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JULIUS CAESAR SCALIGER

POETICES LIBRI SEPTEM

Faksimile-Neudruck der Ausgabe von Lyon 1561 mit

einer Einleitung von August Buck

Stuttgart-Bad Cannstatt 1964 Friedrich

Frommann Verlag (Günther Holzboog)


Einleitung

Die dichtungstheoretischen und literarkritischen Erörterungen, die im Italien des 16.


Jahrhunderts angestellt worden sind und ihren Niederschlag in einem überaus
umfangreichen Schrifttum gefunden haben, sind für die normative Poetik des
europäischen Klassizismus und darüber hinaus für die Ausbildung der modernen
Literarästhetik von entscheidender Bedeutung. Obwohl dieser Sachverhalt unbestritten
und erst kürzlich wieder durch die Forschung bestätigt worden ist *, mangelt es noch an
einschlägigen Untersuchungen sowohl über die einzelnen italienischen
Dichtungstheoretiker und Literarkritiker des Cinquecento wie über deren Nachwirken in
der Folgezeit.
Die Lösung dieser Aufgabe, die dazu beiträgt, den strukturellen Zusammenhang der
europäischen Literaturen zu erhellen, wird dadurch erschwert, daß das Quellenmaterial
zum überwiegenden Teil nur in relativ selten gewordenen zeitgenössischen Editionen
vorliegt oder gar noch ungedruckt ist. Selbst diejenige Poetik, die vor allen anderen als
repräsentativ für die literarästhetischen Ideen der italienischen Spätrenaissance gelten
darf und einen dementsprechend großen Einfluß bis tief ins 18. Tahrhundert ausgeübt
hat, nämlich Scaligers „Poetices Libri Septem", haben zwar nach ihrem Erscheinen im
Jahre 1561 in den folgenden Jahrzehnten noch fünf weitere Auflagen erlebt 2, sind jedoch
bis heute noch nicht nach den Prinzipien der modernen Textkritik herausgegeben worden
3
.
Die Tatsache, daß Scaligers Poetik heutzutage nicht mehr zu den Texten gehört, über
die jede größere Bibliothek verfügt, mag einer der Gründe dafür sein, weswegen diese
vielleicht einflußreichste unter den humanistischen Poetiken nur selten eine eingehende
literarische Würdigung erfahren hat. Nachdem noch im vorigen Jahrhundert Lintilhac in
Scaliger den ..fondateur du classicisme" gefeiert hatte, der hundert Jahre vor Boileau
dessen wesentliche Lehren vorwegnahm4, und am Beginn unseres Jahrhunderts
Brinckschulte Scaligers kunsttheoretische Anschauungen und deren Quellen untersucht
hatte5, ist später zwar wiederholt auf die grundlegende Bedeutung von Scaligers
Systematisierung der vielschichtigen Auslegung der aristotelischen Poetik und der damit
zusammen-hängenden Dichtungstheorien hingewiesen worden, aber erst in jüngster Ver-

1
Vgl. B. Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance, The Uni
versity of Chicago Press (1961), 2 Bd.e und B. Hathaway, The Age of Criticism, The Late
Renaissance in Italy, Ithaca, New York (1962).
2
1561 (Genf und Lyon), 1581 (Heidelberg), 1586 (Heidelberg), 1594 (Leyden), 1607 (Heidel
berg), 1617 (Heidelberg).
3
Soweit mir bekannt ist, gibt es auch keine vollständige Übersetzung der Poetik in eine
moderne Sprache. Eine englische Übersetzung in Auswahl bietet F. M. Padelford, Select
Translations from Scaligera Poetics, New York 1905.
4
E. Lintilhac, De J. C. Scaligeri Poetice, Paris 1887; ders., Un coup d'état dans la République
des Lettres: Jules-César Scaliger, fondateur du «Classicisme» cent ans avant Boileau, in:
La Nouvelle Revue 64 (1890), 333—346; 528—547.
5
E. Brinkschulte, Julius Caesar Scaligers kunsttheoretische Anschauungen und deren Haupt
quellen, Bonn 1914.
VI EINLEITUNG

gangenheit hat man begonnen, Scaligers Poetik zum Gegenstand einer erneuten und
vertieften Interpretation zu machen, ohne daß jedoch bisher eine erschöpfende
Gesamtdarstellung erschienen wäre.
Das Interesse hat sich zunächst auf einzelne Fragen aus dem Bereich der Poetik
konzentriert: Weinberg bemüht sich um den Nachweis, inwiefern Scaliger von
Aristoteles abweicht, bzw. ihm bewußt widerspricht 6; der Verfasser der ersten kritischen
Biographie Scaligers7, Hall Jr., analysiert das an Scaligers Sohn Sylvius gerichtete
Vorwort zur Poetik8 und verfolgt die Parallelen zwischen der Poetik und der
„Declamatio" Scaligers „Contra Poetices Calumniatores" 9; mit Hilfe des Materials, das
er für eine geplante umfassende Behandlung der Poetik gesammelt hat, geht Corvaglia
der verwickelten Genesis des Werkes nach10, während es Costanzo in seiner Einführung
zur Poetik vor allem auf deren Beziehungen zur Ästhetik des literarischen Barock
ankommt11.
Die noch fehlende Monographie über Scaligers Poetik können und wollen die
folgenden Darlegungen nicht bieten; vielmehr sollen sie zuerst vermittels eines kurzen
Überblicks über die literarästhetische Ideengeschichte des 16. Jahrhunderts Scaligers
Standort in dieser Entwicklung bestimmen und sodann die Teile seiner Poetik
hervorheben, welche am stärksten auf die Folgezeit ausgestrahlt haben; kurz gesagt, ein
Versuch, von allgemeinen Fragestellungen aus den Zugang zum Text zu erleichtern und
damit dessen Interpretation vorzubereiten.
Als Scaligers Poetik 1561 erschien, war in Italien die allgemeine Diskussion über die
theoretischen Grundlagen der Dichtung und der sich daraus ergebenden Konsequenzen
für die Literaturkritik auf ihrem Höhepunkt angelangt. Nachdem man sich zunächst
vornehmlich darum bemüht hatte, die Dichtung als solche gegen ihre Widersacher zu
verteidigen und zu rechtfertigen, hatte das wachsende Bedürfnis der sich ihrer selbst
bewußt werdenden Renaissance nach theoretischer Besinnung und Formgebung im
literarischen Bereich zu einer Auseinandersetzung mit den wichtigsten
dichtungstheoretischen Zeugnissen der Antike, nämlich der platonischen Furorlehre, der
aristotelischen Poetik und Horazens Brief an die Pisonen. geführt und ein ausgedehntes
Schrifttum gezeitigt, wie es in diesem Umfang zu keiner anderen Zeit und in keinem
anderen Lande je hervorgebracht worden ist.
Wenn Scaliger in dem seiner Poetik als Vorwort vorangeschickten Brief an seinen
ältesten Sohn Sylvius den genannten Werken des Aristoteles und des Horaz, sowie den
1527 erschienenen drei Büchern von Marco Girolamo Vidas

8
B. Weinberg, Scaliger versus Aristotle on poetics, in: Modern Philology 39 (1942), 337—360.
7
V. Hall, Jr., Life of Julius Scaliger (1484—1558), in: Transactions of the American Philo
sophical Society, New Series, Vol. IV, Part 2 (1950), Philadelphia 1950 (enthält S. 163—165
eine Bibliographie der Sekundärliteratur über Scaliger).
8
V. Hall, Jr., The Preface to Scaligera "Poetices libri septem", in: Modern Language Notes
60 (1945), 447—453.
8
V. Hall, Jr., Scaligera defense of poetry, in: Publications of the Modern Language Association of America
63 (1948), 1125—1130.
10
L. Corvaglia, La „Poetica" di Giulio Cesare Scaligero nella sua genesi e nel suo sviluppo, in:
Giornale critico della filosofia italiana 38 (1959), 214—239.
11
M. Constanzo, Introduzione alla poetica di Giulio Cesare Scaligero, in: Giornale storico della
letteratura italiana 138 (1961), 1—38; abgedruckt in: M. Constanzo, Dallo Scaligero al Qua
drio, Milano 1961, 9—66.
EINLEITUNG VII

„De arte poetica" seine eigene Poetik als die erste vollständige Dichtungstheorie
gegenüberstellt, nennt er damit nur seine hauptsächlichen Quellen, gibt jedoch keinen
Hinweis darauf, daß seit dem Erscheinen von Vidas Poetik in einer Fülle teils
lateinischer, teils italienischer Traktate und Kommentare 12 die gleichen Grundfragen der
Dichtungstheorie bereits ausführlich erörtert worden waren, die auch Scaliger behandelt.
Denn seine Poetik kann gerade deswegen als repräsentativ für die dichtungstheoretische
Situation um die Mitte des 16. Jahrhunderts gelten, weil Scaliger eklektisch seine Ideen
der gesamten literarästhetischen Tradition der Renaissance entnommen hat.
Diese Tradition steht zunächst ausschließlich im Zeichen der Imitatio. die, ver-standen
als Nachahmung der antiken Musterautoren, zum Grundprinzip der humanistischen
Dichtungstheorie proklamiert worden war. Dabei ergibt sich von Anfang an das Problem,
wie aus diesem Prinzip feste Normen abgeleitet werden konnten und wie dann diese
Normen mit den überlieferten Rhetoriken und Poetiken in Einklang zu bringen waren.
Dank der zunehmenden Verbreitung der aristotelischen Poetik im 16. Jahrhundert13 wird
das Problem insofern vertieft, als man sich nunmehr fragt, wie sich die auf Grund
philosophischer Spekulation gewonnenen Einsichten in das Wesen der Dichtung zu der
Berufung auf das verbindliche Vorbild der Autoren verhalten. Nahezu alle Theoretiker
sehen die Lösung des Problems in einer Verbindung der Forderung nach Imitation mit
einem sich ständig weiter differenzierenden Regelkodex; ein Kompromiß, der durch die
Überzeugung gerechtfertigt erschien, daß die kanonisierten Autoren der Antike den für
alle Zeiten gültigen im Wesen der Dichtung begründeten Regeln gefolgt sind.

12
W. F. Patterson, Three Centuries of French Poetic Theory, Ann Arbor 1935, II, 25—50 u.
B. Weinberg, A History of Literary Criticism in the Italian Renaissance aaO. II, 1113—1158
geben Bibliographien des literarästhetischen Schrifttums der italienischen Renaissance. Im
folgenden eine Auswahl der wichtigsten Titel aus den Jahren 1527 bis 1558 (Todesjahr Scali
gere): 1527 M. G. Vida, De arte poetica; 1529 G. Trissino, La poetica, Divisioni IV; 1531
A. G. Parrasio (Parrhasius), in Q. Horatii Flacci Artem Poeticam commentaria; 1535 L. Dolce,
La Poetica d'Horatio (ital. Übers, mit Kommentar); 1536 B. Daniello, Della poetica; 1539
C. Tolomei, Versi e regole della nuova poesia toscana; 1540 L. G. Giraldi, De poetica et
et poetarum dialogus I; 1541 P. Gaurico (Gauricus), Super Arte Poetica Horatii. Ejusdem
legis poeticae epilogus; 1541 Ricci, De imitatione libri très; 1542 Sperone Speroni, I Dialoghi;
1544 G. C. Delminio, Due trattati, l'uno delle materie che possono venir sotto lo stile del
l'eloquente; l'altro della imitatione; 1548 F. Robortello, In librum Aristotelis de Arte Poetica
explicationes; 1549 B. Segni, Rettorica et Poetica d'Aristotele, tradotto di greco in lingua
volgare fiorentina; 1550 V. Maggi (Madius) u. B. Lombardi (Lombardus), In Aristotelis lib
rum de Poetica communes explanationes; et in Q. Horatii Flacci de Arte Poetica interpreta-
tio; 1551 G. Muzio, Tre libri di arte poetica; 1554 G. De Nores, In epistolam Q. Horatii
Flacci de Arte Poetica... interpretatio; F. Patrizi (Patrizio), Discorso della diversità de'
furori poetici; 1554 G. Giraldi Cintio, Discorso intoro al comporre dei romanzi, delle com
medie, tragedie e di altre maniere di poesia; 1554 A. Lionardi, Dialoghi della inventione
poetica; 1555 G. P. Capriano, Della vera poetica; 1555 G. Fracastoro, Naugerius, sive de
poetica dialogus; 1558 G. Viperano (Viperanus), De poetica libri très.
13
Im Jahre 1498 veröffentlicht G. Valla seine lateinische Übersetzung der aristotelischen Poetik,
deren griechischer Text, vielleicht von J. Lascaris herausgegeben, 1508 bei Aldus Manutius in
Venedig gedruckt wird; 1536 erscheint eine weitere (zuverlässigere) lateinische Übersetzung
aus der Feder von A. dei Pazzi; 1541 beginnt B. Lombardi die öffentliche Auslegung der
Poetik in Padua. F. Robortellos „Explicationes" von 1548 eröffnen die Reihe der großen
Kommentare der Poetik, die P. Beni 1613 beschließt.
Vili EINLEITUNG

Im Zusammenhang mit der Anerkennung der Notwendigkeit von Regeln, deren


Befolgung erst die Vollkommenheit eines Dichtwerks gewährleistet, bestimmt die
humanistische Dichtungstheorie das Verhältnis von angeborener dichterischer Begabung
und erworbener Kunstfertigkeit in Übereinstimmung mit Horaz (Ars poetica 408—411)
dahingehend, daß der Dichter zwar des naturgegebenen Talents bedarf, er jedoch erst
dann als Dichter gelten kann, nachdem er sich die dichterische Technik angeeignet hat.
Auch dort, wo auf der Basis des platonischen „furor"-Begriffs ein stärkeres Gewicht auf
der dichterischen Inspiration liegt, wie — unter dem Einfluß des Florentiner Piatonismus
— bereits im
15. Jahrhundert bei C. Landino und A. Poliziano und dann im 16. Jahrhundert
bei G. P. Capriano, F. Patrizi, G. Fracastoro und A. Minturno, werden nirgends
aus der Inspirationslehre neue Kriterien zur Beurteilung der Dichtung abgeleitet.
Diese wird fast ausnahmslos unter dem Aspekt einer idealen Vollkommenheit
betrachtet, in der die „ars" als die Gesamtheit aller Normen verwirklicht ist;
m. a. W. die normative Poetik wird im Rahmen der dichtungstheoretischen Er
örterungen der Renaissance nie ernstlich in Frage gestellt, ungeachtet der hier
und da laut werdenden Proteste gegen den Regelzwang.
Was die Ausbildung der normativen Poetik im allgemeinen charakterisiert, ist der
enge Kontakt zur Rhetorik. Wie die Antike und das Mittelalter zieht auch die
Renaissance keine scharfe Trennungslinie zwischen Rhetorik und Poetik. Die meisten
Theoretiker haben keine Bedenken, die Kategorien der Rhetorik ohne wesentliche
Einschränkungen auf die Poetik zu übertragen. Im 15. Jahrhundert dominiert sogar die
Rhetorik, da man primär an der Aufstellung einer humanistischen Stillehre interessiert
ist, die den Weg zur „eloquentia", zur Beherrschung der klassischen Eleganz des
Ausdrucks weist. Aber auch als M. G. Vida im Jahre 1527 die erste selbständige Poetik
der Renaissance veröffentlicht, gliedert er sie entsprechend den „rhetorices partes"
(Quintilian, Inst. or. Ill 3, 1) in „in-ventio", „dispositio" und „elocutio", die nach ihm in
zahlreichen Poetiken des
16. Jahrhunderts wiederbegegnen. Dabei wird der mit der „elocutio" überliefer
ten Lehre von den drei „genera dicendi", dem hohen, mittleren und niederen Stil,
eine entscheidende Funktion in bezug auf die dichterische Technik eingeräumt.
Auch seine hauptsächliche Quelle, die horazische „Ars poetica", deutet Vida weit
gehend vom Standpunkt der Rhetorik aus, so etwa dort, wo er die Stellung des
Dichters gegenüber seinem Publikum nach der des Redners ausrichtet.
Die Berücksichtigung der Wirkung auf das Publikum ist einer jener wesentlich durch
die Rhetorik geprägten Züge der Dichtungstheorie des 16. Jahrhunderts, die auch nach
der Rezeption der aristotelischen Poetik erhalten bleiben. Denn auch die aristotelische
Poetik wird durch ihre Interpreten bis zu einem gewissen Grade rhetorisiert. Einen
Ansatz dazu bot die von Averroes in seiner Paraphrase der Poetik vertretene Auffassung,
wonach die Dichtung im Sinne des „genus demon-strativum" als „laus" und
„vituperatio" verstanden wird; eine Auffassung, die im 16. Jahrhundert u. a. bei G.
Trissino sich wiederfinden läßt.
Mit der Vorstellung von Lob und Tadel wird die Zweckbestimmung der Dichtung
verknüpft, die in den meisten Fällen in Anlehnung an Horaz u und an die

„aut prodesse volunt aut delectare poetae" (Ars poetica 333).


EINLEITUNG IX

Rhetoriker15 erfolgt. Abgesehen von vereinzelten Ausnahmen wie etwa Fraca-storo 16 und
Castelvetro17 herrscht in der Dichtungstheorie der Renaissance die unerschütterliche
Überzeugung, daß das Ziel der Dichtung im moralischen Nutzen und in der angenehmen
Unterhaltung zu suchen ist. Dem „docere" und „delec-tare" fügen viele Theoretiker nach
dem Vorgang der Rhetorik18 noch das „movere" hinzu, d. h. die Erregung einer
seelischen Erschütterung im Leser oder Hörer. Indem G. Pontano 19 dem Dichter diese
drei Funktionen zuweist, stellt er zugleich fest, daß der Dichter der ihm damit gestellten
Aufgabe nur dann gerecht zu werden vermag, wenn er nicht nur über die dichterische
Technik, sondern über möglichst umfassende Kenntnisse auf den verschiedensten
Wissensgebieten verfügt. Nur der „poeta eruditus" ist in der Lage, andere zu belehren;
nur er kennt die Gemütsbewegungen, die das Leserpublikum erschüttern. Wiederum
konnte man sich auf Horaz berufen: „scribendi recte sapere est et principium et fons"
(Ars poetica 309). Dementsprechend fordert A. G. Parrasio in seinem Kommentar zur
horazischen Poetik: „Quemcumque autem poetam verum omnium peri tum esse oportet,
ut de unaquaque re copiose dicere." Und dann zählt er die Bereiche auf, in denen sich der
Dichter auskennen muß: die Sitten, Bräuche und Gesetze der verschiedenen Völker,
Einzelheiten über See- und Landstädte, der Ackerbau, die Kriegskunst, die Aussprüche
und die Taten berühmter Männer, ferner die Zeichenkunst, die Geometrie, die
Architektur und die Musik, die Naturwissenschaften und die Moralphilosophie,
schließlich noch die Medizin, die Jurisprudenz, die Astrologie und Astronomie 20. Als die
Dichter, die schlechthin aller Wissenschaften kundig waren, werden Homer und Vergil
verehrt; — und das bereits in der Spätantike, wo Homer in der dem Plutarch
zugeschriebenen Abhandlung „De vita et poesi Homeri" 21 als ein „Ozean" alles Wissens
gefeiert worden war und Servius bewundernd von Vergil bemerkt hatte, daß er „voller
Wissenschaft" wäre.
Nicht nur, weil der Dichter in allen Wissenschaften bewandert sein soll, kommt der
Dichtung als einer sozusagen universalen Wissenschaft eine Vorrangstellung zu, sondern
auch deswegen, weil die von der Dichtung vermittelte Belehrung den Menschen bessert
und somit glücklich macht. Die über alle Wissenschaften erhabene Dichtung tritt neben
die Philosophie, vornehmlich die Moralphilosophie, ja sie übertrifft dieselbe noch, da sie
an Stelle der abstrakten philosophischen Gebote lebensvolle Beispiele verwendet (G. P.
Capriano, Della vera poetica Vinezia 1555, cap. II). Eine solche Rangerhöhung der
Dichtung glaubte man

15
„Erit igitur eloquens ... is qui ita dicet, ut probet, ut delectet, ut flectat" (Cicero, De or. 21).
16
Fracastoro verwirft Nutzen und Ergötzung als Ziel der Dichtung, das er in der Verwirk
lichung der Idee der absoluten Schönheit im Ausdruck erblickt.
17
Nach Castelvetro besteht die alleinige Aufgabe der Dichtung darin, zu unterhalten und zu
ergötzen.
18
Quintilian, Inst. or. XII 10, 59. A. Lionardo fordert das „movere" mit der ausdrücklichen
Begründung, der Dichter solle etwas vom Redner übernehmen (Della Inventione Poetica, In
Veneria 1554, 10).
19
Aegidius (1501), in: Opera, Basileae 1556, 1481—1482.
20
In Q. Horatii Flacci Artem poeticam commentaria, Napoli 1531, 2v—3.
21
Die Abhandlung wird zu einem großen Teil von A. Poliziano in seiner „Oratio in expositione
Homeri" übernommen.
X EINLEITUNG
durch Aristoteles gerechtfertigt, konnte man doch bei ihm lesen, die Dichtung
unterscheide sich von der Geschichtsschreibung dadurch, daß jene vom Allgemeinen
redet und deswegen „philosophischer und edler" sei als diese, die vom Besonderen
handelt; eine Unterscheidung, die in die meisten Dichtungstheorien des 16. Jahrhunderts
eingegangen ist.
Gemeinsam mit der Geschichtsschreibung hat die Dichtung nach Aristoteles das
Prinzip der Nachahmung; denn beide ahmen die Natur nach, allerdings mit dem
Unterschied, daß die Geschichtsschreibung nur wirklich Geschehenes berichtet, die
Dichtung jedoch das darstellt, was geschehen kann. Da schon der aristotelische Begriff
der Mimesis nicht eindeutig ist — einerseits Nachahmung, verstanden als naturgetreue
Abbildung der Wirklichkeit, anderseits als Darstellung des in den Dingen enthaltenen
Universalen —, überrascht es nicht, daß die Forderung der Naturnachahmung bei den
Theoretikern des 16. Jahrhunderts vielfältige, z.T. sich widersprechende Auslegungen
erfahren hat. Im Zusammenhang damit fragt man sich, ob vom Standpunkt der Mimesis
aus die Dichtung an das Metrum gebunden ist, bzw. sein darf; fragt man sich weiter, ob
überhaupt und wenn ja, inwiefern die Lyrik als Nachahmung verstanden werden kann.
In dem Bestreben, die aristotelische Poetik sowohl mit der rhetorischen Tradition als
auch mit der „Ars poetica" des Horaz zu harmonisieren, deutet man einzelne
Grundbegriffe des Aristoteles um. So identifiziert A. Lionardi ohne weiteres die
aristotelische Mimesis mit der „inventio" der Rhetorik: „essendo lo scriuere
poeticamente null'altro, che imitare le attioni de gli huomini, se il Poeta non si servisse
ancora di questa guisa di parlare, sarebbe imperfetta la inuentione, ò imitatione" 22.
Während für Aristoteles die Nachahmung (und das durch sie bewirkte Wohlgefallen) das
Ziel der Dichtung ist, erscheint die Nachahmung den Theoretikern lediglich als Funktion
der Dichtung, deren Ziel durch die pädagogische Kunsttheorie festgelegt ist. Demzufolge
deutet man die aristotelische Feststellung, der Dichter berichte, was geschehen könnte, in
die moralische Forderung um, der Dichter hätte darzustellen, was geschehen sollte 23.
Ähnlich wird die von Aristoteles für die Nachahmung vom Dichter verlangte Wahrung
der Wahrscheinlichkeit auf das „decorum" und die „convenientia" bezogen, deren
Beachtung man aus der horazischen Poetik ableitete.
Nach dem gleichen Verfahren interpretierte man die von Aristoteles für die einzelnen
literarischen Gattungen aufgestellten Normen, indem man dieselben mit Hilfe des
literarästhetischen Traditionsgutes je nach Bedürfnis mehr oder weniger „korrigierte"
oder ergänzte. Wenn dabei im Vergleich zu der Behandlung von Tragödie und Epos die
übrigen Genera in den Hintergrund traten, ist dafür nicht nur der fragmentarische
Charakter der aristotelischen Poetik verantwortlich, sondern auch — und in stärkerem
Maße — die Tatsache, daß diese beiden Dichtungsformen kraft Gegenstand und Stil als
die vornehmsten gelten.
Im Mittelpunkt der Diskussion über die Tragödie standen deren kathartische Wirkung
und das Problem der dramatischen Einheiten. Über die nach Aristoteles durch die
tragische Erschütterung bewirkte Reinigung der Affekte gingen die An-

" Della inventione poetica, in Vinetia 1554, 14.


" So etwa G. Giraldi Cintio, Discorso intorno al comporre dei romanzi (1554).
EINLEITUNG XI

sichten der Interpreten auseinander. Während einzelne Theoretiker sich bereits der
modernen psychologisch fundierten Auffassung nähern, wonach Aristoteles unter der
Katharsis die Reinigung des Zuschauers von Furcht und Mitleid, sowie den ihnen
ähnlichen Affekten verstanden haben dürfte, herrscht die Meinung vor, daß auch die
Katharsis im Hinblick auf den moralischen Nutzen der Dichtung auszulegen sei. In dem
von V. Maggi und B. Lombardi gemeinsam verfaßten Kommentar zur Poetik wird
behauptet, die Katharsis könne nicht in der Befreiung von Mitleid (das eine Tugend ist)
und Furcht (die den Menschen von der Sünde abschreckt) bestehen, vielmehr in der
Reinigung von den Lastern, deren Darstellung die Gefühle des Mitleids und der Furcht
im Zuschauer auslöst24.
Obwohl bekanntlich Aristoteles nur die Einheit der Handlung in der Tragödie
gefordert hat, diese jedoch hinsichtlich der Zeitdauer nicht festlegt, sondern nur
konstatiert, daß die Handlung möglichst innerhalb eines Sonnenumlaufs abgeschlossen
sein oder nur ein wenig darüber hinausgehen soll, und schließlich über den Ort gar nichts
aussagt, ist trotzdem die für das gesamte Theater des europäischen Klassizismus
charakteristische Forderung nach der Wahrung der drei Einheiten der Handlung, der Zeit
und des Ortes aus der Auseinandersetzung mit der aristotelischen Definition der
Tragödie hervorgegangen. Maggi und Lombardi begründen die Einheit der Zeit mit der
Wahrung der Wahrscheinlichkeit. Bei ihnen findet sich auch bereits eine erste
Andeutung hinsichtlich der Einheit des Ortes, die dann durch Castelvetro (also erst nach
Scaliger) für verbindlich erklärt wird.
Das Epos, das die meisten Kompositionsnormen mit der Tragödie gemeinsam hat,
rangiert im allgemeinen in der Dichtungstheorie der Renaissance im Gegensatz zu
Aristoteles vor der Tragödie. Während die Personen der Tragödie (nach Aristoteles)
weder tugendhaft noch schlecht sein, vielmehr die Mitte zwischen beiden Eigenschaften
wahren sollen, bietet das Epos die Möglichkeit, den vollkommenen Helden darzustellen.
Indem ein solcher Idealtyp zur Nachfolge aufruft, dient er dem pädagogischen Zweck
des Epos, wie ihn u. a. ein Bernardo Tasso wie folgt definiert hat: „la Epica colla
dilettazione insieme (si propone) la virtù e quella norma e ragion di vivere colla quale gli
uomini si congiungono co'gli Dei" 25. Daher kann man auch den moralisch interpretierten
Katharsis-Begriff auf das Epos übertragen, das vermittels von „Schrecken und Mitleid"
dem Leser das Laster hassenswert machen soll 26. Ihre Krönung findet diese Auffassung
vom heroischen Epos in dem Bild, das Torquato Tasso in seinen „Discorsi sul poema
eroico" vom epischen Helden als einem Muster aller Tugenden entworfen hat. Diesem
Heldenideal — und auch dieses Urteil Tassos ist für den herrschenden Geschmack
bezeichnend — hat Vergil eher als Homer zu entsprechen vermocht.
Im Vergleich zu Drama und Epos war die Definition der dritten Hauptgattung, der
Lyrik, weniger scharf umrissen. Über Wesen und Umfang des lyrischen Genus, über das
man weder bei Aristoteles noch bei Horaz eine klare Auskunft erhielt,

24
In Aristotelis librum de Poetica communes explanationes. . . Venetiis 1550, 13.
25
Intorno alla Poesia, Ragionamento di B. Tasso (1562), in: Opuscoli inediti o rari. . . Firenze
1844, I, 166.
26
G. Giraldi Cintio, Discorso intorno al comporre dei romanzi (1554), in Giraldi, Scritti este
tici, Milano 1864, Parte prima, 68.
XII EINLEITUNG

war man sich nicht einig. Die Hauptschwierigkeit bestand darin, inwieweit sich die Lyrik
mit dem aristotelischen Gesetz der Nachahmung vereinbaren läßt. Für G. P. Capriano
ahmen die lyrischen Dichter, die ja in eigener Person reden, Dinge und Menschen in
einer weniger vollkommenen Art als die Dramatiker und Epiker nach. Trotzdem fand
man sich angesichts der Leistungen der lyrischen Dichter der Antike und der
Bewunderung für Petrarca in der Moderne nicht dazu bereit, die Lyrik etwa aus der
Poesie auszuschließen. Auch die Heranziehung anderer antiker Theoretiker neben
Aristoteles und Horaz brachte keine Klärung des Problems, um dessen Lösung sich die
Literarästhetik bis ins 18. Jahrhundert bemühen sollte.
Mit den für die einzelnen Gattungen aufgestellten Kompositionsnormen will die
Dichtungstheorie unmittelbar in die dichterische Praxis eingreifen. An den
Anforderungen, die von der Theorie an Epos und Tragödie gestellt werden, entzünden
sich die großen literarischen Polemiken der Zeit. Sie haben sämtlich Werke der
volkssprachlichen Literatur zum Gegenstand: die „Divina Commedia", Ariosts und
Tassos Epen, Speronis Tragödie „Canace" und Guarinos Pastoraldrama „II Pastor Fido";
denn die Nachahmung der antiken Genera in der Volkssprache erscheint als dringlichste
Aufgabe, vor die sich der moderne Dichter gestellt sieht.
Von dieser Aufgabe nimmt Scaliger in seiner Poetik keine Notiz. Wie er selbst
sowohl seine Gedichte27 wie seine literarkritischen und grammatischen Abhandlungen 28
nur auf Lateinisch verfaßt hat, so denkt er auch bei seiner Dichtungslehre nur an die mit
dem Humanismus erblühte neulateinische Dichtung. Dort, wo er in der Poetik Urteile
über Dichter abgibt, handelt es sich ausschließlich um Autoren aus der Antike oder um
moderne Autoren — wie z. B. Petrarca29 und Fracastoro — im Hinblick auf ihre
lateinischen Werke.
Wenn trotzdem von Scaligers Poetik eine so starke Wirkung gerade auf die
volkssprachlichen Literaturen ausgegangen ist, so erklärt sich das aus der dominierenden
Stellung der humanistischen Bildung im zeitgenössischen Geistesleben, die im
literarischen Bereich seit dem Ausgang des 15. Jahrhunderts dazu geführt hatte, daß sich
die Nationalliteraturen — und zwar zuerst die italienische — in die Schule des
Humanismus begeben, denn nur auf diesem Wege konnten sie hoffen, die erstrebte
Anerkennung als ebenbürtige Literaturen neben den klassischen zu erreichen.
Das dadurch begründete Wechselverhältnis zwischen der dichtungstheoretischen
Diskussion des 16. Jahrhunderts und der zeitgenössischen italienischen Literatur wird
bereits äußerlich dokumentiert einerseits durch das Erscheinen italienischer
Übersetzungen und Kommentare der antiken Poetiken, anderseits durch die Abfassung
von Dichtungslehren in italienischer Sprache. Die dichtungstheoretischen Schriften,
gleichviel ob sie lateinisch oder italienisch geschrieben waren, bilden
27
Poemata in duas partes divisa (1574).
28
Oratio pro M. Tullio Cicerone contra Des. Erasmum (1531); Adversus Des. Erasmi Rot.
dialogum Ciceronianum oratio secunda (1537); Liber de comicis dimensionibus (1539); De
causis linguae latinae (1540); Poetices libri Septem (1561); De comoediae origine et de comicis
versibus über. In eruditorum aliquot virorum de comoedia commentationes (1568).
29
Mit Petrarca läßt Scaliger eine neue Jugend der lateinischen Dichtung beginnen: „de integro
rediviva novam sub Petrarcha pueritia inchoasse.. . visa est" (VI, 1).
EINLEITUNG XIII

ein von den gleichen literarästhetischen Ideen getragenes Corpus von Normen, die für
die Dichtung schlechthin verbindlich sein wollten.
Diese Situation der italienischen Literarästhetik dürfte Scaliger vertraut gewesen sein.
Freilich lassen sich dafür keine Belege erbringen 30; denn in bezug auf die in Italien
verbrachte erste Lebenshälfte Scaligers sind wir auf seine eigenen Aufzeichnungen und
die seines Sohnes Joseph 31 angewiesen, die über Scaligers Bildungsgang keine näheren
Angaben enthalten. Fest steht nur, daß er eine Zeitlang an der Universität Bologna
studiert hat, und zwar Philosophie und die aristotelische Physik, die an den italienischen
Universitäten zugleich die Vorbereitung für das Studium der Medizin darstellten.
Neben diesen für seinen späteren Beruf als Arzt wichtigen Fachstudien muß sich
Scaliger in Bologna und erst recht in Agen (Frankreich) intensiv den „studia
humanitatis" gewidmet haben, da seine späteren literarkritischen Schriften, vor allem
aber seine Poetik auf eine außergewöhnliche Belesenheit schließen lassen. Eine Breite
der geistigen Interessen, wie sie einem „uomo universale" der Renaissance angemessen
war, treibt Scaliger dazu, sich in den verschiedensten Disziplinen 32 ein polyhistorisches
Wissen anzueignen und am Geistesleben seiner Zeit regen Anteil zu nehmen. Dieser
äußert sich nicht nur in den polemischen Ausfällen seines streitbaren Temperaments
gegen Erasmus, Dolet, Rabelais und Cardano, sondern auch in den sicher für beide Teile
furchtbaren Kontakten mit Dichtern aus dem Kreise der „Pléiade"33, also jener Schule,
die mit Hilfe der Imitatio der Antike eine den klassischen Vorbildern ebenbürtige
französische Literatur schaffen wollte34.
So wurzelt denn Scaligers Poetik in der an der Schwelle der Neuzeit durch den
Humanismus hervorgerufenen Besinnung des modernen Geistes auf das Wesen der
Dichtung und die Möglichkeiten ihrer Neugründung — gleichviel in welcher Sprache —
durch Rückgriff auf ihre in der Antike liegenden Archetypen. Der Glaube an die
Autorität der Antike ist die lebendige Mitte von Scaligers Poetik, mochte er auch im
einzelnen die antike Tradition dem kritischen Urteil seines Verstandes unterwerfen.
Obwohl er sich nicht scheut, an Aristoteles Kritik zu üben und von ihm abzuweichen,
bleibt der Stagirit doch für ihn „imperator noster, omnium bonarum artium dictator
perpetuus" (VII, 2).
Unter einer an Aristoteles gerichteten Invocatio steht der erste vier Bücher
umfassende theoretische Teil der Poetik; ihm folgt im Zeichen Vergils der zweite

30
Der genaue Zeitpunkt von Scaligers Ankunft in Agen läßt sich nicht eindeutig ermitteln. Hall
nimmt 1525 oder 1526 an (Life of J. Scaliger aaO. 90).
31
J. J. Scaliger, Epistola de vetustate et splendore Gentis Scaligerae et Julii Caesari Scaligeri
vita, Leyden 1594. Das Fehlen zuverlässiger Dokumente über Scaligers Jugend verhindert
auch eine definitive Klärung der Frage, ob Scaliger — wie er behauptet — tatsächlich von
der Veroneser Adelsfamilie della Scala abstammt. P. O. Kristeller hat neuerdings in einer
Besprechung von Halls Scaliger-Biographie (in: American Historical Review 57 (1952), 394
bis 396) eine solche Abstammung nachdrücklich bestritten.
32
Physik, Botanik, Medizin, Philosophie, Philologie.
33
Scaliger hat seine „Poemata" Ronsard gewidmet und in einem Gedicht die Dichter der „„Pléi
ade" als den besten Autoren der Vergangenheit ebenbürtig gefeiert (vgl. Hall, Life of J. C.
Scaliger aaO. 140).
34
Costanzo aaO. 25 glaubt, Scaliger habe einen Einfluß auf die von der „Plèiade" erhobene
Forderung nach einer Bereicherung des Französischen durât Neologismen ausgeübt.
XIV EINLEITUNG
praktische Teil, dessen beide Bücher kritische Urteile über antike und moderne Autoren,
sowie einen Abriß der lateinischen Literaturgeschichte enthalten; ein siebentes erst eine
Zeitlang nach den vorangegangenen Teilen verfaßtes Buch bildet in unsystematischer
Form eine Art Nachtrag zu den ersten sechs Büchern. Gewisse Widersprüche zwischen
manchen Ausführungen im Nachtrag und den beiden Hauptteilen sind vermutlich eine
Folge des zeitlichen Abstandes in der Abfassung. Freilich bleibt zweifelhaft, ob Scaliger
bei einer nochmaligen Durchsicht des Werkes diese Widersprüche getilgt hätte; denn der
mit ihm befreundete Robert Constantinus, der die Poetik nach Scaligers Tod (1558)
herausgegeben hat, berichtet in einem Brief an den Drucker Jean Crespin, in dessen
Genfer Offizin die Poetik 1561 erschien, Scaliger habe mehr als neun Jahre an dem
Manuskript gearbeitet und es ihm zwei Monate vor seinem Tode zur Vorbereitung für
den Druck übersandt3S.
Obwohl in der Vergangenheit die Autorität eines Aristoteles und in der Gegenwart das
allgemeine Interesse für dichtungstheoretische Fragen den Wert der Dichtung
hinreichend bestätigen konnten, hielt es Scaliger doch für nötig, die Dichtung gegen die
Vorwürfe ihrer Verleumder in Schutz zu nehmen. Die Argumentation, deren er sich in
der Abhandlung „Contra poetices calumniatores" und dem Gedicht „De poetis a Platone
eiectis a republica" bedient, klingt auch in der Poetik an. Da die Gegner der Poesie sich
seit jeher gern auf Piaton beriefen, der die Dichter wegen Gefährdung der Moral aus
seinem Staat verbannt hatte, versucht Scaliger vor allem diesen Einwand zu entkräften.
Er berührt ihn auch — obgleich nur flüchtig — in der Poetik, wo er (I, 2) auf die
widerspruchsvolle Haltung Piatons gegenüber der Dichtung hinweist und daraus folgert,
man dürfe die Verbannung der Dichter aus dem Staat nicht zu ernst nehmen. Dichtung
— so stellt Scaliger im Vorwort zur Poetik fest — ist etwas Naturgegebenes. Wer ihre
Lektüre verurteilt, verdient nicht, zu den menschlichen Wesen gezählt zu werden. Es
bedarf nach Scaliger keiner Berufung auf irgendwelche Autoritäten, wenn man
behauptet, die Dichtung könne dem Menschen zur „beatitudo" verhelfen und sei daher
nicht weniger wichtig als die Philosophie.
Von dieser hohen Warte aus bestimmt Scaliger den Beruf des Dichters und die
Aufgabe der Dichtung. Indem er der Tradition entsprechend 36 zwischen „versificator"
und „poeta" unterscheidet, gelangt er zu einer Definition des Dichters, mit der er dessen
schöpferischer Fähigkeit gerecht zu werden bemüht ist. Während der „versificator"
lediglich Erzählungen in die Form von Versen bringt, enthüllt der von den Musen
inspirierte „poeta" das, was den anderen Menschen verborgen bleibt, m. a. W. er schafft
in seinen Versen etwas Neues, etwas Zusätzliches zu dem in der Wirklichkeit
Vorhandenen: „Der Dichter schildert sozusagen eine andere Art Natur und eine Menge
verschiedener Schicksale, und indem er das tut, verwandelt er sich in der Tat in einen
zweiten Gott" (I, 1). Damit greift Scaliger auf die von Marsilio Ficino im Kreise der
Florentiner Platoniker vertretene Auffassung vom schöpferischen Menschen als einem
Rivalen der Natur zurück und nimmt sie für den Dichter in Anspruch, der kraft seiner
gottähnlichen

55
Vgl. Hall, Life of J. C. Scaliger aaO. 154.
•• Vgl. Horaz, Sat. I 1, 40; II 1, 28; Quintilian, Inst. or. X 1, 89.
EINLEITUNG XV

Tätigkeit alle anderen tätigen Menschen überragt. Er übertrifft sogar die Natur dort, wo
diese sich als unvollkommener Künstler erweist und dann vom Dichter verbessert,
verschönt wird.
Um das schöpferische Moment im Dichter zu erklären, greift Scaliger auf die
platonische Inspirationslehre zurück. Nach der Art, wie die Inspiration wirksam wird,
klassifiziert er die Dichter in drei Gruppen: Dichter, die ständig, also von Geburt an,
inspiriert sind und Dichter, die zeitweise inspiriert werden, und zwar entweder mit Hilfe
einer Anrufung der Musen oder durch den Dunst des Weines, der sie entrückt 37. Aus der
Tatsache der dichterischen Inspiration zieht Scaliger jedoch keine Folgerung für den
dichterischen Schaffensprozeß, sondern betrachtet diesen in Übereinstimmung mit der
herrschenden Lehre vom Objekt aus und entwickelt dementsprechend auf Grund einer
Idealvorstellung der Dichtung das Regelsystem seiner Poetik.
In einem seiner Gedichte hat Scaliger die zum Gelingen der Dichtung unerläßliche
Verbindung von natürlicher Veranlagung und erlernbarer Kunst mit einem für die
kulturschöpferische Tätigkeit des Menschen so oft herangezogenen Vergleich
veranschaulicht: Das Werk des Dichters, der lediglich seinem „ingenium" folgt, ohne die
in der Dichtungslehre kodifizierte „ars" zu beachten, gleicht einem wilden Feld, auf dem
Dornenbüsche wuchern, wohingegen der Idealtyp des Dichters, dessen „iudicium" die
Einhaltung der Regeln überwacht, mit seinem Werk dem wohl gepflügten und
planmäßig bebauten Acker entspricht38. Die Unterwerfung der dichterischen
Einbildungskraft unter die von der Vernunft in Übereinstimmung mit den Alten
diktierten Gesetze ist für Scaliger eine absolute Notwendigkeit.
In dem Bestreben, das Wesen der Dichtung näher zu bestimmen, grenzt sie Scaliger
gegen die Geschichtsschreibung und die Rhetorik ab. Während der Historiker und der
Redner die Dinge so darstellen, wie sie sind, stellt der Dichter kraft seiner besonderen
Fähigkeit auch Dinge dar, die nicht sind, aber sein könnten oder sollten. Trotzdem ist
das, was den Dichter mit dem Redner verbindet, mehr als das, was ihn von ihm trennt,
nämlich die Verwendung des Verses und die Fiktionen. Der allgemeinen Tendenz der
Rhetorisierung der Poetik folgend, läßt Scaliger (III, 25) Redner und Dichter einander
ergänzen. Der Dichter, der ursprünglich seine Hörer, bzw. Leser nur unterhalten wollte,
hat dem Redner die Belehrung entlehnt, und der Redner seinerseits hat sich die Anmut
des Dichters zu eigen gemacht. In diesem Zusammenhang nennt Scaliger unter
ausdrücklicher Berufung auf Horaz als das Ziel der Dichtung die Verbindung des
Nützlichen mit dem Angenehmen.
Die pädagogische Kunsttheorie triumphiert über Aristoteles: Dieser hat — nach
Scaliger — zu Unrecht das Ziel der Dichtung in der Nachahmung gesehen. Diese
erscheint Scaliger nur als Mittel39 zum Zweck (I, 1), nämlich zur Erfüllung der

37
Dem Wein als einem Mittel zur dichterischen Inspiration hat Scaliger ein eigenes Gedicht
gewidmet „Ad Musas de excellentia vini aquitanici"; vgl. R. J. Clements, Literary Theory
and Criticism in Scaligera Poemata, in: Studies in Philology 51 (1954), 561—584.
38
„Ingenium paratur agro"; vgl. Clements aaO.
39
Scaliger schränkt die Nachahmungstheorie insofern ein, als der Dichter (s. o.) unter Um
ständen die Natur zu vervollkommnen hat. Im 7. Buch, das ja eine Sonderstellung im Rahmen
XVI EINLEITUNG

eigentlichen Aufgabe der Dichtung, die den Menschen durch Unterhaltung belehren, ihn
so bessern und dadurch glücklich machen soll. Die Belehrung erfolgt durch
paradigmatische Handlungen, die bewirken sollen, daß der Leser (bzw. Hörer) die guten
Affekte annimmt und sich der schlechten enthält. Offensichtlich handelt es sich um eine
Übertragung der moralischen Interpretation der Katharsis auf die gesamte Dichtung. Das
bestätigt Scaliger selbst an anderer Stelle (VII, 1), wo er Aristoteles vorwirft, er habe nur
der Tragödie das zugeschrieben, was der Dichtung überhaupt eigen sei.
Die notwendige Voraussetzung dafür, daß die Dichtung die ihr gestellte Aufgabe
erfüllen kann, sind vier Fähigkeiten, über welche der Dichter verfügen muß (III, 25):
„prudentia" (Einsicht in die allgemeinen Erfordernisse der geplanten Dichtung, wozu
auch das nötige „Wissen" des Dichters gehört), „varietas" (Abwechslung in der
Gedankenführung wie im sprachlichen Ausdruck), „efficacia" (Ausdruckskraft der Ideen
und Worte) und „suavitas" (Annehmlichkeit); sämtlich Fähigkeiten, die unter
Berücksichtigung der Wirkung der Dichtung auf das Publikum gefordert werden, also
unter dem Aspekt der Rhetorik ausgewählt worden sind. Hier wie auch sonst (etwa in
der Lehre von den drei Stilen und in der Erörterung von Begriffen wie „convenientia",
„pulchritudo" und „venustas") zeigt sich, daß Scaliger im Gegensatz zu Aristoteles die
Dichtung in erster Linie als Redekunst begreift 40. Im Einklang damit erblickt er, von
Aristoteles abweichend, das Wesen der Poesie in ihrem metrischen Bau. Daher inter-
pretiert er die griechische Bezeichnung des Dichters non)-rf)<; als Versemacher (I, 2).
Der Vers ist das dem Dichter eigentümliche Wesensmerkmal.
Innerhalb der als Verskunst verstandenen Poesie unterscheidet Scaliger (I, 3) gemäß
dem von dem spätantiken Grammatiker üiomedes aufstellten Schema drei große Gruppen
von Dichtungen: die „Narratio simplex", repräsentiert durch die lehrhafte Dichtung, den
„Dialogus", der die dramatischen Formen umfaßt, und das „Mistum", zu dem er die Epik
und vielleicht auch die lyrischen Gattungen zählt41. Bei der Behandlung der einzelnen
Dichtungsgattungen Hegt das Schwergewicht eindeutig auf Drama und Epos. Daher
gehören die diesbezüglichen Ausführungen Scaligers zu den Teilen der Poetik, die den
stärksten Einfluß auf die Zeitgenossen und die Nachwelt ausgeübt haben.
Unter den dem „Dialogus" zugeordneten dramatischen Gattungen, der Pastorale,
Komödie, Tragikomödie, Tragödie, dem Mimus und der Satire, sind die Tragödie und —
in beträchtlichem Abstand dazu — die Komödie die wichtigsten. Zwischen den
dramatischen Gattungen besteht nach Scaliger ein historischer Zusammenhang, insofern
als aus der Pastorale zunächst die Komödie und aus

der Poetik einnimmt, distanziert er sich sogar völlig von der Nachahmung als dem der Diditung zu Grunde
liegende Prinzip.
40
„Scaliger is essentially preoccupied with poetry as an art of discourse" (Weinberg, A History
of Literary Criticism. aaO. 68).
41
Scaligers Ausführungen über die Lyrik sind nicht eindeutig; es bleibt unklar, ob er die Lyrik
als selbständiges Genus anerkennt oder dem „Mistum" zuweist. Im 7. Buch läßt er das Nach
ahmungsprinzip für die Lyrik nicht mehr gelten, ordnet jedoch im Widerspruch dazu die
Lyrik in die „enarrano" ein, die der lehrhaften Dichtung vorbehalten war. Vgl. I. Behrens, Die
Lehre von der Einteilung der Dichtkunst vornehmlich vom 16.—19. Jahrhundert, Studien zur
Geschichte der poetischen Gattungen, Halle/Saale 1940, 90.
EINLEITUNG XVII

dieser dann die Tragödie hervorgegangen sein soll, wobei diese Entwicklung zugleich
einen Aufstieg in der literarischen Rangordnung von einfachen zu kunstvolleren Formen
bedeutet.
Eingehender als die anderen Genera wird die Tragödie behandelt. Die aristotelische
Definition der Tragödie wird wiederholt und dadurch implicite kritisiert, daß Scaliger
seine eigene dem Donat entlehnte Definition hinzufügt: „Imitatio per actiones illustris
fortunae, exitu infelici, oratione gravi et metrica" (I, 6). Ohne auf den umstrittenen
Katharsis-Begriff einzugehen, läßt ihn Scaliger einfach beiseite und fordert von der
Tragödie lediglich eine moralische Wirkung. Die Tragödie belehrt, bewegt, unterhält
(III, 97); „docere", „movere", „delec-tare": Die drei „virtutes", deren sich nach der
allgemeinen Lehre der Rhetorik der Redner bedienen soll, verlangt Scaliger auch vom
Tragiker.
Die gewünschte Wirkung erreicht die Tragödie sowohl durch ihre Handlung wie
durch den sozialen Rang der handelnden Personen, die nur dem Kreis der „reges,
principes ex urbibus, arcibus, castris" (I, 6) gewählt werden dürfen. Diese Forderung, der
die Praxis der antiken Tragödie entsprach, gewinnt für die Poetik der Renaissance und
des Barock deswegen besondere Bedeutung, weil die durch die höfische Kultur geprägte
literaturtragende Gesellschaft sich eine überzeugende Wirkung der Tragödie nur vom
Untergang eines sozial möglichst hochgestellten Helden erwartete. Ihrem Rang
entsprechend befleißigen sich die Personen der Tragödie einer gehobenen Sprache, des
„hohen Stils".
Den Gegenstand der Tragödie bilden Aufsehen erregende und grausame Ereignisse
aus dem Leben der hochgestellten Personen, bei deren Darstellung sich der Dichter
möglichst an die historische Wahrheit halten soll. Was er von sich aus hinzufügt, darf
nicht gegen das Prinzip der Wahrscheinlichkeit verstoßen. Im Zusammenhang mit
diesem Prinzip steht auch die kontroverse Frage, inwieweit bereits Scaliger außer der
Einheit der Handlung auch die Einheiten der Zeit und des Orts gefordert hat. Im
Gegensatz zu Breitinger42 und Lintilhac43 interpretiert die neuere Forschung die
betreffenden Stellen der Poetik mit mehr Zurückhaltung und glaubt, aus ihnen keine
ausdrückliche Forderung herauslesen zu dürfen. Scaliger rät dem Dichter dazu, einen
Gegenstand von geringer Dauer zu wählen; denn es sei nicht wahrscheinlich, daß sich
eine Schlacht oder eine Reise im Zeitraum der Aufführung tatsächlich abspielen könnte.
Hieraus läßt sich nur implicite auf die Einheit der Zeit und indirekt auf die des Ortes
schließen; aber es erscheint nicht angebracht, von diesen Einheiten als von den „unités
scali-geriennes" zu sprechen u.
Wenn Scaliger besonderen Wert auf die in die Tragödie einzubauenden Sentenzen legt
und in ihnen die „Pfeiler" des ganzen Gebäudes erblickt, offenbart sich hier am
deutlichsten die Affinität zu dem Tragiker Seneca, die mehr oder weniger sichtbar hinter
Scaligers Begriff der Tragödie steht und z. T. seine Abweichungen von Aristoteles
erklärt. Er bemüht sich, die aristotelische Poetik mit der senecaischen Praxis zu
versöhnen, deren heroische Wortkunst das Tra-

42
F. Breitinger, Les unités d'Aristote avant le Cid de Corneille, Genève 1879, 11.
43
Lintilhac, De Scaligeri Poetice aaO. 94 ff.
44
Lintilhac, Un coup d'état dans la République des Lettres ... aaO. 345.
XVIII EINLEITUNG

gische in erster Linie als ein Stilproblem erscheinen läßt und damit wiederum der
allgemeinen Neigung zur Rhetorisierung des Poetischen entgegenkommt.
Im Gegensatz zu der ausführlichen Behandlung der Tragödie begnügt sich Aristoteles
mit einigen wenigen Angaben über die Komödie. Dementsprechend knapp äußert sich
auch Scaliger (I, 6; III, 97). Die Personen der Komödie dürfen nur dem bürgerlichen
oder bäuerlichen Milieu entnommen werden und sollen im „stylus popularis" (jedoch in
Versen) sprechen. Das Sujet der Komödie, ein Ereignis aus dem Alltagsleben, wird vom
Dichter erfunden, der sich dabei an die Gesetze der Wahrscheinlichkeit zu halten hat.
Trotz ihres im allgemeinen fröhlichen Ausgangs — Scaliger weist darauf hin, daß es in
der Antike auch Komödien mit unglücklichem Ausgang gegeben habe — kann auch die
Komödie einen pädagogischen Zweck verfolgen; jedenfalls erinnert Scaliger an die
altattische Komödie, welche Mißstände in der Staatsverwaltung und schlechte Sitten im
Volk getadelt hat. Gerade weil weder Aristoteles noch andere Theoretiker in bezug auf
die Komödie ergiebig waren, orientiert Scaliger seine Ausführungen weitgehend an der
„poetica in actu" der antiken Komödie. Dabei befindet er sich durchaus in
Übereinstimmung mit seiner theoretischen Grundhaltung, welche sowohl die Poetiken
wie die antiken Musterautoren als maßgebende Autoritäten anerkennt.
Die gleiche Haltung nimmt er bei der Beschreibung des Epos ein. Da dieses die meisten
Kompositionsnormen mit der Tragödie teilt, kann sich Scaliger kürzer fassen, obwohl er
gemäß der „opinio communis" (im Gegensatz zu Aristoteles) das Epos wegen seines
universalen Gegenstandes über die Tragödie stellt und als normgebend für die übrigen
Gattungen erklärt (I, 3; III, 96). Wie Aristoteles gibt auch Scaliger keine ausdrückliche
Definition vom Epos. Epische Dichtung ist für ihn Heldendichtung, welche die
Abstammung, das Leben und die Taten der Helden besingt. Der Dichter soll jedoch nicht
„ab ovo" beginnen, sondern den Leser „in médias res" einführen; die chronologische
Schilderung kommt nur dem Historiker zu. Mit ihm teilt der Epiker seinen Gegenstand,
den er der Geschichte entnimmt. Die Zutat der dichterischen Erfindungsgabe ist das
„orna-mentum".
In Übereinstimmung mit Vida erblickt auch Scaliger das absolute Vorbild für jede
epische Dichtung in der „Aeneis" (III, 12); mit Aeneas hat der römische Dichter den
vollkommenen Helden geschaffen, der Achills „fortitudo" mit der „prudentia" des
Odysseus vereint und als weitere Heldentugend noch die „pietas" besitzt. Dem Archetyp
des Helden entspricht die vollendete Kunst des ganzen Epos, in dem Vergil die
gewöhnliche Natur von ihren Mängeln gereinigt und sie als eine „altera natura" zu
idealer Vollkommenheit erhoben hat. Die Sonderstellung Vergils sucht Scaliger durch
einen ausführlichen Vergleich mit Homer näher zu begründen. Was Vergil nach
Scaligers Meinung vor Homer auszeichnet, ist seine gewählte Ausdrucksweise, vor
allem die Wahrung des Dekors, die Scaliger bei Homer vermißt. Homers Entwurf nötigt
ihm zwar Bewunderung ab, aber die Ausführung erscheint ihm roh. Gegenüber dem „Na
tur dichter" Homer verdient der „Kunstdichter" Vergil den Vorzug43; ein Urteil, das für
den

45
Vgl. K. Borinski, Die Antike in Poetik und Kunsttheorie I, Leip2ig 1914, 232 f.
EINLEITUNG XIX

gesamten Klassizismus verbindlich bleibt.


Wie der Vergleich zwischen Homer und Vergil zugunsten des Römers ausfällt, so
entscheidet sich Scaliger auch bei den übrigen Parallelen, die er in den literar-kritischen
Teilen der Poetik zwischen der griechischen und der römischen Dichtung zieht, für die
letztere. Mit dieser Bevorzugung der römischen vor der griechischen Antike bekräftigt
Scaliger den vorwiegend durch das lateinische Erbe bestimmten Charakter des
Renaissance-Humanismus im Bereich der Dichtungstheorie und des literarischen
Geschmacks; „à dater de Scaliger... l'éducation et la culture deviennent éminemment et
bientôt exclusivement latines" 46. Wenn Scaliger seine Dichtungslehre weithin als eine
Interpretation der aristotelischen Poetik aufgefaßt hat, so ist es ein mit römischen Augen
— vor allem durch die Brille der lateinischen Rhetorik — gesehener Aristoteles, der er
dem europäischen Klassizismus vermittelt und zugleich auferlegt hat.
Scaligers eigenes Jahrhundert und das folgende, ja teilweise auch noch das 18.
Jahrhundert empfanden die Normierung der Poesie in Scaligers Poetik keineswegs als
lästigen Zwang: „No other poetics ever received the applaus this one did. For two
centuries the shade of Scaliger could feast on such incense as had been burnt for few
critics"47. An der Wirkungsgeschichte von Scaligers Poetik haben alle großen
europäischen Literaturen ihren Anteil. Zwei Bewunderer Scaligers in Holland, die
klassischen Philologen Daniel Heinsius und Gerhard Johannes Vossius, haben
wesentlich zur Verbreitung der Poetik beigetragen. Durch ihre Vermittlung oder auch
auf Grund unmittelbarer Kenntnis von Scaligers Poetik hat Aristoteles in Scaligers Sicht
als entscheidender Faktor in den theoretischen Auseinandersetzungen über die Tragödie
im Frankreich des 17. Jahrhunderts gewirkt48. Obgleich sich ein direkter Einfluß
Scaligers auf Boileaus „Art Poétique" nur schwer nachweisen lassen dürfte, liegt jedoch
zweifellos die bekannteste Poetik des französischen Klassizismus im Strahlungsbereich
der „Poetices Libri Septem". In England49 haben Sidney und Johnson aus Scaligers
Poetik viel gelernt, die hier und auch anderswo als Fundgrube ausgebeutet wurde, und
zwar mehr im Hinblick auf die allgemein gängigen Meinungen als auf Scaligers
originelle Ideen. In der deutschen Dichtungsgeschichte von Opitz bis Klopstock wird der
„göttliche Scaliger" — wie ihn der Magister Balthasar Kindermann in seinem
„Deutschen Poeten" (1664) genannt hat — als Autorität hoch geachtet50.
Was man an ihm schätzte, war die Systematisierung eines überaus umfangreichen und
schwer übersehbaren Gedankengutes in einer Art Fazit der jahrzehntelangen
dichtungstheoretischen Erörterungen, m. a. W. die Ausmünzung der Tradition in die
gängige Münze der für die einzelnen Genera gültigen Regeln.

46
F. Brunetière, L'évolution de la critique en France depuis la Renaissance jusqu'à nos jours,
Paris 1898, 52.
47
Hall, Life of J. C. Scaliger aaO. 154.
48
Vgl. J. Eymard, Scaliger, in: Dictionnaire des Lettres Françaises, Le Seizième Siècle, Paris
1951, 635—637.
49
Vgl. R. S. Crane, English Neoclassical Criticism: An Outline Sketch, in: Critics and Criti
cism, Ancient and Modern, The University of Chicago Press (1954), 372—388.
50
Vgl. B. Markwardt, Geschichte der deutschen Poetik I, Berlin 1958 (dort weitere Literatur
angaben).
XX EINLEITUNG

Diese Funktion der normativen Poetik erlosch, als mit der Vorromantik des 18.
Jahrhunderts eine neue Auffassung von Dichter und Dichtung aufkam.
Zu diesem Zeitpunkt war Scaligers Lehre bereits vom europäischen Klassizismus
assimiliert und damit ein integrierender Bestandteil der europäischen Dich-
tungsgeschichte geworden. Darin erschöpft sich jedoch nicht ihre Bedeutung. Trotz ihrer
Schwächen — ermüdende Wiederholungen, Widersprüche 51, Fehlurteile über antike
Autoren, Mangel an philosophischer Durchdringung — kann man ihr nicht vorwerfen,
sie habe (ebenso wie die anderen Renaissancepoetiken) „die Probleme verstellt, statt sie
in Angriff zu nehmen"52. Als eine in ihrer Art einmalige Summa der Dichtungslehren der
Renaissance faßt Scaligers Poetik nicht nur das zusammen, was die mit dem
Humanismus einsetzende Besinnung auf das Phänomen der Dichtung gezeitigt hatte,
sondern stellt zugleich auch die entscheidenden Fragen, die den weiteren Gang der
dichtungstheoretischen Erörterungen bestimmen und uns damit bestätigen, daß das 16.
Jahrhundert in Italien so etwas wie ein Experimentierfeld der modernen Literaturästhetik
gewesen ist.

August Buck

« Zur Diskussion über die Kohärenz von Scaligers Poetik vgl. Corvaglia, La poetica di
r r Sralie-ero nella sua genesi e nel suo sviluppo aaO. ,-MK^rTuL, nid Aristoteles, Untersuchung über die
Theorie der £agod,, Jrank-
Lr a M 1946 249- K. s. vortreffliche Untersuchung wird mit diesem Urteil der Literar
Serik der Renaissance nicht gerecht, wie die Forschungen der letzten Jahrzehnte gezeigt
haben.

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