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Ausland

„Wir sind klüger und stärker“


kel 50 auslöst und die Austrittsprozedur
in Gang setzt. Aber selbst in diesem Fall
wird sich das Unterhaus kaum über das
Volk hinwegsetzen.
Über 17 Millionen Briten haben für den Russland Kremlberater Sergej Karaganow über die Kriegsgefahr
Austritt aus der EU gestimmt, 1,3 Millionen
mehr als für den Verbleib. Selbst wenn vie- in Europa, die Wiederbelebung der Nato und die Unfähigkeit des
le Briten zu dem Schluss kommen sollten, Westens, grundlegende russische Werte zu verstehen
dass sie den Brexit doch nicht wünschen,
lässt sich das Referendum nicht zurückdre-
hen. Europa tut gut daran, diese Realität Karaganow, 63, ist Ehrenvorsitzender des ein- völlig verfault, fühlte sich militärisch stark
zu akzeptieren, auch wenn das Triumph- flussreichen Rates für Außen- und Verteidi- und beging die Dummheit, die SS-20-Ra-
geheul eines Populisten wie Nigel Farage gungspolitik, der Konzepte für Russlands welt- keten zu stationieren. So begann eine völ-
nur schwer erträglich ist. politische Strategien entwirft und im Mai neue lig sinnlose Krise. Jetzt ist es umgekehrt.
Farage war kaum mehr als ein poltern- Thesen zur Außenpolitik vorgelegt hat. Dem Jetzt sollen osteuropäische Länder wie
der Zwischenrufer im großen Pub der bri- Rat gehören Politiker, Ökonomen sowie ehe- Polen, Litauen oder Lettland dadurch be-
tischen Politik. Sein Abgang zeigt, dass er malige Offiziere und Geheimdienstler an. Ka- ruhigt werden, dass die Nato bei ihnen Waf-
nie Verantwortung übernehmen wollte. raganow ist Berater der Präsidialadministra- fen stationiert. Das hilft ihnen aber nicht,
Aus seiner Sicht war es konsequent zu ver- tion von Wladimir Putin und Dekan an der wir werten das als Provokation. Im Falle
schwinden. Der Fehler war, die Leute, für Moskauer Eliteuniversität Higher School of einer Krise werden genau diese Waffen ver-
die er sprach, nicht ernst zu nehmen. Economics. nichtet. Russland wird nie wieder auf sei-
Was bleibt, sind Zorn und Leere. „Ich nem eigenen Territorium kämpfen ...
kann mich an keine Zeit erinnern, in der SPIEGEL: Sergej Alexandrowitsch, die Nato SPIEGEL: ... sondern, wenn ich Sie richtig
so viel Wut so nah an der Oberfläche war“, will sich militärisch mehr in Osteuropa en- verstehe, Vorwärtsverteidigung betreiben.
sagt der Historiker Timothy Garton Ash. gagieren – als Reaktion auf das Vorgehen Karaganow: Die Nato ist jetzt 800 Kilometer
Es wäre aus deutscher Sicht verführe- Russlands in letzter Zeit. Westliche Poli- näher an den russischen Grenzen, die Waf-
risch, auf den Triumph der Brexiteers nun tiker warnen davor, dass beide Seiten in fen sind ganz andere, die strategische Sta-
mit Trotz und Härte zu reagieren. Kurz- eine Situation abrutschen könnten, die bilität in Europa verändert sich. Alles ist
fristig wäre das befriedigend, auf lange zum Krieg führt. Ist das übertrieben? weit schlimmer als vor 30 oder 40 Jahren.
Sicht kontraproduktiv. Bundeskanzlerin Karaganow: Ich habe vor acht Jahren bereits SPIEGEL: Russische Politiker, Präsident Pu-
Angela Merkel will Großbritannien zu von einer Vorkriegssituation gesprochen. tin eingeschlossen, versuchen die eigene
Recht so eng wie möglich an den Kontinent SPIEGEL: … als der Georgienkrieg ausbrach. Bevölkerung glauben zu machen, der Wes-
binden, aus historischen, wirtschaftlichen Karaganow: Schon damals tendierte das Ver- ten wolle einen Krieg – um Russland zu
und geostrategischen Gründen. Denn eines trauen der großen Mächte untereinander zerstückeln. Das ist doch absurd.
hat sich mit dem 23. Juni nicht geändert: gegen null; Russland begann mit der Neu- Karaganow: Sicher ist das auch Übertrei-
die geografische Lage der Insel. Und ihre bewaffnung seiner Armee. Seither hat sich bung. Aber amerikanische Politiker spre-
Bedeutung für den deutschen Export. die Lage extrem verschlechtert. Wir hatten chen offen davon, dass die Sanktionen
Für die Europäer wäre es deshalb klug die Nato davor gewarnt, sich den Grenzen einen Regimewechsel in Russland herbei-
und gut, nun auf Zeit zu spielen und abzu- der Ukraine zu nähern, weil das eine für führen sollen. Das ist aggressiv genug.
warten, bis sich die Briten einig sind, was uns unannehmbare Situation schaffen wür- SPIEGEL: Die Abendnachrichten im russi-
sie wollen. Die neue Regierung wird nicht de. Das Vordringen des Westens in diese schen Fernsehen scheinen weiter von der
vor September stehen. Sie könnte zu dem Richtung hat Russland gestoppt, mittelfris- Wirklichkeit entfernt. Selbst eine Moskau-
Schluss gelangen, dass es besser ist, das tig ist damit hoffentlich die Gefahr eines er Zeitung schrieb dieser Tage von einem
Volk von den Vorteilen kontrollierter Ein- großen Krieges in Europa gebannt. Aber „Phantom der äußeren Bedrohung“.
wanderung zu überzeugen, als auf den Zu- die Propaganda, die jetzt läuft, erinnert Karaganow: Die politischen Eliten in Russ-
gang zum Binnenmarkt völlig zu verzich- an die Zeit vor einem neuen Krieg. land wollen keine Reformen im Innern, sie
ten. Vor allem Deutschland kommt in den SPIEGEL: Das beziehen Sie hoffentlich auch sind dazu nicht bereit. Eine Gefahr von
Verhandlungen viel Macht zu. auf Russland? außen kommt ihnen da gerade recht. Sie
Am Ende könnte aus der Asche des Re- Karaganow: Die russischen Medien sind zu- müssen bedenken: Russland beruht auf
ferendums eine neue Form der assoziierten rückhaltender als die westlichen. Wenn- zwei nationalen Ideen – der Verteidigung
Mitgliedschaft in der Union entstehen. Für gleich Sie verstehen müssen: In Russland und der Souveränität. Bei uns behandelt
viele Länder am Rand des Kontinents wie gibt es ein sehr starkes Verteidigungsbe- man Fragen der Sicherheit weit ehrfurchts-
Norwegen, die Schweiz, aber auch die wusstsein. Wir müssen auf alles vorbereitet voller als in anderen Ländern.
Ukraine oder die Türkei kommt die volle sein. Deswegen diese mitunter massive SPIEGEL: Selbst russische Experten sehen
Integration in den europäischen Klub nicht Propaganda. Aber was macht der Westen? in der Erweiterung der Nato keine reale
infrage. Die EU ist aber daran interessiert, Er verteufelt Russland nur noch, er glaubt, Gefahr für Russland. Die Nato war bis zur
diese Staaten an sich zu binden. wir drohen mit einer Aggression. Die Si- Krim-Annexion ein Papiertiger.
Europa muss einen Weg finden, die Briten tuation ist vergleichbar mit der Krise Ende Karaganow: Ihre Erweiterung wurde als Ver-
in den kommenden Jahren nicht ganz zu der Siebzigerjahre, Anfang der Achtziger- rat an Russland verstanden.
verlieren. Denn was auch noch bleibt, sind jahre. SPIEGEL: Ihr Rat hat Thesen zur Außen- und
jene 48 Prozent auf der Insel, die für die SPIEGEL: Sie meinen die Stationierung der Verteidigungspolitik vorgelegt. Sie reden
EU gestimmt haben. Fast ein halbes Land, sowjetischen Mittelstreckenraketen und dort von der Rückgewinnung von Führer-
das enttäuscht von seiner anderen Hälfte ist die amerikanische Reaktion darauf? schaft in der Welt. Russland will nicht an
und nun auf Europa blickt. Der größte Karaganow: Europa fühlte sich damals Macht verlieren, die Botschaft wird klar.
Fehler wäre es, diesen Teil Britanniens im schwach und befürchtete, die Amerikaner Aber welche Vorschläge macht es?
Stich zu lassen. Christoph Scheuermann würden den Kontinent verlassen. Die So- Karaganow: Wir wollen eine weitere De-
Twitter: @chrischeuermann wjetunion aber, obwohl im Innern bereits stabilisierung der Welt verhindern. Und
82 DER SPIEGEL 28 / 2016
wir wollen den Status einer teidigungsbündnis demokrati-
Großmacht. Wir können darauf scher Mächte. Doch dann diente
leider nicht verzichten – dieser der Nato-Russland-Rat zur De-
Status ist in den vergangenen ckung und Legalisierung der
300 Jahren zum Teil unseres Erb- Nato-Erweiterung. Als wir ihn
guts geworden. Wir möchten das wirklich brauchten – 2008 und
Zentrum eines großen Eurasien 2014 –, war er nicht da.
sein, einer Zone von Frieden SPIEGEL: Sie meinen den Geor-
und Zusammenarbeit. Zu die- gien- und den Ukrainekrieg. In
sem Eurasien wird auch der Sub- Ihren Papieren tauchen Begriffe
kontinent Europa gehören. wie nationale Würde, Mut und
SPIEGEL: Die Europäer empfin- Ehre auf. Sind das politische Ka-
den die jetzige russische Politik tegorien?
als zweideutig. Die Absichten Karaganow: Das sind entscheiden-
der Moskauer Führung sind ih- de Werte Russlands. In der Welt
nen nicht klar. Putins und in meiner Welt ist es
Karaganow: Wir befinden uns ge- einfach undenkbar, dass Frauen
genwärtig in einer Lage, in der in der Öffentlichkeit bedrängt
wir Ihnen nicht im Mindesten und vergewaltigt werden.
vertrauen, nach all den Enttäu- SPIEGEL: Sie spielen auf die Sil-
schungen der vergangenen Jah- vesternacht in Köln an?
re. Also wird entsprechend rea- Karaganow: Männer, die so etwas
giert. Es gibt so etwas wie das in Russland täten, würden umge-

DMITRI BELIAKOV / DER SPIEGEL


Mittel der taktischen Überra- bracht. Der Fehler ist, dass Deut-
schung. Sie sollen wissen, dass sche und Russen in den letzten
wir klüger, stärker und ent- 25 Jahren nicht ernsthaft über
schlossener sind. ihre eigenen Werte gesprochen
SPIEGEL: Überraschend war zum haben – oder sich bei diesem The-
Beispiel der russische Teilrück- ma nicht verstehen wollten. Auch
zug aus Syrien. Sie haben den Stratege Karaganow: „Genau diese Waffen werden vernichtet“ wir haben zu sowjetischen Zeiten
Westen absichtlich im Unklaren behauptet, es gebe nur universel-
darüber gelassen, wie viele Truppen Sie SPIEGEL: Sie sagen, Sie seien von Europa le Werte, so wie es der Westen jetzt tut.
abziehen und ob Sie Teile von ihnen heim- enttäuscht, es habe seine christlichen Ideale Mich ängstigt, wenn die Europäer immer
lich wieder zurückführen. Vertrauen verraten. Russland habe in den Neunziger- mehr Demokratie fordern. Das klingt wie
schafft man mit dieser Taktik nicht. jahren nach Europa gewollt, aber in das früher, als bei uns immer mehr Sozialismus
Karaganow: Das war ein Meisterstück, das Europa Adenauers und de Gaulles. gefordert wurde.
war klasse. Wir nutzen unsere Überlegen- Karaganow: Die Mehrheit der Europäer SPIEGEL: Wo sehen Sie denn Fehler in der
heit auf diesem Gebiet. Die Russen sind wünscht sich dieses Europa doch auch. russischen Außenpolitik?
schwache Händler, sie befassen sich nicht Europa wird für die nächsten Jahrzehnte Karaganow: Wir hatten in den vergangenen
gern mit Ökonomie. Dafür sind sie hervor- kein Modell mehr für Russland sein. Jahren keine politische Strategie unseren
ragende Kämpfer. Sie in Europa haben ein SPIEGEL: In den Thesen fordert Ihr Rat die unmittelbaren Nachbarn gegenüber, den
anderes politisches System. Es ist eines, Anwendung militärischer Gewalt, wenn anderen ehemaligen Sowjetrepubliken.
das sich nicht den Herausforderungen der „wichtige Interessen des Landes offensicht- Wir haben nicht verstanden, was da wirk-
neuen Welt anpassen kann. Die deutsche lich“ bedroht seien. Die Ukraine war solch lich passiert. Das Einzige, was wir taten,
Kanzlerin hat gesagt, unser Präsident lebe ein Beispiel? war, diese Länder zu subventionieren und
in einer anderen Welt. Ich glaube, er lebt Karaganow: Ja. Oder eine Truppenkonzen- deren Eliten zu kaufen – mit Geld, das
in einer sehr realen. tration, die wir für eine Kriegsgefahr halten. dann gestohlen wurde, vermutlich gemein-
SPIEGEL: Unübersehbar ist die russische SPIEGEL: Die Stationierung von Nato-Ba- sam. So gelang es auch nicht, den Konflikt
Schadenfreude angesichts der Probleme, taillonen im Baltikum reicht noch nicht? in der Ukraine zu verhindern. Das zweite
denen sich Europa jetzt gegenübersieht. Karaganow: Das Gerede, dass wir das Bal- Problem: Unsere Politik war zu lange auf
Warum? tikum angreifen wollen, ist idiotisch. Wozu die Korrektur der Vergangenheit gerichtet,
Karaganow: Viele meiner Kollegen schauen schafft die Nato Waffen und Ausrüstung auf die Korrektur der Neunzigerjahre.
mit Spott auf unsere europäischen Partner, dorthin? Stellen Sie sich vor, was mit SPIEGEL: In der russischen Presse gibt es Ver-
ich ermahne sie immer, nicht anmaßend denen im Krisenfall geschieht. Die Hilfe mutungen, Russland werde nach den Par-
und arrogant zu sein. Teile der europäi- der Nato ist keine symbolische Hilfe für lamentswahlen im September Signale der
schen Eliten haben die Konfrontation mit die baltischen Staaten, das ist eine Pro- Entspannung senden. Sind die berechtigt?
uns gesucht. Also werden wir Europa jetzt vokation. Wenn die Nato eine Aggression Karaganow: Wir meinen, dass Russland mo-
auch nicht helfen, obwohl wir das in der beginnt – gegen eine Atommacht wie ralisch im Recht ist, grundlegende Zuge-
Flüchtlingsfrage könnten. Eine gemeinsa- uns –, wird sie bestraft werden. ständnisse von unserer Seite wird es nicht
me Schließung der Grenzen wäre drin- SPIEGEL: Am Mittwoch soll zum zweiten Mal geben. Mental ist Russland inzwischen
gend nötig. In dieser Hinsicht wären die seit der Krimkrise wieder der Nato-Russ- eine eurasische Macht geworden – ich war
Russen zehnmal effektiver als die Euro- land-Rat tagen. Von einer Wiederaufnahme einer der intellektuellen Väter der Hinwen-
päer. Aber sie versuchen, mit der Türkei dieses Dialogs halten Sie auch nichts? dung nach Osten. Jetzt aber bin ich der
zu dealen, das ist eine Schande. Wir haben Karaganow: Er ist kein legitimes Gremium Meinung, wir sollten uns nicht von Europa
angesichts unserer Probleme mit der Tür- mehr. Außerdem ist die Nato ein qualitativ abwenden. Wir müssen Wege suchen, die
kei eine klare, harte politische Linie ver- anderes Bündnis geworden. Als wir den Beziehungen wiederzubeleben.
folgt, mit Erfolg. Dialog mit ihr begannen, war sie ein Ver- Interview: Christian Neef

DER SPIEGEL 28 / 2016 83

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