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Dem eigenen Anspruch nach will sie virtuell sein. Der Cyberspace ist ihre soziale
und ästhetische frontier. In ihm entwickeln sich die neuen Verhaltens- und
Wahrnehmungsformen der digitalen Epoche, und wesentlich in ihm soll die Renaissance
v2.0 geschehen, die behauptete Verschmelzung von Wissenschaft und Kunst, von
Geschäft und Geist. Ihre Werke zielen nicht auf große Architektur, sie wollen virtuelle
Räume und Datenlandschaften entwerfen. Als neue Renaissancemenschen, als
individualistische Talente, die für die Synthese von Kunst und Technik stehen, figurieren
nicht Baumeister und Maler, nicht Gelehrte oder Kaufleute, sondern Geeks und Nerds,
Programmierer und Hacker, die Elite hochqualifizierter Datenhandwerker und HTML-
Artisten, ohne die der Cyberspace nicht existierte.
Die Künstler müssen lernen, Software zu schreiben und Computer zu bedienen und
werden daher wieder Techniker, wie sie es zu Renaissancezeiten waren, meint Ronald
Jones, Leiter des Digital Media Center an der Columbia University. Brenda Laurel
Die Grundvoraussetzung für den Anbruch der Renaissance v2.0 wird allgemein in
dem epochalen Paradigmenwechsel gesehen, den die Digitalisierung bedeutet. Sie
zerstört die analoge Basis, das Material und die Werkzeuge der Künste. Geschriebene,
gesprochene oder gesungene Worte, stehende und laufende, inszenierte und
dokumentarische Bilder verwandeln sich mit ihrer Digitalisierung in dieselben Bits. Die
An die Stelle der verlorenen Materialität tritt eine gemeinsame Signalbasis, ein
isomorphischer Repräsentationskode. „In a digital universe“, schreibt Richard
A. Lanham, „word, sound, and image share a common notation. They are, at a
fundamental level, convertible into one another.“ Die Souveränität, mit der sich
nun intra- und intermedial manipulieren lässt, trennt die digitalen beziehungsweise
digitalisierten Künste und Medien radikal von ihren analogen Vorgängern. Nicht
allein die Grundfesten einzelner Kunstübungen werden so erschüttert, sondern die
überkommene Ordnung der Künste selbst, auf der die Institutionen basieren, die sie
vertreiben und sammeln, kritisch begleiten und lehren.
Die Veränderung transzendiert Praktisches. Seit es Filmtheorie gibt, hat sie stets die
prinzipielle Abhängigkeit von der physischen Realität zum essentiellen Kennzeichen
der Kinokunst erklärt — von Béla Balázs’ Entdeckung des „sichtbaren Menschen“
über Siegfried Kracauers einflussreiches Theorem von der „Errettung der äußeren
Wirklichkeit“ bis zu den semiologischen Theorien der jüngeren Vergangenheit. Unter
digitalen Bedingungen ist der Film aber nicht länger, wie Kracauer einst schreiben
konnte, „die einzige Kunst, die ihr Rohmaterial mehr oder weniger intakt lässt“. Die
Digitalisierung verwandelt das Kino kategorial: von einer abbildenden zu einer —
potentiell — Bildenden Kunst.
Von besonders weitreichender Bedeutung ist dabei die fotorealistische Erzeugung von
Synthespians, virtuellen Schauspielern, die Einzelbild für Einzelbild gemalt, durch
motion capture animiert oder auch bereits teilautonom durch Bewegungsprogramme
belebt werden. Dieses gesteigerte Interesse an virtuellen Kunstwesen teilen die
Filmemacher mit fast allen digitalen Künstlern, etwa mit den Programmierern und
Produzenten von Video- und Computerspielen oder von Online-MUDs, von virtuellen
oder dreidimensionalen Themenpark-Rides. Die Technik, die im Begriff ist, Synthespians
mit rudimentären Reflexen und interaktiver Intelligenz auszustatten und sie gar
holographisch-realistisch auch in die Dreidimensionalität zu bringen, wird wesentlich in
der militärischen und industriellen Simulationsforschung entwickelt. Die innovativsten
Impulse zur Konstruktion virtuellen Lebens kommen jedoch von der Bildenden Kunst.
Deren rapide Adaptation an die digitale Technik hat binnen weniger Jahre erstaunliche
Experimente hervorgebracht. Vor allem die CyberArt erlebt gegenwärtig ihre
Gründerjahre. Werke aus Farbe und Licht, Fotos und Videos, Poesie und Musik,
VRML- oder Java-getriebene Sites erfüllen die Netze. Neben kreativen Fortsetzungen
klassischer Avantgardekunst finden sich kollaborative Produktionen, telematische
Installationen sowie — an der vordersten Front der CyberArt — immersive Umwelten,
sogenannte „soziale Skulpturen“, wie sie noch zu Beginn der neunziger Jahre technisch
unmöglich gewesen wären.
Diese Cyberinstallationen, glaubt Roy Ascott, ein Pionier der telematischen Kunst und
Leiter des walisischen Centre for Advanced Inquiry in the Interactive Arts, entwickeln
und gestalten eine neue Weltsicht, sie arbeiten daran, eine Wahrnehmungsbrücke
zwischen realer und virtueller Welt zu schlagen. Die neue Sinnlichkeit, in der unsere
Erfahrung der materiellen, geographisch verorteten Welt mit der des virtuellen,
entorteten Kommunikationsraums verschmilzt, nennt Ascott „Cyberzeption“: „Hitherto,
we thought and saw things in a linear manner, one thing after another, one thing hidden
behind another, leading to this or that finality […] But cyberception means getting a
sense of a whole, acquiring a bird‘s eye view of events, the astronaut‘s view of the
earth, the cybernaut‘s view of systems.“
Wie die Rede vom Brückenschlag allerdings andeutet, beschränken sich gerade die
avanciertesten Experimente der High-Tech-Avantgarde nicht auf den Cyberspace,
sondern versuchen vielmehr, Daten- und Realraum zu integrieren. Wesentlich dafür
sind Werke der Installationskunst. Diese Sparte der traditionellen Moderne hat die
Technikgeschichte in Eilschritten nachvollzogen: von mechanischen Apparaten und
Dampfmaschinen über Elektromotoren und elektronische Gerätschaften hin zu
Computern. Mit Maschinenmobiles, den begehbaren Installationen oder Videowänden
der sechziger und siebziger Jahre, haben die Mensch-Maschinen-Interface-Werke
der Gegenwart, computergestützte Licht- und Laserskulpturen, „intelligente“
Ambiente und Virtual-Reality-Räume, kaum noch etwas gemein. Sie zielen vielmehr
auf eine interaktive und immersive Erfahrung, wie sie sich gleichzeitig in den
fortgeschrittensten Produkten der Unterhaltungsindustrie ankündigt.
Die ästhetischen und thematischen Parallelen zwischen dem digitalen Kino und
der Hightech-Kunst auf der einen Seite und der digitalen Jahrmarktskunst auf der
anderen fallen ins Auge; konkret: zwischen dem digitalen Kino und Computer- oder
Videospielen; zwischen sozialen Skulpturen der CyberArt und MUDs; zwischen Hightech-
Installationen und Themenpark-Attraktionen beziehungsweise virtuellen Rides. Gerade
die krudesten Erscheinungen in der aktuellen Massenunterhaltung erinnern dabei an
die Anfänge des Films — bevor eben Künstler wie Chaplin, Eisenstein oder Griffith eine
Formsprache schufen, die es erlaubte, subtilere Inhalte auszudrücken.
Die Entwicklung birgt jedoch nicht nur ungeheures Potential. Vielen, wenn nicht
den meisten Ansätzen zu neuen Ausdrucksformen wird es beschieden sein, als toter
Seitenstrang in der medialen und ästhetischen Evolution zu enden. Wie schnell und
erbarmungslos die Selektion am globalen Markt des Cyberspace erfolgt, ließ sich in
den vergangenen Jahren dutzendfach beobachten; etwa am Beispiel der sogenannten
Websodien oder Websoaps. Sie waren Fernsehserien nachgebildet und verbanden
Ein ähnliches Schicksal zeichnet sich für eine der frühesten digitalen Kunstübungen ab,
die Hypertextliteratur. Ihre kurze Geschichte kann Aufschluss gewähren über die Irr-
und Umwege in der Ausbildung neuer digitaler Erzählformen.
So gering die Zahl der Hyperfiktionen bis heute ist, die Bewegung ist dennoch eine
Erfolgsgeschichte; nicht am Markt, wohl aber bei den literarischen Institutionen. Die
nämlich haben ihr anfängliches Erschrecken überwunden und die neue Avantgarde
hektisch umarmt. Sympathetische Kritiker und Literaturwissenschaftler wie George
P. Landow meinen, Hypertext werde weitgehende kulturelle Veränderungen
auslösen, „just as radical as those produced by Gutenberg‘s movable type.“
Hypertext-Experimente sind in die Norton Anthology of Postmodern American Fiction
aufgenommen worden, was einer Kanonisierung gleichkommt, und sie werden
großzügig subventioniert, vom amerikanischen National Endowment of the Arts bis
zur schweizerischen Migros-Kulturstiftung. Allein vom Arts Council of England wurden
1998 sechsstellige Förderungsbeträge für Writer’s in Residence-Programme und Online-
Workshops zur Verfügung gestellt. Computerfirmen wie Apple und IBM, Verlage wie
die New York University Press und Zeitschriften wie die Zeit finanzieren einschlägige
Veranstaltungen und Wettbewerbe.
zu prägen begannen, schienen die Zwischentitel Teil eines modernen Trends zur
Literarisierung.
Aus heutiger Sicht fällt es leicht zu erkennen, dass die Stummfilme keineswegs stumm
waren, weil das einzigartige künstlerische Effekte ermöglichte. Sie waren schlicht
stumm, weil die Tonspur noch nicht erfunden war. Denn für eine dramatische Kunst wie
das Kino ist eine fiktive Welt, in der die Menschen sich verbal konfrontieren können,
eine bessere Welt. Sobald es nur technisch möglich war, verschwand die Schrift aus
dem Kino.
Die Kluft zwischen dem hohen Anspruch und der Bescheidenheit der Resultate zeigt
sich mit besonderer Deutlichkeit in der behaupteten Interaktivität und der angeblichen
Ermächtigung des Lesers, der sich seinen eigenen Text weben könne. Denn dass der
Leser hier und da an vorgeschriebenen Stellen klicken darf, befördert ihn nicht zum Ko-
Autor, sondern reduziert seine Rolle auf die einer Labormaus im künstlichen Labyrinth.
So manches Computerspiel, selbst jedes Kursbuch der Bundesbahn ist, was das
Erfassen komplexer Zusammenhänge angeht, von aufklärerischerem Wert. Dass in den
vergangenen zwei, drei Jahren eine wachsende Zahl von Hypertextliteraten zudem ihre
Werke mit Bild-und-Ton-Schnickschnack zu multimedialisieren suchte, ohne mit den
textzentrierten Strukturen zu brechen — Mark Amerikas „Grammatron“ ist dafür das
aufwendigste Beispiel —, macht die prekäre Situation des Genres nur umso deutlicher.
Datenraum erlaubt und verlangt. Das geschriebene Wort wird in ihnen präsent sein —
als ein Element unter anderen und nicht mehr wie in der Hypertextliteratur als Sonne,
um die die anderen Künste planetengleich kreisen.
Zum zweiten bemühen sich dabei die avanciertesten Werke und Produkte um eine
durchgeführtere Narrativik, als sie mit Ausnahme des Kinos in allen oben erwähnten
Medien und Gattungen bislang üblich war. Dieses Streben nach entwickelter
Interaktivität und zu integrierter Multimedialität, nach dramatisch strukturierten
Collagen und Assemblagen heterogenen Medienmaterials ist allgegenwärtig. Ein
spektakuläres Beispiel geben die — meist auf Filmen basierenden — virtuellen Rides.
Sie haben sich im vergangenen Jahrzehnt, dank digitaler Technik, von der Akkumulation
spektakulärer Thrills emanzipiert und schreiten von der reinen Jahrmarktssensation zu
immersiven Umwelten und rudimentären Erzählformen fort.
Die dritte Konstante in der Entwicklung der digitalen Künste ist die Tendenz, alles,
was zuvor abgeschlossen schien, in Vorlagen für unendliche Adaptationsprozesse zu
verwandeln. Literarisches bildet dabei längst kein privilegiertes Ausgangsmaterial mehr.
Der unablässige Stoffwechsel verläuft zwischen allen Genres und in alle Richtungen:
Aus Filmen werden Romane, andere Romane erhalten lange nach dem Tod ihrer
Autoren Fortsetzungen, die ihre entscheidenden Kennzeichen, Charaktere und Motive
zu neuen Werken regruppieren. Aus Filmen werden Fernsehserien, aus Fernsehserien
Filme. Aus alten Filmen und Fernsehserien werden neue Filme und Fernsehserien, dem
In diesem Wuchern der Adaptationen kündigt sich eine entwickelte Cyberfiktion an, die
einen Stoff synchron in verschiedenen Gattungen und Medien realisiert und es damit
dem Rezipienten ermöglicht, sich on demand mit der Adaptationsform zu versorgen,
die seinen ästhetischen Interessen oder seiner jeweiligen Rezeptionssituation
entspricht. Er mag am Strand die Cyberfiktion als Roman beginnen, ihn sich im Auto
vom Autor weiter vorlesen lassen oder dem Soundtrack der Verfilmung lauschen und die
Geschichte später zu Hause vor dem Schirm zu Ende sehen. Dann mag er eine Weile den
Charakteren in Videospielen und virtuellen Home-Rides folgen oder sich per Mausklick
auf eine Website begeben, um Fortsetzungen der jeweiligen Fiktion, Karten für die
entsprechende Themenparkinstallation oder Souvenirs zu ordern. Im angegliederten
Chat-Room wird er mit anderen Rezipienten seine Rezeptionserfahrungen diskutieren
und vielleicht auch gegen Gebühr in MUD-ähnlichen Umwelten „privaten“ Kontakt mit
den Synthespians pflegen können — als interaktive Fortsetzung der Fiktion in Richtung
Klatsch-Artikel und Autobiografie, Talk- und Peep-Show, zur Befriedigung sexueller
Faszination und zur Erlangung individueller Lebenshilfe.
info
Dieses Werk ist unter ei- Impressum
nem Creative Commons
Namensnennung-Keine Druckgeschichte
kommerzielle Nutzung- Cyberfiktion & Gesamtdatenwerk. Über die Adaptation der Künste an ihre
Keine Bearbeitung 2.0 Digitalisierung. In: Winfried Menninghaus und Klaus R. Scherpe (Hrsg.),
Deutschland Lizenzver- Literaturwissenschaft und politische Kultur. Eberhardt Lämmert zum 75.
trag lizenziert. Um die Geburtstag, J.B. Metzler: Stuttgart und Weimar 1999, S. 197-205.
Lizenz anzusehen, ge-
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creativecommons.org/ Dieses Dokument wurde von Leon und Gundolf S. Freyermuth in Adobe InDesign und Adobe Acrobat erstellt und
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Über den Autor
Street, Suite 300, San Gundolf S. Freyermuth ist Professor für Angewandte Medienwissenschaften an der ifs Internationale Filmschule
Francisco, California Köln (www.filmschule.de). Weitere Angaben finden sich auf www.freyermuth.com.
94105, USA.