Law

Herausgeber Fachschaft des Fachbereichs Rechtswissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt am Main

Zeitschrift für rechtswissenschaftliche Fakultäten in Deutschland - Nr. 1/2010

STALKING IN THEORIE & PRAXIS

THOMAS ETZEL • HELMUT

FÜNFSINN • STEPHAN RUSCH

Verfassungen ohne Staat?

GUNTHER TEUBNER

Gefährliche Auslandsbeurkun-
dungen − IPR in der Praxis
PETER C. FISCHER

Veröffentlichung „Freiwilliger
Kaufangebote“ von
Fondsanteilen über den
Elektronischen Bundesanzeiger
MICHAEL TYROLLER

Die EU nach dem Inkrafttreten

des Vertrags von Lissabon
JULIANE CHRISTINA POGADL

Regulation & Control of

Biopiracy
OLGA TROSHCHENOVYCH
Law Zone Nr. 1/2010

Referendare W|M
für alle Standorte
Berlin · Joachim Littig
T +49 (0)30 88 00 97-57 · j.littig@heuking.de
Brüssel · Gabrielle H. Williamson, J.D.
T +32 (0)2 646 20-00 · g.williamson@heuking.de
Chemnitz · Veit Päßler
T +49 (0)371 382 03-221 · v.paessler@heuking.de
Lernhorizonte öffnen –
gut, wenn Sie dabei Ihren
eigenen Weg gehen können.
Einbindung in nationale und internationale Mandate,
individuelle Förderung, Initiative erwünscht – das ist bei
Heuking Kühn Lüer Wojtek Unternehmensphilosophie. Und
Grund genug für Referendare und Referendarinnen, sich für
uns zu entscheiden. Wir sind eine der zwanzig größten, auf
Wirtschaftsberatung spezialisierten Sozietäten in Deutschland.
Über 200 Rechtsanwälte, Steuerberater und Notare vertreten
mittelständische und große Unternehmen. Unsere Fachkom-
petenz schließt alle Facetten des Wirtschaftsrechts ein, die wir
branchenübergreifend und mit hoher Spezialisierung im Markt
einsetzen. Beste Voraussetzungen für ein Referendariat, das
Sie nach vorne bringt.
Sie haben überdurchschnittliche Abschlüsse, verfügen über
Auslandserfahrung, und Ihr gutes Englisch ist in der Praxis
bewährt? Studienbegleitend erwarben Sie Qualifikationen
oder Erfahrungen, die Ihre unternehmerischen Fähigkeiten
erkennbar machen?
Dann freuen wir uns auf Ihre Bewerbung: Bettina Ramlau,
Leiterin Human Resources, T + 49 (0)211 600 55-381,
bewerbungreferendare@heuking.de. Weitere Fragen beant-
worten Ihnen gerne unsere Partner und Partnerinnen.
www.heuking.de
Düsseldorf · Stephan Freund Köln · Prof. Dr. Martin Reufels
T +49 (0)211 600 55-245 · s.freund@heuking.de T +49 (0)221 20 52-331 · m.reufels@heuking.de
Frankfurt · Dr. Holger Haas München · Dr. Frank Metz
T +49 (0)69 975 61-445 · h.haas@heuking.de T +49 (0)89 540 31-228 · f.metz@heuking.de
Hamburg · Dr. Thomas Wambach, LL.M. Zürich · Dr. Holger Erwin, M.Jur. (Oxford)
T +49 (0)40 35 52 80-29 · t.wambach@heuking.de T +41 (0)44 200 71-05 · h.erwin@heuking.de
Law Zone Nr. 1/2010

Editorial
Liebe Leserinnen und Leser,
„Stalking-Opfer werden künftig strafrechtlich
besser geschützt. Der Gesetzgeber hat damit ein
eindeutiges Zeichen gesetzt: Stalking ist keine
Privatsache, sondern strafwürdiges Unrecht.“ So
wurde der neue § 238 StGB von der ehemaligen
Bundesjustizministerin Brigitte Zypries im Früh-
jahr 2007 vorgestellt. Dabei war die Thematik vor
etwa zehn Jahren in Deutschland kaum bekannt.
Während es in anderen Ländern, wie beispielswei-
se den USA, Großbritannien, Kanada und Austra-
lien bereits Antistalkinggesetze seit Anfang und
Mitte der Neunziger Jahre gab, wurde in Deutsch-
land das Problem in gesellschaftlicher als auch
in rechtlicher Hinsicht lange Zeit nur vereinzelt
wahrgenommen. Erst 2002 reagierte der Deutsche
Gesetzgeber erstmals zum Opferschutz durch das
Gewaltschutzgesetz (GewSchG), bevor auch durch
eine Normierung im Kernstrafrecht versucht wur-
de, dem Problem Herr zu werden.
Drei Jahre sind nun seit Inkrafttreten der Norm ver-
strichen und Berichte über praktische Erfahrungen
im Umgang mit § 238 StGB sind kaum zu finden.
Daher widmet sich die LawZone im Titelthe-
ma dieser Ausgabe der Frage der Effektivität des
§ 238 StGB in der Praxis. In einem Beitragskom-
plex berichten aus dem Hessischen Ministerium
für Justiz Dr. Helmut Fünfsinn, Kriminalhaupt-
kommissar Stephan Rusch und Rechtsanwalt Dr.
Thomas Etzel über erste Erfahrungen der justiti-
ellen, polizeilichen sowie der anwaltlichen Praxis,
bei denen auch Vorschläge unterbreitet werden,
um den Opferschutz beim Umgang mit der Norm
zu stärken.
Law Zone Nr. 1/2010
In eigener Sache
Zum Thema „Verfassungen ohne Staat − Zur
Konstitutionalisierung transnationaler Regimes“
beschreibt Professor Dr. Dr. h.c. mult. Gunther
Teubner (Goethe-Universität Frankfurt am Main
und London School of Economics) seine vier The-
sen. Dieser Beitrag mit Bezug zur jüngsten globa-
len Finanzkrise stammt aus der Ringvorlesung am
20. Januar 2010 des Exzellenzclusters Normative
Orders an der Goethe-Universität Frankfurt am
Main (www.normativeorders.net).
Mit einer Überleitung zur Finanzkrise behandelt
Rechtsanwalt Michael Tyroller „Die Veröffentli-
chung „Freiwilliger Kaufangebote“ von Fondsan-
teilen über den Elektronischen Bundesanzeiger“.
An anderer Stelle stuft unser Autor Rechtsanwalt
Dr. Peter C. Fischer Auslandsbeurkundungen als
problematisch ein. In seinem Beitrag „Gefährliche
Auslandsbeurkundungen“ geht er in diesem Zu-
sammenhang auf die komplexen Fragen des Inter-
nationalen Privatrechts ein.
Die aktuellen Entwicklung des Vertrags von Lis-
sabon seit seinem Inkrafttreten im Dezember 2009
und seine Rechtsmaterie sind Thema des Beitrages
von Juliane Christina Pogadl. Mit dem ersten eng-
lisch-sprachigen Text in unserer Zeitschrift „The
Regulation and Control of Biopiracy by The Con-
vention on Biodiversity“ lässt Olga Troshchenovy-
ch diese recht wissenschaftliche Ausgabe ausklin-
gen.
An dieser Stelle ein Vielen Dank an alle Autoren
der LawZone 1/2010!
Ich wünsche eine interessante und ertragreiche
Lektüre,
Ihr
Alexander Junkov
Chefredakteur
Frankfurt am Main im März 2010
3
 In eigener Sache

Inhaltsverzeichnis
In eigener Sache

Editorial 3

Impressum 50

Titelthema

Erste Erfahrungen mit dem Stalking-Bekämpfungsgesetz
Von Hemlut Fünfsinn 13

§ 238 StGB (Nachstellen) in der anwaltlichen Praxis

Von Thomas Etzel 17

Das „Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellung“−

Allheilmittelmittel polizeilicher Intervention bei Stalking?
Von Stephan Rusch 22

Ausbildung

Gefährliche Auslandsbeurkundungen – IPR in der Praxis

Von Peter C. Fischer 6

Die Europäische Union nach dem Inkrafttreten des

Vertrags von Lissabon
Von Juliane Christina Pogadl 9

Die Veröffentlichung „Freiwilliger Kaufangebote“ von

Fondsanteilen über den Elektronischen Bundesanzeiger
Von Michael Tyroller 39

Regulation and Control of Biopiracy by Convention
on Biodiversity
Von Olga Troshchenovych 41

Kommentar

Verfassungen ohne Staat? –
Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes
Von Gunther Teubner 32

Buchrezensionen 47

4 Law Zone Nr. 1/2010

Law Zone Nr. 1/2010 5
 Ausbildung
Gefährliche Auslandsbeurkundungen – IPR in der Praxis
Von Rechtsanwalt Dr. Peter C. Fischer, M.C.J., Attorney at Law (New York),
Frankfurt a.M.*
Der eine oder andere Jurastudent wird sich
während des Studiums mit Interesse mit Fragen
des sogenannten Internationalen Privatrechts
(IPR) befassen. Neben der damit zwangsläufig
verbundenen ausgezeichneten dogmatischen
Schulung wird ein Grund für das Interesse am
IPR möglicherweise die Erwartung sein, dass
im Zeitalter der Globalisierung Sachverhalte mit Aus-
landsbezug und die damit verbundenen Fragen nach dem
anzuwendenden Recht in der Rechtspraxis eine beson-
ders große Bedeutung haben.
1. Bedeutung des IPR für die Praxis
In der Rechtswirklichkeit werden diese Studenten dann
jedoch feststellen, dass das IPR – jedenfalls in Wirt-
schaftskanzleien – nicht ganz die Relevanz hat, die man
theoretisch erwarten könnte, was wohl vor allem damit
zusammenhängen dürfte, dass in der Praxis jedenfalls im
schuldrechtlichen Bereich viele komplizierte IPR-Pro-
bleme pragmatisch im Wege der Rechtswahl gelöst wer-
den (im Sachenrecht besteht diese Möglichkeit allerdings
wegen des zwingenden lex rei sitae Grundsatzes nicht,
vgl. Art. 43 EGBGB). Anders sieht es da bei Anwälten
und Notaren aus, die vor allem in den Bereichen Fami-
lien- und Erbrecht tätig sind, denn dies sind die Domä-
nen des IPR. Jedoch beschäftigen sich in Teilbereichen
auch Wirtschaftsanwälte – insbesondere im Rahmen des
internationalen Gesellschaftsrechts – mit Kollisions-
problemen. Eines der meistdiskutiertesten Probleme in
diesem Bereich ist die Frage, ob GmbH-Geschäftsan-
teile, die nach deutschem GmbH-Recht nur in notarieller
Form verkauft und übertragen werden können (vgl. § 15
Abs. 3, 4 GmbH-Gesetz), im Wege einer Auslandsbe-
urkundung (z.B. durch Notare in bestimmten Kantonen
der Schweiz) formwirksam verkauft und/oder übertragen
werden können. Diese Problematik soll nachfolgend zu-
mindest in den Grundzügen dargestellt werden.
2. Motiv für Geschäftsanteilsabtretung im Ausland
Besondere praktische Relevanz erhält die Frage der Be-
urkundung von Geschäftsanteilsabtretungen im Aus-
land dadurch, dass die Kostenordnung für deutsche No-
tare feste Gebühren für die Beurkundung vorsieht (vgl.
§ 140 KostO), während z.B. schweizerische Notare je
nach Kanton über ihre Gebühren Vereinbarungen tref-
fen können und in Kenntnis der zwingenden deutschen
Gebührenordnung entsprechend niedrigere Gebühren für
derartige Beurkundungen anbieten können. Dies führt zu
6 Law Zone
dem – auf Laien außerordentlich merkwürdig
wirkenden – sog. „Notartourismus“.
3. Ausgangsfragen für Wirksamkeitsprü-
fung
Im Rahmen der Prüfung der Wirksamkeit von
derartigen Auslandsbeurkundungen sind zwei
Fragen zu unterscheiden:
(1) Welchen Formvorschriften unterliegt die Verpflich-
tung zur Veräußerung und welchen Formvorschriften un-
terliegt die Übertragung von GmbH-Geschäftsanteilen in
Fällen mit Auslandsberührung?
(2) Kann eine etwaige Beurkundungspflicht im Wege der
Beurkundung durch einen ausländischen Notar erfüllt
werden (Frage der Substitution)?
3.1 Frage 1: Anzuwendende Formvorschriften
Zentrale Norm für die Beantwortung der Frage nach der
anzuwendenden Formvorschrift ist Art. 11 EGBGB, der
die Frage der Formgültigkeit einer sog. Sonderanknüp-
fung unterstellt. Gemäß Art. 11 Abs. 1 EGBGB ist ein
Rechtsgeschäft formgültig geschlossen, wenn entweder
die Formvorschriften derjenigen Rechtsordnung einge-
halten wurden, die auf das betreffende Rechtsgeschäft
anzuwenden sind (sog. Wirkungsstatut), oder wenn alter-
nativ die Formerfordernisse der Jurisdiktion erfüllt wur-
den, in der das Rechtsgeschäft vorgenommen worden ist
(sog. Ortsstatut). Dabei schadet es nicht, wenn die Par-
teien nur zum Zwecke einer Beurkundung in das Ausland
reisen.
Wie stets muss auch hier klar zwischen Verpflichtungs-
und Verfügungsgeschäft differenziert werden. Dabei ist
zu beachten, dass § 15 GmbH-Gesetz sowohl das Ver-
pflichtungs- als auch das Verfügungsgeschäft notarieller
Form unterstellt, wobei eine formwirksame Abtretung ein
formunwirksames Verpflichtungsgeschäft heilen würde.
a) Verpflichtungsgeschäft
Für das Verpflichtungsgeschäft gilt der Grundsatz der
freien Rechtswahl (vgl. Art. 27 Abs. 1 EGBGB), d.h. die
Parteien könnten insoweit z.B. Schweizer Recht wählen
(dies wäre dann das Wirkungsstatut), sodass in diesem
Fall auch für die Formfrage Schweizer Recht gelten wür-
de. Da das Schweizer Recht für die Verpflichtung zur
Veräußerung eines Geschäftsanteils an einer deutschen
GmbH keine notarielle Form und schon gar keine Beur-
kundung durch einen deutschen Notar vorschreibt, wäre
Nr. 1/2010

ein entsprechendes Verpflichtungsgeschäft ohne Einhal-
tung der an sich nach deutschem GmbH-Gesetz vorge-
schriebenen Beurkundung durch einen deutschen Notar
wirksam.
Dass es nicht besonders sinnvoll ist, den Kaufvertrag
über den Erwerb von Anteilen an einer deutschen GmbH
Schweizer Recht zu unterstellen, steht auf einem ande-
ren Blatt: Bei grenzüberschreitenden Unternehmenskäu-
fen sollte man sinnvollerweise immer das Recht wählen,
dem auch die Zielgesellschaft unterliegt.
b) Verfügungsgeschäft
Komplizierter wird es jedoch, sobald es um die Frage der
Übertragung des GmbH-Geschäftsanteils geht. Für das
sogenannte Wirkungsstatut gilt bei diesem Verfügungs-
geschäft nicht der Grundsatz der freien Rechtswahl, viel-
mehr kommt hier das sogenannte Gesellschaftsstatut zur
Anwendung. Gesellschaftsstatut ist für die „deutsche“
GmbH sowohl gemäß der grundsätzlich noch geltenden
Sitztheorie als auch nach der im Referentenentwurf für
ein Gesetz zum Internationalen Privatrecht der Gesell-
schaften, Vereine und juristischen Personen vorgese-
henen neuen Regelung deutsches Recht.
Daher gelangt man zu der Frage, ob man alternativ zum
Wirkungsstatut auch auf das Ortsstatut abstellen kann, d.h.
bei Abschluss des Übertragungsvertrages in der Schweiz
dasjenige Recht anwendet, welches in der Schweiz für
Übertragungen von Beteiligungen an einer GmbH gilt.
Diese Frage ist jedoch durchaus umstritten, insbesondere
wird eingewandt, dass der Zweck des § 15 GmbH-Ge-
setz nicht primär in den üblichen Formzwecken (Über-
eilungsschutz, Beweissicherung und Beratung) bestehe,
sondern – dies dürfte unstreitig sein – diese Formvorgabe
gerade den Zweck verfolge, den schnellen (spekulativen)
Handel mit GmbH-Geschäftsanteilen zu unterbinden
(mag dies auch ein eher ungewöhnlicher Formzweck
sein, der aber in der gegenwärtigen Krise neue Bedeu-
tung erlangt haben dürfte). Wegen dieses Zwecks wird
§ 15 Abs. 3 GmbH-Gesetz jedenfalls teilweise sach-
lichrechtlich qualifiziert (also insoweit keine Sonderan-
knüpfung gem. Art. 11 EGBGB vorgenommen), so dass
nicht alternativ auf das Ortsrecht abgestellt werden kann.
Davon unabhängig wird in der Literatur diskutiert, ob
die Änderung des Schweizer Obligationenrechts, durch
welche das Erfordernis der Beurkundungspflicht für die
Übertragung von Anteilen an einer Schweizer GmbH
durch ein einfaches Schriftformerfordernis ersetzt wor-
den ist, dazu führt, dass das Schweizer Recht überhaupt
keine Ortsform mehr kennt (kein Ortsstatut wegen sog.
Formenleere). Da es im Übrigen bislang an einer klaren
Stellungnahme des BGH zu der Frage der Ortsform fehlt,
ist in der Praxis die Ortsform jedenfalls keine hinreichend
zuverlässige Basis.
Vor diesem Hintergrund muss schon aus Gründen der
Vorsicht als Zwischenergebnis festgehalten werden, dass
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
entsprechend dem Wirkungsstatut eine Beurkundungs-
pflicht für die Übertragung von Geschäftsanteilen einer
deutschen GmbH auch dann besteht, wenn diese in der
Schweiz vorgenommen werden sollte. Oder anders for-
muliert: Es sollte nicht alternativ die Ortsform herange-
zogen werden.
3.2 Frage 2: Substitution bei Funktionsäquivalenz
Somit stellt sich die (zweite) Frage, ob das Erfordernis
der Beurkundungspflicht nach dem Wirkungsstatut, also
gemäß § 15 Abs. 3 GmbH-Gesetz, auch durch einen
Schweizer Notar erfüllt werden kann (Frage der Subs-
titution; um Missverständnissen vorzubeugen: bei der
Ortsform, die hier nicht herangezogen werden kann,
wäre diese Frage irrelevant). Dies kann nach Auffassung
des BGH nur dann bejaht werden, „wenn die auslän-
dische Urkundsperson nach Vorbildung und Stellung im
Rechtsleben eine der Tätigkeit des deutschen Notars ent-
sprechende Funktion ausübt und für die Errichtung der
Urkunde ein Verfahrensrecht zu beachten hat, das den
tragenden Grundsätzen des deutschen Beurkundungs-
rechts entspricht“ (sog. Funktionsäquivalenz). Diese
Frage ist für jeden Kanton der Schweiz einzeln genau zu
prüfen und wurde in der Vergangenheit für einige we-
nige Kantone von der Rechtsprechung bejaht, ist jedoch
einerseits durch aktuelle Änderungen des Schweizer Ob-
ligationenrechts sowie andererseits insbesondere durch
die in der letzten GmbH-Reform (MoMiG) eingeführte
Pflicht des Notars, nach einer Beurkundung eine aktuelle
Gesellschafterliste mit einer entsprechenden notariellen
Bestätigung beim Handelsregister einzureichen (vgl.
§ 40 Abs. 2 GmbH-Gesetz n.F.), zweifelhaft geworden
(so bereits das LG Frankfurt in einer Entscheidung vom
7. Oktober 2009).
Diese gesetzlichen Änderungen auf deutscher wie
schweizerischer Seite lassen es jedenfalls als ein unkalku-
lierbares Wagnis erscheinen, die Beurkundung einer Ge-
schäftsanteilsübertragung in der Schweiz vorzunehmen.
Daher sollte man nach neuer Rechtslage in der Praxis
nicht (mehr) zu einer derartigen Auslandsbeurkundung
raten. Hierbei darf auch nicht übersehen werden, dass al-
lein die Rechtsunsicherheit und die damit verbundenen
Fragen, die den Veräußerer und Erwerber von derartigen
Geschäftsanteilen unter Umständen über Jahrzehnte hin-
weg beschäftigen können, in jedem Fall außer Verhältnis
zu den gesparten Gebühren stände.
4. Rechtslage bei organisationsrechtlichen Vor-
gängen im Gesellschaftsrecht
Hinsichtlich anderer beurkundungspflichtiger Vorgänge
im Gesellschaftsrecht ist die Rechtslage klarer: Orga-
nisationsrechtliche Vorgänge (teilweise wird auch von
statusrelevanten Maßnahmen gesprochen) bei Gesell-
schaften (wie z.B. Gesellschaftsgründungen oder Sat-
zungsänderungen) können nach h.M. grundsätzlich nur
7
 Ausbildung
von einem deutschen Notar wirksam beurkundet werden.
Begründet wird dies insbesondere mit dem Verkehrsin-
teresse, da derartige Vorgänge auch Auswirkungen auf
Dritte haben können. Der Referentenentwurf für ein Ge-
setz zum Internationalen Privatrecht der Gesellschaften,
Vereine und juristischen Personen sieht für Art. 11
EGBGB einen neuen Absatz vor, der das Gesellschafter-
statut für alle Rechtsgeschäfte vorsieht, die die Verfas-
sung der Gesellschaft betreffen. Eine Ausdehnung dieser
neuen Regelung auf die Mitgliedschaft (Anteilsübertra-
gung) – bei gleichzeitiger gesetzlicher Feststellung, dass
in der Vergangenheit vorgenommene Auslandsbeur-
kundungen wirksam sind – würde die oben dargestellte
Rechtsunsicherheit beseitigen, Unternehmen vor allein
kostengetriebenen risikoreichen Beurkundungen im
Ausland bewahren und damit im Ergebnis zu einer sach-
gerechten Rechtspflege führen. Dadurch würden auch
die anwaltlichen Berater aus der paradoxen Situation
befreit, einerseits Mandanten auf die Möglichkeit einer
Auslandsbeurkundung hinweisen zu müssen (Mandanten
schätzen es nicht, wenn man ihnen derartige Informati-
onen vorenthält), andererseits aber den Mandanten von
dieser Möglichkeit sofort wieder abraten zu müssen (wo-
bei man die Komplexität der Thematik nur schwer ver-
mitteln kann). Durch die zwingende Notwendigkeit einer
Beurkundung von Anteilsabtretungen deutscher GmbHs
in Deutschland käme man auch zu einem Gleichlauf mit
den entsprechenden Regelungen im Grundstücksrecht,
die nachstehend kurz dargestellt werden sollen.
5. Exkurs: Rechtslage bei Grundstücksveräuße-
rungen
Bei Grundstücksverkäufen, also bei dem schuldrecht-
lichen Rechtsgeschäft, kann das anzuwendende Recht
gemäß Art. 27 Abs. 1 EGBGB ebenso frei gewählt wer-
den wie bei Verkäufen von GmbH-Geschäftsanteilen, so
dass über Art. 11 EBGBG die Form des ggf. gewählten
ausländischen Rechts zur Anwendung käme (sinnvoll ist
dies aber auch in diesem Fall nicht). Für die dingliche
Übertragung gilt aber gemäß Art. 11 Abs. 5, Art. 43
EGBGB bei in der Bundesrepublik belegenen Grund-
stücken, dass die hierfür notwendige Auflassung (§ 925
BGB) nur vor einem deutschen Notar erklärt werden
kann (sieht man einmal von der Möglichkeit der Erklä-
rung vor einem Konsularbeamten ab). Die Beurkundung
einer Auflassung durch einen ausländischen Notar erfüllt
nicht die Wirksamkeitsvoraussetzungen des § 925 Abs. 1
Satz 2 BGB und wäre für im Inland belegene Grundstü-
cke unwirksam.
6. Weitere Risiken bei Auslandsbeurkundungen
Unabhängig von den Fragen der Wirksamkeit von Aus-
landsbeurkundungen zeigt die Praxis immer wieder, dass
Beurkundungen deutschrechtlicher Vorgänge vor aus-
ländischen Notaren, die mit den Tücken des deutschen
8 Law Zone
Rechts naturgemäß nicht vertraut sind und auch nicht
vertraut sein können, immer besonders gefährlich sind
(der deutsche Notar ist aus gutem Grund im umgekehrten
Fall gem. § 17 Abs. 3 Satz 2 BeurkG nicht zur Belehrung
über ausländisches Recht verpflichtet).
Ein „Klassiker“ sind bei Auslandsbeurkundungen Ver-
stöße gegen § 181 BGB: Diese jedem Studenten seit dem
ersten Semester geläufige Vorschrift hat eine erhebliche
praktische Relevanz und führt insbesondere in folgenden
Konstellationen oft zu schwebend unwirksamen Anteils-
übertragungen: Um im Rahmen des oben dargestellten
Notartourismus nicht nur Gebühren, sondern auch Rei-
sekosten zu sparen, erstellen Käufer und Verkäufer von
Geschäftsanteilen z.B. im Rahmen einer konzerninternen
Umstrukturierung gerne Vollmachten auf eine Person
aus, die dann nach Basel oder Zürich fliegt, oder – noch
einfacher – auf einen Mitarbeiter des Schweizer Notars
(gerne werden hierfür auch Schweizer Jurastudenten
eingesetzt), der dann die notwendigen Erklärungen vor
diesem Notar abgibt. Selbstverständlich wird in den
beiden Vollmachten diese eine Person jeweils von den
Beschränkungen des § 181 BGB befreit. Trotzdem wäre
diese von dieser Person für beide Vertragsseiten unter-
zeichnete Anteilsabtretung gemäß § 177 Abs. 1 BGB
schwebend unwirksam, wenn auch nur eine der Per-
sonen, die die handelnde Person bevollmächtigt haben,
ihrerseits nicht von § 181 BGB befreit war (in unserem
Konzernfall wäre genaugenommen § 181 Alt. 2 BGB
einschlägig), was in der Praxis recht häufig der Fall sein
dürfte (viele deutsche Konzerne schützen sich durch ein
Vier-Augen-Prinzip bei gleichzeitigem grundsätzlichem
Verzicht auf eine Befreiung von den Beschränkungen des
§ 181 BGB). Oder einfacher formuliert: Ein Vollmacht-
geber kann nicht mehr Rechtsmacht auf einen Vertreter
übertragen als er selbst hat.
Die fehlende Vertretungsmacht wird jedoch in dieser
tückischen Konstellation (die Vollmachten enthalten ja
sogar explizit eine Befreiung von § 181 BGB!) gera-
de vielen ausländischen Notaren nicht auffallen, da die
meisten Rechtsordnungen zwar Missbrauchstatbestände
bei Vertretungsfällen kennen, aber keine dem § 181 BGB
vergleichbare Bestimmung haben. Dabei ist zu beachten,
dass die Frage der organschaftlichen Vertretung inkl.
der Anwendung des § 181 BGB sich nach dem Gesell-
schaftsstatut richtet, also bei einer deutschen GmbH oder
deutschen AG nach deutschem Recht.
Hinzu kommt, dass es bei Anwälten die unschöne Praxis
gibt, den Entwurf des Urkundeneingangs, also des Teils
der Urkunde, bei dem man sich auch gedanklich mit Fra-
gen der wirksamen Vertretung befasst, in letzter Minute
gänzlich dem (ausländischen) Notar zu überlassen. Auf
den Entwürfen den englischsprachigen Unternehmens-
kaufverträge steht dann lapidar „to be notarized“; besser
wäre es, Verträge von Anfang an so zu entwerfen wie sie
am Ende auch unterzeichnet werden sollen.
Nr. 1/2010

7. Konsequenz für Studium und Praxis
Diese hier zugegebenermaßen nur recht rudimentär ge-
schilderte Problematik der Beurkundung von Anteilsü-
bertragungen im Ausland dürfte jedenfalls deutlich ge-
macht haben, wie komplex und tückisch derartige Fragen
des Internationalen Privatrechts sind.
Bei Interesse an besonders kniffligen juristischen Frage-
stellungen kann das IPR als Trainingsfeld jedem Student/
jeder Studentin nur empfohlen werden. Vorsichtige An-
wälte werden dagegen im Interesse ihrer Mandanten der-
artige Minenfelder tunlichst meiden und vor dem Hinter-
grund der aktuellen Rechtsentwicklung von unsicheren
Die Europäische Union nach dem Inkrafttreten des Vertrags
von Lissabon
Von Rechtsreferendarin Juliane Christina Pogadl, Frankfurt a.M.
I. Einführung
Ob Bananen, Gurken oder Glühbirnen, die Europäische
Union (EU) ist im Alltag nicht so fern wie von ihren Bür-
gern häufig empfunden. Täglich kommt der Europäer1
heute mit Akten des europäischen Souveräns in Berüh-
rung. Eine Zahl verdeutlicht dies: Etwa achtzig Prozent
der in Deutschland geltenden Wirtschaftsgesetze sind
europäisches Recht, insgesamt wird der Anteil der euro-
päisch determinierten Gesetze in Deutschland auf etwa
60% geschätzt2. Die Zuständigkeiten der EU erstrecken
sich damit auch auf sehr grundrechtssensible Bereiche
wie Visa, Asyl und Einwanderung3 oder den Europä-
ischen Haftbefehl4. Die europäische Integration ist somit
derart weit fortgeschritten, dass die ursprünglich bloße
Wirtschaftsgemeinschaft längst auch eine Grundrechts-
gemeinschaft geworden ist. Dies stellt die EU sowohl
strukturell als auch materiell vor neue Herausforde-
rungen: Zum einen muss der nun auf 27 Mitglieder an-
gewachsene Staatenbund handlungsfähig bleiben, zum
anderen erfordern derartige materielle Eingriffserweite-
rungen auch eine Stärkung des Grundrechtsschutzes für
den Unionsbürger.
Mit dem Vertrag von Lissabon, der am 1. Dezember 2009
in Kraft getreten ist, soll die EU (und die Europäischen
Gemeinschaften (EG)) an diese europäischen Realitäten
angepasst und für die mit wachsender Größe und Integra-
tion einhergehenden Herausforderungen gerüstet wer-
den. Der vorliegende Aufsatz soll zunächst einen kurzen
Überblick über die Entwicklung und die Regelungsma-
1
Hier im Sinne von EU-europäisch.
2
Dies untersucht und belegt Hoppe ausführlich und in Zahlen in EuZW
2009, 169.
3
Vgl. Titel IV EGV, nach Lissabon Titel V AEUV.
4
Insbesondere im Vertrag von Amsterdam wurden der Union weitere
Kern-Kompetenzen übertragen und der Zuständigkeitsbereich so deutlich
erweitert (vgl. Nickel, JZ 2001, 628).
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
Auslandsbeurkundungen jedenfalls in Zukunft abraten.1
*
Dr. Peter C. Fischer, M.C.J. (NYU), ist Partner der Raupach & Wollert-
Elmendorff Rechtsanwaltsgesellschaft mbH in Frankfurt am Main. Rau-
pach ist eine überörtliche Wirtschaftskanzlei mit ca. 90 Rechtsanwälten
und Rechtsanwältinnen an den Standorten Berlin, Düsseldorf, Frankfurt,
Hamburg, Hannover, München und Stuttgart. Die Kanzlei berät in allen
Fragen des nationalen und grenzüberschreitenden Wirtschaftsrechts, koo-
periert mit der „Big Four“-Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Deloitte und ist
Mitglied in einem mulitnationalen Kanzleinetzwerk mit über 1.500 Anwäl-
ten. Raupach ist grundsätzlich an Bewerbungen von wirtschaftsrechtlich
interessierten Praktikanten/-innen und Referendaren/-innen interessiert.
E-Mail: pfischer@raupach.de
Homepage: www.raupach.de
terie des Vertrags von Lissabon geben und anschließend
daran die Änderungen für den Grundrechtsschutz des
Unionsbürgers aufzeigen.
II. Genese und Ratifikation des Vertrags von Lissa-
bon
Der Vertrag von Lissabon wurde am 13.12.2007 von
den Staats- und Regierungschefs der 27 Mitgliedsstaa-
ten der EU in Lissabon unterzeichnet. Er übernimmt im
Wesentlichen den materiellen Inhalt des zwei Jahre zu-
vor an den Referenden in Frankreich und den Niederlan-
den gescheiterten „Vertrag[s] über eine Verfassung für
Europa“ (Verfassungsvertrag), der die auf 27 Mitglied-
staaten angewachsene Union in wesentlichen Bereichen
reformieren sollte. Dieser war neben innen- und europa-
politischen Gründen, wohl aufgrund seiner scheinbaren
Verfassungsgestalt in der europäischen Bevölkerung auf
Ablehnung gestoßen. Dass der Verfassungsvertrag auf
der fortbestehenden Souveränität der Mitgliedstaaten be-
ruhte und infolgedessen keine staatskonstituierende Wir-
kung entfalten würde, war der europäischen Öffentlich-
keit nicht vermittelbar5. Der Europäische Rat beschloss
daher auf seiner Tagung am 19. Juni 2007 die Aufgabe
der weiteren Ratifizierung des Verfassungsvertrags und
beschloss die Erarbeitung eines neuen Reformvertrags,
in dem nun auf jeglichen Verfassungsbezug und entspre-
chende Terminologie verzichtet wurde6. Zudem vermied
man in dem erneuten Ratifizierungsverfahren Volksab-
stimmungen wo es verfassungsrechtlich ging. Die irische
Verfassung ließ allerdings keinen Parlamentsbeschluss
zu, und so hatte im Juni 2008 schließlich die irische Be-
völkerung über den Reformvertrag zu entscheiden7. Sie
5
Lindner, BayVbl 2008, 421.
6
Bergmann, DÖV 2008, 305.
7
Vgl. Art. 46 II i.V.m. Art. 29 IV Nr. 3-5 Verfassung der Republik Irland.
9
 Ausbildung
entschied mit 53% gegen den Reformvertrag. Erst nach
einer Reihe von Zugeständnissen8 an die irische Seite
konnte ein erneutes positives Referendum erzielt werden.
Auch in anderen Mitgliedstaaten gab es Widerstände ge-
gen die Ratifizierung. In Deutschland9 und Tschechien
etwa, war eine Unterzeichnung durch die Regierungen
erst nach Befassung der obersten Gerichte möglich.
Am 1. Dezember 2009 ist nach der Ratifikation Polens
als letztem der 27 Mitgliedstaaten der Vertrag von Lissa-
bon in Kraft getreten.
III. Institutionelle Neuerungen
Der Vertrag von Lissabon soll als Erbe des Verfas-
sungsvertrags vor allem das strukturelle und institutio-
nelle Gefüge der europäischen Institutionen EU und EG
verändern und die an Demokratie-, Legitimations- und
Identifikationsdefizit10 kränkelnde Union so für das 21.
Jahrhundert und eine fortschreitende Integration rüsten.
Die Union soll hierfür in Struktur und Abläufen transpa-
renter und demokratischer gestaltet und so zugleich eine
größere Identifikation der Bürger mit der Union erreicht
werden. Zudem sollen die Unionsorgane ihre aufgrund
der Größe des Staatenbundes eingebüßte Handlungsfä-
higkeit wiedererlangen.
Zunächst ist die Stärkung des Europäischen Parlaments
im Gesetzgebungsverfahren zu nennen. Durch die Aus-
weitung des bisher in Art. 251 EGV geregelten Mit-
entscheidungsverfahrens in der Gesetzgebung wird das
Parlament neben dem Rat als bisher wichtigstem Gesetz-
gebungsorgan zum gleichberechtigten Mitgesetzgeber11.
Der Europäische Rat wird als Organ der EU anerkannt,
bei gleichzeitiger Schaffung des Amtes eines hauptamt-
lichen Präsidenten12. Zudem werden die Entscheidungen
mit qualifizierter Mehrheit im Rat ausgebaut und so des-
sen Handlungsfähigkeit erhöht.
Die Europäische Kommission wird über die Verringe-
rung ihrer Größe handlungsfähiger gemacht13 und über
die künftige Wahl des Kommissionspräsidenten durch
das Europäische Parlament die demokratische Legitima-
tion der Kommission gestärkt14. Zudem wird das Amt
eines Hohen Vertreters der Union für Außen- und Sicher-
heitspolitik geschaffen15.
8
Man stellte klar, dass der Vertrag von Lissabon weder die Neutralitäts-
politik Irlands, noch – mit Blick auf das irische Abtreibungsverbot – die
Bestimmungen der irischen Verfassung über das Recht auf Leben, die Fa-
milie und die Bildung durch die Grundrechtecharta berührt werden. Zudem
soll Irland künftig auch ein Kommissionsmitglied stellen (Haratsch/König/
Pechstein, Rdn. 35 b).
9
Vgl. BVerfG, Urteil zum Vertrag von Lissabon vom 30.06.2009, abge-
druckt in NJW 2009, 2267 ff., 2268, 2294, 2295.
10
Diese Diagnose stellte der Rat von Laeken, der sich im Dezember 2000
zur Prüfung der Rechtsverbindlichkeit der zuvor in Nizza proklamierten
Charta getroffen hatte und sich später zum Verfassungskonvent konstitu-
ierte (vgl. Müller, in: Beckmann/Dieringer/Hufeld, S.75, 76).
11
Vgl. Art. 14 I, 16 I EUV-Liss, Art. 294 AEUV.
12
Vgl. Art. 15 II, V, VI EUV-Liss.
13
Vgl. Art. 17 V EUV-Liss.
14
Vgl. Art. 17 VII EUV-Liss.
15
Pache/Rösch, NVwZ 2008, 473, 475.
10
Der Gerichthof erhält die Bezeichnung „Gerichtshof der
Europäischen Union“. Seine Rechtsprechungszuständig-
keit wird auf alle Bereiche der Union, ausgenommen die
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik (GASP),
ausgeweitet16.
IV. Neuordnung der Verträge – Union von EU und
EG
Auch die strukturelle Erscheinung der Union wird mit
dem Vertrag von Lissabon erheblich verändert. Nach
Art. 1 EUV-Liss. findet eine Verschmelzung von EU-
und EG-Recht statt: Die EG wird aufgelöst und geht in
die Union über, die gem. Art. 47 EUV-Liss.17 eine ein-
heitliche Rechtspersönlichkeit erhält18. Das Recht die-
ser einheitlichen (vereinigten) Union verbleibt jedoch
in zwei Verträgen: Der EGV wird umbenannt und zum
„Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union“
(AEUV), daneben steht der EUV, dann in der durch den
Lissabonner Vertrag geänderten Fassung (EUV-Liss.).
Die Europäische Atomgemeinschaft (EAG) wird aus der
Union ausgegliedert und damit wieder eine eigenständi-
ge, überstaatliche Organisation19. Auch die Säulenstruk-
tur wird dadurch aufgelöst20. Die bisher vom EUV erfass-
ten Bereiche verschmelzen inhaltlich zur einheitlichen
Union21. Die GASP wird in die erste Säule übertragen,
die Polizeiliche und Justizielle Zusammenarbeit in Straf-
sachen (PJZS) wird als „Raum der Freiheit, der Sicher-
heit und des Rechts“ in den AEUV überführt22.
V. Änderungen im (Grund-)Rechtsschutz
Der Vertrag von Lissabon reformiert auch die Grund-
rechtsarchitektur der Union. Bisher war die Unionsge-
walt nicht durch einen geschriebenen Grundrechtskatalog
beschränkt, die nationalen Grundrechte wegen des An-
wendungsvorrangs nicht anwendbar und die Union selbst
mangels Mitgliedschaft in der Europäischen Konvention
zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten
(EMRK) auch nicht an die Konvention gebunden. Gegen
unionale Hoheitsakte war der Unionsbürger daher nur
mittelbar und damit unzureichend geschützt. Der Ver-
trag von Lissabon sieht diesbezüglich bedeutsame Neu-
erungen vor: Zum einen wird nach Art. 6 I EUV in der
Fassung von Lissabon (EUV-Liss.) die Charta der Grund-
rechte der Europäischen Union (Grundrechtecharta) als
den Gründungsverträgen gleichgeordnetes Primärrecht
verbindlich. Zum anderen formuliert Art. 6 II EUV-Liss.
16
Art. 46 EUV entfällt, sodass sich die Zuständigkeit des EuGH künftig auf
beide Verträge (EUV und AEUV) erstreckt. Dabei bleibt der Bereich der
GASP aber ausgeschlossen. (Everling, EuR 2009/1, 0078.).
17
Art. 47 EUV-Liss: „Die Union besitzt Rechtspersönlichkeit“.
18
Bisher besaß allein die EG nach Art. 281 EGV Rechtspersönlichkeit.
Die EU tritt damit als Rechtsnachfolgerin an die Stelle der EG, Art. 1 III
3 EUV-Liss.
19
Hatje/Kindt, NJW 2008, 1761.
20
Streinz/Ohler/Herrmann, S. 32; Lindner, BayVbl 2008, 422.
21
Streinz/Ohler/Herrmann, S. 38.
22
Lindner, BayVbl 2008, 422, 424.
Law Zone Nr. 1/2010

einen Beitrittsauftrag für die Union zur EMRK. Damit
verändert sich das europäische Grundrechtsschutzgefüge
insbesondere innerhalb der EU erheblich. Zudem werden
auch die Zugangsvoraussetzungen für Privatklagen nach
Art. 230 IV EGV (Art. 263 IV AEUV) zum EuGH er-
leichtert.
1. Verbindlichkeit der Grundrechtecharta
Art. 6 I EUV-Liss ordnet an, dass die Charta als verbind-
liches Primärrecht gilt. Sie wird dabei aber nicht Teil der
beiden Verträge (EUV-Liss. und AEUV), sondern als ei-
genständiger Text auf Ebene des Primärrechts eingeglie-
dert. Damit wird sie nach Art. 51 GRCh für die Gemein-
schaftsorgane unmittelbar bindendes Recht und für die
Mitgliedstaaten dann bindend, wenn diese Unionsrecht
durchführen.
Die Charta der Grundrechte der Europäischen Union
(Grundrechtecharta) wurde im Dezember 2000 in Niz-
za als politische Erklärung, die zunächst keine rechtliche
Bindung erzeugte, verkündet. Sie kodifiziert zum einen
Freiheits-, Gleichheits-, Bürgerrechte und Justizgaran-
tien, welche bereits in der EMRK und nationalen Verfas-
sungen positiviert sind23. Zum anderen geht die Charta
mit umfassenden und detaillierten Gewährleistungen zu
modernen Problemlagen über bestehendes nationales und
internationales Recht hinaus. So wurden etwa der Da-
tenschutz in Art. 8 GRCh, Grundsätze für medizinische
und biologische Forschung und Entwicklung in Art. 3 II
GRCh, sowie Regelungen zum Umwelt- und Verbrau-
cherschutz in Art. 37 und Art. 38 GRCh aufgenommen.
Die Unionsbürger konnten bislang nicht auf einen kodi-
fizierten Grundrechtskatalog zurückgreifen. Gegen Ein-
griffe europäischer Hoheitsgewalt in ihre Grundrechte
konnten sie sich nach geltender Rechtslage (nur) auf die
Grundfreiheiten des EGV und die vom EuGH in lang-
jähriger Rechtsprechung entwickelten ungeschriebenen
Grundrechte berufen. Zwar enthielten diese richterrecht-
lichen Gewährleistungen mit wirtschaftlichen Freiheits-
rechten, klassischen Abwehr- und Teilhaberechten be-
reits einen qualitativ hochwertigen Schutzstandard, der
zudem auch über Art. 6 II EUV als Teil der allgemei-
nen Gemeinschaftsgrundrechte für die Union und ihre
Organe verbindlich war. Angesichts des stetig anwach-
senden Kompetenzkatalogs der Union und der Fülle an
europäischen Hoheitsakten wurde das Fehlen eines ver-
bindlichen, geschriebenen Grundrechtskatalogs jedoch
kritisiert24. Insbesondere wurde die begrenzende und ord-
nende Funktion eines Grundrechtskatalogs vermisst. Der
(europäische) Souverän müsse durch einen einklagbaren
Katalog an Grundrechten in seiner Gewalt gelenkt und
beschränkt werden. Dies erfordere aber, dass der Ein-
zelne sich anhand eines Katalogs seiner Rechte verge-
23
Grabenwarter, EuGRZ 2004, 563.
24
So auch schon prominent das BVerfG in Solange I (BVerfGE 37, 271
ff).
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
wissern und diese durchsetzen könne25. Zudem erfordere
das Demokratieprinzip, dass Inhalte und Grundrechts-
schranken durch ein vom Bürger gewähltes und damit
demokratisch legitimiertes Parlament gezogen werden26.
Diese können nicht durch richterliche Rechtsetzung fest-
gelegt werden, zumal den Luxemburger Richtern auch
erhebliche Defizite in der Urteilsbegründung, insbeson-
dere hinsichtlich der Verhältnismäßigkeitsprüfung, vor-
geworfen werden27.
Schließlich wurde der EU mit der Forderung nach einem
die Unionsgewalt bindenden Grundrechtskatalog auch
schlicht das Bekenntnis zu einer Grundrechtsgemein-
schaft abverlangt.
2. Beitritt der EU zur EMRK
Eine weiteres wesentliches Signal für den europäischen
Grundrechtsschutz setzt der Vertrag von Lissabon mit
Art. 6 II 1 EUV-Liss., der anordnet: „Die Union tritt der
Europäischen Konvention zum Schutz der Menschen-
rechte und Grundfreiheiten bei“. Dies stellt zugleich eine
kompetenzrechtliche Ermächtigung der Union zum Bei-
tritt, als auch einen entsprechenden Auftrag dar28. Die
Staaten normieren damit eine Selbstverpflichtung, den
Beitritt sowohl im Rahmen der EU als auch im Rahmen
ihrer Mitgliedschaft im Europarat herbeizuführen29. Da-
mit sind die unionsrechtlichen Voraussetzungen für ei-
nen Beitritt vollumfänglich geschaffen. Aus Sicht des
Europarates ist eine Mitgliedschaft in der Konvention
allerdings Mitgliedern des Europarats vorbehalten, wel-
che nach Art. 4 der Satzung nur Staaten sein können30.
Diese Hürde wurde von Seiten des Europarats jedoch mit
dem 14. Zusatzprotokoll schnell überwunden. Dort wird
in Art. 17 die Beitrittsmöglichkeit für die Union vorge-
sehen31.
Mit dem Beitritt zur Konvention unterwürfe sich die
Union der Jurisdiktion des EGMR. Der Einzelne könnte
künftig einen Rechtsakt eines Unionsorgans im Wege
einer Individualbeschwerde nach Art. 34 EMRK gegen
die EU als Beschwerdegegner vor dem EGMR überprü-
fen lassen32. Damit träte mit der EMRK neben der Charta
nicht nur ein weiterer geschriebener Grundrechtskatalog
auf EU-Ebene hinzu, sondern mit dem EGMR zugleich
auch eine externe Kontrollinstanz. Bislang kontrollierte
der EGMR Handlungen der Union selbst nicht, da man-
gels der Mitgliedschaft der EU in der Konvention keine
Zuständigkeit ratione personae bestand. Eine Überprü-
fung gemeinschaftsrechtlicher Rechtsakte erfolgte nach
25
Hilf, in: Iliopoulos-Strangas, S. 331;darauf Bezug nehmend auch Ritgen,
ZRP 2000, 373.
26
Hilf, in: Iliopoulos-Strangas, S. 331.
27
Ritgen, ZRP 2000, 372, 373; Nickel, JZ 2001, 629; Hilf, in: Iliopoulos-
Strangas, S. 331.
28
Grabenwarter, § 4 Rdn. 14; Streinz/Ohler/Herrmann, S. 132.
29
Grabenwarter, § 4 Rdn. 14.
30
Streinz/Ohler/Herrmann, S. 132.
31
Streinz/Ohler/Herrmann, S. 132.
32
Schwarze, EuR 2009/1, 018.
11
 Ausbildung
Rechtsprechung des EGMR nur mittelbar über Akte der
Mitgliedstaaten: Der EGMR stellte fest, dass sich die
Mitgliedstaaten ihrer konventionsrechtlichen Verpflich-
tung nicht durch Schaffung einer supranationalen Orga-
nisation entziehen könnten, sodass grundsätzlich auch
Rechtsakte der Gemeinschaft und auf diesen beruhendes
gemeinschaftsrechtliches Handeln der Mitgliedstaaten
durch den EGMR überprüft würden33. Allerdings finde
solange keine Überprüfung durch den EGMR statt, wie
auf EU-Ebene ein effektiver und der EMRK vergleich-
barer Schutz bestehe34. Ein solcher, so der EGMR dann
in seiner Bosphorus-Entscheidung, werde bei einem Um-
setzungsakt als Erfüllung der gemeinschaftsrechtlichen
Verpflichtung – allerdings im Einzelfall widerleglich
- vermutet und als konventionskonform angesehen35.
Der Grundrechtsschutz des von Unionsrecht betroffenen
Bürgers vor dem EGMR hing bislang also davon ab, ob
im Einzelfall die Vermutung des äquivalenten Schutzes
auf EU-Ebene widerlegt werden konnte. Mit einem Bei-
tritt wird jeder Gemeinschaftsrechtsakt der Union selbst
sowie der Mitgliedstaaten der Jurisdiktion des EGMR
unterworfen und die Bosphorus-Rechtsprechung mithin
überwunden.
3. Ausweitung der Klagebefugnis Privater nach Art.
230 IV EGV bzw. Art. 263 IV AEUV
Auch prozessual setzt der Vertrag von Lissabon mit der
Neuregelung der Klagebefugnis Privater gegen Rechts-
akte mit allgemeiner Wirkung im Rahmen des Art. 230
IV EGV (jetzt Art. 263 IV AEUV) geübte Kritik be-
züglich des (Grund-)Rechtsschutzes in der Union um.
Der EuGH setzte in der Vergangenheit mit seiner in der
Plaumann-Rechtsprechung entwickelten Definition der
individuellen Betroffenheit iSd Art. 230 IV EGV enge
Zugangsvoraussetzungen für den nicht privilegierten Pri-
vatkläger. Dieser hatte mangels einer unionsrechtlichen
Grundrechtsbeschwerde gegen Rechtsakte mit allgemei-
ner Wirkung – etwa eine ihn in seinen Grundrechten ein-
schränkende Verordnung – vor dem EuGH nur das In-
strument der Nichtigkeitsklage (bzw. je nach Klageziel
und Gegenstand auch die anderen im EGV geregelten
Klagearten) zur Hand. Wenn der Betroffene (wie im Fall
einer Verordnung36) nicht als Adressat klagte, musste er
aber iSd Art. 230 IV seine individuelle Betroffenheit dar-
legen. Nach der Plaumann-Formel war eine solche nur
dann gegeben, wenn die gerügte Verordnung (oder Ent-
scheidung an einen Dritten) den Kläger wegen bestimm-
ter persönlicher Eigenschaften oder Umstände berührte
33
EGMR, Matthews/UK, Urteil v.18.2.1999, No. 24833/94, ECHR 1999-I,
abgedruckt in NJW 1999, 3107 ff.; in der englischen Fassung in EuGRZ
1999, 200 ff.
34
EKMR, Melchers & Co./Deutschland, Entscheidung vom 9.2.1990, No.
13258/87.
35
EGMR, Bosphorus/Irland, Urteil v. 30.6.2005, No. 45036/98, ECHR
2005-VI, abgedruckt in NJW 2006, 197 ff.
36
Diese wirkt nach Art. 249 II EGV unmittelbar und ohne weiteren Um-
setzungsakt.
12
und ihn daher in ähnlicher Weise individualisierte wie
einen Adressaten37. Der Zugang zum EuGH war privaten
Klägern damit im Rahmen der Nichtigkeitsklage gegen
Rechtsakte mit allgemeiner Wirkung häufig verwehrt. Es
musste ein staatlicher Vollzugsakt abgewartet werden38.
Mangels einer Mitgliedschaft der Union in der EMRK
konnte sich der Betroffene auch nicht an den EGMR
wenden, da dieser bezüglich des Handelns der Union un-
zuständig ratione personae war.
In Art. 263 IV EUV-Liss. wird nun bezüglich der Kla-
ge gegen „Rechtsakte mit Verordnungscharakter […]
die keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen“
auf das Erfordernis der individuellen Betroffenheit ver-
zichtet. Der Kläger muss lediglich seine unmittelbare
Betroffenheit darlegen, welche bei Verordnungen über
die unmittelbare Wirkung nach Art. 249 II EGV stets ge-
geben ist39. Damit überwindet der Vertrag von Lissabon
die Plaumann-Rechtsprechung und schließt die daraus
resultierende Rechtsschutzlücke.
Eine Europäische Grundrechtsbeschwerde ist aber auch
im Vertrag von Lissabon weiterhin nicht vorgesehen40.
Die mit dem Vertrag von Lissabon nun rechtsverbind-
lich gewordenen Gewährleistungen der Charta werden
mithin weiter über die bestehenden Klagearten vor dem
EuGH eingefordert werden müssen. Umso bedeutsamer
ist, dass die Klagebefugnis Privater nun mit dem Vertrag
von Lissabon ausgeweitet und so der Zugang zum EuGH
erleichtert wurde.
VI. Schluss
Der Vertrag von Lissabon schließt einen langjährigen
Reformprozess ab, der bereits im Vertrag von Nizza
angelegt war. Insbesondere im Grundrechtsschutz wird
mit Verbindlichkeit der Charta, dem EMRK-Beitritts-
auftrag und der Ausweitung der Klagebefugnis Privater
rechtsstaatlichen Erfordernissen Rechnung getragen. Des
Weiteren wird mit Stärkung des Parlaments als einzigem
Träger unmittelbarer demokratischer Legitimation der in
Art. 10 EUV-Liss. verankerte Grundsatz der repräsenta-
tiven Demokratie gefestigt und mit dem neu begründeten
Recht einer Bürgerinitiative in Art. 11 EUV-Liss. durch
plebiszitäre Elemente ergänzt und so mehr Bürgernähe
geschaffen. Die Reform der Organe macht diese insbe-
sondere handlungsfähiger und trägt damit der Größe der
Union Rechnung.
Die Union hat mit dem Inkrafttreten des Vertrags von
Lissabon die mit Scheitern des Verfassungsvertrags aus-
gelöste Krise zunächst überwunden. Dies war insbeson-
dere angesichts der mittlerweile auf den Staatenbund
37
EuGH Slg. 1963, 213,238, Rdn. 65- Plaumann-Kommission; Vgl. auch
Streinz/Ohler/Herrmann, S. 93.
38
Everling, EuR 2009/1, 0073.
39
Die Richtlinie ist nach dem Wortlaut des Art. 263 IV EUV-Liss. davon
nicht erfasst, da diese nach Art. 249 III EGV eines Umsetzungsaktes bedarf
und der Kläger dann ohnehin auch individuell betroffen ist. (Everling, EuR
2009/1, 0073, 0074.)
40
Mayer, EuR 2009/1, 0088.
Law Zone Nr. 1/2010

übertragenen Kompetenzen und der Zahl der Mitglied-
staaten materiell und strukturell notwendig. Allerdings
zeigen die Widerstände in der Ratifikationsgeschichte
Erste Erfahrungen mit dem Stalking-Bekämpfungsgesetz
Von Dr. Helmut Fünfsinn, Wiesbaden*
Mit dem am 31. März 2007 in Kraft getretenen
Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstel-
lungen1 ist eine für Gesetzgebungsverfahren
nicht sehr lange, aber doch sehr heftige Diskus-
sion2 um den richtigen Standort der Stalkingbe-
kämpfung und damit auch des (strafrechtlichen)
Opferschutzes erst einmal beendet worden3.
International betrachtet ist Deutschland mit
dem Abschluss des Strafgesetzgebungsverfahrens eher
Nachzügler als Vorreiter in Sachen Stalking-Strafgesetz-
gebung4, das weltweit erste Anti-Stalking-Gesetz ist be-
reits 1990 in Kalifornien in Kraft getreten5.
Der Beitrag wird die Erfahrungen der Beratungs- und
Interventionsstellen, der Polizei und der Justiz unter Be-
achtung der Erwartungen des Gesetzgebers und der Kri-
tik der Wissenschaft getrennt betrachten und jeweils vor
Beginn dieser Betrachtungen die jeweiligen Erwartungs-
haltungen hinsichtlich des Strafgesetzes, soweit möglich,
darstellen. Aufgrund des kurzen Zeitablaufs zwischen
dem Inkrafttreten dieses Gesetzes und dem Auffinden
erster Erfahrungen muss sehr deutlich auf die Vorläufig-
keit der Ergebnisse hingewiesen werden.
Erwartungen der Beratungs- und Interventionsstel-
len
Die Erwartungen der Beratungs- und Interventionsstellen
an die Aufnahme eines Straftatbestandes „Nachstellen“
(Stalking) in das Kernstrafrecht lassen sich der öffent-
lichen Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen
Bundestages6 entnehmen, bei der Mitarbeiterinnen von
Beratungs- und Interventionsstellen die Möglichkeit der
schriftlichen und mündlichen Stellungnahme im Gesetz-
1
Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellungen (40. StrÄndG) vom
22. März 2007, BGBl. I 354.
2
Vgl. z.B. H.J. Albrecht, FPR 2006, 204 ff.; Freudenberg, NKrimPol
2005, 84 ff.; Fünfsinn, NKrimPol 2005, 82 ff. sowie ausführlich Fünfsinn,
Bedarf es eines Stalking-Bekämpfungsgesetzes? - Vorstellung des hes-
sischen Gesetzentwurfs in: Weiß/Winterer (Hrsg.), Stalking und häusliche
Gewalt, 105 ff. und (instruktiv) die Anhörung der Sachverständigen in: BT
16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30.
3
Siehe hierzu Mosbacher, NStZ 2007, 665 ff.; Mitsch, NJW 2007, 1237
ff.; Gazeas, JR 2007, 297 ff.; Valerius, JuS 2007, 319 ff.; Lackner/Kühl,
StGB, 26. Aufl., § 238 Rdn. 1 ff. jeweils auch zur Auslegung der Vorschrift
und m.w.N.
4
So zu Recht Gazeas, JR 2007, 297.
5
Section 64.6.9 des Penal Code California.
6
BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30.
Law Zone Nr. 1/2010
Titelthema
auch Grenzen der europäischen Integrationsbereitschaft
und Integrationsfähigkeit auf, die vor weiteren Schritten
der europäischen Integration beachtet werden sollten.
gebungsverfahren erhielten7. Schon so wird
zum einen der Zusammenhang mit dem Thema
„Häusliche Gewalt“ und zum anderen die Stär-
ke des Einflusses dieser Institutionen in die-
sem Bereich deutlich8. Da die frauenpolitische
Diskussion das Gewaltschutzgesetz bereits vor
über zehn Jahren auf den Weg gebracht hat,
wird neben der zivilrechtlichen Hilfe jetzt auch
auf die strafrechtlichen Reaktionsmöglichkeiten gesetzt,
um einen gesetzlichen Lückenschluss zu erreichen9.
Diese Verknüpfung mit dem Bereich der häuslichen Ge-
walt formuliert die Hoffnung, dass sich bei der Stalking-
bekämpfung wie bei der häuslichen Gewalt ein Paradig-
menwechsel vollzieht, der auch dieses Verhalten in die
Öffentlichkeit zieht und somit den Opfern ein deutliches
Zeichen des öffentlichen Interesses vermittelt10. Erwar-
tet wird mithin ein umfassender Opferschutz11 durch die
Kennzeichnung des Stalking als strafgesetzlich nicht zu
tolerierendes Verhalten und die erweiterte Nutzung der
polizeilichen Handlungskompetenz und des strafverfah-
rensrechtlichen Instrumentariums12. Konkret soll neben
der schon möglichen polizeilichen Gefährderansprache
und der ebenfalls bestehenden Möglichkeit der Risikoa-
nalyse das gesamte Instrumentarium des Strafverfahrens
zur Einwirkung auf den Täter genutzt werden. Damit
wird seitens der Beratungs- und Interventionsstellen zum
einen auf eine genaue strafrechtliche Sachverhaltsermitt-
lung und zum anderen auf die breiten strafrechtlichen
Sanktionsmöglichkeiten gesetzt.
Trotz dieser klar formulierten Erwartungen wird die Re-
glementierung dieses Strafgesetzes nur als ein Schritt ge-
sehen, der allein kaum wirken kann, wenn nicht parallel
noch ergänzend eine bessere Unterstützung der Opfer
und deren Begleitung im Strafprozess, die Einbindung
der Thematik in die Aus- und Fortbildung der Richter
und Staatsanwälte und letztlich eine besondere Aufmerk-
7
Hecht, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 9 ff.; Gabel, BT 16.
Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 6 ff.
8
Siehe hierzu H.J. Albrecht, FPR 2006, 204 m.w.N.; Winterer, FPR 2006,
200.
9
Hecht, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 10; siehe hierzu jetzt
überzeugend Harzer, NKrimPol 2009, 95 ff.
10
Gabel, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 6 und 8.
11
Gabel, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 8.
12
Hecht, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 10.
13
 Titelthema
samkeit für die Problematik erreicht wird13.
Erste Erfahrungen der Beratungs- und Interventi-
onsstellen
Wissenschaftliche Erkenntnisse über die Auswirkungen
des strafrechtlichen Stalking-Bekämpfungsgesetzes in
der Beratungspraxis liegen soweit ersichtlich noch nicht
vor. Allerdings existieren Ergebnisse von Opferbefra-
gungen14, die einen gewissen Rückschluss aus den inter-
nationalen Erfahrungen mit straf- und zivilrechtlichen
Maßnahmen im Umgang mit Stalkingopfern in der Bera-
tung zulassen. Die Wirksamkeit des Strafrechts ist nach
Opferuntersuchungen in den USA und Großbritannien
jedoch eher nüchtern zu bewerten. In den USA bei-
spielsweise antworten Opfer, deren Fall schon beendet
war, auf die Frage, was denn das Stalking beendet habe,
nur zu 1%, dass dies durch die Verurteilung des Stalkers
geschehen sei15. Hingegen gaben 15% an, dass eine An-
sprache der Polizei und 9%, dass eine Festnahme diese
Wirkung erzeugt hatte. Eine repräsentative Erhebung in
Großbritannien, in der auch viele leichte Fälle von Stal-
king berücksichtigt wurden, ergab, dass die Drohung mit
der Polizei oder einer Anzeige bei 19% der betroffenen
Frauen und bei 15% der Männer dazu beitrug, das Stal-
king zu beenden16.
Interessanterweise weichen die Ergebnisse einer deut-
schen Opferstudie ohne das damalige Bestehen eines
spezifischen Strafgesetzes nur geringfügig von diesen Er-
hebungen ab. Bei der Frage, welche Maßnahmen zu einer
Beendigung des Stalkings bzw. zu einer Verbesserung
der Situation beigetragen hatten, führten 11% der Betrof-
fenen juristische Maßnahmen und 19% ein Einschalten
der Polizei an17. Die aufgeführten Untersuchungen las-
sen zwei Tendenzen erkennen18. Erstens wird eine spezi-
fische Strafgesetzgebung jedenfalls im Vergleich der Op-
fer aus den USA und Großbritannien mit den befragten
deutschen Opfern noch nicht als eine deutlich höheren
Erfolg versprechende juristische Maßnahme wahrge-
nommen. Zweitens wird ein polizeiliches Einschreiten
generell häufiger als effektives Mittel eingeschätzt. Die
Wirkung von strafrechtlichen Stalking-Bekämpfungsge-
setzen dürfte somit eher indirekter Natur sein. Eine damit
einhergehende gesellschaftliche Sensibilisierung für das
Thema und eine erhöhte Aktionsfähigkeit der Polizei bei
Stalkingfällen ließe sich so erklären19.
13
Hecht, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 10; umfassend aus der
Sicht der Freiheitsrechte von Frauen: Harzer, NKrimPol 2009, 95 ff.
14
Nachweise bei Hoffmann/Özsöz, Die Effektivität juristischer Maßnah-
men im Umgang mit Stalking in: Lorei (Hrsg.), Polizei und Psychologie
2006, Bd. I, 227, 240.
15
Tjaden/Thoennes, Stalking in America: Findings from the National Vi-
olence against Women Survey, 21.
16
Walby/Allen, Domestic Violence: Sexual Assault and Stalking: Findings
from the British Crime Survey, 68.
17
Voß/Hoffmann/Wondrak, Stalking in Deutschland, 30, 83 ff.
18
Hoffmann/Özsöz, Die Effektivität juristischer Maßnahmen im Umgang
mit Stalking, in: Lorei (Hrsg.), Polizei und Psychologie 2006, Bd. I, 227.
19
Hoffmann, Stalking, 160.
14
Die eben geschilderten Wirkungen werden durch die von
mir vorgenommenen ersten, zahlenmäßig allerdings ge-
ringen Nachfragen bei den Opfer- und Beratungsstellen
bestätigt. Der Stalkingtatbestand im Kernstrafrecht führt
zu mehr Klarheit in der Beratungs- und Interventionssitu-
ation und zu einer deutlicheren Übersicht hinsichtlich des
Eingriffsinstrumentariums, mit anderen Worten: mehr
Handlungssicherheit.
Erwartungen der Polizei
Die Polizei hat sich frühzeitig mit dem Phänomen des
Stalkings auseinander gesetzt und ähnlich wie im Fall
des Umgangs mit der häuslichen Gewalt bzw. der Gewalt
im sozialen Nahraum reagiert. Die Diskussion um häus-
liche Gewalt, Partnertötungen und Stalking wird in der
Polizeiwissenschaft geführt20, Fortbildungsveranstaltun-
gen greifen das Thema auf21, Handlungsleitlinien werden
für die Polizeibeamtinnen und -beamten der einzelnen
Bundesländer zur Hilfestellung herausgegeben22 und
Sonderauswertungen zu einzelnen Themenbereichen er-
stellt23. Zudem zeigt sich die Polizei teilweise unter dem
Überbau gesamtgesellschaftlicher Kriminalprävention24
in spezifischen Netzwerken vor allem zur Bekämpfung
häuslicher Gewalt, wo zumeist ein möglichst ganzheit-
liches Fallmanagement angestrebt wird25. Hintergrund
dieses Engagements ist die Erkenntnis, dass polizeiliche
Maßnahmen allein zu kurz greifen und dass eine früh-
zeitige und umfassende Hilfe für Gewaltopfer erforder-
lich macht, polizeiliche Interventionsmaßnahmen in ein
Gesamtkonzept aller örtlicher Verantwortungsträger
einzubinden26. Die Erwartungen der Polizei an ein straf-
rechtliches Stalking-Bekämpfungsgesetz speisen sich
insgesamt aus den Erfahrungen mit dem Gewaltschutzge-
setz und dem Umgang mit dem Problem der häuslichen
Gewalt. Gerade in akuten Gefahrensituationen bietet die
Polizei als erste Institution Hilfe27. Wegweisungsrecht,
Betretungsverbot, Gefährderansprache und andere po-
lizeiliche Abwehrmaßnahmen werden sowohl von den
Beratungs- und Interventionsstellen als auch von den
20
Beispielhaft sei auf die Tagung „Polizei und Psychologie“ am 3./4. April
2006 in Frankfurt a.M. verwiesen, dokumentiert bei Lorei (Hrsg.), Polizei
und Psychologie 2006, Bd. I und II; die Beiträge zum Thema Stalking von
Rusch/Stadler/Henbrock, Hoffmann/Özsöz, Tschan und Fünfsinn finden
sich in Bd. I, 201 ff.
21
Vgl. die jährliche Sonderauswertung zur häuslichen Gewalt in Hessen
durch das Hessische Landeskriminalamt.
22
Siehe z.B. Schröder/Berthel, Gewalt im sozialen Nahraum II, 2005, 11
ff.
23
Siehe für Hessen die Handlungsleitlinien Stalking, Hessisches Landesk-
riminalamt 2006.
24
Fünfsinn, Gewaltschutzgesetz - Ein Beispiel für die ressortübergreifen-
de Zusammenarbeit, in: Schröder/Berthel Gewalt im sozialen Nahraum II,
2005, 31, 38 ff.
25
Stürmer Sind Partnertötungen präventabel?, in: Schröder/Berthel Gewalt
im sozialen Nahraum II, 2005, 46, 55.
26
Stürmer Sind Partnertötungen präventabel?, in: Schröder/Berthel Gewalt
im sozialen Nahraum II, 2005, 46, 55.
27
Fünfsinn, Gewaltschutzgesetz - Ein Beispiel für die ressortübergreifen-
de Zusammenarbeit, in: Schröder/Berthel Gewalt im sozialen Nahraum II,
2005, 31, 38.
Law Zone Nr. 1/2010
 Titelthema

Opfern durchaus als sinnvolle Schutzinstrumente gese-
hen28. Gleichwohl hat das Gefahrenabwehrrecht dort eine
Grenze29, wo eine unmittelbare Gefahr nicht vorliegt und
bislang weder die Voraussetzungen bestehender Straf-
gesetze erfüllt noch die Opferrechte aus dem Gewalt-
schutzgesetz erstritten worden sind. Deshalb wird auch
aus polizeirechtlicher Sicht darauf hingewiesen, dass
eine Strafnorm bestehende Handlungsunsicherheiten auf
dem Gebiet des Gefahrenabwehrrechts beseitige30. Diese
Sichtweise korrespondiert mit Erfahrungen aus dem Aus-
land, wonach durch die Einführung von strafrechtlichen
Anti-Stalking-Gesetzen der Polizei mehr Handlungssi-
cherheit verliehen wurde, was wiederum ein offensiveres
polizeiliches Vorgehen mit sich brachte31.
destages entnehmen33. Eine spezielle Strafvorschrift zum
Schutz der Opfer von Stalking hielten die Angehörten
für notwendig34. Ausgangspunkte der Überlegungen sind
zum einen die Schwierigkeiten der Anwendung des ne-
benstrafrechtlichen Teils des Gewaltschutzgesetzes, das
zuvor erhebliche zivilrechtliche Aktivitäten des Opfers
erfordert, und zum anderen die sog. Eskalationsfälle, die
bis zum Tod des Opfers führen können.
Teile der staatsanwaltschaftlichen und gerichtlichen
Praxis begrüßen nicht nur die ins Strafgesetz aufgenom-
mene Norm, sondern auch eine Ausweitung der Qualifi-
zierungen, die Deeskalationshaft, und fordern die Aus-
gestaltung der Norm als Gefährdungsdelikt zum Schutz
der Opfer.

Erste Erfahrungen der Polizei Erfahrungen der Justiz

Eine Auswertung der ersten Erfahrungen der Polizei Erste praktische Erfahrungen können bislang nur aus
ist soweit ersichtlich noch nicht erfolgt. Höchst vorläu- Hessen berichtet werden, und auch diese lassen nur eini-
fig kann auf die Berichte der hessischen Staatsanwalt- ge, allerdings durchaus interessante Tendenzen erkennen.
schaften zurückgegriffen werden. Danach sind in den Für das Jahr 2007 (Stand Dezember) ergibt sich danach
ersten Monaten seit Inkrafttreten des Strafgesetzes 559 folgendes Bild:
Verfahren eingegangen; im Jahre 2008 waren es schon
2.099 Verfahren. Diese durchaus beeindruckende Zahl
lässt vermuten, dass die Polizei auch Fälle des sog. leich-
ten Stalkings aufnimmt und die Verfahren unverzüglich
an die Staatsanwaltschaft weiterleitet. Derzeit dürften die
Erwartungen der Polizei und ihre Erfahrungen mit dem
Stalking-Bekämpfungsgesetz überwiegend in Einklang
stehen.

Erwartungen der Justiz und Ziele des Gesetzge-

bers
Der Gesetzgeber hat unter Aufgreifen auch der kriminal-
politischen Diskussion des Opferschutzgedankens, der
Beachtung der Frauenrechte und der Erkenntnisse der
gesamtgesellschaftlichen Kriminalprävention die Straf-
würdigkeit von Stalkinghandlungen konstatiert und will
in diesem Bereich einen spezifischen Opferschutz ge-
währleisten32.

Erwartungen der justitiellen Praxis

Auch die Erwartungen der staatsanwaltschaftlichen und
gerichtlichen Praxis lassen sich teilweise wie zuvor die
Erwartungen der Beratungs- und Interventionsstellen aus
der Anhörung des Rechtsausschusses des Deutschen Bun- Zur Qualität der Fälle, die den bisher eingeleiteten Ver-
fahren zugrunde liegen, berichten die Staatsanwalt-
28
Hecht, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 10; Hoffmann/Özsöz, schaften einvernehmlich, dass überwiegend gescheiterte
Die Effektivität juristischer Maßnahmen im Umgang mit Stalking, in: Lo-
rei (Hrsg.), Polizei und Psychologie, 2006, Bd. I, 227, 240 ff.
Beziehungen Anknüpfungspunkt der angezeigten Sach-
29
Müller, Notwendigkeit eines eigenständigen Stalking-Straftatbestandes verhalte sind. In diesem Kontext werden schwerpunkt-
im Hinblick auf dessen praktische Relevanz, in: Krüger (Hrsg.), Stalking mäßig Tathandlungen nach § 238 Abs. 1 Nr. 1 und 2
als Straftatbestand, 17, 74.
StGB zur Anzeige gebracht. Schwere Fälle nach Abs. 2
30
Müller, Notwendigkeit eines eigenständigen Stalking-Straftatbestandes
im Hinblick auf dessen praktische Relevanz, in: Krüger (Hrsg.), Stalking und 3 sind bislang nicht angezeigt worden.
als Straftatbestand, 17, 80.
31
Hoffmann/Özsöz, Die Effektivität juristischer Maßnahmen im Umgang 33
Anhörung der Sachverständigen, in: BT 16. Rechtsausschuss Protokoll
mit Stalking, in: Lorei (Hrsg.), Polizei und Psychologie, 2006, Bd. I, 227, Nr. 30.
241. 34
Janovsky, BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 11 ff., 91 ff.; Nack,
32
BR-Drucks. 551/04, 4. BT 16. Rechtsausschuss Protokoll Nr. 30, 17 ff., 107 ff.

Law Zone Nr. 1/2010 15

 Titelthema
Sämtliche Staatsanwaltschaften teilen mit, dass die über-
wiegende Anzahl der Strafanzeigen – sowohl die durch
Privatpersonen erfolgten, aber auch die durch die Polizei
mit dem Vorwurf des § 238 StGB aufgenommenen – den
Tatbestand des § 238 StGB nicht erfüllen. Teilweise sind
indes andere Straftatbestände erfüllt.
Was den Tatbestand des § 238 StGB anbelangt, wird
teilweise von Beweisschwierigkeiten berichtet, die dar-
auf zurückzuführen sind, dass die/der Anzeigende die
Tathandlungen nicht hinsichtlich Zeit, Anzahl etc. kon-
kretisieren kann oder sie erst gar nicht sicher der/dem
Angeschuldigten zuordnen kann (anonyme Anrufe ein-
hergehend mit der Vermutung, dass sie vom Angeschul-
digten ausgehen). Darüber hinaus berichten sämtliche
Staatsanwaltschaften einhellig, dass der Praxis insbeson-
dere die Tatbestandsmerkmale „beharrlich“ und „schwer-
wiegende Beeinträchtigung“ Schwierigkeiten bereiten.
Hierzu im Einzelnen:
Schwerwiegende Beeinträchtigung
Vielfach werden Sachverhalte zur Anzeige gebracht, die
von den Betroffenen „lediglich“ als bloße Belästigungen
empfunden werden und daher nicht die Voraussetzung
einer schwerwiegenden Beeinträchtigung in der Lebens-
führung erfüllen. Sofern greifbare Folgen bei den Opfern
vorgebracht werden, handelt es sich um eine angespannte
psychische Verfassung, die mit einer Angst, ans Telefon
zu gehen, Schlafstörungen sowie der Reduktion sozialer
Kontakte einhergeht. Inwieweit solche Beeinträchti-
gungen als „schwerwiegend“35 einzustufen sind, wird die
Rechtsprechung klären müssen. Eine einheitliche Linie
in der staatsanwaltschaftlichen Praxis ist bislang nicht
erkennbar.
Beharrlichkeit
Definitionsschwierigkeiten bestehen auch bei dem Tatbe-
standsmerkmal „beharrlich“36. Die Anzeigenden bzw. die
Polizei differenzieren oft nicht zwischen einzelnen be-
lästigenden, beleidigenden und/oder bedrohenden Hand-
lungen und einem „beharrlichen Nachstellen“. Welcher
Zeitraum bzw. welche Häufigkeit welcher Handlungen
hierfür erforderlich ist, ist noch ungeklärt. Damit ein-
her geht die Frage, ob wiederholte Nachstellungen zum
Nachteil desselben Opfers als einheitliche Tat oder als
mehrere selbstständige Handlungen zu behandeln sind.
Konkurrenzen 37
35
Das Erfolgsmerkmal „schwerwiegende Beeinträchtigung eines Men-
schen in seiner Lebensgestaltung“ war im Gesetzentwurf des Bundesrates
nicht vorgesehen, siehe BR-Drucks. 551/04. Der insoweit restriktiv zuge-
schnittene Tatbestand führt zu Kritik, vgl. instruktiv Mitsch, NJW 2007,
1232, 1240.
36
Siehe zu den Auslegungsmöglichkeiten etwa Mosbacher, NStZ 2007,
665, 666; Valerius, JuS 2007, 319, 322 und Gazeas, JR 2007, 497, 502.
37
Siehe zu den Einzelheiten der Konkurrenzproblematik z.B. Mosbacher,
NStZ 2007, 665, 669, Valerius, JuS 2007, 319, 323; Lackner/Kühl, StGB,
26. Aufl., § 238 Rdn. 11.
16
Die bisher ergangenen Anklagen bzw. Strafbefehle ge-
hen teils von Tatmehrheit der einzelnen Nachstellungs-
handlungen, teils von Tateinheit aus, wobei die Tat(en)
des Nachstellens dabei ihrerseits häufig in Tateinheit
mit anderen Delikten steht (stehen). Einerseits wird die
Auffassung vertreten, dass das Tatbestandsmerkmal „be-
harrlich“ bereits impliziert, dass die über einen gewis-
sen Zeitraum kontinuierlich erfolgten Nachstellungen
insgesamt als nur eine Tat zu werten sind. Würde man
von Tatmehrheit ausgehen, würden sich nach dieser Ein-
schätzung bei Vorliegen einer Vielzahl von einzelnen
Nachstellungen (etwa bei „Telefon- und/oder SMS-Ter-
ror“) die einzelnen Vorfälle kaum mit der für eine Ankla-
geerhebung von Einzeltaten erforderlichen Konkretisie-
rung aufklären lassen dürfen.
Die Annahme, dass verschiedene Nachstellungshand-
lungen, sobald sie beharrlich sind, in Tatmehrheit zuein-
ander stehen, dürfte allerdings den Zielen des Gesetzge-
bers - ein verbesserter Opferschutz durch die Ahndung
des spezifischen Unrechtsgehalts beharrlicher Nachstel-
lungen38 - näher kommen.
Fazit
Das Gesetz erleichtert nach den ersten Erfahrungen die
Arbeit der Beratungs- und Interventionsstellen und zu-
dem die Tätigkeit der Polizei bei ihren ersten Einsätzen,
weil es vor allem in der Beratungs- und Kriseninter-
vention eine gewisse Rechtssicherheit vermittelt. In der
praktischen Anwendung des Gesetzes durch Staatsan-
waltschaft und Gericht bestehen jedoch teilweise noch
große Unsicherheiten, die sich u.a. aus der schwanken-
den Entwicklung des Gesetzgebungsverfahrens39 und die
dadurch bedingten Friktionen im Gesetzestext ergeben40.
Dem Gesetzgeber ist es deshalb auch - erwartungsgemäß
nicht gelungen, eine verfassungsrechtlich vollkommen
unbedenkliche Vorschrift zu schaffen. Die Last der Kon-
kretisierung und der Präzisierung wird daher vor allem
durch die Rechtsprechung getragen werden müssen. Nur
wenn die genannten Unsicherheiten durch die Rechtspra-
xis oder ggf. sogar durch ein Nachsteuern des Gesetzge-
bers aufgehoben werden können, dürfte das Ziel des Ge-
setzgebers, den Opferschutz in diesem Bereich deutlich
zu erhöhen, erreicht werden können.41
38
Vgl. BT-Drucks. 16/575, Bl. 1.
39
Siehe die kurze Zusammenfassung bei Gazeas, JR 2007, 497 m.w.N.
40
Siehe hierzu Krüger, Stalking als Straftatbestand - Betrachtungen zu §
238 dtStGB unter Einbezug von § 107a öStGB, 81, 84.
*
Dr. Helmut Fünfsinn, geb. 1954 in Frankfurt a.M., Studium der Rechts-
wissenschaft, Betriebswirtschaft und Soziologie an der Goethe-Univer-
sität. 1983 bis 1986 wiss. Assistent. 1986 Richter, seit 1989 Mitarbeiter
im Hessischen Ministerium der Justiz, seit 2002 Leiter der Abteilung
Strafrecht und Gnadenwesen, im Nebenamt seit 1992 Geschäftsführer
der Sachverständigenkommission für Kriminalprävention der Hessischen
Landesregierung (Landespräventionsrat); Veröffentlichungen vor allem
im Bereich des Straf- und Strafprozessrechts, der Rechtspolitik und Kri-
minalprävention, Lehrbeauftragter der Goethe-Universität Frankfurt a.M.
Law Zone Nr. 1/2010

§ 238 StGB (Nachstellen) in der anwaltlichen Praxis
Von Rechtsanwalt Dr. Thomas Etzel, München*
I. Einleitung
Mit Einführung des § 238 StGB (Nachstellen)
hat der Gesetzgeber eine Lücke schließen wol-
len, um Opfer vor beharrlichen Belästigungen,
die bisher strafrechtlich unzureichend geschützt
waren, besser zu schützen. Ob dieses Ziel ge-
lungen ist, sollen die nachfolgenden Erfah-
rungen des Verfassers zu beurteilen helfen.
II. Anwaltliche Erfahrungen aus Sicht des Verfas-
sers
Der Gesetzgeber hat den Strafverfolgungsbehörden (Po-
lizei, Staatsanwaltschaft) und der Strafjustiz (Gerichte)
mit § 238 StGB ein Instrument in die Hand gegeben, um
beharrliche Eingriffe, die die Lebensgestaltung des Op-
fers schwerwiegend beeinträchtigen, im Gesetz als Nach-
stellen und im allgemeinen Sprachgebrauch als Stalking
definiert, strafrechtlich zu ahnden.
III. Spektrum der Tathandlungen
Die Tathandlungen aus Sicht der betroffenen Opfer haben
sich seit Einführung des § 238 StGB nicht geändert. Viel-
mehr nutzen die Täter, wie dies auch vor Einführung des
§ 238 StGB schon war, die technischen Möglichkeiten
exzessiv aus, um ihre Opfer zu terrorisieren, zu demüti-
gen und zu verfolgen. Die Täter scheuen oftmals weder
Kosten noch Mühen, um ihr Opfer systematisch zu ter-
rorisieren. So werden Handys eingesetzt, deren Inhaber
nicht ausfindig zu machen sind oder die im Ausland über
Unbekannte geschaltet wurden. Es werden über nicht
registrierbare Server im In- und Ausland E-Mails ver-
schickt, Internetplattformen missbraucht, Peilsender ver-
wendet, versteckte Kameras benutzt, Personen zum Aus-
spähen und Verfolgen beauftragt, etc. Die Phantasien der
Täter und die technischen Möglichkeiten kennen keine
Grenzen. Besonders beliebt bei den Tätern ist der öffent-
liche Rufmord im Internet, insbesondere Plattformen, bei
denen sich eine Vielzahl von Personen tummeln, die sich
kennenlernen und/oder kommunizieren wollen. Es wer-
den manipulierte Fotos des Opfers, meist mit sexuellem
Hintergrund, ins Internet gestellt, persönliche Daten des
Opfers, meist Anschrift und Telefonnummer angegeben.
Teilweise werden Frauen als Prostituierte, etc. darge-
stellt. Im Internet und sonstigen Kommunikationswegen
wird dem Opfer Ehebruch, meist mit etlichen wechseln-
den Partnern vorgeworfen. Berufliches Versagen oder
kriminelle Handlungen gegenüber dem Arbeitgeber wird
unterstellt. Das Opfer wird auf jede erdenkliche Weise
Law Zone Nr. 1/2010
Titelthema
im Internet in den Schmutz gezogen und dis-
kreditiert. Bisweilen verbergen sich auch hinter
vermeintlich harmlos anmutenden Internetbei-
trägen für das Opfer bedrohliche Risiken, die
das berufliche und/oder gesellschaftliche An-
sehen erheblich beschädigen können. Das Op-
fer ist somit alleine aufgrund der technischen
Möglichkeiten einer unüberschaubaren Risikosphäre an
möglichen Angriffen ausgesetzt. Teilweise erfährt das
Opfer zunächst nichts über die im Internet gestreuten
Diffamierungen und kommt erst sehr spät dahinter, nach-
dem das Umfeld bereits im Sinne des Täters reagiert hat.
Das Opfer kann sich in aller Regel nicht präventiv schüt-
zen, allenfalls auf eigene Kosten eine Fangschaltung
legen lassen, um so die Chance zu erhöhen, die telefo-
nischen Attacken einem Täter zuordnen zu können. Bei
Internetattacken muss das Opfer erst die entsprechenden
Plattformen kennen. Dann werden in der Regel sehr un-
bürokratisch rechtsverletzende Seiten gelöscht. Aller-
dings sind die meisten Täter sehr hartnäckig und schalten
gleich wieder neue Beiträge, denen das Opfer zunächst
wieder ausgeliefert ist, bis es Kenntnis hiervon erlangt
und die Seite sperren lässt.
Das Opfer von Nachstellungshandlungen im Internet
weiß oftmals – zunächst – nichts von ihm gegenüber
begangenen Rechtsverletzungen. Dies ist besonders tü-
ckisch für das Opfer, weil es sich gegen nicht bekannte
Angriffe nicht wehren kann.
IV. Strafverfolgungsprobleme aus Sicht des Opfers
Problematisch in der Praxis sind unter anderem die un-
bestimmten Rechtsbegiffe des § 238 StGB „beharrlich“
und „Lebensgestaltung des Opfers schwerwiegend be-
einträchtigen“.
Zentrales Problem ist die unterschiedliche Definition der
vorstehenden Rechtsbegriffe durch die Strafverfolgungs-
behörden bzw. der jeweiligen Sachbearbeiter. Wer Opfer
von Nachstellungen wird, muss in der Praxis zunächst
darlegen und beweisen, welche einzelnen Tathandlungen
der Täter begangen hat. Zwar ist es Aufgabe der Strafver-
folgungsbehörden, Täter von Straftaten zu ermitteln, aber
in der Praxis des § 238 StGB sieht es oftmals so aus, dass
das Opfer selbst nicht nur seine Rechtsverletzung dar-
legen und beweisen muss, sondern auch noch darlegen
und beweisen muss, wer der Täter jeder Tathandlung ist.
Je perfider, intensiver und anonymer der Täter zuschlägt,
umso problematischer ist die Situation des Opfers. Die
Strafverfolgungsbehörden werden regelmäßig erst tätig,
17
 Titelthema
wenn eine Straftat vorliegt. Wann eine Straftat im Sinne
von § 238 StGB vorliegt, ist jedoch in aller Regel nicht
von einer einzelnen Handlung abhängig, wie dies bei an-
deren Straftatbeständen der Fall ist. Für einen Diebstahl,
Betrug, Körperverletzung, etc. genügt jeweils eine ein-
zige Rechtsverletzung. Bevor die Strafverfolgungsbehör-
den jedoch im Sinn des § 238 StGB tätig werden, muss
das Opfer in aller Regel eine Vielzahl von einzelnen Ta-
thandlungen darlegen und beweisen, aus denen sich eine
„Beharrlichkeit“ im Sinne des § 238 StGB ergibt. Erst
wenn das betroffene Opfer dies alles mühsam dargelegt
und nachgewiesen hat, wozu bisweilen auch schon die
glaubhafte Aussage des Opfers genügen kann, muss das
Opfer eine weitere Hürde nehmen. Das Opfer muss darle-
gen und beweisen, dass seine Lebensgestaltung durch die
vom Opfer zunächst selbst mühsam dargelegten und be-
wiesenen Tathandlungen schwerwiegend beeinträchtigt
ist. Das Opfer muss quasi eine Art Tagebuch führen und
sämtliche Beweise sichern und chronologisch auflisten.
Soweit sich die Tathandlungen einzeln oder in Summe
noch unterhalb der Schwelle der Beharrlichkeit des § 238
StGB bewegen und nicht einzelne Tathandlungen ande-
re Straftatbestände verwirklichen, z.B. Beleidigungen
und/oder sonstige Ehrverletzungsdelikte und/oder Sach-
beschädigungen etc., liegt eben noch keine Straftat im
Sinne des § 238 StGB vor, so dass die Strafermittlungs-
behörden – noch – nicht tätig werden müssen.
Ob also im Einzelfalle eine polizeiliche Ermittlung auf-
genommen wird, hängt davon ab, wie der jeweils zustän-
dige Ermittlungsbeamte den Sachverhalt wertet, ob also
der jeweilige Bearbeiter von einer bereits eingetretenen
„Beharrlichkeit“ ausgeht oder nicht.
V. Probleme und Lösungsmöglichkeiten für die
Sachverhaltsausarbeitung und Sachverhaltswürdi-
gung
Für das Opfer von Nachstellungen gibt es zwei grundle-
gend unterschiedliche Tatformen, die für die Rechtsver-
folgung bedeutsam sind:
Es gibt Täter, die offen handeln, also jede einzelne Ta-
thandlung in eigenem Namen begehen. Sie rufen unter
Nummernbekanntgabe, Namensnennung mit unver-
stellter Stimme an oder versenden ungeniert in eigenem
Namen E-Mails. SMS, Briefe, etc. Hier kann gegen die
betreffende Person Strafantrag gestellt werden. Dann ist
zu prüfen, ob diese offen begangenen Tathandlungen den
Tatbestand des § 238 StGB erfüllen oder nicht.
Dann gibt es Täter, die ganz oder teilweise anonym han-
deln. Die Tathandlungen werden somit ganz oder teilweise
aus der Anonymität heraus begangen mit der Folge, dass
es einen oder mehrere Verdächtige geben kann, jedem
Verdächtigen jedoch jede einzelne Tathandlung nachzu-
weisen ist. Bei dieser Konstellation hat das Opfer weitere
Probleme, bis die Strafjustiz deren Rechte wahrnimmt.
In der Praxis ist die Neigung gegen einen bekannten
18
Täter vorzugehen höher als zunächst arbeitsintensiv zu
ermitteln, wer der Täter ist. Deshalb ist bei anonym han-
delnden Täter die Schwelle der „Beharrlichkeit“ oftmals
höher angesetzt, es sei denn, dass andere Straftaten durch
die einzelnen Tathandlungen im Sinne des § 238 StGB
begangen wurden, die damit gesondert Anlass für poli-
zeiliche Ermittlungen geben. Täter, die teilweise offen,
teilweise verdeckt vorgehen, haben in der Praxis oftmals
kein hohes Strafverfolgungsrisiko. Der geschickte Täter
bewegt sich mit den offenen Tathandlungen im Sinne des
§ 238 StGB unterhalb der Schwellen „beharrlich“ und
„schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensqualität“.
Somit ist er für das Opfer zwar als Täter klar erkenn-
bar, aber, sofern er durch einzelne Tathandlungen keine
anderen Strafrechtsnormen verletzt, wird gegen ihn kein
Ermittlungsverfahren eingeleitet. Jede einzelne Tat, die
er anonym begeht, muss ihm nachgewiesen werden. Das
Opfer „weiß“ zwar, wer der Täter ist, die Ermittlungs-
behörden sind oftmals ebenfalls der Überzeugung, den
Täter zu kennen. Aber mangels eines konkreten Tatnach-
weises kommt es weder zu einer Anklage noch zu einer
Verurteilung, auch wenn sonst niemand für die Taten in
Betracht kommt oder zu kommen scheint. Diese Rechts-
folge ist zwar für das Opfer betrüblich, aber rechtsstaat-
lich geboten. Niemand kann und darf alleine deshalb an-
geklagt oder verurteilt werden, weil er mit einem anderen
verfeindet ist und einem niemand anderes einfällt, der als
Täter in Betracht kommen könnte. Die Feindschaft oder
einzelne nachgewiesene Tathandlungen können und dür-
fen nicht dazu führen, dass diese Indizien zu einer Ankla-
ge oder Verurteilung für alle sonst nicht nachgewiesenen
Tathandlungen führen, nur weil eben sonst (vermeint-
lich) niemand in Betracht kommt. Wohl aber können
solche Indizien wie Nachweise einzelner Tathandlungen
dazu führen, dass sinnvolle Ermittlungshandlungen vor-
genommen werden, die zum Erfolg führen können, ins-
besondere Hausdurchsuchungen, wenn zu vermuten ist,
dass Beweismittel sichergestellt werden können. Und
hieran scheitert es in der Praxis häufig. Entweder meint
man, keine Beweise zu finden oder eine Hausdurchsu-
chung sei unverhältnismäßig.
Der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist selbstverständ-
lich strikt einzuhalten, bevor in Rechte von verdächtigen
Bürgern eingegriffen wird. Auf der anderen Seite darf
man auch nicht übersehen, dass die Opfer oftmals erheb-
liche psychosomatische Folgeschäden durch Nachstellen
erleiden und deren berufliche Existenz bisweilen durch
Stalking bedroht sein und dass das gesellschaftliche An-
sehen erheblich diskreditiert werden kann.
In der Praxis fehlt es oft an einer nachvollziehbaren,
sachgerechten Argumentation für das Opfer, wenn mit
Pauschalbegründungen Ermittlungsmaßnahmen gegen
Verdächtige abgeblockt werden. Um es nochmals zu
betonen: Der Straftatbestand des § 238 StGB darf nicht
zur Aushöhlung von Rechten von Tatverdächtigen füh-
Law Zone Nr. 1/2010
 Where Kommentar

Do
You
Want
To
We’ll take you there.
Bleiben Sie in Bewegung -
Go?
starten Sie Ihre Karriere als Referendar (m/w) bei Dewey & LeBoeuf.

Wir bieten ein interessantes Aufgabenspektrum in einem internationalen

Umfeld, direkte Einbindung in die laufende Mandatsarbeit und enge
Zusammenarbeit mit einem erfahrenen Anwalt.

Entdecken Sie Ihre individuellen Entwicklungsmöglichkeiten in

den Bereichen Bank- und Kapitalmarktrecht, M&A/Private Equity,
Bankaufsichtsrecht/Asset Management, Steuer- oder Immobilienrecht.

Wir erwarten hervorragende Examensergebnisse, sehr gute Englisch-

kenntnisse, Teamfähigkeit sowie Begeisterung und Engagement.

Ihre Ansprechpartner: Sebastian Müller/Silvia Bill, frankfurtrecruit@dl.com

Law Zone Nr. 1/2010

Dewey & LeBoeuf LLP, Skyper, Taunusanlage 1, 60329 Frankfurt www.dl.com
19
 Titelthema
ren. Deren Rechte sind umfassend und strikt einzuhalten.
Aber das Opfer von Nachstellungshandlungen hat einen
Anspruch darauf, dass seine Leiden ernst genommen und
bei Entscheidungen von Ermittlungsbehörden sorgfältig
gewürdigt und nicht floskelhaft abgebügelt werden.
Als Anwalt eines Opfers muss man zunächst den vom
Mandanten gelieferten Sachverhalt eruieren und analy-
sieren. Hier ist es vorteilhaft, wenn man dem Mandanten
frühzeitig ein Textmuster an die Hand gibt, damit das Op-
fer weiß, wie der Sachverhalt aufbereitet werden muss.
Der Mandant, also das Opfer der Nachstellung, muss
meist eine Vielzahl von einzelnen Tathandlungen darle-
gen und Beweismittel angeben. Relativ einfach sind die
Tathandlungen, bei denen der Täter offen in Erscheinung
tritt und Beweismittel hinterlässt, z.B. Briefe, E-Mails,
SMS, etc., die eindeutig zuordenbar sind. Ist das Opfer
z.B. nur Augenzeuge und hat den Täter gesehen oder ge-
hört, so ist es in der Praxis leider oft so, dass der Täter,
wenn er polizeilich vernommen wird, die Tat schlichtweg
bestreitet. Die Phantasien der Täter kennen meist keine
Grenzen. Neben einfachem Leugnen lassen sich die Tä-
ter oftmals haarsträubende Ausreden einfallen, die dann
leider vielfach von den Strafverfolgungsbehörden akzep-
tiert werden. Dann steht Aussage gegen Aussage und es
erfolgt eine Einstellung gemäß § 170 II StPO, weil sich
aus Sicht der Strafverfolgungsbehörden der vom Opfer
behauptete Tathergang nicht nachweisen lässt. Leider
wird in der Praxis dem Leugnen oder Ausreden der Täter
bisweilen in auffälliger Weise Gehör und Glauben ge-
schenkt. Dies führt dazu, dass Tathandlungen, bei denen
der Täter nicht vom Opfer lückenlos durch Beweismittel
überführt wird, als nicht nachgewiesen gewertet wer-
den. Somit fallen in der Praxis sämtliche Tathandlungen
weg, für die das Opfer keine Beweismittel hat, wobei,
wie gesagt, eigene Wahrnehmungen des Opfers leider
vielfach nicht genügen. Somit reduziert sich die Zahl der
Tathandlungen ganz erheblich und regelmäßig zuguns-
ten der Täter. Die so reduzierten Tathandlungen genügen
oftmals nicht mehr dem Erfordernis des „Beharrlichen“
und/oder der „schwerwiegenden Beeinträchtigungen der
Lebensgestaltung“. Dass die Strafverfolgungsbehörden
zugunsten des Opfers tätig werden und bei einzelnen Tat-
handlungen den Täter ermitteln, ist leider selten. So sieht
sich das Opfer teilweise bizarren Situationen ausgesetzt.
Ein renommierter Arzt hatte seine Praxis in einer Kli-
nik angemietet. Eines Tages wurde er zur Klinikleitung
beordert. Dort war ein Schreiben eingegangen und zwar
auf dem Briefkopf eines Psychiaters. Dieser angebliche
Psychiater warf dem Arzt vor, unter einer bipolaren Per-
sönlichkeitsstörung zu leiden. Dem Opfer wurde vor-
geworfen, überschuldet zu sein, zu betrügen und seine
Patienten zu gefährden. Es stellte sich heraus, dass der
Briefkopf gefälscht war und der Inhalt jeder Grundlage
entbehrte. Den Psychiater gab es schlichtweg nicht. Ein
entsprechendes Schreiben auf dem Briefkopf des nicht
20
existenten Psychiaters war zudem bei einem Gericht
eingegangen, für das der Arzt als Sachverständiger tätig
war. Als Täter kamen nur 2 Geschwister des Opfers in
Betracht, mit denen das Opfer in Streit lebte und die of-
fen angekündigt hatten, ihn zu vernichten. Dieses Schrei-
ben war nur ein Teil von diversen Handlungen eines
systematischen Vorgehens einer beharrlichen Nachstel-
lung, die hier zu erörtern aufgrund der Komplexität des
Sachverhalts zu weit führen würde. Jedenfalls wurde die
Strafanzeige u.a. wegen Urkundenfälschung und Miss-
brauchs von Titeln zunächst gemäß § 152 II StPO gar
nicht erst aufgenommen, weil nach der Auffassung der
Staatsanwaltschaft ein solches Schreiben trotz frei erfun-
denen Briefkopfs eines promovierten Psychiaters nebst
Unterschrift mit dem genannten Inhalt keinerlei Straf-
tatbestand erfüllen würde. In der Beschwerde führte der
Verfasser aus, dass dann jedermann solche Schreiben
verfassen könne, insbesondere könne jedermann Schrei-
ben auf dem Briefkopf eines Psychiaters veröffentlichen,
in dem Staatsanwälte und Politiker schwerster psychia-
trischer Erkrankungen bezichtigt werden könnten. Erst
diese Argumentation führte dazu, dass dem Grunde nach
eine Strafbarkeit anerkannt wurde. Dennoch wurde trotz
wiederholten Antrags keine Hausdurchsuchung bei den
Verdächtigen durchgeführt, um den PC bzw. Laptop des
Urhebers zu beschlagnahmen. Es hieß u.a. vermutlich
seien die Beweise zwischenzeitlich vernichtet worden.
Zudem sei eine Durchsuchung unverhältnismäßig. Somit
war das Opfer im Ergebnis rechtlos gestellt, obwohl sei-
ne berufliche Existenz durch dieses Schreiben erheblich
tangiert war.
VI. Opfer von Nachstellungen haben 3 Hürden zu
nehmen.
Die erste Hürde ist, die Polizei zu überzeugen und zu
veranlassen, gegen den Täter zu ermitteln. Hier gibt es
in der Praxis oftmals die ersten Schwierigkeiten. Leider
gibt es eine gewisse Anzahl von Ermittlern, die Opfer mit
den unterschiedlichsten Ausreden abwimmeln. Standard-
ausreden sind: Es ist nicht nachweisbar, es gibt Schlim-
meres, nehmen Sie die Sache nicht so ernst etc.
Auf der anderen Seite – und dies muss auch betont wer-
den – gibt es sehr engagierte Polizeibeamte, die die Opfer
sehr ernst nehmen und die Opfer nachhaltig unterstützen.
Es gibt Polizeibeamte, die sorgfältig ermitteln und Täter
überführen. Der Arbeitsaufwand für die Polizeibeamten
ist in vielen Fällen erheblich, weil es oftmals kaum eine
überschaubare Anzahl von Tathandlungen gibt, die ein-
zeln erfasst und nachgewiesen werden müssen.
Ist dank einer sorgfältigen Polizeiarbeit der Täter polizei-
lich überführt, so ist
die 2. Hürde für das Opfer zu nehmen: die Staatsanwalt-
schaft. Die Staatsanwaltschaft hat die Ermittlungsergeb-
nisse der Polizei auszuwerten, ggf. weitere Ermittlungen
zu beauftragen und ggf. Anklage zu erheben. Dies klingt
Law Zone Nr. 1/2010

einfach, ist aber in der Praxis oftmals problematisch. Dies
liegt zum einen an den unbestimmten Rechtsbegriffen
„beharrlich“ und „ die Lebensgestaltung schwerwiegend
beeinträchtigt“ und zum anderen an den oftmals komple-
xen Lebenssachverhalten und der hohen Arbeitsbelas-
tung der Staatsanwaltschaften und/oder der Unwilligkeit
einzelner Staatsanwälte. Der Verfasser hat z.B. in einem
einzigen Fall bisher 3 verschiedene Staatsanwälte erlebt.
Die erste Staatsanwältin nahm den Sachverhalt sehr ernst
und leitete effektive Ermittlungsarbeiten ein. Ihre Nach-
folgerin meinte, es liege keine Beharrlichkeit vor. Der
Terror ging für den Mandanten ungehemmt weiter.
Schließlich wurde der 3. Staatsanwalt tätig. Dieser wollte
vermittelnd tätig werden. Er wollte einen Täter-Opfer-
ausgleich herbeiführen. Dieser scheiterte jedoch, weil
der Täter sich einem Täter-Opferausgleich verweigerte.
Seither erfolgt seit Monaten von Seiten der Staatsan-
waltschaft keine effektive bzw. für das Opfer sichtbare
Strafverfolgungsaktion mehr. Der Sachverhalt in diesem
Beispielsfall ist allerdings komplex, da der Täter über
Jahre hinweg Hunderte von Droh- und Beleidigungsan-
rufen tätigte bzw. entsprechende Schreiben versandte.
Eine rechtlich korrekte Anklageschrift müsste sämtliche
Tathandlungen umfassen, insbesondere Anrufe nach Zeit
und Inhalt erfassen. Der Staatsanwaltschaft wurden über
Jahre hinweg die relevanten Details des Nachstellens
mitgeteilt, dies auch schon vor Erlass des § 238 StGB.
Der Mandant hatte hierzu ein Formblatt erstellt, in das
seine Mitarbeiter, bei denen die Anrufe eingingen, die
relevanten Daten eintrugen. Diese Formblätter wurden
der Staatsanwaltschaft turnusmäßig zugesandt. Die An-
klageerhebung hätte sich somit in Straftatbeständen auf-
gesplittet vor und nach Erlass des § 238 StGB. Neben
Erfüllung des § 238 StGB waren in diesem Falle jeweils
zahlreiche Straftatbestände aus dem Bereich der Ehrver-
letzung erfüllt, weil der Mandant mit massiven Unflätig-
keiten überzogen worden war. Mutmaßlich im Hinblick
auf den sehr komplexen Sachverhalt mit Hunderten von
Einzelhandlungen und die mutmaßlich eingeschränkte
oder ausgeschlossene Schuldfähigkeit des Täters wurde
bisher keine Anklage erhoben. Im konkreten Fall kennt
man den Täter, geht aber nicht, jedenfalls nicht effek-
tiv gegen diesen vor. Ob und wann mit einer Anklage zu
rechnen ist, steht in den Sternen. Der Mandant muss wei-
ter mit Nachstellungen rechnen, ohne dass die Strafjustiz
effektiv reagiert und Anklage erhebt. Wegen des Akten-
ordner füllenden Umfangs an diversen Tathandlungen
kommt der Täter vielleicht straflos davon, während das
Opfer im Ergebnis rechtlos gestellt wird. Täter können
somit gerade bei einer Vielzahl einzelner Tathandlungen
profitieren, weil die Strafjustiz scheinbar nicht in der
Lage ist, derart komplexe Fälle mit den vorhandenen
Personalressourcen aufzuarbeiten. Somit ist das Opfer
wiederum der Dumme. Entweder reichen die Tathand-
lungen nicht, um die Schwelle der Beharrlichkeit und der
Law Zone Nr. 1/2010
Titelthema
schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestal-
tung zu nehmen oder die Tathandlungen sind derart zahl-
reich, dass das Opfer zwar beharrliche Nachstellungen
durchleiden muss und die Lebensgestaltung des Opfers
schwerwiegend beeinträchtigt ist, aber gerade deshalb
eine effektive Strafverfolgung scheitert, weil die Straf-
verfolgungsbehörden mit der Aufarbeitung der Vielzahl
von Tathandlungen überfordert ist.
Die 3. Hürde, das Gerichtsverfahren: Wegen der Kom-
plexität des Sachverhalts mit teilweise Hunderten von
Einzeltaten, gibt es leider Staatsanwälte, die versuchen,
diese zeitintensive ordentliche Bearbeitung zu vereinfa-
chen. Der komplexe Sachverhalt wird bisweilen leider
nicht in erforderlichem Umfange in die Anklageschrift
eingearbeitet, sondern pauschaliert und verallgemeinert.
Z.B. werden Sachverhaltskomplexe gebildet, wonach
der Täter im Zeitraum von bis diverse Nachstellungen in
Form von E-Mails. SMS, Anrufen etc. begangen haben
soll. Das Gericht argumentiert dann oftmals in der Ver-
handlung, die Anklageschrift sei zu unsubstantiiert – es
stellt sich dann die Frage, weshalb die Anklage überhaupt
zugelassen wurde und das Gericht der Staatsanwaltschaft
nicht früher die Akte mit dem Vermerk zurückgegeben
hat, die einzelnen Tathandlungen substantiiert aufzulis-
ten. Nachdem man aber schon einmal beim Verhandeln
ist, muss das Gericht natürlich sehen, das Verfahren mög-
lichst unproblematisch und schnell zu Ende zu bringen.
Der Täter wird trotz erheblicher Schwächen in der An-
klageschrift unter Druck gesetzt, dass bei Durchführung
einer Beweisaufnahme erhebliche Rechtsverletzungen
festgestellt und es zu einem hohen Strafmaß kommen
könne. Er solle sich ein umfassendes Geständnis über-
legen. Die Staatsanwaltschaft wird unter Druck gesetzt,
dass der Sachverhalt völlig unzureichend in der Anklage-
schrift enthalten sei und deshalb höchste Risiken beste-
hen, überhaupt zu einer nennenswerten Verurteilung zu
gelangen. Jedenfalls wird so oftmals eine Situation ge-
schaffen, wonach das Strafmaß in einem Rechtsgespräch
ausgehandelt wird, das in aller Regel wiederum den Täter
erheblich begünstigt.
Gerade die Täter, die besonders häufige und schwer-
wiegende Nachstellungshandlungen begangen haben,
profitieren am meisten von ihrer erheblichen kriminellen
Energie. Vielfach zeigt sich zudem, dass Gerichte die
psychischen Schäden der Opfer nicht ernst genug neh-
men. Leider heißt es zu oft, es handele sich „nur“ um
psychische oder psychosomatische Folgeerscheinungen.
Sollte das Opfer bereits vor den Nachstellungen unter
psychischen oder psychosomatischen Krankheitssymp-
tomen gelitten haben, wird ein Wiederaufleben oder
eine Verschlimmerung oftmals damit abgetan, es lasse
sich ohnehin nicht nachweisen, dass das Wiederaufleben
und/oder die Verschlimmerung durch die Nachstellung
eingetreten sei. Damit wird im Ergebnis vielfach die
schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung
21
 Titelthema
negiert und der Täter in Konsequenz freigesprochen oder
allenfalls unter anderen Gesichtspunkten als § 238 StGB
bestraft oder erhält unter dem Aspekt des § 238 StGB
eine gemessen an dem Leiden und den gesundheitlichen
Schäden der Opfer, deren Aufwand an Zeit, Geld, Ner-
ven und Lebensqualität unverhältnismäßig milde Strafe.
VII. Ergebnis
§ 238 StGB ist eine sinnvolle rechtliche Regelung. Aber
die Umsetzung der Vorschrift in die Praxis ist erheb-
lichen Erschwernissen ausgesetzt, die oftmals dazu füh-
ren, dass die Vorschrift verpufft und der Täter ungestraft
oder deutlich zu milde bestraft davon kommt.
Der gewünschte Opferschutz scheitert oftmals in der Pra-
xis an tatsächlichen und/oder rechtlichen Gegebenheiten,
die teilweise hinzunehmen sind, weil unter rechtsstaatli-
chen Gesichtspunkten Rechte von tatverdächtigen Bür-
gern nicht ausgehöhlt werden dürfen. Aber diejenigen
Das „Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nachstellung“−
Allheilmittelmittel polizeilicher Intervention bei Stalking?
Von Kriminalhauptkommissar im LKA Stephan Rusch, Bremen*
2001 haben die Polizei und Staatsanwaltschaft
Bremen, Sonderdezernat „Gewalt gegen Frau-
en“, das einzigartige, sogenannte „Stalking-
Projekt“ innerhalb des Bundeslandes Bremen
initiiert. Seit dieser Zeit wurden mehr als 1.500
Stalking-Fälle bei der Polizei Bremen regis-
triert und seitens des Sonderdezernates bei der
Staatsanwaltschaft bearbeitet. Die Erfahrungen im Um-
gang mit dem Phänomen Stalking haben gezeigt, dass
sich die Opfer in Ermangelung adäquater Hilfsangebote
in einem hohen Maße auf die Strafverfolgungsbehörden
fixieren. Dieser Umstand hat in Bremen zur Einrichtung
des Stalking-Kriseninterventionsteams (Stalking-KIT)
geführt, das in der Zeit von 2006 bis 2008 zunächst im
Rahmen des AGIS-Programms mit EU-Fördermitteln fi-
nanziert wurde und seit 2009 im Haushalt des Bremer
Senats Berücksichtigung findet.
Die Einführung des „Gesetzes zur Strafbarkeit beharr-
licher Nachstellung“ mit der Schaffung des § 238 Straf-
gesetzbuch (StGB) unter der Überschrift „Nachstellung“
sowie die Erweiterung des § 112a Strafprozessordung
(StP0) um die sogenannte „Deeskalationshaft“ im Jahre
2007 hat zu der erwarteten und im Rahmen des Gesetz-
gebungsverfahrens in Expertenhearings prognostizierten
Mehrbelastung der Strafverfolgungsbehörden geführt.
Einerseits hat die Einführung der Strafnorm bei den Op-
fern Begehrlichkeiten und Erwartungen an die Ermitt-
lungsbehörden geweckt, die nur schwer zu befriedigen
sind.
22
Tataufklärungsdefizite, die ihre Ursache darin haben,
dass die Strafverfolgungsbehörden und die Strafjustiz
ihre Aufgabe nicht oder unzulänglich wahrnehmen, weil
es an Personal und/oder Ausbildung und/oder technischer
Ausstattung fehlt, diese Defizite müssen im Interesse der
Opfer zwingend und schnell ausgeglichen werden.
Wir brauchen keine neuen oder schärferen Gesetze. Wir
brauchen die konsequente Umsetzung des vorhandenen
Rechts mit dem gebotenen Augenmaß und zwingend
auf der Grundlage rechtsstaatlicher Erfordernisse unter
Wahrung der ohnehin bereits übermäßig eingeschränkten
Bürgerrechte. Dies gilt auch und gerade für die Umset-
zung des § 238 StGB.1
*
Der Autor ist selbständiger Rechtsanwalt in München. Dr. Etzel befasst
sich seit ca. 1990 mit rechtlichen Aspekten des Psychoterrors (Mobbing/
Stalking) und ist Autor diverser Veröffentlichungen auf diesem und ande-
ren Rechtsgebieten und ist als Referent und Rechtsexperte z.B. in Medien
und auch vor diversen Bundesministerien und Bundestagsfraktionen auf-
getreten. Homepage: www.dr-etzel.de
Andererseits liegt die Beweislast nunmehr bei
den Strafverfolgungsbehörden, die allerdings
nach wie vor auf die Mithilfe der Opfer ange-
wiesen sind.
Daher müssen die Opfer über die Möglichkeiten
und Grenzen polizeilicher und staatsanwalt-
schaftlicher Intervention aufgeklärt werden und
die Ermittlungsbehörden wiederum Standards formulie-
ren, die ihnen ihre Arbeit wesentlich erleichtern. Zudem
sind neben den Strafverfolgungsbehörden weitere Insti-
tutionen aufgerufen, sich des Phänomens Stalkings an-
zunehmen. Weder das Strafgesetzbuch noch die psycho-
soziale Unterstützung der Opfer oder die therapeutische
Behandlung der Täter können für sich genommen das
Allheilmittel im Umgang mit Stalking sein.
1. Einleitung
Auch mit der Einführung des Nachstellungs-Straftatbe-
standes in das Strafgesetzbuch bleibt unter Fachleuten di-
verser Fachrichtungen nach wie vor eine offene und eher
skeptisch beurteilte Frage, inwieweit eine strafrechtliche
Normierung den Schutz von Stalking-Opfern zu verbes-
sern vermag. Einigkeit herrscht jedenfalls darüber, dass
Stalking-Verhaltensweisen mit der Einführung des Straf-
paragrafen als kriminelles Unrecht anerkannt und somit
von der Gesellschaft als solches geächtet werden.
Obgleich Stalking weiterhin im Fokus medialer Bericht-
erstattung steht und mutmaßlich auch auf lange Sicht
stehen wird, finden Opfer, wie Täter, für ihre zentralen
Law Zone Nr. 1/2010
 Kommentar

STUDENT
meets
PRACTICE
Praktikantenprogramm Sommer 2010

Vom 23. August bis 01. Oktober 2010 veranstaltet Shearman & Sterling an allen deutschen Standorten
zum vierten Mal das Praktikantenprogramm „Student meets Practice“.

Unser Motto lautet: „Mittendrin statt nur dabei.“ Entsprechend werden Sie täglich in unsere spannende
Mandatsarbeit einbezogen und können sich außerdem auf folgende Highlights freuen:

- Besuch eines überörtlichen Seminars im Rahmen unseres Aus- und Weiterbildungs-

programms „Project Brain“
- Teilnahme an den wöchentlich stattfindenden lokalen „Project Brain“-Veranstaltungen
- Treffen aller Praktikanten mit gemeinsamem Moot Court

Mehr Informationen finden Sie unter www.studentmeetspractice.de. Bitte bewerben Sie sich bis zum
30. April 2010 und beachten Sie, dass nur eine begrenzte Anzahl an Plätzen verfügbar ist.

Wir freuen uns auf Sie!

Shearman & Sterling LLP

Michael Mitt I Human Resources I Breite Straße 69 I 40213 Düsseldorf
T +49.211.17888.346 I michael.mitt@shearman.com

Law Zone Nr. 1/2010 Aligned for Excellence 23

 Titelthema
Bedürfnisse nach wie vor nur vereinzelt adäquate Hilfs-
angebote, weshalb sie sich mit ihren Ängsten, Sorgen
und Nöten weiterhin überwiegend auf die Strafverfol-
gungsbehörden fixieren. Dies ist für die Polizei und die
Staatsanwaltschaft ein Problem, weil die Strafverfol-
gungsbehörden nicht die Aufgaben einer psychosozialen
Betreuung wahrnehmen können.
Mit diesem Wissen ist in Zusammenarbeit mit Polizei,
Staatsanwaltschaft und Täter-Opfer-Ausgleich in Bre-
men die Idee entstanden, das Bremer Stalking-Projekt
fortzuschreiben und ein Stalking-KIT einzurichten, das
Polizei und Staatsanwaltschaft entlasten und Opfern so-
wie Tätern die notwendigen professionellen Hilfen zu-
kommen lassen soll.
2. Das Bremer Stalking-Projekt und die Einführung
des Stalking-KIT
Das Bremer Stalking-Projekt
Im November 1999 wurden die Strafverfolgungsbehör-
den in Bremen durch ein versuchtes Tötungsdelikt mit
einem völlig neuen Kriminalitätsphänomen konfrontiert,
das beispielsweise in den USA schon längst als Stalking
bekannt war. Der Fall offenbarte vor allem eines: Die
Hilflosigkeit aller Beteiligten.
In der Folge wurde das Bremer Stalking-Projekt initiiert
und damit strategische Ziele im Umgang mit Stalking de-
finiert. Zu den strategischen Zielen gehören:
• Auf- und Ausbau des Kenntnisstandes zum Phänomen
Stalking und die Sensibilisierung der Polizeibeamtinnen
und Polizeibeamten zu dieser Thematik,
• Frühzeitiges Erkennen und Einschreiten bei Stalking-
Fällen,
• Gefahreneinschätzung für das Opfer und die Gefähr-
dungsanalyse für den Täter sowie
• Steigerung der Anzeigenbereitschaft bei Opfern und
Polizei.
Das Bremer Stalking-Projekt besteht aus den folgenden
wesentlichen Bausteinen:
Staatsanwaltschaftliches Sonderdezernat „Gewalt gegen
Frauen“
Bereits 1984 entstand das sogenannte „Bremer Modell“,
um den besonderen Problemlagen von Opfern sexuali-
sierter Gewalt Rechnung tragen zu können und insbeson-
dere ihre Situation im Ermittlungs- und Gerichtsverfahren
zu verbessern. Eine Vernetzung mit der Psychologischen
Beratungsstelle des Notrufes für vergewaltigte Frauen
und Mädchen als Versorgungsangebot hinsichtlich ei-
ner psychotherapeutischen Hilfe in Form von Krisenin-
tervention, Beratung und Psychotherapie war seinerzeit
bundesweit Bahnen brechend.
Schon in den 90er Jahren wurde die Zuständigkeit des
Sonderdezernates mit der Bearbeitung von Fällen häus-
licher Gewalt erweitert. Mit Einrichtung des Bremer
Stalking-Projektes im Jahre 2001 wurden dem Sonderde-
zernat auch alle Stalking-Fälle zugeschrieben, soweit es
24
sich bei den Opfern um Frauen handelte.
Aktuell gehören dem Sonderdezernat „Gewalt gegen
Frauen“ zwei Staatsanwältinnen an und mittlerweile
werden zusätzlich auch alle Stalking-Fälle bearbeitet, bei
denen Männer Opfer geworden sind.
Absolute Berichtspflicht
Die absolute Berichtspflicht in Stalking-Fällen verfolgt
den Ansatz, strafrechtliche Normierungen, wie §§ 238,
223, 224, 240, 241 StGB usw. zunächst einmal unbe-
rücksichtigt zu lassen und einen berichteten Sachverhalt
in seiner ganzen Ausprägung aufzunehmen. Eine (straf-
rechtliche) Bewertung des Inhaltes findet erst nach Ab-
schluss der Sachverhaltsaufnahme statt.
Einsatz von Stalking-Beauftragten
Die Polizei Bremen hat sogenannte Stalking-Beauftrag-
te eingesetzt. Der Sinn und Zweck der Funktion eines
Stalking-Beauftragten besteht darin, die an den Polizei-
revieren angezeigten Stalking-Sachverhalte entgegen-
zunehmen und inhaltlich zu bewerten. Sie treffen dann
Entscheidungen darüber, ob
• weiteres polizeiliches Handeln erforderlich ist,
• die Sachbearbeitung im Polizeikommissariat (bei
leichter und mittlerer Kriminalität) oder bei der Direk-
tion Kriminalpolizei/Landeskriminalamt (in Fällen der
Schwer- und Schwerstkriminalität) erfolgen soll und ge-
gebenenfalls
• andere Stellen eingeschaltet werden sollen, bzw. zu in-
formieren sind (z.B. Stalking-KIT, Opferhilfe-Organisa-
tionen oder das Amt für soziale Dienste, etc.).
Sie sind dafür verantwortlich, dass dem Opfer ihre Ent-
scheidung mitgeteilt und ein fester Ansprechpartner,
bzw. Verantwortlicher bei der Polizei zur Verfügung ge-
stellt wird. Grundsätzlich sollen sie selbst engen Kontakt
zum Opfer halten und es fortwährend über den Stand der
Ermittlungen informieren.
Opfer-Wohnort-Prinzip
In Deutschland gilt für die Strafverfolgungsbehörden das
Tatortprinzip (§ 9 StGB).
Das Bremer Stalking-Projekt geht in Fällen von Stalking
jedoch von dem sog. Opfer-Wohnort-Prinzip aus. Das
bedeutet, egal, wo das Opfer Angriffen von Stalking-
Handlungen ausgesetzt war, es ist immer derjenige Stal-
king-Beauftragte für die Fallsachbearbeitung zuständig,
in dessen Zuständigkeitsbereich das Opfer wohnt.
Gefährderansprache
Die Gefährderansprache wird im Rahmen der sogenann-
ten Generalklauseln der Polizeigesetze der Länder ange-
wendet. Es handelt sich um ein normenverdeutlichendes
Gespräch mit dem Stalker, der in der Regel vom Stalking-
Beauftragten vorgeladen oder ausnahmsweise auch auf-
gesucht und davon in Kenntnis gesetzt wird, dass der Po-
Law Zone Nr. 1/2010

lizei sein Verhalten bekannt geworden ist und dass dieses
in keiner Weise toleriert wird. Darüber hinaus werden
dem Stalker die möglichen polizeilichen Maßnahmen so-
wie zivil- und/oder strafrechtlichen Folgen erläutert, aber
auch Konfliktlösungsmöglichkeiten aufgezeigt.
Einführung des Stalking-KIT
Nicht nur die gravierende Eskalationstat im Jahre 1999,
die zur Einrichtung des „Bremer Stalking-Projektes ge-
führt hat , sondern vor allem der sogenannte „Maritim-
Hotel-Mordfall“ im Jahre 2005 in Bremen hat gezeigt,
dass ein abgestuftes Kriseninterventionskonzept bei
Stalking-Delikten für Opferschutz und Täterbegrenzung
(Gefahrenabwehr) unbedingt erforderlich ist.
Vor diesem Hintergrund arbeitet das Stalking-KIT nied-
rigschwellig, schnell sowie lösungs- und ressourcen-
orientiert. Der Schutz des „Opfers“ und die sofortige
Begrenzung des „Täters“ sind vorrangige Ziele seiner
Interventionen. Weiterführende konstruktive Konflikt-
bearbeitung, z.B. im Sinne einer Trennungsbegleitung
oder außergerichtlicher Konfliktbeilegung, können u.U.
in geeigneten Fällen weitere Ziele der Vorgangsbearbei-
tung sein und günstigstenfalls eine juristische Befassung
erübrigen. In der Arbeit mit „Opfern“ – die in der Regel
vom gleichgeschlechtlichen Mitarbeiter des Stalking-
KIT verantwortlich geführt wird – gelten zunächst die
Grundsätze:
1. Akute Krisen bewältigen: Das Angebot der Krisenbe-
gleitung, ggf. auch nachts, so weit dies
nicht von anderen Diensten und Kooperationspartnern
sichergestellt werden kann.
2. Realitätsprüfung, Wiederherstellung der „inneren Si-
cherheit“: Neben objektivem Schutz muss die innere Re-
alität des „Opfers“ durch Gespräche oder andere tatkräf-
tige Unterstützung bzw. Vermittlung hergestellt werden.
3. Stärkung des Selbstwertgefühls: Die „Opfer“ müs-
sen kurz- oder mittelfristig in die Lage versetzt werden,
die eigene Handlungsfähigkeit zu erkennen und die ge-
wünschten Schritte (z.B. Strafanzeige, eindeutige Rück-
meldung an „Täter“ u.a.m.) einzuleiten, um das ihnen
Widerfahrene zu bewältigen und psychisch integrieren
zu können.
In der Arbeit mit „Tätern“ – die (wie oben) in der Regel
vom gleichgeschlechtlichen Mitarbeiter des Stalking-
KIT verantwortlich geführt wird - gelten zunächst die
Grundsätze:
1. Sofort Grenzen setzen: sofortige Intervention und Kon-
frontation mit den Tatvorwürfen, günstigenfalls Vorlage
bzw. gemeinsame Erarbeitung von Schutzerklärungen
für das Opfer, notfalls aber auch zeitnahe Herbeiführung
(straf)juristischer Sanktionen oder anderer Maßnahmen
staatlicher Kontrolle (Gewaltschutzgesetz, Begutachtung
o.a.).
2. Realitätsprüfung: „Täter“, Beschuldigte oder Tatver-
dächtige werden unmittelbar in die Verantwortung für
Law Zone Nr. 1/2010
Titelthema
ihr Handeln genommen und durch normverdeutlichende
(gesellschaftliche) Stellungnahme und Konfrontation
mit ihrem Tun und dessen Folgen von weiteren Stalking-
Handlungen abgehalten.
3. Entlastende Gesprächsangebote vorhalten: Das Reden
über den Konflikt entlastet und kann destruktives Aus-
agieren erübrigen, wenn ein professionelles Gegenüber
als „Neutrales Drittes“ die vorherrschende Dynamik tri-
angulieren und Setting sowie Gesprächsinhalte entspre-
chend steuern kann. Regelmäßige entlastende Gespräche
in akuten psychischen Krisen bieten zusätzlich einen
Rahmen, durch den (bis auf wenige Ausnahmen) die
Beschuldigten gleichermaßen gehalten wie begrenzt und
kontrolliert werden können.
4. Veränderung herbeiführen: Die im Rahmen der Ge-
spräche angebotene Unterstützung und Herausforderung
zu Selbstreflexion sowie die Erarbeitung von alterna-
tiven Handlungsstrategien zur Bewältigung möglicher
„innerer“ bzw. realer Konflikte verändern im Regelfall
das Täterverhalten und bewirken die (Re-)Integration in
die Gemeinschaft.
In Kooperation mit den anderen Verfahrensbeteiligten
gelten die Grundsätze:
• Interventionen sollen aus Gründen der Spezialpräven-
tion und der Gefahrenabwehr so tatnah wie möglich
geschehen (auch schon im Verdachtsfall vor einer kom-
pletten Ausermittlung des Sachverhalts bzw. Strafanzei-
geerstattung).
• Intensive Rückkopplung über Sachstand und Auswir-
kungen der Interventionen an die Polizei und die Staats-
anwaltschaft sowie ggf. andere Kooperationspartner aus
Opferhilfe und Täterkontrolle.
•Enge Kontrolle der Erbringung sämtlicher Vereinba-
rungen aus Schutzerklärungen, Verhaltensvereinba-
rungen und/oder Wiedergutmachungsleistungen.
Das Bremer Stalking-KIT wurde im Januar 2006 unter
Beteiligung der Polizei und Staatsanwaltschaft sowie des
Täter-Opfer-Ausgleichs e.V. Bremen als Träger entwi-
ckelt und im Rahmen des EU-geförderten AGIS-Pro-
gramms in der Zeit von Dezember 2006 bis Dezember
2008 getestet. Das Stalking-KIT ist seit Januar 2009 im
Haushalt des Bremer Senats mit entsprechenden Finanz-
mitteln fest verankert.
3. Das „Gesetz zur Strafbarkeit beharrlicher Nach-
stellung“ in der polizeilichen Praxis
Allgemeines
Mit der Einführung des „Gesetzes zur Strafbarkeit be-
harrlicher Nachstellung“ ging zum 31. März 2007 ein fast
schon grotesk anmutendes dreijähriges Gesetzgebungs-
verfahren zu Ende, das eben nicht nur die Schaffung des
§ 238 StGB als Strafnorm zum Ausfluss hatte, sondern
für die polizeiliche Praxis ebenso von Bedeutung, Än-
derungen im § 112a Strafprozessordnung (StPO) – Haft-
grund der Wiederholungsgefahr – mit sich brachte.
25
 Titelthema
Der § 238 StGB in seiner bestehenden Form und die Er-
weiterung des § 112a StPO um die sogenannte „Dees-
kalationshaft“ sollte der Verbesserung des Opferschutzes
dienen und ein klares Bekenntnis zur Ächtung von Stal-
king-Verhaltensweisen als kriminelles Unrecht sein.
Inwieweit der § 238 StGB eine generalpräventive Wir-
kung entfaltet, soll in diesem Artikel unberücksichtigt
bleiben, zumal hierfür derzeit keine empirischen Unter-
suchungen vorliegen.
An dieser Stelle sei angemerkt, dass der Autor partiell
in Expertenhearings am Gesetzgebungsverfahren beteili-
gt war und die Schaffung des „Gesetzes zur Strafbarkeit
beharrlicher Nachstellung“ mit einem klaren Bekenntnis
zu mehr Opferschutz vehement eingefordert hat.
Fallaufkommen und das Problem der statistischen
Erfassung
In der Zeit vom 1. Januar bis 31. Dezember 2009 sind bei
der Polizei Bremen insgesamt 247 Verfahren wegen Ver-
gehens gegen § 238 StGB statistisch erfasst worden. Di-
ese Zahl ergibt jedoch kein abschließendes Bild über die
tatsächliche Anzahl der Verstöße gegen § 238 StGB im
Jahre 2009. Nachstellungen sind Dauerdelikte. Sie stehen
häufig in Zusammenhang mit anderen Delikten, z.B. mit
Körperverletzungen, Beleidigungen, Freiheitsberaubung,
Nötigung oder Verstößen gegen § 4 Gewaltschutzgesetz
(GewSchG). 2009 wurden insgesamt 261 Verstöße nach
§ 4 GewSchG erfasst, was vermuten lässt, dass es sich in
dem einen oder anderen Fall um klare Vergehenstatbe-
stände nach § 238 StGB handeln dürfte.
Bei einer tateinheitlichen Begehungsweise wird das je-
weils schwerste Delikt bei der Staatsanwaltschaft sta-
tistisch erfasst. Im Falle der tateinheitlichen Begehung
einer Körperverletzung und einer Nachstellung würde
dementsprechend nur die Körperverletzung statistisch
erfasst, da diese mit höherer Strafe bedroht ist (bis zu
fünf Jahren oder Geldstrafe) als die Nachstellung (bis zu
drei Jahren oder Geldstrafe). Bei einer tatmehrheitlichen
Begehungsweise, wenn also mehrere Taten nebenein-
ander begangen werden, wird für jede einzelne Straftat
eine eigene Akte bei der Polizei angelegt, die dann we-
gen des Verfahrenszusammenhangs zu einer Akte mit
einer entsprechenden Anzahl von Sonderakten verbun-
den werden. Eine Verfahrensverbindung erfolgt häufig
bereits durch die Polizei. Diese übersendet dann die Akte
mit der entsprechenden Anzahl von Sonderakten für die
weiteren Einzeltaten an die Staatsanwaltschaft Bremen.
Erfasst wird hier dann aber nur das jeweilige Delikt der
Hauptakte als ein Verfahren, selbst wenn zahlreiche wei-
tere Einzeltaten Gegenstand von Sonderakten zu diesem
Verfahren sind. Wenn die Nachstellung, was häufig der
Fall ist, Gegenstand einer Sonderakte ist, wird sie von
der staatsanwaltschaftlichen Statistik nicht erfasst. Tat-
sächlich ist daher anzunehmen, dass wesentlich mehr
als die statistisch ausgewiesenen 247 Verfahren wegen
26
Nachstellungen bei der Staatsanwaltschaft Bremen ein-
gegangen sind. Eine genaue Feststellung der tatsäch-
lichen Anzahl wäre nur möglich, wenn sämtliche einge-
gangenen Akten einzeln per Hand ausgewertet würden.
Dieser Aufwand ist jedoch nicht darstellbar.
Tatbestandsmerkmale
Tatbestandsmäßig wirft § 238 Abs. 1 StGB in seiner heu-
tigen Fassung immer wieder zwei wesentliche Problem-
felder auf. Einerseits stellt sich die Frage, wann Stalking
eigentlich beginnt und wann die Lebensgestaltung des
Opfers „schwerwiegend beeinträchtigt“ ist.
Unbefugtes, beharrliches Belästigen
Der § 238 StGB fordert zunächst einmal das „unbefugte,
beharrliche Belästigen“ durch bestimmte Verhaltenswei-
sen, die in Absatz 1 unter den Ziffern 1. bis 5. aufge-
führt sind. Dabei drückt sich die „Beharrlichkeit“ bei der
Gesamtwürdigung des Einzelfalles durch wiederholtes,
andauerndes Verhalten, Hartnäckigkeit und gesteiger-
te Gleichgültigkeit des Täters aus, die die Gefahr einer
weiteren Begehung indiziert. Die „unbefugte Belästi-
gung“ ist dann anzunehmen, wenn das Opfer im Sinne
der allgemeinen sittlichen Vorstellungen von Recht und
Unrecht ein „negatives Gefühlsempfinden von einigem
Gewicht“ verspürt und der Täter gegen den Willen des
Opfers handelt.
Beispiel: Der Täter schreibt gegen den Willen des Opfer
zum 1.000 Mal eine E-Mail mit den Worten „Ich liebe
dich“.
Tatsächlich würde man in diesem Fall von einer „unbe-
fugten und beharrlichen“ Verhaltensweise seitens des
Täters ausgehen können. Nach allgemeinen Vorstellun-
gen im Sinne der Sittenlehre handelt es sich ganz sicher
auch um sehr „nervendes“ Verhalten des Täters, jedoch
im Sinne des § 238 StGB nicht um „belästigendes“.
Beispiel: Der Täter schreibt gegen den Willen des Opfers
zum 1.000 Mal eine E-Mail mit den Worten „Du dumme
Sau“.
Nach allgemeinen Vorstellungen würde man in diesem
Fall sicherlich von einer „Belästigung“ im Sinne von §
238 StGB ausgehen, zumal die E-Mails Beleidigungen
zum Inhalt haben.
Tatsächlich aber lässt sich auf Grund der vielfältigen,
völlig unterschiedlichen Fallkonstellationen nie klar
sagen, wann das Stalking begonnen hat. Auch die Vor-
stellungen der Opfer über den Beginn des Stalkings sind
völlig unterschiedlich und sehr stark von weiteren Va-
riablen, wie z.B. Sozialisation, Verhältnis zum Stalker,
Gewalterfahrung oder gar die Beeinflussung durch das
soziale Umfeld abhängig.
Schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestal-
tung
Da es sich beim § 238 StGB um ein Erfolgsdelikt handelt,
Law Zone Nr. 1/2010

muss durch die „unbefugte, beharrliche Belästigung“
durch eine bestimmte Verhaltensweise die „Lebensge-
staltung“ des Opfers „schwerwiegend beeinträchtigt“
sein.
Dieses Tatbestandmerkmal bereitet im täglichen Umgang
mit dem Opfer die größten Probleme. Tatsächlich geht die
schwerwiegende Beeinträchtigung der Lebensgestaltung
über übliche Belastungen, die regelmäßig hinzunehmen
sind, erheblich und objektiv messbar hinaus. Beispiels-
weise die bloße Änderung der Route zur Arbeitsstelle
würde dieses Kriterium nicht erfüllen. Hingegen würde
das ärztliche Attest über psychosomatische Störungen
infolge des Stalking völlig ausreichen.
Von wesentlicher Bedeutung für das Kriterium der
„schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestal-
tung“ ist schließlich die Frage: Wie hat das Opfer gelebt,
bevor die Stalkingperiode begonnen hat und wie lebt es
heute?
Beweisführung
Obwohl sich mit der Einführung des § 238 StGB die
Beweislast weg von den Opfern, hin zu den Strafverfol-
gungsbehörden verlagert hat, stellt die Beweisführung
bei Stalking-Fällen immer wieder ein mehr oder weniger
großes Problem dar.
Beispiel: „Er hat mir vor etwa zwei Monaten eine gan-
ze Reihe von E-Mails mit obszönem und beleidigendem
Inhalt geschickt. An die genauen Tage kann ich mich
nicht mehr erinnern. Die Mails habe ich gleich wieder
gelöscht“.
Ganz abgesehen davon, dass sowohl die einzelne E-Mail
und deren Inhalt von wesentlicher Bedeutung für das Er-
mittlungsverfahren gewesen wäre, sind Angaben über
den Tatzeitpunkt von ganz elementarer Bedeutung. Um
so mehr, wenn es im Zweifel um Handgreiflichkeiten
geht, deren Folgen bestenfalls fotografisch gesichert oder
von einem Arzt attestiert werden sollten. Immer wieder
kommt es vor, dass das Opfer äußerst, es sei auf offener
Straße vom Stalker angegriffen worden. Zeugen und/oder
der Tatzeitpunkt können häufig nicht be- bzw. genannt
werden. Dies stellt spätestens die Staatsanwaltschaft vor
ein strafprozessuales Problem. Die Verfahren müssen im
Zweifel eingestellt werden, weil die Täterschaft mangels
eindeutiger Beweislage nicht nachweisbar ist.
Das Opfer muss wissen, dass eine Beweisführung nur
mit seiner Hilfe möglich sein kann. Dazu gehört u.a.
beispielsweise eine Protokollierung der einzelnen Stal-
king-Vorgänge in einem Tagebuch oder die Benennung
von Zeugen. Briefe, SMS, E-Mails müssen entsprechend
gesichert werden, damit sie als Beweismittel in das Straf-
verfahren eingeführt werden können.
Die sogenannte „Deeskalationshaft“
Obwohl die Voraussetzungen des Haftgrundes der Wie-
derholungsgefahr im Sinne des § 112a Abs. 1 Nr. 1 StPO
Law Zone Nr. 1/2010
Titelthema
– und hier findet sich der § 238 StGB neben den Sexu-
aldelikten wieder – in Fällen von Stalking an gar nicht
allzu hohe Hürden geknüpft ist, kommt dieser Haftgrund
nur sehr selten zur Anwendung.
Der § 112a StPO fordert den erfüllten Tatbestand des §
238 Abs. 2 und 3 StGB.
Bei § 238 Abs. 2 StGB handelt es sich um den Qualifizie-
rungstatbestand aus Abs. 1., wenn der Täter das Opfer,
einen Angehörigen des Opfers oder eine andere dem Op-
fer nahe stehende Person durch die Tat (Stalkinghand-
lungen aus Abs. 1) in die Gefahr des Todes oder einer
schweren Gesundheitsschädigung bringt.
Es handelt sich demnach um ein konkretes Gefährdungs-
delikt und ein Unmittelbarkeitszusammenhang muss
hergestellt werden können. Der Versuch des Grundtat-
bestands reicht jedenfalls nicht aus, sondern es muss die
Gefahr der „uferlosen Weite“ durch den „breit ange-
legten“ Grundtatbestand bestehen.
Tatsächlich muss es jedoch noch nicht zu körperlichen
Übergriffen gekommen sein, wovon in der Praxis häufig
fälschlicherweise ausgegangen wird.
Die Haft wäre beispielsweise möglich, wenn das Opfer
durch die Stalkinghandlungen aus Abs. 1 Ziff. 1. bis 5.
bereits an attestierte psychosomatische Störungen leidet
und bestimmte Tatsachen die Gefahr begründen, dass der
Stalker vor rechtskräftiger Aburteilung weitere erheb-
liche Straftaten gleicher Art begehen oder die Straftat
fortsetzen werde.
Bei § 238 Abs. 3 StGB handelt es sich um einen weiteren
Qualifizierungstatbestand aus Abs. 1., wenn der Täter
durch die Tat den Tod des Opfers, eines Angehörigen des
Opfers oder einer anderen dem Opfer nahe stehenden
Person verursacht.
Hier handelt es sich um eine Erfolgsqualifikation. Hin-
sichtlich Todesfolge genügt die einfache Fahrlässigkeit.
Auch der Suizid wird im Abs. 3 erfasst. Bei erfolgsqua-
lifizierten Delikten reicht der Versuch des Grundtatbe-
stands aus Abs. 1 aus. In der Praxis spielt § 238 Abs. 3
StGB allerdings bislang keine Rolle.
4. Empfehlungen für die Praxis
Die Novellierung des Tatbestandsmerkmals der
„schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebens-
gestaltung“
Nicht zuletzt mit Inkrafttreten des § 238 StGB zum
31. März 2007 haben Praktiker die Formulierung der
„schwerwiegenden Beeinträchtigung der Lebensgestal-
tung“ moniert und zum Teil auch scharf kritisiert. Ins-
besondere deshalb, weil Stalking-Opfer nachgewiesener
Weise häufig erst in einem Zeitraum von einem bis drei
Monate, überwiegend sogar erst nach einem Zeitraum
von drei Monaten bis zu einem Jahr nach Beginn der
Stalkingperiode den Weg zu einem Polizeirevier finden.
Bis zur Anzeigenerstattung war das Opfer den Übergrif-
fen des Stalkers in verschiedenster Art und Weise ausge-
27
 Ausbildung

Mehr als nur

ein Praktikum.
Praktikanten (w/m) vom 26.07. bis 05.09.2010 in Frankfurt am Main
und vom 16.08. bis 24.09.2010 in Düsseldorf
Nur eine praxisnahe Ausbildung garantiert realistische Einblicke in die Arbeit und
Atmosphäre einer Sozietät, daher ist uns die Ausbildung unserer Praktikanten ein
besonderes Anliegen.

Jedes Jahr im Frühjahr und Sommer findet an den Standorten Düsseldorf und
Frankfurt am Main unser praxis.programm statt. In sechs Wochen geballter Praxis
bieten wir Ihnen die Möglichkeit, die tägliche Arbeit in einer der führenden
internationalen Sozietäten hautnah zu erleben. Vorträge und Workshops zu
rechtlichen und anderen berufsspezifischen Themen vermitteln Ihnen theoretische
Grundlagen. Veranstaltungen zum gegenseitigen Erfahrungsaustausch runden das
Programm ab.

Bewerben Sie sich als fortgeschrittener Jurastudent (w/m) mit exzellenten Studien-
leistungen mit Ihren vollständigen Unterlagen bitte bis spätestens Ende Mai 2010.
Bitte geben Sie dabei die von Ihnen präferierten Einsatzbereiche als auch den
gewünschten Standort an.

Wir freuen uns auf Ihre Bewerbung (bevorzugt per E-Mail) an:

Linklaters LLP
Berit Sedlaczek
Recruitment Manager
+49 69 71003 341
berit.sedlaczek@linklaters.com

linklaters.de/karriere

28 Law Zone Nr. 1/2010


setzt, was bei ihnen zu erheblichen physischen und psy-
chischen Belastungen geführt hat. Häufig sind die Opfer
überhaupt nicht in der Lage zu erklären, in wieweit sich
das Stalking auf ihre Lebensgestaltung ausgewirkt hat.
Es ist eher so, dass das Opfer den Weg zur Polizei ge-
funden hat, weil es sich allein gelassen und mit der Si-
tuation völlig überfordert fühlt. Das Opfer will mit der
Anzeigenerstattung erreichen, dass das Verhalten des
Täters aufhört. In der Regel hat es an der Lebensgestal-
tung überhaupt noch gar nichts verändert oder hat eigene
Verhaltensänderungen noch gar nicht wahrgenommen.
Auffällig ist, dass die Opfer stets ein gesteigertes Angst-
niveau aufweisen und sich permanent von dem Stalker
verfolgt fühlen, auch wenn dieser sein Verhalten sogar
für eine unbestimmte Zeit eingestellt hat.
Nach Auffassung des Autors ist das Wort „schwerwie-
gend“ in diesem Kontext völlig obsolet. Tatsache ist, dass
die Opfer permanent unter psychischen Druck stehen und
damit ihr Leben und ihr Sicherheitsgefühl, nicht unbe-
dingt die „Lebensgestaltung“ stark beeinträchtigt ist.
Im Übrigen schlägt der Autor vor, den § 238 Abs. 1 StGB
wie folgt zu ändern:
(1) Wer einen Menschen unbefugt verfolgt und belästigt,
indem er wiederholt
1. seine räumliche Nähe aufsucht,
2. unter Verwendung von Telekommunikationsmitteln
oder sonstigen Mitteln der Kommunikation oder über
Dritte Kontakt zu ihm herzustellen versucht,
3. unter missbräuchlicher Verwendung von dessen per-
sonenbezogenen Daten Bestellungen von Waren oder
Dienstleistungen für ihn aufgibt oder Dritte veranlasst,
mit diesen Kontakt aufzunehmen,
4. ihn mit der Verletzung von Leben, körperlicher Un-
versehrtheit, Gesundheit oder Freiheit seiner selbst oder
einer ihm nahe stehenden Person bedroht, oder
5. eine andere vergleichbare Handlung vornimmt
und dadurch seine Sicherheit bedroht wird mit Freiheits-
strafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.
Strukturierte Vernehmungen
Das anzeigende Opfer steht empirischen Untersuchungen
zufolge permanent unter Stress und dies im besonderen
Maße bei der Anzeigenerstattung bei der Polizei. Stal-
king-Opfer reden sich förmlich die „Seele aus dem Leib“,
was auf den ersteinschreitenden Beamten dann häufig
völlig konfus wirkt. Um aber in eine vernünftige und
strukturierte Beweisführung einsteigen zu können, emp-
fiehlt sich ein Vernehmungskatalog, wie im Folgenden
exemplarisch dargestellt.
Was ist passiert?
Wann haben die Stalking-Handlungen angefangen, wann haben sie auf-
gehört?
Datum des Beginns / des Endes
Häufigkeit der Stalking-Handlungen?
Konkrete Daten? Falls Zeugen keine konkreten Daten wissen: wie oft in
welchem Zeitraum?
Law Zone Nr. 1/2010
Titelthema
Was konkret hat der Täter getan? Ist es zu Körperverletzungen gekom-
men?
Wann? Wohin hat der Täter Sie geschlagen? Womit hat der Täter Sie ge-
schlagen? Wie oft hat er geschlagen? Hat er Gegenstände benutzt?
Hat der Täter Sie gewürgt? Wie lange? Wurde Ihnen schwarz
vor Augen?
Hat der Täter Sie getreten? Wenn ja wohin? Hatte er Schuhe an? Wie sahen
die Schuhe aus?
Zeugen? Name, Anschrift, Telefonnummer?
Aufsuchen der räumlichen Nähe?
Wo und wann ist der Täter erschienen? Zeugen? War der Täter alleine?
Hat der Täter Sie angerufen?
Auf welchem Telefon von Ihnen? Haben Sie eine Telefonnummer des An-
rufers gesehen? Kann man an Ihrem Telefon noch die Zeit des Anrufes und
die Telefonnummer sehen?
Haben Sie das Gespräch aufgezeichnet? Anrufbeantworter? Haben Sie eine
Fangschaltung?
Hat der Täter Ihnen SMS geschrieben?
Wenn ja, auf welche Handy-Nummer und von welcher Handy-Nummer?
Haben Sie das Handy dabei? Sind Sie mit dem Auslesen des Handys ein-
verstanden?
Hat der Täter Ihnen Briefe/Zettel geschrieben?
Haben Sie die Briefe/Zettel aufbewahrt? Können Sie sie zur Akte reichen?
Wann haben Sie die Briefe/Zettel erhalten?
Hat der Täter Ihnen E-Mails geschrieben?
Haben Sie die E-Mails dabei? Sind die E-Mails noch auf Ihrem PC? Kön-
nen Sie die E-Mails an die Polizei weiterleiten?
Hat der Täter sich bei Freunden/Bekannten nach Ihnen erkundigt?
Bei wem? (Name, Anschrift, Telefonnummer?) Wann? Was hat er ge-
sagt?
Haben Sie Waren erhalten, die Sie nicht bestellt haben?
Was und Wann? Haben Sie die Waren aufbewahrt? Können Sie sie vor-
beibringen?
Woher kann der Täter Ihre persönlichen Daten für eine Bestellung haben?
Wer hat/hatte Zugang zu Ihrem PC?
Haben Sie eine Rechnung für die Waren erhalten?
Hat der Täter Sie oder Ihnen nahe stehende Personen bedroht?
Was hat er konkret gesagt? Wann hat er was gesagt? Wo hat er was gesagt?
Bei welchem Anlass hat er was gesagt?
Haben Sie die Bedrohung ernst genommen? Zeugen?
Kennen Sie den Täter?
Woher und seit wann kennen Sie den Täter? Haben Sie gemeinsame Kin-
der? Haben Sie zusammen gewohnt? von wann bis wann und wo?
Nimmt der Täter Drogen? Trinkt der Täter im Übermaß Alkohol? Was?
Wieviel?
Hat der Täter psychische Erkrankungen, die Ihnen bekannt sind?
Hat der Täter eine Waffe? Wenn ja, wie sieht sie aus? Ist es eine scharfe
Waffe? Hat der Täter einen Waffenschein/Waffenbesitzkarte?
Haben Sie aufgeschrieben, was der Täter im einzelnen getan hat?
Haben Sie Fotos von der Tat?
Wie haben sich die Stalking-Handlungen auf Ihr Leben ausgewirkt?
z.B.: Gesundheitliche Probleme? Angst? Schlafstörungen? Probleme, das
Haus zu verlassen?
Haben Sie einen Arzt aufgesucht?
Wie heißt der Arzt? Haben Sie ein Attest? Entbinden Sie Ihren Arzt von der
Schweigepflicht? Bitte unterschreiben lassen!
Haben Sie einen Psychologen/Psychiater aufgesucht?
Wie heißt er? Haben Sie ein Attest? Entbinden Sie Ihren Psychologen/
Psychiater von der Schweigepflicht? Bitte unterschreiben lassen! Waren
Sie auch schon in Behandlung, bevor es zu den Stalking-Handlungen ge-
kommen ist?
Wollen Sie Strafantrag stellen?
Vorfall im Strafantrag bezeichnen (Datum), Unterschrift
Haben Sie eine einstweilige Verfügung nach dem Gewaltschutzgesetz?
Datum der einstweiligen Verfügung? Wie lange ist sie gültig?
Können Sie die einstweilige Verfügung zur Akte reichen?
Wann ist die einstweilige Verfügung dem Täter zugestellt worden? Haben
Sie eine Zustellungsurkunde?
Haben Sie nach Erlass der einstweiligen Verfügung einen Vergleich vor
dem Gericht mit dem Täter geschlossen (dann liegt kein Verstoß gegen das
Gewaltschutzgesetz vor)?
Haben Sie Ihrerseits Kontakt zu dem Täter aufgenommen?
Wenn ja, wann? In welcher Form haben Sie Kontakt aufgenommen? Wie
29
 Titelthema
oft und warum haben Sie Kontakt aufgenommen?
Ist es vor dieser Anzeigenerstattung schon mal zu Straftaten zu Ihrem
Nachteil durch den Täter gekommen?
Wann ist was konkret passiert?
Haben Sie damals Strafanzeige erstattet?
Am Ende der Vernehmung:
Geschädigte bitten, weitere Tathandlungen, die in der Zukunft passieren,
zu dokumentieren (Datum, Uhrzeit, Inhalt, Ort).
Opferschutzmerkblätter aushändigen.
Weitere Aufklärungsarbeit bei den Opfern
Grundsätzlich sollten die Opfer nach der Anzeigenauf-
nahme nicht mit der bloßen Aushändigung eines Merk-
blattes mit Verhaltensregeln allein gelassen werden.
Von elementarer Bedeutung ist für die Opfer, dass sie über
den Fortgang der Ermittlungen informiert sind und dass
sie wissen, was die Polizei, rsp. Staatsanwaltschaft darf
und was sie zu leisten vermögen. Den Opfern muss klar
sein, dass weder die Polizei noch die Staatsanwaltschaft
eine psychosoziale Betreuung übernehmen können. Die
Opfer müssen auch darüber aufgeklärt werden, dass die
Strafanzeige bei Polizei oder Staatsanwaltschaft nicht au-
tomatisch dazu führt, dass der Stalker seine Verhaltens-
weisen einstellt. Auch dann nicht, wenn der Stalker mit
einem Strafbefehl, einer Haftstrafe auf Bewährung, ei-
ner Haftstrafe ohne Bewährung oder vorübergehend mit
einem Untersuchungshaftbefehl bedacht wird. Häufig
Anwalt der Anwälte
In Ihrem Referendariat
sollten Sie sich spezialisieren.
Auf Anwalt.
Die DAV-Anwaltausbildung – fürs Referendariat, fürs Examen, für den Beruf.
Jetzt mit LL.M. „Anwaltsrecht und Anwaltspraxis“. Weitere Informationen unter www.dav-anwaltausbildung.de.
30
gehen die Opfer davon aus, dass die Täter bei Erstattung
einer Strafanzeige eingesperrt würden. Auch hier gilt es
die Opfer über die einschlägigen Rechtsbestimmungen
hinsichtlich der Voraussetzungen der Untersuchungs-
haft aufzuklären. Die Opfer müssen auch darüber infor-
miert werden, dass weder die Polizei, noch die Staatsan-
waltschaft allein in der Lage sein können, Beweise im
konkreten Fall so zu erheben, dass eine Strafbarkeit des
Stalkers nachweisbar würde. Hier gilt es, die Opfer zu
ermahnen, selbstständig Beweissicherung vorzunehmen
und sich konsequent zu verhalten. Jegliche Ambivalenz
oder gar selbständige Kontaktaufnahme zum Stalker bis
hin zum Nichterscheinen bei Vernehmungsterminen füh-
ren in der Regel zur Einstellung des Strafverfahrens.1
*
Kontaktdaten: Kriminalhauptkommissar Stephan Rusch
Deutsches Institut für Stalking-Prävention und Rechtsaufklärung
(DISPRA)
Außer der Schleifmühle 51
D-28203 Bremen
info@stalkingpraxis.de
Literaturhinweis
Stephan Rusch, Stalking – Umgang mit dem Phänomen – Grundlagen
Ein Leitfaden für die Ausbildung in allen Praxisbereichen
Niebank-Rusch-Verlag Bremen
ISBN-13: 978-3-939564-02.7
Jetzt mit
LL.M.
Law Zone Nr. 1/2010

Gesucht und gefunden
Zwei Jahre Career Mentorship Programme: Aus Mentees werden Associates
Von Iris Meinking, PR, Baker & McKenzie, Frankfurt a.M.
Vor rund zwei Jahren hat Baker & McKenzie ein Ausbil-
dungsprogramm für talentierte Nachwuchsjuristen in die Welt
gesetzt, das es bis dato in der Kanzleienwelt nicht gibt: das
Career Mentorship Programme (CMP). Im Mittelpunkt des
Programms steht die individuelle Betreuung durch einen Men-
tor, der die Mentees persönlich und fachlich in sämtlichen Fra-
gen der Berufsvorbereitung unterstützt. Aus über 300 Bewer-
bungen hatte die Kanzlei die Top 30-Kandidaten ausgewählt
mit dem Ziel, diese langfristig auf ihrem Ausbildungsweg zu
begleiten - idealerweise bis hin zum Einstieg als Associate in
die Kanzlei.
Anzahl der Teilnehmer aufgestockt
Inzwischen hat sich das Mentorenprogramm auf dem Bewerbermarkt her-
umgesprochen, 2008 wurde die Kanzlei sogar unter anderem wegen des
CMP für den JUVE-Award in der Kategorie „Nachwuchsförderung“ no-
miniert. „Wir erhalten nach wie vor unglaublich viele Bewerbungen von
hochqualifizierten Nachwuchsjuristen“, sagt Claudia Trillig, Director
Strategic Development bei Baker & McKenzie. Die Noten seien allerdings
eine Sache. „Wir schauen auch darauf, dass wir menschlich gut zueinander
passen“, betont Trillig und ist begeistert von der Qualität der Bewerber:
„Viele von ihnen haben sich im Interview als beeindruckende Persön-
lichkeiten erwiesen.“ Doch nicht nur extern, sondern auch innerhalb der
Kanzlei stößt das Programm auf positive Resonanz. Trillig weiß, dass „ein
Nachwuchsjurist aus dem CMP in der Partnerschaft als Top-Kandidat für
eine Associateposition gilt“.
Grund genug, dass Baker & McKenzie die Anzahl der Teilnehmer von 30
auf 35 aufgestockt hat. „Die Rekrutierungserfolge zeigen uns, dass wir mit
dem CMP den richtigen Pfad eingeschlagen haben“, zieht Trillig Bilanz.
Ein Kandidat der ersten Stunde, Dr. Philipp Schütt, hat bereits am 1. April
2009 als Rechtsanwalt im Düsseldorfer Büro im Bereich Prozessführung/
Schiedsverfahren begonnen, im Januar 2010 sind zwei weitere Kandidaten
als Associates eingestiegen. Und in diesem Frühjahr werden nochmals
zwei „CMPler“ bei Baker & McKenzie als Anwälte starten.
Auf Herz und Nieren prüfen
Schütt hat das Mentorenprogramm als Chance gesehen, seinen potenziellen
Arbeitgeber persönlich kennenzulernen – und zwar weitaus intensiver als
in einem gewöhnlichen Vorstellungsgespräch. „Als Mentee und Referen-
dar konnte ich mir ein gutes Bild von der Arbeit in der Kanzlei machen,
die Kolleginnen und Kollegen persönlich kennen lernen und für mich die
Entscheidung treffen können, dass dies mein zukünftiger Arbeitsplatz sein
sollte,“ blickt der heutige Associate zurück. Umgekehrt hatten auch die
Kolleginnen und Kollegen die Möglichkeit, mit ihm über einen längeren
Zeitraum zusammen zu arbeiten und ihn fachlich wie auch menschlich auf
Herz und Nieren zu prüfen. „Da wir gut zueinander gepasst haben, habe ich
bereits kurz nach meinem zweiten Examen meine Tätigkeit als Associate
im Bereich Litigation / Dispute Resolution im Düsseldorfer Büro von Ba-
ker & McKenzie aufgenommen“, berichtet Schütt.
Wie funktioniert eine Großkanzlei?
Sarah Marlene Röbbelen ist eine der Nachwuchskräfte, die im Januar 2010
als Associate bei Baker & McKenzie begonnen haben – in der Praxisgrup-
pe Vergaberecht im Berliner Büro. Sie hat sich um einen Platz im CMP
beworben, da sie wissen wollte, wie eine Großkanzlei funktioniert. Wel-
che Atmosphäre herrscht in der Kanzlei vor? Und welche Art von Mensch
arbeitet dort? „Das CMP hat mir auf diese Fragen Antworten gegeben -
und Baker & McKenzie wurde zu meinem Wunscharbeitgeber“, sagt die
Nachwuchsjuristin. Umgekehrt hat die Sozietät sich für sie entschieden.
Besonders freue sie, dass ihr Mentor aus dem CMP auch einer ihrer künf-
tigen Ansprechpartner sein wird: „Er antwortet schnell auf meine Anfra-
gen, ist jederzeit erreichbar, gibt mir wertvolle Tipps und last but not least
stimmt die persönliche Chemie.“
Soft Skills spielen für Juristen große Rolle
Matthias Scieranski wird im April 2010 als Associate bei Baker & McKen-
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
zie durchstarten – im Frankfurter Büro im Bereich Aktien- und
Kapitalmarktrecht. Für ihn waren es vor allem die Soft Skill-
Seminare der Mentorship University sowie das Sprachpro-
gramm, die ihn am CMP reizten. „Gerade Soft Skills spielen
eine große Rolle im beruflichen Alltag von Juristen, stehen
jedoch nicht auf dem Lehrplan der Ausbildung“, sagt Scieran-
ski. Besonders angetan war er vom Rhetorikkurs: „Die Inhalte,
die der externe Referent vermittelte, konnte ich kurz darauf im
Rahmen meines Referendariats sowie in einem Vortrag über
meine Dissertation zum Einsatz bringen.“ In ausgewählten Se-
minaren der „Mentorship University“, die nach dem Vorbild
der „Inhouse University“ für Associates errichtet wurde, vermitteln Ba-
ker-Anwälte und externe Psychologen neben Soft Skills auch juristisches
Know-how. Bei dem erwähnten Sprachprogramm handelt es sich um die
Online-Sprachschule, die den Mentees Live-Unterricht in kleinen Gruppen
im virtuellen Klassenraum bietet – mit qualifizierten, muttersprachlichen
Trainern, die auch für die Online-Lehrmethode ausgebildet und mit der
juristischen Fachsprache vertraut sind.
CMP schweißt zusammen
Schütt, Röbbelen und Scieranski sind nur drei der Kandidaten, die über das
CMP Baker & McKenzie als künftigen Arbeitgeber kennen gelernt haben.
Auch untereinander kannten sie sich vorher nicht, schließlich stammen die
Teilnehmer aus ganz Deutschland. Während des zweitägigen Kick-off
Events, das im April 2008 in München stattfand, trafen die drei sowie die
weiteren 27 Kandidaten erstmals zusammen. „Es war ein Mix aus Kanzlei-
besuch und Outdooraktivitäten, der die Möglichkeit eröffnete, dass sich die
Mitarbeiter der Kanzlei, Mentoren und die zukünftigen Mentees in einer
sehr lockeren Atmosphäre kennen lernen konnten“, bringt es Schütt auf
den Punkt. Ein halbes Jahr später, im Oktober 2008, flogen die 30 Men-
tees gemeinsam zum Annual Partners’ Meeting nach New York. „Während
dieses Aufenthalts ist unsere Gruppe von Mentees eng zusammengewach-
sen. So haben wir auch außerhalb des Annual Partners’ Meetings viel ge-
meinsam unternommen – vom Musicalbesuch über Restaurantbesuche bis
hin zur Stadttour“, erinnert sich Scieranski.
Regelmäßiger Kontakt
Neben dem Kick off Event und dem New York-Trip sind es vor allem
die regelmäßig stattfindenden Kurse der „Mentorship University“ oder die
Firmenevents wie Weihnachtsfeiern, die den Mentees Gelegenheit bieten
sich zu treffen und sich auszutauschen. Zudem hat die Kanzlei 2009 auf der
– eigens für das Career Mentorship Programme eingerichteten - Homepage
www.bakermentorship.de ein Online-Diskussionsforum eingeführt. Dieses
ermöglicht den Mentees, aktives Networking zu betreiben und sich fach-
lich auszutauschen – zum Beispiel auch zum Thema Promotion und LL.M.
Auch Schütt, Röbbelen, Scieranski und die anderen Mentees werden – ob-
wohl sie an unterschiedlichen Standorten der Kanzlei in unterschiedlichen
Praxisgruppen tätig sein werden – weiterhin als Associates in Kontakt blei-
ben – sei es bei den Kursen der „Inhouse University“, bei firmeninternen
Events, wie im Dezember 2009 bei der Nachwuchsweihnachtsfeier der
Kanzlei, oder aber im Rahmen der täglichen juristischen Arbeit: als Mit-
glieder eines Projektteams in einer international tätigen Großkanzlei.
Das Career Mentorship Programme auf einen Blick
• Betreuung im Rahmen eines auf Sie persönlich ausgerichteten Coaching-
Programms durch einen Mentor
• Teilnahme an ausgewählten Seminaren im Rahmen der “Mentorship Uni-
versity” (Soft und Hard Skills)
• Jährlich stattfindende, individuelle Evaluierungsgespräche
• Teilnahme am “Summer Camp”
• Ausbau Ihrer Englischkenntnisse durch Sprachangebote und Auslands-
aufenthalte
• Zugang zu den Ressourcen einer weltweit operierenden Anwaltskanzlei,
wie zum Beispiel zu Bibliotheken und Datenbanken
31
 Kommentar
Verfassungen ohne Staat?
Zur Konstitutionalisierung transnationaler Regimes
Von Univ.-Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gunther Teubner, Frankfurt a.M.*
Gibt es so etwas wie Kollektivsucht? Kennen
wir Sucht als genuin gesellschaftliches Phäno-
men? Komasaufen oder Herdentrieb der Banker
vor der Krise wäre die übliche Antwort. In der
Tat sind dies gesellschaftliche Verstärker von
Suchtverhalten, die als Gruppendruck, Imita-
tion, soziale Normen oder Massenphänomene
das obsessive Verhalten beeinflussen. Letztlich geht es
dabei aber immer um die Sucht von Individuen.
Mit systemtheoretischer Optik sucht und sieht man etwas
anderes. Ganz unabhängig vom Abhängigkeitssyndrom
der Einzelmenschen können soziale Prozesse selbst die
Merkmale von Suchtverhalten aufweisen. Josef Acker-
mann ist gewiss nicht süchtig, aber die Deutsche Bank
benötigt dringend eine Entziehungskur. Das wäre Kol-
lektivsucht im strengen Sinne. Ohne dass es auf die Sucht
von Einzelmenschen ankäme, verketten sich Kommuni-
kationen in einer Weise, dass sie sich in ein zwanghaftes
Engagement einer Aktivität trotz andauernder selbst-
destruktiver Konsequenzen verstricken. Wenn es solche
nicht-individuelle, also kollektive und kommunikative
Steigerungszwänge gibt, dann ist nicht primär die Gier
der Banker das Problem, sondern man muss nach den
spezifischen gesellschaftlichen Suchtmechanismen su-
chen, die solche impersonalen Abhängigkeitsphänomene
erzeugen.
Was hat dies gewiss faszinierende Phänomen mit dem
Thema „Verfassungen ohne Staat“ zu tun? Ich möchte
einen Bogen schlagen von selbstschädigenden Wieder-
holungs- und Steigerungszwängen sozialer Systeme
über den Moment der Beinahe-Katastrophe bis hin zu
Neuorientierungen, die nicht von außen bewirkt werden
können, sondern nur durch Wandlungen ihrer „inneren
Konstitution“. Es handelt sich dann um Verfassungen im
strengen Sinne, wenn sie Verfassungsfunktionen, Ver-
fassungsprozesse und Verfassungsstrukturen aufweisen.
Mit Jacques Derrida könnte man von „äußerst kapillaren
Verfassungen der Diskurse“ sprechen, auf die sich die
Transformation richten muss, weil nur sie – und nicht die
„kapitalen“ Verfassungen der Staatenwelt – das Innen-
leben der sozialen Körper selbst bis in die feinsten Blut-
gefäße hinein regulieren. Deshalb: Verfassungen ohne
Staat.
Dies sind meine Thesen:
(1) Um die jüngste globale Finanzkrise zu verstehen,
sollte man sich nicht allein auf Faktorenanalysen verlas-
sen, sondern nach selbstdestruktiven Steigerungszwän-
gen von Informationsflüssen – vulgo Suchtphänomenen
32
– suchen.
(2) „Hit the bottom“ bezeichnet den konstitu-
tionellen Moment, in dem entweder die Katas-
trophe eintritt oder gesamtgesellschaftliche Än-
derungskräfte von solcher Intensität mobilisiert
werden, dass sich unter ihrem Druck die „innere
Konstitution“ der Wirtschaft ändert.
(3) Vollgeldreform ist eines unter mehreren Beispielen,
an denen sich eine innere Konstitutionalisierung der glo-
balen Wirtschaft, deren Wirkungen weder durch natio-
nale noch durch transnationale Interventionen der Staa-
tenwelt erreicht werden können, deutlich machen lässt.
(4) Die Differenz verfassungsmäßig/verfassungswidrig
entwickelt sich zu einem binären Meta-Code innerhalb
der strukturellen Kopplung zwischen Wirtschaft und
Recht, der sich sowohl dem Rechtscode als auch dem
Wirtschaftscode überordnet.
Erste These: Kausalfaktoren oder Wachstums-
zwang?
Als Reaktion auf die globale Finanzkrise werden viel-
fältige Regulierungen vorgeschlagen: Einschränkungen
der Banker-Boni, verstärkte Eigenkapitalausstattung der
Banken, Tobin-Steuer, Qualitätskontrollen der Finanz-
produkte, verschärfte nationale und internationale Staats-
aufsicht über Banken, besonders aber über Hedgefonds,
schärfere Kontrollen von Kapitalverkehr und Börsenge-
schäften, bessere Regeln der Bilanzierung und Risikobe-
wertung. Ihre Erfolgschancen im einzelnen will ich nicht
bestreiten, aber sie haben ein Problem gemeinsam: Fatta
la legge trovato l’inganno. Kaum ist das Gesetz erlassen,
sind schon die Umgehungsstrategien ersonnen.
Tiefer setzen Analysen an, welche die zugrundeliegende
Dynamik selbst aufdecken und beeinflussen wollen.
Durch eine Änderung der „inneren Konstitution“ des
globalen Finanzregimes soll die Dynamik selbst gezähmt
werden. Ein aufschlussreiches Beispiel dafür ist die so-
genannte Vollgeld-Reform, die heute kontrovers disku-
tiert wird. Sie setzt am Geldmechanismus im Zentrum
der Wirtschaftsverfassung an. Geldschöpfung ist heute
längst nicht mehr das Monopol der Zentralbanken, die
über das nicht an den Goldstandard gebundene Papier-
geld Geldschöpfung betreiben. Die massenhafte Verbrei-
tung von Buchgeld in Girokonten, die Verbreitung des
bargeldlosen Zahlungsverkehrs, die neuen Kommuni-
kationstechnologien und – mit besonderer Wucht – die
Globalisierung des Geld- und Kapitalverkehrs haben den
nationalen Zentralbanken das Geldschöpfungsmonopol
Law Zone Nr. 1/2010

aus der Hand geschlagen. Die global agierenden Ge-
schäftsbanken sind es, denen heute de facto die Fähigkeit
zugewachsen ist, Geldschöpfung zu betreiben. In Euro-
pa beträgt des Verhältnis von Buchgeld und Papiergeld
80:20, in Großbritannien verfügt das Buchgeld gar über
92% der Geldmenge.
Diese massive Geldschöpfung durch private Banken wird
für die aktuelle Exzessivität der Steigerungszwänge im
globalen Finanzsektor verantwortlich gemacht. Sie dient
dazu, durch Vorfinanzierung einen Wachstumszwang in
einem sozialschädlichen Ausmaß zu produzieren. Zu-
gleich wird die private Geldschöpfung instrumentalisiert
für eine ungeahnte Steigerung selbstbezüglicher Finanz-
spekulation.
Der Clou der Theorie ist nun aber: Die Alternative kann
nicht Nullwachstum heißen, sondern Abschneiden der
Exzesse des Steigerungszwanges. Denn Stabilität und
Nullwachstum sind im heute gegebenen Geldsystem
nicht möglich. Die Geldschöpfung erzwingt über die
Wertschöpfung eine Zunahme der Gewinne – und die Zu-
nahme der Gewinn erzwingt ihrerseits weitere Geld- und
Wertschöpfung. Daraus entsteht mit Notwendigkeit eine
Wachstumsspirale. Die Alternative wäre eine Schrump-
fung der Wirtschaft, die auf Dauer mit dem heutigen auf
Geld beruhenden Wirtschaftssystem nicht kompatibel ist.
Eine funktionierende Geldwirtschaft ist auf einen nor-
malen Wachstumszwang angewiesen. Dann aber rückt
in das Zentrum der Aufmerksamkeit nicht der Wachs-
tumszwang als solcher, sondern die Differenz zwischen
notwendigem Wachstum und selbstdestruktiven Wachs-
tumsexzessen, die Fehlentwicklungen auslösen.
Wenn es sich um ein exzessives Ingangsetzen von an sich
nicht pathologischen sozialen Prozessen durch abhängig-
keitserzeugende Mechanismen handelt, dann liegt per
definitionem die Analogie zu Suchtphänomenen nahe.
Es kommt darauf an, genuin gesellschaftliche Äquiva-
lente zu individuellem Suchtverhalten zu identifizieren.
Hier lassen sich systemtheoretische Analysen fruchtbar
machen, die von der strikten Trennung psychischer und
sozialer Prozesse ausgehen. Das führt zu einer typischen
Verdoppelung von bisher nur psychologisch verstande-
nen Phänomenen. Gedächtnis etwa ist dann nicht nur ein
psychisches Geschehen, sondern es laufen davon unab-
hängige, sozial institutionalisierte rein kommunikative
Gedächtnisprozesse ab. Die Definition von Sucht als
zwanghaftes Engagement einer Aktivität trotz andau-
ernder negativer Konsequenzen müsste also von Indivi-
duen auf Sozialsysteme im Allgemeinen und auf Kollek-
tivakteure im Besonderen umgedacht werden.
Welche „Suchtmechanismen“ sind dafür verantwort-
lich, dass die autopoietische Selbstreproduktion eines
Sozialsystems durch die Rekursivität systemspezifischer
Operationen umschlägt in einen kommunikativen Wie-
derholungs- und Steigerungszwang, der selbstdestruktive
Konsequenzen nach sich zieht? In unserem Beispiel wäre
Law Zone Nr. 1/2010
Kommentar
der Suchtmechanismus das von den Geschäftsbanken ex
nihilo kreierte Buchgeld, weil es Zahlungsoperationen so
miteinander verkettet, dass ein exzessiver Wachstums-
zwang von Finanz- und Realwirtschaft ausgelöst wird. Die
in der zusätzlichen Geldschöpfung der Geschäftsbanken
per Kreditvergabe angelegten gesteigerten Gewinner-
wartungen heizen einen Wachstumszwang in der realen
Wirtschaft an, der wieder die Gewinnerwartungen der Fi-
nanzwirtschaft steigert und somit eine Dynamik auslöst,
die nicht mehr als stationärer Wirtschaftskreislauf, son-
dern als eine sich beschleunigende Wachstumsspirale be-
zeichnet werden muss. Parallel dazu werden in der Dyna-
mik der Geldvermehrung Bankkredite aufgenommen, die
nicht der Finanzierung produktiver Investitionen dienen,
sondern dazu, spekulative Vermögenswerte zu kaufen.
Wenn aber die Zinssätze für Bankkredite die erwartete
Steigerung der Vermögenswerte übersteigen, kommt es
zum Zusammenbruch der Spekulation, zur Finanzkrise,
die sich in einer Wirtschaftskrise fortsetzt.
Zweite These: Hit the bottom
Dann kommt es darauf an, die Dynamiken zu identifizie-
ren, welche die Wachstumsspirale eines gesellschaftlichen
Sektors derart beschleunigen, dass sie in Destruktivität
umkippt, weil sie mit anderen gesellschaftlichen Dyna-
miken kollidiert. Solche Wachstumsbeschleunigungsge-
setze der heute globalisierten Funktionssysteme belasten
sie selbst, die Gesellschaft und die Umwelt mit gravie-
renden „Folgeproblemen ihrer eigenen Ausdifferenzie-
rung, Spezialisierung und Hochleistungsorientierung“.
Die evolutionäre Dynamik hat durchaus das Potential,
auf gesellschaftliche Katastrophen zuzulaufen. Aber es
besteht keine Notwendigkeit des Zusammenbruchs, wie
es Karl Marx postulierte, auch keine Notwendigkeit des
„ehernen Gehäuses der neuen Hörigkeit“ wie Max We-
ber es prophezeite. Plausibler ist Niklas Luhmann: der
Eintritt der Katastrophe ist kontingent. Er hängt davon
ab, ob gegen die Abweichungsverstärkungen im Inneren
der Wachstumsdynamik selbst wachstumsinhibierende
Gegenstrukturen wirksam werden.
Nicht schon die Kontingenzerfahrung als solche, son-
dern erst die Erfahrung der Beinahe-Katastrophe ist der
„konstitutionelle Moment“. Die funktional differenzierte
Gesellschaft scheint sanftere Möglichkeiten einer Selbst-
korrektur, dass nämlich sensible Beobachter auf die dro-
henden Gefahren mit Warnungen und Beschwörungen
hinweisen, zu ignorieren. Die Ähnlichkeit zu individu-
ellen Suchtphänomenen ist auch hier unübersehbar: „Hit
the bottom!“ Es muss erst kurz vor zwölf sein. Dann erst
taucht die Chance für genügend überwältigende Ein-
sichten und genügend starke Veränderungsenergien auf,
die ein entschiedenes Umsteuern ermöglicht.
Eine globale Verfassungsordnung steht damit vor der
Aufgabe: Wie kann externer Druck auf die Finanzströ-
me so massiv erzeugt werden, dass in ihren internen Pro-
33
 Kommentar
zessen Selbstbeschränkungen der Handlungsoptionen
wirksam werden? Wieso aber Selbst-Beschränkungen
und nicht Fremd-Beschränkungen? Spricht nicht jede
Erfahrung dafür, dass Selbstbeschränkungsstrategien
nur den Bock zum Gärtner machen und dass Exzesse nur
durch Einflussnahme von außen verhindert werden kön-
nen? Aber spricht nicht auch jede Erfahrung dafür, dass
der Versuch, interne Prozesse durch Eingriffe von außen
steuern zu wollen, meist misslingt?
An dieser Stelle unternimmt der gesellschaftliche Kons-
titutionalismus eine schwierige Gratwanderung zwischen
externen Eingriffen und Selbststeuerung. Eine „hybride
Konstitutionalisierung“ ist in dem Sinne gefragt, dass
externe gesellschaftliche Kräfte, also neben staatlichen
Machtmitteln rechtliche Normierungen und „zivilgesell-
schaftliche“ Gegenmacht aus anderen Kontexten – Me-
dien, öffentliche Diskussion, spontaner Protest, Intellek-
tuelle, soziale Bewegungen, NGOs, Gewerkschaften – in
der Weise so massiven Druck auf das expansionistische
Funktionssystem ausüben, dass es innere Selbstbeschrän-
kungen aufbaut, die auch tatsächlich greifen. Um wieder
mit Derrida zu sprechen, Wandlungen der „kapillaren
Verfassung“ selbst sind nötig bis hin zu den Arterien
des Kommunikationskreislaufs, „wo deren Feinheit eine
mikroskopische Form aufweist“, die von den Einflüssen
der „kapitalen Verfassung“ des Staates prinzipiell nicht
erreicht werden können.
Bemerkenswert ist nun, dass ausgerechnet die Politik
in ihrem eigenen Bereich für genau dies paradoxe Un-
ternehmen – die eigene Expansion eigenen Beschrän-
kungen zu unterwerfen – eine historische Vorreiterrolle
übernommen hat. Den Teufel kann nur Beelzebub aus-
treiben! Wie ein Sozialsystem seine eigenen durch Aus-
differenzierung immens angestiegenen Kommunikati-
onsmöglichkeiten aus eigener Kraft wieder einschränken
kann, ist eine Lektion, die man gerade aus der Geschichte
der politischen Verfassungen lernen kann. Gewaltentei-
lung und Grundrechte – dass diese Beschränkungen der
Politik durch die Politik selbst nicht mit einer aus Funkti-
onsimperativen resultierenden Automatik zustande kom-
men, sondern nur unter immensen externen Druck als ein
Ergebnis heftiger Verfassungskämpfe, kann dabei nicht
nachdrücklich genug betont werden.
Was heißt dies für andere Teilbereichsverfassungen, be-
sonders für den globalen Finanzsektor? Änderungsschü-
be, die dem historischen Modell der Selbstbegrenzung
der Politik folgen, müssten, um pathologische Steige-
rungszwänge zu inhibieren, permanente Gegenstruktu-
ren erzeugen, die im Zahlungskreislauf bis in die feins-
ten Kapillaren wirksam werden. So wie in politischen
Verfassungen die Macht dazu benutzt wird, Macht zu
begrenzen, müsste sich das systemeigene Medium ge-
gen sich selbst wenden. Fight fire by fire, fight power by
power, fight law by law, fight money by money.
Genau hier sieht das Konzept des gesellschaftlichen
34
Konstitutionalismus seinen Einsatzpunkt, wenn es die
Existenz von vielfältigen Reflexionsinstanzen innerhalb
gesellschaftlicher und insbesondere wirtschaftlicher Ins-
titutionen zum Kriterium einer demokratischen Gesell-
schaft macht. Nicht nur im organisierten Teil der globalen
Wirtschaft, in Unternehmen und Banken, sondern gerade
auch in ihrem Spontanbereich existieren Kandidaten für
eine kapillare Konstitutionalisierung, von denen ich drei
hervorhebe.
– Politisierung der Verbraucher: Wenn Präferenzen
nicht einfach als gegeben unterstellt werden, sondern in
consumer activism, Verbraucherkampagnen, Boykottak-
tionen, Produktkritik, Öko-Labeling, Öko-Investment,
public interest litigation und anderen Forderungen nach
ökologischer Nachhaltigkeit offen politisiert werden,
dann bedeutet dies nicht etwa eine externe politische In-
tervention in die sich selbst steuernde Wirtschaft, son-
dern ist selbst eine Änderung der inneren Konstitution
über die Zahlungsbereitschaft der Konsumenten und In-
vestoren. Und dies wird zu einer Verfassungsfrage, ge-
nauer zu einer Frage wirtschaftsverfassungsrechtlicher
Grundrechte: Schutz autonomer gesellschaftlicher Präfe-
renzbildung gegenüber ihrer Restriktion durch rein öko-
nomische Interessen. Nicht umsonst haben gerade an die-
ser Stelle unter dem Titel Drittwirkung der Grundrechte
Rechtsentwicklungen – in Fällen der Produktkritik, des
Aufdeckens unzuträglicher Arbeitsbedingungen und
des ökologischen Protests gegen umweltschädliche Un-
ternehmenspolitik – eingesetzt, die die Grundrechte der
Wirtschaftsbürger vor ihren immer wieder versuchten
Restriktionen durch Unternehmen schützen. Im Zeital-
ter der globalen Vernetzung – Stichwort: „companyna-
mesucks“ – werden solche wirtschaftlichen Grundrechte
noch an Brisanz gewinnen und sie werden eines erhöhten
Rechtsschutzes bedürfen.
– Ökologisierung der Unternehmensverfassung:
Gemeint ist nicht eine neue Ethik der Manager, sondern
eine von Parlamenten, Regierungen, Gewerkschaften,
Sozialbewegungen, NGOs und Medien extern erzwun-
gene Änderung der internen Unternehmensstruktur, wel-
che die mit der Publikumsaktiengesellschaft notwendig
verbundenen Spekulationstendenzen und Wachstums-
zwänge einschränkt. Eine solche nachhaltigkeitsorien-
tierte Unternehmensverfassung würde eine von internen
Implementationen und externen Kontrollen begleitete
Berücksichtung von Umweltbelangen – der Natur, der
Gesellschaft, der Menschen – in der Unternehmenspo-
litik verlangen.
– Vollgeld: In das Arkanum der globalen Finanzverfas-
sung schließlich würde eine Vollgeldreform eindringen,
wie sie zur Bekämpfung von Wachstumsexzessen vor-
geschlagen wird. Den Geschäftsbanken muss die Sucht-
Law Zone Nr. 1/2010

droge Buchgeld entzogen werden – das verspricht eine
wirksame Entziehungskur. Den Geschäftsbanken wird es
verboten, per Giro-Kredit neues Geld zu schöpfen. Sie
werden darauf beschränkt, Darlehen auf der Grundlage
von bereits vorhandenem Geld zu vermitteln. Die Geld-
schöpfung, auch die von Buchgeld, liegt allein bei den
nationalen und internationalen Zentralbanken. Für diese
einschneidende Reform bedürfte es einer einfachen, aber
fundamentalen Änderung des Rechts der Zentralbanken
auf nationaler, europäischer und internationaler Koope-
rationsebene. Für die Satzung der Europäischen Zentral-
bank müsste der zur Zeit geltende Art. 16 geändert wer-
den und das darin enthaltene Geldschöpfungsmonopol
von Papiergeld auf Sichtguthaben ausgedehnt werden.
Nicht umsonst wird damit die Vollgeldreform von vorn-
herein auf europäischer Ebene angesetzt. Denn angesichts
der weltweiten Kapitalbewegungen wird die Reform der
Geldschöpfung zur Aufgabe eines bereits in Ansätzen
bestehenden transnationalen Regimes der Wirtschafts-
verfassung. Schon heute haben sich im transnationalen
Raum Verfassungsinstitutionen von einer erstaunlichen
Dichte etabliert. Internationale Organisationen, transna-
tionale Regimes und deren Vernetzungen sind nicht nur
inzwischen stark juridifiziert, sondern sind Teile einer
weltweiten – wenn auch durchgehend fragmentierten
– Verfassungsordnung geworden. Die globalen Institu-
tionen, die aus den Vertragswerken der vierziger Jahre
– Havanna Charta, GATT, Bretton Woods – hervorge-
gangen sind, die neuen Einrichtungen des Washington
Consensus – IMF, Weltbank, WTO – und die neuauf-
gebrochene öffentliche Debatte über eine „globale Fi-
nanzmarktverfassung“ sprechen die Sprache eines real
existierenden transnationalen Regimes der Wirtschafts-
verfassung im Umbruch.
Letztlich erfordert auch eine Vollgeldreform angesichts
der Existenz globaler Finanzmärkte die Konstitutiona-
lisierung des transnationalen Finanzregimes. Aber auch
die Protagonisten der Vollgeldidee halten die Realisie-
rungschancen einer globalen Einheitslösung angesichts
des wahrscheinlichen Widerstands führender National-
staaten für problematisch. Doch erscheinen ihnen selbst
nationale Alleingänge, besser noch Kooperationen ei-
niger Nationalstaaten jedenfalls für relativ starke Staaten,
die über eine stabile Regierung, eine starke Wirtschaft
und eine stabile konvertible Währung verfügen, durch-
aus vorstellbar, womöglich auch realistisch. Regionale
Lösungen der Wirtschaftsblöcke sind am ehesten in der
Eurozone, weniger in USA oder Japan zu erwarten. Die
heute mögliche beste Lösung läge in einem globalen
Finanzverfassungsregime, das aus der Kooperation von
Zentralbanken in einer „Koalition der Willigen“ ent-
steht.
Die folgenden Argumente sollen sich auf das Vollgeldkon-
zept konzentrieren. Im Folgenden soll gezeigt werden, ob
und inwiefern solche im Inneren des Zahlungskreislaufs
Law Zone Nr. 1/2010
Kommentar
ansetzenden Normierungen Verfassungsfunktionen, Ver-
fassungsprozesse und Verfassungsstrukturen im strengen
und nicht bloß metaphorischen Sinne aufweisen.
Dritte These: Verfassungsfunktionen des Vollgelds:
konstitutiv/limitativ
Politische Verfassungen haben in systemtheoretischer
Sicht die konstitutive Funktion, die in der Neuzeit ge-
wonnene Autonomie der Politik gegenüber „fremden“
religiösen, ökonomischen, militärischen Machtquellen
dadurch abzustützen, dass sie das der Politik „eigene“
Machtmedium formalisieren. Mutatis mutandis üben
auch andere gesellschaftliche Teilverfassungen, die Ver-
fassung der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Medien,
des Gesundheitswesens diese konstitutive Funktion aus,
dass sie die jeweilige mediale Autonomie sichern und
dies heute im globalen Maßstab.
Nimmt eine Vollgeldreform an der konstitutiven Funk-
tion der Wirtschaftsverfassung teil? Die Normierungen
der Geldschöpfung legen Akteure, Organisationsregeln,
Kompetenzen, Verfahren und Wirkungsweise des Geldes
als des Kommunikationsmediums der Wirtschaft fest. Die
Vollgeldreform korrigiert damit einen „unsichtbaren“
historischen Wandel der globalen Wirtschaftsverfassung,
den die Einführung des Buchgeldes ausgelöst hat. Papier-
geld im Unterschied zu bloßen Münzgeld einzuführen,
war eine deutlich „sichtbare“ öffentliche Verfassungsent-
scheidung. Durch Verfassungsentscheidungen eingeführt
wurde das Geldschöpfungsmonopol der Zentralbanken,
womit man den Zahlungsfluss durch Geldschöpfung als
Bargeldschöpfungsentscheidung durch nationale Zentral-
banken festlegte. Dem folgte jedoch eine „unsichtbare“
Verfassungsentwicklung des globalen Finanzregimes.
Die rasante Entwicklung des bargeldlosen Zahlungs-
verkehrs und wichtiger noch die Globalisierung der Fi-
nanzmärkte verlagerte die Kontrolle über die Geldmenge
von Regierungen und Zentralbanken auf global agieren-
de private Finanzinstitute. Ohne dass dies als politische
Entscheidung überhaupt thematisiert wurde, etablierten
sich die Geschäftsbanken als das eigentliche wirtschafts-
verfassungsrechtliche Zentrum der Geldschöpfung und
marginalisierten die Geldschöpfung der nationalen Zen-
tralbanken. Die Vollgeldreform rückverlagerte nun die
Geldschöpfungskompetenzen von privaten Verfassungs-
subjekten, von den gewinnorientierten Geschäftsbanken,
auf öffentliche (nicht unbedingt staatlich organisierte)
Verfassungssubjekte, auf die an der Funktionsfähigkeit
des Geldmechanismus orientierten Zentralbanken. Eine
Vollgeldreform hat somit Teil an der konstitutiven Funk-
tion einer Wirtschaftsverfassung.
Wichtiger noch als die konstitutive dürfte jedoch die li-
mitative Verfassungsfunktion sein, die das Vollgeld für
die Wirtschaft ausübt. Limitierungen der Exzesse öko-
nomischen Handelns stehen im Zuge der jüngsten glo-
balen Finanzkrise im Zentrum der Aufmerksamkeit. In
35
 Kommentar
der wirtschaftsverfassungsrechtlichen Entwicklung löst
die Expansion rein ökonomischer Orientierungen welt-
weit Gegenbewegungen im Sinne von Polanyi aus, die
den „Schutzmantel der kulturspezifischen Institutionen“
zu rekonstruieren suchen. Die Vollgeldreform dürfte als
eine einschneidende Selbstbeschränkung der Wachs-
tumszwänge des wirtschaftlichen Zahlungskreislaufs
gelten. Von ihren Protagonisten wird sie als wirksame
Entziehungskur gegen das exzessive Suchtverhalten
des Kreditsektors propagiert. Der Expansionismus
der Finanz- und Realwirtschaft im Verhältnis zu ande-
ren Gesellschaftssektoren und zur natürlichen Umwelt
wird dadurch eingeschränkt, dass die durch Giralkredite
gesteigerten Wachstumszwänge ausgeschaltet werden.
Wichtigster Aspekt der extern erzwungenen Selbstli-
mitierung ist, dass eine von den Zentralbanken in ihren
gesamtgesellschaftlichen und ökologischen Wirkungen
durchdachte Geldschöpfung sozialschädliche Wachs-
tumsexzesse blockiert, die durch Geldschöpfung durch
Privatbanken als ungesicherte Wechsel auf die Zukunft
ausgelöst werden.
Erfüllt damit eine Vollgeldreform wichtige Verfassungs-
funktionen durch konstitutive, besonders aber limitative
Regeln für den Zahlungskreislauf, so stellt sich doch die
weitere Frage, ob sie auch genuine Verfassungsprozesse
ausbildet.
Auch wenn es uns Juristen nicht gefällt, spielt das Recht
bei allen Verfassungen, Staatsverfassungen oder Sozi-
alverfassungen, nicht die primäre Rolle. In erster Linie
dient eine Verfassung der Selbstkonstitution eines Sozi-
alsystems. Die Politik, die Wirtschaft, die Wissenschaft,
die Massenmedien konstituieren sich als autonome So-
zialsysteme unter anderem dadurch, dass sie sich eine
Verfassung geben. Verfassungsprozesse sind ein Fall der
„doppelten Schließung“ selbstreproduktiver Systeme.
Sie werden dadurch ausgelöst, dass Sozialsysteme über
ihre operative Schließung erster Ordnung hinaus eine
Schließung zweiter Ordnung entwickeln, indem sie ihre
Operationen reflexiv auf ihre Operationen anwenden.
Die neuzeitliche Wissenschaft gewinnt ihre Autonomie
erst dann, wenn es gelingt, über die am Wahrheitscode
orientierten Erkenntnisoperationen eine zweite Erkennt-
nisebene einzuziehen, auf der die Erkenntnisoperationen
erster Ordnung ihrerseits mit methodologischen und
erkenntnistheoretischen Operationen auf ihren Wahr-
heitswert geprüft werden. Die Politik wird dann zu ei-
ner autonomen Machtsphäre der Gesellschaft, wenn sie
Machtprozesse mit Hilfe von Machtprozessen dirigiert
und über Festlegung von Wahlverfahren, Organisati-
onsweisen, Kompetenzen, Gewaltenteilung und Grund-
rechten eine doppelte Schließung der Machtprozesse
herstellt. Und die Wirtschaft? Sie wird dann autonom,
wenn im Geldkreislauf Zahlungsoperationen nicht nur
für Transaktionen eingesetzt werden, sondern zur Kon-
trolle der Geldmengen selbst.
36
Wohlgemerkt: diese teilsystemische mediale Reflexivität
erzeugt noch nicht Verfassungen im technischen Sinne,
sondern, dient zunächst nur der Selbstkonstituierung,
nicht schon der Konstitutionalisierung. Epistemologie,
Machtübermächtigung, Geldmengensteuerung bilden
als solche noch keine Sozialverfassungen, sondern re-
flexive Operationen ihres Systems. Von Verfassung im
strengen Sinne sollte man erst sprechen, wenn die teil-
systemische Reflexivität eines Sozialsystems, sei es der
Politik, der Wirtschaft oder anderer Sektoren, zugleich
vom Recht abgestützt wird, genauer: von der Reflexivität
des Rechts.
Voraussetzung für eine Verfassung im strengen Sinne
ist, dass sich eine strukturelle Kopplung von reflexiven
Mechanismen des Rechts, also von sekundären Rechts-
normierungen, in denen Normen auf Normen angewen-
det werden, mit reflexiven Mechanismen des jeweiligen
Gesellschaftssektors herstellt. Politische oder zivilgesell-
schaftliche Verfassungen bilden sich dann, wenn diese
beiden reflexiven Prozesse miteinander verknüpft wer-
den, wenn also reflexive Sozialprozesse, die durch ihre
Selbstanwendung gesellschaftliche Rationalitäten au-
tonom stellen, auf eine spezifische Weise, nämlich mit
ihrerseits reflexiven Rechtsprozessen juridifiziert wer-
den. Unter dieser Bedingung ist es sinnvoll, im rechts-
soziologischen und zugleich im rechtstechnischen Sinn
von Elementen einer politischen Globalverfassung, einer
Weltwirtschaftsverfassung, einer globalen Verfassung
des Bildungs- und Wissenschaftssystems oder von einer
Digitalverfassung des Internet zu reden.
Was aber ist der Grund für diese Verdopplung sozialer
Reflexivität durch sekundäre Rechtsnormen? Das Recht
kommt in den Selbstkonstitutionalisierungsprozess von
Sozialsystemen dann hinein, wenn sich die reflexiven
Sozialprozesse selbst nicht stabilisieren lassen. Dann
müssen Zusatzeinrichtungen der Schließung die Selbst-
konstituierung sozialer Autonomie unterstützen. Das
Recht ist eine dieser Zusatzeinrichtungen. Die Wirtschaft
benötigt zu ihrer Selbstkonstituierung massiver Subven-
tionierung durch das Recht. Bekanntlich formen die Ins-
titutionen des Eigentum, des Vertrags, des Wettbewerbs
und der Geldwährung die Grundpfeiler der Wirtschafts-
verfassung.
Besonders deutlich zeigt sich die Doppelung der Re-
flexivität im uns hier interessierenden Kernbereich der
Finanzverfassung. Die Reflexivität der Zahlungsoperati-
onen ist in sich instabil. Sie kann nur durch eine innere
Hierarchisierung des Bankensektors stabilisiert werden,
die ihrerseits von harten Normierungen durch verbind-
liches Recht gestützt wird. In dieser Weise trägt die Re-
flexivität durch Verfahrens-, Kompetenz- und Organi-
sationsnormen des Rechts, welche die Einrichtung und
Wirkungsweise der Zentralbanken gegenüber den Ge-
schäftsbanken regeln, zur Stabilisierung der Reflexivität
des Wirtschaftskreislaufes bei.
Law Zone Nr. 1/2010

Die exzessive Steigerungsdynamik in globalen Finanz-
transaktionen hat die Möglichkeit einer Zahlungsunfähig-
keit des Bankensektors aufscheinen lassen. Unmittelbar
daran setzt die Vollgeldreform nun mit ihrer doppelten
Reflexivität an. Die wirtschaftliche Reflexivität verändert
die Vollgeldreform damit, dass die sekundären Zahlungs-
operationen der Geldschöpfung, die vom Buchgeld aus-
geht, nun ausschließlich von den Zentralbanken durchge-
führt werden. Die sekundären Zahlungsoperationen der
Zentralbanken, also die Geldmengenentscheidungen, die
Geldschöpfung von Bargeld und Girogeld, die Zahlungs-
akte an Staat, Bürger oder Banken, werden reflexiv auf
die primären Zahlungsakte (Kauf und Kredit) angewen-
det. Ihre juridische Reflexivität verändert die Vollgeldre-
form in der Weise, dass durch sekundäre Normierungen
den Geschäftsbanken die Geldschöpfung durch Giral-
geld verboten wird und ein Geldschöpfungsmonopol der
Zentralbanken rechtlich normiert wird. Damit nimmt das
Recht über die Restriktion von Geldschöpfungskompe-
tenzen die limitative Funktion der Wirtschaftsverfassung
wahr und stabilisiert zugleich die selbstreflexiven Ver-
hältnisse der Zahlungsoperationen, die sich ohne ihre
rechtliche Fixierung wieder auflösen würden.
Vierte These: Verfassungsstrukturen des Vollgelds:
Meta-Code
Zur Gretchenfrage schließlich wird es, ob die Vollgeld-
reform auch spezifische Verfassungsstrukturen heraus-
bildet, welche die bereits beschriebenen Verfassungs-
funktionen und -prozesse leiten. Der Endpunkt einer
Konstitutionalisierung – sei es in der Politik, sei es in der
Wirtschaft, sei es in anderen Sozialbereichen – ist erst
dann erreicht, wenn sich ein eigenständiger Verfassungs-
Code, eine binäre Meta-Codierung, und zwar innerhalb
der strukturellen Kopplung von Recht und betroffenem
Sozialsystem, herausbildet.
Binär ist der Verfassungscode, denn er oszilliert zwischen
den Werten „verfassungsmäßig/verfassungswidrig“. Auf
der Meta-Ebene fungiert der Verfassungscode, weil er
Entscheidungen, die bereits unter der binären Recht/Un-
recht-Codierung gefällt wurden, einer zusätzlichen Prü-
fung, nämlich ob sie sozialverfassungsrechtlichen An-
forderungen entsprechen, unterwirft. Hier entsteht also
die für alle Verfassungen – für politische Staatsverfas-
sungen, für Sozialverfassungen oder für Organisations-
verfassungen – typische Hierarchie zwischen einfachem
Recht und Verfassungsrecht, „the law of the laws“. Dem
Rechtscode (rechtmäßig/rechtswidrig) wird der Verfas-
sungscode des jeweiligen Sozialbereichs (verfassungs-
mäßig/verfassungswidrig) übergeordnet. Der Witz der
Meta-Codierung aber liegt in ihrer Hybridität, weil sie
sich nicht nur dem Rechtscode überordnet, sondern zu-
gleich dem binären Code des betroffenen Funktionssys-
tems. sie setzt also die binär codierten Operationen der
Politik oder denen eines anderen Funktionssystems der
Law Zone Nr. 1/2010
Kommentar
zusätzlichen Reflexion aus, ob sie den Grundsätzen einer
öffentlichen Verantwortung des Sozialsystems entspre-
chen oder nicht.
Auch die Verfassung der heute global konstituierten
Wirtschaft operiert mit einem solchen hybriden Meta-
Code. Er dient als fiktive Einheitsformel für zwei ganz
unterschiedliche Verfassungsakte in der Wirtschaft.
Der Wirtschaftsverfassungscode beansprucht, sowohl
den rechtlichen als auch den ökonomischen binären Co-
dierungen hierarchisch übergeordnet zu sein. In jeder
dieser zwei Seiten der Wirtschaftsverfassung nimmt er
eine unterschiedliche Bedeutung an, je nachdem, ob er
den ökonomischen Code oder den Rechtscode zu kont-
rollieren sucht. Auf seiner wirtschaftlichen Seite dient
er der Reflexion der gesamtgesellschaftlichen Funktion
der Zahlungsvorgänge und sucht nach Formen für um-
weltverträgliches wirtschaftliches Handeln. Auf seiner
Rechtsseite führt er die Trennung von einfachem Recht
und übergeordnetem Verfassungsrecht ein und beurteilt
einfache Rechtsakte daraufhin, ob sie den in der Wirt-
schaftsverfassung festgelegten Werten und Prinzipien
entsprechen.
Diese Unterschiede wirken sich notwendig in der Weise
aus, dass unter der Herrschaft des Verfassungscodes die
Rechtspraxis und die Wirtschaftspraxis je eigene Pro-
gramme der Wirtschaftsverfassung entwickeln, die sich
permanent wechselseitig irritieren und dadurch eine Ei-
genevolution der Wirtschaftsverfassung auslösen. Wenn
im Recht der Differenz rechtmäßig/rechtswidrig die Dif-
ferenz wirtschaftsverfassungsmäßig/wirtschaftsverfas-
sungswidrig hierarchisch übergeordnet wird, dann fin-
det ein re-entry im Rechtssystem statt. Grundprinzipien
des Wirtschaftssystems werden in rechtliche Verfas-
sungsprinzipien – variabel je nach historischer Situation
Geldwirtschaft, Eigentum, Vertrag, Wettbewerb, soziale
Marktwirtschaft, ökologische Nachhaltigkeit – transfor-
miert. Das Recht rekonstruiert grundlegende Prinzipien
der Wirtschaft als Rechtsprinzipien und konkretisiert sie
in einzelnen wirtschaftsverfassungsrechtlichen Normen.
Und in der Gegenrichtung findet Vergleichbares statt:
Die Meta-Codierung der Wirtschaftsverfassung veran-
lasst den re-entry des Rechts in das Wirtschaftssystem
– wieder historisch variabel: Vertragsbindung, Sozialbin-
dung des Eigentums, Grenzen des Wettbewerbs, rechts-
staatliche Prinzipien in der Wirtschaft, Grundrechte im
Unternehmen. Damit wird eine Bindung wirtschaftlicher
Operationen an das Verfassungsrecht hergestellt.
Eine Vollgeldreform nun würde beide, die wirtschaft-
lichen und die rechtlichen Verfassungsprogramme ver-
ändern. Im Wirtschaftskontext würde sie die Prinzipien
einer wirtschaftsgerechten Geldschöpfung für die Zen-
tralbanken neu formulieren. An welchen Zielen sollen die
Zentralbanken die Geldschöpfung ausrichten, an der Ab-
wehr von Inflation oder auch an der Begrenzung übermä-
ßiger Steigerungszwänge? Im Rechtskontext ändert sie
37
 Kommentar
die Rechtsprinzipien einer Wirtschaftsverfassung. Unter
einem Vollgeldregime wäre etwa die Geldschöpfung von
Privatbanken wirtschaftsverfassungswidrig. Denn das
Urteil wäre nicht vom Rechtscode allgemein, sondern
vom Wirtschaftsverfassungscode und von den dazu ent-
wickelten Wirtschaftsreflexionsprogrammen getragen.
Ergebnis ist also, dass eine Vollgeldreform tief in die
kapillare Verfassung des globalen Finanzregimes ein-
wirken würde. Sie entspricht in allen drei Merkmalen
der hier vorgestellten Definition einer Sozialverfassung:
Die Vollgeldreform übt, erstens, Verfassungsfunktionen,
konstitutive und besonders limitative, aus. Sie nimmt,
zweitens, indem sie Geldschöpfungsregeln festlegt, an der
doppelten Reflexivität von Recht und Wirtschaftssystem
teil. Sie unterwirft, drittens, indem sie das wirtschaftliche
und das rechtliche Verfassungsprogramm verändert, das
Handeln von Geschäftsbanken und Zentralbanken dem
hybriden Metacode der Wirtschaftsverfassung.
Zur Politik gesellschaftlicher Eigenverfassungen
Impliziert aber ein gesellschaftlicher Konstitutionalis-
mus, der auf hohe Autonomie gesellschaftlicher Teilver-
fassungen setzt, nicht eine weitgehende Entpolitisierung
der Gesellschaft? Sozialverfassungen sind paradoxe
Phänomene, sie sind nicht Bestandteil der politischen
Verfassung der Gesellschaft und doch zugleich hochpo-
litische Angelegenheiten der Gesellschaft. Auflösen lässt
sich das Paradox mit Hilfe eines doppelten Begriffs des
Politischen. Mit dem Politischen ist erstens die instituti-
onalisierte Politik, das politische System der Staatenwelt
gemeint. Gegenüber diesem Politischen gehen die Ei-
genverfassungen des Sozialen auf Distanz; sie benötigen
gegenüber den politischen Verfassungen hohe Autono-
mie. Und was die Beteiligung des politischen Systems
am Prozess gesellschaftlicher Teilverfassungen betrifft,
so ist ein deutlicher „political restraint“ verlangt. Mit
dem Politischen ist zweitens das Politische in der Gesell-
schaft, auch außerhalb der institutionalisierten Politik,
also die Politisierung der Wirtschaft selbst und die an-
derer Gesellschaftsbereiche gemeint, die Politik der Re-
flexion auf ihre soziale Identität. Und in dieser Hinsicht
sind die Eigenverfassungen der Gesellschaft jenseits des
Staates hochpolitisch.
Zum ersten Politikbegriff: Staatlich-politische Durchnor-
mierungen der globalen Finanzverfassung und anderer
gesellschaftlicher Teilverfassungen sind nicht angemes-
sen, umso mehr aber staatlich-politische Verfassungsir-
ritationen. Dass die Politik – im Verein mit anderen, be-
sonders mit zivilgesellschaftlichen Akteuren – massiven
externen Druck ausüben muss, um Änderungen bis in die
Kapillaren des Zahlungskreislaufs zu erzwingen, dürfte
nach dem bisher Gesagten plausibel sein. Das wäre die
angemessene Arbeitsteilung zwischen den gesellschaft-
lichen Teilsystemen. Soziale Systeme haben ihre besten
konstitutionellen Chancen, wenn sie ihre Eigenverfas-
38
sungen in the shadow of politics, im Schatten der institu-
tionalisierten Politik, entwickeln können. Die wichtigsten
externen Impulse dürften während des Gründungsakts
der Eigenverfassung in der Tat vom politischen System
und vom Rechtssystem ausgehen. In the shadow of poli-
tics hat noch eine weitere Bedeutung. Die Durchsetzung
einer autonomen Eigenverfassung ist notwendig auf
Recht angewiesen, Recht wiederum notwendig auf das
physische Gewaltmonopol der Politik. Solche Unterstüt-
zungsleistungen des staatlichen Rechts macht eine Wirt-
schaftsverfassung jedoch nicht zur Staatsverfassung.
Der Schatten muss Schatten bleiben. Unverzichtbar ist
die konstitutionelle Autonomie der Zentralbanken ge-
genüber der Politik. Eine diskretionäre Intervention der
Politik in konkrete Entscheidungen der Geldschöpfung
muss ausgeschlossen bleiben. Die politische Unabhän-
gigkeit der Zentralbanken ist in der Tat ein Erfordernis
von Verfassungsrang. Selbststeuerung der Zahlungs-
ströme durch Zahlungsströme ist das Grundprinzip der
wirtschaftlichen Eigenverfassung. Der Grund dafür, in
Geldschöpfungsfragen die Machtspiele der institutiona-
lisierten Politik kategorisch auszuschließen, ist die akute
Inflationsgefahr, die durch Dauerversuchung der Politik
und gerade der demokratischen Politik entsteht. Für jede
demokratische Regierung mit unbeschränkter geldpoli-
tischer Macht ist es unmöglich, dem Inflationsdruck zu
widerstehen.
Zum zweiten Politikbegriff: Überhaupt nicht schatten-
haft, sondern physisch höchst präsent dagegen ist die
Politisierung der Wirtschaft selbst, die durch Konstituti-
onalisierungsprozesse zugleich verstärkt und kanalisiert
wird. In der von Wissenschaft und gesellschaftlicher Öf-
fentlichkeit kontrovers geführten Reflexion über die ge-
sellschaftlichen Folgen einer Ausweitung oder einer Ein-
schränkung des Zahlungskreislaufs verwirklicht sich die
„Eigenpolitik“ der Wirtschaft, die Politisierung von Ver-
brauchern, von Unternehmen und der Zentralbanken.
Eine solche Dynamik von externen politischen Verfas-
sungsimpulsen und der internen politischen Konstituti-
onalisierung der Wirtschaft entsteht erst in krisenhaften
Phasen, die durch exzessive Steigerungszwänge ausge-
löst werden. Dies sind die konstitutionellen Momente,
in denen möglicherweise gesellschaftliche Energien von
solcher Intensität aktiviert werden, dass die Katastrophe
abgewendet werden kann. Im historischen Rückblick
kann man sehen, dass das Jahr 1929 ein solcher konstitu-
tioneller Moment war. Damals standen die Nationalstaa-
ten vor der konstitutionellen Entscheidung: Abschaffung
der Autonomie der Wirtschaft durch die totalitäre Politik
sozialistischer oder faschistischer Prägung oder „New
Deal“ und Sozialstaat als limitative Konstitutionalisie-
rungen der Wirtschaft durch nationalstaatliches Handeln.
Und heute? War die Bankenkrise von 2008 systemrele-
vant? War sie so bedrohlich, dass sie als neuer konstitu-
tioneller Moment wirkte, diesmal der global vernetzten
Law Zone Nr. 1/2010

Wirtschaft, der ihre Selbstbeschränkung durch eine glo-
bale Finanzverfassung in den Bereich des Möglichen er-
hob? Oder war der bottom doch noch nicht erreicht, so
dass mit dem Abklingen der Krise schon wieder das alte
Suchtverhalten weltweit wiederkehrt?1
*
Ringvorlesung des Exzellenzclusters Normativität an der Goethe-
Universität Frankfurt a.M.
Literatur
Binswanger, Hans Christoph (2006) Die Wachstumsspirale: Geld, Energie
und Imagination in der Dynamik des Marktprozesses, Marburg: Metropo-
lis.
- (2009) Vorwärts zur Mässigung: Perspektiven einer nachhaltigen Wirt-
schaft, Hamburg: Murmann.
Brunkhorst, Hauke (2007) „Die Legitimationskrise der Weltgesellschaft:
Global Rule of Law, Global Constitutionalism und Weltstaatlichkeit“, in:
Mathias Albert und Rudolf Stichweh (Hrsg.): Weltstaat und Weltstaatlich-
keit. Wiesbaden: VS 63-108.
Fischer-Lescano, Andreas und Gunther Teubner (2006) Regime-Kollisi-
onen: Zur Fragmentierung des globalen Rechts, Frankfurt: Suhrkamp.
Die Veröffentlichung „Freiwilliger Kaufangebote“ von Fonds-
anteilen über den Elektronischen Bundesanzeiger
Von Rechtsanwalt Michael Tyroller, Würzburg*
In Zeiten der Finanzkrise haben in den letzten
Monaten zahlreiche Fondsanlegegesellschaften
die Rücknahme von Anteilen an den von Ihnen
ausgegebenen Fonds ausgesetzt. Dadurch wur-
den viele Anleger verunsichert, ob bzw. wie
viel die von ihnen gekauften Fondsanteile über-
haupt noch wert sind.
Die meisten Fonds werden aber an der Börse weiterhin
gehandelt, was von der die Rücknahme aussetzenden
Fondsanlegegesellschaft dem Verbraucher nur selten
mitgeteilt wird. Dieser Umstand hat in der letzten Zeit
vermehrt dazu geführt, dass private Unternehmen im
Elektronischen Bundesanzeiger freiwillige Kaufangebote
veröffentlichen, in welchen den Inhabern solcher Fonds
angeboten wird, diese Fondsanteile abzukaufen.
Gemäß § 16 Satz 2 Spiegelstrich 2 der Sonderbedin-
gungen für Wertpapiergeschäfte sind die depotführenden
Banken verpflichtet, freiwillige Kauf- und Umtauschan-
gebote an deren Kunden (die Fondsinhaber) weiterzuge-
ben. Die Veröffentlichung dieser Freiweilligen Kaufange-
bote über den Elektronischen Bundesanzeiger und deren
Weitergabe an die Bankkunden werfen eine Vielzahl von
Rechtsfragen aus dem Allgemeinen Teil des BGB und
dem Verbraucherschutzrecht aus dem Allgemeinen Teil
des Schuldrechts auf.
1. Vorliegen eines verbindlichen Antrags i.S.d.
§ 145 BGB oder bloße „invitatio ad offerendum“
Die Bezeichnung als „Freiwilliges Angebot“ könnte
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
Grimm, Dieter (2009) „Gesellschaftlicher Konstitutionalismus: Eine Kom-
pensation für den Bedeutungsschwund der Staatsverfassung?“, in: Matthias
Herdegen et al. (Hrsg.): Festschrift für Roman Herzog, München: 67-81.
Huber, Joseph und James Robertson (2008) Geldschöpfung in öffentlicher
Hand: Weg zu einer gerechten Geldordnung im Informationszeitalter,
Kiel: Gauke.
Ladeur, Karl-Heinz und Lars Viellechner (2008) „Die transnationale Ex-
pansion staatlicher Grundrechte: Zur Konstitutionalisierung globaler Pri-
vatrechtsregimes“, 46 Archiv des Völkerrechts, 42-73.
Streeck, Wolfgang (2009) Re-Forming Capitalism: Institutional Change in
the German Political Economy, Oxford: Oxford University Press.
Teubner, Gunther (2003) „Globale Zivilverfassungen: Alternativen zur
staatszentrierten Verfassungstheorie“, 63 Zeitschrift für ausländisches öf-
fentliches Recht und Völkerrecht, 1-28.
- (2006) „Die anonyme Matrix: Zu Menschenrechtsverletzungen durch
„private“ transnationale Akteure“, 45 Der Staat, 161-188.
- (2007) „Codes of Conduct multinationaler Unternehmen: Unternehmens-
verfassung jenseits des Corporate Governance und Mitbestimmung“, in:
Dieter Gosewinkel, et al. (Hrsg.): Festschrift für Jürgen Kocka, 36-51. Ber-
lin: Wissenschaftszentrum,
Vesting, Thomas (2009) „Politische Verfassung? Der moderne (liberale)
Verfassungsbegriff und seine systemtheoretische Rekonstruktion“, in:
Gralf-Peter Callies et al. (Hrsg.): Festschrift für Gunther Teubner. Berlin:
De Gruyter, 609-626.
darauf hindeuten, dass es sich bei den über den
Elektronischen Bundesanzeiger veröffentli-
chten Kaufangeboten um eine unverbindliche
Aufforderung zur Abgabe von Angeboten (sog.
„invitatio ad offerendum“) handelt, bei welcher
der Rechtsbindungswille zum endgültigen Ab-
schluss eines Vertrages noch fehlt1. Ob das eine
oder das andere vorliegt, ist eine Frage der Auslegung,
wobei es gem. §§ 133, 157 BGB auf die Verständnis-
möglichkeiten eines durchschnittlichen Empfängers der
Erklärung ankommt (sog. objektiver Empfängerhori-
zont).
a) „Freiwillig“ als Ausschluss der Bindungswirkung?
Der Antragende kann die Bindungswirkung seines An-
trages durch Formulierungen wie „freibleibend“ bzw.
„unverbindlich“ ausschließen2. Allein das Wort „freiwil-
lig“ genügt für einen Ausschluss des Bindungswillens
aber nach gefestigter Rechtsprechung nicht. Durch das
Wort freiwillig wird lediglich zum Ausdruck gebracht,
dass der Fondsanleger keinen Anspruch darauf hat, dass
seine Anteile zurückgenommen werden, diesem aber das
Angebot gemacht wird, einen entsprechenden Vertrag
zu schließen. Dies entspricht der Rechtsprechung des
BAG zu den „Gratifikationen“, bei denen es sich auch
um „freiwillige Sonderzuwendungen handelt“. Werden
solche gewährt, so entsteht nach der Rechtsprechung
1
Vgl. hierzu Palandt/Ellenberger, BGB, 69. Aufl. 2010, § 145 Rdn. 2.
2
Vgl. hierzu Palandt/Ellenberger, a.a.O., § 145 Rdn. 4.
39
 Ausbildung
des BAG zur „Betrieblichen Übung“ ein schutzwürdiges
Vertrauen des Arbeitnehmers dahingehend, dass er einen
Anspruch auf die Sonderzahlung auch für die Zukunft
bekommt. Auch die „Formulierung „freiwillige, stets
widerrufliche Leistung“ schließt nach zutreffender An-
sicht des BAG einen Rechtsbindungswillen nicht aus.
Eine derartige Formulierung sei widersprüchlich, da eine
freiwillige Leistung nicht widerrufen werden müsse. Der
Widerruf einer Leistung durch den Arbeitgeber setzt da-
mit den Anspruch des Arbeitnehmers auf die Leistung
voraus. Hat der Arbeitnehmer keinen Anspruch auf die
Leistung, geht auch ein Widerruf der Leistung ins Lee-
re3. Gegen eine bloße invitatio ad offerendum spricht
auch der Umstand, dass die veröffentlichten Angebote in
den meisten Fällen zeitlich befristet sind. Eine zeitliche
Bindung ist aber gemäß § 148 BGB nur bei einer Wil-
lenserklärung vorgesehen. Oder anders formuliert: Eine
zeitliche Befristung einer Aufforderung, Angebote zu
machen, ergibt wenig bis keinen Sinn.
Im Ergebnis ist daher davon auszugehen, dass es sich
jedenfalls bei der Veröffentlichung zeitlich befristeter
freiwilliger Kaufangebote um ein rechtsverbindliches
Angebot handelt.
2. Widerrufsrecht des Verbrauchers bei zustande
gekommenem Kaufvertrag?
Nimmt der Kunde ein solches Kaufangebot fristgerecht
(hierfür kommt es auf den Zugang der Annahmeerklä-
rung beim Antragenden an; die rechtzeitige Abgabe ge-
nügt nicht4), ist zwischen den Parteien ein wirksamer
Kaufvertrag zustande gekommen. Fällt der Kaufpreis des
Fonds unter den vereinbarten Kaufpreis, dann hat sich
das Geschäft für den Kunden gelohnt. Steigt der Preis
hingegen, so fühlt sich der Kunde, der meist Verbraucher
ist, nicht ausreichend informiert und will das Geschäft
nach Verbraucherschutzrecht widerrufen. In Betracht
kommt in diesem Fall lediglich das Widerrufsrecht bei
Fernabsatzverträgen gemäß § 312d Abs. 1 Satz 1 BGB.
Ein solches Widerrufsrecht steht dem Verbraucher aber
in der vorliegenden Fallkonstellation aus mehreren Grün-
den nicht zu.
a) Kein Fernabsatzgeschäft i.S.d. § 312b Abs. 1
BGB aufgrund der Rollenverteilung
aa) Vorliegen einer Finanzdienstleistung
§ 312b Abs. 1 Satz 1 BGB stellt klar, dass auch bei Ver-
trägen über Finanzdienstleistungen die fernabsatzrecht-
lichen Vorgaben zu beachten sind. Finanzdienstleistun-
gen sind nach der Legaldefinition in § 312 Abs. 1 Satz 2
„insbesondere“ Bankdienstleistungen sowie Dienstleis-
tungen im Zusammenhang mit einer Kreditgewährung,
3
BAG, NZA 2008, 40 ff. zu einer Bonuszahlung (=Life & Law 2008, Heft
2, 97 ff.); BAG, NZA 2008, 1173, 1179; ausführlich auch Tyroller, Ver-
tragliche Möglichkeiten des Arbeitgebers zur Entgeltflexibilisierung, in:
Life&LAW 2009, Heft 10, 702, 710 f.
4
Vgl. hierzu Palandt/Ellenberger, a.a.O., § 148 Rdn. 3.
40
Versicherung, Altersversorgung von Einzelpersonen,
Geldanlage oder Zahlung5.
bb) Rollenverteilung bei einer Finanzdienstleistung
Unter den Begriff der Finanzdienstleistung fällt daher
auch der Handel von Wertpapieren. Dies allerdings nur
dann, wenn der Unternehmer als Vertreiber des Wertpa-
piers fungiert und dieses an Verbraucher verkauft6.
In der vorliegenden Konstellation ist es jedoch so, dass
der Unternehmer die Fondsanteile ankauft. Ob dies auch
eine Finanzdienstleistung darstellt, ist äußerst fraglich.
Die Vertragsparteien bei einem Fernabsatzgeschäft müs-
sen ein Verbraucher i.S.d. § 13 BGB und ein Unterneh-
mer i.S.d. § 14 BGB sein. Die Rollenverteilung muss
dabei nach allgemeiner Meinung bei der Lieferung von
Waren folgende sein: Der Verbraucher zahlt ein Entgelt
für eine Leistung des Unternehmers. In den Fällen, in de-
nen der Verbraucher die Ware liefert, finden die §§ 312b
ff. hingegen nach ganz h.M. keine Anwendung7. In der
vorliegenden Fallkonstellation fungiert der Unternehmer
aber als Käufer. Dieses Angebot wird vom Verbraucher
angenommen. Damit erbringt nicht der Fondsinhaber als
Verbraucher ein Entgelt, sondern der anbietende Unter-
nehmer.
Eine andere Ansicht ist allerdings vor dem Hintergrund
der Schutzbedürftigkeit des Verbrauchers bei Finanz-
dienstleistungen vertretbar. Ob der Verbraucher ver-
pflichtet wird, ein Entgelt für eine Leistung zu zahlen
oder gegen den Erhalt eines Entgelts eine Leistung zu er-
bringen, ist eine sehr formalistische Betrachtungsweise,
insbesondere dann, wenn das Angebot vom Unternehmer
ausgeht.
b) Jedenfalls Ausschluss des Widerrufsrechts ge-
mäß § 312d Abs. 4 Nr. 6 BGB
Ob in der vorliegenden Konstellation ein Fernabsatz-
vertrag im Sinne des § 312b BGB vorliegt, bedarf aber
letztlich keiner Entscheidung. Denn selbst wenn man ein
Fernabsatzgeschäft annehmen wollte, wäre ein etwaiges
Widerrufsrecht gemäß § 312d Abs. 4 Nr. 6 BGB ausge-
schlossen. Nach dieser Vorschrift besteht ein Widerrufs-
recht nicht bei Fernabsatzverträgen, die die Lieferung
von Waren oder die Erbringung von Finanzdienstleistun-
gen zum Gegenstand haben, deren Preis auf dem Finanz-
markt Schwankungen unterliegt, auf die der Unternehmer
keinen Einfluss hat und die innerhalb der Widerrufsfrist
auftreten können, insbesondere Dienstleistungen im Zu-
sammenhang mit Aktien, Anteilsscheinen, die von einer
Kapitalanlagegesellschaft oder einer ausländischen In-
5
Diese beispielhafte Aufzählung übernimmt damit den von Art. 2 lit b
FernAbsFinanzDienstRL vorgegebenen Finanzdienstleistungsbegriff, was
dem aus dem 13. Erwägungsgrund der FernAbsFinanzDienstRL folgenden
Prinzip der Maximal-Harmonisierung entspricht.
6
Vgl. Staudinger/Thüsing, BGB – Neubearb. 2005, § 312b Rdn. 23 ff.
7
Vgl. Palandt/Grüneberg, a.a.O., § 312b Rdn. 10; MünchKomm/Wende-
horst, BGB, Bd. 2, 5. Aufl. 2007, § 312b Rdn. 39; Erman/Saenger, BGB,
12. Aufl. 2008, § 312b Rdn. 2a.
Law Zone Nr. 1/2010

vestmentgesellschaft ausgegeben werden, und anderen
handelbaren Wertpapieren, Devisen, Derivaten oder
Geldmarktinstrumenten. Die Ausnahmeregelung be-
trifft Verträge über Waren wie Edelmetalle und Verträge
über Dienstleistungen im Zusammenhang mit Devisen,
Geldmarktinstrumenten, handelbaren Wertpapieren, An-
teilen an Aktiengesellschaften, Finanztermingeschäften,
Zinstermingeschäften, Zins- und Devisenswaps sowie
Swaps auf Aktien- oder Aktienindexbasis (sog “equity
swaps”), Kaufoptionen u.Ä. § 312 Abs. 4 Nr. 6 spricht
nicht von „Anteilen an Anlagegesellschaften“, sondern
von “Anteilscheinen, die von einer Kapitalanlagegesell-
schaft oder einer ausländischen Investmentgesellschaft”
ausgegeben werden. Hiermit wird auf den Wortlaut von
§ 2 Abs. 1 Satz 2 WpHG zurückgegriffen8. § 2 Abs. 1
Satz 2 WpHG wurde durch das Gesetz zur Umsetzung
von EG-Richtlinien zur Harmonisierung bank- und wert-
papieraufsichtsrechtlicher Vorschriften eingefügt und
beendete die Diskussion darüber, ob auch Anteilscheine
von in- oder ausländischen Kapitalanlagegesellschaften
Wertpapiere im Sinne des WpHG sind9.
Ähnlich wie Verträge zur Erbringung von Wett- und Lot-
8
RegE FernAbsG BT-Drucks 14/2658, 45; siehe auch Felke/Jordans, WM
2004, 166, 170.
9
vgl. Staudinger/Thüsing, a.a.O., § 312d Rdn. 70; Bamberger/Roth/
Räntsch, Beck Online-Kommentar, Stand 01.02.2007, § 312d Rdn. 46 ff.
The Regulation and Control of Biopiracy by The Convention
on Biodiversity
By Olga Troshchenovych, Legal Trainee at the District Court Frankfurt
I. Introduction
The distribution of biodiversity around the
world is not equal: Most of the biodiversity hot
spots are located within the boundaries of de-
veloping countries1, whereas the “biodiversity-
poor” countries are mostly represented by the
industrialized world with powerful biotechno-
logy sectors2. Although the very basic needs of the po-
pulation satisfiable by means of natural resources are the
same all over the world - food, fodder, fuel, fertilizer,
timber and medicine3, the demands and expectations of
the global community as well as factual outcomes of the
1
Ninan/Jyothis/Babu/Ramakrishnappa, The Economics of Biodiversity
Conservation, p. 2; Approximately 90 percent of the world‘s remaining
biodiversity is concentrated in tropical and sub-tropical regions within de-
veloping countries, mostly located in the southern hemisphere. See Global
Exchange, Biopiracy: A New Threat to Indigenous Rights and Culture in
Mexico, available at: http://www.globalexchange.org/countries/americas/
mexico/biopiracy.pdf (accessed 31.01.2010).
2
Perkoff Bass/Muller Ruiz, Protecting Biodiversity, p. 2.
3
Chauhan, Biodiversity, Biopiracy and Biopolitics: The Global Perspec-
tive, p. 20.
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
teriedienstleistungen beinhalten auch diese Verträge ein
hohes spekulatives Element, das Verbraucher und Unter-
nehmer zu gleichen Teilen tragen. Es wäre unangemes-
sen, das Risiko einseitig dem Unternehmer aufzubürden,
indem der Verbraucher den Vertragsschluss widerrufen
kann, wenn sich das Wertpapier nicht in der von ihm
gewünschten Weise entwickelt. Der Ausschluss nach §
312d Abs. 4 Nr. 6 gilt damit für alle Fernabsatzverträge,
die von den Schwankungen auf dem Finanzmarkt abhän-
gig sind.
Dass die Rücknahme von der Fondsanlegegesellschaft
ausgesetzt wurde, ändert nichts daran, dass die Fondsan-
teile am Markt gehandelt werden.
Damit ist in der vorliegenden Konstellation das Wider-
rufsrecht des Verbrauchers jedenfalls nach § 312d Abs. 4
Nr. 6 BGB ausgeschlossen.10
*
Der Autor ist Gründungsgesellschafter der überregional tätigen Kanzlei
Daxhammer Grieger Tyroller d´Alquen in Würzburg. Die Kanzlei berät
mittelständische Unternehmen im Bereich des Arbeits-, Erb- und Wirt-
schaftsrechts. Außerdem ist der Autor seit 1995 in der zivilrechtlichen
und arbeitsrechtlichen Ausbildung von Studenten und Rechtsreferenda-
ren als Repetitor für das bundesweit agierende Juristische Repetitorium
Hemmer als Mitgesellschafter tätig. Er ist Mitherausgeber der juristischen
Fachzeitschrift Life&LAW der Hemmer/Wüst Verlagsgesellschaft mbH.
E-Mail: michael.tyroller@raedgt.net
Homepage: www.raedgt.net
use of biological resources are dominated by
great controversies4. As a consequence of the-
se contradictions, the phenomenon of biopiracy
and the need of its regulation became a flagship
of emerging conflicts concerning sovereign
rights of states as well as indigenous communi-
ties over their natural resources and striving of
diverse interest groups for access to the “natural capital”
underpinning the US$ 30 trillion global economy5.
The main challenge in regard to the control and regula-
tion of biopiracy is the lack of any distinct legal notion
expressly referring to biopiracy as a crime, tort or wrong
which can be prosecuted6. However, the striking elements
4
The relation between population and consumption is, for instance, not ac-
cessory: at present the populations which consume the most are those from
wealthy countries, where families sized tend to be small; where population
growth is rapid, families are typically living frugal lives. See Milner-Gul-
land/Mace, Conservation of Biological Resources, p. 4.
5
Perkoff Bass/Ruiz Muller, Protecting Biodiversity, p. vii.
6
Nagan/Tsakimp/Jintiach, Bioprospecting as Biopiracy: Economic and
Ethno-botany and the Misappropriation of the Traditional Knowledge of
Indigenous Culture, p.2.
41
 Ausbildung
of injustice immanent to this phenomenon bring forth the
urgent need of possible and appropriate legal sanctions.
The aim of this article is to compile a review and evalua-
tion of legal framework established by the Convention on
Biodiversity (CBD) in regard to the notion of biopiracy.
II. Phenomenon of Biopiracy
The term biopiracy can be found in a great variety of
scholarly writings and papers for discussion. However,
despite all the elaborations concerning the concept of bi-
opiracy a uniform and consistent definition of the term
has not been established on the international level7. To
map the phenomenon of biopiracy in the international ju-
dicial environment and to identify its core participants,
their motives and concerns one of the most prominent
examples shall be presented in the following – the case
of hoodia cactus.
The case of the hoodia cactus shall be presented in the
following. Hoodia is a cactus, which has been used for
thousand years by indigenous San peoples, the oldest hu-
man habitants in Africa, to stave off hunger and thirst on
long hunting trips8. This usage sparked interest of the
South African-based Council for Scientific and Industrial
Research (CSIR)9. In 1995 the company had patented the
appetite-suppressing ingredient P57 deduced from the
hoodia plants10. In the aftermath a license for a further
development and commercialization of the patent was
granted to the U.K.-based company Phytopharm, which
in its turn sold the rights to license the drug for US$ 21
million to the US-based pharmaceutical giant Pfizer11.
The subsequent closure of Prizer’s Natureceuticals led
to the withdrawal of the agreement and negotiation of a
new arrangement with the consumer giant Unilever, in-
tending to develop extracts from the active ingredients
of the plant and incorporate these into functional weight-
loss for the mass market12.
This development gave rise to the establishment of the
parallel hoodia market based on the trade of raw materi-
als. As a result of the exponential escalation of trade, in
many cases illegally, by 2004 concerns about the threats
7
The issue of the development of the uniform definition of biopiracy and
its impact was addressed in the Small ABS Group Chairs Text printed and
distributed to the participants of the 9th Conference of the Parties to the
CBD on 23.05.2008. According to the Text “The Conference of the Parties
decides to establish a group of technical experts to further examine the
issue of compliance. […] The group of technical experts will be guided by
the following questions: […] g) Consider how an internationally agreed
definition of misappropriation or use of genetic resources would support
compliance where genetic resources have been accessed in circumvention
of national legislation”.
8
Jansen, in: Grubben/Denton, Plant Resources of Trioical Africa 2, p.
329.
9
Laird/Wynberg, Access and Benefit-Sharing in Practise, p. 83.
10
Holm-Müller/Täuber, Zugang und Vorteilsausgleich in der CBD, p. 26.
11
See Pisupati, UNU-IAS Pocket Guide. Access to Genetic Resources,
Benefit Sharing and Bioprospecting. 2007, p. 58.
12
The global value of functional food is estimated by Phytopharm (2007) at
US$ 65 billion. In 2003 the market value for the dietary control of obesity
alone in the US exceeded US$ 3 billion. See Laird/Wynberg, Access and
Benefit-Sharing in Practise, p. 83.
42
posed to natural populations through unregulated collec-
tion led to the inclusion of hoodia species in Appendix II
of the Convention on International Trade in Endangered
Species of Wild Fauna and Flora.
Until 2001, various agreements concerning hoodia had
preceded apace without any consent of the San people13.
However, ongoing vigilance by NGOs alerted foreign
media to the potentially exploitative nature of respective
agreements. This catalyzed a flurry of media interest,
which pressurized CSIR to enter negotiations with the
San people, who were not even aware of the fact that their
knowledge of the hoodia qualities had commercial appli-
cation and led to the initial research, scientific validation
and the granting of international patents. According to
Roger Chennels14, legal advisor to the San people, after
two years of negotiations the poverty-stricken San opted
to obtain a share of royalties and settled for 6 percent of
the income they will receive after the product is marketed
by Unilever. The second challenge facing San and their
representatives was to get the percentage out of the raw
trade of Hoodia. A respective agreement was negotiated
subsequently with the Hoodia Grower’s Association. The
market of so-called “free-riders”, people and companies
growing hoodia and selling various products, such as diet
bars, pills, drinks etc., without belonging to the Hoodia
Grower’s Association and without having a Benefit Sha-
re Agreement with San people remains, however, the
main challenge of this indigenous population.
Thus, on the basis of provided example the notion of bio-
piracy can be defined as an act of appropriation or usage
of biological or genetic resources and, or respective tradi-
tional knowledge without prior consent of the owner for
one’s own benefit.
III. Convention on Biodiversity
The acknowledgement of the immanent danger of the
extinction of biological diversity led to the number of
international treaties advocating the unique value of na-
tural resources, traditional knowledge of indigenous and
local communities and the urgent need of their protec-
tion15. Negotiated under the auspices of the UNEP the
CBD was opened for signature at the 1992 Earth Summit
in Rio de Janeiro, Brazil and entered into force in 1993.
The Convention is a legally binding international trea-
ty currently including 190 members – 189 countries and
the European Union16. Far more than a mere conserva-
tion treaty, the CBD comprises three equally important
and complementary objectives: (i) the conservation of
biological diversity; (ii) the sustainable use of its com-
13
In fact, a newspaper report quotes Phytopharm having been told by the
CSIR that 100 000-strong San no longer existed. See Barnett, In Africa the
Hoodia Cactus Keeps Men Alive, available at: http://www.blackherbals.
com/hoodia_cactus.htm (accessed 31.01.2010).
14
The interview recorded during the COP9 held in Bonn 2008.
15
Secretariat of the CBD, Global Biodiversity Outlook 2, p. 10.
16
Secretariat of the CBD, The CBD. Year in Review 2007, p. 9.
Law Zone Nr. 1/2010

pounds and (iii) the fair and equitable sharing of the be-
nefits arising out of the utilization of genetic resources17.
The Conference of the Parties (COP) is the governing
body of the Convention advancing implementation of the
CBD and its objectives through the decisions it takes at
its periodic meetings. During the 2002 World Summit for
Sustainable Development the participants negotiated and
adopted two additional documents: The Strategic Plan of
Implementation of the CBD and the Johannesburg De-
claration on Sustainable Development18. Thereby, COP
declared its commitment to achieve by 2010 the targets
of the Strategic Plan: (i) a significant reduction in the cur-
rent rate of biodiversity loss and (ii) negotiation of an
international regime to promote and safeguard the fair
and equitable sharing of benefits arising out from the uti-
lization of genetic resources19. In addition, protection of
the traditional knowledge was proclaimed to be one of
the focal points to make progress in the implementation
of the Strategic Plan20.
The CBD itself does not specifically address the notion
of biopiracy. However, the provisions of the treaty and
respective decisions of the COP regarding the access and
benefit sharing of genetic resources and regulations con-
cerning traditional knowledge constitute an international
legal environment which may have regulatory impact
on biopiracy. In the following the CBD regulations on
ownership of genetic resources (1), regulations of access
and benefit sharing (2) as well as provisions concerning
traditional knowledge (3.) will be examined.
1. Ownership of Genetic Resources
The question of ownership of genetic resources is crucial
for the regulation of access and benefit sharing. The CBD
represents a fundamental shift in the manner in which the
genetic resources are treated. Previously, the collection of
natural resources was guided by the principle veni, vidi,
vici or, as some address it, – ‘take-and-run‘ - without any
adequate consent of the owners. This principle was alle-
gedly justified by the consideration that in international
law biodiversity presented the part of the “common he-
ritage of the human kind”21. Thus, biological resources
were treated as belonging to the public domain and not as
being owned by any individual, group or state.
17
Secretariat of the CBD, Sustaining Life on Earth, p. 2.
18
Sekretariat des Übereinkommens über die biologische Vielfalt, Die Lage
der biologischen Vielfalt, pp. 59-61.
19
Secretariat of the CBD, The CBD from Conception to Implementation,
p. 31.
20
See COP 7 Decision VII/30, Kuala Lumpur, 9-20 February 2004, availa-
ble at: http://www.cbd.int/decisions/?dec=VII/30 (accessed 1.02.2010).
21
The concept of “common heritage” was given the international legal sta-
tus in the 1972 UNESCO Convention of the World Cultural and Natural
Heritage. However, the careful reading of the wording of the Convention
leads to the result that the concept of common “cultural and natural heri-
tage” should be applied only for the purpose of the Convention aiming
the “protection, conservation, presentation and transmission to the future
generations of the cultural and natural heritage”. See also Gept, Who Owns
Biodiversity, and How Should the Owners Be Compensated?, p. 1295.
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
The CBD is the first international treaty acknowled-
ging the sovereign rights of each state over the genetic
resources within its jurisdiction and consequently, the
resulting authority to regulate and control access. Ac-
cording to Art. 3 CBD the contracting “States have […]
the sovereign right to exploit their own resources […]”.
Art. 15 CBD, regulating access to genetic resources, ex-
pressly reaffirms the sovereign right of the state to exer-
cise jurisdiction over genetic resources. Art. 15 CBD
also regulates access to “genetic resources” referring to
samples of plant, animal or microbial origin containing
functional units of heredity of actual or potential value22.
Thus, considering the legal definition of the term “bio-
logical resources” provided in Art. 2 CBD, in the con-
text of the Convention genetic resources are biological
resources needed or used for their genetic material and
not for other attributes. Hence, the regulatory content of
Art. 15 CBD can not be extended, for instance, to the
question of access to forests for timber extraction or hun-
ting and respective property rights.
However, these provisions do not grant the Parties a pro-
perty right over these resources. The expression “their
resources” is only referring to the natural resources under
“their” jurisdiction and not “their” property23. The questi-
on of ownership is in fact not addressed by the language
of the Convention and is to that effect subject to national
legislation24.
2. Access and Benefit Sharing
Establishing the concept of access and benefit sha-
ring (ABS) the CBD seeks to create a new relationship
between providers and users of genetic resources25. The
language of Art. 1 CBD indicates the compelling relation
between access and benefit sharing referring to “sharing
of benefits […], including by appropriate access”.
a) Granting of Access
The third objective of the CBD refers to the “appropri-
ate access” to genetic resources. The word “appropriate”
heralds, thereby, the compulsory conditions dealt with in
Art. 15 CBD26, subordinating access to genetic resources
to the mutually agreed terms (MATs) and prior informed
consent (PIC) of the access granting party. Like other
provisions of the CBD these sections do not address the
22
Glowka/Burhenne-Guilmin/Synge, A Guide to the CBD, p. 76.
23
Glowka/Burhenne-Guilmin/Synge, A Guide to the CBD, p. 76.
24
The great controversies discussed by the global community in this con-
text arise, however, if the state claims exclusive ownership of the genetic
resources. The State of Ecuador, for instance, ratified the Convention on
Biodiversity. In 1996 the law on biodiversity became effective, stating that
all genetic resources from natural environment are property of the state.
These can be used by public, though the state of Ecuador has the sovereign-
ty as to the appropriating of these resources. See Reinhardt, Traditionelles
Wissen indigener Völker und “Biopiraterie” in Ecuadors Amazonastief-
land, p. 171.
25
Johnson/Yamin, in: Mugabe/Barber/Henne/Glowka/La Vina, Access to
Genetic Resources. Strategies for Sharing Benefits, p. 245.
26
Glowka/Burhenne-Guilmin/Synge, A Guide to the CBD, p. 15.
43
 Ausbildung
ownership of the genetic resources. Thus, by enacting the
national legislation, the governments set out conditions,
which have to distinguish between the ownership of the
state and the others clearly indicating that a potential user
needs to negotiate an access agreement with the owner
and whether it is subject to the governmental review or
whether all three parties (stakeholder-state-user) have to
negotiate an access agreement.
Accordingly, if indigenous people hold the ownership of
the biological resources on their lands, then the PIC and
MATs requirements ought to be applicable not only to
the Contracting Party but also to the respective indige-
nous community, which should as stakeholders have the
right to deny or allow access27. Thus, the requirements of
MATs and PIC if implemented can prevent the acts of
biopiracy in the established definition of use or appropri-
ation of biological resources without prior consent.
b) Sharing of Benefits
The issue of benefit sharing is addressed by Art. 15 (7)
CBD establishing an obligation of the Parties “to take [ap-
propriate] legislative, administrative or policy measures
[…] with the aim of sharing in a fair and equitable way
the results of research and development and the benefits
arising from the commercial and other utilization of ge-
netic resources with the Contracting Party providing such
resources. […]”28. Thereby, provisions the CBD as well
as paragraph 31 of the Bonn Guidelines differ between
monetary and non-monetary benefits. Thus, the regulati-
ons in respect to the benefit sharing must be imposed in
respect to the benefits arising out of the scientific research
and out of the commercial use of biological resources.
In line with the requirements for granting of access
Art. 15 (7) CBD requires sharing of benefits to be sub-
ject to MATs. Thus, the Convention imposes the same
conditions on benefit sharing as for granting of access.
Pursuant to Paragraph 45 of the Bonn Guidelines such
terms could cover conditions, obligations, procedures,
types, timing, distribution and mechanisms of benefit to
be shared, which will vary depending on what is regar-
ded as fair and equitable in light of the particular circum-
stances.
However, the Convention fails to impose obligation to
obtain additional consent if, for instance, the resources
were originally accessed for scientific research and the
27
This allegation conforms to the provisions of the Articles 14 para. 1 and
15 para 2 of the ILO Convention 169 stipulating that governments shall
recognise the ownership and possessions of indigenous peoples over the
lands they traditionally occupy and consult indigenous people before un-
dertaking any programme for the exploration or exploitation of minerals,
sub-surface resources or other resources encountered in indigenous territo-
ry. The provisions of the Convention have to be considered according to
Art. 3 and Art. 22 CBD.
28
According to these preconditions even by the purported mere scientific
research in the Case of the Shuar Nation, there ought to be an equitable
sharing of research and development results. The published book presents
under these terms the scientific gain as well as commercial benefit, which
occurs from the selling turnovers, etc.
44
commercial use was planed in the aftermath. Thus, the
CBD opens doors for the problem of bioprospecting res-
ting with the fact that even in the scientific projects not
just the research institutes but also companies and inter-
national corporations are involved maintaining the rights
to decide upon the usage of the made “inventions”29.
Moreover, the question of the value of biological resour-
ces and respective benefits is not addressed by the CBD.
In general, given the fact of widely varying circum-
stances and situations surrounding the usage of genetic
resources, it seems to be virtually impossible to impose a
priori the exact modalities and values of benefits30. Thus,
the accomplishment of fair and equitable benefit sharing
and therefore, prevention of the act of biopiracy referring
to the unauthorized usage or appropriation for one’s own
benefit, depends entirely on the quality of the implemen-
ted legislation and negotiating skills of stakeholders.
3. Traditional Knowledge
Traditional knowledge (TK) is justly cherished by indi-
genous and local communities as a part of their very cul-
tural identities31. It is based upon the traditional practices
of local populations, their social ethics, technologies, spi-
ritual beliefs and customary legal systems32, which were
established over long time and passed carefully through
many generations33. The CBD recognizes the dependen-
cy of indigenous and local communities on biological
diversity and the unique role of indigenous knowledge
in conserving life on earth34. The recognition of TK is
enshrined in the preamble of the Convention and in its
provisions and was further affirmed by the adoption of
Akwé: Kon Guidelines35. Art. 8 (j) CBD stipulates that
“each Contracting Party, as far as possible and as approp-
riate […] subject to its national legislation, respect, pre-
serve and maintain knowledge, innovations and practices
of indigenous people and local communities […] and
encourage the equitable sharing of the benefit arising
from the utilization of such knowledge, innovations and
practices; […].” Hence, Art. 8 (j) imposes an obligation
to establish appropriate regulations on national level pre-
venting the possibility of misappropriation of TK and its
subsequent usage. However, the CBD does not address
clearly the issue of TK in the context of the access and
benefit sharing and does not impose further specific re-
quirements as to the PIC and MATs. The issue of access
to TK is addressed by the Draft of the Code of Ethical
29
Delgado-Ramos, Biopiraterie und gesitiges Eigenum als Eckpfeiler tech-
nologischer Herrschaft. Das Beispiel Mexico, p. 110.
30
See Glowka/Burhenne-Guilmin/Synge, A Guide to the CBD, p. 83.
31
See WIPO Secretariat, Intellectual Property and Traditional Knowledge,
p. 1.
32
Pakia, African Traditional Knowledge Today, p. 11.
33
Mammo, The Paradox of Africa’s Poverty, p. 177.
34
See Working Group on Art. 8 (j), available at: http://www.cbd.int/con-
vention/wg8j.shtml (accessed 1.02.2010).
35
The text of the Akwé: Kon Guidelines is available at: http://www.cbd.
int/doc/publications/akwe-brochure-en.pdf (accessed 1.02.2010).
Law Zone Nr. 1/2010

Conduct (DCEC)36, established within the work on Inter-
national Regime. According to the Paragraph 18 DCEC
traditional resources represent [often] collectively owned
resources. Indigenous and local communities ought to
determine for themselves, the nature and scope of their
respective traditional resources regime according to their
customary laws.
IV. Conclusion
In general, the CBD provides a sufficient foundation for
the legal framework on control and regulation of biopira-
cy. However, the complex system of the CBD addresses
the most issues on the gross level making the possibility
to prevent biopiracy for the great part dependent on the
quality of the subsequently imposed national legislati-
on. As to the specific modalities of the enforcement of
benefit sharing and relation between access and benefit
sharing the language of the convention remains rather
ambiguous.
In addition, the CBD addresses both usages of biologi-
cal resources for scientific and commercial needs failing
to provide a clear and sufficient differentiation between
these two options and opening the floodgates for biopi-
rates seeking commercial benefits by gaining access on
the premises of the mere scientific research. Furthermo-
re, the Convention does not address the question of TK,
which so often represents the major target of biopirates,
in due relation to the access and benefit sharing provi-
36
See Report of the Conference of the Parties of the Convention on Biolo-
gical Diversity on the Work of its Ninth Meeting. UNEP/CBD/COP/9/29,
available at: http://www.cbd.int/doc/meetings/cop/cop-09/official/cop-09-
29-en.pdf (accessed 1.02.2010).
JURA-HAUSARBEITEN- UND KLAUSUREN-AG
an der Goethe-Universität zu Frankfurt am Main
»Erste Hilfe« für Juristen!
Wir sind ein ehrenamtliches, nicht-kommerzielles studentisches
Projekt im Rahmen der Fachschaft Jura und haben mittlerweile
über 4.000 juristische Originalarbeiten mit Originalkorrekturen
und teilweise mit Lösungsskizzen der Lehrstühle aus allen Rechts-
gebieten gesammelt, layoutet und katalogisiert. Wir geben die Ar-
beiten gegen lediglich Erstattung der Kopier- und Layoutkosten
ab. Die Höhe der Kosten richtet sich nach der Anzahl der Seiten,
also je dicker desto teurer. Höhere Preise bei Klausuren deuten auf
Lösungsskizzen oder Abschriften der Bearbeitung hin.
Du kannst Dir auf unserer Homepage http://www.giraffen-uni-
frankfurt.de unter dem Hinweis „Sammlung“ alle aktuellen In-
haltsverzeichnisse zu den einzelnen Rechtsgebieten (Kleiner und
Großer Schein dogmatische Fächer sowie Grundlagenscheine und
Examinatorien) ansehen.
Du kannst, um Arbeiten zu bekommen,
entweder
Law Zone Nr. 1/2010
Ausbildung
sions. Hence, due protection from acts of biopiracy de-
pends again on the national legislature.
The questions of the compliance, monitoring and en-
forcement of the respective regulations are discussed
within the draft on the International Regime on Access
and Benefit Sharing and Code of Ethical Conduct37. This
regime was supposed to be established completely as a
part of 2010 biodiversity target. However, as stated by
Ahmed Djoghlaf, Executive secretary of the CBD on 18
January 201038, 2010 targets could not be reached by par-
ticipants, although the “Strategic Plan has attempted to
improve […] in providing a more effective framework
for national implementation of the three objectives of the
Convention including through national targets, with ap-
propriate support mechanisms and more robust approach
to monitoring and review, at the national and global le-
vels, including an enhanced role for the Conference of
the Parties in reviewing implementation and learning
from experience.” Thus, for now it is necessary to await
the implementation of the developed Strategic Plan. Until
then indigenous and local communities providing biolo-
gical resources and respective traditional knowledge face
national regulations deviating in the degree of protection
and depend upon their own negotiation skills and protec-
tion techniques39.
37
Respective information is available at: http://www.cbd.int/abs/regime.
shtml (accessed 1.02.2010).
38
See Statement at the Informal Expert Workshop On The Updating Of
The Strategic Plan Of The Convention For The Post-2010 Period, available
at: http://www.cbd.int/doc/speech/2010/sp-2010-01-18-london-en.pdf (ac-
cessed 1.02.2010).
39
See Langton/Mazel/Palmer/Shain/Tehan, Settling With Indigenous Peo-
ple, p. 7.
in unseren Öffnungszeiten: Mo. 14.30 – 17.00 Uhr, Do. 13.30.-
17.00 Uhr und 20.00 – 22.30 Uhr
zu uns in unser Büro in der Johann Wolfgang Goethe-Universität,
60325 Frankfurt am Main (Bockenheimer Warte), Studentenhaus
Jügelstraße, 1. OG, Raum 136 kommen - die Anreise ist mit dem
Semesterticket problemlos möglich.
oder
die Arbeiten auch per Post bestellen; hierfür lies Dir bitte die „Hin-
weise für Studenten anderer Unis“ durch, die Du auch auf unserer
Homepage findest.
Gerne kannst Du uns auch Deine Hausarbeiten und Klausuren
(möglichst mit Lösungsskizzen, auch Klausurenkurse) mitbringen,
für die Modalitäten rufe einfach bei uns an. Für Deine Arbeiten,
die wir in die Sammlung aufnehmen, erhältst Du eine kleine finan-
zielle Anerkennung.
Impressum:
JURA-HAUSARBEITEN- UND KLAUSUREN-AG an der Uni
Frankfurt, Silvia Ohde, Studentenhaus,
Jügelstraße 1, 60325 Frankfurt am Main,
Tel.: (069) 798-23452; E-Mail s.ohde@interhousing.de
45
 Ausbildung
„Student meets Practice“ − Mittendrin statt nur dabei
Praktikantenprogramm von Shearman & Sterling LLP
Von Heiko Liesegang, Bochum
Mein Pflichtpraktikum hatte ich bereits bei einer mittelstän-
dischen Kanzlei in Wuppertal absolviert. Ich hatte dort eine
gute Zeit und habe viel gelernt. Eine Sache, die mich mit Fort-
schreiten meines Studiums in zunehmendem Maße interes-
siert, konnte ich dort jedoch nicht erfahren: Wie ist eigentlich
die Arbeit in einer internationalen Großkanzlei? Wäre ich den
Anforderungen gewachsen und wie viel wird dort wirklich
gearbeitet? Gerade über Letzteres kursieren in der Uni ja die
unglaublichsten Sagen. Nun, so dachte ich mir, findest du es
aus erster Hand heraus. Und welcher Ort könnte dafür wohl geeigneter sein
als die M&A Abteilung von Shearman & Sterling in Frankfurt? So kam es,
dass ich im September dieses Jahres mein Praktikum in der Gervinusstraße
17 in Frankfurt antrat. Das Praktikumsprogramm „Student meets Practice“
ist die perfekte Gelegenheit, einen echten Einblick in die große, bunte Welt
einer internationalen Wirtschaftskanzlei zu erhalten. Einmal und ab 2010
sogar zweimal jährlich bietet Shearman 15 Bewerbern die Möglichkeit, an
einem der drei deutschen Standorte in Frankfurt, München oder Düssel-
dorf sechs Wochen zu arbeiten und ausgebildet zu werden. Jeder Praktikant
wird einer Praxisgruppe zugeteilt und erhält zwei Mentoren, einen Partner
und einen jüngeren Anwalt („Associate“). Die Mentoren versorgen einen
nicht nur mit Arbeit, sondern sind vor allem Ansprechpartner und Lehrer.
Ich wurde der Praxisgruppe „European Corporate“ zugeteilt.
Die tägliche Arbeit
Der Eindruck, den ich von der Arbeitswelt bei Shearman & Sterling erhal-
ten habe, wurde von drei Umständen in besonderem Maße geprägt. Ers-
tens: Hier spielt die Musik! Hier werden die Vorgänge mitgestaltet, von
denen man sonst aus den Abendnachrichten erfährt. Das war im Grunde
keine Überraschung, es hat mich aber doch sehr beeindruckt, unmittelbar
zu sehen, wie von hier aus Tag für Tag die ganz großen Entwicklungen
mitgesteuert werden. Zweitens: Die Arbeitssprache ist Englisch. Das war
zwar im Grunde noch weniger überraschend, dennoch war das Ausmaß für
mich unerwartet. So kann ich mich nicht daran erinnern, überhaupt mit ei-
ner Aufgabe oder Fragestellung in Berührung gekommen zu sein, die nicht
in englischer Sprache bearbeitet wurde. Drittens: Die Arbeit hier ist un-
vorhersehbar. Es kann immer etwas Unerwartetes passieren, was plötzlich
Aufmerksamkeit erfordert und Planungen über den Haufen werfen kann.
Ich denke nicht, dass einen hier der Alltag jemals erreichen kann.
Über die tägliche Mitarbeit ist vor allem eines zu sagen: Man wurde wirk-
lich einbezogen! Wir bekamen durchweg Aufgaben, die es uns ermög-
lichten, ergebnisrelevant mitzuhelfen, und ich hatte das Gefühl, dass mir
vertraut wurde. Mein „Ongoing Project“, mit dem ich über den gesamten
Praktikumszeitraum beschäftigt war, wenn nicht gerade etwas Akutes an-
stand, bestand darin, Unterlagen zu erstellen, um ausländische Investoren
darüber aufzuklären, was für regulatorische Verfahren und Pflichten sie
erwarten, wenn sie vorhaben, Anteile an einem deutschen Finanzinstitut
zu erwerben. Die Aufgabe war angesichts der unbekannten und ausgespro-
chen komplizierten gesetzlichen Regelungen nicht einfach. Aber da man
wirklich jederzeit jedem jede Frage stellen und sich darauf verlassen konn-
te, dass einem engagiert geholfen wurde, fühlte ich mich keineswegs über-
fordert. An dieser Stelle möchte ich hervorheben, dass es nicht ein einziges
Mal vorkam, dass ich eine Frage gestellt habe und mir nicht ernsthaft und
geduldig geholfen wurde. Das galt übrigens nicht nur für meine Mentoren,
sondern wirklich für jeden, der bei Shearman arbeitete. Und das, obwohl
meine Fragen sicherlich nicht immer genial waren. Alle legten hier erkenn-
bar Wert darauf, dass man verstand, woran man arbeitete und auch darü-
ber hinaus viel über die Arbeit und die wirtschaftlichen Zusammenhänge
lernte. Mein Mentor hatte aber nicht nur den Anspruch, mir interessante
Aufgaben zu geben und mich bei der Erledigung zu unterstützen. Er wollte
mir darüber hinaus auch einen möglichst plastischen und realistischen Ein-
druck davon vermitteln, wie man sich die Arbeit als Anwalt hier vorzustel-
46
len hat. Das fand ich besonders positiv, denn letztlich ging es
mir mit dem Praktikum ja darum, genau das herauszufinden. Er
ermöglichte es mir, ihn bei seiner Arbeit zu begleiten und er-
klärte mir zwischendurch immer wieder, worin die Fragen und
Probleme seiner Arbeit liegen. Besonders interessant war es,
ihn zu Telefonkonferenzen zu begleiten, in denen er quer über
den Globus Mandanten beriet und Verhandlungen führte.
Die Brain-Veranstaltungen und die Vorstellungen der
Praxisgruppen
Die Arbeitstage bei Shearman bestanden aber auch sonst keineswegs nur
aus Arbeit. Jede Woche wurden Vorträge zu interessanten rechtlichen The-
men gehalten. So lernten wir zum Beispiel, wie Privat Equity Transakti-
onen organisiert sind - und wie komplex solche Deals sind. Wir erfuhren,
wie Unternehmen finanziert werden, lernten deutsch-liechtensteinische
Steuerabkommen kennen und besuchten ein Seminar zum Umwandlungs-
recht. Besonders interessant fand ich, dass uns darüber hinaus jede Woche
eine Praxisgruppe von Shearman & Sterling vorgestellt wurde. Auf diese
Weise wurde uns – teilweise per Videokonferenz – ein interessanter Ein-
druck auch in die Tätigkeitsfelder der Kanzlei gewährt, mit denen wir wäh-
rend unserer Arbeit nicht so sehr in Berührung kamen. Dies führte dazu,
dass wir am Ende des Praktikums einen wirklich umfassenden Eindruck
von der Arbeit in sämtlichen Abteilungen an allen drei deutschen Stand-
orten hatten.
Der Moot Court und das Miteinander
Wie sehr es „Onkel Shearman“ darum ging, dass wir durch das Programm
etwas lernen und uns persönlich weiterentwickeln, wurde auch dadurch
deutlich, dass eigens für die Praktikanten ein eintägiger Moot Court am
Standort Düsseldorf veranstaltet wurde. In diesem spielerischen Wettbe-
werb bekamen alle Praktikanten die Gelegenheit, in Zweierteams jeweils
den Kläger oder den Beklagten in einer simulierten Schiedsgerichtsver-
handlung zu vertreten. Als Schiedsrichter fungierten die Düsseldorfer
Anwälte, die sich hierfür den gesamten Tag von der eigentlichen Arbeit
freigenommen hatten. Die Veranstaltung hat nicht nur großen Spaß ge-
macht, sie war auch sehr lehrreich. Denn die Schiedsrichter gaben uns
ein sehr ausführliches Feedback über die Stärken und Schwächen unserer
Plädoyers. Zudem lernten wir die Anwälte und Praktikanten der anderen
Standorte kennen. Nach der Veranstaltung fand eine Party im Innenhof der
Kanzlei statt, wo wir bis in die Morgenstunden feierten.
Insgesamt war die Zeit für mich auch wesentlich durch das sehr gute und
freundschaftliche Verhältnis geprägt, welches nicht nur zwischen uns
Praktikanten, sondern zwischen allen Mitarbeitern bei Shearman herrschte.
Das gilt übrigens nicht nur für die Arbeit selbst, sondern gerade auch für
die vielen schönen Abende, die wir miteinander verbrachten. So lernte ich
nicht nur Frankfurter Äppelwoi und Handkäse kennen, sondern erhielt
auch einen Crashkurs im Nachtleben der hessischen Finanzmetropole. Ich
werde mit vielen Menschen, die ich hier kennen lernen durfte, sicherlich
noch lange in Kontakt bleiben.
Fazit
Zusammenfassend möchte ich sagen, dass das Praktikum ein voller Erfolg
war. Ich weiß jetzt, dass das Leben in einer Großkanzlei wie Shearman &
Sterling noch faszinierender ist, als ich es erwartet hatte. Ich weiß, dass
diejenigen, die dort arbeiten wirklich nette und normale Menschen sind,
und ich weiß, dass die Arbeit anspruchsvoll ist, einem aber keine Wunder
abverlangt werden. Und was die Arbeitszeiten angeht? Die Wochenenden
hat hier niemand durchgearbeitet aber mit nine-to-five kommt man wohl in
der Regel auch nicht über die Runden. Aber wo tut man das schon, wenn
man Karriere machen will?
Law Zone Nr. 1/2010
 Buchrezensionen
Willkommen im härtesten Studium.
Gut, dass es die Blauen gibt.

Jetzt Probelesen auf

www.die-blauen.info

Bestellen Sie im Buchhandel oder

versandkostenfrei unter www.nomos-shop.de
Law Zone Nr. 1/2010 47
 Buchrezensionen
Stalking- Phänomenologie und
strafrechtliche Relevanz, Mi-
chael Markus Aul, 2009, 235
Seiten, Nomos Verlag: 52 Euro
Michael Markus Aul
hat in im Rahmen sei-
ner Dissertation eine
hervorragende Darstel-
lung und strafrecht-
liche Analyse des komplexen Phä-
nomens „Stalking“ vorgenommen.
Das Werk ist in vier Teile geglie-
dert, wobei sich der erste Teil unter
historischem kriminologischem
und psychologischem Hintergrund
dem Stalkingphänomen an sich
widmet, bevor im zweiten Teil die
zivil- und öffentlich-rechtlichen
Abwehrmöglichkeiten in Deutsch-
land analysiert werden. Hierbei
legt der Autor großen Wert auf
die Frage der Notwendigkeit eines
weitergehenden (strafrechtlichen)
Schutzes, die er zutreffend und
argumentativ schlüssig bejaht. Der
dritte Teil setzt sich kritisch mit
dem neuen § 238 StGB ausein-
ander und setzt, da dies einer der
umstrittensten Punkte ist, einen
Schwerpunkt bei der Analyse der
Einhaltung des Bestimmtheitsge-
botes aus Art. 103 II GG. Hierbei
stellt der Autor einen interessanten
Alternativentwurf (§ 241b StGB)
zum existierenden Tatbestand im
StGB vor, welcher unter anderem
auf diverse Tatbestandsmodali-
täten verzichtet. Auch die Abschaf-
fung der Qualifikationsmerkmale
mangels Notwendigkeit und ver-
fassungsrechtlicher Bedenken wird
vorgeschlagen. Das kritische Fazit
zur Unzulänglichkeit des aktuellen
Tatbestandes im vierten Teil run-
det das Werk ab.
Fazit: Der Autor schafft es ein-
drucksvoll Hintergründe zum Phä-
nomen Stalking zu analysieren und
gleichzeitig die aktuelle Relevanz
eines eigenen Straftatbestandes
darzustellen. Der Alternativvor-
schlag ist beachtenswert und er-
innert an die Ausgestaltung im
angloamerikanischen System. Ein
rundum gelungenes Werk.
Amer Issa
Stalking-Nachstellung, Susan-
ne Sadtler, 2009, 369 Seiten,
Nomos Verlag: 86 Euro
Susanne Sadtler be-
schäftigt sich um-
fassend mit der
Entwicklung, den Hin-
tergründen und den
rechtlichen Handlungsmöglich-
keiten zur Nachstellung. Die Dis-
sertation der Autorin ist in vier Ka-
pitel unterteilt. Das erste Kapitel
48
widmet sich neben dem Versuch
einer Begriffsbestimmung auch
der Entwicklung des Phänomens
Stalking. Abgrenzungen zu ande-
ren verwandten Komplexen, unter
anderem zum Mobbing, werden
vorgenommen. Kapitel zwei be-
schäftigt sich sodann ausführlich
mit den Tätern und Opfern von
Stalking und stellt empirische Da-
ten zu dessen Umständen und Häu-
figkeit dar. In Kapitel drei wird
zunächst der rechtliche Umgang
mit Stalking in anderen Ländern
wie den USA, Kanada und Aus-
tralien aufgezeigt, bevor in Kapi-
tel vier auf die rechtliche Lage in
Deutschland vor Einführung des §
238 StGB eingegangen wird. Ins-
besondere die zivilrechtlichen Ab-
wehrmöglichkeiten werden umfas-
send und anschaulich dargestellt.
In Kapitel fünf wird dann auf den §
238 StGB eingegangen. Hier wird
ein Schwerpunkt auf die Frage
der Notwendigkeit eines eigenen
Straftatbestandes gesetzt und mit
überzeugenden Argumenten, auch
im Hinblick auf die Effektivität in
der Praxis, bejaht.
Fazit: Ein umfassendes und auch
gelungenes Werk zum Phänomen
Stalking. Insbesondere zur Frage
der Notwendigkeit eines eigenen
Straftatbestandes sind die Ausfüh-
rungen lesenswert.
Amer Issa
Examens-Repetitorium Straf-
prozessrecht, Armin Engländer,
4. Aufl. 2009, 109 Seiten, C.F.
Müller Verlag: 14,50 Euro
Mit seinem in studen-
tischen Kreisen doch
eher unbekannteren
Büchlein zum Straf-
prozessrecht hat es
sich der Passauer Hochschullehrer
Engländer) zur Aufgabe gemacht,
die wichtigsten Grundsätze dieses
Rechtsgebietes auf lediglich knapp
einhundert Seiten zusammenzufas-
sen. Während damit das Buch be-
reits bei der ersten Durchsicht er-
freulich übersichtlich wirkt, gefällt
auch der anschauliche Aufbau, der
mit insgesamt 8 Schaubildern noch
einmal zusätzlich aufgelockert
wird. Trotz der Knappheit seiner
Ausführungen versäumt es der Au-
tor dabei allerdings nicht, relevante
Passagen zum besseren Verständ-
nis mit den für die Lehrbücher
vom C. F. Müller-Verlag üblichen
knappen Falldarstellungen (insge-
samt 67) zu unterlegen und mit ins-
gesamt 141 kurzen Verständnisfra-
gen noch einmal zu wiederholen.
Damit gelingt es Prof. Engländer,
die Kürze eines Skriptes mit dem
Gehalt eines Lehr- und Lernbuches
zu verbinden, ohne dabei auf eine
allzu schemenhafte Aufstellung
von Kernaussagen zurückgreifen
zu müssen. Trotz der zahlreichen
Auflistungen unter Verwendung
von Spiegelstrichen ist der Lese-
fluss noch gewahrt. Auf der an-
deren Seite muss sich der Leser
mit Blick auf die Gesamtlänge
(eher „-Kürze“) des Büchleins al-
lerdings stets bewusst sein, dass
das Auslassen jeglicher weiterge-
hender Erklärungen außerhalb des
prüfungsrelevanten Kernstoffes zu
einer sehr hohen und damit auch
anstrengenden Dichte an materiel-
lem Inhalt führt. Damit kommt das
Repetitorium von Engländer schon
begriffsnotwendig am besten zeit-
lich erst nach einer ersten Durch-
arbeitung des Strafprozessrechtes
zum Einsatz.
Fazit: Wer eine schnelle Möglich-
keit der Wiederholung - wie z. B.
vor der mündlichen Prüfung im
ersten juristischen Staatsexamen
- sucht und bereits erste Kontakte
zur Materie hatte, ist mit dem er-
schwinglichen Werk von Eng-
länder bestens bedient und kann
auf die mittlerweile auch nicht
knapperen (und oft sogar teureren)
Skripte manch anderer Anbieter
getrost verzichten.
Christian Waller, LL.M. Eur.
Zivilprozessrecht, Petra Pohl-
mann, 2009, 381 Seiten, C.H.
Beck Verlag: 24,90 Euro
Das erstmals erschie-
nene „Lernbuch“ zum
Zivilprozessrecht von
Prof. Dr. Petra Pohl-
mann möchte vor allem
zivilprozessual noch nicht weiter
vorgebildeten Studentinnen und
Studenten einen Einstieg in die
schwierige und meist recht trocken
empfundene Materie ermöglichen.
Ein erster Überblick macht hier-
bei deutlich, dass sich das Buch
schon rein äußerlich mit seinem
übersichtlichen Aufbau, dem an-
genehm großen Schriftbild sowie
den zahlreichen Übersichten und
hervorgehobenen Fällen von der
Masse der gewöhnlichen ZPO-Li-
teratur unterscheidet. Aber auch
der stilistische Ausdruck hebt die
Autorin unter vielen anderen her-
aus: So liest sich das Buch trotz
der Komplexität des Inhalts größ-
tenteils recht flüssig und die ein-
gängige Sprache von Pohlmann
erleichtert es dem Leser, die tech-
nischen Feinheiten des Rechtsge-
bietes besser zu verstehen. Inhalt-
lich beschäftigt sich das Buch mit
den zivilprozessualen Grundlagen
und den Einzelheiten des Erkennt-
nisverfahrens. Damit eignet es sich
vor allem zur vorlesungsbeglei-
tenden Lektüre. Erfreulich ist, dass
die Autorin dabei keinerlei Vor-
kenntnisse der Materie voraussetzt
und man hierdurch nicht - wie so
oft - das Gefühl erhält, zwischen
den Fachterminologien umherzu-
irren. Die Kontrollfragen am Ende
eines jeden der 16 Abschnitte wur-
den erfreulicherweise nicht nur mit
bloßen Verweisen auf Randnum-
mern versehen, sondern erhielten
eigens ausformulierte Antworten.
Hinsichtlich der ebenfalls an jedes
Kapitel angeschlossenen Literatur-
empfehlungen fallen schließlich
positiv die gesonderten Verweise
auf Falllösungen in Fachzeit-
schriften ins Auge.
Fazit: Pohlmann wird dem An-
spruch, der mit der auf dem Cover
angepriesenen Bezeichnung als
„Lernbuch“ geweckt wird, vollauf
gerecht. Für den vorlesungsbe-
gleitenden Einstieg ins Zivilpro-
zessrecht sind die mit Blick auf
den Gesamtumfang des Buches
angemessenen knapp 25 Euro eine
lohnende Investition.
Christian Waller, LL.M. Eur
Examens-Repetitorium Fami-
lienrecht, Martin Lipp, 3. Aufl.
2009, 200 Seiten, C.F. Müller
Verlag: 18,50 Euro
Das Buch von Martin
Lipp dient vor allem
der Vorbereitung auf
die Erste juristische
Prüfung im Pflicht-
fach, wobei es voraussetzt, dass
die Gründzüge des Familienrechts
dem Studenten bereits bekannt
sind. Der Autor stellt das Fami-
lienrecht nicht in seiner ganzen
Breite vor, sondern beschränkt
sich hierbei auf die Gebiete des
Familienrechts, die vorzugsweise
im Examen geprüft werden, wie
z.B. das Ehevermögensrecht, wäh-
rend das Namensrecht oder das
Vormundschaftsrecht nicht zum
examensrelevanten Stoff gehören.
Der Examensstandard des Buches
zeigt sich auf darin, dass der Ver-
fasser bei jedem Thema Verknüp-
fungen zu anderen Gebieten, wie
z.B. BGB herstellt, worin gerade
die Herausforderung bei fami-
lienrechtlichen Klausuren liegt.
So lernt der Student die Bezüge
zum BGB gleich mit und kann sie
dann in der Klausur leichter her-
stellen und erkennen. Nach einer
umfassenden Einführung in das
Ehe- und Familienrecht – beson-
ders unter verfassungsrechtlichen
Gesichtspunkten – geht das Buch
Law Zone Nr. 1/2010

vor allem auf Eheschließung und
–auflösung, Ehevermögensrecht,
Vertragliches Güterrecht, sowie
auf Kindschaftsrecht, die Eingetra-
gene Lebenspartnerschaft und das
Allgemeine Verwandschaftsrecht
ein. Hervorzuheben ist, dass die 3.
Auflage die wichtigen Gesetzes-
änderungen zum Unterhaltsrecht,
dem neuen Personenstandsrecht,
Verfahrensrecht nach dem FamFG
sowie die Reformen im gesetz-
lichen Güterrecht und im Versor-
gungsausgleich berücksichtigt.
Fazit: Das Buch ist hinsichtlich
seines Umfangs gut zu bewältigen
und gerade für die Examensvorbe-
reitung, aber auch für Studierende
des Schwerpunktbereiches ein pas-
sender Begleiter – es ist anspruchs-
voll, aber trotzdem kompakt ge-
schrieben. Das Buch ist damit
uneingeschränkt zu empfehlen.
Verena Lerch
Das neue FamFG, Nikola Koritz,
2009, 270 Seiten, C.H. Beck
Verlag: 38 Euro
Seit 2010 gehört in Hes-
sen das Familien- und
Erbrecht zum Prüfungs-
stoff im 2. Examen in
Hessen. Für Referenda-
re stellt sich damit die Frage, wie
man sichauch auf die prozessualen
Fragen dieses Rechtsgebietes vor-
bereitet. Hier schafft Nikola Koritz
Buch „Das neue FamFG“ Abhilfe.
Mit Wirkung zum 1. September
2009 ist (FamFG)“ in Kraft getre-
ten. Damit wurde das gerichtliche
Verfahren in Familiensachen erst-
mals in einer einzigen Verfahrens-
ordnung zusammengefasst. Das
Buch von Nikola Koritz folgt der
Reihenfolge des neuen Gesetzes
und stellt zunächst die allgemeinen
Vorschriften des Verfahrens dar
und geht dann auf die einzelnen
Familiensachen ein. So wird unter
anderem auf Unterhaltssachen, die
Feststellung der Vaterschaft. Aber
auch die Vollstreckung familien-
rechtlicher Titel und die Kosten
des Verfahrens werden angespro-
chen. Dabei werden die wichtigs-
ten Neuerungen und ihr Sinn und
Zweck dargestellt, die Einflüsse
der Rechtsprechung werden be-
rücksichtigt. Klar zeigt die Autorin
auch die Folgen für das familien-
rechtliche Verfahren auf. So sind
im Anhang Arbeitshilfen wie Mus-
ter für einige Anträge abgedruckt.
Auch ist eine Übersicht vorhan-
den, die in einer Tabelle die alten
Vorschriften den neuen gegenüber
stellt. Damit wird schnell deutlich,
welche Vorschrift welchen Rege-
lungsgehalt hat.
Law Zone Nr. 1/2010
Fazit: Wie sich die Systematik des
neuen Gesetzes auf die einzelnen
Tatbestandsmerkmale auwirken
wird, kann noch kaum vorhergese-
hen werden. So verwundert es auch
nicht, dass das Buch stellenweise
nur das Gesetz umschreibt oder
das Gesetz lediglich sinngemäß
wiedergegeben wird. Gleichzeitig
vermag die Autorin aber dem Le-
ser durch die Lektüre des Buches
den Sinn und Zweck einer Norm zu
vermitteln, wie er sich bei der Ge-
setzeslektüre nicht herauskommen
würde. Positiv fallen auch die zahl-
reichen Praxistipps auf. Sie helfen
dem Leser Querverbindungen zu
erkennen und geben Hinweise, die
auch für den Referendar und den
Studenten in der Klausur wichtig
werden können. Damit bietet es
einen schnellen und verständlichen
Einblick in das familienrechtliche
Verfahren, wie man ihn sich als
Referendar auch von einem guten
Skript wünschen würde.
Jakob Hübert
Familienrecht, Nina Dethloff,
29. Aufl. 2009, 563 Seiten, C.H.
Beck Verlag: 26,90 Euro
Familienrecht gehört
zum Pflichtwissen
schon in der ersten ju-
ristischen Pflichtfach-
prüfung. Daher ist es
sinnvoll sich in der Materie nicht
nur grob auszukennen, sondern
solide Kenntnisse zu haben. Das
Buch von Nina Dethloff gibt dem
Studenten die Möglichkeit, sich in
alle examensrelevanten Bereiche
des Familienrechts einzulesen
– und teilweise auch darüber hin-
aus. So werden in dem Buch nicht
nur Eheschließung, Eheliches Gü-
terrecht, Ehescheidung und Ein-
getragene Lebenspartnerschaft be-
handelt, sondern es wird auch sehr
ausführlich auf Verwandschaft und
Kindschaft, Unterhalt, Pflegefami-
lie, sowie Vormundschaft, Betreu-
ung und Pflegschaft eingegangen,
wobei diese Aufzählung nicht mal
alle behandelten Themen abdeckt.
Jedes dieser Themenkomplexe
wird ausführlich besprochen, auch
unter Heranziehung von weiterer
Literatur und Verweisen. In je-
dem Kapitel finden sich zahlreiche
Kurzfälle mit Lösungen sowie
Übersichten und Schemata. Wie-
derholungs- und Vertiefungsfragen
motivieren den Leser zum aktiven
Mitdenken – des weiteren kann
nach anhand der Fälle und Ver-
tiefungsfragen in jedem Kapitel
überprüft werden, ob das Gelesene
auch verstanden wurde. Das Buch
befindet sich in Rechtsprechung
und Literatur auf dem aktuellsten
Stand. Alle Änderungen im Fa-
milienrecht wurden eingearbeitet.
Berücksichtigt wurde so z.B. auch
die seit 2009 geltende Neuerung
aufgrund des Gesetzes zur Reform
des Personenstandrechts, sowie
das VersAusglG und das FamFG
und das Gesetz zur Änderung des
Zugewinnausgleichs- und Vor-
mundschaftsrechts.
Fazit: Das Buch eignet sich nicht
nur zur Vorbereitung auf Examen,
sondern auch – vor allem wegen
seines umfangreichen Fußnoten-
apparats und der ausführlichen Be-
handlung der familienrechtlichen
Nebengebiete – für die Erstellung
von Seminararbeiten und kann da-
her absolut empfohlen werden.
Verena Lerch
Grundkurs Handels- und Ge-
sellschaftsrecht, Peter Kindler,
4. Aufl. 2009, 432 Seiten, C.H.
Beck Verlag: 24,90 Euro
Dieser Grundkurs be-
handelt in einem Band
das examensrelevante
Wissen im Handels-
und Gesellschaftsrecht.
Die Darstellung des Handelsrechts
umfasst dabei die Teilbereiche
Kaufmannseigenschaft, Handels-
register, Handelsfirma und Han-
delsunternehmen, Prokura und
Handlungsvollmacht, Handels-
geschäfte und Handelskauf. Im
Gesellschaftsrecht werden die of-
fene Handelsgesellschaft und die
Kommanditgesellschaft behandelt,
ferner Einrichtungen und Vertre-
tungsverhältnisse bei der Aktien-
gesellschaft und bei der Gesell-
schaft mit beschränkter Haftung,
bei letzterer auch die Rechtsver-
hältnisse der Gesellschaft und der
Gesellschafter. Die neue Auflage
ist auf dem aktuellen Stand von
Gesetzgebung, Rechtsprechung
und Literatur. Berücksichtigt wur-
de vor allem auch das MoMiG, das
weite Teile des GmbH-Rechts neu
gestaltet hat, sowie das neue Regis-
terrecht des FamFG. Das Buch ist
trotz seiner Breite sehr übersicht-
lich gestaltet und enthält in jedem
Lernabschnitt zahlreiche Beispiele
zur Verdeutlichung, sowie Über-
sichten, die sich sehr gut einprägen
lassen.
Fazit: Das Buch ist für den an-
spruchsvollen Studenten geschrie-
ben, der sich intensiver mit der
Materie auseinandersetzen will
oder eine Vorbereitungshilfe für
das Examen braucht. Gerade des-
halb eignet es sich allerdings auch
zum Schreiben von Haus- oder Se-
minararbeiten. Verena Lerch
Buchrezensionen
Handels- und Gesellschafts-
recht, Lutz Schade, 2009,
226 Seiten, C.F. Müller Verlag:
16,95 Euro
Das Buch von Lutz
Schade deckt ein wei-
teres Rechtsgebiet in
der neuen Juriq Bü-
cher des C.F. Müller
Verlags ab, das Handels- und Ge-
sellschaftsrecht. Wie bereits seine
Vorgänger der neuen Juriq Reihe,
erscheint auch dieses in einem
neuen, modernen und für Stu-
denten sehr ansprechenden Lehr-
buchstil. Inhaltlich deckt das Buch
das gesamte prüfungsrelevante
Handels- und Gesellschaftsrecht
ab und legt die Schwerpunkte vor
allem auf den Stoff, der in Klau-
suren am häufigsten abgefragt
wird. Das Buch ist so angelegt,
dass auch der handels- oder ge-
sellschaftsrechtliche Anfänger mit
dem Buch arbeiten kann. Behan-
delt werden vor allem der Handels-
stand (Kaufmann, Handelsregister
etc. sowie die verschiedenen Han-
delsgeschäfte (Handelskauf, Kauf-
männisches Bestätigungsschreiben
etc. und im Gesellschaftsrecht die
Gründung der Gesellschaft , sowie
die Behandlung der verschiedenen
Gesellschaftsformen. Zwischen
den einzelnen Kapiteln sind je-
weils zum Thema passende Fälle
eingestreut, anhand derer der Stu-
dent sein theoretisches Wissen an
einem klausurähnlichen Fall prüfen
kann. Die Lösungen der Fälle sind
im Gutachtenstil ausformuliert.
Klausurrelevante Probleme sind
gesondert hervorgehoben, sodass
man auch bei kurzem Drüberlesen
das Wichtigste mitnehmen kann.
Randsymbole, die dem Studenten
sagen, was er auswendig können
muss, wie er sich bestimmte Pro-
blematiken herleiten kann oder
was er im Zusammenhang noch-
mal wiederholen sollte, erleichtern
Fall das Lernen.
Fazit: Das Juriqbuch kann und
soll nicht das gleiche bieten wie
ein umfangreiches Lehrbuch. Es
ist allerdings zum Einarbeiten in
die Materie oder zum schnellen
Wiederholen dafür weitaus besser
geeignet, da man das Wichtigste
auf einen Blick findet. Es ist daher
sowohl für den fortgeschrittenen
Studenten als auch für den Exa-
menskandidaten zur kurzen Wie-
derholung zu empfehlen.
Verena Lerch
Sachenrecht I, Bewegliche
Sachen, Ralph Weber, 2. Aufl.
2010, 385 Seiten, Nomos Ver-
lag: 22 Euro
49
 Buchrezensionen

Das vorliegende Werk
stammt aus der Reihe
Nomos Lehrbuch und
hat das Mobiliarsachen-
recht zum Gegenstand.
In fünf Blöcken werden
die Themen Grundlagen, Besitz
und Besitzschutz, Eigentum, An-
sprüche aus dem Eigentum und die
sonstigen Rechte behandelt. Dabei
geht der Autor nur auf die wesent-
lichen Bereiche ein, unterstreicht
besondere Examensprobleme und
hebt besonders relevante Punkte
hervor. Besonders zu vermerken
ist der angenehm verständliche
Ausdruck und der systematische
Aufbau der einzelnen Kapitel. Bei-
spielsweise wiederholt und vertieft
der Autor in seinen „Beachte“-Ab-
sätzen bereits Gesagtes. Zahlreiche
Beispiele ergänzen die Theorie und
knüpfen mit klausur- und haus-
arbeitsrelevanten Problemen an
die Praxis an. Zudem werden die
Kapitel mit Kurzfällen eingeleitet
und finden ihren Abschluss in ei-
ner prägnanten Lösung zum Ein-
gangsfall.
Fazit: Das recht schwere Rechts-
gebiet des Sachenrechts versucht
Weber studentenfreundlich und
verständlich seinem Leser beizu-
bringen, was ihm gelingt. Diese
Lektüre kann man nur empfeh-
len – sei es für den Einsteiger ins
Mobiliarsachenrecht, sei es zum
Nachschlagen für den Bearbeiter
einer Hausarbeit.
Alexander Junkov
Marktmanipulation und Kurs-
pflege, Katrin Flothen, 2009,
168 Seiten, Nomos Verlag: 38
Euro
Vorliegend handelt es sich um den
14. Band der Mann-
heimer Schriften zum
Unternehmensrecht aus
dem Nomos Verlag.
Die Autorin untersucht
in ihrer Dissertation die
Konkretisierung der Marktmani-
pulation und der Kurspflege sowie
deren Abgrenzungen unter Be-
rücksichtigung des § 20a WpHG
und der MaKonV. Die Verfasserin
gliedert ihre Arbeit in sechs Kapi-
tel, wobei sich die ersten vier mit
der aktuellen Regelungsproble-
matik, Definitionen der Markt-
manipulation und der Kurspflege,
deren Abgrenung sowie deren
rechtlichen Grundlagen auseinan-
dersetzen. Den wohl wichtigsten
Teil der Arbeit stellt das fünfte
Kapitel dar, welches sich mit dem
Schwerpunkt beschäftigt: Die Un-
tersuchung der Abgrenzungskri-
terien auf ihre Tauglichkeit. Hier
taucht die Verfasserin in die Tiefen
der Abgrenzungsproblematik ein,
deren Untersuchungsergebnisse sie
gelungen in Form von Thesen im
sechsten Kapitel festlegt. Durchge-
hend werden zahlreiche Fallkons-
tellationen abgehandelt.
Fazit: Trotz der tiefgreifenden
Untersuchungen der Marktma-
nipulation und der Kurspflege in
wissenschaftlicher Manier, eignet
sich diese Arbeit sehr wohl für
die Einarbeitung in diesen kapital-
marktrechtlichen Teilbereich.
Alexander Junkov
Einführung in das Insolvenz-
recht, Reinhard Bork, 5. Aufl.
2009, 269 Seiten, Verlag Mohr
Siebeck: 29 Euro
Das vorliegende Werk befasst sich
mit der Einführung in das Insol-
venzrecht. Neben der
bisherigen Aufteilung
in 13 Kapitel finden
sich in der Neuauflage
aktuelle Gesetzesände-
rungen wie beispiels-
weise durch das MoMiG sowie
neue Rechtsprechung wieder. Als
Sonderheft der Juristen Zeitung ist
der Bork bestens als Lehrbuch ge-
eignet. Die übersichtliche Struktur
und der verständliche Schreibstil
vereinfachen das Erlernen der re-
lativ schweren Materie. Während
andere Lehrwerke aus allen Näh-
ten platzen und nicht auf den Punkt
kommen ist das hier nicht der Fall.
Der relativ geringe Umfang des
Buches ist daher positiv zu bemer-
ken.
Fazit: Der Bork ist ein nahezu
perfektes Lehrwerk zum Insol-
venzrecht. Er besticht mit seiner
Knappheit und dem Inhalt. Trotz
des nicht ganz niedrigen Preises
ist das Buch ganz besonders Stu-
denten zu empfehlen, die sich im
Schwerpunktbereich in das Thema
einarbeiten wollen.
Alexander Junkov
Examens-Repetitorium Straf-
recht AT/BT, Christian Jäger,
4./3. Aufl. 2009, 341/407 Sei-
ten, C.F. Müller Verlag: 20/21
Euro
Es ist nicht einfach, die
strafrechtliche Materie
für Examenskandidaten
so zusammenzufassen,
dass man weder von einem Skript
noch von einem zu umfangreichen
Lehrwerk sprechen muss. Um das
Lob vorwegzunehmen: Die gol-
dene Mitte ist Christian Jäger mit
seinem Examens-Repetitorium in
zwei Bänden - dem AT und BT -
gelungen. Der Verfasser geht nicht
allzu sehr in die Tiefe. Daher wird
grundlegendes Wissen voraus-
gesetzt. Die Themen werden nur
kurz abgehandelt. Statt sich in lan-
gen Ausführungen zu verfangen,
ergänzt Jäger die Themenpunkte
mit Beispielen, Rechtsprechung
und Fällen sowie dazugehörender
Lösung. Streits werden nur in der
Anführung der Theorien abgehan-
delt, die kurz definiert und durch
einen Kritikpunkt ergänzt werden.
Durchgegend warnt der Verfasser
vor Klausurproblemen und worauf
in der Examensklausur besonders
zu achten ist.
Fazit: Die zwei Strafrechts-Bän-
de von Jäger sind die ideale Exa-
mensvorbereitung im Strafrecht.
Grundlagenwissen wird vorausge-
setzt, aber durch Examenswissen
ergänzt. Der Preis ist angemessen.
Alexander Junkov
VVG, Peter Schimikowski, 4.
Aufl. 2009, 301 Seiten, C.H.
Beck Verlag: 29 Euro
Das in neun Kapiteln
unterteilte Werk zum
Versicherungsvertrags-
gesetz von Schimikow-
ski bietet einen groben Überblick
über den AT des VVG. Trotz des
relativ hohen Preises ist dieser
Überblick etwas zu allgemein ge-
halten, sodass man „nur“ eine gute
Einführung in das VVG erhält.
Wer sich vertieft mit dem Thema
beschäftigt, sollte nach einem an-
deren Lehrwerk greifen. Für den
Überblick der Grundrisse und die
leichte Einarbeitung und sofortiges
Verständnis der Materie, ist es je-
doch zu empfehlen. A. Junkov

IMPRESSUM
Redaktion Herausgeberin / V.i.S.d.P. E-Mail
Jakob Hübert, Raquel Hubrich, Viktoria Fachschaft Rechtswissenschaft lawzone@web.de
Lerch, Christian Waller
Anschrift Internet
Stellv. Redaktionsleitung Redaktion Law Zone / Fachschaft www.lawzone-online.de
Amer Issa, Verena Lerch Goethe-Universität Frankfurt
Hauspostfach 34 / Grüneburgplatz 1 Bildnachweise
Chefredakteur 60629 Frankfurt am Main Titelfoto: © Stephen Coburn -
Alexander Junkov Fotolia.com,
Druck
Verantwortliche des Anzeigenteils Hornberger Druck GmbH
Amer Issa, Alexander Junkov 79689 Maulburg Meinungsbeiträge geben die Auffassung
der einzelnen Autoren wieder. Ein großer
Layout / Cover Dank geht an unsere Partner und Spon-
soren, die diese Ausgabe der Law Zone er-
Alexander Junkov
möglicht haben.

50 Law Zone Nr. 1/2010

a team thing

Mit Können und Weitblick

gehen Sie an neue Herausforderungen heran und arbeiten gern im Team. Gemeinsam mit Ihren Kolle-
ginnen und Kollegen wollen Sie anspruchsvolle Aufgaben zielstrebig lösen. Unsere Arbeitsatmosphäre
ist unkompliziert, offen und kollegial. Interne Fortbildung, praxisübergreifende abwechslungsreiche
Tätigkeiten und die frühzeitige Einbindung in verantwortungsvolle Aufgaben prägen Ihr zukünftiges
Umfeld. Über die Perspektiven, die sich bei Latham & Watkins an den Standorten Frankfurt, Hamburg
und München für engagierte

Praktikantinnen und Praktikanten

Referendarinnen und Referendare
ergeben, sprechen wir gern mit Ihnen. Interessiert? Dann bewerben Sie sich, wir freuen uns auf Sie.

Latham & Watkins ist eine internationale Anwaltskanzlei und vertritt mit über 2.000 Anwältinnen und
Anwälten in 28 Büros Mandanten in 75 Ländern.

www.lw.com/zukunft
Abu Dhabi Barcelona Beijing Brüssel Chicago Doha Dubai
Frankfurt Hamburg München
Frankfurt Hamburg Hongkong London Los Angeles Ma-
Christine Gärtner Dr. Ritesh Rajani Dr. Julius Neuberger drid Mailand Moskau München New Jersey New York
Tel. +49.69.6062.6000 Tel. +49.40.4140.30 Tel. +49.89.2080.3.8000 Orange County Paris Rom San Diego San Francisco
christine.gaertner@lw.com ritesh.rajani@lw.com julius.neuberger@lw.com Shanghai Silicon Valley Singapur Tokio Washington, D.C.
Den Law Zone-Lesern viel Erfolg,
allen Anderen: Viel Glück!

www.glademichelwirtz.com