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Reprint

1999 Cyberfiktion &


Gesamtdatenwerk
Die Hoffnung auf eine Renaissance 2.0, ein früher Nachruf auf die
Hypertextbewegung und der lange Weg zum Holodeck: Ein Essay über
die Digitalisierung der Medien und Künste um die Wende zum 21.
Jahrhundert, geschrieben 1999 für die Festschrift zu Eberhard Läm-
merts 75. Geburtstag.

Von Gundolf S. Freyermuth

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In Silicon Valley samt Umgebung, und


zu dieser Umgebung zählt der globale
Cyberspace, schwärmt man seit einiger
Zeit von der Renaissance v2.0. „It‘s now
received wisdom among the Valley elite
that they‘ve created the Florence — and
are themselves the Florentines — of
our times“, summierte Simon Firth in
Salon die euphorische Selbstsicht des
neuen Cyberbürgertums. Und zweifellos
gehört zu den Begleiterscheinungen
des Aufstiegs der virtual class,
wie ihn das Cyber-Soziologenpaar
Arthur und Marilouise Kroker voller
Angstlust prophezeit, ein explosives
Kreativitätsgemisch, das die Stagnation
der postmodern dahinmodernden

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Moderne rücksichtslos attackiert. Ob die Digitalisierung aber, wie Daniel Pinchbeck


bereits 1994 in Wired behauptete, nichts weniger als „the Second Renaissance“ kreiert
und damit den Sprung auf die nächste Zivilisationsstufe, wie Douglas S. Robertson in
The New Renaissance (1998) argumentierte?

Dem eigenen Anspruch nach will sie virtuell sein. Der Cyberspace ist ihre soziale
und ästhetische frontier. In ihm entwickeln sich die neuen Verhaltens- und
Wahrnehmungsformen der digitalen Epoche, und wesentlich in ihm soll die Renaissance
v2.0 geschehen, die behauptete Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst, von
Geschäft und Geist. Ihre Werke zielen nicht auf große Architektur, sie wollen virtuelle
Räume und Datenlandschaften entwerfen. Als neue Renaissancemenschen, als
individualistische Talente, die für die Synthese von Kunst und Technik stehen, figurieren
nicht Baumeister und Maler, nicht Gelehrte oder Kaufleute, sondern Geeks und Nerds,
Programmierer und Hacker, die Elite hochqualifizierter Datenhandwerker und HTML-
Artisten, ohne die der Cyberspace nicht existierte.

Die Künstler müssen lernen, Software zu schreiben und Computer zu bedienen und
werden daher wieder Techniker, wie sie es zu Renaissancezeiten waren, meint Ronald
Jones, Leiter des Digital Media Center an der Columbia University. Brenda Laurel

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vergleicht die Virtual-Reality-Techniken, deren Ausbildung wir gegenwärtig beobachten,


mit der (Wieder-)Geburt des Theaters in der Frührenaissance, als das Drama aus der
textuellen Repräsentation in den Klöstern aus- und mit der Commedia dell’Arte in
den Alltag einbrach. Nicht anders, als damals ein „coming together of text, body and
narrative polyphony“ den Weg für Shakespeare und das moderne Theater bereitete,
eröffne heute Virtual Reality einen neuen dramatischen Horizont: „[…] by inviting
the body and the senses into our dance with our tools, it has extended the landscape
of interaction to new topologies of pleasure, emotion and passion.“ Auch für die
Bildenden Künste werde das Ergebnis dieser virtuellen Erneuerung revolutionär sein,
prognostiziert der Kunsthistoriker Jonathan Crary: „a transformation in the nature of
visuality probably more profound than the break that separates medieval imagery from
Renaissance perspective.“

Die Grundvoraussetzung für den Anbruch der Renaissance v2.0 wird allgemein in
dem epochalen Paradigmenwechsel gesehen, den die Digitalisierung bedeutet. Sie
zerstört die analoge Basis, das Material und die Werkzeuge der Künste. Geschriebene,
gesprochene oder gesungene Worte, stehende und laufende, inszenierte und
dokumentarische Bilder verwandeln sich mit ihrer Digitalisierung in dieselben Bits. Die

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tradierten Aufzeichnungstechniken verlieren dabei die spezifische Widerständigkeit, die


sie in der Welt der Atome besaßen. Mit der Digitalisierung der Künste hört ihr Material
auf, materiell zu sein.

An die Stelle der verlorenen Materialität tritt eine gemeinsame Signalbasis, ein
isomorphischer Repräsentationskode. „In a digital universe“, schreibt Richard
A. Lanham, „word, sound, and image share a common notation. They are, at a
fundamental level, convertible into one another.“ Die Souveränität, mit der sich
nun intra- und intermedial manipulieren lässt, trennt die digitalen beziehungsweise
digitalisierten Künste und Medien radikal von ihren analogen Vorgängern. Nicht
allein die Grundfesten einzelner Kunstübungen werden so erschüttert, sondern die
überkommene Ordnung der Künste selbst, auf der die Institutionen basieren, die sie
vertreiben und sammeln, kritisch begleiten und lehren.

Cyberoptikum. Eine Bestandsaufnahme


Die spektakulärsten Konsequenzen lassen sich bislang in der Produktion laufender
Bilder beobachten. Die Entwicklung kommt einer Neuerfindung des Fernsehens
wie des Kinos gleich. Im Prinzip sind Filmemacher nicht mehr darauf angewiesen,

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materielle Wirklichkeit — ob nun dokumentarisch vorgefunden oder selbst inszeniert


— reproduzierend aufzuzeichnen. Stattdessen können sie gefilmte Szenen beliebig
modifizieren, und sie können ebenfalls, wie zuvor nur Maler oder Schriftsteller,
komplette Szenen imaginieren und im Computer fotorealistisch produzieren.

Die Veränderung transzendiert Praktisches. Seit es Filmtheorie gibt, hat sie stets die
prinzipielle Abhängigkeit von der physischen Realität zum essentiellen Kennzeichen
der Kinokunst erklärt — von Béla Balázs’ Entdeckung des „sichtbaren Menschen“
über Siegfried Kracauers einflussreiches Theorem von der „Errettung der äußeren
Wirklichkeit“ bis zu den semiologischen Theorien der jüngeren Vergangenheit. Unter
digitalen Bedingungen ist der Film aber nicht länger, wie Kracauer einst schreiben
konnte, „die einzige Kunst, die ihr Rohmaterial mehr oder weniger intakt lässt“. Die
Digitalisierung verwandelt das Kino kategorial: von einer abbildenden zu einer —
potentiell — Bildenden Kunst.

Von besonders weitreichender Bedeutung ist dabei die fotorealistische Erzeugung von
Synthespians, virtuellen Schauspielern, die Einzelbild für Einzelbild gemalt, durch
motion capture animiert oder auch bereits teilautonom durch Bewegungsprogramme
belebt werden. Dieses gesteigerte Interesse an virtuellen Kunstwesen teilen die

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Filmemacher mit fast allen digitalen Künstlern, etwa mit den Programmierern und
Produzenten von Video- und Computerspielen oder von Online-MUDs, von virtuellen
oder dreidimensionalen Themenpark-Rides. Die Technik, die im Begriff ist, Synthespians
mit rudimentären Reflexen und interaktiver Intelligenz auszustatten und sie gar
holographisch-realistisch auch in die Dreidimensionalität zu bringen, wird wesentlich in
der militärischen und industriellen Simulationsforschung entwickelt. Die innovativsten
Impulse zur Konstruktion virtuellen Lebens kommen jedoch von der Bildenden Kunst.

Deren rapide Adaptation an die digitale Technik hat binnen weniger Jahre erstaunliche
Experimente hervorgebracht. Vor allem die CyberArt erlebt gegenwärtig ihre
Gründerjahre. Werke aus Farbe und Licht, Fotos und Videos, Poesie und Musik,
VRML- oder Java-getriebene Sites erfüllen die Netze. Neben kreativen Fortsetzungen
klassischer Avantgardekunst finden sich kollaborative Produktionen, telematische
Installationen sowie — an der vordersten Front der CyberArt — immersive Umwelten,
sogenannte „soziale Skulpturen“, wie sie noch zu Beginn der neunziger Jahre technisch
unmöglich gewesen wären.

Diese Cyberinstallationen, glaubt Roy Ascott, ein Pionier der telematischen Kunst und
Leiter des walisischen Centre for Advanced Inquiry in the Interactive Arts, entwickeln

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und gestalten eine neue Weltsicht, sie arbeiten daran, eine Wahrnehmungsbrücke
zwischen realer und virtueller Welt zu schlagen. Die neue Sinnlichkeit, in der unsere
Erfahrung der materiellen, geographisch verorteten Welt mit der des virtuellen,
entorteten Kommunikationsraums verschmilzt, nennt Ascott „Cyberzeption“: „Hitherto,
we thought and saw things in a linear manner, one thing after another, one thing hidden
behind another, leading to this or that finality […] But cyberception means getting a
sense of a whole, acquiring a bird‘s eye view of events, the astronaut‘s view of the
earth, the cybernaut‘s view of systems.“

Wie die Rede vom Brückenschlag allerdings andeutet, beschränken sich gerade die
avanciertesten Experimente der High-Tech-Avantgarde nicht auf den Cyberspace,
sondern versuchen vielmehr, Daten- und Realraum zu integrieren. Wesentlich dafür
sind Werke der Installationskunst. Diese Sparte der traditionellen Moderne hat die
Technikgeschichte in Eilschritten nachvollzogen: von mechanischen Apparaten und
Dampfmaschinen über Elektromotoren und elektronische Gerätschaften hin zu
Computern. Mit Maschinenmobiles, den begehbaren Installationen oder Videowänden
der sechziger und siebziger Jahre, haben die Mensch-Maschinen-Interface-Werke
der Gegenwart, computergestützte Licht- und Laserskulpturen, „intelligente“

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Ambiente und Virtual-Reality-Räume, kaum noch etwas gemein. Sie zielen vielmehr
auf eine interaktive und immersive Erfahrung, wie sie sich gleichzeitig in den
fortgeschrittensten Produkten der Unterhaltungsindustrie ankündigt.

Die ästhetischen und thematischen Parallelen zwischen dem digitalen Kino und
der Hightech-Kunst auf der einen Seite und der digitalen Jahrmarktskunst auf der
anderen fallen ins Auge; konkret: zwischen dem digitalen Kino und Computer- oder
Videospielen; zwischen sozialen Skulpturen der CyberArt und MUDs; zwischen Hightech-
Installationen und Themenpark-Attraktionen beziehungsweise virtuellen Rides. Gerade
die krudesten Erscheinungen in der aktuellen Massenunterhaltung erinnern dabei an
die Anfänge des Films — bevor eben Künstler wie Chaplin, Eisenstein oder Griffith eine
Formsprache schufen, die es erlaubte, subtilere Inhalte auszudrücken.

Die Entwicklung birgt jedoch nicht nur ungeheures Potential. Vielen, wenn nicht
den meisten Ansätzen zu neuen Ausdrucksformen wird es beschieden sein, als toter
Seitenstrang in der medialen und ästhetischen Evolution zu enden. Wie schnell und
erbarmungslos die Selektion am globalen Markt des Cyberspace erfolgt, ließ sich in
den vergangenen Jahren dutzendfach beobachten; etwa am Beispiel der sogenannten
Websodien oder Websoaps. Sie waren Fernsehserien nachgebildet und verbanden

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bisweilen recht literarische Hypertexte mit Grafikelementen, Fotografien, Ton- und


Videoschnipseln. Auf dem Höhepunkt der Welle zwischen 1995 und 1996 stellten
über einhundert Websodien regelmäßig neue Folgen ins Netz; heimgestrickte ebenso
wie professionell produzierte, die über 100 000 Dollar pro Installation kosteten.
Gegenwärtig sind die meisten Exemplare der Gattung, wenn überhaupt noch, einzig
mumifiziert im Datenraum zu besichtigen.

Ein ähnliches Schicksal zeichnet sich für eine der frühesten digitalen Kunstübungen ab,
die Hypertextliteratur. Ihre kurze Geschichte kann Aufschluss gewähren über die Irr-
und Umwege in der Ausbildung neuer digitaler Erzählformen.

Hypertext. Ein Blick zurück


Cyberliteraten haben im vergangenen Jahrzehnt per Computer Ausdrucksmöglichkeiten
erschlossen, die der Literatur unter analogen Bedingungen nicht zur Verfügung
stehen. Zentrales ästhetisches Mittel ist dabei Hypertext. Er verknüpft eine Vielzahl
von Textpassagen netzartig durch Softwarelinks, die in den Texten als „hot spots“
hervorgehoben sind. Damit entstehen literarische Gebilde, die sprengen, was ihre
Autoren als die Fesseln der Linearität empfinden. Geschichten werden nicht länger

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von Anfang bis Ende durch erzählt. Der


„Leser“, der sich durch das Gewebe
portionierter Textbausteine einen je
eigenen Weg klickt, wird idealiter zum
Ko-Autor seiner narrativen Erfahrungen.

Die hoch gelobten Pionierleistungen


des Genres sind samt und sonders
englischsprachig: Michael Joyces
„Afternoon” (1989), Stuart Moulthrops
„Victory Garden“ (1991), Robert
Coovers „Hypertext Hotel“ (1994),
Shelley Jacksons „Patchwork Girl“
(1995), Geoff Rymans „253“ (1997) und
Mark Amerikas „Grammatron“ (1997).
Was auf deutsch bislang entstand,
hinkte ein paar Jahre hinterher und
neigte in der Regel zum Epigonalen.

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So gering die Zahl der Hyperfiktionen bis heute ist, die Bewegung ist dennoch eine
Erfolgsgeschichte; nicht am Markt, wohl aber bei den literarischen Institutionen. Die
nämlich haben ihr anfängliches Erschrecken überwunden und die neue Avantgarde
hektisch umarmt. Sympathetische Kritiker und Literaturwissenschaftler wie George
P. Landow meinen, Hypertext werde weitgehende kulturelle Veränderungen
auslösen, „just as radical as those produced by Gutenberg‘s movable type.“
Hypertext-Experimente sind in die Norton Anthology of Postmodern American Fiction
aufgenommen worden, was einer Kanonisierung gleichkommt, und sie werden
großzügig subventioniert, vom amerikanischen National Endowment of the Arts bis
zur schweizerischen Migros-Kulturstiftung. Allein vom Arts Council of England wurden
1998 sechsstellige Förderungsbeträge für Writer’s in Residence-Programme und Online-
Workshops zur Verfügung gestellt. Computerfirmen wie Apple und IBM, Verlage wie
die New York University Press und Zeitschriften wie die Zeit finanzieren einschlägige
Veranstaltungen und Wettbewerbe.

Für die vergleichsweise bereitwillige Annahme der Hypertextliteratur durchs


literarische Establishment gibt es, darf man vermuten, einen doppelten Grund:
Ihre schiere Existenz appelliert an die Vorlieben und Vorurteile sowohl der

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kulturkonservativen wie der postmodernen Fraktionen. Auf die einen, die


traditionalistischen Bilderfeinde, wirkt die Vorstellung beruhigend, dass die als
Bedrohung empfundenen Entwicklungen im Bereich der neuen Medien von einem
Literarisierungsprozess begleitet und abgefedert werden. Die anderen wiederum,
die Poststrukturalisten und Dekonstruktivisten, die nicht nur an amerikanischen
Universitäten den Ton angeben, begeistert an den hypertextuellen Produkten, wie brav
da ihre Lieblingsthesen literarisch ausgemalt werden: Der patriarchalische Autor wird
entmachtet, die rigide autoritäre Linearität des Textes destabilisiert, die Einheit des
monolithischen Werks aufgelöst, der Kreativitätsprozess enthierarchisiert, der passive
Leser demokratisch zum Mitschöpfer und Sinn(ko)produzenten befördert. Hypertext
fungiere für postmoderne Literaturkritiker, schreibt Landow entsprechend zufrieden,
als „a laboratory with which to test their ideas“.

Längst jedoch steckt die Hypertext-Bewegung, ihren institutionellen Erfolgen zum


Trotz, in einer ästhetischen Krise. Die Netze, an deren Anfang das geschriebene Wort
stand, simpler ASCII-Text, haben ihren schriftzentrierten Charakter verloren und
sich rasant zu einem multimedialen Datenraum entwickelt. Ein Großteil der schnell
gealterten Avantgarde stemmt sich freilich trotzig gegen die vermeintlichen Gefahren

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einer Breitband-Zukunft. „Text-based virtuality will never go away. If you describe


yourself as ‚the scent of a rose on a hot summer‘s day,‘ that‘s an immediate sensory
communication. To do that with a graphical avatar, you have to be a really wonderful
artist“, sagt etwa Sue Thomas, Leiterin der Cyberkünstler-Online-Community trAce —
und spricht damit eine unangenehme Wahrheit aus: dass Hypertextliteratur heute oft
ein Mittel ist, es sich leicht zu machen, um kein „really wonderful artist“ werden zu
müssen.

Die rückwärtsgewandten Argumente, mit denen Hypertext-Adepten ihre technisch


retardierten Kunstübungen rechtfertigen, erinnern verblüffend an jene, die in den
zwanziger Jahren von ebenso ex-avantgardistischen Anhängern des Stummfilms
vorgebracht wurden. Damals verteidigten Kritiker, Philosophen, ja selbst Filmemacher
das stumme Kino gegen den heraufziehenden Tonfilm. Dass man sich der Schrift
bedienen musste, um Geschichten zu erzählen und um die Dialoge der Charaktere zu
vermitteln, darin sah man keine technische Behinderung, sondern eine ästhetische
Stärke. Gemeinsam mit den Reklameschriftzügen und politischen Plakaten, die mit
Anbruch einer demokratischen Konsumentenkultur das Stadt- und Landschaftsbild

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zu prägen begannen, schienen die Zwischentitel Teil eines modernen Trends zur
Literarisierung.

Aus heutiger Sicht fällt es leicht zu erkennen, dass die Stummfilme keineswegs stumm
waren, weil das einzigartige künstlerische Effekte ermöglichte. Sie waren schlicht
stumm, weil die Tonspur noch nicht erfunden war. Denn für eine dramatische Kunst wie
das Kino ist eine fiktive Welt, in der die Menschen sich verbal konfrontieren können,
eine bessere Welt. Sobald es nur technisch möglich war, verschwand die Schrift aus
dem Kino.

Die Parallelen zur aktuellen Hypertext-Debatte sind schwer zu übersehen. In der


Vernetzung einen Trend zur Literarisierung zu erkennen, nur weil die real existierende
Bandbreite für einen historischen Augenblick textzentrierte Formen begünstigt, ist
derselbe schriftgläubige Irrtum in neuem Gewand. Hyperlinks leisten Einzigartiges
in der Integration heterogener Gattungen und Medien. In den Werken der CyberArt
etwa verweben sie Schrift und Bild, Sprach-, Ton- und Videodokumente zu einem
einheitlichen Informationsraum, wie er in analogen Medien und ohne Hyperlinks nicht
entstehen könnte. In den Hypertexterzählungen jedoch werden Links zum genau
gegenteiligen Zweck eingesetzt: nicht um heterogenes Material zu verbinden, sondern

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um das spezifische Kontinuum einer rein sprachlichen Erzählung zu zerschlagen.


Diese häppchenweise Portionierung von Texten und ihre zwangsläufig nicht stringente
Verwebung sind für literarisches Erzählen so störend, wie es einst die Zwischentitel für
den Fluss der Filmbilder waren.

Die Kluft zwischen dem hohen Anspruch und der Bescheidenheit der Resultate zeigt
sich mit besonderer Deutlichkeit in der behaupteten Interaktivität und der angeblichen
Ermächtigung des Lesers, der sich seinen eigenen Text weben könne. Denn dass der
Leser hier und da an vorgeschriebenen Stellen klicken darf, befördert ihn nicht zum Ko-
Autor, sondern reduziert seine Rolle auf die einer Labormaus im künstlichen Labyrinth.
So manches Computerspiel, selbst jedes Kursbuch der Bundesbahn ist, was das
Erfassen komplexer Zusammenhänge angeht, von aufklärerischerem Wert. Dass in den
vergangenen zwei, drei Jahren eine wachsende Zahl von Hypertextliteraten zudem ihre
Werke mit Bild-und-Ton-Schnickschnack zu multimedialisieren suchte, ohne mit den
textzentrierten Strukturen zu brechen — Mark Amerikas „Grammatron“ ist dafür das
aufwendigste Beispiel —, macht die prekäre Situation des Genres nur umso deutlicher.

Hypertexterzählungen erscheinen derweil schlicht als eine bandbreitenbehinderte


Vorform entwickelterer Cyberfiktionen, die so multimedial sein werden, wie es der

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Datenraum erlaubt und verlangt. Das geschriebene Wort wird in ihnen präsent sein —
als ein Element unter anderen und nicht mehr wie in der Hypertextliteratur als Sonne,
um die die anderen Künste planetengleich kreisen.

Cyberfiktion. Ein Blick nach vorn


Prognosen, wenn sie die Zukunft schon nicht nach eigenen Hoffnungen und Ängsten
modellieren, tendieren mit einer gewissen Zwangsläufigkeit dazu, aktuelle und nur zu
oft kurzfristige Trends schlicht fortzuschreiben. Im Auf und Ab, im rasanten Werden
und Vergehen der neuen Kunstübungen und Unterhaltungsformen lassen sich jedoch
seit Mitte der achtziger Jahre einige auffällig dominierende Tendenzen ausmachen.
Ihre Beständigkeit und der Umstand, dass sie sich in der letzten Zeit, durch technische
Fortschritte beflügelt, noch verstärkt haben, erlauben drei halbwegs gesicherte
Feststellungen über die Evolution zukünftiger Cyberfiktionen.

Zum einen wird — ob in der CyberArt oder in Games, ob im Imax-Kino oder in


den künstlichen Umwelten des Internet, ob in der Highyech-Kunst oder in den
Themenparkinstallationen — Immersion erstrebt, ästhetische Erfahrungen, die den
Rezipienten vom Betrachter oder Spieler tendenziell in einen Teilnehmer verwandeln.

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Zum zweiten bemühen sich dabei die avanciertesten Werke und Produkte um eine
durchgeführtere Narrativik, als sie mit Ausnahme des Kinos in allen oben erwähnten
Medien und Gattungen bislang üblich war. Dieses Streben nach entwickelter
Interaktivität und zu integrierter Multimedialität, nach dramatisch strukturierten
Collagen und Assemblagen heterogenen Medienmaterials ist allgegenwärtig. Ein
spektakuläres Beispiel geben die — meist auf Filmen basierenden — virtuellen Rides.
Sie haben sich im vergangenen Jahrzehnt, dank digitaler Technik, von der Akkumulation
spektakulärer Thrills emanzipiert und schreiten von der reinen Jahrmarktssensation zu
immersiven Umwelten und rudimentären Erzählformen fort.

Die dritte Konstante in der Entwicklung der digitalen Künste ist die Tendenz, alles,
was zuvor abgeschlossen schien, in Vorlagen für unendliche Adaptationsprozesse zu
verwandeln. Literarisches bildet dabei längst kein privilegiertes Ausgangsmaterial mehr.
Der unablässige Stoffwechsel verläuft zwischen allen Genres und in alle Richtungen:
Aus Filmen werden Romane, andere Romane erhalten lange nach dem Tod ihrer
Autoren Fortsetzungen, die ihre entscheidenden Kennzeichen, Charaktere und Motive
zu neuen Werken regruppieren. Aus Filmen werden Fernsehserien, aus Fernsehserien
Filme. Aus alten Filmen und Fernsehserien werden neue Filme und Fernsehserien, dem

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technischen Stand oder aktuellen Interessen angepasst. Beim Nachdrehen erfolgreicher


US-Serien für lokale Märkte werden vorhandenen Stoffen regionale und nationale
Besonderheiten eingeschrieben, oder aber es werden solche Besonderheiten gezielt
beseitigt, wenn etwa Filme französischer, deutscher und italienischer Provenienz in
Hollywood für den Weltmarkt adaptiert werden. Aus Magazin-Reportagen, Comics und
Videospielen werden Filme und Fernsehserien. Diese wiederum inspirieren Romane und
Sachbücher, Theaterstücke und Musicals, Musik-Videos, Themen-CDs, Computer- und
Videospiele, konventionelles Spielzeug, virtuelle Rides oder komplette Themenpark-
Installationen. Last but not least treten in neuen Filmen längst begrabene Schauspieler
auf, deren Lebenswerk man für abgeschlossen hielt; wie auch seit Jahren verstorbene
Musiker mit lebenden Kollegen Duette singen.

Die kommerziellen Interessen, die zu solchen Verwertungsorgien beitragen, sind


unübersehbar. Doch ursächlich für die Dynamisierung, die alles, was je medial
erfasst wurde, in einen Rohstoff verwandelt, ist die Basierung der Künste auf
einem isomorphischen Repräsentationskode. Die Digitalisierung lässt rein technisch
an die Stelle des einen dauerhaften, gewissermaßen eingefrorenen Werkes, das
wesentlich eine Konsequenz seiner materiellen Fixierung war — im gebundenen Buch,

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im gerahmten Bild, in der gezogenen Filmkopie — eine unablässig aktualisierbare


Datensammlung treten, Bitmaterial für immer neue Modifikationen und Adaptationen.

In diesem Wuchern der Adaptationen kündigt sich eine entwickelte Cyberfiktion an, die
einen Stoff synchron in verschiedenen Gattungen und Medien realisiert und es damit
dem Rezipienten ermöglicht, sich on demand mit der Adaptationsform zu versorgen,
die seinen ästhetischen Interessen oder seiner jeweiligen Rezeptionssituation
entspricht. Er mag am Strand die Cyberfiktion als Roman beginnen, ihn sich im Auto
vom Autor weiter vorlesen lassen oder dem Soundtrack der Verfilmung lauschen und die
Geschichte später zu Hause vor dem Schirm zu Ende sehen. Dann mag er eine Weile den
Charakteren in Videospielen und virtuellen Home-Rides folgen oder sich per Mausklick
auf eine Website begeben, um Fortsetzungen der jeweiligen Fiktion, Karten für die
entsprechende Themenparkinstallation oder Souvenirs zu ordern. Im angegliederten
Chat-Room wird er mit anderen Rezipienten seine Rezeptionserfahrungen diskutieren
und vielleicht auch gegen Gebühr in MUD-ähnlichen Umwelten „privaten“ Kontakt mit
den Synthespians pflegen können — als interaktive Fortsetzung der Fiktion in Richtung
Klatsch-Artikel und Autobiografie, Talk- und Peep-Show, zur Befriedigung sexueller
Faszination und zur Erlangung individueller Lebenshilfe.

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Die ersten Adaptationssammlungen, Vorformen solcher Gesamtdatenwerke, sind auf


CD-Rom und DVD erschienen. Sie bieten, in verschiedenen Kombinationen, den Roman
zum Lesen und Hören, das Drehbuch, den Film, das Computerspiel, vollständige
Einspielungen der Filmmusik, biographisches Material und Dokumente über die
Herstellung der verschiedenen Adaptationen, Interviews mit Autoren, Schauspielern,
Regisseuren sowie Links zu Websites und das alles in einem Dutzend Sprachen. Die
Realisierung anderer Elemente, zum Beispiel die Möglichkeit zu interaktivem Kontakt
mit virtual humans, wird gegenwärtig mit großem finanziellen Aufwand betrieben. Am
Horizont des Gesamtdatenwerks, diesem Nahziel digitaler Kunst und Unterhaltung,
erscheint so die Utopie, die sich in Ermangelung intellektueller Entwürfe die populäre
Sehnsucht selbst geschaffen hat: das Holodeck.

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info
Dieses Werk ist unter ei- Impressum
nem Creative Commons
Namensnennung-Keine Druckgeschichte
kommerzielle Nutzung- Cyberfiktion & Gesamtdatenwerk. Über die Adaptation der Künste an ihre
Keine Bearbeitung 2.0 Digitalisierung. In: Winfried Menninghaus und Klaus R. Scherpe (Hrsg.),
Deutschland Lizenzver- Literaturwissenschaft und politische Kultur. Eberhardt Lämmert zum 75.
trag lizenziert. Um die Geburtstag, J.B. Metzler: Stuttgart und Weimar 1999, S. 197-205.
Lizenz anzusehen, ge-
hen Sie bitte zu http://
Digitaler Reprint
creativecommons.org/ Dieses Dokument wurde von Leon und Gundolf S. Freyermuth in Adobe InDesign und Adobe Acrobat erstellt und
licenses/by-nc-nd/2.0/ am 1. September 2010 auf www.freyermuth.com unter der Creative Commons License veröffentlicht (siehe
de/ oder schicken Sie Kasten links). Version: 1.0.
einen Brief an Creative
Commons, 171 Second
Über den Autor
Street, Suite 300, San Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs Internationale Filmschule
Francisco, California Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.
94105, USA.

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