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Psychische Devianz im Kindes- und Jugendalter – ein sozialräumli-

ches Problem der Jugendhilfe?


Ralf Leßmeister

(Erschienen in: Zeitschrift „Jugendhilfe“, 48. Jg., Heft 3/2010, S. 136-143)

Abstract

Das Fachkonzept der Sozialraumorientierung ist in vielen deutschen Jugend-


ämtern mittlerweile ein breit diskutiertes Thema, beschäftigt sich jedoch vor-
rangig mit den Bereichen der Kinder- und Jugendarbeit, den Hilfen zur Erzie-
hung, der Jugendhilfeplanung und nicht zuletzt mit fiskalischen Einsparpoten-
tialen im Sinne von Ressourcenorientierung. Wie geht jedoch das Konzept mit
psychisch devianten Kindern und Jugendlichen um? Hat sich die Trägerland-
schaft, sowohl der freien als auch der öffentlichen Jugendhilfe, auf die gestie-
genen Problematiken und Bedürfnisse eingestellt oder stößt die Jugendhilfe in
diesem Bereich auf ein sozialräumliches Problem? Fragen, die neben der
grundsätzlichen Auseinandersetzung mit der Jugendhilfe-Problematik von
psychisch beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen in diesem Beitrag be-
handelt werden.

1. Die Ausgangslage

In Zeiten zunehmend defizitärer öffentlicher Haushalte, geraten die örtlichen Jugend-


hilfeträger in den verschiedensten Bereichen der Kinder- und Jugendhilfe verstärkt in
den Fokus sowohl der politischen Mandatsträger als auch interkommunaler Ver-
gleichsringe bzw. diesbezüglicher Evaluationsprojekte. Der Rechtfertigungsdruck
hinsichtlich der Abwägung von der „Optimalversorgung“ hin zur „erforderlichen und
geeigneten“ Jugendhilfemaßnahme wächst angesichts der fortschreitenden Imple-
mentierung modernster Managementinstrumente. Innovative Jugendämter befassen
sich regelmäßig mit Benchmarking- oder Best-Practice-Projekten, haben längst Fi-
nanz- und Fachcontrolling eingeführt und führen Entgelts-, Leistungs- und Qualitäts-
entwicklungsvereinbarungen auf der Basis von Kontraktmanagement aus.
Ein Kernproblem in diesem Leistungsspektrum stellt unter anderen die Zunahme von
psychisch kranken und seelisch beeinträchtigten Kindern und Jugendlichen dar und
stellt die Jugendhilfe insbesondere in diesem Kontext vor schwierige fachliche und
institutionelle Herausforderungen. Die Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Ju-
gendpsychiatrie (DGKJP) hat in ihrem zuletzt veröffentlichten Forschungsbericht (vgl.
Hedebrand et al., 2009) festgestellt, dass Kinder und Jugendliche immer häufiger
unter psychischen Störungen wie Ängsten, Zwängen oder Depressionen leiden. Min-
destens fünf Prozent der Mädchen und Jungen bis zum 18. Lebensjahr benötigen
wegen seelischer Leiden eine ärztliche Behandlung, weitere 10 bis 13 Prozent sind
deutlich verhaltensauffällig. Die Forscher der DGKJP schätzen weiter, dass bundes-
weit rund eine Million Kinder und Jugendliche psychisch oder psychosomatisch krank
und behandlungsbedürftig sind und prognostizieren auf Grund verschiedener Unter-
suchungen, dass die Bedeutung der psychischen Störungen in Zukunft noch weiter
zunehmen wird (ebd., 235).

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Nach einer Untersuchung der Universitätsklinik Heidelberg, steigen bereits während
der Grundschulzeit die Zahl der Kinder mit psychischen Problemen stark an: Waren
von 4.000 untersuchten Erstklässlern 5,8 Prozent bereits einmal wegen psychischer
Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten in Behandlung, betrug dieser Anteil bei einer
ebenso großen Zahl an Viertklässlern 10,6 Prozent. Ungeachtet dessen nahmen
vermeintlich unauffällige Symptomatiken, wie Nervosität, Anspannung und Konzen-
trationsprobleme während der Grundschulzeit ebenso zu wie Übelkeit, Bauchweh
und Kopfschmerzen, die im Übrigen isoliert betrachtet keine Relevanz für Interventi-
onen im jugendhilferechtlichen Kontext entfalten. Dieser Trend setzt sich im fort-
schreitenden Kindesalter fort. Etwa jeder fünfte Jugendliche gerät in der Pubertät in
eine psychische Krise. Stark zugenommen haben in den vergangenen 20 Jahren
Magersucht und andere Essstörungen sowie Angsterkrankungen. Vier Prozent der
jungen Leute leiden unter starken Depressionen – bis zu 4.000 Jugendliche setzten
im vergangenen Jahr ihrem Leben ein Ende (vgl. ebd.). Auch Störungen des Sozial-
verhaltens, Aufmerksamkeitsstörungen, motorische Unruhe, Tics und Zwangshand-
lungen zählen zu den häufigeren Diagnosen. Die Kumulation verschiedener psychi-
scher Belastungen führt zu Verstärkungen körperlicher Erkrankungen wie Asthma,
Neurodermitis, Magen- oder Darmbeschwerden. Sind ab der Pubertät deutlich mehr
Mädchen als Jungen von psychischen Problemen betroffen, ist dieses Verhältnis in
jüngeren Jahren umgedreht. 13,7 Prozent der männlichen, aber nur 7,6 Prozent der
weiblichen Viertklässler waren der Untersuchung zufolge schon in psychischer Be-
handlung. Unabhängig davon stellte man fest, dass etwa die Hälfte aller Erwachse-
nen den Beginn ihrer ersten Symptome einer psychiatrischen Störung vor dem 14.
Lebensjahr angibt. Diese Störungen bedingen auch, dass Kinder unter Umständen
nicht den Schulabschluss erreichen, der ihren kognitiven Fähigkeiten entspricht
(ebd., 235).

Ohne an dieser Stelle eine profunde Ursachenforschung betreiben zu wollen und auf
die sicherlich einflussnehmenden Faktoren des sozialen Wandels und der demogra-
fischen Entwicklung in unserer pluralistischen Gesellschaft näher einzugehen, sollen
hier verkürzend vier Kernaspekte benannt werden, die insbesondere im Zusammen-
spiel der verschiedenen Institutionen und Professionen im Sinne eines multiperspek-
tivischen Ansatzes ihre Beachtung finden sollten:

Abb. 1: Hauptursachen für psychische Devianz im Kindes- und Jugendalter (Leß-


meister, eigene Darstellung)

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• Ursache „Familie“:
Losgelöst von vorhandenen oder nicht vorhandenen Erziehungskompetenzen im
Elternhaus und unabhängig von sozialen Schichtzugehörigkeiten erhalten Kinder
die Veranlagung zu psychischen Erkrankungen sowie zu bestimmten Persönlich-
keitsmerkmalen von Ihren Eltern. Diese unter Umständen „genetische Vorbelas-
tung“, führt jedoch nicht regelmäßig zu einer psychischen Störung, sondern hängt
tatsächlich von vielfältigen Einflüssen ab. Traumatische Erlebnisse im Kindesalter,
wie z. B. der Tod eines Elternteils oder gar seelische oder körperliche Misshand-
lungen können dabei massiv belastend wirken und Störungsbilder zum Ausbruch
bringen.
Die oben zitierte Forschungsarbeit stellte in diesem Zusammenhang fest: „Lang-
fristig haben die sozialen und familiären Lebensumstände besonderes Gewicht.
Massive Entbehrungen und Überforderungen können genauso schädlich wirken
wie Unterforderung und Verwöhnung“ (ebd.). Die Bedeutung der Familie im Bezug
auf Erziehung, Bildung und strukturelle bzw. materielle Rahmenbedingungen
(steigende Zahlen von Trennungs- und Scheidungsfällen, von allein erziehenden
Eltern, vermehrte Berufstätigkeit von Mutter und Vater), hat deshalb eine zentrale
Bedeutung für die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter.

• Ursache „Traumatisierungen im Kindesalter“


Traumatische Erlebnisse in der Kindheit (wie z. B. sexueller Missbrauch, körperli-
che bzw. seelische Misshandlungen, Konflikte und Gewalt in der Familie, man-
gelnde Zuneigung, der Verlust eines Elternteils, chronische Krankheiten oder
mehrfache Operationen) sind häufig die Ursache für selbstverletzendes Verhalten
bzw. wirken begünstigend auf diese Art von Devianz. Solche belasteten Kinder
und Jugendliche leiden unter ihrer Vergangenheit und zeigen zunehmend Rück-
zugstendenzen und empfinden das „normale Leben“ als belastend.

• Ursache „Fehlende bzw. unkoordinierte Diagnostik und Therapie“


Psychisch deviante Kinder und Jugendliche durchlaufen naturgemäß in den ver-
schiedensten Altersstufen eine Vielzahl von medizinisch-therapeutischen, bil-
dungs- und pädagogischen Institutionen – sofern ihre Auffälligkeiten bekannt bzw.
diagnostiziert sind. Selbst bei Vorlage einer umfassenden Diagnostik und Anam-
nese wird vielerorts immer noch zu recht bemängelt, dass es an koordinierten
Netzwerken und Strukturen fehlt, die ein multiprofessionelles Vorgehen umfasst.
Ausgehend von den U-Untersuchungen des Kinderarztes, der Schuleingangsun-
tersuchung des Gesundheitsamtes, den Erkenntnissen des (Schul-)Psychologen
in der Kindertagesstätte bzw. Schule, den Therapieleistungen der Ergo-, Logo-
oder Mototherapeuten, den psychiatrischen Behandlungen der Kinder- und Ju-
gendpsychiatrien bis hin zur Gewährung der verschiedensten Eingliederungshil-
femaßnahmen durch das Jugendamt, befassen sich eine Vielzahl von Professio-
nen mit den einzelnen Auffälligkeiten des Kindes zu isoliert in ihrem jeweiligen be-
ruflichen Genre. Die engere Kooperation und Vernetzung der beteiligten Institutio-
nen ist in diesem Bereich vielerorts noch ausbaufähig, scheitert aber zuweilen an
administrativen Regularien und Zuständigkeitskompetenzen.

• Ursache „Therapiescheu und Stigmatisierungsängste der Eltern“


Viele Eltern scheuen noch immer den Gang zum Kinder- und Jugendpsychothera-
peuten und sind oft von falschem Stolz geprägt, professionelle Hilfe in Anspruch
zu nehmen. Die Ignoranz der Eltern in diesem Bereich ruft bei vielen Kindern

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massive psychische Probleme im Erwachsenenalter hervor. Aufgabe aller beteilig-
ten Institutionen muss es deshalb sein, diese Schwellenängste abzubauen und
präventiv Aufklärungsarbeit zu leisten. Hierbei kommt dem ganzheitlichen Ansatz
eine große Rolle zu. Kind bezogene Therapien und Handlungsansätze müssen in
den Familienverbund unter Einbeziehung der gesamten Familie transferiert wer-
den und die angewandten Methoden sollten sich immer an der persönlichen Situa-
tion des Kindes, an seinem Alter, seiner Entwicklung und seinem Milieu orientie-
ren. Hier sei nochmals erwähnt, dass für einen langfristigen Erfolg, eine interdiszi-
plinäre Behandlung, das heißt alle beteiligten Fachkräfte (Ärzte, Therapeuten,
Lehrer, Jugendamt) stimmen sich fachübergreifend ab, unerlässlich ist.

1.1. Rahmenbedingungen für psychisch beeinträchtigte Kinder im Kontext der


Jugendhilfe

In Folge der zuvor dargestellten Hauptursachen für psychisch beeinträchtigte Kinder


und Jugendliche benötigt dieser Personenkreis die vielfältigsten Hilfen, um ihre Teil-
habe am gesellschaftlichen Leben zu ermöglichen bzw. zu erleichtern. Diese Hilfen
werden im Rahmen der Jugendhilfe als so genannte Eingliederungshilfen bezeichnet
und beim Vorliegen einer bestehenden oder drohenden seelischen Behinderung be-
steht hierauf ein Rechtsanspruch nach § 35 a des Sozialgesetzbuches VIII. Die mög-
lichen Hilfen richten sich nach dem Bedarf des Einzelnen und können in folgenden
Formen geleistet werden:

Abb. 2: Hilfeformen nach § 35 a SGB VIII (Leßmeister, eigene Darstellung)

Demgegenüber sind Leistungen zur medizinischen Rehabilitation, die vornehmlich


auf die Beseitigung der seelischen Störung an sich zielen, durch Ärzte und Psycho-
therapeuten zu erbringen. In Ergänzung bzw. parallel hierzu werden in der Regel
auch nichtärztliche sozialpädiatrische, psychologische, heilpädagogische und psy-
chosoziale Leistungen im Überschneidungsbereich zwischen den gesetzlichen Kran-
kenkassen (SGB V) und der Jugendhilfe (SGB VIII) gewährt. Dieser Leistungs-
dschungel führt bei den Anspruchsberechtigten bzw. deren Eltern regelhaft zu einer
Überforderung in Bezug auf zuständigkeitsrechtliche Fragen bzw. verfügbare bzw.
geeignete Leistungsangebote. Als Hauptaufgabe sollte deshalb den örtlich zuständi-
gen Jugendämtern neben dem eigentlichen Leistungsauftrag auch eine umfassende
Beratungs- und Koordinierungsfunktion zukommen, um die verschiedenen Leistungs-
träger im Sinne einer besseren Transparenz für die Anspruchssteller entsprechend
zu vernetzen bzw. zu organisieren. In diesem Zusammenhang ist darauf hinzuwei-
sen, dass „angesichts der ständigen Entwicklung, in der sich junge Menschen befin-
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den, den Präventivmaßnahmen, die schon bei drohender Behinderung gewährt wer-
den, im Kinder- und Jugendbereich eine große Bedeutung zugesprochen wird“ (vgl.
Schwengers, 25). „Die Eingliederungshilfen seien umso effektiver, je früher sie ein-
setzen“ (vgl. Harnach-Beck, in: Jans, Happe, Saurbier, Maas, § 35 a Rn. 12).

Voraussetzung für die Gewährung von Eingliederungshilfemaßnahmen ist zunächst


die Feststellung der seelischen Behinderung beziehungsweise der drohenden seeli-
schen Behinderung durch einen so genannten Rehabilitationsträger, vorliegend das
Jugendamt. Im ersten Schritt muss für die Feststellung der Behinderung von medizi-
nischer Seite eine Definition der Abweichung von der alterstypischen seelischen Ge-
sundheit vorliegen. Die Stellungnahme ist auf der Grundlage der Internationalen
Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) in der vom Deutschen Institut für medizini-
sche Dokumentation und Information herausgegebenen deutschen Fassung zu ers-
tellen und darf nur von folgenden Fachkräften des Gesundheitswesens diagnostiziert
werden:

a) eines Arztes für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –psychotherapie,


b) eines Kinder- und Jugendpsychotherapeuten oder
c) eines Arztes oder eines psychologischen Psychotherapeuten, der über besonde-
re Erfahrungen auf dem Gebiet seelischer Störungen bei Kindern und Jugendli-
chen verfügt.

In diesem Zusammenhang muss von medizinischer Seite festgelegt werden, ob die


Problematik aus ärztlicher Sicht durch eine psychische Störung, eine geistige Behin-
derung oder eine körperliche Erkrankung bedingt ist oder ob eine Mehrfachbehinde-
rung vorliegt. Falls es sich um eine so genannte Mehrfachbehinderung handelt, d. h.
wenn die psychische Störung kombiniert mit einer körperlichen Erkrankung oder
geistigen Behinderung auftritt, ist je nach erforderlichem Leistungsanspruch eine Ab-
grenzung zur Sozialhilfe vorzunehmen. Das medizinische Gutachten beinhaltet dar-
über hinaus auch eine Einschätzung der sozialen Beeinträchtigung und nach Mög-
lichkeit eine konkrete Nennung des Förderungsbedarfs mit Vorschlägen zur Umset-
zung der Eingliederungshilfe – wohlgemerkt aus medizinischer Sicht. Eine Vorweg-
nahme der Entscheidung des Jugendamtes hinsichtlich der geeigneten und erforder-
lichen Eingliederungshilfemaßnahme – respektive der Teilhabeprüfung, soll aus-
drücklich nicht erfolgen.

Im zweiten Schritt kommt dem Jugendamt seine originäre Aufgabe in diesem Prüf-
verfahren zu, nämlich in Form einer eigenständigen Beurteilung der Teilhabe des
Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft durch die Fachkräfte des
Jugendamtes. Die Entscheidung beruht im Gegensatz zum ersten Schritt (Medizini-
sche Feststellungskompetenz) auf einer individualisierten Feststellung „aller“ am Hil-
feplanprozess beteiligten Fachkräfte im Jugendamt. Im Ergebnis muss die soziale
Beeinträchtigung der Eingliederung – insbesondere in den drei Lebensbereichen
Familie, Schule/Ausbildung und Freundeskreis/Gesellschaft – neben der Diagnostik
der Ärzte und Psychotherapeuten beschrieben werden. Diese so genannte sozialpä-
dagogische Diagnostik erfordert zum Teil eine umfangreiche Anamnese unter Beach-
tung der sozialräumlichen Aspekte und Bedingungen, die im Wirkungskreis des je-
weiligen Kindes bzw. Jugendlichen eine Rolle spielen. An dieser Schnittstelle hat das
Jugendamt nun zu prüfen, ob auf Grund des diagnostizierten psychischen Störungs-
bildes eine Kausalität zur Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemein-

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schaft vorliegt, was in der Folge die Einleitung von Eingliederungshilfemaßnahmen
und somit die Zuständigkeit der Jugendhilfe (nach § 35a SGB VIII) erfordert.
Entscheidend hierbei ist, dass die behinderungsrelevanten Aspekte zwischen der
Ebene der Körperfunktionen und Strukturen einerseits und dem Aktivitätsniveau an-
dererseits, vom Aspekt der Teilhabe (Partizipation) zuständigkeitshalber und fach-
spezifisch zu trennen sind. Das soziale und familiäre Umfeld, die verschiedenen Insti-
tutionen (Schule, Kindertagestätte, Ausbildungsstätte), die Peergroups bestimmen
den Grad der Eingliederung im Hinblick auf die Alltagsbewältigung, die soziale Inte-
gration, die schulische und berufliche Anpassung und die Interessen und Freizeitak-
tivitäten in vielfältiger Weise und haben auf Therapieverläufe und Integrationsmaß-
nahmen erfahrungsgemäß entscheidenden Einfluss. Diese Bereiche müssen nicht
zuletzt in präventiver Hinsicht meines Erachtens besser mit den Kernkompetenzen
der Kinder- und Jugendpsychiatrie vernetzt werden, um bestmögliche Erfolge auf
diesem Gebiet zu garantieren. Auf Grund der zum Teil völlig differenten bzw. nicht
präsenten regionalen Angebote im Bereich der Rehabilitation bzw. Therapie, insbe-
sondere in strukturschwachen bzw. ländlichen Regionen, sollte deshalb dem Hand-
lungsprinzip der Sozialraumorientierung folgend, die multiprofessionelle Bewältigung
der vorhandenen Probleme im Vordergrund stehen.

1.2. Sozialraumorientierte Eingliederungshilfe – Anspruch oder Utopie?

Die steigenden Zahlen psychischer Beeinträchtigungen im Kindes- und Jugendalter


stellen die Soziale Arbeit zunehmend auch „räumlich“ vor neue Herausforderungen.
In der Praxis der Jugendhilfe werden zu lange Wartezeiten in den Kinder- und Ju-
gendpsychiatrien bei stationären Aufnahmen bzw. diagnostischen Abklärungen und
generell fehlende Spezialeinrichtungen und eine ausreichende Anzahl von niederge-
lassenen Fachärzten vor Ort bemängelt. Gerade im psychiatrischen bzw. psychothe-
rapeutischen Bereich beschränkt sich die Angebotspalette vielerorts auf wenige zent-
rale Angebote, deren Erreichung für eine Vielzahl der Bevölkerung oft nur mit viel
Zeit- und Fahrt- und Kostenaufwand verbunden ist (vgl. Leßmeister, 101 ff.). Reutlin-
ger fordert deshalb zu Recht, dass „Soziale Arbeit räumlicher werden muss“ (vgl.
Reutlinger, 17) – oder wie er etwas moderater formuliert: „Die durchgängige Aufnah-
me der Raummetapher wird in unterschiedlichsten Feldern der Sozialen Arbeit als
Möglichkeit der Modernisierung von Organisationen und Methoden gesehen“ (ebd.).
Sozialraumorientierung wird in der aktuellen Fachdiskussion als eine Handlungsme-
thode der Sozialen Arbeit betrachtet (vgl. Spatscheck, 33). Je nach Theorie- oder
Entstehungskontext wird der Fachdiskurs jedoch sehr unterschiedlich geführt. Bezo-
gen auf die hier angesprochene Thematik, werden in der Sozialraumdebatte zwei
zentrale Handlungsprinzipien betont, die für das methodische Handeln bei der Lö-
sung sozialer Probleme orientierend verfolgt werden können und im Wesentlichen
auf Hinte (vgl. 2006, 9) aber auch auf Budde und Früchtel (2006) zurückgehen:

• Zielgruppen- und bereichsübergreifende Orientierung: Anstelle bürokratisch orga-


nisierter Hilfeformen, die nur streng innerhalb der beteiligten Institutionen und Äm-
ter verbleiben, sollten die Aktivitäten der Sozialen Arbeit zielgruppen- und be-
reichsübergreifend angelegt werden. Bei diesem auch als Entsäulung bezeichne-
ten Vorgehen sollten nicht mehr die institutionellen Strukturen sondern die konkre-
ten Bedarfe der AdressatInnen im Vordergrund stehen.
• Kooperation und Koordination verschiedener Angebote: Eine zentrale Aufgabe für
eine sozialräumliche Soziale Arbeit ist die Vernetzung und Integration verschiede-
ner sozialer Dienste und Beteiligten bezogen auf die in der Fallsituation nötigen

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Formen. Diese Anforderung an funktionierende Einzelhilfen wird auch mit Flexibili-
sierung (vgl. Budde/Früchtel 2006, 37 ff.) bezeichnet: Statt Hilfen „von der Stange“
sollen individuelle „Maßanzüge“ erstellt werden, die im kooperativen Verbund der
Träger und Institutionen entstehen (vgl. Spatscheck, 37).

Bezogen auf die Ausgangsfrage wird deutlich, dass das Konzept der Sozialraumori-
entierung neue Möglichkeiten und Wege erschließt, jedoch insbesondere im Bezug
auf die besondere Problematik mit psychisch beeinträchtigten Kindern und Jugendli-
chen weit über die Handlungsmethoden hinaus reicht und daher eher als Paradigma
verstanden werden sollte. Die beschriebenen Handlungsmethoden, die in der Sozial-
raumorientierung generell ihre berechtigte Beachtung finden, müssen im Hinblick auf
den Personenkreis der psychisch devianten Kinder und Jugendlichen konkretisiert
und vor allem differenzierter betrachtet werden. Ausgehend von der von Hinte im Zu-
sammenhang mit der Sozialraumdebatte geprägten Formel „Vom Fall zum Feld“, er-
scheint insbesondere im Spannungsfeld von Sozialraumorientierung und Rehabilita-
tion die veränderte Formel „der Fall im Feld“ die treffendere Formulierung zu sein
(vgl. Brommelmann, S.28). Die Nähe zum Lebensumfeld und zu kompetenten An-
sprechpartnern bzw. multiprofessionellen Institutionen wirken gerade in diesem Kon-
text inkludierend und können, wenn sowohl personell als auch infrastrukturell ausrei-
chend Ressourcen vorhanden sind, zur Integration seelisch behinderter Kinder und
Jugendlicher vor Ort beitragen. Sozialraumorientierte Arbeit kann dann auch in der
Lage sein, seelische Behinderungen aufzudecken, anzuerkennen und betroffenen
Familien einen angemessenen Umgang mit ihrer beeinträchtigten Situation zu er-
möglichen. Sozialraumorientierung isoliert betrachtet, hat im Bezug auf Rehabilitation
da ihre Grenzen, wo einzelne Fälle, sei es zeitlich oder finanziell, zu viel Einsatz for-
dern und damit „das Feld“, also die Arbeit im Sozialraum, die Angebote und das En-
gagement für andere Kinder und Jugendliche über das gebotene Maß einschränken.

1.3. Ausblick

Eine gut funktionierende Kooperation zwischen Therapeut/innen und Jugendhilfe bil-


det eine entscheidende Grundlage, um bestehende Barrieren der adäquaten Teilha-
be am Leben bei Kindern und Jugendlichen reduzieren und überwinden zu können
und ihnen somit eine altersentsprechende Weiterentwicklung in ihren Lebensräumen
zu ermöglichen (vgl. Mehler-Wex/ Warnke, 2004). Mechthild Wolff führt diesbezüglich
aus, dass die Weiterentwicklung der Kinder- und Jugendhilfe davon geprägt ist, sich
stets der selbstkritischen Überprüfung zu unterziehen, ob mit den bestehenden Me-
thoden und Institutionen richtige und ausreichend Antworten auf die Beseitigung von
Benachteiligungen in den Lebenslagen von Kindern und Jugendlichen gegeben wer-
den können (vgl. Wolff, 42). "Es besteht [...] für die Zukunft [...] die Aufgabe, eine
wohlverstandene umfassende Jugendhilfe für alle Probleme zu schaffen, die aus den
verschiedenen sozialen Bereichen während der Entwicklung von Kindern und Ju-
gendlichen entstehen können, durch ein einheitliches Jugendhilfegesetz, in dem nur
noch die Frage gestellt zu werden braucht, welcher Hilfen und Maßnahmen zur Wie-
dereingliederung bedarf ein Kind, ein Jugendlicher oder ein junger Mensch, ohne
gleichzeitig nach dem Kostenträger fragen zu müssen. Nur so sind lange, zu Lasten
der betroffenen Kinder und Jugendlichen gehende, und (darüber hinaus) teure Aus-
einandersetzungen auf Dauer zu vermeiden. Es bleibt allerdings eine Aufgabe des
Bundes, der Länder und der Gemeinden, für einen entsprechenden Ausgleich der
dazu notwendigen Ressourcen zu sorgen." Diese bereits 1995 von Lempp formulier-
te Aufforderung konnte leider bis heute nicht umgesetzt werden. Der Gesetzgeber

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hatte die so genannte „Große Lösung“ zwischenzeitlich tatsächlich verfolgt, scheiter-
te jedoch im Gesetzgebungsverfahren am Votum des Bundesrates, der den massi-
ven Widerständen der Elternverbände von körperlich und geistig behinderten Kindern
bzw. deren Trägerverbänden nachgab. Im Ergebnis entstand der scheinbar unprob-
lematische Kompromiss in Form der „Kleinen Lösung“, der nach wie vor Gesetzes-
stand ist, wonach die körperlich und geistig behinderten Minderjährigen weiterhin
dem Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfeträger zugeordnet bleiben. Bleibt zu hoffen,
dass die angestrebte „Große Lösung“ im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesre-
gierung innerhalb der Legislaturperiode 2009-2013 ihre Umsetzung findet und zu-
mindest zuständigkeitsrechtlich ein Stück weit mehr Transparenz in diesem Kontext
und ein weiterer Türöffner für mehr „räumliche“ Soziale Arbeit entsteht.

Literatur:

Brommelmann, A. (2001). Sozialräumliche Planung konkret – Unterschiedliche Pla-


nungsverständnisse, unterschiedliche Lösungen? In Fachforum: Sozialraumorientier-
te Planung der Regiestelle des E&C der Stiftung SPI (Sozialpädagogisches Institut
Berlin) in Braunschweig. Münster: Institut für Soziale Arbeit e. V.

Budde, W.; Früchtel, F.; Hinte, W. (Hrsg.). (2006). Sozialraumorientierung. Wege zu


einer veränderten Praxis. Wiesbaden: VS Verlag.

Hedebrand, J. et al. (2009). Forschungsbericht der deutschen Kinder- und Jugend-


psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie 2003-2008. In: Zeitschrift für Kinder-
und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie, 37(4), 229-366. Bern: Huber.

Hinte, W. (2006). Geschichte, Quellen und Prinzipien des Fachkonzepts


„Sozialraumorientierung“. In: Budde/Früchtel/Hinte (Hrsg.) Sozialraumorientierung.
Wege zu einer veränderten Praxis. Wiesbaden: VS Verlag, S. 7-24.

Jans, W.; Happe, G.; Saurbier, H.; Maas, U. (Hrsg.). (2003). Kinder- und Jugendhilfe-
recht, Kommentar, Lose-Blattsammlung. Stuttgart: Kohlhammer.

Lempp, R. (1995). Seelische Behinderung als Aufgabe der Jugendhilfe. § 35a SGB
VIII, 3. Auflage. Stuttgart.

Leßmeister, R. (2008). Jung auf dem Land: Landidylle oder Stadtflair – Sozialraum-
analyse zum Freizeitverhalten Jugendlicher im ländlichen Raum. In: Michael May /
Monika Alisch (Hrsg.): Praxis-Forschung-Sozialraum. Partizipative Projekte in ländli-
chen und urbanen Räumen. Opladen: Budrich, S. 101-122.

Mehler-Wex, C./ Warnke, A.: Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer see-
lischen Behinderung (§ 35a SGB VIII). In: Becker-Textor, I. & Textor, M. R. (Hrsg.):
SGB VIII - Online-Handbuch. URL: http://www.SGBVIII.de/S81.html (Zugriff:
18.09.2004)

Reutlinger, C. (2009): Raumdeutungen. In: Ulrich Deinet (Hrsg.): Methodenbuch So-


zialraum. Wiesbaden: VS Verlag., S. 17-32.

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Schwengers, C. (2007). Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Ju-
gendliche. Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar, Dresden: Boorberg.

Spatscheck, C. (2009): Theorie- und Methodendiskussion. In: Ulrich Deinet (Hrsg.):


Methodenbuch Sozialraum. Wiesbaden: VS Verlag., S. 33-44.

Wolff, M. (2002). Integrierte Hilfe vs. Versäulte Erziehungshilfen. Sozialraumorientie-


rung jenseits der Verwaltungslogik. In: Roland Merten (Hrsg.): Sozialraumorientie-
rung. Zwischen fachlicher Innovation und rechtlicher Machbarkeit. Weinheim und
München: Juventa, S. 41-52.

Autor:

Ralf Leßmeister
Fachbereichsleiter
Abt. Jugend und Soziales
M. A. (Soziale Arbeit)
Diplom-Verwaltungswirt (FH)
Lauterstraße 8
67657 Kaiserslautern
r.lessi@web.de

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