mir die Grundlage für Diskussion.