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Generation Ich

„Klatsch!“ Die Farbbombe hatte ihr Ziel verfehlt. Eine Kartoffelsuppe sowie der weiße Blazer
einer Kommunalpolitikerin wurden Opfer hellblauer Flüssigkeit. Ursula von der Leyen, über
deren Haupt sich binnen einer Sekunde der Regenschirm ihres Bodyguards entfaltet hatte,
sucht mit ruhiger Mine den Attentäter. Indes geht ein Raunen durch den großen Saal des
Schulauer Fährhauses, in dem an diesem 31. August 2009 in Wedel bei Hamburg die
Familienministerin der Bundesrepublik Deutschland vor einem Meer aus silbergrauem Haar
die neue Familienpolitik der Union präsentiert. Während ältere Herren mit Blicken jener
Empörung, wie man sie sonst im Wahlkampf nur bei dem Thema der Rentenentwicklung
erntet, den bereits in Handschellen liegenden Missetäter auf der Galerie strafen, fährt die
zierliche Frau unbeirrt mit ihrer Rede fort. Nachdem die Sätze, in denen sie der Adoleszent
mit schwarzer Basecap unterbrochen hatte, grammatisch korrekt beendet wurden, folgt eine
direkte Anrede desjenigen Anteils junger Menschen im Saal, der nicht der Jungen Union
angehört und zuvor durch hämische Zwischenrufe aufgefallen war. Es kommt zu einer kurzen
Debatte über Internetsperren. Natürlich ist die Redezeit nicht ausgewogen. Nicht jeder aus der
scheinbar der Piratenpartei zugehörigen – oder, wie man so schön sagt, „internetaffinen“ –
Gruppe erhält das Wort. Aber immerhin.

Während ich sensationslüstern dem Abgeführten hinterher blicke und um mich herum
Mitglieder der Jungen Union plötzlich wie wichtigtuerische Türsteher auftreten, 1 merke ich,
dass ich dem internetaffinen Unbekannten ein wirkliches Erlebnis in diesem Wahlkampf zu
verdanken habe. Ich stelle fest, dass sich in meinen Erinnerungen, von einigen nächtlichen
SPD-Plakat-Verringerungsaktionen abgesehen, Politik stets als verhältnismäßig unspektakulär
oder zumindest nicht als den Rahmen der Legalität sprengend wiederfindet. Gebannt und
irgendwo auch neidisch sitze ich vor Phoenix-Dokumentationen, die das Deutschland der
Weimarer Republik bei Urnengängen stets am Rande eines Bürgerkrieges zeigen. Wünsche
ich mir solche Zustände? Sicherlich nicht. Wünsche ich mir ein wenig mehr Emotionen?
Ganz bestimmt. Das Attentat lässt mich nicht los. Je länger ich darüber nachdenke, desto
klarer wird mir, wie normal es eigentlich sein müsste, dass ein junger Mensch bei seiner
politischen Meinungsäußerung auch einmal über die Stränge schlägt. Nur ist es eben nicht
normal. Gelegentlich wird dieses Thema in den Medien diskutiert: Politikverdrossenheit. Und
immer wird deutlich, dass es zum Großteil die Älteren sind, die wenigstens noch zur Wahl
1
Der Autor nimmt sich von einigen geschilderten Handlungen nicht aus.
gehen – und das obgleich Tatkraft doch der Jugend zugeschrieben wird. Ist also die Rebellion
der „Netzcommunity“ ein Lichtblick in der Dunkelheit jugendlichen Desinteresses an der
Politik?

Stein des Anstoßes war der Plan der Bundesregierung, allen voran der damaligen
Familienministerin von der Leyen, Webseiten mit kinderpornographischem Inhalt zu sperren.
Das Stoppschild, das Pädophilen hierbei die Illegalität ihres Handelns verdeutlichen sollte,
löste in der Welt junger Internetnutzer einen Sturm der Entrüstung aus. Viel ist seitdem
geschehen. Nach massenhaftem Protest und einer Petition mit 134 015 Unterstützern wurde
das Zugangserschwerungsgesetz zwar verabschiedet, jedoch hat sich die schwarz-gelbe
Koalition mittlerweile gegen eine Anwendung ausgesprochen. Denkbar ist jetzt vielmehr das
Löschen von einschlägigen Seiten, wobei auch eine Umsetzung des ursprünglichen Plans
durch die EU-Kommission möglich ist. Die Debatte ist für den Laien nur schwer zu
durchdringen. Im Schlaglicht der Kritik steht vor allem die Effizienz der Sperren. Auch die
Umsetzung durch eine Liste des Bundeskriminalamtes ist umstritten. Hierbei sehen viele
Skeptiker einen Ausschluss der Kontrolle durch Parlament und Öffentlichkeit. Teilweise wird
darüber hinaus eine Ausweitung der Sperrung z.B. auf gewaltverherrlichende Medien
befürchtet. Auf der anderen Seite steht das Ziel, Kinderpornographie um jeden Preis
einzudämmen. Den Einwänden im Hinblick auf die Effizienz wird entgegnet, eine
hundertprozentige Sicherheit durch staatliche Eingriffe könne auch auf anderen Gebieten
niemals erreicht werden. Allein die Möglichkeit der Verringerung der Verbreitung
kinderpornographischer Medien legitimiere eine Sperrung. Bezüglich der Umsetzung durch
das BKA wird vor allem die notwendige Flexibilität angeführt. Doch ob man nun für oder
gegen Internetsperren ist, es bleibt die Frage: Warum regt sich bei einer politisch
desinteressierten Jugend ausgerechnet bei diesem Thema ein solch massiver Widerstand?

Dass sich Sehnsüchte und Hoffnungen auf eine einzelne Frage projizieren, ist kein Phänomen
der Gegenwart. Für die rebellierenden Studenten der Märzrevolution 1848 ging es um Freiheit
oder Knechtschaft, die Hitlerjugend kämpfte verblendet um Sieg oder Niederlage, die
Achtundsechziger ließen sich für Emanzipation anstelle von Reaktion von berittener Polizei
niederknüppeln. Doch wofür treten die Netzprotestler ein? Gegen staatliche Zensur? Dies ist
zumindest die Behauptung der Piratenpartei, die die „Verteidigung der Bürgerrechte
gegenüber dem sie bedrohenden Staat bzw. dessen Einrichtungen“ zu ihrem Hauptziel
erklärt.2 Doch sind es gerade diese Zeilen, die entlarven, dass es der „Netzcommunity“ gerade
nicht um das hehre Ziel der Freiheit geht. Der Großteil jener, die staatliche Eingriffe in den
2
Quelle: http://www.piratenpartei.de/navigation/politik/unsere-ziele.
schier undurchdringlichen Dschungel des Internets kritisieren, verfügt über eine
Hochschulzulassung oder studiert gar intellektuell anspruchsvolle Fächer wie – das Klischee
sei bemüht – Informatik. Es ist ausgeschlossen, dass eine Generation, die im Schnitt ein
Vielfaches an politischer Bildung der ihr vorangegangenen Generationen genossen hat,
verkennt, dass ein regulierender, sanktionierender Staat gerade die Voraussetzung für Freiheit
ist. Den Staat als eine die Bürgerrechte bedrohende Chimäre darzustellen, zeugt von Ignoranz
unseres Grundgesetzes und der Notwendigkeit, die hierin verbürgten Grundrechte aktiv zu
verteidigen. Gerade im Hinblick auf jene tausenden Kinder, die in unvorstellbarer Weise
Opfer von Sexualstraftätern geworden sind, wirkt die staatsfeindliche Haltung der
Piratenpartei wie kalter Zynismus.

Der logische Schluss muss also lauten, dass die Netzprotestler nicht für die staatlich
geschützte kollektive Freiheit, sondern vielmehr für eine universelle individuelle Freiheit
eintreten, die die Sphäre unseres Rechtsverständnisses verlässt: Freiheit ohne Rücksicht auf
die Freiheit anderer. Natürlich ist die Unterstellung einer generellen Nähe des internetaffinen
Lagers zu Pädophilen abwegig. Doch ist das Internet eine juristische Grauzone, in der es sich
Nutzer in vielerlei Hinsicht bequem gemacht haben. Urheberrechtsverletzungen wie das
illegale Herunterladen von Musik oder Filmen 3 gelten nicht einmal mehr als Kavaliersdelikt,
sondern werden auf Grund mangelnder strafrechtlicher Verfolgung als quasi legal erachtet.
Nur zu verständlich ist hier die Furcht einzelner davor, dass der Staat künftig mit der gleichen
Konsequenz im Cyberspace auftritt, wie er es bereits in der realen Welt tut. Schlüssige
Argumente, warum ein hartes Durchgreifen falsch sein sollte, führt auch die Piratenpartei
nicht an. So stehe das Urheberrecht zwar der Wissens- und Informationsgesellschaft entgegen
(welche Motivation unbezahlte Künstler und Wissenschaftler haben sollen wird nicht erklärt),
geistiges Eigentum solle jedoch generell anerkannt bleiben. All diese pseudobürgerrechtliche
Argumentation kann eines nicht verschleiern: den blanken Egoismus der Propagatoren. Was
dem griechischen Taxifahrer seine nicht ausgestellten Quittungen sind, ist dem Netzpiraten
die komfortable Welt des kostenlosen Musik- und Filmgenusses, das Ergötzen an pietätlosen
Aufnahmen verwester Körper oder der Konsum verfassungsfeindlicher oder
gewaltverherrlichender Medien, die die Rechte anderer blindlings ignorieren. Hierbei alle
Nutzer über einen Kamm zu scheren, soll nicht Absicht dieser Denkschrift sein, doch haben
nun einmal viele Kritiker des Zugangserschwerungsgesetzes ihre ganz private Nische der
Illegalität bezogen und sehen diese nun bedroht.

3
siehe Fußnote 1.
Zwar hat die Piratenpartei mit einem Ergebnis von 2,0 % der Stimmen nur geringen Einfluss
auf den Ausgang der vergangenen Bundestagswahl genommen, doch haben Analysten und
Strategen in sämtlichen Parteizentralen das Potential der Wählergruppe erkannt. Auch die
Union hat begriffen, dass das Zugangserschwerungsgesetz, welches für die meisten
Internetnutzer keinerlei Einschränkungen bedeutet hätte und immerhin dem populären Ziel
der Bekämpfung von Kinderpornographie diente, nur eine leichte Böe in das Gesicht der
Partei hat wehen lassen. Kaum auszumalen ist der Sturm, der durch konsequentere Bestrafung
illegaler Datenbeschaffung entfesselt würde. Aber rechtfertigt ein Waffenstillstand mit der
jungen Generation einen rechtsfreien Raum im Internet? Mich zumindest hat der Missetäter
mit seinem Farbbombenwurf enttäuscht. Er hätte die Farbbombe auf den NPD-Chef Udo
Voigt werfen oder für die Menschenrechte an die Mauer des chinesischen Konsulats urinieren
können. Er aber wollte keinem höheren Ziel dienen. Er wollte einfach kostenlose Musik auf
seinem iPod.

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