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Arbeitsmarkt?
Eine kritische Betrachtung des Vorschlags zur
Schaffung von Vollbeschäftigung durch die Bildung
einer Schwankungsreserve an Arbeitskräften
Hubert Hieke
1. Einleitung
Die gegenwärtige Debatte zur Reform des Sozialstaates und zur Vermin-
derung der Arbeitslosigkeit insbesondere im Niedriglohnsektor, oft zu-
sammengefasst unter den Schlagwörtern „Fördern und Fordern“, wird in
der Bundesrepublik von unterschiedlichsten Vorschlägen meist neoklas-
sisch orientierter Ökonomen begleitet, deren Thesen sich oft an angel-
sächsische Ansätze anlehnen, wenngleich bisweilen die besondere sozial-
staatliche Verantwortung herausgestellt wird. Daneben hat in den letzten
Jahren auch eine Gruppe meist amerikanischer Wirtschaftswissenschaft-
ler, die sich eher progressiven Strömungen zugehörig fühlt und gemein-
hin zur postkeynesianischen Schule gerechnet wird, alternative Ansätze
erarbeitet, die dem Staat eine entscheidende Rolle als „employer-of-last-
resort“ (ELR) zuschreibt, durch die gewissermaßen ein Automatismus
der Vollbeschäftigung garantiert scheint.
Ziel dieses Aufsatzes ist es herauszuarbeiten, inwieweit diese Vor-
stellungen einen potentiellen Lösungsansatz für das deutsche Beschäfti-
gungsproblem speziell im Niedriglohnsektor bieten und als Basis eines
Gegenentwurfs zu neoklassischen Dogmen angesehen werden können.
Dabei werden drei Aspekte besonders betrachtet. Erstens wird gefragt,
inwieweit sich die Ursachenanalyse der ELR-Protagonisten bezüglich des
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Insbesondere durch das Kapitel zur Sozialhilfe in Sinn (2003).
Ökonomen, die sich in ihren Arbeiten eher der Tradition von Keynes
verbunden fühlen, betrachten Anstieg und Umfang der in der Bundes-
republik existierenden Arbeitslosigkeit und den zunehmenden Anteil der
Sozialhilfeempfänger an der Gesamtbevölkerung in wesentlichen Teilen
als das Ergebnis jahrzehntelanger einseitiger angebotsorientierter Wirt-
schaftspolitik sowie einer ebenso verfehlten Fiskal- und Geldpolitik in
Deutschland und neuerdings auch innerhalb der Eurozone. Andererseits
ist nicht zu leugnen, dass als Resultat dieser Wirtschaftspolitik inzwi-
schen ein enormer Angebotsüberhang auf dem Arbeitsmarkt entstanden
ist, der insbesondere im Niedriglohnsektor zu den massivsten Verwerfun-
gen seit der Nachkriegszeit geführt hat. Es ist daher nicht verwunderlich,
dass gegenwärtig die Debatten um die Reform des gesamten Sozialstaats
und über eine fast endlose Liste von Vorschlägen zu Lohnersatzleis-
tungen, kommunalen Tätigkeiten für Sozialhilfeempfänger, Mindestlöhne
und Minijobs, um nur einige Stichwörter zu nennen, ein ungeahntes Aus-
maß erreicht haben.
Insgesamt widerstehen in Deutschland bisher die meisten der progres-
siv orientierten Ökonomen dem Trend zu sogenannten marktgerechten
Anreizmodellen wie Lohnsubventionen, die seit Jahren von neoklassi-
scher Seite favorisiert und propagiert werden, und auch ein allgemeiner
gesetzlicher Mindestlohn findet aus guten Gründen keine allgemeine Zu-
stimmung. Angesichts eines Rekordniveaus an Arbeitslosigkeit und So-
zialhilfeempfängern stellt sich dennoch die Frage, ob nicht selbst bei
progressiv orientierten Ökonomen bisher unkonventionelle Maßnahmen
und Vorschläge Gehör finden und möglicherweise die traditionellen
makroökonomischen Methoden und Konzepte teilweise neu überdacht
werden sollten.
Jenseits des Atlantiks ist dies in den letzten Jahren schon geschehen.
Ein Teil der der postkeynesianischen Schule zugerechneten Wissen-
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Dabei handelt es sich im Kern um Ökonomen am Center for Full Employment and
Price Stability an der University of Missouri in Kansas City, USA, dem Jerome
Levy Economics Institute of Bard College in Annandale-on-Hudson, USA, und
dem Centre of Full Employment and Equity an der University of Newcastle,
Callaghan, Australien.
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Wenngleich sich einige spezifische und exemplarische Aussagen der Vertreter des
ELR-Ansatzes mutmaßlich auf die US-Ökonomie beziehen, wird das Modell bei-
spielsweise auch in Australien unter der Bezeichnung Job-Guarantee (JG) u.a. von
Cowling et al. (2003) vertreten. Jedenfalls sind die Befürworter des ELR-Modells
nicht der Auffassung, dass sie ein spezifisches, nur auf amerikanische Verhältnisse
zutreffendes Konzept entwickelt haben, sondern dass es sich beim ELR um den
einzig praktikablen universellen Ansatz zur Vollbeschäftigung in kapitalistisch or-
ganisierten Ökonomien handelt. Dies soll auch der hier in Anlehnung an den von
Forstater im Englischen gebrauchten Terminus „in capitalist economies“ deutlich
machen.
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Des Weiteren verweist Forstater auch darauf, dass Arbeitslosigkeit in kapitalis-
tisch organisierten Gesellschaften die Funktion einer Reservearmee im marxschen
Sinne erfülle.
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Für eine etwas abweichende Argumentationskette siehe Papadimitriou (1999, 6
ff.).
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Phelps (1994, 1997) und Sinn et al. (2002), die mit ihren Lohnsubventionsmodel-
len auf den Niedriglohnsektor fokussieren, betrachten Lohn- und Preisrigiditäten
offensichtlich nicht als systemimmanente Ursachen von Arbeitslosigkeit speziell im
Niedriglohnsektor. Vielmehr ist für sie die Unterbeschäftigung das Resultat der
staatlichen Außerkraftsetzung der Marktmechanismen durch Lohnersatzleistungen
und Einkommensgarantien. Sinn et al. führen darüber hinaus aus, dass aufgrund des
gegenwärtig zu hohen Lohnniveaus für einfache Tätigkeiten keine weiteren Arbeits-
plätze entstehen, andererseits wegen großzügig bemessener Lohnersatzleistungen
und Sozialhilfe der Anreiz fehlt, zu geringeren als den bestehenden Löhnen eine
Arbeit aufzunehmen (Sinn et al. 2002, 9).
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Über die prinzipielle Konzeption und Funktionsweise des ELR-Vorschlags als
Vorratsspeicher herrscht unter den Protagonisten Übereinstimmung. Siehe dazu
beispielsweise Wray (1997), Forstater (2002), Cowling et al. (2003) und Papadi-
mitriou (1999). Unterschiede bestehen zwischen den Befürwortern des Programms
bei Details zur Implementierung des Konzepts.
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Die ELR-Befürworter verwenden die Bezeichnung „buffer stock“. Der deutsche
Terminus Vorratslager mag dabei in seinem Bezug auf menschliche Arbeitskraft
unpassend erscheinen. Da aber beispielsweise Wray (1997, 7) explizit darauf hin-
weist, dass für das ELR-Modell die gleichen ökonomischen Kriterien und Gesetz-
mäßigkeiten Anwendung finden müssen, wie sie für herkömmliche Vorratslager
anderer Ressourcen gelten, ist diese Übertragung ins Deutsche durchaus gerechtfer-
tigt.
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Die ELR-Befürworter restringieren die Organisation dieser Tätigkeiten allerdings
nicht notwendigerweise auf staatliche Institutionen.
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Das ELR-Konzept wurde ursprünglich von Minsky (1986) angedacht.
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Neben dem über das ELR-Programm erzielten Einkommen haben die ELR-Be-
schäftigten auch Anspruch auf umfassende Sozialleistungen (Tcherneva 2003).
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Durch diesen Mechanismus erwarten sich die Protagonisten des ELR-Modells
einen Automatismus zur Lohn- und Preisstabilität. Es ist im Rahmen dieser Arbeit
nicht möglich, auf diesen eher fragwürdigen antiinflationären Mechanismus näher
einzugehen. Allerdings zeigen die nachfolgenden Ausführungen, wie die ELR-Be-
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Siehe Wrays Ausführungen in Glenn (2004, 4).
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Letztes würde allerdings wiederum im Gegensatz zu den Aussagen zum Inhalt
der staatlicherseits angebotenen Tätigkeiten stehen, die ja die Beschäftigten nicht
nur in eine Warteschleife einfädeln sollen, sondern deren Zweck, wie schon zu Be-
ginn dieses Abschnitts dargelegt wurde, vermeintlich auch der Erhalt und der Er-
werb von Qualifikation sein soll (Forstater 2002, 5; Tcherneva 2003, 9).
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Phelps (1994, 1997) und Sinn et al. (2002) sehen die Notwendigkeit für dauer-
hafte, aber marktkonforme staatliche Eingriffe in Form von Lohnsubventionen des-
halb als gegeben an, weil das zu erzielende Einkommen im Niedriglohnsektor, bei-
spielsweise für einfache Tätigkeiten, von ihnen als zu gering erachtet wird, um eine
gesellschaftlich akzeptable und materiell ausreichende Lebenshaltung zu führen. Im
Gegensatz zu Phelps, der den Staat grundsätzlich nur in der Rolle als ordnungspoli-
tischen Koordinator zur Schaffung eines marktkonformen Lohnanreizsystems sieht,
und längerfristig die Abschaffung von Lohnersatzleistungen fordert, sprechen sich
Sinn et al. daneben dafür aus, staatlicherseits Einkommensgarantien in Form der
Sozialhilfe, wenngleich auf drastisch reduziertem Niveau, weiter zu gewähren und
sie befürworten auch eine vorübergehende, öffentlich geförderte und organisierte
Arbeitsplatzgarantie (Sinn et al. 2002, 25ff.). Dabei geht es Sinn et al. speziell da-
rum, durch die reduzierte Sozialhilfe die Möglichkeit von Lohnsenkungen zu er-
reichen, und dennoch einen Korridor zwischen Löhnen für einfache Tätigkeiten und
Lohnersatzleistungen zu erhalten, der Arbeitsanreize gewährleistet.
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Dabei wird unterstellt, dass derartige Tätigkeiten nicht Bestandteil der ELR-Be-
schäftigungsprogramme sind.
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Zwar wird dieses Eingeständnis teilweise wortreich verklausuliert, dennoch las-
sen sich dafür genügend klare Aussagen unter den ELR-Anhängern finden. Siehe
beispielsweise Cowling et al. (2003, 18f.), die betonen, dass einer der Vorzüge des
ELR-Modells gegenüber partiellen Lösungen darin liegt, dass der Zwang zur Arbeit
für alle Berufsfähigen besteht.
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Angesichts der Tatsache, dass vielen Arbeitslosen sämtliche Wahlmöglichkeiten
genommen würden, erscheint es fast zynisch, wenn Papadimitriou (1999, 9) es als
einen der Vorzüge des Modells sieht, dass es auch lebenslange Karrieren innerhalb
des Vorratsspeichers ermöglicht.
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Siehe Papadimitriou (1999, 19f.) und Wray (1997, 5 f.).
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In einer bemerkenswerten Aussage stellt Wray fest, dass in Zeiten wirtschaft-
licher Expansion und der Gefahr des Abschmelzens des staatlichen Arbeitskräfte-
lagers durch Steuererhöhungen oder durch die Reduzierung der Staatsausgaben das
Wirtschaftswachstum gebremst und damit das Lager wieder aufgefrischt werden
könnte (1997, 7).
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Papadimitriou (1999) rechnet beispielsweise nicht mit der Streichung aller staat-
lichen Lohnersatzleistungen. Allerdings macht auch er, wie alle anderen Protago-
nisten des ELR-Konzepts, keine expliziten Aussagen zu dem hier diskutierten Sach-
verhalt.
erscheinen ließe, aber vielleicht auch daher, weil die Argumente der
ELR-Protagonisten gegen neoklassische Varianten von Lohnsubventio-
nen notwendigerweise an Schlagkraft verlieren würden. Denn nur bei
Ausschluss aller Lohnersatzleistungen wäre zu gewährleisten, dass Voll-
beschäftigung über den Staat als ELR garantiert würde. Sollten aber
Wahlmöglichkeiten für Nichtvermögende erwerbsfähige Arbeitslose be-
stehen bleiben, so stehen die ELR-Protagonisten vor demselben Dilemma
wie Phelps (1997)25, dem man seitens der ELR-Befürworter ja gerade
vorwirft, dass die quantitativen Beschäftigungseffekte26 seines Lohnsub-
ventionsmodells nur schwerlich eingeschätzt werden könnten27.
Zusätzlich ist es fast eine Ironie des Modells des Staates als ELR, dass
ihre Vertreter einerseits die herkömmlichen Mittel der Fiskal- und Geld-
politik als unzureichend, wenn nicht gar schädlich zur Erzielung von
Vollbeschäftigung ansehen, gleichzeitig aber eine Feinsteuerung des Ar-
beitskräftelagers mit eben diesen Instrumenten befürworten! So führt
Wray beispielsweise aus, dass bei Gefahr der Überfüllung des Lagers der
Staat anderweitige Ausgaben außerhalb des ELR-Bereichs tätigen sollte,
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Die folgenden Ausführungen gelten auch für den Ansatz von Sinn et al. (2002),
die ja, im Gegensatz zu Phelps, Lohnersatzleistungen explizit befürworten und da-
mit stärker in das Marktgeschehen eingreifen als dies bei Phelps der Fall ist. Sinn et
al. betonen, dass ihr Vorschlag, aus Gründen des Sozialstaatsgebots weiterhin die
Unterstützung durch Sozialhilfe für alle Berufsfähigen, aber nicht Berufswilligen
vorsieht. Wie schon festgestellt, sind diese Sozialleistungen aber auf ein äußerstes
beschränkt (Sinn et al. 2002, 43). Ähnlich dem ELR-Modell garantiert der Staat
nach den Vorstellungen von Sinn et al. allen Berufsfähigen und Berufswilligen ein
fixiertes Einkommen, welches über dem gesenkten Sozialhilfesatz liegt. Darüber
hinaus, wie im Phelpsschen Modell, wird reguläre Arbeit im Niedriglohnsektor über
eine Steuergutschrift subventioniert (Sinn et al., 2002, 43f.).
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Es ist im Rahmen dieses Aufsatzes nicht möglich, die Finanzierungsaspekte des
ELR-Modells zu beleuchten. Zu dieser Frage und der teilweise kontroversen Dis-
kussion siehe Aspromourgos (2000).
27
Es ist festzuhalten, dass der Vorwurf der ELR-Anhänger nur teilweise berechtigt
ist, da es sich offensichtlich um eine ansatzweise rhetorische Frage handelt, da
Phelps selbst eine genaue Quantifizierung der Beschäftigtenzunahme nicht explizit
proklamiert hat. Daneben wird Vertretern von Lohnsubventionsmodellen seitens
der ELR-Anhänger meist vorgeworfen, dass sie, entgegen ihres eigenen Anspruchs,
kein marktkompatibles System vorweisen, da Marktverzerrungen durch hohe Mit-
nahmeeffekte seitens der Unternehmen in Form von Substitution von regulären
durch subventionierte Arbeitskräfte nicht auszuschließen sind, und darüber hinaus
inflationäre Tendenzen nicht vermieden würden (Papadimitriou 1999, 13f.).
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Unter Verwendung neoklassischer Termini könnte man dann zu Zeiten natür-
licher Arbeitslosigkeit die Anzahl der im Arbeitsspeicher befindlichen Personen als
natürliche Schwankungsreserve auffassen.
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Inzwischen setzen sich einige der ELR-Befürworter näher mit alternativen Ein-
kommensgarantiemodellen auseinander. So beispielsweise Cowling et al. (2003)
und Tcherneva (2003). Im Rahmen dieser Arbeit, kann aber darauf nicht näher ein-
gegangen werden.
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Phelps und Sinn et al. vertreten ebenso die These, dass längerfristige Arbeits-
losigkeit ganzer Bevölkerungsgruppen zu sozialen Spannungen führt und diese
Personen wieder an den Arbeitsmarkt heranzuführen sind, um über eine berufliche
Tätigkeit Selbstachtung zurückzugewinnen und die Möglichkeit zur eigenen Ein-
kommenserzielung zu bekommen (Phelps 1997, 3).
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Derartige Programme scheint man auch in Deutschland im Rahmen von Hartz IV
anzudenken. So wurden kürzlich qualifizierte Arbeitslose von (halb)staatlichen
Stellen aufgerufen, an der Tsunami-Hilfe in Süd- und Südostasien teilzunehmen,
die durch öffentliche Gelder finanziert wird.
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Siehe dazu Deci und Ryan (1985, 1993), und Zimmermann (1999).
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Nur dann, wenn die Bedürfnisse nach Kompetenz, Autonomie und sozialer Ein-
bindung befriedigt sind, können die natürlichen Funktions- und Entwicklungspro-
zesse effektiv ablaufen.
5. Fazit
Literatur
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Selbst Ökonomen wie Bofinger (2003) beklagen beispielsweise mit Recht die
völlig verfehlte Konzeptionierung des EU-Stabilitätspakts.