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Wiktor Juschtschenko: Der Absturz vom Messias zur Hypothek der Ukraine

Wie ein Messias wurde Wiktor Juschtschenko während der Orangen Revolution 2004
gefeiert: „Heute ist ein kolossaler Vorschuss auf die Zukunft der Ukraine erteilt worden!”,
rief er im Herbst 2004 auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew aus. Den
Vertrauensvorschuss hat er mit einer oft unausgewogenen und kontraproduktiven Politik
verspielt. In der ersten Präsidentschaftswahl seit der Orangen Revolution hat er mit
prognostizierten 5 Prozent der Stimmen nicht einmal den Hauch einer Chance auf
Wiederwahl.

Von Johannes Voswinkel / maiak.info

Einen kolossalen Vorschuss auf die Zukunft der Ukraine verspielt


Wie ein Messias wurde Wiktor Juschtschenko einst nach dem Triumph seiner
orangefarbenen Revolution gefeiert. „Heute ist ein kolossaler Vorschuss auf die Zukunft
der Ukraine erteilt worden!”, rief er im Herbst 2004 auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew
aus. “Ich möchte, dass er gerechtfertigt ist.” Seine Anhänger, die friedlichen Revolutionäre,
jubelten angesichts ihres Helden dort oben auf der Bühne. Die Ukraine schien sich von
den Dämonen der sowjetischen Vergangenheit befreit zu haben.

Doch Juschtschenko hat den Vorschuss nicht genutzt. Heute verkörpert er die grösste
nationale Enttäuschung seit der Unabhängigkeit. Seine Schwächen und Fehler haben
obsiegt. Die Ukraine hat zwar einen Entwicklungssprung zu einer offeneren Gesellschaft
mit verantwortungsbewussten Bürgern gemacht. Aber nur zu Anfang trug Juschtschenko
dazu bei. In den vergangenen fünf Jahren reifte die Gesellschaft trotz des Präsidenten.

Juschtschenko kommt aus der Schule der sowjetischen Nomenklatura

Juschtschenkos Anhänger trieb die Hoffnung auf den Vorrang des Rechts vor der Macht,
auf Gleichheit und Wohlstand an. Nach 13 Jahren eines zynischen Regimes
verschiedener Wirtschaftsclans kam er gerade recht, und einen besseren gab es nicht.
In der Euphorie des orangefarbenen Sieges bei der Wiederholung der Stichwahl zum
Präsidentenamt am 26. Dezember 2004 übersahen viele, dass auch der selbsterklärte
Demokrat Juschtschenko durch die Schule der sowjetischen Nomenklatura gegangen war.

Zwar ist er kein Apparatschik, der wie sein Gegenspieler Wiktor Janukowytsch den Sport
der Parteibonzen, die Jagd, liebt. Juschtschenko züchtet vielmehr Bienen und sammelt
Ikonen. Zwar trinkt er kaum, spricht gewählt und zeigt Manieren, was ihn von den
instinktgetriebenen Leitwölfen der alten Führungskader unterscheidet, die nicht in
Überzeugungen, sondern in Machtkonstellationen denken. Aber auch Juschtschenkos
Sinn für die Unabhängigkeit der Institutionen, des Parlaments, der Gerichte und der
Presse ist unterentwickelt.

Juschtschenkos Problem ist seine Entscheidungsschwäche


Als Präsident liess Juschtschenko die Versprechen der Revolutionstage bald hinter sich:
Der Kampf gegen die Korruption gemäss dem Revolutionsslogan “Banditen ins
Gefängnis!” und die Trennung von Wirtschaft und Politik blieben aus. Der Respekt vor
Gesetz und Verfassung endete immer öfter im Bestreben, Schlupflöcher für die eigenen
Machtziele zu finden. Juschtschenko versuchte, als Herrscher zu regieren, und schätzte
wie seine Konkurrenten die Meinungsfreiheit vor allem, wenn es um die Schmähung der
politischen Gegner ging.

Zugleich behinderte ihn seine Entscheidungsschwäche. Schon als Chef der Nationalbank
der Ukraine, kolportiert einer seiner Vertrauten, habe sich Juschtschenko in dramatischen
Situationen schon mal in seinem Büro eingeschlossen und das Telefon abgeschaltet. Die
Vorsehung oder sein Vize sollten die nötigen Entscheidungen treffen.

“Aufstehen, Wiktor, es ist Revolution!”

Nach seiner Entlassung als Premierminister im Mai 2001 zögerte Juschtschenko


jahrelang, sich an die Spitze der Opposition zu setzen. Erst allmählich entwickelte er sich,
angetrieben von der radikalen Mitstreiterin Julija Tymoschenko, vom Mann des Systems
zum oppositionellen Kämpfer. Eine Rolle spielte dabei der rätselhafte Vergiftungsversuch
mit einer Dioxin-Chemikalie, die ihn im September 2004 schwer erkranken liess und sein
Gesicht entstellte. Der eitle und zum eleganten Auftritt neigendeJuschtschenko litt
besonders schwer darunter. Der Anschlag auf sein Leben lehrte ihn Härte.

Treibende Kraft aber blieb Tymoschenko, die früher bereits für ein Gemälde als
Barrikadenstürmerin posiert hatte. “Tymoschenko klopft vermutlich jeden Morgen an
Juschtschenkos Zimmertür und ruft: ‘Aufstehen, Wiktor, es ist Revolution!’”, scherzte ein
westlicher Diplomat während der orangefarbenen Protestwochen. Juschtschenkos mal
bedachte, mal lahme Art mag ein Blutvergiessen verhindert haben, was in einem
konfliktscheuen Land wie der Ukraine bedeutsam ist. Aber als neu gewählter Präsident
fehlte dem Zauderer die nötige Entschlossenheit zur Veränderung.

Juschtschenko ist ein Harmonisierer

Der Revolutionär wider Willen konnte sich von falschen Freunden nicht trennen und
verschreckte zugleich Wohlmeinende. Er verzettelte sich, statt die Dynamik des
Siegesmoments zu nutzen. Schon im grössten Triumph auf dem Unabhängigkeitsplatz
hatte er verhalten gewirkt. Während mancher seiner Mitstreiter mit napoleonischer
Körperhaltung über die Bühne stolzierte, feierte er die orangefarbene Revolution als stiller
Geniesser.

Das Reden liegt ihm mehr im kleinen Kreise, wo er reserviert, zuweilen einnehmend, aber
auch gerne zu lange spricht. Auf der Bühne machte er wie eine personifizierte
Deeskalation ungeschickte Redepausen, und viele im Publikum mussten sich anstrengen,
um zu begreifen, wann sie lauschen, klatschen oder jubeln sollten. Als er am Schluss mit
beiden Händen Victory-Zeichen formen wollte, winkte er mehr, als dass er sich als Sieger
produzierte.

Juschtschenko ist ein Harmonisierer und Familienmensch. Politisches und Persönliches


vermischt er zur chaotischen Beziehungskiste. Er ist Taufvater der Zwillingstöchter seines
engen Vertrauten und Finanziers Petro Poroschenko, der nach der orangefarbenen
Revolution von Skandal zu Skandal eilte. Sogar dem befreundeten georgischen
Präsidenten Michail Saakaschwili bot er seine Patendienste an.

Für Familie und Freunde opfert Juschtschenko seine Prinzipien

Die Familie, die Juschtschenko als Kern der Nation versteht, liegt ihm besonders am
Herzen. Deshalb reagierte er heftig, als Journalisten berichteten, dass sein Sohn, ein
Student im sechsten Semester, ein 130.000 Dollar teures Auto fahre und im Nachtklub
“Dekadenz” hohe Rechnungen hinterlasse. Juschtschenko verteidigte das Heiligtum
seiner Familie, als er einen Journalisten des “Auftragsmords mit Informationen”
bezichtigte.

Für Freunde opfert er, wenn nötig, Prinzipien und seine Politik. Er liebt seinen
Getreuenkreis, der zu Revolutionszeiten mit fünf früheren Vizepremiers und neun Ex-
Ministern von der Staatsnomenklatura geprägt war, und handelt nach dem Motto: Streit
wird nicht aus der eigenen Hütte getragen. Selbst jene destruktiven Mitstreiter, die
Juschtschenko nach langem Zögern in die Wüste schickte, bezeichnet er weiterhin als
seine Freunde.

Im verhängnisvollen Dreigestirn der ukrainischen Politik besitzt er im Gegensatz zu Julija


Tymoschenko oder Wiktor Janukowytsch Ansätze einer Ideologie. Sie trägt Elemente der
westlichen Demokratie, ist aber vor allem vom gemässigten ukrainischen Nationalismus
geprägt.

“Ich liebe die Ukraine unendlich”, sagt Juschtschenko. Er preist tote Kosaken, denen die
Ukraine heilig gewesen ist, und zeigt sich beim Anblick einiger Grabplatten im Museum
von Cherson gerührt, weil die eingemeisselten Epitaphe beschreiben, was die Toten einst
für ihre Stadt taten. Das entspricht seiner Vorstellung von Patriotismus. Im
Gefühlsschwang neigt er zum Kitsch: “Wenn es der Ukraine hülfe, dass ich mich zu Asche
verbrenne”, sagte Juschtschenko einmal, “wäre ich glücklich.”

Juschtschenkos Politik ist oft unausgewogen und kontraproduktiv

Auf der Suche nach der ukrainischen Identität verirrt sich Juschtschenko in historische
Grauzonen. Er verleiht Orden an frühere Anführer der Ukrainischen Aufstandsarmee, die
während des Zweiten Weltkriegs vor allem in der Westukraine gegen sowjetische und
deutsche Besatzer kämpfte und zahlreicher Massaker beschuldigt wird. Oder er erklärt die
Stalinsche Hungerperiode Holodomor identitätsstiftend gleich zum Völkermord.

Auch die Sprachenpolitik, die das Russische mit Gesetzen und Verordnungen
zurückdrängt, ist oftmals unausgewogen und kontraproduktiv: Die strengen Sprachquoten
im ukrainischen Fernsehen treiben die Zuschauer vor allem im Osten des Landes direkt zu
den propagandistischen Fernsehkanälen aus Russland. Sogar die Krimtataren, die einst
zu seinen stärksten Unterstützern zählten, sind vonJuschtschenko enttäuscht: Früher
hätten sich die Ukrainer ebenfalls unterdrückt gefühlt und Solidarität mit der Minderheit der
Tataren gezeigt, beklagen Aktivisten der Krimtataren. Heute zögen sie rigoros ihre
Ukrainisierungspolitik durch.

Musterschüler mit mathematisch exaktem Verstand

Gerade in Zeiten der globalen Wirtschaftskrise, die das Land an den Rand des Bankrotts
brachte, wirkenJuschtschenkos rückwärtsgewandte Politik und seine Romantisierung der
ländlichen Ukraine unpassend. Seine Datscha ähnelt einem Museum ukrainischer
Volkskunst: Alte Kleider und Koffer, Heiligenbilder aus dem 18. Jahrhundert, Gesticktes
und Geschnitztes und ein Pflug liegen drapiert herum. Eine Windmühle, zwei
Gartenlauben, ein alter Pferdewagen, Pfauen, Hühner, Katzen und ein Hund runden das
Idyll ab. “Hier gibt es nichts Städtisches”, sagt Juschtschenko stolz und plaudert
stundenlang von der Freude an der Imkerei, dem Bergwandern und der Gärtnerei.

Wiktor Juschtschenko stammt aus der tiefen Provinz, wo das eigene Haus, die
Dorfgemeinschaft und die orthodoxe Religion die Marksteine setzen. Vor 55 Jahren wurde
er in Choruschiwka im Gebiet von Sumy im Nordosten der Ukraine als Sohn des
Dorflehrers geboren. Später in Kiew erzählte er stolz, dass er früher Schweine und Kühe
gehütet habe.

Schon als Kind zeigte sich Juschtschenko nicht als Barrikadenkletterer, sondern als
Musterschüler mit mathematisch exaktem Verstand. Später studierte er am
Finanztechnischen Institut in Ternopil, arbeitete in der Abteilung für Marxismus und
Leninismus und stieg vom Kolchosbuchhalter zum Chef derNationalbank auf. Er sah sich
als Ökonom, nicht als Politiker, und führte erfolgreich die Währung des Griwna ein. Seine
Dissertation widmete er der “Entwicklung von Geldangebot und Geldnachfrage in der
Ukraine”. In Interviews überzog er Journalisten mit einem Zahlenbombardement.

Premierminister Juschtschenko sanierte die Ukraine in einem Jahr

Im Dezember 1999 wurde Wiktor Juschtschenko Premierminister. Der Popularitätswert


des hochgewachsenen Mannes mit groben Händen und dem Aussehen eines
Hollywoodstars hielt sich damals durchweg über 50 Prozent. In nur einem Jahr gelang es
ihm, den Haushalt auszugleichen und die Auslandsschulden zu restrukturieren.
Er legte mit dem Ende der Bartergeschäfte den Grundstein für das folgende
Wirtschaftswachstum. Doch die Stahl- und Energiebarone brachten den “schönen Witja”
dank ihrer (Brief-)Taschenabgeordneten im Parlament mit einem Misstrauensvotum zu
Fall, weil sie sich zu wenig hofiert fühlten.

“Ich gehe um wiederzukommen”, sagte er nach seiner Niederlage vor dem Parlament.
Viele zweifelten daran, da sie ihn für zu weich hielten. Doch 2004 wird er zum
Hoffnungsträger all jener, denen das bestehende System der dominierenden
Wirtschaftsclans die Luft zum Atmen abzuschnüren droht.

Juschtschenko ist gefangen in den 1990er-Jahren

Nach seinem Revolutionssieg zeigt sich, dass der ehemalige Zentralbanker besser
Währungen als Regierungen stabilisieren kann. Sein Erfolg ist ihm zu Kopf gestiegen, und
viele im Kreis seiner Getreuen schwärmen ihn an. Er predigt gerne und hört immer
seltener zu. Als Wiktor Baloha im September 2006 Chef der Präsidialverwaltung wird,
nimmt er als Erstes alle persönlichen BeraterJuschtschenkos und damit den Fluss
ungeschminkter Informationen unter Kontrolle.

Wiktor Juschtschenko verstrickt sich immer tiefer in der Parallelwelt des Kiewer Politzirkus.
Die politische Klasse der Ukraine ist gefangen in den 1990er-Jahren: Ämter werden als
persönlicher Besitz betrachtet, den es auszuschlachten gilt. Es geht um die Verdrängung
des politischen Gegners. Auch Juschtschenko ordnet fast alles dem Stellungskrieg mit
Tymoschenko unter. Er kann nicht verwinden, dass sie beliebter ist als er. Alle
halbherzigen Versöhnungen sind ihre Worte nicht wert.

Die orangefarbene Revolution lässt die Bevölkerung enttäuscht, ratlos und


politikverdrossen zurück. Wiktor Juschtschenko hat die Chance zur Modernisierung nicht
genutzt. Vom Messias wurde er in fünf Jahren zur Hypothek der Ukraine. Mit
prognostizierten 5 Prozent der Stimmen hat er nicht einmal den Hauch einer Chance auf
Wiederwahl. “Ich habe genug Kraft für zwei Präsidentschaftsperioden”, hat Wiktor
Juschtschenko einmal verheissungsvoll gesagt. Auch dieses Versprechen wird er kaum
einhalten.

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Den Originalbeitrag und Fotos finden Sie hier:


http://www.maiak.info/wiktor-juschtschenko-prasidentschaftswahl-2010-ukraine

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