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Otto-von-Guericke-Universität, Magdeburg

Fakultät für Geistes-, Sozial- und Erziehungswissenschaften

Institut für Erziehungswissenschaft

Bachelorarbeit
im Studiengang „Medienbildung - visuelle Kultur und Kommunikation“

Verfasser: Christopher Könitz Erstgutachter:


Student der Medienbildung Prof. Dr. phil. habil. Winfried Marotzki
4. Fachsemester Lehrstuhl für allgemeine Pädagogik
E-Mail: chkoenitz@googlemail.com
Zweitgutachter:
Dr. phil. Stefan Iske
Institut für Erziehungswissenschaft

Magdeburg, September 2009

Trenz Pruca • E-Mail: no_reply@apple.com • Grundschule 1


Inhaltsverzeichnis

1 Einleitung 1

2 Vorüberlegungen und Begriffsklärungen 3


2.1 Prostitution in Japan - ein kurzer Überblick 3

2.2 Der zugrunde liegende Bildungsbegriff 5

2.3 Orientierungswissen 6

2.4 Dimensionen der strukturalen Medienbildung 7

2.5 Moderne, Identität und Reflexivität in Japan 8

3 Eingrenzung und Methodik 11


3.1 Eingrenzung des Feldes und Entwicklung der Fragestellung 11

3.2 Filmanalysemodell nach Bordwell und Thompson 13

4 Entwicklungsmuster der Prostituierten 15


4.1 Die Herausarbeitung von drei Grundmustern: Akasen chitai (1956) 15

4.1.1 Das Muster des Scheiterns (Yumeko) 19

4.1.2 Das Muster der Abkehr (Yasumi) 22

4.1.3 Das Muster des Alltags (Hanae) 24

4.2 Das Muster des Scheiterns - (Maruhi) shikijô mesu ichiba (1974) 27

4.3 Das Muster der Abkehr - Yoru no onnatachi (1948) 34

4.4 Das Muster des Alltags - Topâzu (1992) 38

4.5 Das Muster des Ausflugs - Baunsu ko gaurusu (1997) 45

4.6 Das Muster des Ausflugs - Love & Pop (1998) 53

4.7 Das alternierende Muster - Kiraware Matsuko no isshô (2006) 61

4.8 Das alternierende Muster - Nippon konchuki (1963) 70

5 Entwicklungsmuster und Bildungsfiguren 79


5.1 Das Muster des Scheiterns 79

5.1.1 Yumeko (Akasen chitai) 79

5.1.2 Tome ((Maruhi) shikijô mesu ichiba) 80

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen


5.1.3 Vergleich der Bildungsfiguren 81

5.2 Das Muster der Abkehr 81

5.2.1 Yasumi (Akasen chitai) 81

5.2.2 Fusake (Yoru no onnatachi) 82

5.2.3 Vergleich der Bildungsfiguren 83

5.3 Das Muster des Alltags 83

5.3.1 Hanae (Akasen chitai) 83

5.3.2 Ai (Topâzu) 84

5.3.3 Vergleich der Bildungsfiguren 84

5.4 Das Muster des Ausflugs 85

5.4.1 Lisa (Baunsu ko gaurusu) 85

5.4.2 Jonko (Baunsu ko gaurusu) 86

5.4.3 Hiromi (Love & Pop) 87

5.4.3 Vergleich der Bildungsfiguren 87

5.5 Das alternierende Muster 88

5.5.1 Matsuko (Kiraware Matsuko no isshô) 88

5.5.2 Tomé (Nippon konchuki) 89

5.5.3 Vergleich der Bildungsfiguren 90

5.6 Vergleich der Entwicklungsmuster mit den Bildungsfiguren 90

5.7 Bildungsfiguren und Orientierungskonzepte 92

6 Fazit 94
6.1 Zusammenfassung 94

6.2 Strukturale Medienbildung und japanischer Film 95

6.3 Offene Fragen und Ausblicke 97

7 Literatur- und Quellenverzeichnis 98


7.1 Literaturverzeichnis: 98

7.2 Film- und Bildquellen 100

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen


1 Einleitung

„So grausam diese vergängliche Welt,


So arm an Trost.
Und bald wird mein Leben unbeweint
mit dem Tau verfliegen.“
(Braw/Gunnarsson 1982: 236)

Dieses Zitat stammt von dem gesellschaftskritischen Schriftsteller Saikaku,


welcher vor über dreihundert Jahren in Japan lebte. Es umschreibt den Unter-
suchungsgegenstand dieser Arbeit: die Prostitution in Japan. Jedoch soll es
in dieser Arbeit nicht um Gesellschaftskritik gehen, sondern vielmehr um die
Entwicklung der Prostituierten im japanischen Film in einem bildungstheoreti-
schen Kontext.

Das Zitat zeigt, dass das Leben der Prostituierten keinesfalls leicht ist. Von
daher ist es um so interessanter, anhand des japanischen Films Lebensent-
würfe, Orientierungsleistungen und Bildungsfiguren der Prostituierten heraus-
zuarbeiten. Auf der forschungspraktischen Seite handelt es sich bei dem von
mir untersuchten Feld um eine Forschungslücke. Das liegt vor allem im theo-
retischen Charakter der Arbeit begründet. So gibt es zahlreiche Arbeiten über
Prostituierte in Japan, welche ich vor allem für das Verständnis von Prostituti-
on in Japan nutzte. Die Einzigartigkeit dieser Arbeit besteht aus dem in ihr
verwendeten strukturalen Bildungsbegriff und einer entsprechenden Form-
analyse des Filmmaterials.

Daher werde ich am Anfang der Arbeit einen kurzen Überblick über die Prosti-
tution in Japan geben und anschließend die strukturale Medienbildungstheo-
rie vorstellen. Auf Grundlage soziologischer Literatur über Japan werde ich
zudem ein japanisches Verständnis von Moderne, Identität und Reflexivität
vorstellen, um möglichst genau die Bildungsfiguren herauszuarbeiten. Nach-
dem die theoretischen Grundlagen der Arbeit erläutert sind, möchte ich den
Prozess der Einschränkung des Untersuchungsfeldes und der Konkretisierung
der Fragestellung nachzeichnen, so dass das Forschungssample klar umris-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 1


sen wird. Nachfolgend möchte ich das Filmanalysemodell nach Bordwell und
Thompson vorstellen, welches die zentrale Untersuchungsmethode in dieser
Arbeit sein wird.

Im Hauptteil der Arbeit soll, basierend auf diesem Modell, eine Analyse von
acht Filmen stattfinden und zunächst Entwicklungsmuster der Prostituierten
herausgearbeitet werden. Hierbei geht es mir darum, die „Verlaufskurven“ der
Prostituierten nachzuzeichnen und entsprechend zu ordnen.

Danach sollen die Bildungsfiguren auf Basis der bildungstheoretischen


Grundlagen herausgearbeitet werden. Hierbei möchte ich zum einen einen
Vergleich mit den Entwicklungsmustern anstellen, um herauszufinden, ob es
für die Verlaufskurven spezifische Orientierungstypen gibt. Zum anderen
möchte ich auch die Bildungsfiguren und Orientierungskonzepte genauer be-
trachten, um grundlegende Orientierungstypen herauszuarbeiten.

In einem Fazit möchte ich die Arbeit und deren Ergebnisse zusammenfassen
und diskutieren. Insbesondere die Frage, in wie fern der von mir gewählte Bil-
dungsbegriff im japanischen Film anwendbar ist, soll hierbei zentral sein. Zum
Abschluss der Arbeit möchte ich kurz die offenen Fragen diskutieren, welche
in dieser Arbeit entstanden und zudem einen Ausblick auf weitere Arbeiten
geben.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 2


2 Vorüberlegungen und Begriffsklärungen
2.1 PROSTITUTION IN JAPAN - EIN KURZER ÜBERBLICK

Prostitution ist einer der zentralen Begriffe in meiner Arbeit. Wie in vielen an-
deren Ländern der Erde hat auch die Prostitution in Japan eine lange Ge-
schichte. In der westlichen Welt ist vor allem der Begriff Geisha geläufig, wenn
es um das Thema Prostitution in Japan geht. Jedoch ist dies ein historisch
gewachsener Irrtum aus der Zeit der amerikanischen Besatzung in Japan, als
sich normale Prostituierte als Geishas aus Geschäftsgründen bezeichneten.
Geisha bedeutet wörtlich übersetzt Kunst-Person. Daher stehen bei einer
Geisha die Kunst der Konversation, des Tanzes und der Musik im Vorder-
grund. Beischlaf erfolgt nur mit ausdrücklichen Einverständnis und Vertrauen
der Geisha und gehört nicht zu ihren normalen Tätigkeiten. Das, was eine
Geisha und eine Prostituierte eint, ist die Zuordnung dieser zum miza-shobai,
dem Wasser-Handel. Dieser Begriff umfasst jedoch auch Mitarbeiter des The-
aters, der Bars oder Badehäuser (vgl. Braw/Gunnarsson 1982: 195). Es wird
deutlich, dass die Werteorientierung und Kategorisierung der Japaner eine
andere ist, als die der christlich geprägten westlichen Welt.

In Bezug auf westliche Vorstellungen von Prostitution gibt es im Japanischen


den Begriff baishun. Dieser bedeutet wörtlich übersetzt „Frühling verkaufen“
bzw. „Frühling kaufen“. Im Gegensatz zu Staaten christlicher Prägung, war
Prostitution in Japan bis in die fünfziger Jahre hinein Normalität, welche staat-
lich kontrolliert und geduldet wurde. Bereits im 17. Jahrhundert bildeten die
Machthaber sogenannte akasen chitai (Rote-Linie-Bezirk). Seit 1956 jedoch
gilt in Japan ein Verbot von Prostitution1. Somit ist offiziell „Frühling verkau-
fen“ verboten. Frauen dürfen offiziell also ihren Körper nicht verkaufen. Je-
doch ist „Frühling kaufen“ nicht verboten. Daher dürfen Männer ohne Strafe
mit Prostituierten den Beischlaf vollziehen. Prostitution ist also nicht ver-

1 Nach dem zweiten Weltkrieg gab es unter der MacArthur-Administration ein Verbot
der Prostitution bis 1952, welches keine Wirkung hatte. Erst 1956 wurde die Bordell-
bezirke offiziell seitens der japanischen Regierung aufgelöst (vgl. Braw/Gunnarsson
1982: 223).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 3


schwunden, sondern taucht nur unter anderen Namen wieder auf. So gibt es
offiziell keine Bordelle, sondern toruko (türkische Bäder), Snackbars, Clubs
und ähnlich bezeichnete Einrichtungen (vgl. Braw/Gunnarsson 1982: 223).

Diese bei der Prostituierten liegende Straflast verdeutlicht auch, dass Japan
eine von Männern bestimmte Gesellschaft ist. Dies resultiert aus einem kon-
fuzianischen Gesellschaftsverständnis2 , welches auch heute noch vor-
herrscht. Frauen können in dieser Gesellschaft für den Mann daher nur zwei
Positionen einnehmen: die zu achtende Mutter bzw. Ehefrau oder die nicht zu
achtende Frau, zu welchen Prostituierte gehören (vgl. Morley 1999: 110). Der
konfuzianischen Bestimmtheit des Mannes steht jedoch im heutigen Japan
eine vaterlose Gesellschaft entgegen. Diese ist Resultat einer starken Institu-
tionalisierung der Gesellschaft auf mehreren Ebenen 3.

2 Dies meint grundsätzliche Rangordnungen wie Herr/Untertan, Eltern/Kinder oder


Mann/Frau. Der japanische Politikwissenschaftler und Philosoph Masao Maruyama
bezeichnet dies als eine Gesellschaft des Seins. Diese habe sich jedoch im Zuge der
Meiji-Restauration, also der Wiedereinsetzung des Kaisertums im Jahre 1868 und der
folgenden Abschaffung der Stände und Errichtung von Institutionen nach westlichen
Vorbild, in eine Gesellschaft des Tuns gewandelt. Daher zählt nicht mehr die Herkunft,
sondern die Leistungsbereitschaft und Leistungen allgemein. Jedoch betont Maruya-
ma, dass innerhalb der Institutionen und Familien die Idee des Seins fortbesteht (vgl.
Marayama/Seifert 1988: 139).
3 Die Sozialanthropologin Chie Nakane beschreibt, dass der japanische Mann mit Ein-
tritt in eine Institution (z.B. Firma oder Behörde) eine im westlichen Verständnis inni-
ge Beziehung eingeht. Daher bildet sich für den Mann eine Gruppenidentifikation,
welche nach Feierabend fortbesteht, in gemeinsamen Unternehmungen mit Kollegen
fortbesteht und verpflichtend ist. Die Bindung zur Firma steht daher über der zur Fa-
milie, da eine Abgrenzung zur Firma einen Vertrauensverlust mit sich bringen würde.
Dieser würde den Aufstieg in der Rangordnung behindern und zum Gesichtsverlust
führen, welcher in allen Fällen zu vermeiden ist (ähnlich schwierig ist aus diesem
Grunde auch ein Firmenwechsel). Daher sind Väter selten daheim und die Gesell-
schaft ist vaterlos. Im gleichen Zusammenhang ist auch der Leistungsdruck in der
Schule sehr hoch, um in eine möglichst angesehene Institution zu gelangen (vgl. Na-
kane 1985: 143f; sowie Neuss-Kaneko 1990: 132f).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 4


In Bezug auf prostituierte Frauen, den Fokus meiner Arbeit, wird deutlich,
dass diese aus der Leistungsgesellschaft herausfallen und daher kein Anse-
hen besitzen. Auf der anderen Seite ist ihr Leben fernab von legalen Instituti-
onen für japanische Verhältnisse überdurchschnittlich kontingent. Daher ist
anzunehmen, dass sich Prostituierte im japanischen Film im erhöhten Maße
neuorientieren müssten, was in einem westlich bildungstheoretischen
Verständnis höchst interessant ist. Dieses Verständnis von Bildung möchte
ich im folgenden Abschnitt erläutern.

2.2 DER ZUGRUNDE LIEGENDE BILDUNGSBEGRIFF

Ein zentrales Ziel dieser Arbeit soll sein, die Orientierungsleistungen der
Prostituierten qualitativ zu erfassen bzw. zu prüfen, in wie fern ein westlich
geprägter Bildungsbegriff überhaupt auf den japanischen Film anwendbar ist.
Hierzu ist es notwendig, den in dieser Arbeit verwendeten Bildungsbegriff
auszuführen.

Der grundlegende Bildungsbegriff dieser Arbeit ist der der strukturalen Bil-
dungstheorie, welche Marotzki (1990) in seiner Monographie Entwurf einer
strukturalen Bildungstheorie herausarbeitet. Hierbei erläutert Marotzki ausge-
hend von der These der Individualisierung (vgl. ebd.: 19f) und der These der
Kontingenzsteigerung (vgl. ebd.: 25f), dass Bildung nur struktural erfasst wer-
den kann, da moderne Biographien zum einen Relevanzstrukturen besitzen
und zudem auf Grund der Kontingenz der Moderne immer wieder reflektiert
werden müssen (vgl. ebd.: 29f). Daher muss sich das Individuum auch immer
wieder mit sich und der Welt ins Verhältnis setzen (vgl. ebd.: 41f).

In Bezug auf den Film 4 möchte ich die von strukturalen Bildungstheorie abge-
leitete strukturale Medienbildungstheorie von Jörissen und Marotzki (2009)
verwenden. Diese ist analog zur strukturalen Bildungstheorie zu verstehen, da
sie sich weniger Inhalte von Medien anschaut werden, sondern die Strukturen

4 Jörissen und Marotzki schreiben dem Film ein hohes reflexives Potential zu, da er
Fremdheitserfahungen inszeniert, nachvollziehbar und reflektierbar macht (vgl. Jöris-
sen/Marotzki 2009: 30).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 5


des Mediums5 , um daraus Bildungspotentiale bzw. Prozessstrukturen abzu-
leiten. Um die Notwendigkeit von Reflexivität in der Moderne deutlicher zu
machen, möchte ich nun den Begriff des Orientierungswissens nach Jürgen
Mittelstraß ausführen.

2.3 ORIENTIERUNGSWISSEN

Der Philosoph Jürgen Mittelstraß (2002) führt in seinem kritischen Aufsatz


„Bildung und ethische Maße“ aus, dass die heutige „Informationswelt, in die
wir heute alle, willig oder unwillig, gezogen werden“ keine Orientierungswelt
ist (Mittelstraß 2002: 154). Er kommt zu dem Schluss, dass diese Entwicklung
eine Orientierungsschwäche mit sich bringt. Doch sind es gerade die Orientie-
rungsleistungen und somit Bildungsprozesse, welche letztlich auch Selbstbe-
stimmung für das Individuum schaffen (vgl. Mittelstraß 2002: 166). In Bezug
auf meine Arbeit möchte ich daher in der Untersuchung der Bildungspotentia-
le das Orientierungswissen mit einbeziehen, um die Qualität der Reflexionen
der Protagonisten im Film genauer herauszuarbeiten. Dabei beziehe ich mich
auf die von Marotzki und Jörissen (2008) herausgearbeiteten vier Momente
des Orientierungswissens. Diese nennen zunächst die Orientierung als Fähig-
keit des Umgangs mit Kontingenz, wobei Kontingenz mit den Orientierungs-
krisen der Moderne verbunden ist. Um diese Krisen zu meistern ist eine Flexi-
bilisierung des Individuums nötig, um sich im Kontext der Kontingenz umori-
entieren zu können. Hierfür ist eine explorativ spielerische und offene Haltung
gegenüber der Unbestimmtheit nötig, die sogenannte Tentativität. Letztlich ist
das Moment des Einlassens auf das Unbekannte oder auch unbestimmt Blei-
benden als Orientierungsleistung bzw. Bildungsprozess im Sinne der struk-
turalen Bildungstheorie zu sehen (vgl. Marotzki/Jörissen 2008: 56).

5In Bezug auf den Film verwenden Jörissen und Marotzki das Filminterpretationsmo-
dell nach Bordwell und Thompson (2008), welches ich in Kapitel 3.2 näher vorstellen
werde.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 6


2.4 DIMENSIONEN DER STRUKTURALEN MEDIENBILDUNG

Ausgehend von der in Kants Logik gestellten Fragen Was kann ich wissen?
Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Was ist der Mensch?, unterscheiden
Jörissen und Marotzki (2009) vier grundlegende Dimensionen lebensweltlicher
Orientierung: den Wissensbezug, den Handlungsbezug, den Grenzbezug und
den Biographiebezug (vgl. ebd.: 31f). Diese Dimensionen können für eine A-
nalyse von Bildungsprozessen fruchtbar gemacht werden.

1. Wissensbezug: Will man Wissenslagerungen, zum Beispiel in Filmen, er-


kennen, dann ist zunächst ein Verfügungswissen notwendig. So ist es zum
Beispiel für das Verständnis eines historischen Films hilfreich, wenn man ihn
zeitgeschichtlich einordnen kann. Im Sinne der Reflexivität ist ein solches
Wissen jedoch nur die Vorstufe zu dem, was als Orientierungswissen be-
zeichnet wird. Die Reflexion über Wissen ist daher unerlässlich, um eine le-
bensweltliche Orientierung aufzubauen (vgl. Jörissen/Marotzki 2009: 31f). In
Bezug auf das Beispiel des Historienfilms, ist es also zum Beispiel interessant
zu fragen, welchen Blick auf Moral der Film vor einem historischen Hinter-
grund und dem Wissen über die Zeit darstellt und wie das Individuum sich zu
dieser Position ins Verhältnis setzt.

2. Handlungsbezug: Aus der Weitung an Möglichkeiten, welche durch techno-


logischen und gesellschaftlichen Fortschritt geschaffen werden, ergibt sich
die Frage nach dem Handeln. Gleichwohl ist dies auch eine Frage nach der
Moral und der Werte, welche das Handeln beeinflussen. So kann eine Hand-
lungsentscheidung beim Abwägen der Handlungsoptionen bereits zu reflexi-
ven Prozessen führen. Aber auch nachdem gehandelt wurde, kann die Ent-
scheidung zu einer Reflexion führen und Werte und Einstellungen zu sich und
der Welt verändern (vgl. Jörissen/Marotzki 2009: 33f).

3. Grenzbezug: In Bezug auf Identitätsbildung sind Grenzen unerlässlich, da


sie für das Individuum eine Distanz zu sich und der Welt möglich machen.
Hier sind vor allem gegensätzliche Begriffspaare, wie beispielsweise Rationa-
lität und Transzendenz, immer wieder zu finden. Somit ist dem Grenzbezug

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 7


immer auch die Frage nach dem Eigenen und dem Fremden immanent (vgl.
Jörissen/Marotzki 2009: 34f).

4. Biographiebezug: Biographisierungsprozesse sind Prozesse, welche „als


Reflexion auf das Subjekt und die Frage nach der eigenen Identität und ihren
biographischen Bedingungen“ (Marotzki/Jörissen 2008: 58) verstanden wer-
den. Letztlich handelt es sich hierbei um eine Ordnungsleistung. Das Indivi-
duum ist daher immer vor die Aufgabe gestellt, das bisherige Leben in eine in
sich konsistente Ordnung zu bringen, um sich zu orientieren. Schließlich er-
gibt sich aus Biographiearbeit auch eine Relevanzstruktur, welche sich über
die Zeit ändern kann. Hier zeigt sich auch der Unterschied zum eher fakteno-
rientierten Lebenslauf.

Diese vier Dimensionen sind nicht als abgeschlossen oder starr zu verstehen,
da sie sich durchaus auch untereinander beeinflussen können. So kann zum
Beispiel eine Reflexion über Grenzen durchaus neue Relevanzstrukturen bil-
den, welche das Individuum veranlassen über die eigene Biographie zu reflek-
tieren.

2.5 MODERNE, IDENTITÄT UND REFLEXIVITÄT IN JAPAN

Nachdem ich auf den in der Arbeit verwendeten Bildungsbegriff eingegangen


bin, möchte ich nun drei wichtige Punkte herausarbeiten, welche ich in Bezug
auf das verwendete Material als ausgesprochen wichtig erachte. Zum einen
soll geklärt werden, wie Moderne in Japan zu verstehen ist. Mit dieser Frage
möchte ich auch den zweiten wichtigen Punkt erläutern, welcher auf Spezifika
der japanischen Denktradition eingeht. Letztlich möchte ich versuchen zu er-
klären wie Reflexivität in Japan zu verstehen ist. Dies scheint mir in Bezug auf
die Herausarbeitung der Bildungsfiguren als unerlässlich.

Mit Beginn der Meiji-Restauration 1868 vollzogen sich in Japan starke struk-
turelle Veränderungen. Diese wurden vor allem durch die Einführung von Insti-
tutionen nach westlichem Vorbild erreicht. Damit gelang es Japan für lange
Zeit im asiatischen Raum die einzige moderne Industrienation zu sein (vgl. Ei-
senstadt 1999: 67f). Diese Transformation von einem feudalen zu einem mo-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 8


dernen Staatswesen scheint oberflächlich an die Entwicklung europäischer
Nationalstaaten zu erinnern. Jedoch gibt es gravierende Unterschiede in der
Ausrichtung der japanischen Mentalität. Zum einen handelt des sich bei Ja-
pan um eine nicht-axiale Zivilisation6, was den Sonderstatus Japans unter
den Industrienationen unterstreicht. Auch hat sich mit der Meiji-Restauration
„keine universalistische missionarische Ideologie oder irgendwelche Teile ei-
ner Klassenideologie entwickelt“ (ebd.: 71), wie sie beispielsweise in den eu-
ropäischen Staaten entstanden. Das liegt auch an einem fehlen utopischer
Anteile (vgl. ebd.: 71). Auch die starke Betonung von Gemeinschaftsstruktu-
ren, lässt sich so nicht in westlichen Institutionen finden:

„Gesellschaftliche Akteure, Individuen oder Einrichtungen sind also in


ihrem Bezug zu anderen Akteuren definiert worden, nicht als selbststän-
dige ontologische Wesenheiten, sondern in ihrer Verstricktheit in ge-
meinsame Strukturen und Zusammenhänge“ (ebd.: 73).

Entsprechend dieser Ordnung von Institutionen zeichnet sich Japan durch ei-
ne besondere Art und Weise der Rationalität aus, welche als sekuläre Denk-
weise bzw. Reflexivität beschrieben werden kann. Dieser hochgradig pragma-
tische Rationalismus betont, dass die Gesellschaft naturgegeben und nicht
konstruiert sei (vgl. ebd.: 88). Diesen Widerspruch zwischen gesellschaftlich
natürlicher Ordnung und Bürokratie formuliert Maruyama folgendermaßen:

„[D]iese Situation stellt sich mit der zunehmenden Modernisierung Ja-


pans als ein kaum zu überbrückender Gegensatz dar zwischen dem bü-
rokratischen Denkstil und dem der 'einfachen Leute' [...] Dieser Gegen-
satz formte das spezifisch japanische Muster von 'Organisation und
Mensch'“ (Maruyama/Schamoni 1988: 65).

6 Max Weber, welcher die Entstehung des Kapitalismus im Zusammenhang mit großen
Religionen und Zivilisationen, den so genannten Achsen-Zivilisationen, untersuchte,
erkannte dass Japan nicht in dieses Schema passte. Japan hatte keine große Zivilisati-
on vorzuweisen und orientierte sich an der Staatsreligion des Shintoismus. Daher be-
zeichnete er Japan als nicht-axiale Zivilisation (vgl. Eisenstadt 1999: 67f).

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Es wird deutlich, dass diese Auffassung von Persönlichkeit und Individualität
nicht der westlichen Vorstellung entspricht, welche das Individuum als sepa-
rate ontologische Einheit versteht (vgl. Eisenstadt 1999: 96). Die Haupteigen-
schaften einer japanischen Individualität beschreibt Eisenstadt daher folgen-
dermaßen:

„Erstens wird die individuelle Persönlichkeit in Japan als Teil gesellschaft-


licher Beziehungen oder Zusammenhänge gesehen und wird auch in be-
zug auf ihren Ort in diesen Zusammenhängen definiert; zweitens bewe-
gen sich Personen ständig zwischen solchen verschiedenen Zusammen-
hängen; drittens werden Gefühle oder Sensibilität als grundlegende Ele-
mente von Persönlichkeit betont und streng zwischen 'inneren' Gefühlen
und 'äußeren' Verhalten unterschieden; und viertens wird in ausdrücklich
solidarischen Gefügen das Leistungsprinzip betont“ (ebd.: 96).

Dieses dualistisch, pragmatische Verständnis von Selbst und Welt zeigt an


dieser Stelle, dass der Modus von Reflexion keinesfalls dem westlichen
Verständnis entsprechen muss. Daher könnte es durchaus möglich sein, dass
Privat- und Berufsleben zwei verschiedene Relevanzstrukturen bilden könn-
ten, welche dem pragmatisch orientierten Denken entsprechen würden. Wie
bereits am Anfang des Kapitels erwähnt, ist die institutionelle Bindung der
Prostituierten relativ gering. Sie leben daher in einem kontingenten Beruf. Je-
doch ist es aus identitätstheoretischer Sicht möglich, dass auch dort dieser
Dualismus Ausdruck finden kann.

Um dies anhand von Filmen zu überprüfen, bedarf es konkreter Methoden,


welche zum einen das zu betrachtende Feld für den Rahmen dieser Arbeit
einschränken und zum anderen die Herangehensweise zur Analyse der Filme
beschreiben. Dies soll im nun folgenden Kapitel geschehen.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 10


3 Eingrenzung und Methodik
Nachdem ich die theoretischen Grundlagen für diese Arbeit gelegt habe
möchte ich nun die Methodologie bzw. das entwickelte Forschungsdesign
dieser Arbeit vorstellen. Dies soll die Frage klären, wie „Datenerhebung und
-analyse konzipiert und wie die Auswahl empirischen 'Materials' [...] gestaltet“
wurden (Flick/Kardorff/Steinke 2008: 252). Da der theoretische Rahmen be-
reits geklärt ist, möchte ich an dieser Stelle den Prozess der Filmauswahl und
-findung, sowie der damit verbundenen Entwicklung der Forschungsfrage
nachzeichnen. Zudem möchte ich auch kurz auf das Filmanalysemodell nach
Bordwell und Thompson (2008) eingehen, mit welchem ich das Filmmaterial
analysiert habe.

3.1 EINGRENZUNG DES FELDES UND ENTWICKLUNG DER FRAGESTELLUNG

Der erste Gegenstand meines Interesses war der japanische Nachkriegsfilm


der 40er und 50er Jahre. Dieser ist insbesondere deswegen interessant, da er
Transformationsprozesse in der japanischen Gesellschaft aufzeigt. Hierbei in-
teressierte mich zunächst die Entwicklung der japanischen Familie im Japan
der Nachkriegszeit, da in vielen Filmen auf mehreren Ebenen Scheitern visua-
lisiert wird7.

Jedoch stellte sich heraus, dass diese Fragestellung für den Rahmen dieser
Arbeit noch zu weit gefasst war. Durch den Film Akasen Chitai von Kenji Mi-
zoguchi (1956) lenkte ich meinen Fokus auf Prostituierte, welche ich in Bezug
auf Individualität und Kontingenz sehr interessant fand. Ein weiterer Vorteil
war auch eine (zunächst) starke Reduzierung des Filmmaterials auf zunächst
drei Filme. dadurch war eine Recherche nach weiteren Filmen war aus Grün-
den der Validierung und die Herausarbeitung von Mustern unerlässlich.

7Hiermit ist vor allem das Zerbrechen der traditionellen Familien und der damit ver-
bundenen Orientierungskrisen gemeint, welche sich auf viele Bereiche des Lebens der
Protagonisten auswirken. Insbesondere Yasujiro Ozu beschreibt mit Filmen wie Tôkyô
monogatari (1953) oder Tôkyô boshoku (1957) sehr detailliert die feinen Risse in ja-
panischen Familien, die diese letztlich auseinanderbrechen lassen.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 11


Um eine Übersicht an weiteren Filmen 8 zu erhalten, welche sich mit Prostitu-
ierten beschäftigen ging ich zunächst die Jahresliste des japanischen Films in
der Wikipedia durch. In einem zweiten Schritt holte ich mir Hintergrundinfor-
mationen zu den gefundenen Filmen von der International Movie Database
(www.imdb.com) und suchte dort per Querverweise nach weiteren Filmen.
Um möglichst viele Filme zu erfassen, setzte ich meine Suche im von Schleif
und Meßlinger (1993) herausgegebenen Katalog Filme aus Japan und in der
kostenpflichtigen Filmdatenbank des Katholischen Instituts für Medieninfor-
mation9 fort, was letztlich eine komfortable Anzahl von 16 Filmen ergab. Die
Anzahl wurde zudem vor allem auch dadurch komfortabel, da ich mich auch
über die Feinheiten der Prostitution in Japan informierte und Filme, welche
Hostessen und Geishas behandeln, nicht mit in die Untersuchung mit auf-
nahm, da diese keine Prostituierten im japanischen Verständnis sind.

Um das Feld für diese Arbeit nochmals konkreter zu machen, habe ich in
meine Untersuchung nur Filme aufgenommen, welche die Prostitution nach
1945 behandeln. Dies schien mir vor allem unter dem Gesichtspunkt der
Wertepluralität und der Flexibilisierung der Gesellschaft eine sinnvolle Ein-
grenzung zu sein 10. In Bezug auf das Filmgenre habe ich keine Einschränkun-
gen vorgenommen. So finden sich im Forschungssample klassische Spielfil-

8Bei der Recherche fiel mir auf, dass sich der Kanon an Filmen von Übersicht zu Ü-
bersicht teils stark unterschied und ich somit aus vielen einzelnen Übersichten meine
potentielle Filmauswahl erstellen musste.
9 Hierbei handelt es sich um den Herausgeber der ältesten Zeitschrift für Filmkritik in
Deutschland „film-dienst“, mit einem entsprechend großen Archiv an Filmen
(http://cinomat.kim-info.de/). Für meine Recherche bot die Datenbank gute Ergänzun-
gen, auch wenn ich die Kritiken persönlich nur bedingt teile.
10 Historische Filme, wie Saikaku ichidai onna (Mizuguchi 1952), zeichnen sich vor
allem durch unüberwindbare Stände auf. Daher bleibt eine Prostituierte eine Prostitu-
ierte und muss sich den höheren Ständen fügen. In Filmen wie Shunpu Den (Suzuki
1965), welche Prostituierte im Krieg behandeln, gibt es für die Prostituierten keine
anderen Handlungsoptionen, da sie staatlich zur Prostitution gezwungen werden.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 12


me (Drama), Filme des pinku eiga11 sowie ein Melodram. Das zeigt auch die
audiovisuelle Spannbreite, mit welcher der japanische Filme das Thema der
Prostitution aufgreift.

Aus diesem entstandenen Cluster entwickelte sich für mich die Frage, in wie
fern Prostituierte im japanischen Film reflexiv sind bzw. sich orientieren. Um
das herauszufinden bedarf es konkreter Methoden. Daher möchte ich das
Filmanalysemodell nach Bordwell und Thompson, als zentrale Methode zur
Analyse der Filme, in dieser Arbeit nun vorstellen.

3.2 FILMANALYSEMODELL NACH BORDWELL UND THOMPSON

In der Filmtheorie gibt es aus der historischen Retrospektive heraus zwei


Hauptströmungen. Zum einen sind dies die realistischen Filmtheorien, welche
Film als Abbild der Wirklichkeit sehen. Hierzu zählen Strömungen wie der
Poststrukturalismus, welche u.a. die Psychoanalyse zum Gegenstand haben.
Die zweite Hauptströmung bilden die formalistischen Filmtheorien. Diese be-
ziehen sich auf die Form des Films und gehen daher davon aus, dass Film
immer etwas konstruiertes ist. Daraus ergibt sich auch eine enge Verwandt-
schaft zum Konstruktivismus (vgl. Elsaesser/Hagener 2007: 25f). Zwei moder-
ne Vertreter der zweiten großen Strömung sind David Bordwell und Kristin
Thompson, welche zu den Neoformalisten zählen. In ihrem Werk Film Art – An
Introduction (2008) erarbeiten beide ein Filminterpretationsmodell welches,
ganz im Sinne einer strukturalen Medienbildungstheorie, in dieser Arbeit Ver-
wendung finden soll.

Die Grundannahme des Modells ist die Trennung zwischen Plot und Story.
Der Plot beschreibt hierbei alles Seh- und Hörbare im Film, während Story die
Rekonstruktion dieser Elemente beim Rezipienten meint (vgl. ebd.: 76). Durch
eine Analyse der filmsprachlichen Elemente, den sogenannten Cues, ist es
daher also möglich herauszufinden, wie die Sinnzusammenhänge konstruiert
werden könnten, was den hermeneutischen Charakter dieser Methode ver-
deutlicht. Bordwell und Thompson teilen die filmsprachlichen Elemente, ent-

11Der „pinke Film“ ist eine Mischung aus klassischem Spielfilm und Softporno, wel-
cher einen künstlerischen bzw. ernsten Charakter aufweist.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 13


sprechend den Ebenen der Inszenierung, in Mise-en-Scène, Kinematografie,
Editing und Sound auf.

Alles, was vor der Kamera geschieht, wird unter dem Begriff der Mise-en-
Scène (wörtlich übersetzt: in Szene setzen) zusammengefasst. Dazu zählen
das Setting, das Acting, Kostüme und die Ausleuchtung der Szene bzw. das
Licht (vgl. ebd.: 112f).

Die Kinematografie meint dagegen alles, was die Kameraarbeit betrifft. Hier-
bei sind zum einen Begriffe aus der Fotografie wie Einstellungsgrößen, Bild-
komposition, Perspektive, Tiefenschärfe, Belichtung bzw. Farbfilter zentral.
Zudem ist auch die Rahmung (framing) in den einzelnen Szenen wichtig. Hier-
zu zählen Begriffe wie die Kamerabewegung, die Erzählhaltung der Kamera,
Seitenverhältnisse oder Kadraturen (vgl. ebd.: 162f).

Durch das Editing bzw. die Montage in Form von Schnitten oder Blenden
werden Zusammenhänge zwischen einzelnen Einstellungen und den daraus
resultierenden Szenen geschaffen (vgl. ebd. 218f). Das populärste System
hierbei ist wohl das continuity editing, bei welchem durch establishment shots
und das Schuss-Gegenschuss-Verfahren eine Redundanz in den Bildern her-
gestellt wird, mit welchen Schnitte in einer Dialogsituation unsichtbar werden
(vgl. ebd.: 231f). Jedoch sind auch andere Formen wie die spatial oder tem-
poral discontinuity möglich, welche Schnitte sichtbar machen und mit Seh-
gewohnheiten brechen können (vgl. ebd.: 252f).

Als letztes Element arbeiten Bordwell und Thompson den Sound heraus. Die-
ser kann im Film zum Beispiel in Form von Offstimmen Orientierung schaffen
oder durch das Einfügen von Musikstücken bzw. Geräusche Szenen zusätz-
lich dramatisieren oder rhythmisch machen (vgl. ebd.: 264f).

Nachdem ich nun das Filmanalysemodell eingeführt und erläutert habe,


möchte ich nun zum Hauptteil der Arbeit übergehen, in welchem zunächst
Entwicklungsmuster aus acht Filmen herausgearbeitet werden sollen. Die
Filmanalysen bilden schließlich die Basis, um die Bildungsfiguren zu be-
schreiben bzw. Reflexionspotentiale abzuschätzen und diese in Zusammen-
hang mit den Entwicklungsmustern zu betrachten.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 14


4 Entwicklungsmuster der Prostituierten
4.1 DIE HERAUSARBEITUNG VON DREI GRUNDMUSTERN: AKASEN CHITAI (1956)

Einer der ersten von mir betrachteten Filme nach der Ausarbeitung des For-
schungsdesigns war Akasen Chitai aus dem Jahr 1956. Dieser zeichnet das
Schicksal von fünf Prostituierten, welche jeweils verschiedene Wege gehen.
Das war in so fern komfortabel, da ich so sehr einfach vier Grundmuster an-
hand der Protagonistinnen herausarbeiten konnte. Im folgenden möchte ich
den Film daher näher betrachten und aus der Inhalts- und Formanalyse die
Muster herausarbeiten.

Story

In Yoshiwara, einem Vergnügungsviertel in Tokio leben fünf Prostituierte, wel-


che einem anstehenden Verbot der Prostitution gespalten gegenüber stehen.
Eine von ihnen ist Yumeko. Sie ist bereits älter und denkt darüber nach mit
ihrem Sohn den Lebensabend zu verbringen. Als dieser sie besuchen möchte,
lässt sie ihn von ihren Kolleginnen aus Scham abweisen. Jedoch merkt ihr
Sohn Suichi dies und ist tief gekränkt vom Verhalten seiner Mutter. Diese hat
ihn als Kind bei den Großeltern untergebracht und ihnen Geld geschickt ohne
dabei sich um ihren Sohn direkt zu kümmern. Yumeko versucht Kontakt mit
ihrem Sohn aufzunehmen und träumt weiterhin von einem gemeinsamen Le-
bensabend mit Suichi, obwohl er ihr ausweicht. In einem Gespräch macht er
ihr deutlich, dass er nichts mehr mit ihr zu tun haben möchte und sie nicht
mehr als Mutter ansieht. Yumeko wird daraufhin wahnsinnig vor Kummer und
wird am Ende des Films in eine Nervenklinik gebracht.

Im Gegensatz dazu ernährt Hanae durch die Prostitution ihr Kind und ihren
kranken Mann. Die Situation spitzt sich im Verlauf des Films zu, als Hanaes
Mann sich erhängen möchte, da er sich wertlos fühlt. Jedoch verhindert sie
dies und mahnt ihren Mann, an das gemeinsame Kind zu denken. Durch die
finanziellen Schwierigkeiten muss die Familie im Verlauf des Films ihre kleine
Wohnung räumen und geht einer ungewissen Zukunft entgegen.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 15


Yorie will der Prostitution entfliehen und hofft auf ein besseres Leben nach ei-
ner Hochzeit mit einem Unternehmer. Hanaes Mann bekräftigt sie unter Trä-
nen diesen Schritt zu machen, da er sich für Hanaes Arbeit schämt. Jedoch
zerbricht Yories Ehe nach kurzer Dauer, da sie mit der Führung eines Haus-
halts und körperlicher Arbeit konfrontiert wird und ihr dies zu anstrengend ist.
Yorie flieht von ihrem Mann zurück in die Prostitution, da sie dort leichter Geld
verdienen kann.

Auch Yasumi möchte aus der Prostitution entkommen. Ihr Vater veruntreute
Geld und ging ins Gefängnis, so dass sie gezwungen war, sich zu prostituie-
ren. Jedoch spart sie ihr Geld eisern und nimmt Kunden aus, welche wieder-
um ihre Firmen betrügen, um sich Yasumi leisten zu können. Als ein Kunde
sein Geld wieder haben möchte, eskaliert die Situation und er tötet sie beina-
he. Jedoch überlebt sie den Übergriff und steigt mit dem Ersparten in die
Kleiderbranche um, wo sie fortan distanziert die Prostituierten mit Kleidung
versorgt.

Mickey ist der Neuzugang im Bordell und nimmt sich heraus, Stammkunden
der anderen Prostituierten als eigene Kunden zu nehmen, was zu Streitereien
und Spannungen führt. Im Verlauf des Films wird deutlich, dass sie in die
Prostitution ging, da sie vor ihrem Vater fliehen wollte. Dieser hatte ihre Mutter
betrogen und ist nun ein angesehener Geschäftsmann. Als er Mickey aus
dem Bordell holen möchte, lehnt sie ab und schickt ihn fort.

Nachdem Yumeko und Yasumi am Ende des Films nicht mehr im Bordell ver-
weilen, sieht man wie ein neues Mädchen ins Bordell kommt. Ihr Vater kann
nach einem Unfall nicht mehr arbeiten und so hat sie keine andere Wahl als
ihren Körper zu verkaufen.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 16


Personenkonstellation in Akasen Chitai

Narrationsstruktur

Die Narration ist eine Verwebung der einzelnen Lebenswege der fünf Prostitu-
ierten im Bordell. Daher entwickelt sich ein Pluralitätsmuster.

Die Formanalyse möchte ich bei diesem Film in einen allgemeinen und einen
musterbezogenen Teil aufteilen, um die formalen Charakteristika in Bezug auf
die Protagonistinnen und letztlich die Grundmuster präziser herauszuarbeiten.

Mise-en-Scène (Setting):

Die Story spielt in Yoshiwara, einem Vergnügungsviertel in Tokio. Dem ent-


sprechend ist der Film von engen Gassen und vielen als Clubs benannten
Freudenhäusern gesäumt. Hier sind das hohe Menschenaufkommen und die
auf den Straßen Kunden ansprechenden Prostituierten markant. Im Gegen-
satz dazu sind Orte abseits des Vergnügungsviertels dunkel, schmutzig und
verfallen. Hierzu zählen Orte wie Hanaes Wohnung, das Haus von Yumekos

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 17


Schwiegereltern oder Suichis Arbeit. Dadurch wird zwischen den Prostituier-
ten und ihrer Umwelt ein starker Kontrast geschaffen. Aus diesen Kontrasten
entwickelt der Film eine pessimistische Sicht auf die politische Situation, wel-
che Individuen und Familien an und in den Abgrund ihrer Existenz treibt.

Kinematographie

Auffällig im gesamten Film ist die häufige Nutzung von Kadraturen im Film.
Dadurch wird zum einen eine voyeuristische Sicht erzeugt und die Immersion
beim Zuschauer gesteigert. Zudem wird diese Sicht auch für Point-of-view12
Einstellungen genutzt wie am Anfang des Film, als Suichi seine Mutter beim
Anschaffen beobachtet, nachdem sie ihn nicht sehen wollte (vgl. ebd.:
00:17:52f).

Neben den Kadrierungen sind auch Kamerafahrten ein zentrales Element der
Kameraarbeit. Durch diese wird ein Neurahmung der Szenen erreicht, was
wiederum erzählerische Akzente setzt. Beispielhaft für diese Art der Kamera-
arbeit ist eine Szene in welcher Yorie einen Kunden empfängt. Das Bild wird
durch eine Statue am rechten Bildrand gerahmt. Als Yorie hinter die Bar geht
und der Kunde sich neben Mickey setzt, bewegt sich die Kamera hinter die
Bar und ein Vorhang rahmt das Bild. So wird durch die Kameraarbeit deutlich,
dass der Kunde Yorie ausblendet und Mickey im Mittelpunkt seines Interesses
steht, was im Verlauf der Story zu einem Konflikt führt (vgl. ebd.: 00:18:00f).
Somit ist die Neurahmung durch eine Kamerafahrt wichtig, um Entwicklungen
im Film visuell zu verdeutlichen.

Reframing in Akasen Chitai durch eine Kamerabewegung zum Zuschauer hin.

12 Point of View meint eine Einstellung aus der subjektiven Sicht eines Protagonisten.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 18


Editing

Akasen Chitai arbeitet bei Szenenübergängen mit weichen schwarzen Blen-


den, was Zeit- und Ortswechsel stimmig macht. Insbesondere in Hinblick auf
die häufigen Sprünge zwischen den einzelnen Protagonisten. Blenden bewir-
ken also eine Homogenität des gesamten Films und „führen“ von einer Ein-
zelgeschichte zur nächsten.

Sound

Auffällig im Film ist der seltene Einsatz von Musik. Hierbei ist die Musik dis-
harmonisch gestaltet und unterstreicht Szenen, welche von Rückschlägen
bzw. Verzweiflung gezeichnet sind. Der auditorische Fokus liegt daher auf den
negativen Momenten im Film und trägt zu seiner pessimistisch anklagenden
Haltung bei. So wird zum Beispiel der Vertrauensbruch zwischen Yumeko und
ihrem Sohn oder die Verzweiflung Hanaes nach dem Selbstmordversuch ihres
Mannes mit disharmonischen Klängen unterlegt (vgl. ebd.: 00:16:06f und
00:45:13f).

Die drei Grundmuster im Film

Nachdem allgemeine Formmerkmale des Films geklärt wurden, möchte ich


näher auf die Protagonistinnen eingehen und drei Grundmuster herausarbei-
ten und wie diese im Film umgesetzt wurden.

4.1.1 Das Muster des Scheiterns (Yumeko)

Unter dem Muster des Scheiterns sind Entwicklungen von Prostituierten zu


verstehen, welche durch die Prostitution wahnsinnig werden oder verzweifelt
Selbstmord begehen. Daher ist dieses Muster vor allem vom Versagen von
Orientierung geprägt. Im Film Akasen Chitai findet sich dieses Muster bei Yu-
meko wieder. Diese wird, nachdem ihr Sohn Suichi sie nicht mehr als Mutter
anerkennt, wahnsinnig. Audiovisuell wird der Weg hin zum Wahnsinn auf meh-
reren Ebenen im Film umgesetzt. Dies möchte ich anhand von drei markanten
Szenen beschreiben, welche Yumekos Entwicklung deutlich machen.

1. Szene: Der Vertrauensbruch (ebd.: 00:15:00 – 00:18:00)

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 19


Die erste wichtige Szene in Bezug auf Yumekos Entwicklung ist am Anfang
des Films zu sehen. Suichi sucht seine Mutter, welche ihn aus Scham nicht
sehen möchte. Als er das Bordell beobachtet, muss er erkennen, dass seine
Mutter anwesend war, was für ihn einen tiefen Vertrauensbruch bedeutet. Die
Abweisung des Sohnes wird auf der auditiven Ebene zunächst mit einer dis-
harmonischen Melodie begleitet, was Yumekos Scham und Verlegenheit in
der Situation unterstreicht (vgl. ebd.: 00:16:00f). Die emotionale Betroffenheit
Yumekos wird auch in den Einstellungen deutlich. Diese wechselt von einer
amerikanischen zu einer halbnahen Einstellung, als Yumeko in Suichi ihren
verstorbenen Mann sieht (vgl. ebd. 00:16:94f). Suichi geht derweil langsam
mit gesenktem Kopf von hinten gefilmt vom Bordell weg. Als Yumeko wieder
auf die Straße geht und ihre Dienste anbietet, dreht sich Suichi um und sieht
sie. Durch eine Point-of-View-Einstellung, welche durch eine entsprechende
Kadratur durch eine Wand am rechten Bildrand immersiv wirkt, wird Suichis
geheime Beobachtung visualisiert. Nach einem Schnitt wird Suichi gezeigt,
welcher hinter einem Holzgitter hervorkommt und in einer amerikanischen
Einstellung sichtlich erschüttert wirkt, sich abwendet und den Ort schnellen
Schrittes verlässt (vgl. ebd.: 00:17:22f).

Bruch zwischen Yumeko und Suichi. Einsatz von Point-of-View-Einstellung.

2. Szene: Suichi bricht mit Yumeko (ebd.: 1:06:39 – 01:09:17)

Die zweite zentrale Szene zeigt, wie Suichi mit seiner Mutter Yumeko bricht.
Hierbei weichen seine Blicke denen Yumekos aus. In einer Halbtotalen sind
beide auf gleicher Höhe zu sehen, was den noch offenen Ausgang des Ge-
sprächs unterstreicht. Das Gespräch entwickelt sich jedoch zu einem Streit
und Suichi geht der Kamera entgegen und wird somit im Bild größer. Er nimmt
im Gespräch analog dazu die führende Rolle ein und schaut auf Yumeko he-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 20


rab13 . Yumeko kommt nach Suichis Anschuldigungen ebenfalls in den Bild-
vordergrund und versucht ihre Sicht der Dinge zu erklären. Beide sind nun in
einer halbnahen Einstellung zu sehen. Dadurch wird auch die emotionale An-
spannung verstärkt. Suichi wirft ihr schließlich vor, dass sie sich nie um ihn
gekümmert habe. Darauf folgend ertönt die disharmonische Melodie und Yu-
mekos Blick wendet sich von Suichi ab. Sie ist durch eine Kamerabewegung
nach recht nun allein im Bild zu sehen und versucht Suichi zu erklären, dass
sie im Zusammenleben mit Suichi ihre Zukunft und Hoffnung sieht und sie
sich für ihre Tätigkeit schämt.

Suichi, welcher sehr emotional und gekränkt ist, sagt sich darauf von seiner
Mutter los. Hierbei macht die Kamera einen Schwenk nach links, so dass nur
er zu sehen ist. Yumeko versucht ihn festzuhalten, jedoch rennt er nach einem
Schnitt in einer totalen Einstellung in den Bildhintergrund. Yumeko schafft es
nicht ihm zu folgen und bleibt im vorderen Bereich stehen, während Suichi im
Hintergrund verschwindet. An dieser Stelle wird nach einem sehr nahem Ge-
spräch die maximale Distanz Suichis zu seiner Mutter sehr deutlich gemacht.

3. Szene: Yumeko wird wahnsinnig (ebd.: 01:11:25 – 01:12:58)

In Folge des Verlusts ihres Sohnes und somit ihrer einzigen Hoffnung für die
Zukunft, wird Yumeko letztlich wahnsinnig. In dieser Szene ist sie nie in einer
nahen Einstellung zu sehen, was ihre Abwesenheit deutlicher erscheinen
lässt. Zentral für die Visualisierung des Wahnsinns ist vor allem das Acting.
Zunächst sitzt Yumeko in einer halbtotalen mit dem Rücken zur Kamera mittig
im Bild in einer Ecke des Bordells und macht einen apathischen und einsa-
men Eindruck. Durch das Sitzen und die weite Einstellung wirkt sie hierbei
zudem klein, was den abwesenden und machtlosen Ausdruck Yumekos vers-
tärkt. Als sie aufsteht, nachdem sein Kunde zu ihr spricht, scheint ihr Gesicht
starr zu sein und auch ihr Gang ist kraftlos und stockend, was durch eine a-
merikanische Einstellung bis zur Hüfte verstärkt wird. Sie sieht sich darauf
nicht mehr als Prostituierte, sondern als Ehefrau ihres verstorbenen Mannes

13Dies ist im Film Akasen Chitai in Bezug auf Yumeko sehr markant. Durch diese
Macht der Blicke werden moralische Positionen verstärkt (vgl Elsaesser /Hagener
2008: 105f).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 21


und singt ein Lied aus ihrer Jugend. Hierbei wirkt das Acting durch eine auf-
gesetzte Leichtigkeit verstörend, da es nicht zum Gemütszustand und Gang
passt. Dies schockiert auch die anderen anwesenden Protagonisten, welche
verstört auf Yumeko blicken und schließlich einen Krankenwagen rufen.

Yumeko wird wahnsinnig. Abwesenheit durch Acting und Einstellung.

Zusammenfassung

Die Entwicklung hin zum Wahnsinn wird bei Yumeko vor allem durch das Ac-
ting (Scham, Verzweiflung, Abwesenheit) und disharmonische Klänge erreicht.
Die Einstellungen zeigen zudem immer wie emotional die Stimmungen zwi-
schen Yumeko und Suichi sind. Hierbei sind nahe Einstellungen bei Momen-
ten zu finden, welche den Protagonisten sehr nah gehen. Am Ende ist Yume-
ko allein und durch weite Einstellungen wird auch ihre eigene Abwesenheit
deutlich gemacht.

4.1.2 Das Muster der Abkehr (Yasumi)

Aus der Logik des Muster des Scheiterns lässt sich ein maximal kontrastie-
rendes Muster entwickeln: das Muster der Abkehr. Hierbei entwickeln sich die
Prostituierten so, dass sie der Prostitution entkommen können. Dieses Muster
lässt sich in Akasen Chitai an Yasumi ausmachen, deren Entwicklung ich nun
anhand von drei markanten Szenen nachzeichnen möchte.

1. Szene: Yasumi zählt ihr Geld (ebd.: 00:54:50 – 00:56:34)

In der ersten Szene, welche ich beleuchten möchte, zählt Yasumi ihr über die
Jahre gespartes und verstecktes Geld. Die halbnahe Einstellung und die low-
key-Beleuchtung unterstützen die Heimlichkeit des Moments. Als die Haus-
hälterin zu ihr kommt und ihr Wechselgeld gibt, verdeckt sie zunächst den

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 22


Geldstapel. Die Einstellung wechselt in eine japanische Einstellung14. Yasumi
entschließt sich der vertrauenswürdigen Haushälterin den Geldstapel zu zei-
gen, welche beeindruckt ist und anschließend ein sicheres Behältnis heran-
schafft. Die beiden gehen in einen Nebenraum. Hierbei schwenkt die Kamera
nach rechts, so dass eine Kadrage aus einem Türrahmen entsteht, welche nur
Yasumi zeigt. Die Haushälterin sitzt ihr gegenüber ist jedoch nicht zu sehen.
Yasumi macht der Haushälterin deutlich, dass sie selbst Geld negativ sieht,
da sie durch eine Unterschlagung ihres Vaters in höhe von 200000 Yen erst in
diese Situation geriet. Durch die Kadrierung wird in diesem Moment Yasumis
einzelgängerischer Charakter deutlich visualisiert.

2. Szene: Überfall eines Kunden (ebd.: 1:13:11 – 01:16:03)

Gegen Ende des Films trifft Yasumi sich mit einem Kunden, welcher sie heira-
ten möchte. Yasumi hatte dies vorher ausgenutzt um viel Geld von ihm zu be-
kommen. Um ihr dieses Geld zu geben, hatte der Kunde es zuvor in seinem
Unternehmen veruntreut. Nun möchte er sie heiraten, um mit ihr und dem
Geld zu fliehen. Beide werden in einer halbnahen Einstellung gezeigt. Jedoch
willigt Yasumi nicht ein und sieht die Liaison als Geschäft zwischen Prostitu-
ierter und einem Kunden. Ihre Ablehnung bringt sie durch ihr Aufstehen zum
Ausdruck. Die Kamera wechselt in eine Halbtotale, was ihre Distanzierung von
der Situation und den Kunden verdeutlicht. Sie versucht den aufdringlichen
Kunden abzuweisen. Jedoch wird dieser handgreiflich und würgt sie im Affekt
auf einem Flur in einer totalen Einstellung. Dabei bilden die Wände eine Kad-
rierung, was Yasumis hilflose bzw. isolierte Situation verstärkt. Als sie bewusst-
los wird, lässt der Kunde von ihr panisch ab und rennt davon, als ein Mann
die Szene im Flur bemerkt und einschreitet.

14Ich bezeichne solche Einstellungen als japanisch, in welchen die Protagonisten auf
dem Boden hockend ganz zu sehen sind. Der Körper reicht dabei vom unteren bis zum
oberen Rand des Bildes, so dass das Acting zentral ist. Die Kameraposition ist zudem
auf Sitzhöhe, so das stehende Protagonisten bis zum Bauch zu sehen sind.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 23


3. Szene: Yasumi ist Geschäftsfrau (ebd.: 01:20:45 – 01:23:04)

Yasumi überlebt die Attacke des Kunden und kauft sich aus der Prostitution
frei und gründet ein eigenes Textilgeschäft. Hierbei beliefert sie das Bordell, in
welchem sie zuvor gearbeitet hat. Neben einer permanenten halbtotalen Ein-
stellung trägt auch ihre freundliche Höflichkeit zu einer maximalen Distan-
ziertheit zu ihrem Leben im Bordell bei.

Zusammenfassung

Die Entwicklung Yasumis ist geprägt von Einzelgängertum. Daher ist sie sel-
ten im Gespräch mit anderen Mitarbeiterinnen im Bordel. Wenn, dann werden
Kadrierungen benutzt, um Yasumi allein zu zeigen. Nahe Einstellungen sind
selten im Film, was ihre Distanz noch deutlicher macht. Nur als sie heimlich
das Geld zählt, scheint Yasumi sich als jene zu geben, welche sie ist. Dies
wird durch eine halbnahe Einstellung und eine Low-Key-Beleuchtung erreicht.
Nachdem ihr die abweisende und egoistische Haltung fast das Leben kostet,
schafft sie es eine Existenz als Textilhändlerin aufzubauen. Fortan wirkt sie
durch weite Einstellungen unnahbar und gibt sich auch ausschließlich als Ge-
schäftsfrau 15.

4.1.3 Das Muster des Alltags (Hanae)

Ein weiteres Muster, welches der Film Akasen Chitai beinhaltet ist das Muster
des Alltags. Hierbei verbleiben die Frauen in der Prostitution. Somit bewegt
sich dieses Muster zwischen dem Scheitern und der Abkehr. Anhand der
Entwicklung der Prostituierten Hanae möchte ich nun dieses Muster näher
betrachten.

1. Szene: Hanae geht mit ihrem Mann essen (ebd.: 00:20:13 - 00:00:24:03)

Nachdem Hanaes Schicht im Bordell endet, geht sie in eine baufällige Neben-
straße, wo ihr Mann bereits mit dem Kind auf dem Rücken auf sie wartet. Auf

15 An dieser Stelle möchte ich auf den Aufsatz „Was man ist und was man tut“ von Ma-
ruyama/Seifert (1988) verweisen. Yasumi definiert sich im Film über ihre Tätigkeit und
ist daher ein gutes Beispiel für die Logik des Tuns, bei welcher nicht mehr Herkunft,
sondern Leistung zentral ist.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 24


der Straße wird eine Low-Key-Beleuchtung verwendet und eine disharmoni-
sche langsame Melodie erklingt, was den düsteren Charakter des Ortes un-
terstreicht. Durch eine Kamerafahrt wird die totale zu einer amerikanischen
Einstellung, was dem Acting zwischen beiden zuträglich ist. Hanae wird be-
wusst, dass ihr Mann kaum etwas gegessen hat und geht mit ihm in ein Ra-
men-Restaurant. Die Kamera bleibt stehen und schwenkt auf das Restaurant,
so dass die Protagonisten auf dieses in einer totalen Einstellung zugehen. In
einer halbtotalen Einstellung im Restaurant wird gezeigt, wie das Kind vom
Rücken des Mannes gebunden wird. Hierbei ist die gesamte Familie zentral
im Bild zu sehen. Nach einem Schnitt sieht man die Familie sitzend in einer
amerikanischen Einstellung. Am rechten Bildrand bildet ein Pfosten eine Kad-
rierung, was der Fokussierung auf die Protagonisten und den folgenden Dia-
log verstärkt. Hierbei wird deutlich, dass Hanaes kranker Mann eine pessimis-
tische Sicht auf sein Leben hat. Dies wird neben dem Dialog mit einem zum
Boden geneigten Kopf und einer gekrümmten Haltung des Mannes deutlich.
Nach einem Schnitt sind Hanae, welche das Kind auf dem Arm trägt, und ihr
Mann in einer halbnahen Einstellung zu sehen. Auffällig in diesem Teil der
Szene ist die Fokussierung auf die Emotionen des Mannes. Hanae sieht das
Leben dank ihres Kindes nicht mehr so negativ und ist froh, dass sie nicht
mehr an Selbstmord denken muss. Als sie dies sagt, schaut sie ihr Mann mit
verzweifelten Blick an und senkt schließlich seinen Kopf, um weiter zu essen.
An dieser Stelle wird der Cue für die nächste Szene gelegt, welche ich nun
betrachten möchte: der Selbstmordversuch des Mannes.

2. Szene: Hanaes Mann will Selbstmord begehen (ebd.: 00:43:09 – 00:45:27)

Hanae biegt in die Gasse ein, in welcher sie wohnt. Sie hört ihr Kind schreien
und fängt an zu rennen. Nach einem Schnitt sieht man in einer japanischen
Einstellung die Beine des Mannes auf einem Hocker, welcher sich erhängen
möchte. Links im Bild ist ein Hochzeitsbild und eine leere Flasche Alkohol zu
sehen, welche auf die Entscheidungsfindung, auf vergangene glückliche Tage
und die jetzige Verzweiflung des Mannes hinweisen. Als er versucht einen
Schritt nach vorn zu machen, geht die Tür auf und Hanae rennt in die Woh-
nung. Sie reißt ihren Mann zu Boden, wobei die Kamera leicht nach links

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 25


schwenkt, um beide einzufangen. Ihr Mann nimmt dabei eine sehr demütige
Haltung ein, während Hanae bei ihm hockt und zunächst wütend über seinen
Selbstmordversuch ist. Anschließend appelliert sie an seine Vernunft und äu-
ßert ihre Wut darüber, dass es ihnen als ehrliche Leute in einem zivilisierten
Land so schlecht gehe. Sie geht zu ihrem Sohn und tröset ihn auf dem Arm.
Hierbei hebt sich die Kamera, so dass Hanae in einer Halbtotalen ganz zu se-
hen ist, während man im Vordergrund nur den Rücken des zusammengekau-
erten Mannes sieht. In dieser Einstellung wird deutlich, dass Hanae diejenige
ist, welche die Familie intakt halten möchte. Folgend geht Hanae in die Hocke
und die Kamera senkt sich mit ihr, so dass es wieder eine japanische Einstel-
lung ist. Unscharf im Vordergrund sieht man ihren Mann, welcher sich ver-
zweifelt die Haare rauft, während Hanae wütend und entschlossen an das Le-
ben appelliert.

Hanae rettet ihren Mann, welcher im Bild kleiner wird. Hanae als starke Frau nimmt mehr Platz ein.

Zusammenfassung

Hanae lebt in der ständigen Gefahr, dass ihre Familie scheitert. Dies wird
durch das Setting, in welcher ihre Familie lebt, sehr deutlich. Sie lebt in armen
Verhältnissen und muss Mann und Kind versorgen. Ihr Mann ist dazu krank
und suizidgefährdet, was in seiner verzweifelten Mimik und seiner gekrümm-
ten Haltung deutlich wird. Hanae kämpft hingegen für ihre Familie und wird
aufrichtig dargestellt.

Nachdem nun die drei Grundmuster herausgearbeitet sind, möchte ich diese
durch weitere Filme empirisch stärken. Dies soll letztlich auch als Grundstein
für eine bildungstheoretische Analyse dienen, in welcher ich die Filme der ein-
zelnen Muster untereinander und in Bezug mit anderen Mustern diskutieren
und Bildungsfiguren herausarbeiten möchte.

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4.2 DAS MUSTER DES SCHEITERNS - (MARUHI) SHIKIJÔ MESU ICHIBA (1974)

Story

In einem japanischen Hafenviertel lebt die Prostituierte Tome, welche sich früh
von ihrer Mutter, welche ebenfalls Prostituierte ist, distanziert hat. Tome hat
eine Vorliebe für Killer entwickelt und findet die Fahndungsfotos anziehend.
Zudem trifft sie immer wieder auf einen gesuchten Killer, zu welchem sie eine
Beziehung aufbaut.

Tomes Leben besteht jedoch hauptsächlich aus dem Anschaffen, was sie ins
Visier eines Zuhälters bringt, welcher sie gerne für sich haben würde. Jedoch
bewahrt sie sich ihre Freiheit und wehrt sich gegen ihn. Tome gerät zudem in
Konflikt mit ihrer Mutter, als sie mit einem Stammkunden dieser schläft. Dabei
wird sie von ihrem geistig behinderten Bruder Taneo beobachtet, der
ebenfalls in der Wohnung der Mutter lebt. Die Mutter fordert immer wieder
das Geld von ihrer Tochter zurück, da sie es für eine Abtreibung benötige. Je-
doch sieht Tome nicht ein, warum sie ihr helfen sollte, da ihre Mutter eine sehr
egoistische und rachsüchtige Frau ist.

Im Verlauf des Films wird in einer Nebenepisode gezeigt, wie der Zuhälter,
nachdem er Tome nicht bekommen konnte, ein neues Mädchen gefügig
macht. Der Freund des Mädchens wird zunächst mit Geld und einer Gummi-
puppe ruhig gestellt. Jedoch schmerzt der Verlust ihn so sehr, dass er seine
Freundin wiederhaben möchte. Dies ist jedoch inzwischen sexuell abhängig
vom Zuhälter. Fortan verfolgt ihr Freund sie und den Zuhälter mit der Gummi-
puppe und möchte sie gern gegen seine Freundin zurücktauschen. In einem
stillgelegten Schornstein kommt es schließlich zum Höhepunkt des Konflikts,
als der Zuhälter die Puppe mit seiner Zigarre zerstören will. Jedoch hat der
Freund diese mit hochexplosiven Gas gefüllt, so dass er, der Zuhälter und
seine Freundin bei der Explosion sterben.

Während Tome gerade mit einem Kunden zusammen ist, hört sie ihre Mutter
von draußen. Sie wird von einem Mann festgehalten, welcher behauptet, sie
habe gestohlen. Tome beobachtet das Handgemenge ohne ihrer Mutter zu
helfen. Diese muss sich übergeben und eine Geburt kündigt sich an, worauf

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sie ins Krankenhaus gebracht wird. Tome sieht in dieser für sie grässlichen
Szene ihre eigene Geburt und fühlt sich wertlos. Schließlich befriedigt sie ih-
ren Bruder und lässt zu, dass dieser mit ihr schläft. Dabei bekräftigt sie, dass
sie nur noch ein Behältnis sei. Am nächsten Morgen macht sich Taneo mit ei-
nem Huhn auf den Weg in die Stadt und besteigt einen Turm, auf welchen er
das Huhn erhängt. Kurz danach erhängt er sich in einer engen Straße. Als
Tome dazu kommt, ist er bereits tot. Der Killer erscheint und bietet Tome an,
mit ihm aus der Stadt zu flüchten. Doch Tome lehnt ab, da sie sich selbst nur
als Schmutz sieht und somit zu dieser Stadt passt. Beim Zusammensein mit
einem weiteren Kunden raucht sie über alle Maße und erklärt ihm, dass sie
nur ein leeres Behältnis sei. Sie gibt sich naiv und zugleich selbstzerstörend.
Als sie sich an späterer Stelle auf einem Spielplatz lachend im Kreis dreht wird
deutlich, dass sie wahnsinnig geworden ist.

Personenkonstellation in (Maruhi) Shikijo mesu ichiba

Narrationsstruktur

Die Narrationsstruktur des Films weist durch den episodenartigen Aufbau ein
Pluralitätsmuster auf. Zudem findet gegen Ende des Films ein Flashback statt,
in welchen gezeigt wird, welche Konsequenzen der Beischlaf Tomes mit Ta-
neo hatte. Nachdem sich Taneo das Leben nimmt und Tome dem Killer nicht
folgen möchte, springt die Erzählung wieder in die Gegenwart.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 28


Mise-en-Scène

Setting:

Die Handlung des Films spielt in einem japanischen heruntergekommenen


Hafenviertel. Dementsprechend sind die Straßen eng und schmutzig. Ge-
säumt werden diese von Bettlern und Tagelöhnern, was die bedrückende
Stimmung unterstützt. Auch innerhalb der Gebäude gibt es keine sauberen
Orte. Zudem sind Räume im Film meist klein und unordentlich. Lediglich Häu-
serdächer und Türme bieten den Protagonisten einen Überblick über die von
Enge gepägte Stadt.

Acting:

Das Acting spielt eine zentrale Rolle im Film, da es verdeutlicht, wie die Pro-
tagonisten zueinander stehen und fühlen. An dieser Stelle möchte ich nicht
nur das Acting, sondern auch kinematographische Aspekte betrachten, da
diese Emotionen und Prozesse verdeutlichen.

In Bezug auf die eher zurückhaltende japanische Mimik und Gestik spiegelt
der Film Emotionen sehr stark wieder, was die Charaktere letztlich begreifbar
macht 16. So ist die Mutter oft wütend über Tome, was in Handgreiflichkeiten
und Brüllen zum Ausdruck kommt. Tome hingegen ist oft ausdruckslos und
abwesend, was durch eine starre Mimik und hinnehmende Gestik (dh. findet
kaum Gegenwehr gegen körperliche Übergriffe statt) zum Ausdruck kommt
(vgl. Tanaka 1974: 00:18:09f). In diesen Momenten der Übergriffe und Abwe-
senheit ist Tome in weiten Einstellungen zu sehen, was Distanz schafft und
Tome mehr als Objekt erscheinen lässt.

Lediglich als ihre Mutter durch die anstehende Geburt ins Krankenhaus ge-
bracht wird und Tome anschließend mit einem Kunden schläft, sieht man sie
zutiefst aufgewühlt und weinend. Mit nahen Einstellungen, welche bis in De-
tailaufnahmen von Tomes Augen übergehen, wird dies unterstrichen. Die inne-

16Hier möchte ich auf den Formalisten Rudolf Arnheim hingewiesen, welcher seeli-
sche Vorgänge bzw. deren Inszenierung auf die Mimik und Pantomimik der Protago-
nisten zurückführt (vgl. Arnheim/Prümm 2004: 146f).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 29


re Bewegtheit Tomes wird in dieser Szene zudem mit einer Tomes Körperbe-
wegungen angepassten Vor- und Rückwärtsbewegung der Kamera unterstri-
chen, was deutlich macht, dass Tome keine Distanz zu ihren Emotionen mehr
aufbauen kann (vgl. ebd.: 01:04:27f).

Von Halbnah auf Detail: Tome gelingt es nicht mehr Distanz aufzubauen und bricht zusammen.

Objektivierung Tomes:

Auffällig ist im Verlauf des Films auch die Objektivierung Tomes, wenn sie mit
einem Kunden schläft. Wird sie anfangs noch nur mit einem Kunden gezeigt,
so hat sie im Verlauf des Films einen Geldschein in der Hand und zuletzt wird
sie durch einen Aschenbecher verdeckt. Dieser wird der Metapher eines lee-
ren Behältnisses gerecht, als welches sich Tome am Ende des Films sieht.

Tome als Behältnis. Ein Kunde schläft mit ihr, jedoch ist im rechten Bild ein Aschenbecher zu sehen.

Das Muster des Turms:

Auffällig im Film ist das Auftauchen eines Turms, welchen Taneo im Verlauf
des Films besteigt. Diesen deute ich als Symbol der Hoffnung, da er über das
heruntergekommene Viertel ragt. Er ist zusammen mit Tome am Anfang und
am Ende zu sehen. Während des Films verringert sich die Distanz zwischen
dem Turm und Tome. Sie ist ihm am nächsten, als Taneo den Turm besteigt.
Jedoch endet die Besteigung mit dem Selbstmord Taneos. Am Ende ist die
Distanz zwischen Tome und dem Turm wieder größer, was auf Tomes Aufgabe
der Erlangung von Glück hinweist. In einer zweiten Lesart könnte man den
Turm auch als Himmelspforte deuten, welche Taneo durchschreitet. Tome da-
gegen lehnt zum einen das Angebot des Killers ab forzugehen, was einen

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 30


Neuanfang und Leben bedeutet hätte, und zum anderen wählt sie auch nicht
den Tod. Beide Lesarten haben daher gemein, dass Tome sich und ihre Zu-
kunft letztlich aufgibt.

Kinematographie

Die Enge des Raums im heruntergekommenen Viertel wird insbesondere in-


nerhalb der Gebäude durch Kadrierungen visualisiert. Durch diese wird zum
einen der visuelle Fokus auf die Protagonisten gelenkt. Zudem schafft diese
Art der Bildkomposition eine Voyeurperspektive, was der Immersion zuträg-
lich ist. Zudem ist auch die Tiefenschärfe in den Einstellungen ein wichtiges
Mittel, um die Reaktionen Frauen und Kunden beim Geschlechtsverkehr her-
vorzuheben und den Kunden anonym bzw. die Frau zu einem reinen sexuellen
Objekt werden lassen (vgl ebd.: 00:28:15f und 00:44:20f).

Tiefenschärfen zur Hervorhebung zentraler Emotionen in einer Szene.

Im Gegensatz dazu werden Szenen, in welchen Tome durch die Stadt irrt,
meist in einer totalen Einstellung gezeigt, so dass sie zwischen Häusern und
Menschen unscheinbar wirkt. Dies entspricht auch dem Charakter ihrer Per-
son, welche sich nicht zu wehren vermag, immer mehr Bezugspunkte in ihrem
Leben verliert und am Ende allein ist. Die weiten Einstellungen machen also
auch deutlich, dass Tome ein Teil der Stadt ist bzw. sich mit dieser identifiziert
(vgl. ebd.: 00:42:25f und 01:19:59f).

Farbe:

Auffällig im Film ist der Wandel von schwarz-weiß auf Farbe ab Minute 69.
Dem geht eine Szene voran, in welcher Tome sich ihren geistig behinderten
Bruder hingibt und ihn als Mann sieht. Die bunte Szene zeigt Taneo, wie er mit
dem Huhn zunächst durch die Stadt irrt und dieses und sich erhängt. Diese
Szene wirkt durch ihren farbenfrohen und lebendigen Kontrast zum Rest des

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 31


Films zunächst hoffnungsvoll, da Taneo sich in das Leben der Stadt begibt
und dabei naiv spielend wirkt. Jedoch wird aus dem Spiel bitterer Ernst, als er
auf einem Turm das Huhn erhängt und kurz darauf sich selbst in einer der
Straßen. Nachdem Tome ihren toten Bruder entdeckt wechselt der Film wie-
der in ein im Kontrast trist wirkendes schwarz-weiß (vgl. ebd.:
01:09:38-01:19:58).

Taneos Ausflug in Farbe. Der Wechsel auf bunt erfolgt in der gleichen Einstellung.

Editing

Die Schnitte in (Maruhi) Shikijo mesu ichiba sind häufig sehr weich. Hierbei
bilden diese Sinnzusammenhänge, welche die Story und insbesondere die
Entwicklung von Tome beschreiben. Auch die einzelnen Geschichten werden
durch weiche Schnitte hergestellt. So trifft der Freund mit der Gummipuppe
beispielsweise auf Tome und fragt, wo seine Freundin sei. Die Story wird an-
schließend auf ihn fokussiert und erzählt das tragische Ende seiner Liebe (vgl.
ebd.: 00:52:12f).

Beispielhaft für diese weichen Schnitte ist auch jene Szene, in welcher Tome
zu ihrem Kunden zurückkehrt, nachdem ihre Mutter ins Krankenhaus gebracht
wurde. Hierbei schaut Tome abwesend direkt in die Kamera. Nach dem
Schnitt schaut sie immer noch in die Kamera, jedoch schläft sie hierbei mit
dem Kunden und erklärt ihre Gefühle in einem Monolog, welchen der Kunde
scheinbar nicht hören kann (vgl. ebd.: 01:04:20f).

Harte Schnitte werden nur verwendet wenn Nebengeschichten und Flash-


backs enden und der Fokus wieder auf Tome gerichtet wird.

Sound

Auffällig im Film ist auch die nur selten eingesetzte Musik. Hierbei sind zwei
Szenen im Film zentral. In der ersten Szene singt ein Mann auf einem Dach

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 32


ein Seemannslied über eine traurige Liebe, während Tome auf dem Weg zum
Killer ist (ebd.: 00:07:50 – 00:08:54). Jedes weitere Zusammentreffen und die
Suche nach dem Killer wird im Film mit einer ruhigen Melodie begleitet und
unterstreicht die Gefühle füreinander (vgl. ebd.: 00:34:28f). Beim letzten Zu-
sammentreffen fehlt jedoch die typische Melodie, was Tomes Entscheidung
zu bleiben vorwegnimmt.

Die zweite Szene, welche Musik einsetzt, ist jene, in welcher Tameo sich zum
Turm begibt. Hierbei werden traditionelle Lieder aus dem Off (nicht-diege-
tisch 17) gespielt. Erst als Tameo die Tür zur Aussichtsplattform öffnet endet
die Musik abrupt und der (diegetische) Lärm der Stadt wird eingeblendet (vgl.
ebd.: 01:15:03f).

In beiden genannten Szenen dient die Musik der Immersionsherstellung, in-


dem diese auf die inneren Zustände der Protagonisten verweist bzw. direkt
mit diesen zusammenhängen.

Bezug zum Muster

Tomes Handeln ist geprägt von emotionaler Teilnahmslosigkeit. Nur zu ihrem


Bruder scheint sie ein inniges Verhältnis zu haben. Jedoch sieht sie im Verlauf
des Films in ihrem Bruder einen Mann und scheint deswegen mit ihm zu
schlafen, um sich an ihrer Mutter zu rächen. Als Tome jedoch sieht, wie ihre
schwangere Mutter beim Diebstahl erwischt wird, wird sie sich selbst der
Schwere ihres Lebens bewusst. Fortan beschreibt sie sich selbst als leeres
Gefäß. In den folgenden Szenen wirkt sie durch ein schrilles Lachen abwe-
send und durch Kettenrauchen selbstzerstörerisch. Für Tome selbst steht da-
her nicht mehr sie als Subjekt im Vordergrund, sondern nur noch die reine
Körperlichkeit. Daher scheitert sie bei der Biografie- und Identitätsarbeit.

17Der Begriff der Diegese stammt aus der Erzähltheorie und unterscheidet „zwischen
der Welt der Erzählung und allem, was dieser nicht angehört“ (Elsaesser/Hagener
2007: 14). Daher ist die Musik eines zu sehenden Orchesters im Film diegetisch, wäh-
rend eingespielte klassische Musik nicht-diegetisch, und damit kein Teil der Welt der
Erzählung ist.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 33


4.3 DAS MUSTER DER ABKEHR - YORU NO ONNATACHI (1948)

Story

Fusake, deren Mann nach dem Krieg verschollen ist, lebt in Armut und ver-
kauft ihre Kleidung, um Nahrung für ihren kranken Sohn zu beschaffen. Sie
lebt bei ihrem Bruder, welcher Frau und Tochter hat. Auf dem Markt erfährt
sie, dass sie anschaffen gehen könne, wenn sie dringend Geld bräuchte. Je-
doch widert sie der Gedanke daran an. Kurz darauf erfährt sie, dass ihr ver-
schollener Mann an einer Krankheit starb. Fusake ist Niedergeschlagen aber
bekommt eine Anstellung in einem Unternehmen als Chefsekretärin, dessen
Chef Kuriyama Fusakes Mann gut kannte. Das Glück hält jedoch nicht lang
an, da ihr Sohn an TBC stirbt.

Fusake trifft durch Zufall in der Stadt auf ihre Schwester Natsuko, welche sie
seit dem Krieg nicht mehr gesehen hat. Diese arbeitet als Tänzerin. Sie ziehen
zusammen in eine Wohnung. Auch die Tochter ihres Bruders Kumiko möchte
gern zu ihnen ziehen, jedoch schickt Fusake sie nach Hause. Kumiko ge-
horcht aber nicht und macht sich mit von ihren Eltern gestohlenen Geld auf,
um ein eigenes Leben zu beginnen. Dieser Traum endet jäh, als ihr Geld und
Sachen gestohlen werden und sie sich einer Prostituiertenbande anschließen
muss.

Derweil fängt Natsuko mit Kuriyama eine Affäre an, was Fusake sehr verletzt.
Ihr bleibt in Anbetracht der Situation nichts weiter übrig als ihre Schwester zu
verlassen und anschaffen zu gehen. Nachdem Natsuko auf der Suche nach
ihrer Schwester in einem Rotlichtviertel verhaftet wird, trifft sie in einem Frau-
engefängnis auf Fusake, welche verbittert wirkt. Bei der ärztlichen Untersu-
chung erfährt Fusake zudem, dass Natsuko schwanger ist und Syphilis hat.
Auf die Nachfrage, von wem das Kind sei, gesteht Natsuko Fusake, dass es
Kuriyamas Kind sei. Fusake flieht gekränkt aus dem Gefängnis und geht wie-
der anschaffen. Natsuko wird derweil dank Kuriyama aus dem Gefängnis ge-
holt.

Als Natsuko Kuriyma erzählt, dass sie ein Kind von ihm bekommt, drängt er
sie zur Abtreibung. Der Streit wird durch die Polizei unterbrochen, welche Kur-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 34


iyama wegen Steuerhinterziehung verhaftet. Fusake erfährt derweil vom
Schicksal ihrer Schwester und möchte ihr helfen. Sie findet sie rauchend und
betrunken in der alten Wohnung und bringt sie in ein christlich geprägtes
Frauenhaus, wo sie zunächst wohnt und arbeitet. Natsuko verliert derweil ihr
Kind bei einer Fehlgeburt. Fusake entflieht in der Situation wieder in die
Prostitution. Dort sieht sie, wie andere Prostituierte in den Überresten einer
Kirche ein neues Mädchen verprügeln. Als sie dazwischengeht sieht sie, dass
es Kumiko ist, welche ähnlich wie Fusake verbittert ist. Sie nimmt Kumiko in
Schutz und entschließt sich aus der Prostitution zu fliehen. Jedoch wollen
dies einige der Prostituierten verhindern und prügeln auf sie ein. Die anderen
Prostituierten haben jedoch Mitleid mit Fusake und halten die prügelnden
Prostituierten fest, so dass sie mit Kumiko fliehen kann.

Personenkonstellation in Yoru no onnatachi

Narrationsstruktur

Die Narrationsstruktur ist linear gehalten. Jedoch wechseln die Perspektiven


im Film zwischen Fusake, Kumiko und Natsuko, so dass der Film mehrere
Perspektiven zeigen kann. Daher handelt es sich bei diesem Film um ein Plu-
ralitätsmuster.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 35


Mise-en-Scène

Setting:

Die Story spielt sich in einer vom Krieg gezeichneten Stadt ab. Daher gibt es
viele Ruinen und Slums. Jedoch gibt es auch intakte bis luxuriöse Gegenden.
In Bezug auf die Protagonisten im Film ist zu sagen, dass sich deren sozialer
Status immer am Setting widerspiegelt. So sind Orte, in welchen Prostituierte
leben, im Film düster und meist vom Ruinen gesäumt. Im Kontrast dazu ste-
hen öffentliche Orte, welche meist modern und sauber wirken. Das Setting
trägt also eine implizierte Wertung in sich, und trägt besonders zur grundsätz-
lich ablehnenden Haltung des Films gegenüber der Prostitution bei.

Kostüme:

Analog zum Setting entwickelt sich insbesondere Fusakes Kleidung. Ist diese
am Anfang des Films noch traditionell mit einem Kimono bekleidet, so wech-
selt das Kostüm nach dem Verlust des Kindes und mit Umzug in die Wohnung
zu einem Manteloutfit. Mit dem Gang in die Prostitution ist Fusake mit einem
sehr amerikanischen Outfit bekleidet, welches mit Fusakes innerer Abkehr zur
Prostitution gegen Ende des Films dezenter wird.

Das Muster Mutter-Kind

In Bezug auf die Entwicklung von Fusako spielen die auftauchenden Kinder
eine wichtige Rolle für ihre persönliche Entwicklung. Zunächst ist ihr Leben
vom Verlust des Mannes und des eigenen Kindes geprägt, was letztlich dazu
führt, dass sie in die Prostitution geht. Schließlich erfährt sie im Frauenge-
fängnis, dass Natsuko schwanger ist. Zudem sieht sie dort eine Mutter mit
Kind, woraufhin sie zunächst flieht (vgl. ebd.: 00:47:21). Gegen Ende des
Films wird das Muster sehr stark, indem es in zwei Ebenen des Films auf-
taucht. Zum einen beschützt Fusake Kumiko wie ihr eigenes Kind und will sie
aus der Prostitution herausholen. Hierzu nimmt sie in kauf, von den anderen
Prostituierten geschlagen zu werden. Zu dieser Handlungsebene kommt
durch das Setting einer zerbombten Kirche mit einem ein Marienbildnis, eine
ikonographische Ebene hinzu. Diese lädt die Szene nochmals moralisch in

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 36


einem christlich geprägten Kontext auf. Das Kind steht also für die Hoffnung
Fusakes, welche am Anfang des Films zerstört wird und ihr letztlich hilft wie-
der aus der Prostitution zu entkommen (vgl. ebd.: 01:08:24f).

Starke Symbolik: Das Mutter-Kind-Muster als Symbol von Leben und Hoffnung.

Kinematographie

Die Dialoge im Film werden fast alle in einer halbnahen Einstellung der Prota-
gonisten gezeigt. Auffallend ist hierbei, dass die Tiefenschärfe genutzt wird,
um Dialoge und Handlung hervorzuheben. Emotionen nehmen einen eher
kleinen Teil ein und sind meist beim unscharfen Protagonisten zu finden (vgl.
ebd.: 00:43:13 und 01:01:09).

Auffällig im Film ist auch die dynamische Kamerabewegung, welche Gesprä-


che und lange Einstellungen ohne Schnitte sehr dynamisch macht. So wird
Fusakes Flucht aus dem Gefängnis in einer einzigen Einstellung gezeigt.
Durch Kameraschwenks und eine Kamerafahrt wird jedoch die Hektik bei der
Flucht überzeugend inszeniert und Immersion geschaffen (vgl. ebd.: 00:05:37f
und 00:47:57f).

Fusakes Flucht aus dem Gefängnis in einer Einstellung durch Kamerabewegung.

Editing

In Yoru no onnatachi wird bei einem Ortswechsel häufig mit einer schwarzen
oder weichen Blende gearbeitet. Hiermit wird das Vergehen von Zeit im Film
visualisiert und zudem ein weicher harmonischer Storyfluss erzeugt.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 37


Sound

Größtenteils sind im Film diegetische Musik und Töne zu hören. Dadurch wird
der Fokus auf das Acting und die Dialoge gelegt. Lediglich an christlich ge-
prägten Orten, wie dem Frauenhaus oder der Kirche, wird Musik aus dem Off
eingesetzt, um die Dramatik bei der Fehlgeburt oder dem Entkommen von
Fusake aus der Gewalt der anderen Prostituierten zu unterstreichen (vgl. ebd.:
00:58:08f und 01:11:56f).

Bezug zum Muster

Nachdem Fusake Mann und Kind verloren hat und erkennt, dass ihre
Schwester mit ihrem Chef fremdgeht, begibt sie sich in die Prostitution. Sie
lebt fortan in kargen unsicheren Verhältnissen, welche ihr nichts ausmachen.
Jedoch wird sie mit ihrer schwangeren Schwester mit deren Fehlgeburt und
dem Schicksal von Kumiko konfrontiert, was sie letztlich dazu bringt Prostitu-
tion abzulehnen. Letztlich wird sie in ihrer Entscheidung durch andere Prosti-
tuierte bestärkt, welche ihr ein Leben in Würde wünschen. Fusake hat sich
aus der Prostitution befreit und ist somit dem Muster der Abkehr zuzuordnen.

4.4 DAS MUSTER DES ALLTAGS - TOPÂZU (1992)

Story

Ai ist eine Prostituierte welche sich auf SM und andere Fetische ihrer Kunden
spezialisiert hat. In einer Exposition liegt sie am Anfang des Films gefesselt
auf einer Bank bei einem Kunden. Ihr werden die Augen verbunden und sie
wird geknebelt. Darauf hin injiziert ihr der Kunde eine Droge.

Nach dieser Exposition sitzt Ai im Park und macht Singübungen, als ihr Pie-
per sich meldet und sie einen Auftrag für den Abend des Tages bekommt.
Zwischenzeitlich geht sie in Cafe, in eine Spielhalle und einer Wahrsagerin.
Durch deren Weissagung entschließt sich Ai einen Ring mit einem rosa Topas
zu kaufen.

Am Abend geht sie zu einem Kunden, welcher Kokain zu sich nimmt und sie
in einem sadomachistischen Spiel immer mehr erniedrigt. So soll sie zunächst

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 38


stundenlang an einem Fenster posieren und schließlich wie ein Tier auf dem
Boden laufen, während sie Vibratoren in sich trägt, was Ai an ihre körperlichen
Grenzen bringt. Später am Abend stößt auch die Frau des Kunden dazu und
Ais Erniedrigung wird noch größer. Sie verlässt schließlich den Kunden, wel-
cher ihr mehr Geld als vereinbart gibt.

Als sie vor dem Hotel steht merkt sie, dass sie ihren Ring vergessen hat und
muss ins Hotel zurückkehren. Jedoch öffnet der Kunde nicht mehr die Tür. Die
Suche in ihrer Tasche bleibt auch erfolglos. Beim Ausräumen der Tasche auf
einer Toilette stiehlt eine Brautgesellschaft einen Vibrator von Ai. Als diese aus
der Toilette kommt, wird sie vor der Gesellschaft bloßgestellt. Eine Dame der
Gesellschaft jedoch gibt ihr den Vibrator zurück und sie verlässt gedemütigt
das Hotel.

Am nächsten Tag trifft sie in ihrem „Club“ einer Kollegin und erzählt vom Vor-
fall des letzten Abends. Sie kaufte nur den teuren Ring, da sie dachte er wür-
de sie glücklicher machen, so wie die Wahrsagerin es prophezeit hatte. Ge-
meinsam mit ihrer Kollegin erhält sie einen Auftrag und muss wieder in das
gleiche Hotel des Vorabends. Als sie nochmals versucht ihren Ring zu be-
kommen, wird sie in das Zimmer gezerrt und sieht dort eine sehr befremdliche
Szene, in welcher die Frau des Kunden geknebelt und an einen Tropf ange-
schlossen ist. Ai ist das zu viel und sie flieht aus dem Appartement zurück zu
ihrer Kollegin. Gemeinsam begeben sich zum nächsten Kunden, welcher dro-
genabhängig ist. Er verlangt, dass er stranguliert wird und stirbt dabei fast.
Die Mädchen verlassen den Kunden und versuchen gemeinsam den Ring
wieder zu bekommen. An der Tür steht die gezeichnete Frau des Kunden und
händigt Ai den Ring aus.

Als Ai wieder allein Zuhause ist wird deutlich, dass sie allein ist und einer gro-
ßen Liebe nachtrauert, welche sie im Fernsehen sieht. Es war einer ihrer Kun-
den. Am Abend sitzt sie mit einem Kunden in einem Restaurant und fühlt sich
einsam. Später am Abend offenbart der Kunde seinen Wunsch, eine tote Frau
zu vergewaltigen und möchte, dass Ai diese Rolle einnimmt. Jedoch kann Ai
diesen Wunsch nicht erfüllen, da sie um ihr Leben fürchtet.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 39


Wieder im Club beschließt sie, dass sie ihre große Liebe Sudo18 wiedersehen
möchte. Jedoch rät ihr ihre Kollegin davon ab. Ai begibt sich zum nächsten
Kunden, welcher von der Domina Saki gezüchtigt wird. Nach der Verabredung
mit dem Kunden nimmt Saki Ai mit zu sich nach Haus. Dort nehmen die bei-
den verschiedene Drogen zu sich.

Am nächsten Morgen macht sich Ai noch vom Drogenkonsum gezeichnet auf


den Weg zu ihrer großen Liebe. Jedoch ist niemand daheim. Vor der Tür zün-
det sie ein Feuerwerk. Nachbarn rufen darauf die Polizei und sie flieht in einen
Park. Dort trifft sie auf barock gekleidete Dame welche sie wiedererkennt und
ihr erzählt, dass Sudo im letzten Jahr für immer fort gegangen sei. Die Dame
fängt darauf an zu singen. Ein Mädchen bringt die scheinbar wahnsinnige
Frau fort.

Ai will um jeden Preis in das Haus von Sudo und kehrt zu diesem zurück.
Nach einem misslungenen Einbruchsversuch wird sie von der Polizei aufge-
griffen. Die wahnsinnige Frau jedoch kann die Polizisten überzeugen sie lau-
fen zu lassen. Ai erkennt, dass ihre Liebe zu Sudo keine Zukunft hat und zer-
reißt ein Erinnerungsfoto mit ihm und ihr. Sie sieht in einer folgenden Vision,
wie Sudo sie verlässt und geht schließlich wieder ihrer Tätigkeit als Prostitu-
ierte nach.

Personenkonstellation in Topâzu

18 Hierbei handelt es sich um einen gebräuchlichen anonymen Kundennamen in Japan

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 40


Narrationsstruktur

Die Narration des Films Topâzu ist linear gestaltet. Jedoch ist die zeitliche Dis-
tanz zwischen den Szenen unbestimmbar, so dass der Film episodenartig
wirkt und Szenen aus Ais Alltag zeigt. Diese lassen sich in zwei Szenenarten
einteilen: Szenen, welche das Privatleben Ais zeigen und Szenen, in welchen
Ai ihrem Beruf als Prostituierte nachgeht und den Kunden ihre Wünsche er-
füllt.

Mise-en-Scène

Setting:

Der Film spielt ausschließlich in der japanischen Hauptstadt Tokio. Hierbei


lassen sich drei Formen von Orten ausmachen. Zum einen öffentliche Orte
wie Kaufhäuser oder Parks, in welchen Ai tagsüber ihre Zeit verbringt, dann
der private Ort ihrer Wohnung und letztlich Hotelzimmer, in welchen die Kun-
den auf sie warten.

Das Muster der Kirschblüte:

Zentral für Ais Entwicklung im Film ist da Muster der Kirschblüte, welche am
Anfang des Films durch einen rosafarbenen Ring symbolisiert wird. Die
Kirschblüte ist Sinnbild für Ais große Liebe Sudo, welcher jedoch für sie uner-
reichbar ist und bleibt. Die Wichtigkeit des Ringes zeigt sich auch in jener
Szene, nachdem Ai den Ring gekauft hat. Sie geht mit dem eingepackten
Ring auf die Damentoilette und betrachtet den Ring nach dem Auspacken in
einer halbnahen Einstellung. Ihr Gesichtsausdruck wirkt hierbei traurig, was
durch einen starke Schattierung unterstützt wird (vgl. Murakami 1992:
00:09:32f).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 41


Das Auftauchen erster Kirschblüten im Film ist auf der Heimfahrt vom ersten
Kunden zu sehen, nachdem Ai ihren Ring dort verloren hat. Hierbei schaut Ai
aus dem Taxi in einer halbnahen Einstellung, welche mit dramatisch wirkender
Streichmusik unterlegt ist, was ihre Betroffenheit über den Verlust deutlich
macht. Im folgenden schaut sie nach oben und die Musik wird ausgeblendet.
Nach einem Schnitt erklingt ein neues gelassenes Musikstück und es werden
für vierzig Sekunden die mit rosa Blüten gesäumten Kirschbäume am Weges-
rand während der Fahrt gezeigt (ebd.: 00:37:41 – 00:38:43).

Danach ist Ai allein in ihrer Wohnung und sieht nebenbei fern. In einem TV-
Beitrag ist Sudo zu Gast und erzählt von seinem Leben und seiner Familie. Ai
wirkt starr, als sie das Interview sieht. Sie setzt sich auf die Couch und legt ihr
Eis auf einen Teller. Nach einem Schnitt sieht man einen Kameraschwenk über
Ais Tisch in Form einer Detailaufnahme. Das Eis ist zerlaufen, was auf vergan-
gene Zeit hinweist. Daneben liegen Bilder mit ihr und Sudo auf einem Kirsch-
blütenfest. Nach einem weiteren Schnitt sieht man Ai in ihrem Schlafzimmer in
einer halbtotalen Einstellung allein sitzen. Durch einen Vorhang, eine Wand
und die Couch im Vordergrund des Bildes wird eine Kadrierung geschaffen,
welche Ai klein und verloren im Raum erscheinen lässt (ebd.: 00:48:40f). In
dieser Szene wird der Bezug zur Kirschblüte und somit zu Sudo visualisiert.

Licht und Schatten: Ring und Foto als Synonyme der Hoffnung, Sudo wiederzusehen.

Im weiteren Verlauf des Films wird immer wieder Bezug zur Kirschblüte ge-
nommen. Zum einen schaut sich Ai das Foto mit Sudo an, als sie sich bei Sa-
ki umzieht, was Ais ständiges Denken an Sudo deutlich macht (vgl. ebd.:
00:59:13f). Letztlich entschließt sie sich Sudo aufzusuchen um ihn zu sagen,
dass sie ihn noch liebt. Hierbei setzt sie sich für eine kurze Rast unter einem
blühenden Kirschbaum. Als sie ihr Blick auf die Blüten fällt, entschließt sie

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 42


sich ihre Rast zu beenden und weiter nach Sudos Haus zu suchen (vgl. ebd.:
01:26:30f). Dort angekommen muss sie erkennen, dass niemand da ist. Vor
Sudos Tür zündet sie ein kleines Feuerwerk, was wiederum ein Bezug zum
Kirschblütenfest ist (vgl. ebd.: 01:28:55f). Am Ende des Films sieht sie in einer
Vision, wie Sudo eine Treppe hinauf steigt und im Dunkel verschwindet. Nach
einem Schnitt sitzt sie auf der Damentoilette und schaut, wie am Anfang des
Films, den Ring in einer halbnahen Einstellung an, bevor sie sich auf den Weg
zu einem neuen Kunden macht (vgl. ebd..: 01:43:19f). Ai scheint daher immer
noch an Sudo denken zu müssen. Jedoch ist ihr Gesicht nicht von Trauer ge-
zeichnet, sondern blickt eher melancholisch auf den Ring.

Objekte der Begierde:

Der Film arbeitet mit vielen Objekten, welche begehrt werden. Dadurch treten
vor allem soziale Aspekte in den Hintergrund. Zum einen macht die Wahrsa-
gerin Ai glaubhaft, dass sie durch das Objekt des Ringes glücklich werden
würde. Hierbei wird Ais Hoffnung Sudo wiederzusehen, förmlich in ein Objekt
projiziert. Zum anderen wird Ai in ihrer devoten Haltung selbst zu einem Ob-
jekt der Begierde. Das wird beispielsweise bei ihrem Besuch des zweiten
Kunden deutlich. Ai wurden Vibratoren umgeschnallt und sie bewegt ihr Be-
cken an einem Spiegel. Vor ihr nimmt der Kunde seine Freundin von hinten.
Im Spiegel ist hierbei nur der Kunde zu sehen, welcher scheinbar mit Ai
schläft (vgl. ebd.: 00:28:40f). Daher kommt es zu einer visuellen Verdopplung
der Manneskraft, was zur Objektivierung der Frauen zum Lustobjekt beiträgt.

Frauen als Objekte männlicher Begierde. Die Dopplung des Aktes und der Manneskraft im Spiegel.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 43


Kinematographie

Nahe und Detailaufnahmen werden wie beim gerade beschriebenen Muster


der Kirschblüte für das Foto mit Ai und Sudo sowie für den Ring benutzt, wel-
cher Sinnbild für Ais Liebe ist. Jedoch sind im Film auch andere Szenen mit
nahen Einstellungen zu beobachten. Zum einen Ais Gesicht, wenn sie von
Kunden sexuell stimuliert wird. Zum anderen eine Spritze, mit welcher Saki
Kokain aus einem Löffel saugt, um es sich zu spritzen (vgl. ebd.: 01:13:58f)
oder das Kokain eines Kunden, welcher dieses dosiert (vgl. ebd.: 00:10:57f).
Diese nahen Einstellungen verstehe ich als „Ersatzmöglichkeiten“ für Liebe,
welche der Film Ai anbietet und die auch zum pessimistischen Grundton des
Filmes beitragen. Ais Einsamkeit wird durch totale Einstellungen in Einkaufs-
zentren (vgl. edb.: 00:09:04f) oder halbtotale Einstellungen in ihrer Wohnung
visualisiert. Zum einen wirkt sie so verloren im Raum. Zum anderen wird auch
ihr devoter, hinnehmender Charakter auf diese Weise ausgedrückt.

Editing

Auffällig und markant im Film sind die harten Schnitte zwischen den Szenen.
Sie machen zum einen Zeitverläufe schwerer nachvollziehbar. Zum anderen
wird damit auch Ais Einsamkeit unterstrichen, wenn sie von einem zum ande-
ren Geschäft geht um sich abzulenken (vgl. ebd.: 00:06:50f).

Sound

Auffallend ist der seltene Einsatz von Musik im Film. Diese wird nur an weni-
gen dramatischen Stellen im Film eingesetzt, um diese zu unterstreichen.
Durch das Wegfallen von Musik in den meisten Szenen, wird der auditorische
Fokus auf die Geräusche und Gespräche der Protagonisten gelegt. In den
häufig sexuell aufgeladenen Szenen wird somit der intime und lustvolle Cha-
rakter hervorgehoben.

Bezug zum Muster des Alltags

Topâzu zeigt das Leben der Prostituierten Ai, welche Liebe sucht, diese je-
doch in ihrem Alltag nicht zu finden vermag. Letztlich muss sie schmerzhaft
erkennen, dass ihre große Liebe Sudo unerreichbar ist und sie ihr Leben als

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 44


Prostituierte weiter in Einsamkeit verbringen muss. Durch Kundenbesuche
und Einkaufsszenen im Film wird zudem die tägliche Routine und somit Ais
Alltag geschildert, welcher bis auf jene Szene, in welcher sie Sudo sucht,
nicht ändert.

4.5 DAS MUSTER DES AUSFLUGS - BAUNSU KO GAURUSU (1997)

Nachdem ich nun die drei Grundmuster anhand von zwei Filmen pro Muster
ausgearbeitet habe, möchte ich nun das Muster des Ausflugs vorstellen.
Hierbei begeben sich die Protagonistinnen in oder in Randbereiche der Prosti-
tution. Jedoch gelingt es ihnen der Prostitution wieder zu entkommen, so
dass es sich um einen zeitlich eng begrenzten Rahmen in der Prostitution
handelt. In Bezug auf die bereits vorgestellten Muster grenzt sich das Muster
des Ausflugs vor allem gegenüber dem Scheitern und dem Alltag ab, da die
Protagonistinnen nicht in der Prostitution bleiben bzw. dieser Entkommen. Die
Abgrenzung vom Muster der Abkehr ist in sofern stark, da die Protagonistin-
nen in diesem Muster über einen längeren Zeitraum sich in der Prostitution
befinden. Zudem stellte ich bei der Untersuchung des Materials fest, dass
sich dieses Muster nur in Filmen der neunziger Jahre des zwanzigsten Jahr-
hunderts finden lassen. Diese zeitliche Beschränkung des Musters ist meiner
Meinung nach auf den zeithistorischen Hintergrund des enjo-kōsai19 zurück-
zuführen. Der erste Film welcher dieses Muster aufweist ist der Film Baunsu
ko gaurusu aus dem Jahr 1997, welchen ich nun vorstellen möchte.

19Enjo-kōsai bezeichnet ein in den neunziger Jahren in Japan aufgetretenes Phäno-


men der Jugendprostitution. „Enjo kosai, which translates as ,subsidized socializing‘
or ,patronage‘ or simply ,prostitution,‘ is no longer a rare secret on the streets of Ja-
pan [...] Phone booths near train stations are plastered with phone numbers and pho-
tos of young schoolgirls, many from middle-class homes [...] Girls can also market
themselves with commercial voicemail. Dial into a commercial voicemail and you can
hear a message similar to the following: ,I am a 16-year-old high school girl. I am
looking for someone to meet me tomorrow for an enjo kosai arrangement. I am 165
centimeters tall and weigh 49 kilograms...I think I’m pretty cute. My price is 50,000
yen for about two hours‘“ (Nguyen 1999).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 45


Story

Die japanische Teenagerin Lisa kommt aus New York zurück nach Tokio. Je-
doch wird deutlich, dass sie Japan so schnell es geht, wieder verlassen
möchte. Auf dem Bahnhof wird sie von einem Mann bedrängt. Kurz darauf
trifft sie auf Akijama, welcher sie durch die Stadt verfolgt und sie bedrängt.

Die Schülerin Maru sitzt derweil mit ihrer Freundin Raku in einer Abtreibungs-
klinik und lässt ein ungewolltes Kind abtreiben. Darauf folgend geht sie mit
ihrer Freundin in einem Laden einkaufen und wird von einem Kunden namens
Oshima abgeholt. Jedoch entpuppt sich dieser als Yakuza und droht ihr
Schlimmeres an, wenn sie weiter anschaffen geht. Er lässt sie gehen und be-
hält ihre Personalien. Zurück bei ihren Freundinnen, erzählt Maru, was pas-
siert ist und wird angehalten aufzuhören mit ihren Kunden zu schlafen.

Lisa verkauft derweil ihre Slips in einem Laden, um Geld für ihre Reise in die
USA zu bekommen. Da frische Slips mehr Geld bringen, wechselt sie zöger-
lich vor Ort diesen. Um noch mehr Geld zu verdienen empfiehlt ihr die Laden-
betreiberin es mit Videoaufnahmen zu versuchen. Beim Verlassen des Ge-
schäfts wird sie wieder von Akijama verfolgt, welcher ihr seinen Personalaus-
weis zeigt und sie lediglich beschützen möchte, da er um Lisas Geldnöte
durch den Besuch im Schlüpfergeschäft weiß. Lisa willigt ein und Akijama
geht mit ihr zu einem Videodreh, bei welchem sich Mädchen in Schulunifor-
men unschuldig geben. Beim Videodreh ist auch die Schülerin Raku anwe-
send. Der Dreh ist jedoch fingiert und drei Männer wollen das Geld der Mäd-
chen stehlen. Lisa kann mit Raku dank Akijamas Hilfe entkommen, verliert a-
ber ihr Geld.

Die Anführerin der Mädchenclique Jonko will für Maru Geld beschaffen, um
sie von ihrer Schuld bei Oshima zu befreien. Sie trifft auf ihn und er macht
deutlich, dass Prostitution sein Geschäft ist und Schülerinnen sich raushalten
sollen, da es sonst Tote gibt. Jonko versichert ihm, dass sie Kunden aus-
nimmt, ohne mit diesen zu schlafen, was Oshima verwundert.

Raku hilft Lisa neues Geld zu beschaffen, in dem sie Jonko anruft und ihre
Kontakte in Anspruch nimmt. Hierzu muss Raku sich selbst überwinden, da

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 46


sie mit Jonko wegen eines Streits über ein halbes Jahr nicht gesprochen hat.
Schließlich gehen Jonko und Lisa zu ihrem ersten Kunden und rauben diesen
aus, indem sie ihn mit einem Elektroschocker bewusstlos machen. Der zweite
Kunde ist ein alter Professor, welcher in Kriegsverbrechen und Zwangsprosti-
tution verstrickt war, dazu offen steht und es nicht bedauert oder Reue zeigt.
Im Gegensatz zu Jonko widert dieses Verhalten Lisa an, sodass es zu einem
Streitgespräch kommt und sie den Kunden verlassen muss. Der nächste Auf-
trag ist bei einem Kunden, welcher möchte, dass sie die Toilette putzen. Hier-
bei schlägt er eine Chinesin, welche nicht legal im Land ist. Jonko setzt ihn
darauf mit dem Elektroschocker außer Gefecht und sie fliehen wieder mit dem
Geld.

Oshima erfährt von diesem Vorfall und lässt nach den Mädchen suchen. Maru
wird derweil von einem Kunden brutal niedergeschlagen und schwer verletzt.
Oshima lässt die Mädchen ins Krankenhaus zu Maru bringen, welche ein Au-
ge verloren hat. Er macht nochmals seine Forderungen deutlich. Jedoch über-
lässt er Anbetracht zu Marus Schicksal den Mädchen ihr Geld.

Am nächsten Morgen ziehen Lisa, Jonko und Raku durch die Stadt und fol-
gen Flugblättern, auf welchen „come back Lisa“ steht. Sie kommen beim
Slipgeschäft an und treffen darin auf Akijama, welcher Lisas Geld retten konn-
te, jedoch Verletzungen davon getragen hat. Die Besitzerin sitzt derweil ver-
steckt auf einer Treppe und hört den Teenagern melancholisch zu. Es stellt
sich heraus, dass sie für Oshima arbeitet und vor dieser Tätigkeit Prostituierte
war. Lisa verlässt trotz der Bitten ihrer neuen Freunde Tokio und fliegt am En-
de in die USA. Jonko und Raku finden wieder als Freundinnen zusammen.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 47


Personenkonstellation in Baunsu ko gaurusu

Narrationsstruktur

Die Story wird in Form eines Pluralitätsmusters erzählt. So werden zunächst


Lisas Weg und der Weg der Clique getrennt voneinander erzählt, bis diese
durch Zufall aufeinandertreffen und die Clique Lisa hilft, an Geld zu kommen.
Hier wird ein neues Pluralitätsmuster zwischen der Clique und Oshima aufge-
baut, welcher versucht das Treiben der Mädchen zu verstehen und diese zur
Vernunft zu bringen. Durch die Gleichzeitigkeit werden daher vor allem Sinn-
zusammenhänge deutlich.

Mise-en-Scène

Setting:

Der Film Baunsu ko gaurusu spielt in Tokio. Entsprechend ist das Setting
durch viel Bewegung zwischen Häuserschluchten geprägt, welche von vielen
Fahrzeugen und Menschen in den Szenen ausgeht. Lediglich Innenbereiche,
wie die Bar von Oshima und die Hotelzimmer, wirken durch wenige Protago-
nisten ruhig und sind Orte des Dialogs.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 48


Licht:

Außenbereiche sind im Film tags sowie nachts hell bzw. ausgeleuchtet und
weisen daher wenige Schatten auf. Dem gegenüber wirken Innenbereiche
düster. So ist das Hotelzimmer, in welchen sich Maru und Oshima treffen,
durch Vorhänge verdunkelt. Die Gesichter der beiden sind daher sehr schat-
tiert (vgl. Harada 1997: 00:14:31f). Auch das Restaurant in welchem sich Lisa
und Raku unterhalten und Jonkos Stammbar wirken rauchig und sind schattig
(vgl. ebd.: 00:50:10f).

Rote Fahnen:

In Oshimas Bar gibt es ebenfalls wenig Tageslicht. Jedoch ist die Farbe rot
dort sehr dominant, da überall rote Fahnen und Vorhänge aufgehangen sind.
Diese sind nicht nur Dekoration, sondern verweisen auch auf Oshimas sozia-
len und gesellschaftskritischen Charakter, da er die Mädchen zum einen
warnt und zum anderen in seiner Bar die japanische Gesellschaft kritisch be-
trachtet (vgl. ebd.: 01:16:10f).

Kinematografie

Ein auffälliges kinematografisches Muster im Film ist die Verwendung von na-
hen Einstellungen, um Ernsthaftigkeit zu inszenieren. Hierzu möchte ich kurz
zwei Szenen des Films unter kinematografischen Gesichtspunkten betrach-
ten, um die Funktionsweise des Musters deutlicher zu machen.

Szene 1: Jonko und Oshima (ebd.: 00:43:18 – 00:45:51)

Nachdem Oshima Marus Ausweis und Telefon in einer Detailaufnahme aus-


händigt, erklärt Jonko, dass er ihr vertraut. Beide werden in einer halbnahen
Einstellung abwechselnd gezeigt, was zunächst der Immersion in den Dialog
zuträglich ist. Danach verlangt er Feuer für eine Zigarette und die Kamera
wechselt in eine Totale, in welcher sein Mitarbeiter ihm die Zigarette anzündet.
Oshima wechselt das Thema und erzählt von den Problemen, welche junge
Mädchen den Yakuza bereiten, da diese zunehmend mit den Prostituierten
konkurrieren. Hierbei werden wieder halbnahe Einstellungen verwendet.
Durch die Gesichtsausdrücke wird deutlich, dass Oshima Jonko eine ernste

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 49


Botschaft mit auf den Weg geben möchte. Nachdem er seinen Monolog
durch einen Scherz auflockert und die Einstellungsgröße kurz in eine Halbto-
tale übergeht, redet Oshima über abschreckende Mafiapraktiken in Kolumbi-
en, bei welchen Opfer durch sieben Kugeln in den Kopf getötet wurden. Hier-
bei wird Oshima in einer nahen Einstellung leicht von unten gezeigt. Somit
wird zum einen seine Machtposition und zum anderen die Ernsthaftigkeit der
Aussage unterstrichen. Symbolisch formt er seine Finger zu einer Pistole und
drückt diese wiederholt gegen Jonkos Kopf. Hierbei wird sie in einer halbna-
hen Einstellung leicht von oben gezeigt. Zudem wirken Oshimas Arme im
Vordergrund des Bildes groß. Auch hier werden Machtgefüge deutlich ge-
macht. Jonko ist in dieser Situation eindeutig die Unterlegene ist. Nach drei
symbolischen Schüssen wechselt die Kamera auf Oshimas Gesicht, welches
wieder leicht von unten gezeigt wird. Mit jedem Schuss springt die Kamera
näher an Oshimas Gesicht, sodass das die Einstellung von halbnah zu nah
und schließlich zu einer Detailaufnahme von Oshimas Mund wechselt. Hier
wird die von Oshima ausgehende Bedrohung durch extreme, intime Nähe und
seinen bedrohlichen Gesichtsausdruck sehr deutlich gemacht. Nachdem
Jonko sieben symbolische Schüsse erhalten hat, wechselt die Perspektive
wieder in eine Halbtotale, welche den gefassten Oshima und die einge-
schüchterte Jonko zeigt. In einer nahen Einstellung macht Oshima nochmals
deutlich, dass die Yakuza diese Praktiken auch in Japan einführen werden,
wenn Schulmädchen ihnen weiter das Geschäft vermiesen. Hierbei wird in
einer Detailaufnahme gezeigt, wie er seine Zigarette in einem Aschenbecher,
angelehnt an die Schüsse, wiederholt ausdrückt und schließlich den zer-
drückten Rest fallen lässt.

Szene 2: Lisa und der Professor (ebd.: 01:04:59 – 01:06:51)

Als Jonko Lisa mit dem Professor allein lässt, werden beide in einer amerika-
nischen Einstellung gezeigt, was die Streitbereitschaft und unterschiedlichen
Auffassungen der beiden Protagonisten unterstreicht. Zu Beginn des Ge-
sprächs werden beide zunächst in einer halbnahen Einstellung gezeigt. Als
der Professor jedoch anfängt von seinen Taten zu erzählen, welcher er nicht
als Verbrechen empfindet, fährt die Kamera immer näher an Lisas Gesicht mit

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 50


Fokus auf ihre Augen. Der Professor dagegen wird in hektischen Kameraein-
stellungen und -bewegungen gezeigt. Zum einen rotiert die Kamera von links
nach rechts und umgekehrt. Dadurch werden die Widersprüchlichkeit und
Widerwärtigkeit der Worte für Lisa hervorgehoben, ohne dass diese etwas
sagt. Als Lisa ihren Blick abwenden möchte, folgt eine langsamer Zoom auf
den Professor, was die Unausweichlichkeit seiner Worte hervorhebt. Diese
Zunahme an nahen Einstellungen macht deutlich, wie sehr Lisa das Gesagte
verabscheut, sich jedoch nicht entziehen kann. Nachdem der Professor seine
Verbrechen geschildert hat, wechselt die Kamera in eine Totale, welche die
gegenübersitzenden Protagonisten zeigt und in welcher der Professor seine
Verbrechen relativiert. Daher dient die Totale vor allem dazu, die gegensätzli-
chen Positionen darzustellen, welche letztlich in einem Streit enden.

Beide Szenen inszenieren Ernsthaftigkeit in nahen Einstellungen. Jedoch gibt


es Unterschiede in den Dialogen durch Kameraperspektiven. Das Gespräch
zwischen Oshima und Jonko ist hierbei eindeutig durch Oshimas ernstes An-
liegen und einer indirekten Drohung geprägt. Das Gespräch zwischen Lisa
und dem Professor hingegen erfolgt auf Augenhöhe, was zum einen die
Ernsthaftigkeit des Professors in seinen moralisch fragwürdigen Äußerungen
unterstreicht und zum anderen deutlich macht, dass Lisa dies trotz Aussicht
auf das benötigte Geld nicht akzeptiert und ihm widerspricht.

Unausweichlich: Lisa wird mit den Grenzen ihrer moralischen Vorstellungen konfrontiert.

Editing

Blenden werden im Film für Zeitübergänge innerhalb einer Szene genutzt. In


einer Szene sitzen Lisa und Raku zusammen in einem Restaurant und planen,
wie sie Geld für Lisa beschaffen können. Hierbei wird der Anfang des Ge-
sprächs gezeigt, während die Kamera sich nach links zu einem Pfosten be-
wegt, welcher das Bild nach und nach verdeckt. Dann erfolgt eine Blende hin-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 51


ter einen roten Lampenschirm und die Kamera macht eine Fahrt nach rechts,
welche das Ende des Gesprächs zeigt (vgl. ebd.: 00:51:08f).

In Bezug auf die Orte im Film lassen sich unterschiedliche Schnittfrequenzen


ausmachen. Schnelle Schnitte sind in der Stadt und deren Geschäften zu fin-
den und unterstreichen die Hektik des Alltags. In Hotels und Oshimas Bar
sind die Schnittfrequenzen deutlich langsamer und harmonischer. Dadurch
werden diese Orte zu Orten der Ruhe. Am Ende des Films nimmt die Schnitt-
frequenz jedoch auch in der Stadt ab, da es fünf Uhr morgens ist und die
Straßen nur mit wenigen Menschen gesäumt sind.

Harte Schnitte gibt es vor allem bei Szenenwechseln am Anfang. Diese unter-
streichen die Gleichzeitigkeit vieler Szenen, in welchen sie die Protagonisten
des Films noch nicht kennen (vgl. ebd.: 00:19:28f). Jedoch nehmen diese har-
ten Schnitte im Verlauf des Films ab und werden durch flüssige Übergänge
innerhalb der Szenen ersetzt. So gehen Jonko und Lisa auf ihrem Weg zum
nächsten Kunden an einem Restaurant in dem Akijama sitzt vorbei, zu dessen
Dialog mit einer Freundin somit flüssig übergeleitet wird (vgl. ebd.: 00:58:44).
Der Film wird in seinem Verlauf durch die Verwebungen der Handlungsstränge
in Bezug auf die Montage harmonischer, was auch das überwiegend gute En-
de des Films unterstreicht.

Harmonische Verwebung der Handlungsstränge durch visuelle Überschneidungen.

Bezug zum Muster des Ausflugs

Lisa verliert ihr erspartes Geld einen Tag vor ihrer Abreise nach New York und
bekommt Hilfe von einer Mädchenclique, welche ihr Geld damit verdient sich
mit älteren Männern zu treffen. So gerät sie an die Grenze zur Prostitution,
welche das Cliquenmitglied Maru bereits überschritten hat. Durch Kunden,
welche Lisa moralisch verabscheut, wächst auch ihre Ablehnung gegen das,
was dort geschieht. Sie gibt lieber ihr Geld fort, als das ihren neuen Freundin-
nen etwas passiert. Dies erweist sich gute Entscheidung, da ihre neuen

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 52


Freunde für sie Geld besorgen, um sie zu unterstützen. Trotz allem reist Lisa
jedoch wie geplant ab und nimmt ihren Flug nach New York. Der Film Baunsu
ko gaurusu zeigt anhand von mehreren Protagonisten, wie Teenanger in oder
an den Rand der Prostitution geraten und diese wieder verlassen. Die Narben
dieses Ausflugs lassen sich bei Maru noch am leichtesten ausmachen, wel-
che schwer verletzt wird. Im Fall von Lisa hat der Ausflug in die Randgebiete
der Prostitution bewirkt, dass sie trotz neuer Freunde und viel Geld das Land
dennoch verlässt.

4.6 DAS MUSTER DES AUSFLUGS - LOVE & POP (1998)

Story

Hiromi, welche sich in den Schulferien befindet, wacht auf und geht zum
Frühstück. Ihre Mutter nimmt an einem Schwimmwettbewerb teil und ihr Vater
hat durch die Küche eine Modellbahnstrecke verlegt. Am Frühstückstisch er-
innert sie sich an ihren Traum, in welchen sie mit einem Mann Pilze sammelt.
Als sie einen rot-grünen Skorpion sieht, will sie ihn anfassen. Sie ignoriert die
Warnung des Mannes, dass der Skorpion tödlich sei. Hiromi denkt über den
Traum nach und stellt für sich fest, dass es in ihrem Leben keinen Wandel
gibt. Daher nimmt sie alles mit ihrem Fotoapparat auf, für den Fall es, dass
sich etwas wandelt. Sie fährt ins Vergnügungsviertel Shibuya, wo sie von
Männern, welche mit ihr ausgehen wollen, angesprochen wird.

Um 10 Uhr trifft sich Hiromi mit ihrer Freundin Nao, welche von einem frem-
den Mann ein Telefon bekommen hat. Die beiden beschließen damit viel zu
telefonieren. Sie hinterlassen schließlich auf Mailboxen ihre Angebote für
Kunden und treffen in der Stadt auf Chie-chan, welche mit dem Telefon auch
eine Nachricht hinterlässt und von der frischen Trennung von ihrem Freund
erzählt. Letztlich treffen sie auf ihre Freundin Sachi, welche die Schule abge-
brochen hat, um Tänzerin zu werden. Hiromi stellt fest, dass sie und ihre
Freundinnen nur so gute Freundinnen sind, weil sie nicht weiterfragen, wenn
jemand von ihnen nicht antworten möchte. Nachdem sie sich getroffen ha-
ben, gehen sie zum gemeinsamen Einkaufen, um Bikinis für ihren Urlaub am
Strand zu kaufen. Dort entdeckt Hiromi einen Ring, welcher zu ihren frisch la-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 53


ckierten Fingernägeln passt. Jedoch kostet er 128000 Yen, was Hiromis Er-
spartes übersteigt. Um das benötigte Geld zu verdienen, treffen sich die
Freundinnen mit einem Kunden zum Karaoke, welcher 120000 Yen dafür be-
zahlt. Jedoch lässt er sie zum Abschluss je eine Muskatfrucht kauen, welche
er sammelt. Nach anfänglichem Zögern willigen die Mädchen ein. Hiromi teilt
das Geld des Kunden mit den anderen, obwohl diese ihr es überlassen wol-
len, da sie ihren Freundinnen dankbar ist und ihr viel an dieser Freundschaft
liegt.

Ihre Freundinnen übergeben Hiromi das Telefon des Unbekannten, sodass sie
die vereinbarten Dates der anderen wahrnehmen kann und somit Geld ver-
dient Ihr erster Kunde ist ein Bauarbeiter, welcher an einer Form des Tourette-
syndroms leidet und ständig spucken muss. Er will mit Hiromi in eine Video-
thek, um den Mitarbeitern zu zeigen, dass er auch ein Mädchen haben kann.
Jedoch nötigt er sie, ihn in der Videothek mit der Hand zu befriedigen. Als sie
sein Sperma in ihrer Hand sieht, rennt sie angeekelt davon und wäscht sich in
einem Park ihre Hand. Nachdem sie den Schock überwunden hat, zählt sie
das verdiente Geld und verabredet sich für das nächste Date mit einem Kun-
den namens Captain EO, welcher mit ihr ein in „Love-Hotel“ möchte. Hiromi
zögert zunächst, willigt dann aber ein. Auf dem Weg zum Hotel erzählt ihr der
Kunde von seiner Kindheit und zeigt ihr sein Stofftier „Fuzzball“, welches sei-
nen Schwanz verloren hat. Im Hotel angekommen repariert Hiromi Fuzzball.
Als Captain EO sie fragt, was ihr größter Wunsch sei, sagt Hiromi, dass sie
gern größere Brüste hätte. Sie geht anschließend ins Bad, um sich frisch zu
machen. Captain EO beseitigt derweil den Film ihrer Kamera mit seinen Bil-
dern und geht schließlich ins Bad. Er überwältigt sie und erklärt ihr eindring-
lich, dass sie nie wieder mit jemanden in ein „Love-Hotel“ gehen sollte. An-
schließend holt er einen Elektroschocker aus seiner Jacke und sagt ihr, dass
er diesen an ihr benutzen könnte und andere gerne mit einem toten Mädchen
schlafen würden. Letztlich lässt er von Hiromi ab, bittet sie zu gehen und gibt
ihr als Lohn vier Münzen, welche er auf ihre Brust legt. Hiromi geht und bringt
das Telefon seinem Besitzer zurück, welcher Drehbücher schreibt. Sie fragt
ihn, was Captain Eos Worte und Handlungen für eine Bedeutung hätten. Er

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 54


sagt ihr, dass er eine sehr freundliche Person sei und Hiromi sehr wertschät-
zen würde.

Als Hiromi nach Hause kommt, spielen ihre Eltern mit der Modelleisenbahn.
Sie beschließt früh ins Bett zu gehen und schaut auf ihre leere Hand. Beim
Entpacken des Rucksacks hofft sie den gewünschten Ring zu finden. Jedoch
bleibt dies nur ein Wunsch. Zudem entdeckt sie, dass ihr Film aus der Kamera
verschwunden ist. Als sie einen neuen Film einlegen möchte, lässt sie diesen
fallen. Hiromi macht sich Gedanken darüber, warum sie den Ring haben woll-
te. sie kommt zu dem Schluss, dass sie ihn aus Neid gegenüber ihren Freun-
dinnen haben wollte, welche in ihren Augen erwachsener sind.

In einem weiteren Traum geht Hiromi in einem dunklen Keller zu einem rosti-
gen Kühlschrank, in welchem Hunde eingefroren sind. Als sie einen der vor-
deren Hunde umarmt, taut der Hund auf und fängt an mit dem Schwanz zu
wedeln und glücklich zu bellen.

Personenkonstellation in Love & Pop

Narrationsstruktur

Wie aus der Story hervorgeht, bilden Hiromis Träume am Anfang und am En-
de des Films ein Klammermuster. Am Anfang des Films sind zudem viele
Flashbacks eingefügt, welche sich nahtlos in die Story einfügen. Daher ist es
schwierig Flashback und Gegenwart des Films zu trennen, was für die Ge-
genwärtigkeit der Gedanken und Erinnerungen Hiromis spricht. Lediglich

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 55


Texttafeln mit Datum und Uhrzeit trennen Flashbacks von der Gegenwart.
Nachdem die sozialen Zusammenhänge am Anfang des Films rekonstruiert
werden, bleibt die Handlung chronologisch.

Mise-en-Scène

Die gerade erwähnten Texttafeln übernehmen mehrere Funktionen. Zum einen


zeigen sie wie oben bereits erwähnt, Datum und Uhrzeit an und schaffen eine
Chronologie im Film. Darüber hinaus zeigen die Texttafeln Hiromis aktuelles
Barvermögen und die Summe, welche noch für den Ring aufzubringen ist
(Anno 1998: 00:50:48, 00:57:11 oder 01:15:16). Hierdurch wird zusammen mit
der Zeit ein Spannungsbogen aufgebaut, da das Geschäft nur bis 21:00 Uhr
geöffnet ist und Hiromi den Ring noch an diesem Tag haben möchte. Zudem
stellen die Texttafeln auch anonyme Kunden dar. In einem Telefonat, welches
Hiromi am Anfang des Films führt, wird das Gesagte ihres Gegenübers nur
per Texttafel und ohne Ton gezeigt, sodass Informationen über das Gesagte
zugänglich werden, die Identität des Kunden jedoch anonym bleibt (vgl. ebd.:
00:07:27f).

Love & Pop arbeitet mit starken Symbolen, welche gleichzeitig auch Muster
im Film sind. Symbolisch für Hiromis Entwicklung stehen ihre Fingernägel.
Diese sind am Anfang des Films lackiert und Hiromis ganzer Stolz (vgl. ebd.:
00:00:31f). In einem Flashback stellt sich heraus, dass sie sich auf Chie-chans
Rat hin die Nägel hat lackieren lassen (vgl. ebd.: 00:19:31f). Hier wird deutlich,
dass Hiromi erwachsen wirken möchte. Um diesen Eindruck zu verstärken,
möchte sie sich unbedingt noch einen Ring kaufen, um das Gesamtbild zu
perfektionieren (vgl. ebd.: 00:32:51f). Als sie das Geld für den Ring auftreiben
möchte, wird ihre Fixierung auf ihre Fingernägel durch einen Kunden gebro-
chen, welcher in ihre Hand onaniert (vgl. ebd.: 01:11:14f). Letztlich erkennt sie

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 56


dadurch, dass sie den Ring nicht bekommt, dass dieser nicht den erhofften
Wert für sie hat.

Das zweite Symbol ist Hiromis Fotokamera, mit welcher sie Momente mit ih-
ren Freundinnen festhält, für den Fall, dass sich etwas ändert (vgl. ebd.:
00:04:42f). Daher ist sie immer mit einer Kamera zu sehen und macht ständig
Bilder. Auch von Captain EO macht sie Bilder. Jedoch nimmt er den Film aus
der Kamera und zerstört diesen. Durch das darauf folgende Ereignis, bei wel-
chem Hiromi bedroht wird, ändert sich ihre Einstellung zum Fotografieren. Sie
sieht ein, dass sie auf den Fotos Veränderungen in ihrem Leben nicht erkannt
hat und letztlich entgegen ihren Annahmen, das Leben eine ständige Verän-
derung ist (vgl. ebd.: 01:40:18f).

Das dritte Symbol des Films ist Sinnbild für diese ständige Veränderung.
Durch Züge, welche Hiromi zunächst als ständige Wiederholung sieht, wird
Zeit und Veränderung symbolisiert (vgl. ebd.: 00:05:45f). Jedoch wird beim
Treffen mit Captain EO deutlich, dass auch sie sich im Film verändert. Als
Captain EO sie auf einer Zugbrücke fragt, ob sie mit in ein „Love Hotel“ kom-
men wolle, fährt ein Zug unter ihnen entlang und trennt die beiden symbo-
lisch. Erst nachdem der Zug am Horizont verschwindet, willigt Hiromi ein und
will sich für den Ring prostituieren (vgl. ebd.: 01:18:36f). In der Traumebene
wird die gleiche Entwicklung nochmals gezeigt. Fährt die Kamera im ersten
Traum auf einer festen Schiene an verschiedenen Stationen vorbei (vgl. ebd.
00:03:28f), so löst sich diese Geradlinigkeit im zweiten Traum auf, in welchem
die Zugfahrt endet und die vier Freundinnen nebeneinander durch einen Ab-
flusskanal gehen (vgl. ebd.: 1:43:50f). Hiromi läuft daher nicht mehr ihren
Freundinnen und somit der Kontingenz in ihren Leben hinterher, sondern sieht
sich selbst als Teil dieser.

Sinnbild für Hiromis Angst vor dem Zerbrechen der Freundschaft sind „3 zu
1“-Konstellationen, welche auch in der Traumebene vorkommen. Im Traum
am Anfang ist Hiromi von ihren Freundinnen getrennt, was die Grundangst vor
dem Verlust der Freundinnen zeigt. Nachdem sie und ihre Freundinnen in der
Stadt zunächst geschlossen auftreten, scheint ihre Freundin Sachi, welche
Tänzerin werden möchte, diejenige zu sein, welche sich immer mehr entfernt

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 57


und ihren eigenen Weg geht. So steht sie allein vor dem Fenster eines Cafés,
während die anderen auf sie warten (vgl. ebd.: 00:30:13f). In einer anderen
Szene steht sie unter einer Brücke, während die anderen drei darauf stehen
(vgl. ebd.: 00:48:00f).

Kinematografie

Der Film Love&Pop bricht in vielerlei Hinsicht mit konventionellen Sehge-


wohnheiten. So ist das sichtbare Bild zum Großteil von zwei schwarzen Bal-
ken an den Seiten eingeschränkt und das Sichtbare zusammengedrückt.
Hierdurch wirkt der sichtbare Bereich des Bildes fast quadratisch und die Fi-
guren meist dünner. Hierdurch wird bei halbnahen und nahen Einstellungen
der Fokus auf die Protagonisten gelegt. Dies wird durch den Einsatz eines
Fischaugenobjektivs verstärkt, welches Figuren und Protagonisten in der Mit-
te des vorderen Bildes vergrößert und breiter macht, während sie am Rand
und im Hintergrund des Bildes dünner und kleiner wirken. In Bezug auf Räu-
me und die Darstellung mehrerer Protagonisten ergibt sich eine besondere
Inszenierungsform, da das Fischaugenobjektiv durch seine Wölbung mehr
Raum zeigen kann. Daher ist das fast quadratische Format keine Einschrän-
kung. Vielmehr möchte ich hier von einer Fokussierungsstrategie sprechen.

In engen Räumen können somit Foki auf Protagonisten gelegt und zudem
auch die Umwelt mit dargestellt werden. So sind Hiromi und ihre Freundinnen
in der Schulbibliothek zentral im Vordergrund des Bildes zu sehen, als sie sich
unter Jubel zu einem gemeinsamen Urlaub entschließen. Am mittleren und
rechten oberen Rand des Bildes sieht man, wie Mitschülerinnen die vier
Freundinnen beim überdrehten Jubeln beobachten (vgl. ebd.: 00:28:05f). Der
Hintergrund wirkt hierbei noch ferner und die Distanz zwischen Freundinnen
und Mitschülerinnen wird verstärkt. Daher beeinflusst das Fischaugenobjektiv
auch die Tiefendistanzen, was vordere Objekte näher und hintere Objekte fer-
ner erscheinen lässt. Dadurch wirken Straßen im Film sehr lang und Gebäude
an den Rändern sehr hoch (vgl. ebd.: 00:24:00f). Zusammenfassend ist also
zu sagen, dass das Fischaugenobjektiv im doppelten Sinne fokussiert. Zum
einen werden Objekte in der Mitte des Vordergrunds vergrößert, während Ob-
jekte im Hintergrund analog dazu kleiner werden. Zum anderen wird durch die

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 58


Weitung des Sichtbarkeitsbereichs an den Rändern eine rundlich umschlie-
ßende Rahmung des Bildes geschaffen, welche das mittlere Element des Bil-
des immer in den Mittelpunkt stellt und symmetrische Bilder erzeugt.

Fischaugenobjektiv: Weitung des Raums und Zentrierung von Personen und Objekten

Lediglich bei den wenigen totalen Einstellungen, in welchen Züge oder leere
Straßen zu sehen sind, weitet sich das gedrungene Bild kurzzeitig. Zudem
wird die schwarze Fläche für einen Dialog in Gebärdensprache zwischen Hi-
romi und Captain EO genutzt, als diese sich das erste Mal getrennt durch ein
abgesperrtes Gleis sehen (vgl. ebd.: 01:17:23f).

Beinfokus

Markant für den gesamten Film sind Einstellungen, in welchen die Beine der
Mädchen gezeigt werden. Hierdurch bricht der Film mit normalen Sehge-
wohnheiten. Jedoch kann man über die Bewegungen der Füße auch Reaktio-
nen sehr gut darstellen. So sind beim Entschluss, dass Hiromi mit ihren
Freundinnen in den Ferien an den Strand fahren möchten, die sich aufgeregt
bewegenden Beine zu beobachten (vgl. ebd.: 00:27:38f).

Editing

Um Hiromis subjektive Sicht zu steigern, werden schnelle Schnitte verwendet,


welche insbesondere beim Treffen mit fremden Personen verwendet werden.
Hierbei sieht man für einen Bruchteil einer Sekunde Details ihres Gegenüber.
Am Anfang des Films wird sie von einem Mann angesprochen, welcher mit ihr
Essen gehen will. Hierbei deutet er auf seinen Wagen, um seinen sozialen
Status deutlich zu machen. In einem kurzen Schnitt wird sein grüner Wagen
gezeigt (vgl. ebd.: 00:07:06f). Diese schnellen Schnitte steigern die Immersion
im Film, da sie Hiromis flüchtige Blicke darstellen und dadurch ihre Sicht

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 59


plausibel und authentisch macht. Zudem verweisen sie auch auf das, was
noch kommt. So treffen die ihre Blicke in einem Kaufhaus flüchtig auf den
Blick eines Mannes, bei dem sie im Folgenden die Muskatfrüchte kauen sol-
len (vgl. ebd.: 00:31:00f).

Auffällig im Film sind auch Überlagerungen von Bildern. Die Überlagerung


stellt zum einen die Gleichzeitigkeit und die Verwobenheit von Hiromis Ge-
danken dar. So sind in einer Szene, in welcher Hiromi ihre Nachrichten abhört,
während sie mit ihren Freundinnen beim ersten Kunden zum Karaoke ist, Bil-
der aus ihrer Kindheit, von ihren Freundinnen und ein Gang durch die Stadt zu
sehen (vgl. ebd.: 00:39:31f). Aber auch auf der Erzählebene werden diese Ü-
berlagerungen eingesetzt. So sieht man am Ende des Films wie Captain EO
Hiromi bedroht und zugleich Hiromis Gesichtsausdruck und abwehrende
Körperhaltung (vgl. ebd.: 01:30:16f).

Überlagerte Bilder für die Darstellung der Gleichzeitigkeit von Gedanken und Emotionen.

Sound

In Bezug auf die Ebene der Gedanken wird häufig klassische Musik zur Un-
terstreichung des Nachdenklichen einer Szene eingesetzt, während Hiromis
Stimme aus dem Off erklingt (vgl. ebd.: 00:03:49f oder 01:41:20f). Auch das
Auslassen des Tons kommt im Film vor. So etwa wie in dem oben bereits er-
wähnten Telefongespräch mit einem anonymen Kunden, in welchem Textta-
feln eingesetzt werden oder als Hiromi sich per Zeichensprache mit Captain
EO unterhält (vgl. ebd.: 01:17:32f).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 60


Bezug zum Muster des Ausflugs

Hiromi durchlebt ihrer Ansicht nach ein abwechslungsloses Leben ohne Ver-
änderungen. Jedoch wird in ihren Träumen deutlich, dass sie sich davor
fürchtet, den Anschluss an ihre Freundinnen zu verlieren. Sie lässt sich zu-
nächst die Fingernägel lackieren, um erwachsener zu wirken. Zudem fällt ihr
Interesse auf einen Ring, welcher ihrer Hand gut steht und welchen sie unbe-
dingt haben möchte. Dazu geht sie zunächst mit ihren Freundinnen zu einem
Kunden zum Karaoke, wo sie eine Muskatfrucht kauen müssen. Hiromi benö-
tigt jedoch mehr Geld für den Ring und lässt sich auf weitere Treffen ein. Beim
zweiten Treffen onaniert ihr ein Mann in die Hand erniedrigt sie somit. Das
dritte und letzte Treffen endet in einem Love-Hotel, wo ein Kunde namens
Captain EO sie nackt im Bad überwältigt und bedroht. Letztlich erkennt sie,
dass ihr Verhalten naiv und sie neidisch auf ihre reiferen Freundinnen war. Ihr
Erlebnis bleibt ein einmaliger Ausflug in die Prostitution.

4.7 DAS ALTERNIERENDE MUSTER - KIRAWARE MATSUKO NO ISSHÔ (2006)

Nachdem ich nun das Muster des Ausflugs anhand von zwei Filmen vorge-
stellt habe, möchte ich nun das fünfte Muster dieser Arbeit vorstellen, wel-
ches ich in Hinblick auf die Entwicklung der Protagonistinnen das alternieren-
de Muster genannt habe. Hierbei handelt es sich um ein Muster, dass das Le-
ben einer Protagonistin nachzeichnet. Hierbei wird gezeigt, welche Ursachen
dazu führen, dass die Protagonistin in die Prostitution gelangt und wie sie sich
von dieser abwendet. Interessant für die Entwicklungen im Muster ist, dass
die Entwicklungsverläufe von sehr positiven und sehr negativen Momenten
geprägt sind. Erst nach einem meist einschneidenden negativen Erlebnis gibt
es eine Neuorientierung im Leben der Protagonistin. Das Muster grenzt sich
von daher vor allem durch die Zeitspanne von den anderen Mustern ab. Zu-
dem wird nicht nur das Leben in der Prostitution thematisiert. Vielmehr stellt
Prostitution einen Lebensabschnitt in diesem zyklischen und biographischen
Entwicklungsmuster dar. Der erste Film, welchen ich in Bezug zu diesem
Muster untersuchen möchte, ist Kiraware Matsuko no isshô aus dem Jahr
2006.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 61


Story

Sho ist zerstritten mit seinem Vater und lebt in seiner eigenen Wohnung, in
welcher es chaotisch zugeht. Eines Tages kommt sein Vater zu ihm und bittet
ihn, das Appartement seiner verstorbenen Tante Matsuko aufzuräumen, wel-
cher er nicht gekannt hat, da sein Vater sich mit ihr verstritten hatte und sie
als nutzlose Existenz beschreibt. In der Wohnung angekommen trifft er auf
den Punk und Nachbarn Shuji, welcher Sho erste Informationen über seine
Tante gibt. Durch Fotos und einen Polizisten, welcher sagt, sie Lehrerin gewe-
sen sei. Sho bekommt er eine Ahnung, dass Matsukos Leben nicht bedeu-
tungslos gewesen sein kann. Fortan versucht er das Leben seiner Tante zu
rekonstruieren.

Schon in ihrer Kindheit stand Matsukos Schwester im Mittelpunkt der Familie,


da diese an einer schweren Krankheit leidet. So versucht Matsuko die Auf-
merksamkeit ihres Vaters durch Grimassenschneiden zu erlangen, was an-
fangs gelingt, aber mit zunehmendem Alter nicht mehr wirkt. Matsuko wird
Musiklehrerin. Als sie den Schüler Ryu in Schutz nehmen möchte, wird sie
vom Dienst suspendiert. Dieser gibt seine Schuld nicht zu und schiebt diese
auf Matsuko, welche ihm eigentlich helfen wollte. Darauf bricht Matsuko im
Alter von 23 Jahren mit ihrer Familie und verlässt diese.

Sho trifft derweil auf einen narbengesichtigen Mann, welcher um die Wohnung
von Matsuko schleicht. Zudem erfährt er von seinem Vater, dass Matsuko als
Prostituierte gearbeitet habe und einen Mord begangen haben soll. In einer
Rückblende wird dargestellt wie sich Matsuko von Shos Vater Geld leihen will.
Er empfiehlt ihr Hostess zu werden. Das hatte sie bereits versucht, jedoch
konnte sie es aus Scham nicht tun. Zurück in ihrer Wohnung empfängt sie der
Agent ihres Freundes Tetsuya, welcher ein erfolgloser Schriftsteller ist und
Matsuko deswegen verprügelt. Sie nimmt es jedoch hin. Nachdem sie ihm
erzählt, dass sie ihre Familie um Geld gebeten hat und nun endgültig für ihre
Familie gestorben ist, bringt sich Tetsuya in der Nacht um. In einer Ab-
schiedsnotiz schreibt er „forgive me for being born“. Matsuko muss mit anse-
hen, wie er tödlich von einem Zug erfasst wird.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 62


Sechs Monate später, im Alter von 24 Jahren, hat sie eine Beziehung mit O-
kana, dem Agenten von Tetsuya. Jedoch scheitert diese Liebschaft, als Mat-
suko entdeckt, dass Onodera eine Frau und Familie hat. Seine Frau erfährt
von derAffäre und er beendet diese. Matsuko ist verzweifelt und wütend über
ihr bisheriges Leben. Sie legt ihre letzte Scham ab und begibt sich in ein Bor-
dell, wo sie Prostituierte wird. In dieser Tätigkeit erlebt sie einen steilen Auf-
stieg und wird dort die erfolgreichste Prostituierte. Jedoch ändern sich mit der
Zeit die Vorlieben der Kunden und sie wird nicht mehr nachgefragt. Ihr ge-
samtes Umfeld verändert sich im Bordell mit der Zeit, bis sie es schließlich
verlassen muss. Sie kehrt nach Hause zurück und liest das Tagebuch ihres
Vaters, welcher sie unbemerkt liebte. Sie flieht letztlich wieder, als sie ihre
Schwester sieht.

Im Alter von 26 hat sie einen neuen Freund, welcher sie ausnutzt und betrügt.
Als Matsuko ihn zur Rede stellt, da er ihr Geld veruntreut hat, eskaliert die Si-
tuation und sie bringt ihn im Affekt um. Sie flüchtet nach einem Selbstmord-
versuch aus der Stadt und findet beim Friseur Kenji einen neuen Freund, mit
welchem sie sich ein glückliches Leben aufbaut. Jedoch wird sie von der Po-
lizei gefasst und muss für 8 Jahre ins Gefängnis. Die Zeit übersteht sie, indem
sie sich das Leben mit Kenji ausmalt.

Sho, welcher immer mehr über das abwechslungsreiche Leben von Matsuko
erfährt, trifft auf den berühmten Pornostar Megumi, welche ihn beschatten
lies. Auch sie kannte Matsuko und erzählt wie sie sie im Gefängnis traf. Me-
gumi verdiente ihr Geld im Gefängnis mit Liebesdiensten, jedoch glaubte sie
nicht an Liebe. Matsuko jedoch glaubte immer fest an ihre Liebe, was Megu-
mi sehr beeindruckte. Sho beginnt nun wieder Matsukos Leben zu rekonstru-
ieren. Als Matsuko im Alter von 34 Jahren aus dem Gefängnis freikommt, er-
kennt sie, dass Kenji Frau und Kind hat. Sie wird Friseurin und trifft dabei
wieder auf Megumi, welche verheiratet ist und mit Pornofilmen Geld verdient.
Jedoch führt Megumis Ehe dazu, dass sich Matsuko von ihr distanziert. Als
Megumi Matsuko aus Sorge besucht, ist diese mit Ryu zusammen, welcher
sie einst in der Schule verraten und ihre Karriere als Lehrerin zunichte ge-
macht hatte. Matsuko steht zu Ryu und weist Megumi ab, obwohl Ryu sie

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 63


grob behandelt. Jedoch lieben sich beide und arrangieren sich. Ryu arbeitet
für die Yakuza und Matsuko wird Prostituierte in einem Yakuza-Klub. Jedoch
bekommt Ryu Probleme und wird von den Yakuza gejagt. Er ruft letztlich die
Polizei und kommt ins Gefängnis. Matsuko wartet sehnsüchtig auf seine Ent-
lassung. Jedoch fühlt sich Ryu für Matsukos Unglück im Leben verantwortlich
und verlässt sie als er aus dem Gefängnis entlassen wird. Fortan prügelt er
sich auf den Straßen, kommt schließlich wieder ins Gefängnis und findet dort
zum christlichen Glauben. Als er Sho trifft, bezeichnet er sich als denjenigen,
der Matsuko auf dem Gewissen habe.

Durch seinen Vater erfährt Sho, dass er als kleiner Junge einmal seine Tante
getroffen hat. In diesem Zusammentreffen erfährt Matsuko von Shos Vater,
dass ihre kranke Schwester gestorben war, da sie Matsuko so vermisste. Dies
wirft sie aus der Bahn. Sie zieht sich in ihr Appartement zurück und lässt sich
gehen. Durch ihr ungesundes Leben und Alkohol leidet sie an Halluzinationen
und schreibt an eine Wand „forgive me for being born“. Sie beschließt zum
Psychiater ins Krankenhaus zu gehen. Dort trifft sie Megumi, welche sie wie-
dererkennt und ihr Hilfe anbietet und ihre ihre Visitenkarte gibt. Matsuko wirft
diese jedoch weg, als sie an einem Fluss sitzt Nach einer Vision beschließt
Matsuko wieder Friseurin zu werden und Megumis Hilfe anzunehmen. Jedoch
wird sie von Kindern mit einem Baseballschläger umgebracht, als sie die Visi-
tenkarte wiedergefunden hat. Sho erkennt letztlich durch die Rekonstruktion
ihres Lebens, dass dieses entgegen der Behauptung seines Vaters nicht sinn-
los war.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 64


Personenkonstellation in Kiraware Matsuko no isshô

Narrationsstruktur

Der Film gliedert sich in drei Erzählebenen. Zum einen in die Rahmenhand-
lung, in welcher Sho Matsukos Leben zusammensetzt. Dann die Ebene der
Vergangenheit, in welcher Matsukos Werdegang erzählt wird und letztlich
Matsukos subjektive Sicht, in welcher viele Animationen und diegetische Mu-
sikstücke ihre Gemütszustände deutlich machen. Letztlich wird dadurch Mat-
sukos Leben rekonstruiert. Somit handelt es sich bei der Narrationsstruktur
des Films um ein Rekonstruktionsmuster.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 65


Mise-en-Scène

Farben und Licht:

Um die Erzählebenen des Films deutlich zu machen, werden in der Vergan-


genheitsebene Leuchtfilter verwendet, was vor allem Beleuchtetes sehr hell
und Konturen unscharf macht. Jedoch wird diese Ebene im Verlauf des Films
und mit der fortschreitenden Rekonstruktion von Matsukos Leben klarer und
gleicht sich visuell der Ebene der Rahmenhandlung an. Am Ende ist sie von
dieser nicht mehr zu unterscheiden.

Die Ebene der Subjektivität ist dagegen mit sehr grellen Farben und Animati-
onen gesäumt. Diese Ebene gibt dem Film einen Musical-Charakter, da hier
Matsuko und verschiedene Sängerinnen die Situation auf einer traumhaften
Metaebene beschreiben.

Farbe als Entwicklungsmuster:

In Bezug auf Matsukos Entwicklung im Film spielen Farben und Farbfilter eine
wichtig Rolle und stellen ein wiederkehrendes Muster dar. Hierbei folgen diese
einem periodischen Schema, welches ich nun kurz vorstellen möchte.

Rot – Phase der Lebenskraft und -freude

Szenen, welche einen hohen Rotanteil haben, stehen für Matsukos Hoffnung
und Willen nicht aufzugeben. So trägt sie als kleines Mädchen ein rotes Kleid,
ist entsprechend fröhlich und geht offen auf die Welt zu (vgl. Nakashima 2006:
00:21:18f). Dass diese Hoffnung bei Matsuko nicht vollends erlischt wird mit
einem immer wiederkehrenden roten Fenstervorhang in Matsukos Wohnung
symbolisiert. Einzige Ausnahme ist die Szene, in welcher sie ihren Freund er-
sticht und der Fenstervorhang blau ist. Sie möchte sich aus dem Fenster
stürzen, jedoch greift ihre Hand das Geländer, da etwas in ihr nicht will, dass
sie stirbt. Dies wird durch rote Blumen am blauen Balkon dargestellt. Daher
verlässt sie niemals vollständig der Lebensmut (vgl. ebd.: 00:50:33f).

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 66


Gelb – Phase des Scheiterns

Szenen, welche negative Entwicklungen für Matsuko zeigen, sind mit einem
gelblichen Farbfilter überlegt. So sind zum Beispiel ihre Suspendierung vom
Schuldienst oder das brutale Zusammenleben mit Tetsuya mit diesem Filter
visualisiert (vgl. ebd.: 00:13:20f und 00:34:16f). Durch diesen wirken die Sze-
nen farblos und blass und lassen Rotes braun erscheinen, was die Trostlosig-
keit der Szenen verstärkt.

Blau – Phase der Trauer und des Todes

Eine weitere zentrale Farbe im Film ist Blau. Szenen, in welchen diese Farbe
dominant ist, sind Szenen der Trauer und des Todes. So sieht Matsuko, wie
sich Tetsuya das Leben nimmt. Hierbei wird durch einen blauen Farbfilter und
blaues Licht eine kühle Stimmung erzeugt (vgl. ebd.: 00:36:00f). Auch später
im Film kommt dieser Filter zum Einsatz als beispielsweise Matsuko ins Ge-
fängnis muss (vgl. ebd.: 00:57:06f).

Grün/rosa – Phase der neuen Hoffnung/Liebe

Auf die blauen Trauerphasen folgen im Film Szenen, in welchen Grün oder
Rosa dominant sind. Grüne Szenen sind hierbei solche, in welchen Hoffnung
in Matsuko wieder aufkeimt. So beginnt Matsuko nach Tetsuyas Tod eine Af-
färe mit seinem Verleger und macht sich Hoffnungen mit ihm zusammen ein
neues Leben aufzubauen (vgl. ebd.: 00:36:58f). Rosa Szenen hingegen wei-
sen auf vorhandene Liebe hin. So wird nach Ryus Verhaftung Matsuko außer-
halb der Gefängnismauern rosa in Szene gesetzt (vgl. ebd.: 01:29:46f). Hierbei
hofft Matsuko auf Ryus Entlassung und somit auf die Erfüllung ihrer Träume.

Farben als Ausdruck der Stimmung: Hoffnung, Lebensmut, Rückschlag und Trauer.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 67


Kostüme:

In jedem neuen Lebensabschnitt hat Matsuko eine andere Frisur und andere
Kleidung. Das Äußere spiegelt daher die ständigen Veränderungen in ihrem
Leben wieder. Farblich ist die Kleidung dabei den jeweiligen Phasen ihres Le-
bens angepasst. So trägt sie ein grünes und rosa Outfit, als sie die Affäre mit
dem Verleger anfängt. Entsprechend ihren Vorstellungen sind ihre Haare sehr
streng und korrekt gehalten (vgl. ebd.: 00:37:17f). Im Gefängnis trägt sie einen
blauen Overall und die Frisur, welche Kunji ihr einst machte. Hier zeigt sich
zum einen die Trauer durch die blaue Kleidung. Jedoch ist ihre Frisur als
gleichbleibendes Element ein Indiz auf die Hoffnung, Kunji wiederzusehen.

Kinematografie

Die Einstellungsgrößen sind in Bezug auf Matsukos Emotionen analog zu den


Farbmustern. Daher wird Matsuko in Szenen des Scheiterns in weiten Einstel-
lungen gezeigt, was ihre Machtlosigkeit in diesen Momenten widerspiegelt
(vgl. ebd.: 00:34:02f). In blauen Szenen hingegen ist sie häufiger in halbnahen
Einstellungen zu sehen, was ihre Emotionen stark hervorhebt (vgl. ebd.:
00:36:15f). Ähnlich verhält es sich bei roten Szenen, in welchen glückliche E-
motionen somit eingefangen werden (vgl. ebd.: 00:21:05f). In grünen und rosa
Szenen werden hingegen weite Einstellungen verwendet, welche vor allem
Matsukos Verletzlichkeit in diesen Momenten deutlich machen. So wird zum
Beispiel ihre aufkeimende Hoffnung nach der Affäre mit Okana zerstört. Daher
folgen rote Szenen (also Harmonie) nicht zwangsläufig den grünen Szenen
(vgl. ebd.: 00:37:14f).

Editing

Durch Blenden werden harmonische Übergänge zwischen den einzelnen Erz-


ählebenen geschaffen, was zum Verständnis der Narration beiträgt. Als ein
Kommissar Sho erzählt, dass Matsuko Grundschullehrerin war, wird zunächst
von einer halbnahen Aufnahme von Sho in eine Totale vor das Mietshaus ü-
bergeblendet. Schließlich erfolgt die Blende in Matsukos Musikunterricht (vgl.
ebd.: 00:12:16f). Innerhalb der musikvideoartigen Abschnitte des Films sind
die Schnitte schnell und dem Rhythmus der Musik angepasst (vgl. ebd.:

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 68


00:38:16f). Dies trägt zum Musical-Charakter des Films bei und erzeugt eine
harmonisch immersive Schnittfolge.

Ausdruck von Matsukos Emotionen durch musikvideoartige Abschnitte.

Sound

Die auditive Ebene des Films ist für Matsukos Entwicklung zentral. Zum einen
beschreibt Matsukos Offstimme ihre Gedanken in bestimmten Situationen. So
sagt sie nach Tetsuyas Tod, dass sie dachte, ihr Leben sei nun vorbei. Jedoch
leitet sie zu einer Szene, welche sechs Monate später spielt über, in welcher
neue Hoffnung in ihr aufkeimte (vgl. ebd.: 00:36:48f). Zum anderen werden
Matsukos Gedanken und ihre Entwicklung durch diegetische Musik beschrie-
ben. Hierbei wechselt die Spielfilmästhetik der eines Musikclips oder Musi-
cals. Beispielhaft dafür ist eine Szene, in welcher sie ihren Bruder in einem
Vergnügungspark um Geld bittet. Als er ihr rät Hostess zu werden, sagt sie,
dass ihr dies nie in den Sinn kommen würde. Die Sängerinnen welche bisher
im Hintergrund sangen treten nach einem Schnitt in den Vordergrund und sin-
gen, dass sie eine Lügnerin sei. Denn insgeheim hat Matsuko versucht
Hostess zu werden, hatte jedoch ein zu großes Schamgefühl. Als ihr Bruder
ihr kurz bevor er geht über den Tod des Vaters berichtet, wird Matsuko selbst
zur Sängerin und besingt ihre Sehnsucht geliebt zu werden (vgl. ebd.:
00:30:36f).

Bezug zum Muster

Kiraware Matsuko no isshô erzählt das Leben von Matsuko, welches durch
Höhen und Tiefen geprägt ist. Hierbei wird sie durch Niederschläge im Leben
Prostituierte, was anfangs viel Geld und Erfolg bringt, jedoch im Laufe der
Zeit auch die Vergänglichkeit von Erfolg in diesem Gewerbe zeigt. In Bezug
auf das Muster ergibt sich ein ständiges Auf und Ab in Matsukos Leben.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 69


Durch diese Kontinuität von Kontingenz lässt sich der Film nicht in die drei
Grundmuster Scheitern, Alltag und Abkehr und das Muster des Ausflugs ein-
ordnen. Vielmehr entspricht das Entwicklungsmuster Matsukos dem alternie-
renden Muster.

4.8 DAS ALTERNIERENDE MUSTER - NIPPON KONCHUKI (1963)

Story

Nippon konchuki erzählt die Geschichte der Prostituierten Tomé. Diese wird
im Winter 1918 geboren und ist ein uneheliches Kind. Der Bauer Chuji nimmt
sie dennoch als seine Tochter an, obwohl er weiß, dass sie nicht seine Tochter
ist, und erntet Spott im Dorf. Tomé wächst in der Dorfgemeinschaft als ver-
achtetes Kind auf und arbeitet schließlich 1942 in einer Fabrik in Tokio. Eines
Tages wird sie unter einem Vorwand in ihr Dorf gerufen. Ihr Vater soll gestor-
ben sein. Es stellt sich heraus, dass sie für den Großgrundbesitzer Shinzo ar-
beiten soll. Dieser vergewaltigt Tomé und sie wird darauf schwanger. Ein Jun-
ge sieht die Vergewaltigung und Tomé wird als Teufel im Dorf betrachtet. Bei
der Geburt wollen Tomés Mutter und Großmutter, dass das Kind stirbt und
fragen Tomé. Sie entscheidet sich jedoch für das Kind. Tomé entschließt sich
nach der Geburt des Kindes, wieder in die Stadt zu gehen. Dort arbeitet sie
voller Elan für einen Sieg Japans. Jedoch wird sie durch die Kapitulation Ja-
pans gezwungen zurück in ihr Dorf zu gehen. Während ihr Vater von eigenem
Land träumt, jedoch mittellos ist, verlässt Tomé ihre Familie um Geld zu ver-
dienen und der Familie zu entkommen. Zurück in der Fabrik wird Tomé Spre-
cherin eines Arbeiterkomitees und tritt für die Rechte der Frauen ein. Jedoch
wird sie aufgrund dieser Aktivitäten entlassen. Sie lässt ihre Tochter Nobuku
bei ihrem Vater und versucht woanders Geld für die Familie zu verdienen.

Sie wird Haushälterin auf einem US-Air-Force-Stützpunkt und passt auf das
Kind eines US-Soldaten und der Japanerin Midori auf. Jedoch stirbt das Kind
als Tomé nicht aufpasst bei einem Unfall. Von diesen Schicksalsschlägen ge-
beutelt, sucht sie ihr Heil in einer Sekte, welche ihr Erleuchtung und Frieden
verspricht. Sie arbeitet zunächst als Putzfrau in einem Bordell, dessen Besit-
zerin sie aus der Sekte kennt. Jedoch wird sie bald darauf selbst Prostituierte.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 70


Sie schämt sich anfangs noch für diese Tätigkeit, da es den Idealen der Sekte
widerstrebt. Jedoch wird ihr durch die Chefin die allgegenwärtige Doppelmo-
ral bewusst. Sie wendet sich von ihren Idealen ab, um mehr Geld zu verdie-
nen, welches sie ihrer Tochter und ihrem Vater schickt. Als sie wegen einer
Eileiterschwangerschaft ins Krankenhaus muss, erfährt sie von einer Kollegin,
dass sie außerhalb des Bordells mehr Geld verdienen könne, da ihre Chefin
eine zu große Abgabe verlangt. Sie wird durch einen Brief von ihrer Tochter
zusätzlich ermutigt, welchem ein Bild einer Berggöttin-Statue beiliegt, die sie
beschützen soll. Ihre Chefin besucht sie folgend auch im Krankenhaus und
bietet ihr an ihre Vertretung zu werden. Nachdem Tomé aus dem Krankenhaus
entlassen wurde, trifft sie Midori wieder, welche nun einen koreanischen Mann
hat, der sie über alles liebt. Tomé überredet sie als Prostituierte für sie zu ar-
beiten, wobei sie ihre Chefin hintergeht. Mit dem zusätzlichen Geld unterstützt
sie erneut ihre Familie. Sie sucht sich darauf einen Schutzherren namens Ka-
rasawa, welchen sie „Daddy“ nennt. Jedoch ist ihr eigentliches Ziel wieder mit
ihrer Tochter zusammenzuleben. Ihre Chefin wird von der Polizei verdächtigt
ein Bordell zu betreiben. Tomé sagt dort gegen sie aus und entledigt sich so
ihrer. Darauf bietet Tomé den Mitarbeiterinnen an, einen Telefonservice aufzu-
bauen, bei welchem Tomé ihnen Kunden vermittelt und sie so dem Bordell
entkommen und eigene Wohnungen nehmen können. Karasawa bittet Tomé,
nachdem das Geschäft bei ihr gut läuft um Geld, welches sie einem Kunden
überbringen soll. Sie zögert zunächst, willigt aber dann vertrauensvoll ein,
nachdem Karasawa beteuert das Geld zurückzuzahlen. Jedoch verschwindet
er mit dem Geld und mit ihm die Hoffnung auf eine Zukunft mit ihrer Tochter.
Im Affekt lässt sie ihre Aggressionen an ihrer Haushälterin aus und verbrüht
deren Hand. Zudem hat sie mit Midori Ärger, welche sich über zu kleine Zah-
lungen beschwert. Tomé nimmt ihre Mitarbeiterinnen immer mehr aus und
schickt Karasawa, welchem sie immer noch blind vertraut, das Geld, was zu
Streit führt. Eines Tages kommt ihre Tochter Nobuku zu ihr und bittet sie um
200000 Yen, um eine Farm aufzubauen. Tomé lehnt die Bitte ab und schlägt
ihr vor in Tokio zu leben und sich einen guten Ehemann zu suchen. In weiteren
Gesprächen erfährt Nobuku, dass ihre Mutter wegen der finanziellen Unter-
stützung Karasawas kein Geld hat.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 71


Per Telegramm erfährt Tomé schließlich, dass Chuji im Sterben liegt, und reist
mit ihrer Tochter in ihr Dorf zurück. Dort erlebt sie ihr altes Umfeld, welches
sich über Chuji immer noch lustig macht. Zudem trifft sie auf Nobukus Freund
und hofft insgeheim, dass sie nicht auch ein uneheliches Kind bekommt. Zu-
rück in Tokio wird sie von der Polizei abgeholt und trifft auf dem Revier auf ih-
re Haushälterin, welche Tomé darauf verprügelt und letztlich ins Gefängnis
kommt.

Nachdem sie wieder aus dem Gefängnis kommt, trifft sie sich mit Karasawa,
welcher sie abweist. Wieder zuhause bekommt sie Besuch von ihrer Tochter,
welche schon einen Monat in der Stadt ist. Sie erzählt ihr, dass sie eine Affäre
mit Karasawa angefangen hat und gern wieder auf dem Land mit ihr zusam-
menleben möchte. Jedoch hat Tomé Angst, dass ihre Tochter so enden könn-
te wie sie und ihren Traum von einer Farm aufgibt. Karasawa stellt darauf No-
buku vor die Wahl, ob sie bei ihm bleiben möchte und eine Boutique erhält
oder ob sie immer noch eine Farm möchte. Sie entscheidet sich unter Vor-
wand für die Boutique. Jedoch geht Nobuku mit dem Geld zu ihrem Freund
und nimmt letztlich Karasawa aus. Sie baut sich mit ihrem Freund eine ge-
meinsame Zukunft auf und ist am Ende des Films schwanger. Tomé zieht
schließlich störrisch aber entschlossen aufs Land zu ihrer Tochter.

Personenkonstellation in Nippon konchuki

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 72


Narrationsstruktur

Die Narration des Films ist chronologisch linear gehalten. Durch Texttafeln
werden größere Zeitsprünge deutlich und machen durch Jahreszahlen den
Bezug auf historische Ereignisse und Tomés Entwicklung sichtbar.

Mise-en-Scène

Setting und Licht:

Der Film lässt sich in zwei verschiedene Handlungsräume trennen. Der Erste
ist der ländlich, dörfliche Raum. Hier ist das Innere der Hütten sehr schattig
und düster. Dies unterstreicht die häufigen negativen Erfahrungen in diesen
Räumen insbesondere mit ihren Verwandten. Lediglich Szenen mit ihrem Va-
ter sind in helleren Räumlichkeiten. Im Kontrast dazu sind Außenumgebungen
sehr hell und meist mit positiven Ereignissen und Arbeit besetzt, welche letzt-
lich auch Unabhängigkeit für Tomé bedeutet. Durch diesen Kontrast zeigt sich
sehr stark die Ambivalenz des Landlebens für sie.

Ambivalentes Landleben: innen dunkel und negativ, außen hell und freundlich.

Der zweite Handlungsraum ist die Stadt. Hier gibt es wenige dunkle Orte. Le-
diglich das erste Treffen mit Karasawa findet in einer dunklen Grotte statt.
Auch die Polizeistation ist düster gehalten. Beides sind Orte, an welchen Ver-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 73


rat geübt wird und somit sind diese auch negativ besetzt. Jedoch ist der
Großteil der Stadt im Film zwischen Hell und Dunkel zu sehen, was auf eine
komplexere Umgebung hinweist, in welcher alles gute wie auch schlechte
Seiten hat. Dementsprechend nimmt Karasawa Tomé zwar aus, jedoch sorgt
er sich gegen Ende des Films auch um sie.

Die Statue der Berggöttin:

Ein wiederkehrendes Muster im Film ist die Statue der Berggöttin. Diese ist
am Anfang des Films Tomés und Chujis Schutzgöttin in ihrem Stall (vgl. ebd.:
00:06:28f). Als Tomé im Krankenhaus liegt, schickt ihr ihre Tochter Nobuku
einen Brief mit einem Foto der Statue. Sie lebt mit Chuji nun im Stall auf Ge-
heiß der Familie, die das Geld, das Tomé für sie schickt, für sich behält. Für
Chuji wird daher Tomé zur Berggöttin, welche ihr und ihre Tochter schützt.
Zum anderen hat Tomé nun einen symbolischen Bezug zu Vater und Tochter.
Dadurch keimt in ihr die Hoffnung auf ein Leben mit der Tochter, was sie ver-
anlasst die Regeln des Bordells zu brechen, um mehr Geld für eine gemein-
same Zukunft zu bekommen (vgl. ebd.: 00:50:44f). Jedoch entwickelt sich mit
dem Reichtum und der engen Verbindung zu Karasawa wiederum eine Kluft
zwischen der inzwischen städtisch geprägten Tomé und ihrer Tochter, welche
ländlich geprägt ist und dort ihre Zukunft sieht.

Kinematografie

Dialoge im Film sind häufig mit halbnahen Einstellungen realisiert. Hierdurch


werden Tomés Emotionen verstärkt. Auffällig sind auch Szenen, welche durch
eine nahe Einstellung eine sehr hohe Intimität und Nähe schaffen. So liegt
Tomé krank daheim, als ein Mitarbeiter der Fabrik ihr sagt, dass Japan den
Krieg verloren habe. Tomés starrt hierbei in einer nahen Einstellung ins Leere,
während der Mitarbeiter ihre Brust streichelt (vgl. ebd.: 00:21:26f).

Um das Acting der Personen in Dialogen hervorzuheben, wird häufig mit Tief-
enunschärfe gearbeitet. So ist bei einem Gespräch mit der Chefin des Bor-
dells diese unscharf und groß im Vordergrund zu sehen, während Tomé scharf
am linken Bildrand zu sehen ist (vgl. ebd.: 00:47:56f). Zum einen werden die
Machtverhältnisse in dieser Einstellung eindeutig hervorgehoben. Tomé muss

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 74


sich ihrer Chefin fügen und wird schließlich Prostituierte. Zum anderen wird
durch die Fokussierung auf Tomé ihr Acting hervorgehoben. Sie wirkt verletzt
und voller Abscheu gegenüber der Prostitution.

Die Ebene der Gedanken

Die wohl auffälligste Ebene im Film ist die Ebene der Gedanken. Hierbei wer-
den Kommentare und Gedanken mit Standbildern verknüpft. Auf der auditiven
Ebene singt Tomé traurige Lieder, welche ihre Situation beschreiben oder es
werden Dialoge geführt. Die Einzelbilder lassen sich hierbei in die zwei Kate-
gorien emotionale und situative Bilder einteilen. Die emotionalen Bilder zeigen
Tomé in nahen Einstellungen, sodass eine Fokussierung auf ihre Emotionen
stattfindet und diese verstärkt werden. Situative Bilder zeigen Tomé in weiten
Einstellungen, so dass sie entweder mit anderen Protagonisten zu sehen ist
oder allein in der Weite des Raumes. Diese Art der Bilder visualisiert Tomés
Einsamkeit. Hierbei ist sie in Bezug auf die Bildrelation nur ein kleines Ele-
ment, sodass sie im Bild verloren wirkt. Zusammen mit den Kommentaren
und Dialogen findet eine Plausibilitätssteigerung statt, da durch verstärkte E-
motionen und Gedanken Tomés Handlungen begründet werden. So lehnt sie
zum Beispiel in einer Szene Nobukus Freund schroff ab und fordert sie auf,
sich bei ihr zu entschuldigen. In ihren Gedanken wünscht sie sich jedoch nur,
dass Nobuku durch ein uneheliches Kind nicht das gleiche Schicksal wie sie
erleiden muss (vgl. ebd.: 01:33:55f).

Historische Ebene

Visuell auffällig ist auch die historische Ebene im Film. Diese wird durch das
Einsetzen von Originalaufnahmen visualisiert und zeigt meist Straßenschlach-
ten in totalen Einstellungen. Diese Aufnahmen sind direkt in die Narration ein-
gebettet, was zum einen die Authentizität des Films stärkt und zum anderen
Tomés eigene Einstellung zur Geschichte bzw. den Geschehnissen (A – in den
fünziger und sechziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts kam es in Japan
in Folge einer politischen Erstarrung und Aufrüstungstendenzen zu vielen
bäuerlichen und studentischen Protesten (vgl. Pohl 2002: 84f).) deutlich
macht. Daher trifft Tomé Demonstranten im Film und ein fließender Übergang

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 75


zwischen historischer Wirklichkeit und Diegese entsteht. In Bezug auf die Ein-
stellungsgrößen und den Bildaufbau ergibt sich hier ein Entwicklungsschema.

Am Anfang ist Tomé nur eine von vielen Arbeiterinnen in einer Fabrik. Nach
dem Krieg schließt sie sich einer Arbeiterbewegung an und kämpft für die
Rechte der Frauen. Im Bildaufbau einer Rede wird jedoch deutlich, dass ihre
Position eine sehr schwache ist. Hierbei sind die Arme der Arbeiterinnen und
die Maschinen unscharf im Vordergrund zu sehen, während Tomé in einem
kleinen Bildausschnitt in der Mitte zu sehen ist (vgl. ebd.: 00:28:06f). Die Grö-
ßenrelation und Kadrierung der Szene zeigt also auch die Machtverhältnisse,
welche in der nächsten Szene dazu führen, dass der Betrieb sie entlässt.

Die nächste Szene, welche ich betrachten möchte, ist das Treffen mit Midori.
Hierbei werden Tomé und Midori unscharf in einer Totalen auf einem Friedhof
gezeigt. Im Vordergrund des Bildes laufen im Kamerafokus die Demonstran-
ten mit Bannern und Fahnen am Friedhof vorbei. Nach einem Schnitt sind
Tomé und Midori in einer halbnahen Einstellung zu sehen, während im un-
scharfen Hintergrund die Demonstranten weiter am Friedhof vorbei laufen
(vgl. ebd.: 00:56:06f). In dieser Szene wird die zunehmende Distanz zwischen
Tomé und ihren politischen Idealen durch die verwendeten Einstellungsgrößen
deutlich. Tomés Interessen sind deutlich selbstbezogener.

In einer dritten Szene gegen Ende des Films gibt es wieder Proteste und
Tomé, welche in einem Taxi sitzt, wird aufgehalten. Sie ärgert sich über die
Proteste und sagt, dass dies nichts mit ihr zu tun habe und der Taxifahrer
doch weiterfahren solle. In dieser Szene ist Tomé in einer halbnahen Einstel-
lung im Mittelpunkt des Bildes zu sehen, während die Demonstranten durch
die Frontscheibe des Taxis unscharf und klein im Hintergrund des Bildes zu
sehen sind (vgl. ebd.: 01:34:28f). Das Verhältnis zwischen Arbeiterbewegung
und Tomé ist in dieser Szene maximal. Dies wird vor allem durch die Taxi-
scheibe deutlich, welche Bildvordergrund- und Hintergrund trennt. Letztlich
handelt Tomé in dieser Szene egoistisch und gereizt, was sich auch in den
folgenden Szenen zeigt und mit ihrer Verhaftung endet.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 76


Im Taxi: Tomés Distanzierung zur Arbeiterbewegung nimmt während des Films auch visuell zu.

Editing

Auffällig bei der Montage des Films sind die harten Schnitte zwischen den
Abschnitten bzw. Szenen im Film. Durch Texttafeln mit Jahresangaben wird
eine chronologische Logik zwischen den Abschnitten aufgebaut. Jedoch hat
der harte Schnitt zur Folge, dass die Lebensabschnitte fragmentartig wirken
und Immersion gebrochen wird. So sitzt Tomé, nachdem sie erfahren hat dass
sie entlassen wird, an einem Fluss, und singt auf der Gedankenebene über ihr
Leid. Zudem wird eingeblendet, dass sich diese Szene im Sommer 1949 ab-
spielt. Nach einem harten Schnitt sitzt Tomé mit ihrem Vater in einem Bus und
möchte nach Tokio reisen (vgl. ebd.: 00:31:20f). An diesem Beispiel wird deut-
lich, dass durch den plötzlichen Schnitt die starke Immersion der Gedanken-
ebene beendet und in der Zeit nach vorn gesprungen wird, was den kontin-
genten Charakter von Tomés Leben unterstreicht.

Sound

Auffällig ist der seltene Einsatz von Musik, was den auditorischen Fokus auf
die Gespräche der Protagonisten und die Umgebungsgeräusche legt. Musik
kommt im Film immer dann zum Einsatz, wenn sich Tomé allein bzw. verlas-
sen fühlt und unterstreicht somit die einsamen Momente in ihrem Leben. So
spricht sie in ihrer Tätigkeit aus Haushilfe mit Midoris kleiner Tochter über Ein-
samkeit. Das Kind kann ihre Gefühle noch nicht verstehen. Jedoch wird durch
den Einsatz der Musik deutlich, dass Midori sich in einer extrem einsamen Si-
tuation befindet, weit weg von ihrem Vater und ihrer Tochter (vgl. ebd.:
00:35:42f).

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Bezug zum Muster

Tomés Leben ist von starken Kontingenzen geprägt. So folgt sie dem auf-
kommenden Nationalismus blind, was dazu führt, dass sie nach dem Kriegs-
ende jeglichen Halt verliert und in ihr Dorf zurückkehrt. Auch in ihrer Rolle als
Gewerkschafterin scheitert sie und zieht nach Tokio. Dort baut sie sich ein
Leben als Prostituierte auf und wird schließlich selbst zur Betreiberin eines
Telefonklubs, welcher Prostituierte vermittelt. Durch diese stark schwanken-
den Entwicklungen bis ans Ende des Films lässt sich Tomés Entwicklung dem
alternierenden Muster zuordnen.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 78


5 Entwicklungsmuster und Bildungsfiguren
5.1 DAS MUSTER DES SCHEITERNS

Nachdem ich fünf Entwicklungsmuster herausgearbeitet habe, welche zeigen


wie sich die Prostituierten im Verlauf des jeweiligen Films entwickeln, möchte
ich nun den Fokus auf die Bildungsfiguren legen. Hierzu werde ich auf die im
vorherigen Kapitel erarbeiteten Filmanalysen zurückgreifen. Im Gegensatz zu
den Entwicklungsmustern, welche eher inhaltliche Aspekte des Films wider-
spiegeln, sollen durch die Untersuchung der medialen Strukturen Reflexions-
potenziale und letztlich Bildungsfiguren herausgearbeitet werden. Hierbei
möchte ich für jedes Muster jeweils zwei Bildungsfiguren aus zwei verschie-
denen Filmen herausarbeiten und diese miteinander vergleichen. Es soll ge-
prüft werden, ob es bei gleichen Entwicklungsmustern unterschiedliche Bil-
dungsfiguren gibt. Anschließend möchte ich untersuchen, ob es bei den Bil-
dungsfiguren spezifische Reflexionsmuster gibt. Dies erscheint mir vor allem
in Hinblick auf die japanische Mentalität sehr sinnvoll, welche nicht zwingend
im westlichen Verständnis reflexiv sein muss, was allein ein historisch anders
gewachsenes Wertesystem zunächst nahe legt. Jedoch gibt es seit der Öff-
nung Japans im 19. Jahrhundert und insbesondere durch die amerikanische
Besatzung nach dem zweiten Weltkrieg viel westlichen Einfluss, zudem eine
multioptionale Gesellschaft und somit auch eine Wertevielfalt. Unter diesen
Gesichtspunkten ist eine Untersuchung der Bildungsfiguren höchst interes-
sant.

5.1.1 Yumeko (Akasen chitai)

Ein zentrales Element für Yumekos Entwicklung ist das unerwartete Auftau-
chen ihres Sohnes Suichi in dem Bordell, in welchem sie arbeitet. An dieser
Stelle des Films entwickeln sich zwei entgegengesetzte Lebensentwürfe.
Suichi ist, nachdem er seine Mutter sieht und erkennt, dass sie ihn indirekt
abgewiesen hat, zutiefst gekränkt. Für Suichi ist klar, dass er in Zukunft nichts
mehr mit seiner Mutter zu tun haben möchte. Yumeko hingegen hegt auf
Grund von Suichis Besuch nun Hoffnungen, dass sie als relativ alte Prostitu-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 79


ierte ihren Lebensabend mit ihm verbringen kann. Dies ist jedoch durch den
Vertrauensbruch, wie sich zeigt, unmöglich.

Letztlich erfolgt seitens Yumeko keinerlei Flexibilisierung. Sie beharrt zum ei-
nen auf ihren Standpunkten zur Prostitution, welche einfache Arbeit für sie ist.
Zudem sieht sie in Suichi den kleinen Jungen, welchen sie jahrelang nicht ge-
sehen hatte. Auch ihre Vergangenheit spielt hier eine große Rolle. So trauert
sie immer noch ihrem Mann hinterher, den sie in Suichi wiedererkennt. Ihr ge-
samtes Streben richtet sich durch eine nicht stattgefundene Biographiearbeit
auf eine Rekonfiguration der familiären Verhältnisse. Aus modernisierungsthe-
oretischer Sicht, sehnt sie sich nach einer Rückbettung in traditionelle japani-
sche Familienverhältnisse20. Yumekos Entwicklung ist daher mit diesem Ziel
als affirmativ zu bezeichnen, da keinerlei Flexibilisierung oder Ansätze einer
Reflexion auszumachen sind und sie sich voll und ganz auf das Zusammenle-
ben mit ihren Sohn konzentriert, ohne dabei Kompromisse eingehen zu wol-
len. Als ihr Sohn endgültig mit ihr bricht, bricht auch der Orientierungsrahmen
ihres starren Lebensentwurfs zusammen. Sie wird schließlich wahnsinnig und
verfängt sich in den Erinnerungen an ihren Mann und ihre Jugend.

5.1.2 Tome ((Maruhi) shikijô mesu ichiba)

Tomes Verhalten ist am Anfang des Films rebellisch und insbesondere gegen
ihre egoistische Mutter gerichtet. Lediglich zu ihrem geistig behinderten Bru-
der hat sie eine gute Beziehung und nimmt ihn vor ihrer Mutter in Schutz. Zu-
dem trifft sie auf einen Killer, mit welchem sie sich gut versteht. Als ihre Mutter
trotz neuer Schwangerschaft anschaffen geht und des Diebstahls bezichtigt
wird, beobachtet Tome dies und stellt sich die Umstände ihrer Geburt vor. Sie

20 Eines der zentralen Theoreme Giddens in Bezug auf die Modernisierungstheorie, ist
die These der Entbettung. Hiermit meint Giddens „das ,Herausheben‘ sozialer Bezie-
hungen aus ortsgebundenen Interaktionszusammenhängen und ihre unbegrenzte
Raum-Zeit-Spannen übergreifende Umstrukturierung“ (Giddens 1997: 33). Jedoch
gibt es auch Rückbettungsmechanismen, die in Bezug auf Yumeko darin liegen, dass
sie eine traditionelle Form des Zusammenlebens anstrebt. Im traditionellen japani-
schen Familiengefüge ziehen ältere Menschen zu ihren Kindern, welche sich um sie
kümmern. Jedoch ist dies mit dem Zerbrechen der traditionellen japanischen Familie
hin zu Kleinfamilien problematisch.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 80


ist darauf zutiefst traumatisiert und schläft schließlich mit ihrem Bruder. An
dieser stelle zeigt sich auch, dass eine erfolgreiche Biographiearbeit nicht
stattgefunden hat. Zudem ist ihr Lebensentwurf nur auf die Gegenwart ausge-
richtet und zudem starr auf Prostitution ausgelegt. Als sich ihr Bruder das Le-
ben nimmt, wirkt Tome gefasst. Sie lehnt das Angebot des Killers ab, mit ihm
wegzugehen. Sie bleibt in der Stadt. Hierdurch wird ein Punkt markiert, an
welchem sie die letzten sozialen Bezugspunkte in ihrem Leben verliert. Tome
führt fortan ein selbstzerstörerisches Leben und raucht sehr viel. Außerdem
löst sie den Selbst- und Weltbezug auf, indem sie sich nur noch als Gefäß
bzw. Objekt betrachtet. Die minimale Biografiearbeit kommt daher schließlich
vollkommen zum Erliegen. Die Aufgabe ihrer eigenen Subjektivität ist schließ-
lich der Schlusspunkt ihrer Entwicklung.

5.1.3 Vergleich der Bildungsfiguren

Die Bildungsfiguren von Yumeko und Tome zeigen beide große Ähnlichkeiten.
Beiden gemein ist, dass sie an der Prostitution festhalten und ihr Leben nicht
hinterfragen. Daher ist ihnen auch eine geringe bzw. nicht erfolgte Biogra-
phiearbeit gemein, welche fragile Orientierungsrahmen schafft. Interessant ist
jedoch die Art und Weise wie die Protagonisten letztlich scheitern. Während
Yumeko durch den Bruch mit ihrem Sohn den wichtigsten Bezugspunkt ver-
liert und schließlich wahnsinnig wird, entwickelt sich Tome nach dem Verlust
ihres Bruders und des Killers hin zu einem Objekt, mit einem sinnentleerten
Leben. Beide sind gescheitert. Interessant ist jedoch, dass Yumeko in der
Vergangenheit verharrt, während Tome nur noch im Jetzt als Objekt existiert.

5.2 DAS MUSTER DER ABKEHR

5.2.1 Yasumi (Akasen chitai)

Die Entwicklung Yasumis, zeigt eine Frau, welche der Prostitution entkommt.
Hierbei ist im Gegensatz zu anderen Charakteren im Film die Distanziertheit
zu ihren Kolleginnen auffällig. Sie ist im Bordell eine Außenseiterin, welche nur
das Ziel hat, der Prostitution zu entkommen. Der Grund dafür liegt in ihrer
Vergangenheit. Durch ihren korrupten Vater kam sie in die missliche Lage sich
zu prostituieren. Daher erfolgt von ihrer Seite einerseits keine Integration in

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 81


das Bordell. Zum anderen nimmt sie ihre Kunden aus, indem sie ihnen Liebe
verspricht. Sie ist also ausschließlich auf das Geschäft konzentriert. Lediglich
als sie das Geld zählt, sieht man eine emotionale Yasumi. In ihrem Verhalten
zeigt sie keinerlei Momente der Flexibilisierung. Daher verharrt sie in ihren
Handlungsstrategien, welche meist auf Kosten anderer gehen. Dies führt da-
zu, dass ein verzweifelter Kunde sie im Affekt beinahe erwürgt. Sie überlebt
und wird mit dem Ersparten Textilienhändlerin. Das Handlungsmuster der Ge-
schäftsfrau wird also nahtlos übernommen. Letztlich schafft es Yasumi durch
ihre starre affirmative Haltung, sich aus der Prostitution zu befreien.

5.2.2 Fusake (Yoru no onnatachi)

Am Anfang des Films gerät Fusake in eine Orientierungskrise, welche durch


den Verlust des Mannes und ihres Kindes ausgelöst wird. Als ihre Schwester
mit ihrem Chef eine Affäre anfängt, verliert sie zudem den letzten Halt in ihrem
Leben. Sie entschließt sich, der anfänglich abgelehnten Prostitution nachzu-
gehen. Jedoch wird sie wieder mit ihrer Schwester konfrontiert, welche
schwanger ist. Erinnerungen an den eigenen Verlust ihres Kindes kommen in
ihr hoch und sie flieht aus dem Gefängnis um sich der Situation zu entziehen.
Jedoch erfährt sie von der Verhaftung ihres ehemaligen Chefs und dass es
ihrer Schwester nicht gut geht. Sie beschließt ihr zu helfen. Hierbei erfolgt ei-
ne erste Flexibilisierung, da sie zum einen ihrer Schwester hilft und zum ande-
ren Hilfe in einem christlich geprägten Frauenhaus sucht. Es wird deutlich,
dass sie sich in einer Suchbewegung befindet, da sie zuvor schon auf einer
Werbetafel den Hinweis auf das Frauenhaus sah und darüber nachdachte
dort Zuflucht zu finden. Der erste Besuch des Frauenhauses ist hierbei als
tentatives Moment zu werten. Fusake hält sich hierbei zunächst offen, ob sie
bleibt oder nicht. Nach der Fehlgeburt ihrer Schwester, entschließt sie sich
jedoch wieder auf die Straße zu gehen. Sie wirkt nun wesentlich nachdenkli-
cher. Als Fusake schließlich ihre Nichte Kumiko sieht, welche inzwischen
ebenfalls der Prostitution nachgeht, ist sie zutiefst erschüttert. Durch diese
stark kontingente Erfahrung, trifft sie die Entscheidung sich endgültig von der
Prostitution zu lösen und der noch jungen Kumiko Perspektiven im Leben zu
eröffnen. Sie entscheidet sich für ein Leben in Würde, was das Ende ihrer
Suchbewegung darstellt. Aus der anfangs zögerlichen Suche wird eine kon-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 82


krete Entscheidung, welche eine Neuorientierung in ihrem Leben darstellt. Die
Bildungsfigur Fusake ist daher als reflexiv zu beschreiben. Durch christliche
Motive im Film möchte ich an dieser Stelle auch von einer reflexiven Figur
westlichen Typs sprechen.

5.2.3 Vergleich der Bildungsfiguren

Schaut man sich nun die Bildungsfiguren Yasumi und Fusake an, so ist zu er-
kennen, dass beide sich zwar von der Prostitution lösen können, jedoch völlig
entgegengesetzte Bildungsfiguren darstellen. Während Yasumi in ihrer Ein-
stellung und ihren Werten so bleibt, wie sie ist, und durch eine negative Ein-
stellung zur Prostitution dieser entkommt, ist Fusakes Abkehr von der Prosti-
tution durch eine Reflexion ihrer eigenen Werte und ihrer Einstellung zum Le-
ben geprägt, welche letztlich eine Neuorientierung möglich macht. Dieser
starke Kontrast macht auch deutlich, was es bedeuten kann, wenn Frauen
der Prostitution entkommen. Yasumi verdient ihr Geld nach der Abkehr, indem
sie Textilen an die Prostituierten verkauft. Dies zeigt, dass sie zwar selbst kei-
ne Prostituierte sein möchte, aber letztlich für die Branche weiter tätig ist. Da-
her sehe ich bei Yasumi lediglich einen Wechsel des Geschäftsmodells, je-
doch kein reflexives Moment. Bei Fusake hingegen steht Geld weniger im
Vordergrund. Vielmehr erkennt sie, dass Prostitution für sie und andere Frau-
en durch und durch negativ ist. Hier ist eine Veränderung der Wertvorstellun-
gen durch reflexive Prozesse also sehr deutlich.

5.3 DAS MUSTER DES ALLTAGS

5.3.1 Hanae (Akasen chitai)

Hanaes Leben ist von Armut gekennzeichnet. Sie ist die einzige, welche in ih-
rer Kleinfamilie arbeitet, da ihr Mann erkrankt ist. Beide haben bereits an Sui-
zid gedacht um ihrem armen Leben zu entfliehen. Jedoch hat Hanae durch
die Geburt ihres Kindes neuen Lebensmut bekommen und bringt ihre Familie
um jeden Preis durch. Ihr Mann ist hingegen weniger hoffnungsvoll, da er kei-
ne Tätigkeit ausüben kann und ihn das stark belastet. Dies führt letztlich dazu,
dass er sich das Leben nehmen möchte. Jedoch ist Hanae bemüht auch ihm
zu helfen. Hanae hält daher an ihrer Familie fest und nimmt für den Erhalt die-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 83


ser, die Prostitution in Kauf. Nur eine affirmative Einstellung, welche das un-
bedingte Durchhalten bejaht, lässt Hanae ihren Alltag überstehen. Moderni-
sierungstheoretisch interessant ist zudem, dass durch das Leben am existen-
tiellen Abgrund, was ein Leben in Kontingenz bedeutet, die Familie, als tradi-
tionelle Instanz einen letzter Hort der Hoffnung darstellt.

5.3.2 Ai (Topâzu)

Das Leben von Ai ist vor allem durch Einsamkeit geprägt. Sie scheint keinerlei
soziale Bezugspunkte in ihrem Leben zu haben. Lediglich durch ihre Arbeit als
Prostituierte steht sie in Kontakt zu Menschen. Diese sind jedoch nur ge-
schäftlicher Natur. Das kompensiert sie durch Konsum und gibt ihr verdientes
Geld sofort aus. Dies zeigt auch, dass es keinen nachhaltigen Lebensentwurf
gibt. Lediglich ihre Liebe zu Sudo, einem Kunden, welcher außer Landes ist
und eine Familie hat, hält Ai in einer Suchbewegung nach ihm. Zunächst kauft
sie sich auf den Rat einer Wahrsagerin einen rosa Ring, welcher ihr Liebes-
glück bringen soll. Damit verbunden ist auch die Hoffnung Sudo wiederzuse-
hen. Die oberflächlich überwundene Sehnsucht nach Sudo keimt immer mehr
in ihr auf und die Suchbewegung wird konkreter. Jedoch scheitert Ai bei der
Suche nach Liebe. Sudo bleibt unerreichbar und somit auch die Hoffnung auf
eine Liebesbeziehung. Ais Lebensentwurf ändert sich nach diesen Vorkomm-
nissen nicht. Jedoch hat sich ihr Bezug zum Ring geändert. Hat sie am An-
fang des Films noch geweint, so lächelt sie am Ende des Films, als sie den
Ring anschaut. Dies kann man zum einen als Überwindung Sudos und zum
anderen auch als Nachtrauern und insgeheimes Hoffen auf ihn deuten. Wäh-
rend die zweite Lesart Ais Handlungsmuster affirmativ erscheinen lässt, wirft
die erste Lesart, die Überwindung Sudos, ein neues Licht auf sie. Hierbei ist
ihre Handlungsstrategie in ihren Zügen immer noch affirmativ. Jedoch würde
Ai sich neuorientieren, ohne hierbei im westlichen Sinne reflexiv zu sein bzw.
Biographiearbeit zu betreiben. Dies möchte ich daher als ein auf Rationalität
beruhendes Orientierungsmuster beschreiben.

5.3.3 Vergleich der Bildungsfiguren

Hanae wie auch Ai haben gemein, dass sie beide affirmative Handlungsstra-
tegien nutzen. Jedoch zeigt sich bei genauerer Betrachtung, dass es zwi-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 84


schen den beiden Protagonisten Unterschiede in den Ausgangssituationen
gibt. Hanae lebt mit ihrer Familie am Existenzminimum und versorgt diese
bzw. hält sie in einer sozial unsicheren Umgebung zusammen. Ai hingegen
geht es materiell sehr gut und sie hat sonst keine sozialen Verpflichtungen.
Hier wird deutlich, dass Hanae aus einem materiellen Zwang heraus ihren All-
tag als Prostituierte verbringt, während bei Ai jederzeit aufhören könnte.
Hanae ist also aus der prekären Handlungssituation heraus affirmativ, wäh-
rend Ai, welche wahllos Sachen kauft, eher sozial orientierungslos zu sein
scheint. Dies drückt sich auch in der Art der Charaktere aus. Während Hanae
ein aktiver Machertyp ist (sie ist das Familienoberhaupt und lenkt ihren Mann),
ist Ai devot und passiv. Vergleicht man bei beiden die Art der Neuorientierun-
gen bzw. den Umgang mit Kontingenz, so stellt man fest, dass beide nicht
reflexiv, sondern rational damit umgehen und dadurch ihren Alltag meistern.
So überwindet Hanae den Selbstmordversuch des Mannes und die Kündi-
gung der Wohnung relativ gefasst und behält die Nerven. Ai hingegen schafft
es, nach der ersten Lesart, sich ohne eine Reflexion im westlichen Sinne sich
von Sudo zu lösen und sich so sozial neu zu orientieren.

5.4 DAS MUSTER DES AUSFLUGS

5.4.1 Lisa (Baunsu ko gaurusu)

Durch den Drang, an Geld für eine längerfristige Reise nach New York zu
kommen, entschließt sich Lisa, mit dem Verkauf ihrer getragenen Slips Geld
zu verdienen. Das folgende Einlassen auf einen Videodreh und Raku zeigt,
dass Lisa sehr zielstrebig ist und sich durchaus flexibilisieren kann.

Jedoch wird beim Besuch des Professors deutlich, dass sie auch klare Gren-
zen und Werte hat, welche sie um keinen Preis aufgibt. Jedoch hört sie nicht
auf, weitere Kunden mit Jonko zu besuchen. Ich deute dies als tentatives Er-
kunden der eigenen Grenzen in Bezug auf Geld. Lisa reflektiert hierbei immer
und antizipiert gegebenenfalls. Die Bildungsfigur ist daher ein im westlichen
Sinne reflexiver Typ. Am Ende dieser Grenzerfahrungen entscheidet sich Lisa
trotz Bitten ihrer neuen Freunde, nicht in Japan zu bleiben. Auffällig ist hierbei
auch, dass Lisas Herkunft unbekannt bleibt. Es wird nur deutlich, dass sie

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 85


sich von ihren Eltern distanziert bzw. diese ablehnt. Durch diese Nicht-The-
matisierung scheint dieser Aspekt in ihrem Leben die Grenzen von Reflexivität
aufzuzeigen. Insbesondere ihr unbedingter Wille nach New York zu reisen und
an Geld zu kommen, bekräftigt den Eindruck einer Fluchtbewegung.

5.4.2 Jonko (Baunsu ko gaurusu)

Jonko ist Anführerin einer Mädchenbande, welche mit Kunden gegen Geld
ausgeht. Daher ist sie ein durchsetzungsstarker Charakter. Das Ausnehmen
der Kunden, welches dank ihres Elekroschockers durchaus brutal sein kann,
wird von Jonko als Trotzreaktion gegen die Gesellschaft gesehen. Zudem wird
deutlich, dass sie selbst Opfer eines sexuellen Übergriffes wurde und sich
nicht mit ihren Eltern versteht. Entsprechend ihrem Charakter testet sie immer
wieder eigene Grenzen des Handelns aus. Insofern befindet sich Jonko in ei-
ner tentativen Suchbewegung, in welcher sie die Grenzen der Gesellschaft
und somit ihre Handlungsspielräume auslotet. Durch das Treffen auf Oshima,
trifft sie auf eine Grenze, welche sie nicht überschreitet, da ihr Leben und das
Leben ihrer Freundinnen dadurch in Gefahr gerät. Als Oshima ihr das deutlich
macht, testet sie danach jedoch auch Oshima, indem sie mit ihm Karaoke
singt. An dieser Stelle wird auch ein weiterer Charakterzug Jonkos deutlich.
Durch das Zusammentreffen mit Oshima will sie ihrer Freundin Maru helfen,
welche ihm Geld schuldet. Sie übernimmt daher auch Verantwortung für das,
was sie tut und hilft ihren Freunden. Bei Lisa wird dies noch deutlicher, da sie
ihr, ohne sie genauer zu kennen, zu Geld verhilft. Jedoch hat sie andere Wert-
vorstellungen als Lisa und hört zum Beispiel dem Professor widerspruchslos
zu, um an sein Geld zu kommen. Schaut man sich Jonkos Handlungsstrategi-
en an, so sind diese affirmativ und rational. Das heißt, dass Jonko in ihrer
Grundeinstellung ihr Verhalten gegenüber den von ihr negativ gesehenen
Kunden nicht ändert und diesen weiter ausnimmt. Jedoch ist sie gegenüber
neuen Menschen in ihrem Leben sehr offen und flexibel. So ist es für sie kein
Problem mit der unbekannten Lisa ihre Kunden zu besuchen. Auch die gebro-
chene Freundschaft zwischen ihr und Raku scheint ohne Hinterfragen oder
Aussprache wieder aufgenommen zu werden. Neuorientierungen sind daher
bei Jonko keinesfalls ausgeschlossen.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 86


5.4.3 Hiromi (Love & Pop)

Ein zentraler Wert, an welchem Hiromi festhält, ist die Freundschaft zu ihren
Freundinnen, mit welchen sie sich regelmäßig trifft. Die Welt der Erwachsenen
ist für sie vor allem von Wiederholung geprägt. Ihr Leben scheint sich für sie
nicht weiter zu entwickeln. Durch das Element der Kamera, welche Verände-
rungen festhalten soll, kommt es zu einem Widerspruch in der Logik Hiromis.
Zum einen will sie in Bezug auf ihre Freundinnen, dass alles so bleibt, wie es
ist. Auf der anderen Seite jedoch gibt es eine Sehnsucht nach Abwechslung
im Leben. Dieser Widerspruch ist der zentrale Bearbeitungsgegenstand im
Film für Hiromi. Zunächst beendet eine ihrer Freundinnen im neuen Schuljahr
die Schule, um Tänzerin zu werden. Auch die anderen Freundinnen treffen
sich mit Jungen oder machen andere soziale Erfahrungen. Hiromi nimmt mit
ihrem beobachtenden Charakter innerhalb der Clique eine passive Rolle ein.
Um sich hervorzuheben wächst in ihr der Wunsch, einen teuren Ring zu kau-
fen. Jedoch will sie das Geld dafür ohne ihre Freundinnen zusammen be-
kommen. Mit diesem Alleingang, beginnt für sie eine unbestimmte Suchbe-
wegung, den selbst ein Kunde, der in ihre Hand onaniert, nicht unterbricht.
Ganz im Gegenteil geht sie mit einem Kunden namens Captain EO in ein
„Love-Hotel“ und dehnt ihre persönlichen Grenzen nochmals. Erst durch die
Offenbarung seiner Wut und seines Schmerzes wird Hiromi auf sich selbst zu-
rückgeworfen und erkennt, dass sie auf der Suche nach sich selbst ist. Zu-
dem reflektiert sie am Ende des Films darüber, dass sie und ihre Freundinnen
sich weiterentwicklelt haben, dies jedoch nicht zwischen ihnen stehen muss.
In diesem Sinne hat sich Hiromi neuorientiert und sich neue Handlungsräume
eröffnet. Die Bildungsfigur Hiromi möchte ich daher als westlich orientierte,
reflexive Bildungsfigur bezeichnen.

5.4.3 Vergleich der Bildungsfiguren

Im Vergleich der Bildungsfiguren möchte ich zunächst Lisa und Jonko gegen-
überstellen. Beide haben gemein, dass sie ihre Eltern ablehnen. Jedoch erge-
ben sich daraus verschiedene Handlungsstrategien. Während Lisa eher vor
ihren Eltern flieht und im Zuge des Geldverdienens mit ihren moralischen
Grenzen konfrontiert wird, versucht Jonko die Grenzen auszureizen, um ihre

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 87


Wut deutlich zu machen. Dem Rückzug aufgrund von Wertdifferenzen steht
also ein offensiver Umgang mit der Gesellschaft entgegen. Auch in der Art,
wie die beiden Freundschaften schließen, gibt es große Unterschiede. Ist Lisa
eher zurückhaltend und baut auf Vertrauen, welches jedoch immer über die
Zeit aufgebaut werden muss, ist Jonko sehr offen in Bezug auf Freundschaf-
ten und vertraut sehr schnell. Hieran zeigen sich auch die Orientierungsmus-
ter sehr deutlich. Lisa ist abwiegend und reflektiert insbesondere moralische
Widersprüche und Verwerfungen. Jonko hingegen verfolgt eine rationalere
Strategie. Je nachdem ob ihr jemand gut gesonnen ist oder nicht baut sie
Vertrauen sehr schnell auf. Anhand von Lisa wird auch deutlich, dass jemand,
der ihr nichts getan hat, grundsätzlich Vertrauen erfährt.

Vergleicht man nun Hiromi mit Lisa und Jonko, so wird zunächst deutlich,
dass sie in Bezug auf Freunde eher konservativ ist. Sie versucht ihr soziales
Umfeld konstant zu halten. Diese konservativ, affirmative Haltung wird erst mit
der durch den Ring einsetzenden Suchbewegung aufgelöst. Sie ist allein und
reizt ihre persönlichen Grenzen aus. Hier wird deutlich, dass die Grenzauswei-
tung allen drei Bildungsfiguren gemein ist. Während Lisa letztlich Japan ver-
lässt und Yonko neue Freunde gefunden hat, wird Hiromi auf sich selbst zu-
rück geworfen, löst sich von ihren konservativen Vorstellungen und schafft
sich neue flexible Handlungs- und Erfahrungsspielräume. Vergleicht man die
Bildungsfiguren Lisa und Hiromi, so wird deutlich, dass beide auf unter-
schiedliche Art reflexiv sind. Während Lisa vor allem innerhalb einer affirmativ
wirkenden Fluchtbewegung darüber reflektiert, wie weit sie für Geld gehen
kann, ohne dass sie sich selbst untreu wird, entwickelt sich Hiromis affirmati-
ves Handlungsmuster hin zu einem flexibilisierten, reflexiven. Bei beiden wird
daher die Prozesshaftigkeit des Reflexiven sehr deutlich, welche mit Ende des
Films keinesfalls abgeschlossen ist, sondern sich weiterentwickelt.

5.5 DAS ALTERNIERENDE MUSTER

5.5.1 Matsuko (Kiraware Matsuko no isshô)

Matsukos Leben ist von kleinauf nicht einfach, da ihre Schwester schwer er-
krankt ist. Daher erfährt sie selten Zuneigung von ihrem Vater, welchen sie

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 88


sehr schätzt. Diese Konfliktsituation eskaliert, als sie ihren Beruf als Lehrerin
verliert und ihr Zuhause verlässt. Matsukos weiterer Werdegang ist sehr gut
mit einer Suchbewegung zu beschreiben. Ziel dieser Suche ist das Ankom-
men in familiären, liebevollen Umgebungen. Gemäß dem alternierenden Mus-
ter ist Matsukos Leben von starker Kontingenz geprägt. Dies wird auf film-
sprachlicher Ebene vor allem durch die Farbgebungen der einzelnen Ab-
schnitte deutlich. Matsukos Handlungsmuster sind daher zyklisch und gleich-
bleibend. Interessant ist hierbei der Aspekt, dass sie oft denkt, ihr Leben sei
vorbei. Zudem verliert sie immer mehr familiäre Bezugspunkte im Verlauf des
Films. Jedoch kommt es nach einem tragischen Ereignis immer zu starken
Neuorientierungen bzw. Lebensentwürfen, welche sich vor allem auf die Tä-
tigkeit und das Aussehen Matsukos auswirken. Die Bildungsfigur Matsuko ist
in ihrem Handlungsmuster affirmativ, da sie selbst unter schwierigen Bedin-
gungen darin verharrt. Jedoch orientiert sie sich unter pragmatischen Ge-
sichtspunkten immer wieder neu, ohne hierbei im westlichen Sinne reflexiv zu
sein.

5.5.2 Tomé (Nippon konchuki)

Tomé hat es als uneheliches Kind von Anfang an nicht leicht in ihrem Dorf.
Durch Rückschläge, wie dem für sie unbegreiflichen Kriegsende, wird sie im-
mer wieder gezwungen in ihr Dorf zurückzukehren. Das macht sie in Bezug
auf ihren Vater gern, jedoch nicht in Bezug auf ihre restliche Familie, welche
sie nicht respektiert. Schließlich geht sie nach Tokio und wird auf Umwegen
Prostituierte. Jedoch bilden ihr Vater und ihre Tochter immer wieder Bezugs-
punkte, welche sich in der Statue der Berggöttin ausdrücken. Tomé hegt da-
her zum einen den Wunsch, mit Vater und Tochter wieder vereint zu sein. An-
dererseits auf der anderen das Dorf wegen ihrer Verwandtschaft zu meiden.
Als sie jedoch selbst Geschäftsfrau wird und eine Telefonservice aufbaut,
nimmt die Zuneigung zu Tochter und Vater ab. Sie wirkt kühl gegenüber ihrer
Tochter. Als ihr Vater stirbt und sie ins Gefängnis kommt, ändert sich dieses
Verhältnis. Sie will mit ihrer Tochter zusammen in der Stadt leben, was für sie
einen bequemen Kompromiss darstellt. Jedoch will ihre Tochter auf dem Land
leben, was die Ambivalenz weiter aufrecht erhält. Auf filmsprachlicher Ebene
wird dieses ambivalente Verhältnis vor allem mit Standbildern und gesunge-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 89


nen Kommentaren dargestellt, welche Tomés innere Gefühle und ihre äußeren
Handlungen trennen bzw. diese plausibel machen. Die Bildungsfigur Tomé ist
in ihrer Zielstellung, Familie und bequemes Stadtleben zusammen zu bringen,
als affirmativ anzusehen. Jedoch ist sie auch sehr pragmatisch, was sie einer-
seits zu einer tüchtigen Geschäftsfrau macht und sie zeitweise auch zurück in
ihr Dorf gehen lässt. Es findet keine Reflexion über die Gegenläufigkeit ihrer
Entscheidungen statt, welche immer wieder tragische Momente hervorrufen.
Diese kann sie jedoch stets per pragmatisch orientierter Neuorientierung ü-
berwinden.

5.5.3 Vergleich der Bildungsfiguren

Die Bildungsfiguren Matsuko und Tomé weisen sehr viele Ähnlichkeiten auf.
So sind beide bereits in der Kindheit Außenseiter innerhalb ihrer Familien.
Auch in ihren Handlungsstrategien lassen sich Gemeinsamkeiten ausmachen.
Beide verharren so lang in einer Umgebung, bis diese aufgrund der eigenen
Unfähigkeit zur Veränderung, scheitert. Jedoch scheitern die Bildungsfiguren
nicht mit der Situation. Bei ihnen findet auf Grund rationaler Entscheidungen
eine Neuorientierung statt, welche meist in einem neuen Beruf und sozialen
Umfeld endet. Trotz dieser Kontingenzen und Werteänderungen ist beiden
auch gemein, dass die Sehnsucht nach einem familiären Umfeld konstant
bleibt und die zentrale Suchbewegung beider darstellt.

5.6 VERGLEICH DER ENTWICKLUNGSMUSTER MIT DEN BILDUNGSFIGUREN

Aufbauend auf dem Vergleich der Bildungsfiguren möchte ich nun untersu-
chen, wie diese im Zusammenhang mit den Entwicklungsmustern zu verste-
hen sind und ob es Charakteristika in Bezug auf Entwicklungsmuster und Bil-
dungsfiguren gibt.

1. Yumekos und Tomes Entwicklungskurven erscheinen zunächst unter-


schiedlich. Während Yumekos Wahnsinn mit einem punktuellen Ereignis, der
Abkehr ihres Sohnes, beginnt, ist Tomes Entwicklungskurve eine stetige Be-
wegung in die soziale Isolation mit dem Resultat, dass sie sich am Ende nur
noch als Objekt sieht. Gleich ist beiden Bildungsfiguren, dass sie affirmative
Handlungsstrategien haben und keine reflexiven Bearbeitungsstrategien. Da-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 90


her scheint das Muster des Scheiterns nur affirmative Bildungsfiguren aufzu-
zeigen. Das Gegenteil, ein hochreflexiver Typ, welcher dadurch immer mehr
die Orientierung verliert, zeigte sich nicht in diesem Muster.

2. Yasumi und Fusake bilden gegensätzliche Bildungsfiguren. Während Ya-


sumi affirmativ und unreflektiert auf das Ziel der Abkehr, findet die Abkehr bei
Fusake durch Reflexion statt. Das zeigt, dass die Abkehr von der Prostitution
mehrere Handlungsmuster bzw. verschiedene Bildungsfiguren haben kann.
Gemein ist beiden Protagonistinnen, dass die Abkehr gefährlich bzw. lebens-
bedrohlich ist.

3. Hanaes und Ais Entwicklungskurven sind ähnlich. Beide bleiben in der


Prostitution trotz negativen Ereignisse, wie dem Suizidversuch von Hanaes
Mann oder das Verlieren des Rings bei Ai. Hier zeigt sich aber auch der Un-
terschied zwischen beiden Protagonistinnen. Während Hanae vor einem ma-
teriellen Abgrund steht, welcher ihre Familie bedroht, steht Ai an einem sozia-
len Abgrund, während es ihr materiell gut geht. Es wird deutlich, dass es viel-
fältige Gründe gibt als Prostituierte den Alltag zu bestreiten. Ebenso vielfältig
sind auch die Bildungsfiguren im Muster.

4. Die Entwicklungskurven von Lisa und Hiromi verlaufen ähnlich. Jedoch be-
findet sich Lisa in einer Fluchtbewegung und wird durch die Grenzerfahrun-
gen mit ihren Kunden in ihrer moralischen Haltung gestärkt. Bei Hiromi han-
delt es sich dagegen um eine Suchbewegung, welche durch ein Schockmo-
ment in eine Reflexion mündet. Beide Protagonisten sind also als reflexiv ein-
zustufen. Jonko hat ebenfalls eine ähnliche Verlaufskurve. Jedoch befindet sie
sich in einem Prozess des Auslotens von gesellschaftlichen Grenzen. In Be-
zug auf die Art der Orientierung, zeigt Jonko ein sehr pragmatisches Hand-
lungsmuster. Alle drei Bildungsfiguren eint, dass sie sich nicht aus reiner ma-
terieller Not sich in die Prostitution begeben. Vielmehr handelt es sich bei den
Ausflügen um Situationen, welche durch Grenzerfahrungen Orientierungsleis-
tungen möglich machen. Das zeigt sich auch darin, dass sich kein Muster
ausmachen ließ, welches den Weg in die Prostitution ohne Rückkehr zeigte.
Dies könnte vielleicht am zeithistorischen Hintergrund des enjo-kōsai liegen,
welches die Filme thematisieren.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 91


5. Matsuko und Tomé weisen sehr ähnliche Handlungsmuster und Verlaufs-
kurven auf. Hierbei gibt es immer scheinbar affirmative Abschnitte, welche nur
durch große Kontingenz beendet werden können. Jedoch zeigt auch, dass
Neuorientierungen für beide Protagonisten kein Problem darstellen, obwohl
es keine Anzeichen für reflexive Prozesse im Filmmaterial gibt. Vielmehr
durchlaufen beide Protagonisten Zyklen. Matsukos Zyklus wird durch Farben
(Hoffnung, Lebensmut, Rückschläge, Trauer) symbolisiert, während Tomé ei-
nen Zyklus zwischen dem Leben auf dem Dorf bei der Familie und dem mo-
dernen Leben in der Stadt durchläuft. Hier zeigt sich im Material ein japani-
sches Orientierungsmuster wohl am deutlichsten. Beide Filme bearbeiten die
Gegensätze des Naturzustands der Familie und der institutionellen Welt, so-
wie das Pendeln zwischen diesen. Daher ist das alternierende Muster wohl
das „japanischste“ Muster in dieser Arbeit.

5.7 BILDUNGSFIGUREN UND ORIENTIERUNGSKONZEPTE

Bei der Untersuchung der Bildungsfiguren kristallisierten sich drei verschiede-


ne Orientierungstypen innerhalb dieser heraus. Zum einen zeigte sich ein af-
firmatives Orientierungsmuster. Zu diesem zählen die Protagonisten Yumeko,
Yasumi und Tome. Allen ist gemein, dass keine Flexibilisierung oder Neuorien-
tierung stattfindet. Vielmehr folgen sie einem in sich starren Orientierungs-
pfad, welcher für Yumeko und Tome in einer unüberwindlichen Orientierungs-
krise endet.

Anders verhält sich bei den reflexiven Typen in dieser Arbeit. Hier ist eine Dif-
ferenzierung zwischen westlichen und japanischen Typen unerlässlich. Die
westlich reflexiven Typen zeichnen sich vor allem durch übergreifende, univer-
sale Wertvorstellungen- und Orientierungen aus. Das heißt, dass die Protago-
nistinnen sich mit der (universalen) Welt ins Verhältnis setzen. Zu diesem Typ
zählen die Protagonistinnen Fusake, Lisa und Hiromi. An dieser Stelle möchte
ich nochmals auf die qualitativen Unterschiede der Reflexionen hinweisen,
welche insbesondere bei Lisa und Hiromi trotz gleichem Entwicklungsmuster
deutlich werden.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 92


Der zweite reflexive Typ, welcher japanischer Natur ist, lässt sich schwieriger
als der westliche fassen. Das liegt vor allem daran, dass ich nicht alle Symbo-
le der Filme „japanisch“ deuten kann. Jedoch wird in den Orientierungen
deutlich, dass Neuorientierungen anders verlaufen als beim westlichen Typ.
Zum japanischen Typus gehören die Protagonistinnen Jonko, Matsuko und
Tomé. Ihnen ist vor allem der Pragmatismus bei Kontingenzen gleich, welche
reine scheinbar problemlose Neuorientierung zulässt. Interessant ist hierbei,
dass die Prozesshaftigkeit innerhalb der Reflexionen nicht offensichtlich wird.
Lediglich bei Matsuko und Tomé wird durch verschiedene Erzählebenen die
innere und äußere Gefühlswelt teilweise deutlich gemacht. Dennoch scheinen
viele Lebensabschnitte aus westlicher Sicht von Affirmation geprägt zu sein.
Vor dem Hintergrund der sekulären japanischen Denkweise jedoch wird deut-
lich, dass sich die Protagonistinnen einem ständigen Wechsel zwischen „na-
türlichem Zustand“ und Institutionen unterworfen sind, welche ein pragma-
tisch orientiertes Reflexionsmuster zur Folge haben. Die Prozesshaftigkeit ist
also im Wechsel zwischen den Situationen immanent.

Unter diesen Gesichtspunkten lohnt es sich, die Protagonistinnen Hanae und


Ai zu betrachten. Legt man diesen eine japanische Orientierung zu Grunde, so
ergeben sich durchaus Unterschiede zu dem rein affirmativen Muster. So
würde Hanae durch den Wechsel zwischen Beruf und Familie zwar keine
Neuorientierung vollziehen, aber dennoch pragmatisch reflexiv sein. Bei Ai
würde sich die reine Affirmation durch die Suche nach dem „natürlichen Zu-
stand“ in eine reflexive Suchbewegung wandeln. Bei Yumeko, Yasumi und
Tome jedoch würden im Ergebnis keine Änderungen auszumachen sein. So
ist bei Yasumi kein Privat- oder Familienleben erkennbar. Sie bleibt in der Rol-
le der Geschäftsfrau. Yumeko und Tome dagegen zeigen zwar eine Trennung
von Privat- und Berufsleben auf, scheitern aber letztlich in einer Orientie-
rungskrise.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 93


6 Fazit
6.1 ZUSAMMENFASSUNG

Das Ziel dieser Arbeit war es Orientierungsleistungen von Prostituierten im


japanischen Film qualitativ zu erfassen und daraus Muster zu bilden. Zudem
sollte auch geprüft werden, ob ein westlich geprägter Bildungsbegriff im ver-
wendeten Filmmaterial greifen kann, oder ob es andere Formen der Orientie-
rung und Reflexion gibt.

Zunächst musste geklärt werden, wie in Japan Prostitution verstanden wird.


Hierzu gab ich einen kurzen historischen Überblick und grenzte den Begriff
entsprechend ein. Die Wahl der Berufsgruppe der Prostituierten traf ich vor
allem unter dem Gesichtspunkt, dass diese schwache institutionale Bindun-
gen haben. Ich schlussfolgerte zunächst, dass sich hier wohl am ehesten Bil-
dungsprozesse westlichen Typs finden lassen würden. Darauf folgend erläu-
terte ich die strukturale Bildungstheorie, die auf ihr aufbauenden strukturalen
Medienbildungstheorie sowie den Begriff des Orientierungswissens. An-
schließend ging auf ein japanisches Verständnis von Moderne, Identität und
Reflexivität ein. Somit wurde deutlich, dass es durchaus andere Typen von
Reflexivität in der Untersuchung geben könnte. Schließlich grenzte ich das
untersuchte Feld in Bezug auf das Filmmaterial ein und stellte das Filmanaly-
semodell nach Bordwell und Thompson vor. Ausgangspunkt für die Erarbei-
tung der Entwicklungsmuster war eine Rekonstruktion der Story und eine
Formanalyse des jeweiligen Films. Die Formanalyse sollte hierbei das zentrale
Moment der Untersuchung darstellen, da sich gemäß der strukturalen Medi-
enbildungtheorie Bildungspotentiale nur über Strukturen bestimmen lassen.
Hierbei analysierte ich die Narrationsstruktur, die Mise-en-Scène, die Kinema-
tografie, das Editing und den Sound.

Zunächst ergaben sich aus der inhaltlichen Ebene fünf Entwicklungsmuster,


welche zeigen sollten, wie sich die Protagonistinnen während des Films ent-
wickeln. Zudem führte ich eine Formanalyse durch, um zunächst aufzuzeigen,
wie der Film die Entwicklungen der Protagonistinnen umsetzt. Dem nachge-

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 94


stellt erfolgte eine Ausarbeitung der Bildungsfiguren, welche ich auf ihre Ori-
entierungsleistungen hin untersuchte.

Es wurde in einem darauf folgenden Vergleich deutlich, dass es Zusammen-


hänge zwischen den Bildungsfiguren und den Entwicklungsmustern gab. Im
Muster des Scheiterns gab es ausschließlich affirmative Typen, während es im
alternierenden Muster nur japanisch reflexive Typen gab. Lediglich das Muster
der Freiheit zeigte hier kein eindeutiges Ergebnis. Das lag vor allem an den
Entwicklungskurven der Protagonistinnen. Während Yasumi von Anfang an
auf die Abkehr geradlinig affirmativ hinarbeitete, fasste Fusake erst durch Re-
flexion den Entschluss, sich von der Prostitution abzuwenden. Überwiegend
westlich reflexiv waren die Bildungsfiguren im Muster des Ausflugs. Lediglich
Jonko bildete eine Ausnahme, da sie japanisch reflexiv war. Im Muster des
Alltags ließen sich unter japanischen Gesichtspunkten durchaus reflexive
Momente ausmachen, welche unter westlichen Gesichtspunkten affirmativ
erschienen. Zusammenfassend ergab sich ein affirmatives, ein westlich refle-
xives und ein japanisch reflexives Orientierungsmuster beim Vergleich aller
Figuren.

Es wurde daher deutlich, dass es andere Formen der Orientierung und Refle-
xion im untersuchten Material gibt. Ich möchte nun kurz ausführen, was die
strukturale Medienbildungstheorie in Bezug auf diese Arbeit erfassen konnte
und was nicht. Zudem möchte ich auch zusätzliche Perspektiven auf die Bil-
dungspotentiale im Filmmaterial eröffnen.

6.2 STRUKTURALE MEDIENBILDUNG UND JAPANISCHER FILM

Der Blick auf Filme eines fremden Kulturkreises kann grundsätzlich aus zwei
Perspektiven erfolgen. Der erste Blick ist sehr gut mit dem Begriff der Fremd-
heitserfahrung zu fassen, wenn Außenstehende mit ihrem Verständnis von
Welt auf Filme eines anderen Kulturkreises schauen. Aus Sicht der struktura-
len Medienbildung würde das also bedeuten, sich auf andere Sichtweisen auf
Selbst und Welt einzulassen. Durch die Erfahrung von Alterität werden Refle-
xionsräume geschaffen, welche es möglich machen, dass das eigene Selbst-
und Weltbild mittels Reflexion verändert werden kann. Hierbei ist die Fähigkeit

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 95


des Umgangs mit dem Fremden, welches möglicherweise fremd bleibt, zent-
ral (vgl. Marotzki/Jörissen 2008: 56f).

Der zweite Blick auf diese Filme, ist ein Blick mit Wissen über eine andere
Kultur. Diese Perspektive hat einen soziologischen Charakter, kann aber
ebenfalls für bildungstheoretische Betrachtungen fruchtbar gemacht werden.
Schaut man sich die Voraussetzungen der strukturalen Bildungstheorie an,
die These der Individualisierung und die These der Kontingenz, so wird
schnell klar, dass dieser Begriff von Bildung nicht unbedingt für den unter-
suchten Kulturraum Japan gültig sein muss. Aus der soziologischen Perspek-
tive ergibt sich zunächst, dass Japan zwar eine moderne Industrienation ist,
die Moderne mit der Institutionalisierung jedoch andere Konsequenzen für die
Menschen in Japan hat, was unter anderem auf die nicht-axiale Zivilisation
Japans zurückgeführt werden kann (vgl. Eisenstadt 1999: 67f).

In dem von mir untersuchten Filmmaterial zeigt sich ein ambivalentes Bild in
Bezug auf die strukturale Bildungstheorie. Es sind durchaus westlich reflexive
Bildungsfiguren im Material zu finden. Interessant ist dabei, dass diese in Be-
zug auf Institutionen der Prostitution (z.B. Bordelle oder Telefon-Clubs) keine
Bindungen zu diesen hatten. Vielmehr sind alle drei Charaktere in ihrer Ent-
wicklung ausgeprägt westliche Charaktere, mit westlichen Weltbildern, was
für die These der Individualisierung sprechen würde. Zudem gehen sie auch
mit Kontingenz im westlichen Sinne reflexiv um. Das Material zeigte hierbei in
seiner Struktur den prozesshaften Charakter dieser Orientierungsleistungen.

Jedoch zeigte das Forschungssample auch Gegenbeispiele. So sind die ja-


panisch reflexiven Typen aus westlicher Sicht affirmative Typen, mit der Fä-
higkeit zur Neuorientierung. Mit dem Wissen über japanische Formen der Re-
flexivität jedoch wird deutlich, dass das scheinbar Affirmative eine permanen-
te Orientierungsleistung ist. Hierbei ist auch wesentlich, dass Japaner sich
innerhalb einer Institution über diese definieren. So sieht man bei den japa-
nisch reflexiven Typen, dass diese zunächst institutional gebunden sind. Da-
her verstehen sich Prostituierte innerhalb ihrer Tätigkeit auch als solche. Zu-
dem erfolgt eine klare Trennung zwischen dem Leben in der Institution und
dem Leben in den Familien, welches auch als natürlicher Zustand bezeichnet

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 96


wird. Diese sekuläre Denkweise bedeutet letztlich, dass die These der Indivi-
dualisierung nicht sehr naheliegend wäre, wenn das Individuum sich situativ
gänzlich über eine Institution definiert. Zudem ist der Umgang mit Kontingenz
auch ein anderer. Scheinbar problemlos können sich die Protagonistinnen in
Folge von offensichtlicher Kontingenz neuorientieren.

Die strukturale Medienbildungstheorie scheint daher nur einen Teil meines


Forschungssamples bildungstheoretisch erfassen zu können, da sie auf ei-
nem westlichen Verständnis von Moderne und Reflexivität aufbaut. Deshalb
kann diese die Relevanzstrukturen nur mit spezifischer soziologischer Hilfe für
Personen des fremden Kulturkreises herausarbeiten. Diese Arbeit stellt daher
einen ersten Versuch dar, das Grundprinzip einer strukturalen Analyse von
Bildungspotentialen auf andere Kulturräume anzuwenden. Jedoch gibt es
hierbei noch eine offene Fragen, welche ich nun kurz vorstellen möchte.

6.3 OFFENE FRAGEN UND AUSBLICKE

In dieser Arbeit wurde klar, dass es bei den Protagonistinnen durchaus unter-
schiedliche Orientierungsmuster und Formen der Reflexivität gibt. Daher gilt
es noch zu klären, wie man diesen Begriff von Reflexivität präzisieren könnte.
Hierzu könnte man das Feld auf den Bereich des „Wasserhandels“ ausweiten
und Hostessen (als relativ neue Erscheinung) und Geishas (als eher traditio-
nelle Erscheinung) mit in die Untersuchung einbeziehen. Denkbar wäre, dass
durch diese Weitung des Feldes reflexive Differenzen deutlicher werden könn-
ten. Im Zusammenhang mit dem Filmmaterial wurde auch ersichtlicher, dass
es in Japan westliche Einflüsse in Bezug auf Selbst- und Weltverhältnis gibt.
Das wirft natürlich die Frage auf, ob es reflexive Misch- bzw. Transformati-
onstypen gibt. In Anbetracht eines sekulären und eines universellen Weltbil-
des scheint diese Vorstellung nicht abwegig. Genau in der Bearbeitung dieser
Widersprüchlichkeit könnte eine interessante Form von Reflexivität auftau-
chen. Um diese Überlegungen zu prüfen, müsste man letztlich eine japani-
sche und eine westliche Lesart in Bezug auf die Relevanzstrukturen der Pro-
tagonisten entwickeln und verbinden.

Christopher Könitz - Die gebrochenen Chrysanthemen 97


7 Literatur- und Quellenverzeichnis
7.1 LITERATURVERZEICHNIS:

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Beiträgen für eine internationale wissenschaftliche Konferenz über "Ja-
pan und Max Weber" hervorgegangen, die im März 1993 in München
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Marotzki, Winfried; Jörissen Benjamin (2008): Wissen, Artikulation und Bio-
graphie: theoretische Aspekte einer Strukturalen Medienbildung. In:
Fromme, Johannes; Sesink, Werner (Hg.): Pädagogische Medientheorie.
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Maruyama, Masao; Seifert, Wolfgang (1988): Was man ist und was man tut.
In: Maruyama, Masao; Schamoni, Wolfgang; Seifert, Wolfgang (Hg.)
(1988): Denken in Japan. 1. Aufl. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 135-
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7.2 FILM- UND BILDQUELLEN 21

Anno, Hideaki (1998): Love & Pop. Japan.

Harada, Masato (1997): Baunsu ko gaurusu. Japan.

Imamura, Shohei (1963): Nippon konchuki. Japan.

Kenji Mizoguchi (1948): Yoru no onnatachi. Japan.

Kenji Mizoguchi (1952): Saikaku ichidai onna. Japan.

Kenji Mizoguchi (1956): Akasen Chitai. Japan.

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Nakashima, Muneki (2006): Kiraware Matsuko no isshô. Japan.

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Tanaka, Noboru (1974): (Maruhi) shikijô mesu ichiba. Japan.

Yasujiro Ozu (1953): Tôkyô monogatari. Japan.

Yasujiro Ozu (1957): Tôkyô boshoku. Japan.

21 Sämtliches Filmmaterial lag in japanischer Sprache mit englischen Untertiteln vor.

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