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Abstract
1. Die Ausgangslage
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Nach einer Untersuchung der Universitätsklinik Heidelberg, steigen bereits während
der Grundschulzeit die Zahl der Kinder mit psychischen Problemen stark an: Waren
von 4.000 untersuchten Erstklässlern 5,8 Prozent bereits einmal wegen psychischer
Probleme oder Verhaltensauffälligkeiten in Behandlung, betrug dieser Anteil bei einer
ebenso großen Zahl an Viertklässlern 10,6 Prozent. Ungeachtet dessen nahmen
vermeintlich unauffällige Symptomatiken, wie Nervosität, Anspannung und Konzen-
trationsprobleme während der Grundschulzeit ebenso zu wie Übelkeit, Bauchweh
und Kopfschmerzen, die im Übrigen isoliert betrachtet keine Relevanz für Interventi-
onen im jugendhilferechtlichen Kontext entfalten. Dieser Trend setzt sich im fort-
schreitenden Kindesalter fort. Etwa jeder fünfte Jugendliche gerät in der Pubertät in
eine psychische Krise. Stark zugenommen haben in den vergangenen 20 Jahren
Magersucht und andere Essstörungen sowie Angsterkrankungen. Vier Prozent der
jungen Leute leiden unter starken Depressionen – bis zu 4.000 Jugendliche setzten
im vergangenen Jahr ihrem Leben ein Ende (vgl. ebd.). Auch Störungen des Sozial-
verhaltens, Aufmerksamkeitsstörungen, motorische Unruhe, Tics und Zwangshand-
lungen zählen zu den häufigeren Diagnosen. Die Kumulation verschiedener psychi-
scher Belastungen führt zu Verstärkungen körperlicher Erkrankungen wie Asthma,
Neurodermitis, Magen- oder Darmbeschwerden. Sind ab der Pubertät deutlich mehr
Mädchen als Jungen von psychischen Problemen betroffen, ist dieses Verhältnis in
jüngeren Jahren umgedreht. 13,7 Prozent der männlichen, aber nur 7,6 Prozent der
weiblichen Viertklässler waren der Untersuchung zufolge schon in psychischer Be-
handlung. Unabhängig davon stellte man fest, dass etwa die Hälfte aller Erwachse-
nen den Beginn ihrer ersten Symptome einer psychiatrischen Störung vor dem 14.
Lebensjahr angibt. Diese Störungen bedingen auch, dass Kinder unter Umständen
nicht den Schulabschluss erreichen, der ihren kognitiven Fähigkeiten entspricht
(ebd., 235).
Ohne an dieser Stelle eine profunde Ursachenforschung betreiben zu wollen und auf
die sicherlich einflussnehmenden Faktoren des sozialen Wandels und der demogra-
fischen Entwicklung in unserer pluralistischen Gesellschaft näher einzugehen, sollen
hier verkürzend vier Kernaspekte benannt werden, die insbesondere im Zusammen-
spiel der verschiedenen Institutionen und Professionen im Sinne eines multiperspek-
tivischen Ansatzes ihre Beachtung finden sollten:
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• Ursache „Familie“:
Losgelöst von vorhandenen oder nicht vorhandenen Erziehungskompetenzen im
Elternhaus und unabhängig von sozialen Schichtzugehörigkeiten erhalten Kinder
die Veranlagung zu psychischen Erkrankungen sowie zu bestimmten Persönlich-
keitsmerkmalen von Ihren Eltern. Diese unter Umständen „genetische Vorbelas-
tung“, führt jedoch nicht regelmäßig zu einer psychischen Störung, sondern hängt
tatsächlich von vielfältigen Einflüssen ab. Traumatische Erlebnisse im Kindesalter,
wie z. B. der Tod eines Elternteils oder gar seelische oder körperliche Misshand-
lungen können dabei massiv belastend wirken und Störungsbilder zum Ausbruch
bringen.
Die oben zitierte Forschungsarbeit stellte in diesem Zusammenhang fest: „Lang-
fristig haben die sozialen und familiären Lebensumstände besonderes Gewicht.
Massive Entbehrungen und Überforderungen können genauso schädlich wirken
wie Unterforderung und Verwöhnung“ (ebd.). Die Bedeutung der Familie im Bezug
auf Erziehung, Bildung und strukturelle bzw. materielle Rahmenbedingungen
(steigende Zahlen von Trennungs- und Scheidungsfällen, von allein erziehenden
Eltern, vermehrte Berufstätigkeit von Mutter und Vater), hat deshalb eine zentrale
Bedeutung für die Entwicklung im Kindes- und Jugendalter.
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massive psychische Probleme im Erwachsenenalter hervor. Aufgabe aller beteilig-
ten Institutionen muss es deshalb sein, diese Schwellenängste abzubauen und
präventiv Aufklärungsarbeit zu leisten. Hierbei kommt dem ganzheitlichen Ansatz
eine große Rolle zu. Kind bezogene Therapien und Handlungsansätze müssen in
den Familienverbund unter Einbeziehung der gesamten Familie transferiert wer-
den und die angewandten Methoden sollten sich immer an der persönlichen Situa-
tion des Kindes, an seinem Alter, seiner Entwicklung und seinem Milieu orientie-
ren. Hier sei nochmals erwähnt, dass für einen langfristigen Erfolg, eine interdiszi-
plinäre Behandlung, das heißt alle beteiligten Fachkräfte (Ärzte, Therapeuten,
Lehrer, Jugendamt) stimmen sich fachübergreifend ab, unerlässlich ist.
Im zweiten Schritt kommt dem Jugendamt seine originäre Aufgabe in diesem Prüf-
verfahren zu, nämlich in Form einer eigenständigen Beurteilung der Teilhabe des
Kindes oder Jugendlichen am Leben in der Gesellschaft durch die Fachkräfte des
Jugendamtes. Die Entscheidung beruht im Gegensatz zum ersten Schritt (Medizini-
sche Feststellungskompetenz) auf einer individualisierten Feststellung „aller“ am Hil-
feplanprozess beteiligten Fachkräfte im Jugendamt. Im Ergebnis muss die soziale
Beeinträchtigung der Eingliederung – insbesondere in den drei Lebensbereichen
Familie, Schule/Ausbildung und Freundeskreis/Gesellschaft – neben der Diagnostik
der Ärzte und Psychotherapeuten beschrieben werden. Diese so genannte sozialpä-
dagogische Diagnostik erfordert zum Teil eine umfangreiche Anamnese unter Beach-
tung der sozialräumlichen Aspekte und Bedingungen, die im Wirkungskreis des je-
weiligen Kindes bzw. Jugendlichen eine Rolle spielen. An dieser Schnittstelle hat das
Jugendamt nun zu prüfen, ob auf Grund des diagnostizierten psychischen Störungs-
bildes eine Kausalität zur Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gemein-
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schaft vorliegt, was in der Folge die Einleitung von Eingliederungshilfemaßnahmen
und somit die Zuständigkeit der Jugendhilfe (nach § 35a SGB VIII) erfordert.
Entscheidend hierbei ist, dass die behinderungsrelevanten Aspekte zwischen der
Ebene der Körperfunktionen und Strukturen einerseits und dem Aktivitätsniveau an-
dererseits, vom Aspekt der Teilhabe (Partizipation) zuständigkeitshalber und fach-
spezifisch zu trennen sind. Das soziale und familiäre Umfeld, die verschiedenen Insti-
tutionen (Schule, Kindertagestätte, Ausbildungsstätte), die Peergroups bestimmen
den Grad der Eingliederung im Hinblick auf die Alltagsbewältigung, die soziale Inte-
gration, die schulische und berufliche Anpassung und die Interessen und Freizeitak-
tivitäten in vielfältiger Weise und haben auf Therapieverläufe und Integrationsmaß-
nahmen erfahrungsgemäß entscheidenden Einfluss. Diese Bereiche müssen nicht
zuletzt in präventiver Hinsicht meines Erachtens besser mit den Kernkompetenzen
der Kinder- und Jugendpsychiatrie vernetzt werden, um bestmögliche Erfolge auf
diesem Gebiet zu garantieren. Auf Grund der zum Teil völlig differenten bzw. nicht
präsenten regionalen Angebote im Bereich der Rehabilitation bzw. Therapie, insbe-
sondere in strukturschwachen bzw. ländlichen Regionen, sollte deshalb dem Hand-
lungsprinzip der Sozialraumorientierung folgend, die multiprofessionelle Bewältigung
der vorhandenen Probleme im Vordergrund stehen.
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Formen. Diese Anforderung an funktionierende Einzelhilfen wird auch mit Flexibili-
sierung (vgl. Budde/Früchtel 2006, 37 ff.) bezeichnet: Statt Hilfen „von der Stange“
sollen individuelle „Maßanzüge“ erstellt werden, die im kooperativen Verbund der
Träger und Institutionen entstehen (vgl. Spatscheck, 37).
Bezogen auf die Ausgangsfrage wird deutlich, dass das Konzept der Sozialraumori-
entierung neue Möglichkeiten und Wege erschließt, jedoch insbesondere im Bezug
auf die besondere Problematik mit psychisch beeinträchtigten Kindern und Jugendli-
chen weit über die Handlungsmethoden hinaus reicht und daher eher als Paradigma
verstanden werden sollte. Die beschriebenen Handlungsmethoden, die in der Sozial-
raumorientierung generell ihre berechtigte Beachtung finden, müssen im Hinblick auf
den Personenkreis der psychisch devianten Kinder und Jugendlichen konkretisiert
und vor allem differenzierter betrachtet werden. Ausgehend von der von Hinte im Zu-
sammenhang mit der Sozialraumdebatte geprägten Formel „Vom Fall zum Feld“, er-
scheint insbesondere im Spannungsfeld von Sozialraumorientierung und Rehabilita-
tion die veränderte Formel „der Fall im Feld“ die treffendere Formulierung zu sein
(vgl. Brommelmann, S.28). Die Nähe zum Lebensumfeld und zu kompetenten An-
sprechpartnern bzw. multiprofessionellen Institutionen wirken gerade in diesem Kon-
text inkludierend und können, wenn sowohl personell als auch infrastrukturell ausrei-
chend Ressourcen vorhanden sind, zur Integration seelisch behinderter Kinder und
Jugendlicher vor Ort beitragen. Sozialraumorientierte Arbeit kann dann auch in der
Lage sein, seelische Behinderungen aufzudecken, anzuerkennen und betroffenen
Familien einen angemessenen Umgang mit ihrer beeinträchtigten Situation zu er-
möglichen. Sozialraumorientierung isoliert betrachtet, hat im Bezug auf Rehabilitation
da ihre Grenzen, wo einzelne Fälle, sei es zeitlich oder finanziell, zu viel Einsatz for-
dern und damit „das Feld“, also die Arbeit im Sozialraum, die Angebote und das En-
gagement für andere Kinder und Jugendliche über das gebotene Maß einschränken.
1.3. Ausblick
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hatte die so genannte „Große Lösung“ zwischenzeitlich tatsächlich verfolgt, scheiter-
te jedoch im Gesetzgebungsverfahren am Votum des Bundesrates, der den massi-
ven Widerständen der Elternverbände von körperlich und geistig behinderten Kindern
bzw. deren Trägerverbänden nachgab. Im Ergebnis entstand der scheinbar unprob-
lematische Kompromiss in Form der „Kleinen Lösung“, der nach wie vor Gesetzes-
stand ist, wonach die körperlich und geistig behinderten Minderjährigen weiterhin
dem Zuständigkeitsbereich der Sozialhilfeträger zugeordnet bleiben. Bleibt zu hoffen,
dass die angestrebte „Große Lösung“ im Koalitionsvertrag der aktuellen Bundesre-
gierung innerhalb der Legislaturperiode 2009-2013 ihre Umsetzung findet und zu-
mindest zuständigkeitsrechtlich ein Stück weit mehr Transparenz in diesem Kontext
und ein weiterer Türöffner für mehr „räumliche“ Soziale Arbeit entsteht.
Literatur:
Jans, W.; Happe, G.; Saurbier, H.; Maas, U. (Hrsg.). (2003). Kinder- und Jugendhilfe-
recht, Kommentar, Lose-Blattsammlung. Stuttgart: Kohlhammer.
Lempp, R. (1995). Seelische Behinderung als Aufgabe der Jugendhilfe. § 35a SGB
VIII, 3. Auflage. Stuttgart.
Leßmeister, R. (2008). Jung auf dem Land: Landidylle oder Stadtflair – Sozialraum-
analyse zum Freizeitverhalten Jugendlicher im ländlichen Raum. In: Michael May /
Monika Alisch (Hrsg.): Praxis-Forschung-Sozialraum. Partizipative Projekte in ländli-
chen und urbanen Räumen. Opladen: Budrich, S. 101-122.
Mehler-Wex, C./ Warnke, A.: Diagnostische Möglichkeiten zur Feststellung einer see-
lischen Behinderung (§ 35a SGB VIII). In: Becker-Textor, I. & Textor, M. R. (Hrsg.):
SGB VIII - Online-Handbuch. URL: http://www.SGBVIII.de/S81.html (Zugriff:
18.09.2004)
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Schwengers, C. (2007). Eingliederungshilfen für seelisch behinderte Kinder und Ju-
gendliche. Stuttgart, München, Hannover, Berlin, Weimar, Dresden: Boorberg.
Autor:
Ralf Leßmeister
Fachbereichsleiter
Abt. Jugend und Soziales
M. A. (Soziale Arbeit)
Diplom-Verwaltungswirt (FH)
Lauterstraße 8
67657 Kaiserslautern
r.lessi@web.de