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Wo es euch gefällt
Arbeit ist überall – eine Reportage von Winfried Kretschmer.
Folge 9 der changeX-Serie über die neue Arbeitswelt.
Arbeiten kann man überall. Und immer mehr Menschen tun das auch. Für sie
hat sich Arbeit von festen Arbeitsorten gelöst, weil sie an jedem Ort getan
werden kann. Für die flexiblen Arbeiter von heute gilt: Arbeit ist, wo mein
Notebook ist. Arbeit ist, wo es WLAN gibt. Arbeit ist, wo ich bin. Man arbeitet
an Orten, an denen sich arbeiten lässt. Und die erst dadurch, dass man dort
arbeitet, zu Arbeitsorten werden: der Esszimmertisch, ein Café, ein Business
Center, eine Wiese im Park oder der Strand von Ko Samui.
arbeiten, in diese Richtung drängt auch die Entwicklung bei der Hardware –
auch das eine Veränderung, die sich mehr im Horizont von Jahren als von
Jahrzehnten vollzieht, gleichwohl aber unmittelbar alltäglich wird.
Kein Wunder, dass mobiles Arbeiten schnell zur Selbstverständlichkeit
geworden ist. Man ist permanent erreichbar, loggt sich von egal wo in sein
Firmennetzwerk ein, hat alle wichtigen Daten auf seinem Notebook dabei, ist
per Handy oder digitalem Assistenten immer und überall erreichbar, kann
von jedem Ort aus arbeiten. Wie ein Geschäftspartner von Tom Eicher, ein
Dienstleister für Netzwerkmanagement und Internet-Dienste, der das (deut-
sche) Winterhalbjahr über im thailändischen Ko Samui arbeitet. Für seine
Kunden ist es egal, wo er sich gerade befindet – weil eben alles über das Netz
läuft. So kam auch der Geschäftskontakt mit Tom Eicher über die Online-
Community Xing zustande. Bei dem läuft es nicht anders. Tom Eicher sagt:
„Manche meiner Kunden sehe ich nie.“
Das ist die eine Seite ortsunabhängigen Arbeitens: Kunden, die man nie zu
Gesicht bekommt, Geschäftskontakte, die über Online-Netzwerke zustande
kommen, Arbeit, die man überall tun kann. Geschäfte zwischen Monaden
im Netz, zwischen nomadisierenden digitalen Wissensarbeitern, die mal hier,
mal dort arbeiten, aber überall erreichbar sind. Die andere Seite, das ist
Arbeit mit Menschen. Intensive, persönliche, vertrauensvolle Arbeit, die
ohne das Sichgegenübertreten von Angesicht zu Angesicht, ohne die Be-
gegnung von Mensch zu Mensch nicht möglich ist. Und die zuweilen eine
zwischenmenschliche Intensität erreicht, die früher dem privaten Kontakt
zwischen Menschen vorbehalten war: Beratung, Training, Coaching. Doch
auch hier, wo Arbeit darin besteht, dass Menschen miteinander in Beziehung
treten, ist ihre Ausführung immer weniger an einen festen Arbeitsort gebun-
den. Denn reden kann man auf der Couch, am Esszimmertisch, im Café, im
Business Center oder auf einer Wiese im Park. Womit ziemlich vollständig
die Arbeitsorte von Bettina Sturm umrissen wären.
München, Georgenstraße. Ein kalter Wind weht durch die Straße mitten Arbeiten im Möglichkeitsraum.
in Schwabing. Rechts und links Bürgerhäuser aus der Gründerzeit. Läden,
Cafés, Eckkneipen im Erdgeschoss, in den Etagen darüber Wohnungen. Ein
kleiner Designladen, hatte Bettina Sturm gesagt. Dort steht sie dann auch,
eine zierliche Frau im weißen Daunenparka, und wartet vor dem Eingang.
Und schaut ein wenig strafend: „Sie sind zu früh!“ Derweil wird von innen
die Ladentür aufgesperrt, es ist Alexander Schlicht, der Inhaber. Schlicht han-
delt mit ausgewählten Möbelstücken, sein kleiner Laden „Schlichtes Design“ Arbeiten im Möglichkeitsraum:
ist voll davon: Vitrinen mit Kunstobjekten darauf, Kommoden, Tische und Bettina Sturm sucht unge-
Regale, alles handverlesene Stücke, arrangiert mit einer individuellen Note. wöhnliche Orte - und macht
Ein paar Stufen führen hinauf zu einer zweiten, sie zu ihren Arbeitsorten.
etwas erhöhten Verkaufsfläche. Dort stehen ein
Sofa, eine Kommode, ein kleiner Tisch und zwei
Stühle – ein Laden, fast wie ein Wohnzimmer.
Doch an diesem Vormittag bleibt die Ladentür
verschlossen, gehört der Laden Bettina Sturm. Sie
stellt ihre große Tasche auf einen Stuhl und packt
aus. „Eigentlich wollte ich das schon vorbereiten“,
sagt sie, „aber Sie sind ja schon da.“ Zu früh. Kur-
zerhand verpasst die zierliche Frau mit dem kurz
geschnittenen Blondschopf dem Wohnzimmer-
ambiente des Ladens ihre persönliche Note. Ein
Glas mit Lollis darin, eine Schale mit Smarties,
zwei große Tassen und eine Thermoskanne mit
dampfendem Tee, schon ist der Besprechungstisch
gerichtet. Heute für unser Interview, sonst für die
Coachingsitzungen, die Bettina Sturm in dem kleinen Laden abhält. Und mit
denen sie ihr Geld verdient. Bettina Sturm ist selbständig, ein Ein-Frau-Be-
trieb mit Schwerpunkt Karriere- und Führungskräfte-Coaching. „dein co-
pilot“ steht auf der in warmem Ocker gehaltenen Visitenkarte, daneben ein
kleiner stilisierter Flieger. Eine kleine zweisitzige Maschine, wie man sie beim
Kunstflug benutzt. Ihre Kunden sollen lernen, in ihrem Leben den Steuer-
knüppel selbst zu führen. Sollen fliegen lernen. Deshalb nennt sie sie Pilo-
ten. Sie versteht sich als Kopilotin. Klar ist aber: „Wenn der Pilot keine Eigen-
verantwortung übernimmt, dann wird das auch nichts.“ Sagt sie und nimmt
einen Schluck aus ihrer Tasse.
Mit ihrer eigenen Karriere hat sie einige Loopings hingelegt. Hotelfachfrau, Ganz klassisch am Esstisch.
Betriebswirtschaftsstudium, Fachkraft für Servicequalität und Prozessorien-
tierung, Headhunterin, einige Auslandsaufenthalte, Personalleiterin, Baby-
pause – und dann der Sprung in die Selbständigkeit als Coach für Fach- und
Führungskräfte. Gegründet hat sie ihre Firma „vom Sofa aus“. Ihre Coaching-
sitzungen hielt sie anfangs im häuslichen Wohnzimmer ab, „ganz klassisch
am Esstisch, schön hergerichtet“.
Leben und arbeiten am selben Ort, für viele Freiberufler, Freelancer, Solo-
und Kleinunternehmer nichts Ungewöhnliches, doch haben die meisten
dieser Homeoffice-Arbeiter keinen ständigen Kontakt mit Kunden. Beim
Coaching aber ist das Voraussetzung. Dass die Sitzungen in ihrer Privatwoh-
nung stattfanden, habe niemanden gestört, erinnert sich Bettina Sturm. Im
Gegenteil: „Das gab Stoff für Gespräche.“ Sie war es dann, der die Liaison
zwischen Geschäft und Privatem zu eng wurde. „Coaching neben dem Weih-
nachtsbaum“, das war auf Dauer keine Perspektive. Bettina Sturm suchte
nach Alternativen. Für Gruppen bot ein Business Center in der Münchner
Innenstadt, ein Start-up wie das ihre, eine Alternative. „Aber Einzelcoaching
in einem Zehn-Personen-Besprechungsraum mit Stahlmöbeln – so richtig
sexy war das nicht!“ Eine Ausweichmöglichkeit fand die findige Jungunter-
nehmerin in Cafés, wo sich vormittags immer eine ruhige Ecke bot – und der
Nachmittag gehört ohnehin dem Sohn.
Ihren Klienten gefiel die Kaffeehaus-Atmosphäre. Keine Büromöbel, keine
sterilen Besprechungsräume, ein Ambiente abseits des gewohnten Arbeitsall-
tags. Für Bettina Sturm war das Bestätigung. Und Ermutigung, einen Schritt
weiter zu gehen: „Dann kann ich auch in den Englischen Garten gehen“,
dachte sie. Coaching mit Kaffee, Croissants und Picknickdecke auf einer
Wiese in Münchens großem Landschaftspark war Bettina Sturms ausgefal-
lenste Idee. Dann kam die Sache mit dem Designladen, auch er nur eine
Durchgangsstation. Bettina Sturm ist jederzeit bereit, weiterzuziehen, strickt
an neuen Ideen, hält Ausschau nach neuen, ungewöhnlichen Locations:
„neue, witzige Orte“, an denen sie die Zelte ihres Büro-Nomadentums auf-
schlagen kann. Neuerdings hat sie bei einer Goldschmiedin Unterschlupf
gefunden. Und Läden, die nur zeitweise geöffnet haben, gibt es zuhauf.
Arbeit hat sich für Bettina Sturm komplett von festen Arbeitsorten gelöst.
Statt eines Büros oder einer Praxis hat sie sich ein Portfolio von Locations
zurechtgelegt, das sie flexibel und klientenbezogen nutzt: Möglichkeitsräume
für ihre Arbeit, ein Mini-Universum aus Orten, an denen sich arbeiten lässt.
Orte, die erst dadurch, dass Bettina Sturm sie in Beschlag nimmt, zu Arbeits-
orten werden. Und die dann, wenn sie ihren Kunden verabschiedet und ihre
Utensilien wieder verstaut hat, wieder zu dem werden, was sie ursprünglich
waren: ein Designladen, ein Café, eine Wiese, eine Goldschmiedewerkstatt.
Vielleicht bald auch ein Hut- oder Taschenmacherladen.
Arbeiten an wechselnden Orten, das wird für immer mehr Menschen zur Arbeit ist, wo ich bin.
Normalität. Das gilt nicht nur für die mobilen Firmenmitarbeiter, die einen
guten Teil ihrer Arbeitszeit auf Geschäftsterminen außerhalb der Firma ver-