Академический Документы
Профессиональный Документы
Культура Документы
Modelle kritischer
Gesellschaftstheorie
Traditionen und Perspektiven
der Kritischen Theorie
Modelle kritischer Gesellschaftstheorie
Modelle kritischer
Gesellschaftstheorie
Traditionen und Perspektiven
der Kritischen Theorie
Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.
ISBN 978-3-476-01849-6
ISBN 978-3-476-02788-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-02788-7
Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung
außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages
unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen,
Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Alex Demirovic
TRUST ME . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Alexander García Düttmann
Dialektische Konstellationen. Zu einer kritischen Theorie gesellschaftlicher
Naturverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Christoph Görg
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute . . . . . . . . . . . . . . 63
Gunzelin Schmid Noerr
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements . . 77
Matthias Kettner
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . 101
Thomas Sablowski
Fred Pollock in Silicon Valley. Automatisierung und Industriearbeit in der
vernetzten Massenproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Boy Lüthje
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und
Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Birgit Sauer
Leblose Lebendigkeit. Zur Bedeutung von Organisation, Wissen und Norm
im Konzept der verwalteten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Michael Bruch
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Michael Vester
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus, Rassismus und Reaktionen auf
Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Lena Inowlocki
›Wir sind weit weniger Griechen als wir glauben‹. Überlegungen zum
Projekt einer kritischen Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Andrea D. Bührmann
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus . . . . . . . . 266
Thilo Naumann
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne . 290
Jost Müller
VI Inhalt
Die kritische Theorie ist in den 1960er Jahren zum Eigennamen eines besonderen
theoretischen Zusammenhangs und einer akademischen Schule geworden, zur
Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (vgl. Demirovic 1999). Im breiteren
Verständnis handelte es sich dabei um eine Richtung der Soziologie, die von
anderen Richtungen der damaligen Soziologie in Westdeutschland unterschieden
wurde: die, die vor allem von René König repräsentiert wurde, der in Köln lehrte
und dort über lange Zeit die innerhalb der Soziologie als Fachorgan sehr ein-
flussreiche Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie herausgab; und
die Richtung, für die Helmut Schelsky stand, der in den 1950er Jahren in Ham-
burg, danach in Münster und Bielefeld tätig war. Die Kritische Theorie auf eine
Theorierichtung in der Soziologie zu begrenzen, ist ungenau. Denn die Vertreter
der Kritischen Theorie haben in Frankfurt neben der Soziologie auch Philosophie
gelehrt. Diese Verbindung von Soziologie und Philosophie war im von Hork-
heimer und Adorno vertretenen Verständnis von Kritischer Theorie immer unge-
mein wichtig. Dies unterschied sie auch ganz erheblich von den anderen Vertretern
der Soziologie. Denn diese lehnten es ab, die philosophiegeschichtlichen und
gesellschaftlichen Voraussetzungen der Entstehung der Soziologie selbst mit in ihr
Wissenschaftsverständnis einzubeziehen. Aus ihrer Sicht hatte sich die Soziologie
von allen anderen Disziplinen befreit und als empirisch ausgerichtete Wirklich-
keitswissenschaft etabliert. Als eigenständige Fachwissenschaft sollte sie sich –
vergleichbar einer Naturwissenschaft – mit strengen Methoden allein aus sich selbst
begründen und nur den Maßstäben der internen Forschungslogik folgen. Mit der
Kritik an philosophischen Begriffe, die ihnen, wie der Begriff der Totalität, der
Praxis oder der Vernunft, als metaphysisch galten, sollte vor allem die geschichts-
philosophisch begründete Perspektive auf die vernünftige Einrichtung eines welt-
bürgerlichen Zusammenlebens aus dem Aufmerksamkeitshorizont wissenschaftli-
cher Fragestellungen gedrängt werden. Solche Begriffe und Ziele erschienen als
außerwissenschaftliche Werturteile, die für die empirische Sozialforschung nicht
operationalisiert werden konnten. Gleichzeitig meinte eine solche Option für
wertfreie Wissenschaft selbst nie mehr als ein nicht offen formuliertes Werturteil
für den Zustand, wie er ist – und zu dessen Erhaltung Soziologie mit ihrer
Sachkenntnis beiträgt.
Horkheimer und Adorno ging es jedoch nicht darum, jene philosophische
Tradition um ihrer selbst willen lebendig zu halten; vielmehr waren sie der Ansicht,
dass die einzelwissenschaftliche Forschung der philosophischen Impulse bedurfte,
denn nur hier finden sich Begriffe, die über einzelwissenschaftliche Beschränkung
hinausführen. Sie sahen sich nicht als disziplinär gebundene Einzelwissenschaftler,
sondern eher als Intellektuelle, die an einer Gesellschaftstheorie arbeiteten; und um
dieses Zieles willen durfte es nicht zu einer Begrenzung des Blicks oder des Begriffs
2 Alex Demirovic
Das widerspricht aber dem Begriff der Rationalität selbst. Denn Vernunft lässt
sich nicht parzellieren und nur auf einen schmalen Bereich begrenzen, sie strebt
danach, das rational Erschlossene selbst wieder in einem umfassenderen Kontext
zu begreifen. Diese Dynamik rationaler Erkenntnis verbindet sich zudem mit der
Erwartung, dass ihre Ergebnisse allen einsichtig sind und alle daran teilhaben
können. Vernunft beinhaltet eine demokratische Haltung – demokratisch nicht in
dem Sinne, dass die Wahrheit von der Mehrheit abhängig gemacht würde, jedoch in
dem Sinne, dass jede Einsicht und jedes Argument der Möglichkeit nach allen
verständlich und zugänglich sein müsste. Wissenschaft und Vernunft widerspre-
chen demgemäß bloßem Glauben, dem Wunder, dem spirituellen Erlebnis oder
einer ästhetischen Sinnerfahrung. Denn sie alle erlauben lediglich Einzelnen den
Zugang, sie verbinden sich mit dem Privileg. Vernunft widerspricht aber auch
Demagogie und Propaganda, die darauf zielen, die individuelle Einsichtsfähigkeit
außer Kraft zu setzen. Wie eine lange, und gerade von der Kritischen Theorie
angestoßene, Diskussion erkennen lässt, ist allerdings auch Wissenschaft, Vernunft
und Wahrheit mit Ausschluss und Herrschaft verbunden. Im Namen von Wissen-
schaftlichkeit und Rationalität kann Macht ausgeübt und können Privilegien in
Anspruch genommen werden. Nicht allen wird der Zugang zur freien Erkenntnis
erlaubt oder ermöglicht. Es gibt viele Wissenschaftler, die bereitwillig der Logik
herrschaftlicher Institutionalisierung von Wissenschaft entsprechen, die also ein
Monopol auf Expertenwissen für sich zu errichten versuchen und den Zugang zu
Erkenntnissen begrenzen wollen. Dazu nutzen sie die Mittel guter Beziehungen,
des Geldes, staatlicher Kontrolle über die Verteilung von Bildungszertifikaten oder
Eigentumstiteln. Irrationalität kann eine der Formen sein, wie Wissenschaftler den
rationalen Kernbereich ihres Wissens nach außen hin abschirmen. Sie verbergen
den Zugang zu diesem Wissen durch spontane Wissenschaftsideologien, seien es
spiritualistische Ganzheitsphilosophien oder quasi-theologische Kosmologien, die
das Publikum über den rationalen Gehalt der Theorien hinwegtäuschen und auf
den Pfad kompensatorischer Metaphysik führen.
Doch Wissenschaftlichkeit und Rationalität, die durchaus zu einer solchen
Verteilung von Privilegien beitragen können, sind eben immer auch mit dem
Anspruch verbunden, dass alle Individuen die Erkenntnisse kritisch überprüfen
können. Rationalität ist kritisch – jede Erkenntnis kann von jedermann und
jederfrau zu jeder Zeit darauf geprüft werden, ob sie im Lichte eigener Erfahrung
und anderer Erkenntnisse noch plausibel ist und standhält. Horkheimer macht
gerade an diesem Punkt auch das fest, was er für den entscheidenden Unterschied
der Kritischen Theorie zu anderen Wissenschaftsauffassungen hält, die er als
traditionelle Theorie bezeichnet: die Haltung des Wissenschaftlers gegenüber sei-
nen Erkenntnissen. Im Fall traditioneller Theorie wird alles genau geregelt: Ge-
forscht und nachgedacht wird nur im Rahmen der Arbeitszeit, streng nach den
Regeln und Relevanzgesichtspunkten der jeweiligen Disziplin, folgsam gegenüber
denen, die als die wichtigsten Vertreter des Faches gelten und von denen erwartet
wird, dass ihre Ansichten die bestimmenden sein werden. Die Kritik wird einge-
schränkt, die Forschung und das Nachdenken wird nicht im Zusammenhang mit
dem Gegenstand gesehen; und wenn die Logik der Sache doch zu diesem drängt,
4 Alex Demirovic
setzt die (Selbst-) Zensur ein: Das ist nicht Gegenstand der Disziplin, dazu gibt es
keine zitierfähige Literatur, das findet in der Disziplin keine Anerkennung, dafür
gibt es kein Geld durch Fördereinrichtungen, es darf keine Werturteile geben. So
wird das Denken durch die Disziplin vom Gegenstand getrennt und diszipliniert.
Gerade dem stellten sich Horkheimer und Adorno mit dem Programm einer
Kritischen Theorie entgegen. Kritische Theorie meint eine Haltung gegenüber dem
Erkenntnisprozess, die die Theorie selbst als eine besondere Praxis begreift. Ver-
nunft ist die Form, in der sich Praxis selbst reflektiert. Vernunft drängt auf
Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn die theoretische Praxis
findet in einer besonderen gesellschaftlichen Konstellation statt, Erkenntnis ist Teil
der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion. Theorie muss dessen einsichtig sein,
was sie selbst in diesem Prozess tut und bewirkt. Isoliert und distanziert sie sich
jedoch arbeitsteilig vom Gegenstand, wird sie sich selbst gegenüber blind; sie
beschränkt sich und macht sich gleichsam von innen her dumm.
Kritische Theorie ist also dem Anspruch nach mehr als nur eine einzelwissen-
schaftliche Theorie. Seit Poppers Überlegungen zur Logik der Forschung wird
allgemein angenommen, dass wissenschaftliche Theorien ihrem Prinzip nach ohne-
hin kritisch sind. Denn eines ihrer bestimmenden Merkmale ist, ihre eigenen
Voraussetzungen, ihre Begriffe und ihre Ergebnisse immer wieder zu prüfen. Zur
wissenschaftlichen Haltung gehört, eine Theorie fallen zu lassen und eine bessere
Theorie zu entwickeln. Zwar lehnte die Kritische Theorie ausdrücklich jede Art
von Standpunktlogik ab, doch entsprach es nicht ihrem Selbstverständnis, neue
gesellschaftliche Veränderungen zum Anlaß zu nehmen, die Theorie der Gesell-
schaft und ihre Begriffe insgesamt aufzugeben, da sie ja auf die bürgerlich-kapi-
talistische Gesellschaftsformation als ganze zielen. Die Vertreter der Kritischen
Theorie sahen sie jedoch an den Entwicklungsgang der Gesellschaft gebunden. Mit
diesem ändert sich auch die Theorie: Das Verhältnis der Begriffe zueinander
registriert die Veränderungen in deren Erfahrungsgehalt und modifiziert die be-
griffliche Struktur der Theorie in ihrer Gesamtheit. Anders als dies in den Sozial-
wissenschaften so häufig der Fall ist, hatte die Kritische Theorie nicht das Ziel,
letzte universell gültige Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens zu erken-
nen. Glaubt man an solche Gesetze, dann wird man auch die Soziologie wie eine
soziale Physik begreifen, die sich mit immer größerer Genauigkeit den an sich
beständigen Formen und Universalien des menschlichen Zusammenlebens nähert.
Die Kritische Theorie war demgegenüber davon überzeugt, dass der von ihr
analysierte Gegenstand, die kapitalistisch bestimmte Gesellschaft, ein dynamischer,
sich selbst verändernder Gegenstand sei. Die Gesetzmäßigkeiten, die theoretisch
bestimmt werden konnten, und nach denen die Veränderungen in dieser Gesell-
schaft abliefen, werden ihrerseits historisch durch die widerstreitenden Kräfte der
Gesellschaft verändert. Auch in der besonderen Form der Theorie und der wissen-
schaftlichen Konflikte handeln Menschen und greifen in die gesellschaftlichen
Abläufe ein. Die Theorie ist demnach konstitutiv an der Erzeugung und Formie-
rung der sozialen Welt beteiligt, die sie erkennt. Diese Verschlungenheit der
Theorie mit ihrem Gegenstand muss zur Folge haben, dass sich die Begriffe und
ihre Stellung in der Theorie selbst ändern, wenn es zu starken Umgewichtungen
Vorwort 5
innerhalb der Gesellschaft kommt, neue Bereiche der Gesellschaft entstehen oder
früher wichtige in ihrer Bedeutung durch andere in den Hintergrund gedrängt
werden. Auch das Verhältnis der Theorie zum gesamtgesellschaftlichen Reproduk-
tionsprozess selbst kann sich je nach historischer Konstellation ändern.
Diese zunächst abstrakt erscheinende Überlegung betrifft auch das Selbstver-
ständnis der Kritischen Theorie. Sie sieht sich nämlich selbst als Fortsetzung
früherer Formen von kritischer Theorie, wie sie sich vor allem seit der frühen,
französischen Aufklärung herausgebildet hat. Je nach Entwicklungsstand der mo-
dernen, auf Tausch und formell freier Lohnarbeit beruhenden Gesellschaft, hat
auch rationale Einsicht in die Gesellschaft eine verschiedene Form. Handelte es
sich zunächst um kritische Aufklärung über die Bibel, die Rolle der Kirche und des
Adels, so in einer weiteren Phase um die Bestimmung der Möglichkeiten poli-
tischer Freiheit. Zu einem paradigmatischen Umbruch kam es mit der Theorie von
Marx, die nun zum ersten Mal eine Theorie der gesamtgesellschaftlichen Repro-
duktion sein wollte, um die Möglichkeiten konkret-materieller, nicht nur innerer,
geistiger Freiheit auszuloten. Er knüpfte dort an, wo Fichte über Kant hinaus-
gegangen war und eine objektive Verwirklichung von Vernunft und Freiheit ge-
fordert hatte, also »dort draußen in der Welt« und nicht im Innern einer sich frei
wähnenden Vernunft. Trotz aller Verdienste von Marx war die weitere theoretische
Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht allein mit dem von ihm
entwickelten Begriffsapparat und seinen theoretischen Vorstellungen zu bewäl-
tigen. Eine entscheidende Schwäche war die Suggestion, es könne von sozial-
ökonomischen Bedingungen auf die emanzipatorische Handlungsmöglichkeit oder
gar -fähigkeit der Arbeiterschaft geschlossen werden. Dabei gab Marx in einigen
Hinsichten der Produktionssphäre zu großes Gewicht und ließ andere soziologisch
relevante Prozesse außer Acht, die gleichfalls quasi naturgesetzlichen Charakter
annehmen können: die sozialpsychologisch ausmachbaren Charakterdispositionen
und Identitätsmuster, die das Handeln von Individuen in erheblichem Maße len-
ken, und die kulturtheoretisch zu analysierenden Prozesse des modernen Konsums
und des Marketings, der Medien, des Sports, also all der Bereiche, die Horkheimer
und Adorno dann als das System der Kulturindustrie zu begreifen versuchten. Mit
der fortschreitenden Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft schoben sich neue
gesellschaftliche Bereiche in der Vordergrund, sie bestimmten verstärkt den Ge-
samtprozess, und damit stellten sich neue theoretische und praktische Fragen.
Der »Wahrheitskern« der Kritischen Theorie ändert sich. Dessen waren sich ihre
Vertreter genauestens bewusst. Ihrem eigenen Verständnis nach war die ältere
Kritische Theorie eine historizistische Theorie, ihren eigenen Begriffen, Theoremen
und einzelnen Diagnosen nach ebenso veränderbar wie in ihrem Verhältnis zur
Gesellschaft und ihren Akteuren. Die Autoren der älteren Kritischen Theorie
glaubten, dass der Kapitalismus nach einer liberalen Hochphase in das eher von
Katastrophen bestimmte Stadium der Spätkapitalismus eingetreten sei. Noch bei
Jürgen Habermas, der die Kritische Theorie paradigmatisch neu ausrichtete und ins
Zentrum der Theoriebildung die Frage demokratischer und aufgeklärter Verständi-
gungsverhältnisse zwischen frei miteinander sprechenden Bürgern stellte, finden
sich Spuren jener Zeitdiagnose. Denn auch er vertritt die Ansicht, dass die für
6 Alex Demirovic
theorie zeitgemäß fortzusetzen. Das verändert auch seine Gestalt. Denn die theo-
retischen Versuche, in die mit quasi-naturgesetzlicher Gewalt verlaufenden Pro-
zesse der gesellschaftlichen Entwicklung einzugreifen, verändern auch die Theorie.
In sie gehen neue Motive, Erfahrungen, Probleme und Begriffe ein. Indem die
Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen das vielfache Verhältnis von Kon-
tinuität und Diskontinuität ausloten, entfalten sie selbst Modelle kritischer Gesell-
schaftstheorie für die jeweiligen Gegenstandsbereiche der gesellschaftlichen Ent-
wicklung.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1977 [1959]): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders.,
Ges. Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a. M.
– (1963): [Vorbemerkung] zu »Eingriffe«, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a. M.
– (1973 [1966]): Negative Dialektik, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M.
Demirovic, Alex (1999): Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kriti-
schen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max (1988 [1931]): Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die
Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 3, Frankfurt
a. M.
Horkheimer, Max (1988 [1932]): Vorwort [zu Heft 1/2 des I. Jahrgangs der »Zeitschrift für
Sozialforschung«], in: ders., Ges. Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft
Alex Demirovic
I. Kritik
hältnisse immer umfassender geworden ist, jedoch die Aufklärung an der Gestal-
tung der Gesellschaft bislang immer noch scheitert. Es bestehen trotz aller auf-
klärerischer Bemühung und durch diese hindurch gesellschaftliche Verhältnisse, die
nach wie vor von unbeherrschten Naturgesetzen bestimmt sind. So gerieten die
Menschen in den vergangenen zweihundert Jahren mit zunehmender Aufklärung
und rationaler Beherrschung von Natur und Gesellschaft gleichzeitig immer weiter
in eine von ihnen selbst erzeugte, also selbstverschuldete Unmündigkeit. Die
Vernunft setzte sich nur in Einzelbereichen durch, trug aber wenig zur Gestaltung
des Gesamtzusammenhangs bei. Dies hat etwas Paradoxes. Denn dass historisch
mit der Komplexität und Differenziertheit der Gesellschaft das Maß an Unfreiheit
vielleicht sogar noch zunimmt, lässt sich nur behaupten, weil mit der wie immer
widersprüchlichen bürgerlichen Gesellschaft und mit der Aufklärung überhaupt
erst die historischen Bedingungen entstanden sind, die den Menschen einen Begriff
von Rationalität und Erfahrungen geben, die ihnen die Emanzipation und ein
freies, ungezwungenes, glückliches Leben als realistische Perspektive immer wieder
von neuem und auf jeweils höherer Stufenleiter vor Augen führen. Das Miß-
verhältnis wird aus der Sicht Horkheimers und Adornos immer größer. Einerseits
führt der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt zu einer immer weiter vor-
dringenden Beherrschung und Nutzbarmachung von Naturgesetzmäßigkeiten und
natürlichen Ressourcen, die gesellschaftliche Produktion und der Reichtum steigt
auf ein menschheitsgeschichtlich nie gekanntes Niveau und wächst immer noch
weiter. Gleichzeitig führt dies nicht oder nur in geringerem Maße zur Einlösung
der damit verbundenen Versprechungen auf Fortschritt von Freiheit, Genuss und
Muße. Reproduziert sich die Wirtschaft auch nur in etwa auf gleichem Niveau, also
mit geringer Wachstumsrate, so beginnt sich sogleich eine tiefe Erschütterung und
Krisenwahrnehmung bemerkbar zu machen; Arbeitslosigkeit gilt als Zeichen man-
gelnder Leistungsbereitschaft und nicht als gesellschaftlicher Reichtum. Technik
und Wissenschaft tragen zur Schaffung ungeheurer technischer Selbstzerstörungs-
kräfte der Menschheit bei, Armut, Verelendung, Naturzerstörung nehmen keines-
wegs ab, vielmehr werden gerade erzielte Erfolge bei ihrer Beseitigung schon in der
nächsten Wirtschaftskrise wieder zerstört, und jahrelange Anstrengungen vieler
Menschen werden – wie in Thailand oder in Argentinien – innerhalb kurzer Zeit
zunichte gemacht. Der Fortschrittsglauben ist tief verankert, über Einbrüche wird
schnell mit dem Hinweis auf langfristige Verbesserungen hinweggetröstet, die,
selbst wenn sie eintreten sollten, zwischenzeitlich doch viele Opfer kosten.
Horkheimer und Adorno vertreten nun entschieden die Ansicht, dass Vernunft
und Aufklärung an solchen Fehlentwicklungen nicht unschuldig sein können. Es
wäre auch in der Tat zu einfach, dies alles einfach nur ökonomischen Prozessen
anzulasten. Bis ins Denken hinein sei Herrschaft zu erkennen – und zwar als
unversöhnte Natur. Denn Vernunft ist selbst ein Organ der Natur, sie ist ein Mittel
der Selbsterhaltung und befähigt zur Erkenntnis und Anpassung an die Natur-
gesetze (vgl. Horkheimer, Adorno 1944, S. 64). Anders gesagt: Vernunft hat sich
mit sich selbst noch nicht versöhnt und selbstkritisch noch nicht erkannt, dass sie
bislang nicht allein eine Form von Freiheit, sondern auch ein Instrument von
Herrschaft ist. Vernunft gehört konstitutiv zur Entwicklung auch der modernen
12 Alex Demirovic
Ökonomie und Gesellschaft, denn ohne Wissenschaft, also ohne rationale Buch-
führung, Arbeits- und Unternehmensorganisation, ohne genaue sozialwissen-
schaftliche Analyse der ökonomischen Prozesse, ohne statistische Kenntnisse der
Zu- und Abnahme der Bevölkerung, ihrer ökonomisch-sozialen Situation und
ihres politischen Verhaltens, ohne die Entwicklung moderner großindustrieller
Produktionsverfahren und technischer Produkte wäre die moderne Gesellschaft
nicht entstanden und hätte sich auch nicht derart entwickelt. Es ist charakteristisch
für die kapitalistische Gesellschaft, dass sie einen Anteil ihres wirtschaftlichen
Gesamtprodukts in systematisch organisierte Innovationsprozesse – also vor allem
in Wissenschaft und Technik, aber auch allgemeiner in Rationalisierungsprojekte –
investiert, weil sie davon abhängig ist. In diesem Fall ist Vernunft, die sich selbst
permanent überholt, der Antrieb und das Medium der Veränderung. Die Vernunft
kann also von der Kritik nicht ausgenommen bleiben.
Horkheimer und Adorno kritisieren nun an der Vernunft ihren totalisierenden
Charakter. Ihrem eigenen Anspruch nach müsse sie alles begreifen wollen; und dies
geschieht, indem sie alles in einen systematischen Zusammenhang bringt. Die
Vernunft ist also ihrer Dynamik nach totalitär, sie perfektioniert sich immerzu
selbst, treibt sich selbst teleologisch immer weiter dazu an, das schon Erkannte zu
revidieren und zu überbieten, bis alles ins System paßt. Dieses System will rein als
solches gelten, es glaubt, keine Geschichte zu haben und will ewig bestehen.
Gerade in diesen Implikationen entsprechen sich moderne Vernunft und bürger-
liche Gesellschaft. Getrieben von dieser totalisierenden Logik rationalisiert die
Vernunft am Ende auch noch sich selbst – also die Motive, die ihre Grundlage sind,
nämlich den Menschen die materielle Existenz und ihre Freiheit und Autonomie zu
ermöglichen. Mit Vernunft wird begründet, dass Menschen nicht frei sein können
oder – unter Umständen und zum Wohl der Menschheit – vernichtet werden
müssen, denn als vernünftig erscheint die Einsicht, dass alles so, wie es ist, auch
notwendig ist. Wird die Gesellschaft nach Gesichtspunkten der Vernunft organi-
siert, dann führt dies im Grenzfall dazu, dass, weil alles vernünftig organisiert ist,
niemand sich anders verhalten darf, als es nach allgemeinen Gesetzen immer schon
feststeht. Dialektisch geht an diesem Punkt Aufklärung in ihr Gegenteil über: Wird
die Logik der Vernunft nämlich zu Ende gedacht, schlägt die Vernunft, das Mittel
und die Lebensform größter Freiheit, in ein Zwangsverhältnis um und bringt die
Individuen um ihre Autonomie.
Horkheimers und Adornos kritische Überlegung hat als solche eine problemati-
sche Konsequenz. Wenn ihr Argument stimmt, dann ist ihre Kritik an der Vernunft
nur eine weitere reflexive Steigerung ihrer totalitären Dynamik zur Kontrolle;
wenn sie sich dem jedoch entziehen wollen, dann scheint ihnen nur noch der
hilflose Ausweg zu bleiben, auf Erfahrungs- und Handlungsbereiche auszuwei-
chen, die sich ausdrücklich als außerhalb des Bereichs der Vernunft stehend
verstehen: Kunst, Erfahrungen, Gefühle – oder aber, und darauf zielt der Einwand
von Habermas, die Autoren müssen schließlich in ihrem Anspruch scheitern,
überhaupt zur kritischen Gesellschaftstheorie etwas beizutragen.
Habermas hat die Frage, wie die Gesellschaftstheorie als eine kritische be-
gründet werden kann, ins Zentrum seiner Überlegungen zur kritischen Gesell-
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 13
schaftstheorie gestellt. Ein großer Teil seiner theoretischen Bemühung ist dem
Problem gewidmet, den Begriff der Vernunft neu zu fassen, der Tradition der
Aufklärung neue Impulse zu geben und damit die Grundlagen für die Maßstäbe
der Kritik zu sichern. Diese sollen unanfechtbar und damit verbindlich für alle
Individuen sein. Die Theorie nimmt also die Gestalt einer Begründung von Gesell-
schaftskritik an. Damit ändert sich aber auch der Status der Gesellschaftstheorie
und der Begriff der Gesellschaft selbst. Der Lösung von Habermas nach ist der
Maßstab der Kritik in die alltägliche Sprachverwendung eingelagert. Immer, wenn
Individuen miteinander sprechen, anerkennen sie implizit und zumeist auch kon-
trafaktisch ihre Gesprächspartner als rational argumentierende, autonome Indivi-
duen, die das Gesprochene bestreiten können. Kritik ist zunächst die mit der
alltäglichen Sprachverwendung verbundene Möglichkeit, die in und mit den Sätzen
erhobenen Geltungsansprüche auf objektive Wahrheit, moralische Richtigkeit und
subjektive Wahrhaftigkeit in Frage stellen zu können. Zu einem gesellschaftstheo-
retischen Maßstab der Kritik wird dieses kommunikationstheoretische Argument,
weil es sich um eine normative Kontrastfolie zur gesellschaftlichen Wirklichkeit
handeln soll. Ganz in der praxisphilosophischen Tradition des Marxismus – aber
einhergehend mit einer Umstellung der theoretischen Grundbegriffe von Arbeit
auf Kommunikation, von Produktionsverhältnissen auf Intersubjektivität – wird
nämlich mit dem Rückgriff auf die natürliche Sprache dem Anspruch Rechnung
getragen, dass die Kritik nicht von außen kommen darf, sondern sich in den
gesellschaftlichen Verhältnissen immer schon als Tendenz entfalten muss. Mit der
Sprache scheint dies gewährleistet. Denn Menschen sprechen als Menschen immer
miteinander, sind durch Sprache also immer schon in ein gesellschaftliches Verhält-
nis zueinander eingetreten. Gesellschaft könnte ohne kommunikative Vermittlung
der Individuen nicht existieren. Der Rückgriff auf Sprache als universelles und
vorhistorisches Medium der Verständigung gewährleistet aber auch, dass der kriti-
sche Maßstab tief genug gelegt wird, um von oberflächlichen Veränderungen und
sich verändernden Orientierungen der sozialen Akteure unabhängig zu bleiben.
Aus diesem Blickwinkel einer unverstellten Kommunikation, in der Individuen
immer dann, wenn sie es für erforderlich halten, das im Sprechen mit-kom-
munizierte Recht auf Widerspruch in Anspruch nehmen, kann die Gesellschaft
darauf hin geprüft werden, ob sie den argumentativen Austausch der Individuen
einschränkt, verhindert oder sogar die lebensweltlichen Kontexte zerstört, in denen
die Individuen die Fähigkeit erwerben, sich auf ebenbürtige Weise miteinander zu
verständigen. Die Gesellschaft verletzt in solchen Fällen Bedingungen kommu-
nikativ vermittelter Intersubjektivität, mit anderen Worten, gerät hier in Wider-
spruch zu ihren eigenen Reproduktionsbedingungen und wird pathologisch.
Eine der Folgen dieser Überlegungen ist, dass sich die Aufmerksamkeit der
Gesellschaftstheorie auf moralphilosophische Begründungsfragen verschiebt. Die
Anforderungen an die materiale Gesellschaftstheorie sinken entsprechend, im
Grenzfall reicht es aus, zu wissen, dass die gesellschaftliche Entwicklung öffent-
liche Diskussionen be- oder verhindert. Gesellschafttheorie geht in Demokratie-
theorie oder Theorie der Zivilgesellschaft über. Der Gesamtprozess der gesell-
schaftlichen Entwicklung, die dynamische Reproduktion eines durch zahlreiche
14 Alex Demirovic
nen bündelt und monopolisiert und auf diese Weise an der Unmündigkeit von
Menschen mitwirkt. Kritische Theoriebildung ist demnach die reflexive Analyse
dieser Stellung der Vernunft zur Wirklichkeit und der Folgen für die Organisation
der Gesellschaft. Entsprechend begreift Horkheimer kritische Theorie als ein
»einziges entfaltetes Existenzialurteil« (ebd., S. 201). Sie muss derart beschaffen
sein, dass sie gleichzeitig material die Gesellschaft bestimmt und dem Gestus der
eigenen Rede nach auch Kritik einschließt. Dies ist nicht durch eine äußerlich
bleibende Parteilichkeit für besondere gesellschaftliche Gruppen möglich, sondern
allein durch das reflexive Wissen der Vernunft über die Folgen, die es für sie selbst
hat, wenn sie sich aus den Zusammenhängen der gesellschaftlichen Kooperation
herauslöst und sich in die hierarchische Position der überlegenen, befehlenden,
planenden und beherrschenden Vernunft bringt – also die gesellschaftliche Arbeits-
teilung in der Weise strukturiert, dass sie selbst eine Position einnimmt, die ihr
erlaubt, die intellektuellen, rationalen Potenzen aller anzueignen.
Die Analyse der Vernunft ist demnach kein bloß philosophisches Problem,
sondern eines des historischen Stands der Arbeitsteilung; sie gibt darüber Aus-
kunft, wie rational die Kooperation zwischen den Individuen und ihren Tätig-
keiten organisiert ist. Reflektiert die Vernunft auf sich selbst, so ist sie gerade auch
darin ein Moment der elliptischen, widersprüchlichen Bewegung der Vernunft, die
ineins ebenso Moment von Herrschaft wie von Befreiung ist – durch Selbstrefle-
xion wird sie sich dessen bewusst, dass sie sich als naturbeherrschende von der
Natur distanziert und doch deren Opfer wird, weil sie nur die Gesetze der
Notwendigkeit nachvollzieht und in immer noch größeren wissenschaftlich-tech-
nischen Fortschritt umsetzt. Partikulare Form der Herrschaft und universale Per-
spektive sind in der Vernunft untrennbar. Dies führe zur Entwicklung einer
gewaltigen materiellen wie intellektuellen Apparatur; doch gleichzeitig sei gerade
wegen dieser materiellen Entwicklung, die notwendige Arbeit praktisch überflüssig
macht, die »gesellschaftliche Verwirklichung des Denkens so weit offen, daß
ihretwegen Denken von den Herrschenden selber als bloße Ideologie verleugnet
wird« (Horkheimer, Adorno 1944, S. 61). War die Organisation der Selbsterhaltung
die historische Grundlage noch der Herrschaft von Feudalen und des frühen
Bürgertums, so ist die gesellschaftliche Kooperation derart weit fortgeschritten,
dass alle gemeinsam diese Aufgabe erfüllen könnten (ebd., S. 66). Der Gesellschaft
wird ihr Verhältnis zur Natur transparent – es ist keine mystische Einheit von
Subjekt und Objekt, sondern bleibt ein Verhältnis –, die Menschen werden sich
ihres Zusammenlebens als eines kooperativen, kreativen, freien Zusammenhangs
bewusst.
II. Gesellschaft
Die Bemühungen um die Begründung der Kritik isolieren diesen Begriff von dem
der Gesellschaft und lassen außer Acht, dass kritische Theorie der Gesellschaft kein
positives Verständnis von Gesellschaft hat. Der Begriff der Gesellschaft meint ja
18 Alex Demirovic
Horkheimer setzt in diesen wenigen Sätzen mehrere Akzente: Zunächst will er den
Begriff der Gesellschaft als einen bedingten, vermittelten begreifen, dieser Begriff
ist demnach nicht der allgemeinste und umfassendste, der allen anderen gesell-
schaftlichen Phänomenen vorausgeht; dem entspricht die Absicht, den totalen
Begriff der Gesellschaft zu kritisieren, wie er in der Soziologie Verwendung findet.
Gleichzeitig lassen die Sätze aber auch den Eindruck entstehen, dass der Begriff der
Gesellschaft aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung selbst seinen Sinn ver-
loren hat, der von Horkheimer offenkundig positiv bewertet wird. Es stellt sich die
Frage, ob Gesellschaft von ihm nur insofern kritisiert wird, als sie zur totalen
Gesellschaft sich entwickelt hat. Adornos Antwort legt dies nahe. Totale Verge-
20 Alex Demirovic
totalisieren. »Nicht bloß verlangt das Ganze, um nicht unterzugehen, seine Ände-
rung, sondern ist ihm auch, kraft seines antagonistischen Wesens, unmöglich, jene
volle Identität mit den Menschen zu erzwingen, die in den negativen Utopien
goutiert wird« (Adorno 1964, S. 632). Totalisierungsprozesse finden statt, doch sie
scheitern, und zwar gerade an den inneren Widersprüchlichkeiten eben dieses
Vergesellschaftungsprozesses selbst, der durch Antagonismen gekennzeichnet ist,
durch Tauschhandlungen, in denen eine Seite immer wieder des Profits wegen um
einen Teil ihres Produkts betrogen wird. Gesellschaft besteht demnach aus den
prekären, weil immer wieder fehlschlagenden Versuchen, eine Totalität herzustel-
len, die jeweils an ihren eigenen Konstruktionsprinzipien zerbricht.
Adorno spricht nun durchaus von der »rational durchsichtigen, wahrhaft freien
Gesellschaft« – die der Verwaltung so wenig wie der Arbeitsteilung entraten
könnte (Adorno 1965, S. 17). Nach diesem Begriff einer gelingenden Gesellschaft
wird von ihm auch der positive Aspekt des Tausches gedeutet. Annullierte man das
Identitätsprinzip, die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, »so träten anstelle der
Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip
innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von
Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des
Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand,
verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch« (Adorno 1966, S. 250).
Aufgrund solcher Formulierungen lässt sich vielleicht zunächst noch annehmen,
dass Adorno einen ganz emphatischen Begriff von gesellschaftlicher Totalität haben
könnte, von einer Gesellschaft, in der es keine inneren Widersprüche mehr gäbe.
Doch Adorno äußert sich hinsichtlich des Totalitätsbegriffs deutlich negativ:
»Nicht etwa ist die Totalität das Interesse der kritischen Theorie der Gesellschaft
derart, daß sie jene herstellen möchte« (Adorno 1968, S. 587). Es verhält sich also
komplizierter. Denn Adorno zufolge treten Menschen in eine Gesellschaft ein, um
sich durch Zusammenschluss und gemeinsame Praxis zu erhalten. Eine Gesell-
schaft, die ganz ihrem Begriff entsprechen würde, in der Gesellschaftlichkeit selbst
die höchste Potenz des Zusammenhandelns entfalten würde, wäre jedoch keine
Gesellschaft als Totalität mehr.
»Bleibt die Menschheit eingefangen von der Totalität, die sie selbst bildet, so hat, nach Kafkas
Wort, ein Fortschritt noch gar nicht stattgefunden, während doch bloß Totalität erlaubt, ihn
zu denken. Am einfachsten ist das zu verdeutlichen durch die Bestimmung von Menschheit
als des schlechterdings nichts Ausschließenden. Würde sie eine Totalität, die in sich selbst
kein begrenzendes Prinzip mehr enthält, so wäre sie zugleich ledig des Zwangs, der alle ihre
Glieder einem solchen Prinzip unterwirft, und wäre damit Totalität nicht länger, keine
erzwungene Einheit.« (Adorno 1964, S. 619)
Gesellschaft, die ihrem Begriff entspräche, ginge über in Menschheit; und mensch-
heitliches Zusammenleben stellt sich Adorno ganz offensichtlich nicht mehr in der
Kategorie der Gesellschaft oder der Totalität vor – also weder Weltstaat noch
Weltgesellschaft.
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 23
nicht. Denn die Gesellschaftsformation wird durch immer neue Praxis reproduziert
und umgestaltet, da der Antagonismus fortexistiert; die Rationalität kritischer
Theoriebildung müssen sich die Akteure jeweils neu erschließen. Interessant an den
vorgestellten Überlegungen der älteren Kritischen Theorie erscheint mir hier zwei-
erlei: (a) das Problematisierungsniveau; (b) der Hinweis auf schon mögliche Frei-
heit.
(a) Mit dem Problematisierungsniveau meine ich die unaufdringliche Radikalität
der Theoriebildung, die auch die Frage nach der Gesellschaft selbst noch ein-
schließt. Adorno und Horkheimer sehen wohl – wenn auch nicht immer deutlich
genug – die Bedeutung von Klassenkompromissen als Grundlage für die Struktur-
bildung der Gesellschaft; sie sehen die Notwendigkeit und die damit verbundenen
Errungenschaften. Doch sehen sie auch den Preis, da die Kompromissbildung mit
enormen ökonomischen und politischen Krisen, mit Krieg und massenmörde-
rischer Barbarei einherging; vor allem betonen sie auch die negativen Folgen der
Integration sozial gegensätzlicher Interessenlagen für die Einzelnen, für die psych-
ischen Dispositionen und das Naturverhältnis.
Die Klage über die Desintegration der Gesellschaft, ihr Auseinandertreiben ist
heute vielfach der Tenor kritischer Analysen: Arbeitslosigkeit, Einwanderung,
Verarmungsprozesse, Demokratieverluste durch Globalisierung, Individualisie-
rung, Anomie, Gewalt, Auflösung von Familien, Unsicherheit. Dies richtet sich
gegen die Gesellschaftsfeindlichkeit des Neoliberalismus und die Privatisierung der
Gemeingüter. Doch die heute so verbreitete melancholische Geste der Kritik macht
die integrierte Gesellschaft zum Maßstab: Gemeinschaftlichkeit, relativer Wohl-
stand, Chancengleichheit oder Einbettung der Ökonomie in stabile soziale Ver-
hältnisse. Damit ist die Kritik immer davon bedroht, in Affirmation überzugehen.
Denn kaum jemand fragt nach den Folgen einer solchen Integration und des sie
befördernden neuen Kompromisses. Auch wenn es vielleicht besser wäre, diesen
zustande zu bringen, als sich bewusstlos dem von einem subjektlosen Chor vorge-
tragenen Appell zur Anpassung an die Prozesse der Deregulierung, der Entstaat-
lichung, der Aushöhlung der Demokratie, der Ungewissheit zu folgen, so sind
schon jetzt die sich abzeichnenden Folgen erkennbar: Das Naturgesetz des Wirt-
schaftswachstums bleibt bestehen, Ressourcen werden auch während der nächsten
Jahrzehnte überbeansprucht, die Arbeit nimmt extensiv und intensiv zu, die struk-
turelle Arbeitslosigkeit verschärft sich und die Ungleichverteilung des gesellschaft-
lichen Reichtums wächst. Es ist eine der wichtigen Überlegungen der jüngeren
gesellschaftstheoretischen Diskussion, dass Gesellschaft Ergebnis einer konstruk-
tiven Praxis der sozialen Akteure ist, ein Verallgemeinerungs- und Totalisierungs-
prozess, in dem einzelne Akteursgruppen ihre Lebensformen miteinander ver-
knüpfen und für einen überschaubaren Zeitraum bestimmte Regelmäßigkeiten des
kollektiven Lebens erzeugen (vgl. dazu Laclau/Mouffe 1991; Demirovic 1992).
Kritisch gegen die ältere Kritische Theorie ist festzuhalten, dass sie annahm, die
Kräftekonstellation des Fordismus würde historisch ein für allemal eingefroren.
Der einmal geschlossene Kompromiss würde zu einer derartig stabilen Integration
führen, dass Freiheit in das Außen dieser Gesellschaft abgedrängt und von dorther
residual wieder in den Prozess eingeführt werden könnte. Sie hat also nicht
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 25
gesehen, was in der weiteren Diskussion seitdem von großer theoretischer Wichtig-
keit wurde, dass nämlich die Gesellschaft sich von einem umfassenden instabilen
Kompromissgleichgewicht zum nächsten fortbewegt. Auch in der Form der
zwanghaften Vergesellschaftung reproduziert sich Gesellschaft auf immer noch
höherer Stufenleiter und nimmt neue Gestalten an, die von einer neuen Dialektik
von Notwendigkeit und Freiheit bestimmt sind.
(b) Die Analyse der Dialektik der Aufklärung hatte ergeben, dass die Vernunft,
wenn sie sich auf ihre eigenen Grenzen besinnt, also selbstkritisch ihre privilegierte
»geistige« Rolle in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erkennt, sich von ihrer
Herrschaftsfunktion leicht befreien kann. Denn Vernunft als eine solche, die auf
gesamtgesellschaftliche Veränderung zielt und mit anspruchsvoller Praxis der ver-
nünftigen Gestaltung verbunden sei, werde nicht mehr gebraucht und sei daher
freigesetzt. Freiheit erscheint also aufgrund der ungeheuren Entfaltung des gesell-
schaftlichen Reichtums und des Grades an Kooperation möglich, doch werde sie
mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln blockiert. Systematisch würden die
Vernunft entkräftet und die Verbindlichkeit der Theorie unterhöhlt – systematisch
werde Halbbildung erzeugt. Für Adorno war es ein entscheidender praktischer
Beitrag zur Emanzipation, der Theorie und der Vernunft verbindliche Geltung zu
verschaffen – also die Produktionsbedingungen von Vernunft zu reproduzieren
(vgl. dazu Demirovic 1999).
Betrachten wir die Konstellation aus heutiger Sicht, so hat sich an dieser
Aufgabe als solcher nichts geändert, doch ist der Kontext ein anderer. In den
vergangenen Jahrzehnten hat es zahlreiche Bemühungen gegeben, zu zeigen, dass
die Individuen in der Reproduktion der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse
immer frei sind und sich Rationalität auch unter widrigen Bedingungen immer
wieder erneuert. In jüngster Zeit haben vor allem Michael Hardt und Antonio
Negri Argumente vorgetragen, die Gesichtspunkte der älteren Kritischen Theorie
wieder aktualisieren. Aus der Sicht dieser beiden Autoren ist die Entwicklung der
gesellschaftlichen Arbeit und Kooperation in eine Phase getreten, in der die
gesellschaftlichen Potenzen des Zusammenhandelns der Menge von Singularitäten
sich durchgesetzt haben. Die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit als
die wohl entscheidende Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist ihrer Sicht
nach aufgrund neuer Formen der immateriellen, intellektualisierten Arbeit tenden-
ziell überwunden. Sie gehen damit weiter als Horkheimer und Adorno, denen
zufolge das Bürgertum auf Distanz zur Vernunft gegangen war und sie freigelassen
hatte, ohne dass jedoch emanzipatorische Kräfte sie sich unter taylorisierten Ar-
beitsbedingungen hätten aneignen können. Heute hat die Form von Arbeit eine
Einheit von körperlicher und intellektueller Arbeit geschaffen, die Bedingung einer
historisch konkreten, objektiven Form von Freiheit ist. Demgegenüber hat die sich
in Gestalt einer neuen Form von globalisierter Netzwerkmacht als Empire reor-
ganisierende Herrschaft keine objektive Funktion mehr. An diesem Punkt wieder-
holen die beiden Autoren die Diagnose, die Horkheimer und Adorno 1944 ihrem
Buch über die Dialektik der Aufklärung schon zugrunde legten. Auch Hardt und
Negri wiederholen noch einmal, dass der Kapitalismus selbstreferentiell wird und
alle Prozesse sich nun innerhalb des Empire abspielen. Das gilt nun auch für die
26 Alex Demirovic
Kritik und kritische Theorie: die reelle Subsumtion ist abgeschlossen, mit dem
globalisierten Weltmarkt herrscht Immanenz. Der entscheidende Unterschied lässt
sich deutlich benennen: Nahmen Horkheimer und Adorno an, dass der kultur-
industrialisierte Spätkapitalismus alles mit Wiederholung, Eintönigkeit und Gleich-
heit banne und dem die Differenz, die Vielfalt und das Nichtidentische entgegen-
gehalten werden könne, so vermuten nun Hardt und Negri aufgrund ihrer Diag-
nose, dass sich die Reproduktion des Weltmarkts heute auf der Grundlage von
Differenz und Vielfalt vollzieht (vgl. Hardt/Negri 2002, S. 150ff.). Eines der wich-
tigsten Kriterien für Emanzipation verliert also seine emanzipatorische Kraft: Es
handelt sich um das Plädoyer für Differenz, für die Auflösung von binären
Gegensätzen und die Überwindung der Dialektik, also der Gesellschaft als Totali-
tät, die sich teleologisch selbst auf den Begriff bringt. Denn dieses Kriterium wurde
selbst schon in die Reproduktion des postmodernen Kapitalverhältnisses aufge-
nommen.
Auch wenn vieles gegen die These von Hardt und Negri spricht, dass die
Befreiung von der Notwendigkeit für alle unmittelbar möglich ist, so erinnert sie
doch mit Emphase daran, dass es Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie ist, das
Reich der Freiheit konkret auszuloten; und nehmen wir den Denkanstoß der
kritischen Gesellschaftstheorie von Horkheimer und Adorno ernst, dann ist diese
Freiheit von der Notwendigkeit schon seit langem möglich. Allerdings kann diese
Frage nicht allein theoretisch entschieden werden, sie ist auch eine Frage der Praxis.
Diese Möglichkeit der Freiheit muss den Individuen mit Evidenz vor Augen
stehen. »Aufklärung vollendet sich und hebt sich auf, wenn die nächsten prakti-
schen Zwecke als das erlangte Fernste sich enthüllen« (Horkheimer, Adorno 1944,
S. 66).
Literatur
Adorno, Theodor W. (1964): Fortschritt, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a. M.
1977
– (1965): Gesellschaft, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1972
– (1966): Negative Dialektik, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M. 1973
– (1968): Diskussionsbeitrag zu »Spätkapitalismus oder Industriegesellschaft?«, in: ders.: Ges.
Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1972
Demirovic, Alex (1992): Regulation und Hegemonie, in: Alex Demirovic/Hans-Peter Krebs/
Thomas Sablowski (Hg.), Hegemonie und Staat, Münster
– (1993): Intellektuelle und kritische Gesellschaftstheorie heute, in: Prokla 92
– (1999): Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen Theorie
zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M.
Engels, Friedrich (1880): Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft,
in: Marx-Engels-Werke, Bd. 19, Berlin 1973
Foucault, Michel (1992): Was ist Kritik?, Berlin
Habermas, Jürgen (1985): Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M.
Hardt, Michael/Negri, Antonio (2002): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.
Honneth, Axel (2000a): Rekonstruktive Gesellschaftskritik unter genealogischem Vorbehalt.
Zur Idee der »Kritik« in der Frankfurter Schule, in: DZPhil, H. 5
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 27
– (2000b): Die soziale Dynamik von Mißachtung, in: ders.: Das Andere der Gerechtigkeit,
Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max (1937): Traditionelle und kritische Theorie, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 4,
Frankfurt a. M. 1988
– (1996): Briefwechsel 1949–1973, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 18, Frankfurt a. M. 1996
–/Adorno, Theodor W. (1944): Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, Max: Ges. Schrif-
ten, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987
Kaelble, Hartmut (1997): Europäische Vielfalt und der Weg zu einer europäischen Gesell-
schaft, in: Hradil, Stefan/Immerfall, Stefan (Hrsg.): Die westeuropäischen Gesellschaften
im Vergleich, Opladen
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie, Wien
Walzer, Michael (1990): Kritik und Gemeinsinn, Berlin
TRUST ME
Alexander García Düttmann
Kann man Aufklären verneinen? Oder kann man nur aufklärend verneinen? For-
mal und nicht eigentlich klärend mag der Bescheid sein, Aufklärung könne nicht
verneint werden, weil Negativität als Medium der Verneinung, der Kritik, die einen
Ausgang anzeigt und einen Ausgang nimmt, eben das Aufklären ausmache und
Aufklärung stets auch Aufklärung über Aufklärung sei, Aufklärung, die sich nicht
bei einer Vorstellung oder einem Begriff ihrer selbst beruhigt. Das Über der
Reflexion, das sich noch auf die Reflexion richtet und sie in eine Reflexion der
Reflexion, in zweite Reflexion oder in Selbstreflexion verwandelt, in Eingedenken
oder Selbstbesinnung, die über das Reflektieren und Spekulieren aufklärt, statt sich
von ihm leiten zu lassen, gehört konstitutiv zur Aufklärung, ist von ihr nicht
ablösbar. In dem Maße, in dem Aufklärung eines anderen bedarf, unablösbar
Aufklärung über etwas ist, das sie erhellt, bleibt sie an eine Voraussetzung ge-
bunden, an eine dunkle oder wolkige Vergangenheit, verhält sie sich dem Neuen
gegenüber gleichgültig oder feindlich und richtet sie Negativität gegen Negativität.
In dem Maße aber, in dem das Über an keine bestimmte Voraussetzung gebunden
sein darf und Aufklärung ihm so sehr untersteht wie es der Aufklärung, ist
Aufklärung ein unablässiges und grundsätzlich offenes Entwerfen ihrer selbst,
offen für und gar angewiesen auf das Neue, ohne das sie zu erstarren und sich in
einen Selbstwiderspruch zu verwickeln droht. In dem Maße schließlich, in dem ihr
das Neue wiederum zu einem Vorausgesetzten wird, das sie auflöst, ist Aufklärung
nichts als ein Medium, eine Mitte, in der Kräfte aufeinandertreffen, die sich nie zu
einem positiv Gesetzten verselbständigen. Ihre eigene Kraft liegt in der Negativität
der Auflösung, des entwerfenden Auflösens und des auflösenden Entwerfens.
Jede Verneinung der Aufklärung würde also lediglich zu dieser beitragen, diese
weitertreiben, über sich hinaus und dadurch gerade auf sich zu. Die Öffnung der
Aufklärung, durch die sie sich zu einem Vergangenen und einem Kommenden
verhält, prägt ihren Gegenwartsbezug oder ihren strukturell modernen Aspekt, die
»reine Aktualität«, um die es der »Haltung« des Aufklärers geht, die Foucault in
seinem bekannten Vortrag aus den frühen 80er Jahren als »attitude de modernité«
bezeichnet, als eine gegenwartsbezogene Haltung oder als ein Modernsein.1 Ob
man plötzlich des Verlusts eines vormals Geglaubten sich bewusst wird oder tätig
Aufklärung über die Heteronomie herrschender Bewusstseinsgestalten betreibt,
regelmäßig ist Aufklärung ein Eingriff, ein Einschnitt, der einen Gegenwartsbezug
schafft, einen Bezug zu einem Hier und Jetzt.
1 Michel Foucault, »Qu’est-ce que les Lumières?«, in: Dits et Ecrits, Bd. 4, Paris 1994, S. 564
und S. 568. Foucault wehrt sich dagegen, die Aufklärung lediglich als geschichtliches
Zeitalter zu definieren und spricht von ihr als einer »Art und Weise, sich zur Gegenwart
zu verhalten«, als einem »Ethos«.
TRUST ME 29
Das Hinaustreiben der Aufklärung über die Aufklärung, durch das sie sich über
sich aufklärt, setzt sie der Gegenaufklärung aus, dem Aberglauben und dem
Vorurteil, der ideologischen Handhabung ihrer Mittel, der selbstzerstörerischen
Beschränkung ihrer selbst, der Verklärung. Weil indes solches Hinaustreiben an
Aufklärung teilhat und sich damit in der Negativität hält oder als Negativität
bewährt, erweist es sich als eines, durch das Aufklärung ständig auf sich zutreibt.
Wie muss man dieses zutreibende Hinaustreiben verstehen? Nicht als ein Resultie-
ren, so, als würde Aufklärung am Ende aus der Aufklärung über Aufklärung
hervorgehen. Vielmehr beschreibt es die doppelte Bewegung einer Aussetzung und
einer Einsetzung, durch die sich Aufklärung als Negativität oder Medium des
Verneinens erhält. In diesem Sinne gibt es keine Gegenaufklärung, die nicht bereits
von der Aufklärung bestimmt würde, mag auch die Gefahr, welche die Gegenauf-
klärung für die Aufklärung darstellt, darin bestehen, dass die Spannung zwischen
Aussetzung und Einsetzung, welche die aufklärende Bewegung zeitigt, sich zeit-
weilig zumindest als Unterbrechung auswirkt. Was in der Aufklärung nicht auf-
geht, was sie, kantisch gesprochen, beschränkt, nicht aber begrenzt, kann nicht ihre
Verneinung sein, kann nichts sein als bloße Verneinung, die als Verneinung der
Aufklärung äußerlich bleibt, Verneinung ohne Verneinung, blinde, unumkehrbare
und unwiderrufliche, im Verhältnis zu möglicher Mündigkeit und Unmündigkeit
unverhältnismäßige und niemals selbstverschuldete Gewalt, Gewalt jenseits allen
Vermögens und Könnens, ohne Ausgang.
So zeigt sich, dass nie ein anderes die Aufklärung verneint, weil allein Aufklä-
rung ein anderes zu verneinen vermag. Man kann nicht für oder gegen die
Aufklärung sein; die vermeintlichen Aufklärer, die mit dieser falschen Alternative
den anderen »erpressen«, wie Foucault wiederum es ausdrückt,2 sind über die
Aufklärung unaufgeklärt, verdinglichen sie, reden dem Dogmatismus das Wort.
Was Aufklärung verneint, ist von ihr schon angesteckt worden, behauptet sich
lediglich verstockt und ohnmächtig gegen sie.
In dem Abschnitt der Phänomenologie des Geistes, in dem Hegel jene Gestalt
des Bewusstseins untersucht, deren Züge man in der geschichtlichen Aufklärung
wiedererkennt, ist es nicht eigentlich der Glaube, der die Aufklärung verneint,
sondern die Aufklärung, die den Glauben verneint. Die aufklärende Verneinung
erweist sich jedoch als Verkennung und verweist auf ihre eigene Beschränktheit,
auf eine mangelnde Aufgeklärtheit der Aufklärung über sich selber. Dass nämlich
allein Aufklärung ein anderes zu verneinen vermag, beinhaltet, dass es ein anderes,
einen Gegenstand der Verneinung, gar nicht gibt, und dass das andere, durch seine
Verneinbarkeit von Aufklärung immer schon angesteckt, in sich deren Keim trägt,
von ihrem Begriff nicht verschieden ist. Immer liegt es an der Aufklärung. Die
Macht der Aufklärung, ihr unwiderstehlich Ansteckendes, ist zugleich ihre Ohn-
2 ebd., S. 571 f. In der Aufklärung erblickt Foucault das »Prinzip einer Kritik« und das
»Geschichtsbewußtsein« einer »ständigen Erschaffung unserer selbst«, die Autonomie
sowohl bestätigt als auch stiftet. Beide sind mit einem »Humanismus« inkompatibel, der
von einem Menschenwesen oder von einem festgesetzten Begriff des Menschen ausgeht
(ebd., S. 573).
30 Alexander García Düttmann
macht, ihre Autoimmunisierung, vergeblicher Kampf gegen ein anderes, in dem sie
versäumt, sich wiederzuerkennen. Die wahre Einsicht in die Schwierigkeiten der
Aufklärung, die mit dem Titel ihrer Verneinung gemeint sind, kann man aus diesem
Grund dort ausmachen, wo ihr nicht ein anderes entgegensetzt wird, ein Prinzip,
ein Wesen, eine Kraft, sondern ihre Selbstverstrickung erörtert wird, die Dialektik
der Aufklärung. Darum spricht Kant konsequent von einer selbstverschuldeten
Unmündigkeit, nicht von einer Unmündigkeit, die der Aufklärung geschichtlich
vorausgeht, als eine frühere Stufe des Bewusstseins, die sich von Aufklärung noch
unangetastet wähnen darf. Längst habe die »Natur« den Menschen von »fremder
Leitung« freigesprochen, sagt Kant am Anfang seines berühmten Artikels, um im
weiteren Verlauf das gewaltsame Abbrechen des Aufklärungsprozesses als »Verbre-
chen wider die menschliche Natur« und ihre »ursprüngliche Bestimmung« zu
brandmarken.3 Aufklärung hat immer schon alle Unmittelbarkeit vermittelt und
alle Unschuld mit dem Schatten eines Zweifels bedeckt. Immer schon hat sie die
schlichte Aufeinanderfolge von Mittelbarkeit auf Unmittelbarkeit und von Mün-
digkeit auf Unmündigkeit durchkreuzt, Virus, Tod Gottes, unvordenkliches Ereig-
nis, das Struktur und Geschichte konfundiert.4 Wäre die Unmündigkeit, aus der
Aufklärung den Weg weist, nicht selbstverschuldet, kein Aufklärungseffekt, wäre
sie nicht der Effekt einer unentwickelten, über sich selber ungenügend aufge-
klärten, willkürlich angehaltenen Aufklärung, hätte Aufklärung keinen Bezug zur
Unmündigkeit, wäre ihre Mündigkeit verdinglicht und damit unmittelbar ihr
eigenes Gegenteil, wäre das Medium, die Mitte, das Zwischen zum Ding erstarrt.
Man könnte nicht von einer Aufklärung über reden, nicht von Aufklärung über-
haupt. Umgekehrt erzeugt Aufklärung wiederum eine Aufeinanderfolge, inaugu-
riert sie Geschichte, muss sie Ausgang aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit
sein, eben weil das Über für sie konstitutiv und sie wesentlich Verhältnis oder
Negativität ist. Diese Aufeinanderfolge stellt sich zwangsläufig als ein Fortschrei-
ten dar, als ein Fortschritt von dem einen Über zu dem nächst höheren, und damit
ebenfalls als universalisierende Tendenz, buchstäblich als Vollendung. Aufklärung
erscheint stets auch und vor allem als Fortschritt zum Allgemeinen. Die Grenze
solchen Fortschritts und der mit ihm gleichgesetzten Aufklärung wird von dem
Über gezogen, das kein Über mehr ist, weil es sich auf das Über und seine
fortschreitende Erneuerung bezieht. Mit der Aufklärung stirbt Gott in dem Au-
genblick, in dem er geboren wird, wird er in dem Augenblick geboren, in dem er
stirbt.
Hegel unterscheidet zwischen zwei Verhältnissen, in die Aufklärung zu ihrem
anderen tritt, zum Glauben. Einerseits erlaubt gerade die grundsätzliche Einheit
von Glaube und Aufklärung, über die beide sich täuschen, die »durchdringende
Ansteckung«, gegen die kein Gegenmittel gefunden werden kann. Verneint der
Glaube die Aufklärung, hat er sich ihr bereits preisgegeben. Die Verbreitung der
3 Immanuel Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Werke, Bd. 9.1, hg.
von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1964, S. 58.
4 Alexander García Düttmann, Uneins mit Aids. Wie über einen Virus nachgedacht und
geredet wird, Frankfurt a. M. 1993, S. 111.
TRUST ME 31
gegen ihre eigene Plattheit, und einen Affekt gegen ihre Ungreifbarkeit, zwischen
Verwirklichung und Unwirklichkeit, zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Alle
Ungreifbarkeit hat eine irritierende Wirkung und provoziert eine Ungeduld, die
dem Aufklären den Riegel vorschieben möchte. Alle Setzungen haben etwas Be-
schränkendes und Plattes, das sich in der Enttäuschung kundtut: ein Abgrund tut
sich auf zwischen dem Aufwand an aufdeckendem Scharfsinn und jenem, was nach
geleisteter Aufklärung bleibt, offen und sichtbar für alle. Alle Entlarvungen, mögen
sie berechtigt sein oder nicht, rufen den Protest gegen ein Herabminderndes auf
den Plan, das in der Einseitigkeit und in der Übertreibung liegt, deren sie um ihrer
Wirksamkeit willen bedürfen, deren sie bedürfen, soll die aufklärerische Wider-
standskraft gegen Dogmatismus und Usurpation der Macht nicht im Ansatz schon
gebrochen werden.
Bestimmt er in einem Abschnitt der Minima Moralia das »dialektische Ver-
fahren« kurz und bündig als negatives, als eines, das »Aussagen macht, um sie
zurückzunehmen und dennoch festzuhalten«9, so skizziert Adorno mit dieser
Bestimmung einen Aufklärungsbegriff, der mit der geschichtlichen Verwirklichung
von Aufklärung nicht einfach zusammenfällt, dessen Verwirklichung also allein in
dem Ganzen der aufklärenden Bewegung ihren Ort hat, vorausgesetzt, diese
Bewegung bildet je ein Ganzes. Dass Adorno an anderer Stelle die »Nötigung«
anerkennt, »dialektisch zugleich und undialektisch zu denken«,10 widerspricht
jener Bestimmung nicht. Vielmehr macht diese Anerkennung den Leser auf den
aufklärerischen Zug in Adornos Denken aufmerksam, auf die für Aufklärung
konstitutive Funktion eines Über, das sich auf sich richten und gegen sich muss
kehren können. Die ungeheuere Beweglichkeit des Über hat zur Folge, dass es sich
nicht einmal zum Über verfestigt und als Über wiedererkennen lässt, als Instanz
der Denkbewegung, der man eine Funktion, eine Bedeutung, eine Bestimmung
zuerkennt. In einem weiteren Abschnitt, den Adorno in seine Aphorismensamm-
lung schließlich nicht aufgenommen hat und der aus dem Nachlaß veröffentlicht
wurde, rückt er den Versuch der Dialektik, »dem Entweder-Oder zu entgehen«, in
einen Zusammenhang mit verwirklichendem Vollzug und Wahrheit: »Jeder Ge-
danke ist ein Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt des Urteils dessen Volluzg
nicht sich abtrennen lässt, so sind wahr überhaupt nur Gedanken, die über die
eigene These hinausdrängen.«11 Ein Gedanke kann Wahrheit nur in dem Maße
beanspruchen, in dem er ein »einzelnes Moment« isoliert, sich zum Urteil ver-
dichtet und eine These formuliert, in dem er durch diesen Vollzug sich als Gedanke
verwirklicht; der Gedanke jedoch, der es bei seinem Vollzug belässt, als wären sein
thetischer Gehalt und sein Wahrheitsgehalt identisch und als würde er mit seiner
Setzung an die Wahrheit rühren, auf die sein Anspruch zielt, bleibt über sich
unaufgeklärt und erweist sich als unwahr. Denn Gedanken sind Kraftfelder, die
sich von ihren Thesen oder Setzungen nicht eingrenzen lassen. Stets schießen sie
9 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Ges.
Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1980, S. 240.
10 ebd., S. 171.
11 ebd., S. 293.
TRUST ME 33
über sich hinaus und müssen als Übertreibungen gelten, misst man sie an ihnen
selber, an ihren Thesen oder Setzungen, nicht an anderen Gedanken; ihr Vollzug
vermag nie auf die Verwirklichung zurückgeführt zu werden, die mit der Formulie-
rung der jeweiligen These, mit ihrer Setzung stattfindet. Am Ende berühren sich
die beiden Extreme, in die sich der Gedanke spaltet, die »Obsession«, die in dem
Festhalten eines »einzelnen Moments« und gar in der Verdichtung des festhalten-
den Gedankens zur »fixen Idee« zum Ausdruck kommt, und die Übertreibung, das
»Über-sich-Hinausdrängen«, das die Einzelheit und alle »petrifizierte Ansicht«
auflöst, verflüssigt, in die Ströme des Kraftfeldes oder des Werdens reißt.
Die Minima Moralia kann man als Kritik an Setzungen im Geiste einer Aufklä-
rung lesen, die ihr konstitutives Über wie einen vereinzelnden Lichtkegel auf den
Gegenstand lenkt und zugleich der transzendierenden Bewegung dieses Über folgt,
hinaus ins Offene. Wo das »Intime zwischen Menschen«, das in »Nachsicht,
Duldung, Zuflucht für Eigenheiten« besteht, nach außen gekehrt und auf solche
Weise gesetzt wird, wo sich »Dinge, die einmal Zeichen liebender Sorge, Bilder von
Versöhnung gewesen sind«, plöztlich verselbständigen und in »Werte« verwandeln,
erscheint die Nähe als Schwäche und wird dadurch preisgegeben, zeigen die
besetzten Objekte ihre »böse, kalte und verderbliche Seite«.12 Wo das Obsolete,
gerichtet und durch den Gang der Geschichte um seine Gegenwart gebracht, sich
selber noch einmal setzt, um seinem Schicksal zu entgehen, wird es zum »Unheil
drohenden Gespenst«.13 Wo die Setzung das Mal eines Mangels an Widerstand
gegen die identifizierende Bestimmung ist, nach der der Gegenstand selber ver-
langt, trägt sie zu dessen Verhängnis bei: »Kultur einzig mit Lüge zu identifizieren
ist am verhängnisvollsten in dem Augenblick, da jene wirklich ganz in diese
übergeht und solche Identifikation eifrig herausfordert.«14 Während die »Befreiung
der Natur« von der Abschaffung ihrer »Selbstsetzung« abhängen soll,15 lässt sich
jenes, was den Anspruch auf »Echtheit« erhebt, der »Lüge« überführen, weil es »in
der Reflexion auf sich, in seiner Setzung […] bereits die Identität überschreitet, die
es im gleichen Atemzug behauptet«.16 Die Drastik solcher Thesen wie der, es gebe
kein richtiges Leben im falschen, und der, das Ganze sei das Unwahre, eine
Drastik, an der sich Leser wiederholt stoßen, die sie jedoch ebenfalls unwider-
stehlich anzieht, rührt vom Thetischen selber her, von einer Setzung, die weder die
Rolle einer reaktiven Selbstbehauptung übernimmt noch die Rolle einer Bestäti-
gung, einer Bewahrung oder einer Wiederherstellung, durch die sie, dienstbar dem
Gesetzten, sich selber gleichsam durchstreicht oder verleugnet. Die Setzung gibt
sich als Setzung zu erkennen, schlägt mit unausweichlicher und ungerechter Un-
mäßigkeit zu, aphoristische Zuspitzung, verwirklichende Verdichtung und Verein-
zelung des Gedankens, die ihn zwar über seine Rechtfertigung hinausdrängt, es
ihm aber so gerade ermöglicht, für einen undurchsichtigen Augenblick zumindest
12 ebd., S. 33.
13 ebd., S. 37.
14 ebd., S. 49.
15 ebd., S. 106.
16 ebd., S. 174.
34 Alexander García Düttmann
17 »Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur
Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.« (Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklä-
rung?«, s. o., S. 54)
18 Foucaults »positiver« Aufklärungsbegriff ist der einer »Grenzhaltung« (Foucault,
»Qu’est-ce que les Lumières?«, s. o. Anm. 1, S. 574).
19 Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 16. Cassirer schreibt, die
Vernunft in der Aufkärung löse »alles bloß-Faktische, alles einfach-Gegebene, alles auf
das Zeugnis der Offenbarung, der Tradition, der Autorität Geglaubte auf«. Sie ruhe nicht,
»bis sie es in seine einfachen Bestandteile und bis in die letzten Motive des Glaubens und
Für-Wahr-Haltens zerlegt« habe. Nach dieser »Arbeit der Auflösung« setze allerdings die
»Arbeit des Aufbaus« von neuem ein.
TRUST ME 35
eines Glaubens oder Vertrauens, eines Abbrechens des zweifelnden Fragens, mit
dem das Denken eine Mindest- oder Vorleistung erbringt, als Abgrenzung von
Wahn und Schein deuten. So gilt es, mit gewissen Gedanken nicht zu spielen und
gewisse Zweifel nicht in Erwägung zu ziehen, will man in der Lage sein, vernünftig
zu denken; durch den Ausschluss von gewissen Gedanken und gewissen Zweifeln,
durch solche auch in diesem Fall gegen die Negativität gekehrte Negativität
unterscheidet sich der Denkende, den man als zurechnungsfähig betrachtet, vom
Wahnsinnigen. In seinem Buch A Common Humanity bemerkt Raimond Gaita:
»Wissen und Verstehen – und damit alle ernsthaft radikale Kritik – hängen davon
ab, dass man fähig ist, mit gesundem Verstand abzuwägen, was als Beweisstück
zählen, wann man sich auf höhere Instanzen verlassen und wann man zurecht
ihnen keinen Glauben schenken darf.«25 Das Abwägen, von dem Wissen und
Verstehen abhängen, ist aber kein Argumentieren, das zu einem bestimmenden
Urteil führt, sondern eine letztlich von keinem Argument getragene Entscheidung
über jene Möglichkeiten, die man nicht bereit ist, zu erwägen: »Daß Dinge nicht
aus der Erwägung ausgeschlossen werden, gehört zu der Art und Weise, wie
verrückte Menschen die Welt sehen […] Nicht Vernunft bestimmt, was es bedeutet,
einen ›Bezug zur Wirklichkeit‹ zu haben. Der Bezug zur Wirklichkeit bedingt
nämlich die nüchterne Anwendung jener kritischen Begriffe, die unser Verständnis
von richtigem oder falschen Denken auszeichnen.«26 Das Vertrauen des Denkens,
das als arbeitsteiliges, anerkennendes und abgrenzendes gerechtfertigt wird, stellt
den Denkenden vor die Frage, ob eine derartige Rechtfertigung nicht in Wahrheit
die Spannung verdeckt, die zwischen Aufklärung und dem Anderssein, das sie »an
sich« haben soll, herrscht; die Spannung, die sowohl die Aufklärung selber als auch
das Anderssein durchquert und durchtrennt. Kann man zwischen dem privaten
und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft einfach eine Grenze ziehen, ohne das
Befehlen und Gehorchen der Kritik und dem Zweifel zu unterwerfen und damit
das Vertrauen des Denkens, seine Mindest- oder Vorleistung prinzipiell einzu-
schränken? Kann man etwas einfach annehmen und anerkennen, ohne das Ange-
nommene und Anerkannte der Erkenntnis und dem Wissen zu unterwerfen und
damit das Vertrauen des Denkens, seine Mindest- oder Vorleistung prinzipiell
einzuschränken? Kann man gewisse Gedanken und gewisse Zweifel einfach aus-
Trying To Make Sense, Oxford 1987, S. 153). Raimond Gaita hebt in diesem Kontext die
Verflechtung von Antwort und Begriff hervor. Wir verfügen nicht zunächst über einen
Begriff des anderen, der bestimmte Antworten auf dessen Befindlichkeiten hervorruft.
Vielmehr sind Antwort und Begriff so miteinander verflochten, dass Verhalten im all-
gemeinen ohne die »Einstellung zur Seele« undenkbar ist (Raimond Gaita, Good and Evil.
An Absolute Conception, Basingstoke und London 1991, S. 189).
25 Raimond Gaita, A Common Humanity. Thinking About Love And Truth And Justice,
London 2000, S. 160.
26 ebd., S. 164 f. Vgl. dazu auch folgende Stelle in Gaitas Untersuchung über Gut und Böse:
»Der Umstand, daß wir als zurechnungsfähige und gesunde Wesen bestimmte Gedanken
nicht haben, lässt sich nicht auf praktische Gründe zurückführen, sondern wirkt sich
bedingend auf den Sinn aus, den Begriffe wie Möglichkeit (›es ist möglich, dass … ‹),
Wahrscheinlichkeit (›es ist wahrscheinlich, dass … ‹) und Unmöglichkeit (›es ist unmög-
lich, dass … ‹) haben.« (Gaita, Good and Evil. An Absolute Conception, s. o., S. 314)
TRUST ME 37
selbst gewiss wäre und autark, bräuchte ich einem anderen nicht zu vertrauen.
Wenn sich der andere seiner selbst gewiss wäre, wenn ich mir aufgrund dieser
Gewissheit des anderen und meiner selbst gewiss wäre, wenn ich von dem anderen
nicht verraten und mein Vertrauen von ihm nicht zerstört werden könnte, bräuchte
ich ebensowenig einem anderen zu vertrauen. Das Vertrauen wird von dem Zweifel
heimgesucht, den es wiederum einholt. Weniger formal als der Bescheid, Aufklä-
rung sei das Medium der Negativität und könne daher nicht verneint werden, ist
also vielleicht die Auskunft, Aufklärung könne zwar nicht verneint werden, erfahre
aber ständig ihre eigene Beschränktheit, da sie eines Vertrauens bedürfe, an das sie
nicht rühren könne. Dieses Vertrauen fordert die Aufklärung heraus, um so mehr,
als es sich nicht zur Negation zusammenzieht, Anderssein, das die Aufklärung stets
»an sich« hat, nie aber »für sich«, Trauma, Tatsache, Gedächtnis des Denkens,
Gewalt, die sich von der des unterbrechenden und abbrechenden Schlages, der
immer tödlich sein kann, nicht unterscheiden lässt. Aufklärung strebt folglich nicht
nach der Herstellung einer gänzlichen Durchsichtigkeit und vollkommenen Helle
der Reflexion, wie jene irrtümlich meinen, die ihre Selbstverstrickung außer Acht
lassen, das An-sich-Haben eines unaufhebbaren Andersseins, sondern danach, an
ein Glauben oder Vertrauen zu rühren, das sich ihr entziehen muss, durch das sie
außer sich gerät und sich gegen ihre Einheit kehrt, gegen die Einheit des kritischen
und des entwerfenden Über. Für die Aufklärung gilt jederzeit der Satz, den Kant
als einen vorläufigen formuliert: »Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in
einem aufgeklärten Zeitalter?, so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem
Zeitalter der Aufklärung.«30 Vertrauen ist die Passion der Aufklärung, der Schat-
ten, den sie an sich und in sich ziehen möchte, bis sie beinahe zum Schatten, der
Schatten hingegen beinahe zum Leib wird. Mit leidenschaftlichem Doppelsinn sagt
der Aufklärer: Der lösende und bindende Zweifel ist meine Sache und deshalb
kann ich nicht umhin, dem anderen zu glauben und zu vertrauen, dem anderen in
mir selbst. Trust me.
Eine Entwarnung kann nicht gegeben werden. Zwar haben die Gesellschaften seit
einigen Jahren und Jahrzehnten damit begonnen, auf die verschiedenen ökologi-
schen Problemlagen zu reagieren. Doch trotz einer kaum mehr überschaubaren
Fülle von Maßnahmen und neuen gesellschaftlichen Einrichtungen – vom betrieb-
lichen Umweltschutz und der Entwicklung neuer umweltschonender Technologien
über politische Umweltbehörden bis zu einer Vielzahl von internationalen Ab-
kommen – ist eine Überwindung der ökologischen Krise nicht in Sicht. Dies
betrifft einmal die materiale Ebene. Trotz unbestreitbarer Erfolge in einigen Berei-
chen (wie z. B. der Gewässerverschmutzung oder der Luftbelastung in Teilen
Europas) ist in zentralen Feldern eine z. T. dramatische Verschlechterung der
Situation zu beobachten – nicht nur beim anthropogenen Klimawandel (der in-
zwischen wohl nicht mehr abzuwenden ist), sondern auch im Hinblick auf den
Verlust der biologischen Vielfalt oder der weltweiten Versorgung mit Trinkwasser.
Die empirischen Tendenzen sind also zumindest widersprüchlich und bieten gewiss
keinen Anlass für übertriebene Hoffnungen. Vielmehr belegen sie eine höchst
selektive Bearbeitung ökologischer Probleme, jedoch keine wirkliche Verbesserung
in den gestörten Beziehungen zur äußeren Natur.
Diese selektive Bearbeitung bietet über die materialen Phänomene hinaus einen
tieferen Grund für die Bezeichnung der Situation als »Krise« (die ansonsten schon
unüblich geworden ist). Denn die Ursache für diese Selektivität liegt in der
spezifischen Form der Institutionalisierung der Umweltproblematik und ist eng
verbunden mit anderen gesellschaftlichen Krisenphänomenen. Die gesellschaft-
lichen Einrichtungen, die für die Bearbeitung ökologischer Probleme geschaffen
wurden, sind von den allgemeinen Strukturmerkmalen kapitalistischer Vergesell-
schaftung geprägt und insofern von einer Irrationalität gekennzeichnet, die die
Bearbeitung der Probleme erschwert und eine Überwindung der Krise verunmög-
licht. So sind viele Einrichtungen wie z. B. die Konvention über die biologische
Vielfalt eher von der Tendenz zu einer kommerziellen Nutzung der Natur, ihrer
Verwertung unter kapitalistischen Bedingungen gekennzeichnet, als von einer an-
gemessenen Reaktion auf den Verlust der Vielfalt an Arten, Varietäten und Lebens-
räumen. Darüber hinaus sind die unternommenen Schritte von den Begleiterschei-
nungen dieser Kommerzialisierung überformt, der Konkurrenz um wertvolle Res-
sourcen zwischen Unternehmen, Staaten und Regionen und den Begleiterscheinun-
gen dieser Konkurrenz: der Absicherung der Marktposition durch Patente und
andere Formen »geistigen Eigentums« (Görg/Brand 2001b).
Eine kritische Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse muss diesen Begleit-
erscheinungen der gesellschaftlichen Reaktion auf die Ökologieproblematik ge-
recht werden. Sie muss aufzeigen können, warum ›Umwelt‹ oder ›Natur‹ gegen
40 Christoph Görg
Ende des 20. Jahrhunderts den modernen Gesellschaften zum Problem geworden
sind und diese ihr Verhältnis zur Natur eben nicht endgültig »optimiert« haben.
Davon gingen nämlich sowohl Vertreter der Modernisierungstheorie (Parsons
1975) als auch der postindustriellen Gesellschaft (Bell, Touraine) bis in die 1970er
Jahre hinein aus. Sie muss darüber hinaus erfassen können, in welcher Weise die
Gesellschaften reagiert haben und welche Probleme bzw. welche von Macht- und
Herrschaftsverhältnissen geprägten Verzerrungen wiederum in diesen Bearbei-
tungsstrategien angelegt sind. Anders als bei Niklas Luhmann (1986) heißt die
Ausgangsfrage daher nicht: »Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische
Gefährdungen einstellen?« Während die überwiegende Mehrheit der heutigen
Umweltwissenschaften sich aber immer noch an dieser Leitfrage orientiert und eine
ignorante oder gar affirmative Haltung zu den globalen gesellschaftlichen Herr-
schaftsverhältnissen einnimmt, müsste eine kritische Theorie diese in das Zentrum
stellen und fragen: Wie stellen sich die Gesellschaften ein, und welche herrschaft-
lichen Selektivitäten und Verzerrungen sind darin impliziert? Um diese Frage aber
angemessen angehen zu können, muss sie ganz grundsätzlich danach fragen, welche
Bedeutung Natur und Naturverhältnisse für die gesellschaftliche Entwicklung und
das Selbstverständnis von Gesellschaften überhaupt haben bzw. haben sollten.
Der Begriff der Naturverhältnisse setzt dabei schon einen wichtigen Akzent.
Anders als in den meisten sozialwissenschaftlichen Ansätzen wird davon ausge-
gangen, dass Natur und Gesellschaft (und wie wir sehen werden: auch der Prozess
der Individuierung) in einem konstitutiven und nicht in einem äußerlichen Verhält-
nis zueinander stehen. Was Natur, was Gesellschaft ausmacht, das kann nicht ohne
Bezug auf den jeweils anderen Pol gesagt werden (Görg 1999a). Dies meint mehr
als den Versuch, gegen die vorherrschenden dualistischen Betrachtungsweisen in
den Sozialwissenschaften, die die sozialen Prozesse ohne Bezug zur Natur themati-
sieren und beides dann äußerlich aufeinander beziehen, eine symmetrische Betrach-
tung einzuklagen (wie z. B. Latour 1995). Es bedeutet, aufzuzeigen, dass beide
Relate immanent vermittelt sind: Was Gesellschaft ist und wie sie sich entwickelt,
wird wesentlich dadurch bestimmt, wie Natur ganz konkret vergesellschaftet wird,
d. h. wie sie sprachlich-kulturell (als kulturspezifische Naturvorstellungen oder als
wissenschaftliche Naturbegriffe) und materiell-praktisch (z. B. als Ressource in der
Ökonomie) in den gesellschaftlichen Prozess involviert ist. Umgekehrt gibt es
keine unberührte Natur (nicht nur nicht mehr, sondern es hat sie eigentlich noch
nie gegeben), denn Natur ist immer in Relation zu einer historisch bestimmten
gesellschaftlichen Situation zu interpretieren, jenseits dessen die Rede von Natur
keinen Gehalt hat. Gleichwohl gilt, dass Natur in dieser Relation auch ein Motiv
der Unverfügbarkeit bzw. der Widerständigkeit gegen die Gesellschaft behält, das
sich u. a. in ökologischen Problemen und Gefahren zur Geltung bringt. Der Begriff
der gesellschaftlichen Naturverhältnisse setzt also bewusst andere Akzente als der
Begriff der Umwelt (der eine bloße äußerliche Relation suggeriert) oder der
Ökologie (der eine substantielle Natur in Form ›natürlicher‹ Kreisläufe unterstellt).
Er bezieht damit Position in der Kontroverse um Naturalismus vs. Kulturalismus
bzw. Soziozentrismus (vgl. Scharping/Görg 1994; Brand 1998; Görg 1999a), indem
er den Naturalismus als eine problematische und mit Herrschaftsverhältnissen
Dialektische Konstellationen 41
(sexistischer oder rassistischer Art) verbundene Projektion kritisiert und gegen den
Soziozentrismus die Nichtidentität der Natur festhält (vgl. dazu ausführlicher:
Görg 2002a). Und er koppelt darüber hinaus die Ökologieproblematik ganz eng an
die konkrete Verfasstheit der Gesellschaft und insbesondere an deren Herrschafts-
verhältnisse. Dies nicht nur in dem Sinn, das soziale Herrschaft als Ursache für eine
Fehlentwicklung in den Naturverhältnissen verantwortlich gemacht wird, sondern
auch insofern, dass erst über eine Kritik der herrschaftlichen Verfasstheit von
Gesellschaften eine Alternative zur krisenhaften Vergesellschaftung der Natur zu
gewinnen ist.
Doch eine solche kritische Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist ein
Desiderat. Seit die ökologische Krise in der Mitte der 1980er Jahre – und d. h. mit
einiger Verspätung im Vergleich zur öffentlichen Diskussion – die Sozialwissen-
schaften erreicht und dort zu weitreichenden Debatten um angemessene Reak-
tionsweisen geführt hat, hat es zwar einige Bemühungen gegeben, die Tradition der
kritischen Theorie in diese Diskussionen einzubringen. Allerdings waren diese nur
bedingt erfolgreich – und sie wurden nicht von denen unternommen, die in der
Öffentlichkeit als ›Erben der Frankfurter Schule‹ gehandelt wurden. Vielmehr kam
der Anstoß eher von den ›Rändern‹ der Tradition, und zudem wurde beim Versuch
einer Aktualisierung kritischer Theorie auf ganz andere theoretische Traditionen
zurückgegriffen (vgl. Böhme/Manzei 2003). Dieser Vernachlässigung der Thematik
vor allem in der sog. ›jüngeren kritischen Theorie‹ korrespondiert eine ähnliche
Entwicklung innerhalb des Mainstreams der Sozialwissenschaften. Trotz weit-
reichender empirischer Beschäftigung mit ihren Erscheinungsformen lässt sich
nämlich zunehmend eine Ausblendung der theoretischen Provokation der Natur-
problematik wie auch ein Verzicht auf eine kritische Beschäftigung mit ihren
gesellschaftlichen Bearbeitungsformen beobachten. Stattdessen hat sich ein tech-
nokratisches Umweltmanagement etabliert, das auf eine Kritik der dominanten
Bearbeitungsformen ökologischer Probleme verzichtet (Brand/Görg 2002). Eine
kritische Theorie der Naturverhältnisse ist also ›an der Zeit‹.
Dabei lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen im Verhältnis zur kritischen
Theorie beobachten. Einerseits eine Ignoranz gegenüber dem Potential, das in den
Schriften der älteren Kritischen Theorie angelegt war und das dazu geeignet
gewesen wäre, der Vernachlässigung ökologischer Probleme und der Ausblendung
der Naturverhältnisse in den Sozialwissenschaften entgegenzuwirken. Dafür ver-
antwortlich war einmal, dass der an die Arbeiten von Jürgen Habermas anschie-
ßende Strang der Weiterentwicklung Kritischer Theorie die theoretische wie politi-
sche Brisanz der Krise der Naturverhältnisse weitgehend ignoriert hat. Anderer-
seits wurde dieses Potential der älteren Kritischen Theorie dann jedoch wenigstens
teilweise auf völlig anderem Wege und mit Hilfe anderer Theorieansätze in die
Diskussion eingebracht – von der poststrukturalistisch orientierten feministischen
Wissenschafts- und Technikkritik bis zur Regulationstheorie. Diese gegenläufigen
Tendenzen haben jedoch dazu geführt, dass ein einheitlicher Theorierahmen zur
Diskussion der Naturverhältnisse sich noch nicht herausgebildet hat. Daher besteht
Anlaß genug, sich nochmals der erwähnten Potentiale der sog. älteren Kritischen
Theorie, einschließlich ihrer Voraussetzungen in der auf Marx zurückgehenden
42 Christoph Görg
(Gandler 2002). Zentral dafür war die Rolle der Naturbeherrschung in der Emanzi-
pationsgeschichte des Menschen. Schon in einer früheren Arbeit (von 1928) hatte
Benjamin die Vorstellung einer Steigerung der Naturbeherrschung als Ziel des
gesellschaftlichen Fortschritts kritisiert und dem die Idee einer Beherrschung der
Verhältnisse zur Natur entgegengestellt (vgl. dazu Wehling 1992, S. 370 f.). In
seinen ›Thesen‹ wendet er diese Einsicht nun gegen das Geschichtsverständnis der
Sozialdemokratie seiner Zeit, dem er vorwarf, den Charakter des geschichtlichen
Prozesses ganz grundsätzlich zu verfehlen: es »will nur die Fortschritte der Natur-
beherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben« (Benjamin
1980, S. 256 f.). Weil ein solches Geschichtsverständnis die revolutionäre Verände-
rung der Gesellschaft und die Emanzipation des Menschen von der Ausbeutung
der Natur abhängig mache, verkenne es sowohl den genuin gesellschaftlichen
Charakter der Emanzipation wie die destruktiven Folgewirkungen der Natur-
beherrschung.
Dabei konnte sich solch ein mechanisches Geschichts- und Emanzipations-
verständnis nicht auf Marx selber berufen – auch nicht, was die Naturverhältnisse
angeht. Denn der »nicht-ontologische Materialismus« (Schmidt 1993) behandelt
die Natur nicht als vorausgesetztes Sein, sondern immer als eine vergesellschaftete
Natur. Marx ging zwar von der Existenz eines universellen gesellschaftlichen
Systemproblems aus, nach der jede Gesellschaft untergehen muss, die auch nur für
ein paar Tage die Arbeit und damit ihre Reproduktion in der Natur einstellen
würde – der Prozess des Stoffwechsels muss aufrecht erhalten und organisiert
werden. Aber wie dieses Systemproblem in einer bestimmten Gesellschaftsforma-
tion und in einer konkreten Gesellschaft bearbeitet wird, dies ergibt sich erst aus
der gesamten Einrichtung der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Arbeits-
teilung in ihr – und dies geht über die Ökonomie im engeren Sinne hinaus. Der
nicht-ontologische Charakter des Marxschen Materialismus spricht also weder den
gesellschaftlichen Naturverhältnissen einen ontologischen Primat zu, noch ist sein
Ziel die Optimierung des Stoffwechsels und die Steigerung der Naturbeherrschung.
Vielmehr geht es darum, das die Menschen die Kontrolle über die verselbständigten
gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse erlangen sollen und damit auch eine
rationalere Gestaltung der Naturverhältnisse vornehmen können.
Schon in den frühen 1930er Jahren formuliert Adorno in einem Vortrag über
»Die Idee der Naturgeschichte« (Adorno 1973) wesentliche Grundbestimmungen
eines Verhältnisses von Natur und Geschichte, die er als »Auslegung gewisser
Grundgedanken der materialistischen Dialektik« (ebd., S. 365) verstanden wissen
wollte. Schon hier deutete sich bereits eine Akzentsetzung an, die die Arbeiten
Adornos bis in sein Spätwerk, das Kapitel »Weltgeist und Naturgeschichte« aus der
Negativen Dialektik (ders. 1982, S. 295ff.; vgl. ebd. S. 409) immer begleitet haben.
Ein zentraler Gedanke seines Anschlusses an Marx ist die doppelte Wendung gegen
eine Ausblendung der Naturverhältnisse aus dem Gesellschaftsbegriff sowie gegen
eine dualistische Fassung ihres Verhältnisses. Anders als in der Durkheimschen
oder der Weberschen Tradition der Soziologie wird Gesellschaft nicht durch
Abgrenzung von der Natur (vgl. Görg 1999a), sondern als konstitutiv auf Natur
bezogen bestimmt, ohne dabei mit ihr zusammenzufallen. Für diese Denkfigur ist
Dialektische Konstellationen 45
die Kategorie der Vermittlung zentral: »Der gesellschaftliche Prozeß ist weder bloß
Gesellschaft noch bloß Natur, sondern Stoffwechsel der Menschen mit dieser, die
permanente Vermittlung beider Momente« (Adorno 1979, S. 221). Während hier in
direkter Anknüpfung an den Marxschen Begriff des Stoffwechsels der Zwang zum
materialen Austausch mit der Natur besonders hervorgehoben wird, betont die
Kategorie der Vermittlung zudem den geschichtlichen Charakter, die wechselnden
Konstellationen von Individuum, Gesellschaft und Natur:
»Die Konstellation zwischen den drei Momenten ist dynamisch. Es genügt nicht, bei der
Einsicht in ihre perennierende Wechselwirkung sich zu beruhigen, sondern eine Wissenschaft
von der Gesellschaft hätte wesentlich die Aufgabe, die Gesetze zu erforschen, nach denen
jene Wechselwirkung sich entfaltet, und die wechselnden Gestalten abzuleiten, die In-
dividuum, Gesellschaft und Natur in ihrer geschichtlichen Dynamik annehmen.« (Institut für
Sozialforschung 1956, S. 43)
Wechselnde Konstellationen im Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Na-
tur sind danach also der eigentliche Gegenstand einer kritischen Gesellschafts-
theorie – und nicht die Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses oder sozialer
Interaktionen in Abstraktion von der Natur. Allerdings lässt dieses Zitat offen, was
genau mit den ›Gesetzen‹ gemeint ist, die diese Dynamik antreiben. Adorno
erweckt hier den Anschein, allgemeine Entwicklungsgesetze dieser Gesamtkon-
stellation angeben oder zumindest prinzipiell auffinden zu können, aus denen sich
dann einzelne historische Konstellation ableiten lassen. Obwohl dies besonders mit
Blick auf die Rolle der Naturbeherrschung in der Dialektik der Aufklärung immer
wieder behauptet wurde, lässt sich besonders an diesem Werk verdeutlichen, dass
etwas anderes gemeint ist.
Die Argumentation der Dialektik der Aufklärung kreist um das Verhältnis
dreier Aspekte von Herrschaft, die von Horkheimer und Adorno in enge Bezie-
hung gebracht werden: auf die Konstellation zwischen der Naturbeherrschung,
sozialer Herrschaft und der Herrschaft im Subjekt (vgl. Honneth 1989; zur Kritik:
Görg 1999b). Hinter dieser Konstellation steht das Vermittlungsverhältnis von
Individuum, Gesellschaft und Natur, nun nach seinen herrschaftlichen Implika-
tionen hin gewendet. Die für das Verständnis entscheidenden Fragen kreisen
darum, was diese Momente jeweils für sich bedeuten, ob es sich dabei wirklich
gleichermaßen um Herrschaftsaspekte handelt, und wie weit sie voneinander abge-
leitet bzw. aufeinander reduziert werden können. Der Zweifel an der Sinnhaftigkeit
der Verwendung des Herrschaftsbegriffs betrifft vor allem seine Anwendung auf
Natur, da Herrschaft angeblich ein genuin soziales Verhältnis impliziere. Zudem
wird die Frage gestellt, ob denn auf eine Beherrschung der Natur im Laufe des
technischen Fortschritts überhaupt verzichtet werden kann. Naturbeherrschung
meint jedoch in der Dialektik der Aufklärung etwas anderes als die Aneignung
oder Transformation von Natur zu menschlichen Zwecken, die in der Tat unver-
zichtbar ist (und auf die verzichten zu wollen die Ausblendung des gesellschaftlich
organisierten Stoffwechselprozesses implizieren würde). Die Thematisierung von
Naturbeherrschung in diesem Werk zielt dagegen primär auf die symbolische
Konstruktion der Natur, auf einen Naturbegriff, der durch eine bestimmte Klassifi-
zierung, eine projizierte Ordnung der Natur gebildet wird und der dem wissen-
46 Christoph Görg
Denkens für das Subjekt selbst hat. Auch dabei wird wieder das konstitutive
Verhältnis zwischen Gesellschaft, Individuum und Natur deutlich. Dieser kon-
stitutive Charakter äußert sich darin, dass der Versuch einer Negation der be-
sonderen Qualitäten eines Pols, z. B. der Natur, auch Folgen hat für die anderen
Pole, die Gesellschaft oder das Individuum: »Die disqualifizierte Natur wird zum
chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben,
zur abstrakten Identität.« (Horkheimer/Adorno 1987, S. 32) Die »Disqualifizie-
rung der Natur«, ihre begriffliche Konstitution als beliebig verfügbarer »Stoff«,
schlägt sich in einem Selbst nieder, das apriori beschädigt ist. Ein solches Modell
einer konstitutiven Verhältnisbestimmung als Relation von Selbstständigkeit und
Abhängigkeit lässt sich schon der Dialektik von ›Herr und Knecht‹ bei Hegel
entnehmen (Hegel 1970, S. 145ff.), auf die Horkheimer und Adorno direkt Bezug
nehmen (vgl. dazu auch: Vogel 1987; Ritsert 1988; Görg 1999a, Kap. 5.2.).
Schon bei Hegel war die soziale Herrschaft durch das Naturverhältnis ver-
mittelt, insofern erstere beinhaltete, dass der Knecht für den Herrn arbeiten, den
Stoffwechsel mit der Natur sicherstellen muss. Hegel rechnet dabei allerdings noch
relativ unproblematisch mit einem Bildungs- und Emanzipationsprozess (Hegel
1970, S. 153 f.). Das bedeutet, er rekurriert, wie nach ihm die Arbeiterbewegung,
auf die bürgerliche Ideologie der ›tätigen Klasse‹ gegenüber dem untätigen Adel
(bzw. dann später dem Bürgertum). In der Aneignung der Natur soll danach
unmittelbar ein sozialer Emanzipationsprozess angelegt sein, der zur Überwindung
sozialer Herrschaft führt. Dieses Vertrauen in einen Bildungsprozess durch Arbeit,
das sich noch in den Marxschen Frühschriften findet (MEW Erg.-Bd.1, S. 533ff.),
ist nun seit Benjamin in die Kritik geraten. Und diese Kritik wird auch von Adorno
und Horkheimer geteilt und weitergeführt. Im Gegensatz zur bürgerlichen wie zur
proletarischen Emanzipationsvorstellung verbürgt die durch Arbeit vermittelte
Aneignung der Natur keinen Bildungs- und Emanzipationsprozess. Vielmehr ge-
neriert die in der sozialen Herrschaft enthaltene Möglichkeit zur Distanzierung
von Natur auch die Ideologie der beliebigen Verfügbarkeit von Natur. »Die
Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der
Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt« (Horkheimer/
Adorno 1987, S. 36). Erst die soziale Herrschaft bringt mit der Distanz zur Natur
die Ideologie ihrer vollständigen Beherrschbarkeit als Abstraktion von allen be-
sonderen Qualitäten mit sich. Und so, wie das Naturverhältnis damit selbst in
spezifischer Weise durch die Herrschaftsbeziehungen geprägt wird, ist die soziale
Herrschaft, obwohl ihrerseits eine Voraussetzung des naturbeherrschenden Den-
kens, selbst durch das Naturverhältnis vermittelt.
Die Kritik der Naturbeherrschung beruft sich nicht auf die Naturwüchsigkeit
und Alternativlosigkeit des geschichtlichen Prozesses und nimmt auch keine Natu-
ralisierung gesellschaftlicher Entwicklung vor. Vielmehr ist diese vermeintliche
Naturwüchsigkeit gerade der Gegenstand der Kritik. Diese für die ökologische
Problematik sehr wichtige Wendung lässt sich vor allem an einem zentralen
Denkmodell aufzeigen: der Kritik der falschen Alternative.
48 Christoph Görg
»Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft
ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder
der Natur unter das Selbst.« (Horkheimer/Adorno 1987, S. 55)
Diese Alternative zwischen der Unterwerfung unter oder der Beherrschung von
Natur wird hier in ihrer vermeintlichen Unausweichlichkeit von den Autoren zum
Inbegriff des naturbeherrschenden Denkens erklärt. Weil sie aber eine Alternative
in der Herrschaft ist, die im naturbeherrschenden Denken reproduziert wird, kann
sie grundsätzlich sehr wohl überwunden werden. Genau diese falsche Alternative
wird aber auch in der ökologischen Krise in der Kontroverse zwischen Naturalis-
ten bzw. Ökozentristen und Konstruktivisten wieder zum Problem. Während
angesichts der destruktiven Entwicklung der Naturverhältnisse zuweilen gefordert
wird, die Gesellschaft den ›Gesetzen der Natur‹ unterzuordnen, weist die Gegen-
position darauf hin, dass genau dies unmöglich sei und die (begriffliche wie
technische) Konstruktion der Natur zu menschlichen Zwecken unhintergehbar ist.
Adorno und Horkheimer nehmen in diesem Streit insoweit eine soziozentristische
Position ein, als der Naturbegriff immer eine gesellschaftliche Projektion darstellt.
Sie bleiben aber nicht dabei stehen, diese Projektion zu entlarven oder sie gar als
Einsicht in die Kontingenz der Natur zu affirmieren, wie dies in vielen Schulen des
Sozialkonstruktivismus versucht wird (vgl. zur Kritik an Luhmann: Görg 2001).
Vielmehr wenden sie sich kritisch gegen die scheinbare Alternativlosigkeit des
›entweder-oder‹ und versuchen, den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Kon-
struktion – die darin enthaltenen Herrschaftsverhältnisse – aufzudecken. Die fal-
sche Alternative zu durchschauen ist aber deswegen möglich, weil die Herrschaft
niemals völlig total ist. So wie der Herr dem Knecht nicht beliebig befehlen kann,
so kann eine »Selbstbesinnung […] des Denkens« (Horkheimer/Adorno 1987,
S. 64) aus der vermeintlichen Alternativlosigkeit der Naturbeherrschung heraus-
treten. Nicht die Verabsolutierung einer Sphäre der Notwendigkeit bzw. das
Aufzeigen der Kontingenz allen Geschehens, sondern die Hinterfragung der Vor-
annahmen der falschen Alternative ist also die Botschaft der Dialektik der Auf-
klärung.
Dem Verdacht eines naturalistischen Reduktionismus in den Naturverhältnissen
widerspricht auch die Kritik an einem vorgängigen ›Reich der Notwendigkeit‹, die
Adorno und Horkheimer noch gegen den späten Marx vorbringen. Hatte dieser in
dem durch Arbeit vermittelten Stoffwechsel mit der Natur ein solches ›Reich der
Notwendigkeit‹ gesehen, das neben dem von Menschen zu gestaltenden und im
Übergang zum Sozialismus seiner Naturwüchsigkeit zu entkleidenden ›Reich der
Freiheit‹ immer bestehen bleibt, dann widersprechen Adorno und Horkheimer
dem explizit und bezeichnen diese Denkfigur »als Zugeständnis an den reaktio-
nären common sense« (ebd., S. 64). Der Grund dafür liegt aber nicht darin, dass
Adorno und Horkheimer den Zwang zur Aneignung, zum Stoffwechsel mit der
Natur nicht als eine Tatsache ansehen würden. Sie wenden sich jedoch dagegen,
diesen Zwang als unveränderliche Notwendigkeit zu einem Quasi-Naturgesetz zu
erhöhen, weil dies eine dualistische und hierarchische Verfestigung des Verhältnis-
ses von Notwendigkeit und Freiheit implizieren würde. Das Reich der Freiheit
würde den Naturverhältnissen abstrakt entgegen gestellt und damit Natur »als
Dialektische Konstellationen 49
ganz fremd gesetzt« (ebd.). Soll menschliche Freiheit und die Fähigkeit zur Gestal-
tung von sozialen Verhältnissen nicht abstrakt-dualistisch und dadurch hierar-
chisch der Natur entgegengesetzt werden, dann muss sie sich auch in der Gestal-
tung der Naturverhältnisse verkörpern.
Wenn die Dialektik der Aufklärung als »verkannte Wahrheit aller Kultur« das
»Eingedenken der Natur im Subjekt« einfordert (Horkheimer/Adorno 1987, S. 64;
vgl. dazu Schmid Noerr 1990), dann ist damit also kein reduktionistischer Natura-
lismus intendiert. Dieser Grundgedanke bezieht sich nicht nur auf die ›innere‹
Natur des Menschen. Da als ›Subjekt‹ im oben angeführten Zitat auch die Gesell-
schaft eingesetzt werden kann, betrifft es auch die natürliche Umwelt der Gesell-
schaft, also die ›äußere‹ Natur. Gefordert wird mit diesem Theorem, dass der
Mensch trotz aller Konstruktion einer Objektwelt ›für sich‹ Natur als eine ihm
fremde (äußere wie innere) Bedingung seiner Existenz anerkennt. Wenn Natur also
immer eine subjektive, d. h. gesellschaftliche Konstruktion ist, bleibt sie gleichwohl
auch eine von ihm verschiedene eigenständige Realität. Mehr noch: Solange er sie
nicht als Bedingung seiner eigenen Entwicklung, seiner Emanzipation von sozialer
Herrschaft wie seiner Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion anerkennt
(was natürlich ein subjektiver Akt ist), bleibt er selbst in seinem Verhältnis zur
eigenen und zur äußeren Natur deformiert. Das naturbeherrschende Denken und
Handeln kann die spezifisch menschlichen Möglichkeiten zur Reflexion und zur
Selbstverwirklichung nicht ausschöpfen und zerstört gleichzeitig die natürlichen
wie sozialen Bedingungen seiner Existenz. Verleugnung der Eigenständigkeit eines
Anderen (der Nichtidentität der Natur) als die Bedingung der eigenen (vermeintli-
chen) Unabhängigkeit ist die Grundform von Herrschaft. Und diese Verleugnung
lässt sich als das übergreifende Moment der Gesamtkonstellation erkennen.
In der Kritik der Naturbeherrschung ist damit die Emanzipation des Menschen
unentrinnbar mit der Anerkennung der Nichtidentität der Natur verbunden. Der
Mensch hat sich nicht vermeintlich objektiven Grenzen in der Natur zu unter-
werfen (denn jede Objektivität ist unhintergehbar auch seine Konstruktion). Und
er kann gleichzeitig die konstitutive Bezogenheit auf die Natur und insofern seinen
eigenen Status als Naturwesen auch nicht durch die Perfektionierung der Natur-
beherrschung aufheben. Das Ziel einer nicht-herrschaftlichen Gestaltung der Na-
turverhältnisse lässt sich in Abwandlung der oben angeführten Zeitdiagnose viel-
mehr so umschreiben: Dem ›Naturzwang‹ kann die Gesellschaft nur entkommen,
wenn sie nicht Natur sich zu unterwerfen versucht, sondern sie als eigenständige
Bedingung ihrer eigenen Geschichte anerkennt und gleichzeitig ihre durch Herr-
schaftsverhältnisse verkürzten Fähigkeiten zur reflexiven Gestaltung ihrer eigenen
sozialen Verhältnisse wie ihrer Naturverhältnisse freisetzt.
Mit dieser kurzen Rekonstruktion der Kerngedanken der Dialektik der Aufklä-
rung soll nun nicht der Anschein erweckt werden, hier sei ein Modell einer
50 Christoph Görg
Zentraler Gegenstand der Kritik an der ›älteren‹ Kritischen Theorie ist dement-
sprechend auch die Zeitdiagnose der Dialektik der Aufklärung und ihr zentrales
Kritikmodell: die Kritik der Naturbeherrschung. Indem die Kritik von Jürgen
Habermas, aber auch von Axel Honneth nahe legt, die Dialektik der Aufklärung
verwende ein Geschichtsmodell, dass davon ausgehe, ein »ursprüngliche(r) Akt der
Subsumtion der Naturvorgänge unter das Handlungsschema technischer Verfü-
gung« (Honneth 1989, S. 60; vgl. Habermas 1987, S. 177) habe einen irreversiblen
Prozess des Anwachsens der Naturbeherrschung und des gleichzeitigen Anwach-
sens sozialer Herrschaft und psychischer Verhärtung induziert, übersieht sie aber
die konstitutive Vermitteltheit dieser Prozesse (zur Kritik Görg 1999b). Denn es ist
eben nicht generell die Technik oder das ›Handlungsschema technischer Verfü-
gung‹, das von den Autoren für die Naturbeherrschung verantwortlich gemacht
wird. Adorno und Horkheimer betonen ausdrücklich: »Das behaupten die Sozio-
logen, die nun wieder auf ein Gegenmittel sinnen […] um des Gegenmittels Herr
zu werden. Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang« (Hork-
heimer/Adorno 1987, 65). Die These der Naturbeherrschung zielt explizit nicht auf
eine Kritik an der verselbständigten Technik oder gar auf einen Technikdeter-
minismus, sondern auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Produktion und
Anwendung von Technik zugrunde liegen. Der Fokus der Kritik ist der Zusam-
menhang von Herrschaft, Vernunft und gesellschaftlicher Arbeitsteilung, und ge-
nau dieser Zusammenhang ist von einer Rezeption zu wenig beachtet worden, die
die Verbindungen der Dialektik der Aufklärung zur Tradition materialistischer
Gesellschaftstheorie aus den Augen verloren hat (Demirovic 1999, S. 55).
Damit deutet sich in der Bearbeitung der ökologischen Problematik die Not-
wendigkeit einer Umkehrung des in der Folge von Habermas’ Kritik an Adorno
propagierten Programms an (vgl. Habermas 1981 und 1985). Sah dieses Programm
aufgrund der vermeintlich unüberwindlichen Aporien der Dialektik der Aufklä-
rung einen Anschluss an die frühe Form des interdisziplinären Materialismus vor,
dann lässt sich umgekehrt die These begründen, dass erst diese Zeitdiagnose einen
Materialismus der Spätphase vorbereitet hat, der zum Ausgangspunkt einer Refle-
xion der Naturverhältnisse werden kann und der auch heute noch ›an der Zeit‹ ist.
Allerdings müsste eine kritische Theorie in der Lage sein, der Vermitteltheit von
(Natur-)Wissenschaft und Technik konkret nachzugehen und dadurch auch die
über die gegenwärtigen Verhältnisse möglicherweise hinausreichenden Potentiale
aufzuzeigen, die für eine Bewältigung ökologischer Probleme unverzichtbar sind.
Die hier vorgenommene Rekonstruktion impliziert mit anderen Worten, damit
ernst zu machen, dass sich aus dem Begriff der Totalität wie aus dem Verständnis
der menschlichen Naturgeschichte als ›zweiter Natur‹ keine überhistorischen Ge-
setze über die wechselnden Konstellationen im Naturverhältnis ableiten lassen.
Dies wäre der dritte Problembereich, der für eine Aktualisierung zu beachten ist.
Die tatsächliche Relevanz der Naturverhältnisse lässt sich nur kritisch durch
Analyse der historisch-konkreten Prozesse und Strukturen gesellschaftlicher Re-
produktion aufzeigen. Selbst der Verweis auf ›den Kapitalismus‹ ist für sich ge-
nommen dafür noch zu abstrakt. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass
die Arbeiten von Adorno und Horkheimer nach der Dialektik der Aufklärung nur
Dialektische Konstellationen 53
wenig zur Bearbeitung das damit aufgeworfenen Problems beigetragen haben, wie
eine Gestaltung der Naturverhältnisse in die gesellschaftliche Entwicklung konkret
eingeschrieben ist und welche historische Alternativen trotz der Dominanz der
Naturbeherrschung sich möglicherweise eröffnen könnten. Dazu ist eine Beschäfti-
gung mit anderen theoretischen Denktraditionen notwendig, die die Erfahrung der
ökologischen Krise in die Gesellschaftstheorie zu integrieren versuchten.
Allein Herbert Marcuse war aus dem engeren Kreis der älteren Kritischen
Theorie noch in der Lage, auf die wachsende Thematisierung ökologischer Prob-
leme seit den 1970er Jahren direkt zu reagieren (eine der wenigen direkten An-
wendungen der Dialektik der Aufklärung in späterer Zeit liefert Wiggershaus 1996;
andere mehr rhetorische finden sich z. B. bei Narr 1988 und Beck 1988). Neben der
erwähnten Technikkritik war seine Auseinandersetzung mit der Krise der Natur-
verhältnisse vor allem durch zwei Motive geprägt, die den späteren Diskussionen
fast völlig fehlen: einerseits die Existenz des Menschen als Naturwesen und die
psychoanalytische Tiefendimension der Vermittlung von Natur und Gesellschaft
im Individuum aufzudecken (Marcuse 1990) und andererseits noch die ökologische
Problematik in ihrem emanzipativen Potential bestimmen zu wollen (ders. 1987;
1990).
Beide Dimensionen stehen dabei quer zu heutigen Debatten um ökologische
Probleme. Im Hinblick auf die erste hat dies allerdings nicht nur damit zu tun, dass
dort scheinbar nur die ›äußere Natur‹ und nicht auch die ›innere‹ des Menschen
thematisch ist. Selbst dort nämlich, wo im Zuge neuer Technologien wie der
Informations- oder der Gentechnologie auf das Schicksal des ›Naturwesen
Mensch‹ und auf die Transformationen im Verhältnis zu Wissenschaft und Technik
reflektiert wird, ist dafür meist nicht der Zugang über die Psychoanalyse zentral.
Dabei findet nicht nur die Terminologie der ›inneren Natur‹ kaum Verwendung.
Marcuse versuchte vor allem auszuloten, inwieweit in dieser Tiefendimension
befreiende Kräfte für den Widerstand gegen die destruktiven gesellschaftlichen
Kräfte vorhanden sein könnten. Die Ökologiebewegung verstand er deshalb als
»psychologische Freiheitsbewegung« (ders. 1990, S. 66), die neben dem Schutz der
äußeren Natur auch den destruktiven Kräften in den Individuen entgegentreten
und stattdessen deren »erotische Energien« (ebd.) freisetzen werde.
Doch nicht nur die menschliche Natur, selbst die äußere Natur wurde von
Marcuse auf ihre »befreienden Kräfte« (ders. 1987, S. 63) hin untersucht. Ihm ging
es generell darum, inwieweit sich ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur
– innerer wie äußerer – im ökologischen Gesellschaftskonflikt andeutete. Beides
wird durch die Kritik der Naturbeherrschung vermittelt. In Marcuses Worten geht
es um eine »Herrschaft über Menschen vermittels Herrschaft über die Natur«
(ebd., S. 65), wobei die Ökologiebewegung als Bindeglied der Befreiung fungiert,
die, indem sie eine Änderung in den Naturverhältnissen einfordert, auch zum
Abbau sozialer Herrschaft beizutragen vermag. Allerdings schwankt Marcuse in
seiner Diskussion der Naturverhältnisse zwischen der These, Natur sei »als Subjekt
eigenen Rechts« (ebd., S. 64) und als wesentliche Grenze der Vergesellschaftung
anzuerkennen (ebd., S. 72), und der Suche nach eben den befreienden Kräften in
der Natur selbst, oder dem, was Marcuse als Eigenschaften der menschlichen
54 Christoph Görg
Natur zu erkennen glaubte und was nicht frei von Projektionen ist. Insbesondere
im Hinblick auf die vermeintliche ›Natur der Frau‹ ist dies denn auch als typisch
männliches Weiblichkeitsbild kritisiert worden (vgl. Kill 1990). Wo aber heute auf
den Zusammenhang zwischen ökologischen Problemen, menschlicher Natur und
neuen Technologien reflektiert wird, da werden solche naturalistischen und essen-
tialistischen Reste meist konsequent zurückgewiesen. So ist vor allem Donna
Haraway (1995) in der Ablehnung jeglicher essentialistischer und naturalistischer
Denkmuster so weit gegangen, alle wesensmäßigen Unterschiede zwischen Men-
schen, Tieren und Maschinen zu leugnen. Letztlich landet sie beim Ideal des
›Cyborgs‹, eines Mischwesens zwischen Mensch und Maschine, das sie der Vor-
stellung eines menschlichen Subjekts entgegenstellt. Ob diese Zurückweisung jegli-
cher Grenzen bzw. wesensmäßiger Unterschiede zwischen Mensch und Natur
wirklich angebracht ist, ist jedoch eine durchaus umstrittene Frage (zur Kritik:
Gransee 1998; Becker-Schmidt 1997). Vielmehr scheinen gerade durch die neuesten
Formen der technischen Konstruktion menschlicher Natur Fragen nach den an-
thropologischen Dimensionen dieser Konstruktion wieder neue Bedeutung zu
bekommen (und dabei wird das Kritikmodell der Dialektik der Aufklärung in
neuer Form aktuell, vgl. Manzei 2002).
Während aber die naturalistischen Anklänge bei Marcuse heute am wenigsten
anschlussfähig zu sein scheinen, ist eine andere, politisch motivierte Einschätzung
hoch aktuell. Denn obwohl er die gesellschaftliche Verursachung ökologischer
Probleme und die kapitalistische Verfassung der Gesellschaft herausstellt, wendet
er sich gegen die einfache Alternative Reform oder Revolution. »Damit der Um-
weltschutz sich so weit entwickelt, dass er im kapitalistischen Rahmen nicht mehr
eingedämmt werden kann, muss er zunächst innerhalb desselben vorangetrieben
werden« (Marcuse 1987, S. 65; Hervh. i. O.). Ökologische Probleme erfordern
demnach eine neue Dialektik von Reform und Revolution, von Veränderung
innerhalb der bestehenden Gesellschaftsform und ihrer radikalen Umgestaltung,
die als radikaler Reformismus bezeichnet werden kann (Görg/Hirsch 1994). Doch
von einer solchen Dialektik im Verständnis der ökologischen Krise ist nicht nur die
Praxis, sondern auch die sozialwissenschaftliche Theoriebildung weit entfernt.
chen generieren zu können, sei ihr entgangen, dass gerade diese Entzauberung nur
zu einer »halbierten Moderne« geführt und aus sich heraus eine Gegenmoderne
produziert habe. Gerade das Sicherheitsversprechen der Aufklärung führt nämlich
zur »organisierten Unverantwortlichkeit« (Beck 1988), zur Produktion und zur
gleichzeitigen Leugnung von Gefahren, die mit dem etablierten Instrumentarium
wissenschaftlicher Aufklärung gerade nicht mehr zu bewältigen sind.
Obwohl dabei Beck explizit auf die Dialektik der Aufklärung anspielt, unter-
scheidet sich seine Diagnose jedoch in mehrerer Hinsicht erheblich von dem dort
entwickelten Modell. Zum einen bleibt seine Reflexion der Naturverhältnisse
widersprüchlich: konstruktivistische und realistische Naturbegriffe gehen eine
kaum zu entwirrende und höchst inkonsistente Verbindung ein, wobei hier offen
bleiben kann, ob die Defizite eher in Richtung Realismus (Krohn/Krücken 1993)
oder in Richtung Konstruktivismus (Brand 1998) weisen. Wichtiger sind die Defi-
zite in gesellschaftstheoretischer Hinsicht und die damit verbundenen zeitdiag-
nostischen Probleme. So verbindet Beck die Diagnose der Risikogesellschaft mit
der These, diese sei ein deutlich neuer Gesellschaftstyp, ein Typ, in dem nicht mehr
die Logik der Reichtumsverteilung und damit die Klassenspaltung der Gesellschaft
dominiere (Beck 1986). Dabei bleibt aber letztlich unklar, wie die Risikogesell-
schaft in der Kontinuität kapitalistischer Vergesellschaftung entstanden ist und wie
sie sich weiterentwickelt – und damit die Frage nach den Möglichkeiten und den
Chancen ökologischer Reformen. Beck ignoriert aber nicht nur die Frage, ob denn
die Institutionen und Praktiken, mit denen die gesellschaftlichen Naturverhältnisse
in der Risikogesellschaft gestaltet werden, nicht doch etwas mit sehr spezifischen
Macht- und Herrschaftsverhältnissen, und zwar mit der kapitalistischen Verfasst-
heit der Gesellschaft und damit mit globalen Verteilungsproblemen zu tun haben.
Er nimmt auch verstärkt einen Automatismus in der Veränderung der Gesellschaft
an, der gleichzeitig zu einem rationaleren Umgang mit selbst geschaffenen Risiken
beitragen soll. In dem Maße, in dem sich der Schwerpunkt seiner Diagnose von
einer Kritik der ›halbierten Moderne‹ zur Ausrufung einer ›zweiten Moderne‹
verlagert hat (Beck 1996), hat sich seine Theorie von einer kritischen zu einer
affirmativen Theorie der abendländischen Zivilisation gewandelt.
Damit soll keineswegs der These widersprochen werden, dass im Zusammen-
hang mit der ökologischen Krise seit den 1970er Jahren erhebliche gesellschaftliche
Umstrukturierungsprozesse zu beobachten wären, die Auswirkungen auf eine
zeitgemäße kritische Theorie haben müssen. Zwei Punkte müssen besonders her-
vorgehoben werden: Veränderungen im wissenschaftlichen Selbstverständnis und
weitgehende Umstrukturierungen innerhalb der Kontinuität kapitalistischer Verge-
sellschaftung. Der erste Punkt schließt direkt an die Diagnose der Risikogesellschaft
an. Wie vor allem Wolfgang Bonß (1993; 1995) gezeigt hat, zwingt das Thema
Risiko bzw. die Ungewissheit und Unsicherheit des Handelns angesichts neuer
technisch vermittelter Risiken zu einer Umorientierung in den Grundlagen kri-
tischer Theorie. Während für Adorno und Horkheimer das Gelingen instru-
mentellen Handelns und ihre Verfestigung und Perfektionierung in der ›ver-
walteten Welt‹ der Fokus der Kritik gewesen sei, sei heute das Scheitern natur-
wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung zentral. Obwohl das Thema Ri-
56 Christoph Görg
siko und Unsicherheit über alle verschiedenen Schulen hinweg zu einem der
wichtigsten Themen in der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit ökologi-
schen Problemen geworden ist, kann dieses Argument doch nur bedingt über-
zeugen. Ist nämlich der Ausgangspunkt der Kritik der Naturbeherrschung nicht die
Perfektionierung einer technisch vermittelten Aneignung der Natur, sondern ihre
Subsumtion unter ein projektiv entworfenes Klassifikationsschema und damit die
Leugnung der Nichtidentität der Natur, dann ist zumindest die Frage offen, ob
nicht unter dem Terminus ›Unsicherheit‹ eine modifizierte Erneuerung des Para-
digmas der Naturbeherrschung stattfindet, nun nicht mehr ausgerichtet auf den
Glauben an die vollständige Berechenbarkeit der Welt (wie noch bei Max Weber),
sondern auf die Kontrolle der Nebenfolgen (Görg 2002a).
Trotzdem ist die relativ abstrakte Kritik Horkheimers und Adornos an Natur-
wissenschaft und Technik heute so nicht mehr haltbar. Selbst theoretische Tradi-
tionen, die teilweise in mehr oder weniger direkter Anlehnung an die ältere
Kritische Theorie Wissenschaft- und Technikkritik aktualisiert haben, haben deut-
liche Umakzentuierungen vorgenommen. Am deutlichsten in der Tradition stehen
dabei noch bestimmte Zweige der feministischen Wissenschaftskritik (Becker-
Schmidt; Knapp; vgl. Scheich 1993; 1994), die zwar teilweise recht deutlich die
patriarchalischen Motive noch der Dialektik der Aufklärung kritisiert haben –
trotz aller Anerkennung ihrer Vorläuferschaft im Hinblick auf die Thematisierung
geschlechtsspezifischer Herrschaft. Doch gleichzeitig werden einige Motive der
älteren Kritischen Theorie recht direkt übernommen, so die Kritik am identifizie-
renden Denken und der Subsumtionslogik der Naturbeherrschung wie an den
herrschaftsförmigen Aspekten einer Naturalisierung sozialer Verhältnisse, beson-
ders – aber nicht nur – in geschlechtsspezifischer Hinsicht. In diesem Punkt
wurden sogar am deutlichsten Berührungspunkte mit anderen theoretischen Tradi-
tionen, z. B. in der Tradition des Poststrukturalismus stehenden Autor/innen aus-
gelotet, die diese Kritik inzwischen noch viel weiter getrieben haben (bei allen,
oben angesichts von Haraway erwähnten Problemen; vgl. dazu Becker-Schmidt
1997; Gransee 1998; J.Weber 1998).
Für ökologische Probleme im engeren Sinne waren die Arbeiten des Frankfurter
Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) seit den 1980er Jahren von großer
Bedeutung (Becker/Jahn 1987; Jahn 1991; Jahn/Wehling 1998). Hier wurde sicher-
lich am deutlichsten Abstand von der pauschalen Naturwissenschaftskritik der
älteren Kritischen Theorie – bei gleichzeitiger Distanz zur Habermasschen Theorie
(vgl. Wehling 1992) – genommen und stattdessen eine der Krise der Natur-
verhältnisse entsprechende Neuentwicklung versucht. Dies hat mindestens drei
wesentliche Komponenten: eine starke Betonung interdisziplinärer Forschung und
einen deutlichen Bezug auf soziale Akteure und soziale Bewegungen (Trans-
disziplinarität), verbunden mit der Hervorhebung der Pluralität der Naturver-
hältnisse – ihrer Nichtrückführbarkeit auf einen basalen oder dominanten gesell-
schaftlichen Prozess. Der zentrale Gedanke besagt, dass die ökologische Krise eine
umfassende Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse sei: Über die materiell-stoff-
lichen Dimensionen der Krise, die im engeren Sinn als ökologische oder als
Umweltprobleme behandelt werden, sind auch die symbolischen Beschreibungen
Dialektische Konstellationen 57
von Natur und Gesellschaft und damit die Natur- wie die Sozialwissenschaften
ebenfalls in die Krise geraten. Mit der Krise der Naturverhältnisse ist damit
tatsächlich ein historisches Ereignis verbunden, dass es erforderlich macht, den
Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft und damit das gesellschaftliche Selbst-
verständnis überhaupt neu zu reflektieren.
Allerdings ist auch dieser Ansatz in wesentlichen Punkten bislang nicht zu
einem umfassenden Neuansatz ausgebaut worden. Dies berührt mindestens zwei
Aspekte, den der Wissenschaftskritik und die Ebene der Gesellschaftstheorie.
Selbst wenn man den Anspruch aufgibt, Kritik an den Naturwissenschaften nur
pauschal von außen betreiben zu wollen, bleibt offen, wie eine der ökologischen
Problematik angemessene Wissenschaftskritik aussehen kann und was die zentralen
Gehalte dieser Kritik sein könnten. Das ISOE arbeitet im Wesentlichen mit dem
Element des Konzepttransfers zwischen den Wissenschaften, bei dem z. B. der
Übertragung naturwissenschaftlicher Konzepte wie dem der Autopoiese in die
Sozialwissenschaften nachgegangen wird (Becker/Jahn/Wehling 1990). Dabei bleibt
jedoch der Gehalt der Kritik unklar – bzw. wird auf die Kritik von Vereinseiti-
gungen und Reduktionismen bei der Übertragung von Theorieelementen zurück-
genommen, ohne diese selbst in ihrer Funktion im gesellschaftlichen Prozess zu
hinterfragen. Neben diesem Modell, das stark von einer relativ pragmatischen
Bearbeitung konkreter ökologischer Probleme geprägt ist, lassen sich jedoch noch
andere Kritikmodelle erkennen. Neben der schon erwähnte feministischen Wissen-
schaftskritik, die der Kritik an herrschaftlichen Implikationen in wissenschaftlichen
Denkmodellen noch am direktesten folgt, lassen sich z. B. Versuche einer natur-
philosophisch inspirierten Kritik (Böhme 1999) bzw. einer stärker konstruktivis-
tisch, den gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen und ihren Zwecksetzungen
nachgehenden Kritikstrategie unterscheiden (Weingarten 1998). Nur im letzten Fall
lässt sich jedoch auch die Hoffnung auf eine enge Verbindung zwischen Wissen-
schafts- und Gesellschaftskritik aufrechterhalten, die die ältere Kritische Theorie
ausgezeichnet hatte, und die mit den jüngsten gesellschaftlichen Veränderungen –
von der neuen Runde der Verwissenschaftlichung und Technisierung der Gesell-
schaft bis zur Globalisierung – undeutlich geworden ist.
In diesen gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozessen, die mit dem Übergang
zum Postfordismus verbunden sind, und ihrer Bedeutung für die Naturverhältnisse
liegt jedoch die stärkste Herausforderung für eine kritische Theorie der Natur-
verhältnisse, die ›an der Zeit‹ ist. Während in den Sozialwissenschaften der Ein-
druck verbreitet wird, der Hinweis auf den kapitalistischen Charakter der Gesell-
schaft trage zum Verständnis dieser Umstrukturierungen nichts bei, so nicht die
neue Gesellschaft sowieso von anderen Strukturprinzipien organisiert werde, ha-
ben gerade die Diskussionen um die Globalisierung gezeigt, dass der kapitalistische
Charakter dieser Prozesse nicht zu vernachlässigen ist, auch und gerade dann,
wenn Globalisierung nicht auf ökonomische Prozesse reduziert werden kann.
Doch die eigentliche Herausforderung hinsichtlich des Standes der Naturver-
hältnisse wie der gesellschaftlichen Zeitdiagnose überhaupt besteht gerade darin,
die Diskontinuität gesellschaftlicher Verhältnisse, d. h. die Analyse der besonderen
historischen Situation, zu vermitteln mit der Kontinuität kapitalistischer Struk-
58 Christoph Görg
beides gibt weniger denn je Anlass zu Optimismus. Trotzdem kommt es für eine
kritische Theorie der Naturverhältnisse darauf an, eine solche Möglichkeit der
Gestaltung offen zu halten und damit sowohl dem Gestaltungspessimismus der
neofunktionalistischen Gesellschaftstheorie entgegenzutreten (vgl. zur Kritik an
Luhmann: Demirovic 2001), als auch einem steuerungstheoretischen Optimismus
wie der Tendenz zu einem pragmatischen Management der Probleme in den
Sozialwissenschaften. Während erstere alternativlose systemische Sachzwänge hy-
postasiert und damit die gesellschaftliche Entwicklung naturalisiert, unterschätzen
letztere die herrschaftlich verfestigten Strukturen des globalen Kapitalismus.
Es käme mit anderen Worten darauf an, den Anspruch Marcuses ernst zu
nehmen, ökologische Reformen praktisch wie theoretisch bis zu einem Punkt
voranzutreiben, an dem die Unvereinbarkeit mit der kapitalistischen Form der
Vergesellschaftung offenkundig wird. Derzeit erfordert dies, die jüngsten Erschei-
nungsformen globaler sozialer Bewegungen ernst zu nehmen und die von ihnen
artikulierten globalen Konfliktfronten daraufhin zu untersuchen, ob und inwieweit
diese Unvereinbarkeit besteht – und welche Chancen zu einer weitergehenden
Veränderung sich eröffnen. Besteht ein wesentlicher Aspekt der Verbindung von
Globalisierung und Ökologie nicht in der vermeintlichen gleichen Betroffenheit
der gesamten Menschengattung, sondern ganz im Gegenteil in der konflikthaften
Gestaltung globaler gesellschaftlicher Verhältnisse einschließlich ihrer Naturver-
hältnisse, dann kann die Untersuchung dieser Konflikte sich auch weiterhin am
Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie orientieren. Denn die Untersuchung
konkreter Konstellationen im Verhältnis von Gesellschaft, Individuum und Natur
ist weiterhin ein wichtiger Referenzrahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie,
gerade im Hinblick auf die Entwicklung des globalen Kapitalismus (Görg 2002c).
Literatur
–/Brand, Ulrich (2001b): Patentierter Kapitalismus, in: Das Argument 242; H. 4/5, S. 466–
480
–/Hirsch, Joachim (1994): Gesellschaftsveränderndes Handeln – ein Auslaufmodell? An-
merkungen zum ›radikalen Reformismus‹. In: Widersprüche H. 50, März 1994, S. 71–84
Gransse, Carmen (1998): Grenz-Bestimmungen. Erkenntniskritische Anmerkungen zum Na-
turbegriff von Donna Haraway. In: Gudrun-Axeli Knapp (Hg.): Kurskorrekturen. Femi-
nismus zwischen kritischer Theorie und Postmoderne, Frankfurt a. M./New York, S. 126–
152
Habermas, Jürgen (1968): Technik und Wissenschaft als Ideologie, Frankfurt a. M.
– (1981): Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde., Frankfurt a. M.
– (1985): Der Philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt a. M.
– (1987): Philosophisch-politische Profile, Frankfurt a. M.
Hack, Lothar (1988): Vor Vollendung der Tatsachen, Frankfurt a. M.
–/Hack, Irmgard (1985): Die Wirklichkeit, die Wissen schafft, Frankfurt a. M./New York
Haraway, Donna (1995): Die Neuerfindung der Natur, Frankfurt a. M./New York
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich (1970): Phänomenologie des Geistes, Theorie-Werkausgabe,
Bd. 3, Frankfurt a. M.
Honneth, Axel (1989): Kritik der Macht, Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max (1985): Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M.
–/Adorno, Theodor W (1987 [1944/47]): Dialektik der Aufklärung. In: M. Horkheimer: Ges.
Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M.
Institut für Sozialforschung (Hg.) (1956): Soziologische Exkurse, Frankfurt a. M. 1956
Jahn, Thomas (1991): Das Problem sozial-ökologischer Forschung. Umrisse einer kritischen
Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse. In: Institut für sozial-ökologische Forschung,
Jahrbuch für sozial-ökologische Forschung, Frankfurt a. M., S. 15ff.
–/Wehling, Peter (1998): Gesellschaftliche Naturverhältnisse – Konturen eines theoretischen
Konzepts. In: K. W.Brand (Hg.), S. 75–93
Kill, Susanne (1989): Marcuse, die Weiblichkeit und eine alte Utopie. In: P. E.Jansen (Hg.):
Befreiung denken – ein politischer Imperativ, Offenbach
Krohn, Wolfgang/Krücken, Georg (1993): Risiko als Konstruktion und als Wirklichkeit. In:
dies. (Hg.): Riskante Technologien: Reflexion und Regulation, Frankfurt a. M., S. 9–44
Latour, Bruno (1995): Wir sind nie modern gewesen, Berlin
Luhmann, Niklas (1986): Ökologische Kommunikation, Opladen
Manzei, Alexandra (2002): Eingedenken der Lebendigkeit im Subjekt? Kritische Theorie und
die anthropologischen Herausforderungen der biotechnologischen Medizin, in: Zeitschrift
für kritische Theorie, 8. Jg., H. 15
Marcuse, Herbert (1967 [1964]): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft. Darmstadt/Neuwied
– (1979 [1965]): Industrialismus und Kapitalismus im Werk Max Webers. In: ders.: Kultur
und Gesellschaft 2, Frankfurt a. M.
– (1987 [1972]): Schriften, Bd. 9. Konterrevolution und Revolte, Zeit-Messungen, Die Perma-
nenz der Kunst, Frankfurt a. M. 1987
– (1990 [1977]): Ökologie und Gesellschaftskritik. Ein Vortrag. In: P. E.Jansen (Hg.): Befrei-
ung denken – Ein politischer Imperativ, 2. Aufl., Offenbach
Marx, Karl/Engels, Friedrich: Werke. Berlin (zit. MEW.)
McKibben, Bill (1989): The End of Nature, New York
Narr, Wolf-Dieter (1988): Das unpolitisierte Politikum der Gentechnologie. Ein Kapitel aus
der Dialektik der Aufklärung. In: Ästhetik&Kommunikation 69
Parsons, Talcott (1975): Gesellschaften. Evolutionäre und komparative Perspektiven, Frank-
furt a. M.
Ritsert, Jürgen (1988): Das Bellen des toten Hundes, Frankfurt a. M./New York
62 Christoph Görg
Mehr als je zuvor ist das Leben der Menschen heute durch Wissenschaft und
Technik geprägt. Wissenschaftlich konzipierte Technik und Gesellschaft stehen
nicht in einer bloßen Wechselbeziehung, vielmehr ist die Gesellschaft selbst sub-
stanziell technisiert. Technik ist das wichtigste Medium der gesellschaftlichen
Vermittlung, der Erzeugung und Befestigung überindividueller Strukturen, nicht
nur bei der Produktion von Gütern, sondern auch bei der Generierung von
Kommunikationsstrukturen. Der Wahrnehmung der Einzelnen weitgehend ent-
zogen, reicht das Wurzelwerk des soziotechnischen Systems tief hinab in den
Bereich der persönlichen und sozialen Identitätsbildung. Wissenschaftliche Ansich-
ten und technische Modelle wie zum Beispiel die der biologischen Evolutions-
theorie, der Genetik oder der elektronischen Datenverarbeitung beherrschen viel-
fach, wenn auch in fragwürdig vereinfachter Gestalt, die Selbstdeutungen der
Menschen und ihren Umgang mit anderen. Auch ihre Ängste und Hoffnungen sind
eng mit einer noch weiter fortgeschritten Technologie verwoben. Nicht vorstellbar
ist dagegen, abgesehen von Bildern einer finalen Katastrophe, ein Ende der Tech-
nisierung, ja auch nur ein Nachlassen ihrer Geschwindigkeit. Die Vermeidung der
Katastrophe ist selbst ein Motor der Entwicklung. Scheint das Risiko katastro-
phaler Folgen einerseits der akzeptierte Preis des möglichen technischen Fort-
schritts zu sein, so erfordert das Kalkül der Vermeidung, Begrenzung, Kompensa-
tion von Fehlern, Unfällen, Missbräuchen weitere wissenschaftliche und technische
Anstrengungen. Die globale »Risikogesellschaft« bezeichnet eine neue qualitative
Stufe im Verbrauch von Natur und sozialen Bindungskräften, wenn auch ihre
Grundmechanismen so alt sind wie die ökonomische Grundverfassung der Mo-
derne.
In der Philosophie wurde die Eigendynamik der technischen Naturbeherr-
schung, ihre Tendenz, sich auch ihre eigenen menschlichen Schöpfer zu unter-
werfen, seit dem Ersten Weltkrieg zum Gegenstand. Gewiss wurde technisches
Handeln schon in der Antike als anthropologische Grundbestimmung thematisiert.
Aber im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hatte jene Eigendynamik offenbar
einen Schwellenwert erreicht, der zu einer zeitdiagnostisch zugespitzten Technik-
und Kulturkritik herausforderte. Technik wurde von einer spezifischen Hand-
lungsweise zu einem Weltzustand. In Deutschland wurde philosophische Tech-
nikkritik seitens des Neoidealismus (Dessauer 1927), der Existentialontologie (Hei-
degger 1927), des Rechtsnietzeanismus (Spengler 1931) und des Marxismus formu-
liert. An letzteren anknüpfend entwickelte die Kritische Theorie der Frankfurter
Schule vor allem in der Zeit ihres amerikanischen Exils in den 30er und 40er Jahren
eine zeitdiagnostisch zugespitzte Zivilisationstheorie, der zufolge Wissenschaft,
64 Gunzelin Schmid Noerr
2. Kritische Theorie
»Idee«? Lässt sich diese Idee, als die »sich identisch durchhaltenden Frageposi-
tionen« oder das Ensemble »relativ invarianter, abstrakter Relevanzmuster« (Du-
biel 1978, S. 21), ertragreich in die inzwischen veränderten Problemstellungen
einbringen? Welches wären demnach die Grundlinien einer kritischen Theorie der
Technik heute? Ich möchte diese Fragen auf dem Umweg einer historischen
Verortung des Horkheimerschen Entwurfs der Kritischen Theorie zu beantworten
versuchen. Dazu ist der Gegenstand der Technologie in besonderem Maße geeig-
net, ist es doch wesentlich das Verhältnis von Wissenschaft, Wissensverwertung
und Gesellschaft, auf das bezogen Horkheimer die kritische Theorie profilierte.
Der historische Rückblick erlaubt es, sich nicht nur der seither erfolgten theorie-
und realgeschichtlichen Veränderungen zu vergewissern, sondern auch zu klären,
auf welche Weise die von Horkheimer formulierten Merkmale der Kritischen
Theorie strukturellen Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft, Technik und
Gesellschaft entsprachen, deren Reflexion in der Technikphilosophie und -sozio-
logie nach wie vor aktuell sind. Dass dabei die geschichtlichen Veränderungen die
Theorie nicht unberührt lassen, gehört zu ihrem eigenen Inhalt:
»Ihre Begriffe kennt [die kritische Theorie]«, wie der späte Horkheimer im Rückblick auf
seine Arbeiten der 30er Jahre schrieb, »als Momente der historischen Konstellation wie als
Ausdruck jenes Willens zur richtigen Gesellschaft, der in verschiedenen historischen Situa-
tionen theoretisch und praktisch verschieden sich äußert und zugleich als derselbe sich
erhält.« (Horkheimer 1965, S. 13)
Zu den wesentlichen Merkmalen der Kritischen Theorie, wie sie von Horkheimer
in seinem programmatischen Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie
bestimmt wurde, gehörte die Reflexion des außertheoretischen Bedingungs- und
Wirkungszusammenhangs der Theorie. Der Terminus »kritische Theorie der Ge-
sellschaft« sollte einen bestimmten Typus von Theorie bezeichnen, dem die Refle-
xion über seine Beziehung zu gesellschaftlicher Praxis als den Voraussetzungen und
Intentionen der Theorie inhärent war. Dieser Typus war paradigmatisch in der
Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verkörpert, wenn auch keineswegs
auf diese beschränkt. Politische Mimikry war allenfalls nur ein Motiv für die Wahl
der Bezeichnung, ein anderes, systematisch wie wirkungsgeschichtlich wichtigeres,
war die Transformation der Marxschen Theorie durch den Einbezug von Kultur-
und Subjekttheorie zu einer materialistischen Sozialphilosophie und philosophisch
orientierten Sozialforschung als Theorie emanzipatorischer Praxis. Methodisches
Vorbild blieb die Marxsche Theorie aber hinsichtlich der Einheit von Kritik und
Theorie: Die Kritik bezog sich nicht nur auf falsche und unzureichende Ansichten
und Theorien über die Gesellschaft, sondern auf deren Strukturen selbst, mit denen
jene Ansichten als Ideologieproduktion verflochten waren.
Von »traditioneller« Theorie, so Horkheimer, unterschied sich die »kritische«
dadurch, dass sie die in scheinbar rohe »Tatsachen« wie auch in abstrakte Begriffe
eingegangenen, dort aber nicht mehr sichtbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen
3. Traditionelle Theorie
rung enthält. Das logische Gerüst der traditionellen Theorie ist die Subsumtion des
einzelnen Sachverhalts unter Gesetzesaussagen. Aus beiden lassen sich bedingte
Prognosen ableiten. Horkheimer sah darin einen adäquaten Ausdruck der gesell-
schaftlichen Funktion traditioneller Theorien, zur technischen Handhabung natür-
licher (und sozialer) Mechanismen beizutragen. Seine Kritik der traditionellen
Theorie bezog sich weniger auf diese Funktion als auf ein falsches Selbstverständ-
nis beziehungsweise eine falsche philosophische Deutung ihrer Methodik:
»Es besteht kein Zweifel, dass solche Arbeit [der Wissenschaftler] ein Moment der fortwäh-
renden Umwälzung und Entwicklung der materiellen Grundlagen dieser Gesellschaft dar-
stellt. Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbständigt wird, als ob er etwa aus dem
inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er
sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie.« (Horkheimer 1937b, S. 168)
Nun stimmte dieses (Selbst-)Bild der Wissenschaft freilich nur partiell mit ihrem
wirklichen Verfahren überein. Richtung und Ziele der Forschung, der Einfluss der
Empirie auf die Konstruktion von Theorien sowie die Möglichkeiten ihrer Anwen-
dung waren – darauf wies Horkheimer nachdrücklich hin – immer auch gesell-
schaftlich präformiert. Zudem wirkten Theoreme auch unabhängig von ihrer inner-
wissenschaftlichen Akzeptanz auf die Alltagswelt zurück. Und doch konnte man,
jedenfalls in einem bestimmten historischen Rahmen, von einer Autonomie wissen-
schaftlicher Erkenntnisbildung sprechen. Diese historische Grenze scheint nun
aber in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erreicht und überschritten worden
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 69
2 Anders (1980, 110ff.) hat dies Ende der 60er Jahre unter dem Titel »Die Antiquiertheit der
Maschinen« angedeutet, ohne freilich die neue, dezentrale Netzwerkstruktur (später
paradigmatisch durch die Vorläufer des Internet eingeführt) schon erkennen zu können.
70 Gunzelin Schmid Noerr
komplexe Realität der modellhaften Simulation entzieht, zum Beispiel im Fall der
Berechnung von nicht-linearen Wirkungen der Emission von Abgasen oder von
Freisetzungsversuchen gentechnisch manipulierter Organismen. Die hier stattfin-
dende affirmative Vergesellschaftung der Wissenschaft – »Vergesellschaftung« nicht
als kritische Indienstnahme der Wissenschaft durch ein gesellschaftliches Gesamt-
»Subjekt«, sondern umgekehrt als Instrumentalisierung des sozialen Lebens durch
die Wissenschaft – nimmt heute unter den Bedingungen immer rascherer tech-
nischer Innovationen die Form an, dass deren gesellschaftliche Implementierung
sich zunehmend weniger auf gesichertes Wissen berufen kann und stattdessen
selbst Merkmale der experimentellen Erzeugung neuen Wissens aufweist. Krohn
und Weyer (1990) haben diese vor allem im Fall von Risikotechnologien be-
drohliche Tendenz dargestellt, die Gesellschaft mit der Durchführung von »Real-
experimenten« zu belasten. Die Gesellschaft wird Wissensgesellschaft und trägt als
solche auch die Risiken des Wissenserwerbs, den Irrtum, mit. Technische Unfälle,
obwohl nicht als Experimente intendiert, erlangen die Funktion der Bestätigung
und Falsifikation von Theorien. In der Folge werden technische Implementationen
auch dort, wo sie in der öffentlichen Meinung zunächst nicht mit Risiken ver-
bunden wurden (zum Beispiel im Fall der FCKW-Emissionen), zunehmend in den
Risikodiskurs einbezogen. Ökonomische, politische und instrumentelle Klugheits-
regeln bestimmen die wissenschaftlich-institutionelle »Technikfolgenabschätzung«
(die freilich gegenüber der realen Technikentwicklung notorisch zu spät kommt).
So verschränkt sich die Vergesellschaftung der Wissenschaft mit der Verwissen-
schaftlichung der Technik. Wissenschaft heute
»ist an der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr nur indirekt über die Anwendung ihrer
Erkenntnisse, sondern direkt über die Erzeugung neuen Wissens beteiligt. Sie ist ihrem
(historisch erkämpften) Freiraum entwachsen, und es ist an der Zeit, ihr Verhältnis in der
Gesellschaft neu zu bestimmen.« (Krohn/Weyer 1990, S. 118)
Die geforderte Neubestimmung bezieht sich auf die Legitimation des mehr oder
weniger unvermeidbar die Laborgrenzen überschreitenden Forschungshandelns.
Krohn und Weyer weisen selbst darauf hin, dass ihre Thematik eng mit morali-
schen Fragen verknüpft ist: wie Verantwortung für Forschung neu zu verteilen sei,
und ob auch die Gesellschaft als ganze Anspruch auf einen der Menschenwürde des
Individuums analogen normativen Schutz vor experimenteller Indiestnahme habe.
Allerdings suspendieren sie diese Fragen sogleich zu Gunsten einer diagnostischen
Analyse. Damit verbleiben sie zwar in den selbst gezogenen Grenzen »traditio-
neller« Theorie, verweisen aber zugleich (ganz im Sinn des oben zitierten Horkhei-
merschen Diktums, jede konsequente intellektuelle Anstrengung, die sich um den
Menschen kümmert, müsse sinngemäß in die kritische Theorie der Gesellschaft
einmünden) auf die Notwendigkeit der Überschreitung dieser Grenze. Während
also der theoretische Aspekt der kritischen Theorie, die gesellschaftliche Konstruk-
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 73
tion von Wissenschaft und Forschung, heute vielfach in die avancierten »traditio-
nellen« Theorien eingewandert ist, hat die kritische Theorie ihr genuines Feld nach
wie vor in der (Neu-)Bestimmung der moralisch-praktischen Beziehung zwischen
Wissenschaft, Technik und Gesellschaft.
Horkheimers Entwurf entstand an der krisenhaften Schwelle einer Gesell-
schaftsepoche, die die Individuen ihres traditionellen Ortes beraubte und in die
Ortlosigkeit, die U-topie hinauswarf. Es war eine entscheidende Schwelle hin zur
heutigen Risikogesellschaft. Dass die Wissenschaft nun zur entscheidenden Pro-
duktivkraft wurde, bedeutete auch, dass sie in ihren Fortschritten weniger den
immanenten Gesetzen reiner Theorie folgte, sondern zunehmend durch gesell-
schaftliche Interessen bestimmt wurde. Denn die Fortschritte von Wissenschaft
und Technologie erforderten eine erhebliche räumliche und zeitliche Ausweitung
der ökonomischen, militärischen und staatlichen Planungen. Zugleich aber
schirmte sich die Gesellschaft politisch und kulturell gegen grundlegende Al-
ternativen immer dichter ab. Dagegen stemmte sich die Kritische Theorie mit
ihrem Engagement für die Einrichtung einer »vernünftigen Gesellschaft«. Sie
wollte die Weichenstellung der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinn der von ihr
teils implizit, teils explizit normativ ausgezeichneten gesellschaftlichen Interessen
beeinflussen, indem sie der Ortlosigkeit der bestehenden Verhältnisse ihre Utopie
einer endlichen Versöhnung entgegenhielt. »Zeiten wie die heutige«, schrieb Bloch
in eben diesem Sinn, »in denen Geschichte, vielleicht für Jahrhunderte, auf der
Waage steht, haben das Gefühl fürs Novum extrem, sie spüren, was Zukunft ist,
mit angehaltenem Atem, mit befördernder Arbeit am Heraufziehenden, herauf-
ziehend Möglichen« (Bloch 1954, S. 336). Sie spürten, so lässt sich konkretisieren,
die Tendenz zur Vegesellschaftung von Wissenschaft und Technik und glaubten an
die Möglichkeit, diesem Prozess humane Formen und Ziele zu geben, ja sie
übersteigerten ihn zu Entwürfen gesamtgesellschaftlicher Praxis. Vor dem Hinter-
grund der einsetzenden affirmativen Vergesellschaftung von Wissenschaft und
Technik entwarfen sie Gegenbilder einer kritischen Vergesellschaftung.
Unter Bedingungen der affirmativen Vergesellschaftung von Wissenschaft und
Technik heute hat aber nichts weniger Platz und Zustimmung als die subjektive
Verkörperung der Reflexion gesellschaftlicher Voraussetzungen und Folgen des
Wissens, nämlich die von Horkheimer intendierte Möglichkeit und Fähigkeit der
»kritischen Subjekte«, bei ihrem Forschungshandeln gleichsam neben sich zu treten
und nach dem übergreifenden Sinn ihres Tuns zu fragen.3 Diese schwer zu er-
füllende Zumutung der kritischen Theorie besteht für die Einzelnen darin, ihre
moralische Urteilskraft weit über die gewöhnlich überschaubaren Handlungs-
ketten hinaus auszudehnen, und für die Gesellschaft darin, die systemisch indu-
zierten Abläufe durch individuelle moralische Einsprüche gefährden zu lassen.
Vielleicht sind es nicht zuletzt diese Zumutungen, die in Kreisen gestandener
Philosophen und Soziologen anhaltend starke, negative Gegenaffekte generieren.
3 Auch diesen Effekt hat bereits Anders (1980, 362ff.) innerhalb seines Erklärungsschemas
analysiert und als »Antiquiertheit des ›Sinns‹« verbucht.
74 Gunzelin Schmid Noerr
Auf den miteinander konkurrierenden Einzelnen lastet ein hoher Druck, sich mit
den gesellschaftlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden, zu identifizieren.
Dennoch sind die Verantwortungsprobleme technischen Handelns offensicht-
lich zunehmend unabweisbar geworden. Deshalb haben sich in den vergangenen
Jahrzehnten zwei weitgehend voneinander getrennte Fachdiskurse entwickelt,
nämlich einerseits eine eher indvidualisierende Ethik der Technik (und der Wirt-
schaft), andererseits eine politisch ausgerichtete Technikfolgenabschätzung oder
Technikbewertung (vgl. Ropohl 1996). Beide zielen auf unterschiedliche Weise auf
die Beherrschung des faktisch unbeherrschten Prozesses der Technisierung ab, um
deren Risiken und negative Folgen zu minimieren. Während die Ethik der Technik
diesen Ansatzpunkt in der moralischen Aufklärung über technisches Handeln
(insbesondere der Erzeuger von Technik) sucht, dient die Technikbewertung der
wissenschaftlichen Politikberatung und damit der staatlichen Steuerung der Tech-
nisierung. Folgt man der zusammenfassenden Darstellung dieser beiden Diskurse
bei Ropohl, dann leiden beide an komplementären, typischen Schwierigkeiten. Die
Ethik der Technik krankt grundsätzlich an der moralischen Schwäche der Einzel-
nen gegenüber der Logik der Verhältnisse. So verordnen sich Berufsverbände
Ethikkodizes, die freilich dem Handeln und Bewusstsein der Ingenieure weitge-
hend äußerlich bleiben.4 Eine normative Ethik der Technik ist weder allgemein
verbindlich formulierbar noch gar durchsetzbar. Ihre Schwierigkeiten resultieren
unter anderem daraus, dass sie von einem individualistischen Handlungsbegriff
ausgeht, der der kollektiven Struktur technischen Handelns unangemessen ist.
Umgekehrt bleibt die sozialwissenschaftliche Technikbewertung zum Zweck der
politischen Steuerung oft ohne Einfluss, da sie, die eine Sackgasse der Planwirt-
schaft vermeidend, in die andere Sackgasse einer bloß reaktiven Bewertung von
Entwicklungen hineinführt, die außerhalb ihrer Entscheidungsmöglichkeiten, in
der Industrie, ablaufen. Zudem sind die Werte, die den Bewertungen zugrunde
liegen, zumeist als allzu selbstverständlich unterstellt, ohne ihr oft genug ant-
agonistisches Verhältnis untereinander und in der Gesellschaft zu reflektieren.
Die ältere Kritische Theorie war noch, wie erwähnt, von der Hoffnung getragen,
dass der Gegensatz von individueller ohnmächtiger Vernunft und gesellschaftlicher
unvernünftiger Macht sich in der Konstitution eines gesellschaftlichen Gesamt-
subjekts versöhnen lasse. Diese Hoffnung, die gelegentlich auch heute noch von
kritischen Theoretikern proklamiert wird, ist aber insofern illusorisch, als eine
zentralperspektivische politische Steuerung auf Grund des mit ihr verbundenen
Machtgefälles grundlegende Täuschungen und Selbsttäuschungen erzeugt und so
hinsichtlich ihrer Kapazitäten der Problembewältigung unterkomplex bleibt. Den
Produktionsverhältnissen moderner Gesellschaften scheint, wenn sie nicht totalitär
restringiert sind, ein relativ hohes Maß an Ungesteuertheit des Gesamtprozesses
unabdingbar zu sein. Zwar mag eine Perfektionierung der gesellschaftlichen Steue-
rung zukünftig erreichbar sein. Damit würden aber auch die Freiheitsspielräume
4 Beispielsweise hat die Gesellschaft für Informatik 1994 entsprechende »Ethische Leit-
linien« formuliert. Eine darin angekündigte Fallsammlung über ethische Konflikte ist
mangels Mitgliederresponses bis heute nicht zustande gekommen.
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 75
der Einzelnen tendenziell beseitigt werden, die zu den Bedingungen von Produk-
tivität gehören. Demgegenüber kann es nur darum gehen, die Instanzen der
Problembeobachtung und -artikulation zu vervielfältigen und demokratisch zu
institutionalisieren.
Zu den zentralen Aufgaben einer kritischen Theorie der Technik heute gehört es
deshalb, neue Wege zur Überwindung der Aufspaltung in einen individualistischen,
gesellschaftsblinden Ethikdiskurs und einen politisch-soziologischen, aber ethik-
blinden oder -entsagenden Diskurs der Technikbewertung zu suchen. Das Miss-
trauen gegen eine verselbständigte, zur philosophischen Spezialdisziplin gewordene
Ethik war für die ältere Kritischen Theorie ebenso kennzeichnend wie das gegen
eine »formale« Soziologie ohne Bezug auf das moralische Vernunftinteresse. Mora-
lischer Impuls und gesellschaftliche Reflexion verweisen, ihr zufolge, notwendig
aufeinander. Gesellschaftliche Reflexion bezieht sich hier auf alle diejenigen Be-
reiche, die Bedingungen und Schranken des (für sich allein ohnmächtigen) ethi-
schen Wissens darstellen, von der Sozialisation der Individuen über die politische
Öffentlichkeit bis zur gesetzlichen Sanktionierung. Die Ethik der Technik wie die
ingenieurwissenschaftliche und gesellschaftstheoretische Technikbewertung müs-
sen, da technisches Handeln heute zugleich soziales, kooperatives Handeln ist, die
Last der sozialphilosophischen Frage nach den Grundlagen unserer ökonomischen
und sozialen Ordnung auf sich nehmen, die Frage also, in welcher Gesellschaft wir
leben wollen.
Wenn die Konstruktion eines gesamtgesellschaftlichen Subjekts, als Alternative
zur krisenträchtigen Unbeherrschtheit des sozialen beziehungsweise soziotech-
nischen Prozesses, versperrt ist – ein Weg mit ehrwürdiger Tradition, den schon
Platon mit der Gleichsetzung von Gutsein und Wissen, Rousseau mit dem Begriff
der volonté générale und der Marxismus mit dem des wahren, durch Ideologien
bloß verdeckten Interesses eingeschlagen haben – dann bleibt offenbar nur die
Alternative, Technisierung als gemeinschaftliches Unternehmen mit gemeinschaft-
licher Verantwortung zu konzipieren. Dies setzt wiederum die Erprobung und
Durchsetzung neuer Wege der Partizipation an Entscheidungen und des Schutzes
individueller Rechte voraus. Hier verbindet sich die techniktheoretische mit der
demokratietheoretischen Aufgabe. Neue kommunikative Netzwerke wären zu
erfinden, zu erproben und zu institutionalisieren, mit Hilfe derer die Technikbe-
wertung mit dem Prozess der Technikgenese in allen seinen Stadien verbunden
werden könnte (vgl. Ropohls Konzepte der »innovativen Technikbewertung« und
der »konzertierten Techniksteuerung«; 1996, S. 259 ff.). Dabei stiege allerdings auch
die Gefahr der erneuten Vereinnahmung des kritischen Potentials durch partikulare
Technisierungsinteressen. Dennoch scheint es unabdingbar, dass sich Ethik der
Technik und sozialwissenschaftliche Technikbewertung in sozialphilosophischer
Orientierung der detaillierten Konfrontation mit der Praxis der Technisierung
aussetzen. Anderenfalls bleiben diese Diskurse akademisches Glasperlenspiel oder
notorisch verspätete und unzureichende Reparaturanleitung.
76 Gunzelin Schmid Noerr
Literatur
Anders, Günther (1994 [1956]): Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im
Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München
– (1980): Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im
Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München
Bechmann, Gotthard (1990): Großtechnische Systeme, Risiko und gesellschaftliche Unsicher-
heit, in: Jost Halfmann/Klaus-Peter Japp (Hg.): Riskante Entscheidungen und Katastro-
phenpotentiale, Opladen
Bloch, Ernst (1973 [1954]), Das Prinzip Hoffnung, Bd. I, Frankfurt a. M.
Dessauer, Friedrich (1927): Philosophie der Technik, Bonn
Dubiel, Helmut (1978): Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Frankfurt a. M.
Gehlen, Arnold (1957): Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg
Heidegger, Martin (1963 [1927]): Sein und Zeit, Tübingen
Horkheimer, Max (1988 [1932]), Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: ders.: Ges.
Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.
– (1988 [1937a]): Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 4,
Frankfurt a. M.
– (1988 [1937b]): Traditionelle und kritische Theorie, in: Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt
a. M.
– (1988 [1965]): Brief an den S. Fischer Verlag, in: Ges. Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.
Marcuse, Herbert (1967 [1964]): Der eindimensionale Mensch, Neuwied und Berlin
Mumford, Lewis (1977 [1964/66]): Mythos der Maschine, Frankfurt a. M.
Krohn, Wolfgang/Weyer, Johannes (1990): Die Gesellschaft als Labor. Risikotransformation
und Risikokonstitution durch moderne Forschung, in: Jost Halfmann/Klaus Peter Japp
(Hg.): Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale, Opladen
Rammert, Werner (1993): Wer oder was steuert den technischen Fortschritt?, in: ders.:
Technik aus soziologischer Perspektive, Opladen
Ropohl, Günter (1996): Ethik und Technikbewertung, Frankfurt a. M.
Searle, John R. (1986 [1984]): Geist, Hirn und Wissenschaft, Frankfurt a. M.
Spengler, Oswald (1971 [1931]): Der Mensch und die Technik, München
Steinmüller, Wilhelm (1993): Informationstechnologie und Gesellschaft. Einführung in die
Angewandte Informatik, Darmstadt
Turkle, Sherry (1999 [1995]): Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek bei
Hamburg
Wittgenstein, Ludwig (1964 [1918/21]): Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M.
– (1967 [1953/58]): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.
Zemanek, Heinz (1992): Das geistige Umfeld der Informationstechnik, Berlin u. a.
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen
Engagements
Matthias Kettner
1. Einleitung
Die Geschichte der kritischen Theorie und die Motive, die ihre Diskursformation
erklären, sind bereits eindringlich und facettenreich dargestellt worden (Dubiel
1978, Reijen 1986, Jay 1991, Demirovic 1997, Waschkuhn 2000). Doch auch dort,
wo sich mit der Historisierung der Kritischen Theorie, die in enzyklopädischer
Form betrieben wird (Rasmussen 1996), noch systematische Erkenntnisinteressen
verbinden, vermisse ich eine Beschreibung des Kerns dieser Theorieform, die
deutlich machen könnte, dass zwischen dieser Theorieform (die nur scheinbar
abgetan ist) und bestimmten aktuellen normativen Theoriepraktiken (die nur
scheinbar gesamtgesellschaftlich bedeutungslos sind) Ähnlichkeiten bestehen. Ich
denke an Theoriepraktiken angewandter Ethik, die in einer Reihe von wichtigen
Teilbereichen der Gesellschaft, in denen sich Krisenphänomene in ganz verschie-
denen bereichsspezifischen Formen ausbreiten, mit reformerischen Ansprüchen
auftreten. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie an den bereichsspezifischen
Krisenphänomenen diejenigen Aspekte angehen, oder die Phänomene auf be-
stimmte Aspekte reduzieren, die sich als Moralprobleme fassen und bearbeiten
lassen.
Das Spektrum angewandter Ethik ist inhaltlich sehr breit. Wieviel Zweige
angewandter Ethik man unterscheiden möchte, hängt davon ab, wie weit man
spezielle Anwendungen (z. B. »Computer-Ethik«) und allgemeinere (z. B. »Medi-
enethik«) auseinanderhalten möchte. Aber zwei Zweige angewandter Ethik haben
sich in den letzten zwanzig Jahren unbestreitbar gut etabliert und konturiert: Die
biomedizinische Ethik und, mit gewissen Einschränkungen, die Wirtschafts- und
Unternehmensethik. Die Bioethik artikuliert Legitimationsprobleme der Lebens-
wissenschaften und des Gesundheitssystems in der Sprache der Moral. Die Wirt-
schafts- und Unternehmensethik behandelt alles, was an den Bedingungen kapi-
talistischen Wirtschaftens moralisch belangvoll für die so eingebundenen Akteure
ist. Beide Zweige angewandter Ethik haben in den letzten zwanzig Jahren in vielen
Ländern einen erheblichen Einfluss auf institutionelle Veränderungen gewonnen.
Besonders die Bioethik hat ein internationales Netz von eigenen Institutionen
ausgebildet, von Ethik-Komitees in Krankenhäusern auf lokaler Ebene bis hin zu
internationalen ethikberatenden Gremien, die sich z. B. mit der Erarbeitung von
völkerrechtlichen Erklärungen, etwa der Bioethik-Konvention innerhalb der Euro-
päischen Union, beschäftigen. (Ein deutschsprachiger Versuch, das Spektrum ange-
wandter Ethik vorzuführen, liegt mit dem von Nida-Rümelin (1996) heraus-
gegebenen Handbuch vor. Die Paradigmenvielfalt innerhalb der beiden genannten
Hauptzweige angewandter Ethik kann ich an dieser Stelle nicht behandeln; auf
78 Matthias Kettner
selbst als eine Form von Praxis unter anderen im Gesamt gesellschaftlich etablierter
Praktiken reflektiert werden muss – eine Selbstsituierung.
(3) Die andere Prämisse ist die Gestaltbarkeit. Die Prämisse der Gestaltbarkeit
gilt in der marxistisch inspirierten Sozialtheorie viel weniger eingeschränkt als in
der heute dominanten Systemtheorie, derzufolge die Rede von der Herstellung
vernünftiger Verhältnisse an der autopoietischen Realität aller sozialen Subsysteme
(und somit auch an »der« Gesellschaft im ganzen) abprallt und einer handlungs-
theoretisch nicht mehr einholbaren Form von Rationalität, der »Systemrationali-
tät«, Platz machen muss. (Zur Kritik an der systemtheoretischen Konzeption von
Vernunft s. Dorschel und Kettner 1996.) Die empirische Frage, wieweit die Prä-
misse der Gestaltbarkeit trägt, muss hier offen bleiben. Jedenfalls muss der Fehl-
schluss vermieden werden, dass wenn in einem normativ texturierten Bereich des
gesellschaftlichen Lebens keine nach Ergebnis und Absicht kontrollierbaren Verän-
derungen möglich sind, dann der betreffende Bereich B nicht zum Gegenstand des
kritisch-theoretischen Engagements werden könne. Der ungestaltbare Bereich
kann nämlich auch dann zumindest indirekt zum Gegenstand des kritisch-theo-
retischen Engagements werden, wenn kritisiert wird, dass seine Nichtsteuerbarkeit,
die von bestimmten Bedingungen C abhängt, die Menschen in eine – kritisch
betrachtet: unerwünscht – schlechte Position der Verantwortungslosigkeit bringt,
so dass C so verändert werden müsste, dass die Gestaltbarkeit von B zunimmt.
(4) Das vierte Moment, das ich hervorheben möchte, ist die Spannung der
postkonventionellen Ortlosigkeit. Sie betrifft den Adressatenbereich der kritischen
Theorie, d. h. den Kreis derer, die die kritische Theorie bewusst in ihr Selbst- und
Weltverständnis aufnehmen und die Kommunikationsgemeinschaft der kritischen
Theoretiker bilden können: »Was die traditionelle Theorie ohne weiteres als vor-
handen annehmen darf, ihre positive Rolle in einer funktionierenden Gesellschaft,
die freilich vermittelte und undurchsichtige Beziehung zur Befriedigung allge-
meiner Bedürfnisse, die Teilnahme an dem sich erneuernden Lebensprozess des
ganzen, alle diese Erfordernisse, um die sich die Wissenschaft selbst gar nicht zu
kümmern pflegt, weil durch die soziale Position des Gelehrten ihre Erfüllung
belohnt und bestätigt wird, stehen beim kritischen Denken in Frage. […] [D]ie
Gesamttendenz des Unternehmens, das intellektuelle Tun selbst, auch wenn es als
erfolgversprechend gilt, [hat] keine Sanktion des gesunden Menschenverstands,
keine Gewohnheit für sich« (Horkheimer 1970a, S. 36).
Weil sie die Evidenzen des gesunden Menschenverstands nicht einfach zulässt,
sondern als kompromisslerischen Ausdruck rationaler Anpassung an die bestehen-
den, wenig rationalen Verhältnisse entziffert, ist ihr Diskursuniversum dem ge-
sunden Menschenverstand suspekt (z. B. »unwissenschaftlich«). Und weil das En-
gagement der kritischen Theorie die bestehenden Verhältnisse an einer vernünfti-
gen Idee misst, die im Horizont der bestehenden Verhältnisse zwar allgemeinver-
ständlich, aber, weil sie das in diesem Horizont konventionalisierte Verständnis
von vernünftigen Verhältnissen zugleich auch transzendiert, nicht allgemein ver-
bindlich ist, erscheint das kritische Engagement als eine bestimmte Parteilichkeit,
die eine andere Parteilichkeit, die nämlich zugunsten des status quo, stört: »Wenn-
gleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt, erscheint sie
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 81
der herrschenden Urteilsweise […] subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos.
Da sie den herrschenden Denkgewohnheiten, die zum Fortbestehen der Vergan-
genheit beitragen und die Geschäfte der überholten Ordnung besorgen, diesen
Garanten einer parteiischen Welt, zuwiderläuft, wirkt sie als parteiisch und unge-
recht« (Horkheimer 1970a, S. 37).
(5) Die kritische Theorie übernimmt von Hegel und Marx die Denkfigur der
bestimmten Negation. Methodologisch läuft diese Denkfigur auf Verfahren der
immanenten Kritik hinaus. Immanent ist Kritik dann, wenn die einbekannte
Normativität der bestehenden normativen Textur einer Praxis aufgegriffen und mit
derjenigen Normativität verglichen wird, die sich in den Vollzügen der betreffen-
den Praxis lebendig verkörpert und ausdrückt, in Erwartung eines hinreichend
guten Passungsverhältnisses zwischen einbekannter und gelebter Normativität.
Feststellbare Diskrepanzen müssen erklärt und gerechtfertigt werden können.
Wenn sich Entstehung und Aufrechterhaltung normativer Texturen aus Verhältnis-
sen erklären, die Ausdruck partikularer Interessen sind (z. B. einseitig vorteilhafter
Machtverteilungen) und sich deshalb nicht aus allgemein anerkennungswürdigen
Gründen rechtfertigen sondern nur motiviert verschleiern lassen, wird immanente
Kritik zu Ideologiekritik. Als »Ideologie« wird üblicherweise ein kollektives »Be-
wusstsein« – besser gesagt: eine einigermaßen holistische Bewusstseinsform – als
auf eine eigentümlich Weise »falsch« angeprangert, als »falsch« nämlich im Hin-
blick auf bestimmte soziale oder politische Tatsachen. In marxistischer Perspektive
hat sich die Betrachtung zugespitzt auf solche Tatsachen, die indizieren, welche
Regeln und Rahmenbedingungen des Wirtschaftshandelns aktuell in einer Gesell-
schaft bestehen (»Bestimmtheit der ökonomischen Verhältnisse«) und wie die
Beteiligten diese Verhältnisse interpretieren. Für Marx liegt die Kernbestimmung
von »Ideologie« in seiner Theorie des Warenfetischismus.
Ich meine, dass Ideologizität nach der diskurstheoretischen Wende der kriti-
schen Theorie nur befriedigend beschrieben werden kann als unrechte Verknap-
pung von Diskursivierungschancen zwischen Repräsentanten kollektiver Akteure
durch bestimmte »Diskurse«. (Für diese Auffassung habe ich andernorts, Kettner
1994, argumentiert.) Die Anführungszeichen um »Diskurs« stehen in dieser For-
mulierung für einen stets möglichen methodologischen Blickwechsel, eine Doppel-
perspektive: »Diskurse« sind in der sozialen Wirklichkeit stattfindende symbolisch
strukturierte Sinn-Ereignisse. Sie lassen sich beschreiben nicht nur aus der Per-
spektive kompetenter Teilnehmer, sondern auch aus der objektivierenden Ein-
stellung von Beobachtern, wie besonders Foucault vorgeführt hat. Eine Beschrei-
bung aus der objektivierenden Einstellung von Beobachtern ist beim argumen-
tativen Diskurs, ohne Anführungszeichen, ausgeschlossen, denn eine Beobach-
tungshaltung verfehlt naturgemäß dessen konstitutive interne Normativität.
Freilich gibt es keinen privilegierten, a priori unideologischen Standort: wer ihn
behaupten und Ideologie stets zur Sache der Anderen erklären wollte, überführte
sich selbst des Dogmatismus und ließe jene selbstkritisch-reflexive Haltung ver-
missen, die ausgedrückt ist in dem eigentümlich inklusiven Verhältnis des Dis-
kurses zum »Diskurs«: Der argumentative Diskurs, der ebenso sich selbst als
»Diskurs« problematisieren kann, wie er in faktischen »diskursiven Ereignissen«
82 Matthias Kettner
der kritischen Theorie verfährt dabei zwar immanent, aber angeleitet durch eine
kontexttranszendierende regulative Idee vernünftiger Praxis, die in ihrer Vernunft-
konzeption liegt. Eine besondere Schwierigkeit entsteht der so verstandenen kriti-
schen Aktivität daraus, dass Ideen des guten Lebens, in denen sich die wert-
rationalen Ansprüche bündeln, immer fragmentierter, unverbindlicher, einge-
schränkter, privater werden. Damit schwindet die Basis für immanente Kritik. Im
Grenzwert legitimiert die Gesellschaft ihren Fortbestand nur noch mit dem Hin-
weis auf ihr gutes Funktionieren, ihre systemische Rationalität. Einige Neuerungen
in der Entwicklungsgeschichte der Programmatik der kritischen Theorie lassen sich
als Reaktionen auf diese Schwierigkeit verstehen, so vor allem die mit Habermas’
»Theorie des kommunikativen Handelns« abgeschlossene Wendung gegen System-
rationalität als Ideologie.
Wenn es eine Fortsetzung der kritischen Theorie in einem begrenzten Feld, eine
kritische Theorie der gesellschaftlichen Moral, überhaupt geben kann, und wenn
ein progressives Selbstvertändnis von angewandter Ethik sich mit dieser Theoriege-
stalt identifizieren kann, dann muss sich die kritische Theorie der Moral 1.) ihrer
moralischen Grundbegriffe versichern, zuerst des Begriffs der Moral selbst, sodann
2.) relevante Ähnlichkeiten zwischen der Programmatik einer emanzipativ ange-
wandten Ethik und der Programmatik der kritischen Theorie ausweisen (»Ange-
wandte Ethik als kritische Theorie«) und 3.) Ansätze zur Selbstkritik angewandter
Ethik auszeichnen (»kritische Theorie der angewandten Ethik«). Im Folgenden
stelle ich einige Elemente dieses Programms dar.
nieren ist moralisch verwerflich, weil es die Menschenwürde missachtet«) auf den
Grund zu gehen, d. h. sie auf ihre Verallgemeinerbarkeit, Einsichtigkeit, Triftigkeit
und Vereinbarkeit mit unseren übrigen moralischen und sonstigen (z. B. wissen-
schaftlichen oder religiösen) Überzeugungen und Urteilsgründen zu untersuchen
(Frankena 1973 und 1981; Leist 2000).
Soziale Funktionen von Moral. Lässt sich die so beschriebene Moral durch eine
spezifische soziale Funktion und Leistung genauer fassen? Für Moralregeln bzw.
-normen (nicht aber für moralische Ideale) bietet es sich an, ihre Funktion darin zu
sehen, dass man nach ihnen leben sowie eigenes und fremdes Verhalten beurteilen
kann; denn Moralregeln bzw. -normen teilen Verhalten, eigenes wie fremdes, in
moralisch »richtiges« (d. h. schätzenswertes, erlaubtes oder sogar gebotenes) und
moralisch »falsches« (d. h. verachtenswertes, nicht erlaubtes bzw. verbotenes Ver-
halten). Diese Einteilung ist informell (ähnlich wie etwa im normativen System
Takt und Höflichkeit), d. h. es gibt keine formell zur Entscheidung unklarer Fälle
und zur Weiterentwicklung der Moral beauftragte Instanz (anders als im positiven
Recht). Diese Einteilung von beurteilbarem Verhalten ist gemeint, wenn Moral, wie
es oft geschieht, als eine »normative Institution«, als »Handlungsorientierungs-
system« oder als »handlungsleitendes Wissen« apostrophiert wird (Gert 1998,
S. 12–18). Es liegt dann nah, Moral als einen sozialen Mechanismus zu sehen,
dessen Leistung in dem Schutz besteht, den sie Personen gegen physische sowie
symbolische Verletzungen gewährt; gegen »Abhängigkeiten und Angewiesenhei-
ten, die in der Unvollkommenheit der organischen Ausstattung und der fort-
bestehenden Hinfälligkeit der leiblichen Existenz (besonders deutlich in Phasen
von Kindheit, Krankheit und Alter) begründet sind. Die normative Regelung
interpersonaler Beziehungen lässt sich als poröse Schutzhülle gegen Kontingenzen
verstehen, denen der versehrbare Leib und die darin verkörperte Person ausgesetzt
sind« (Habermas 2001, S. 62 f.).
Die eine Moral und die vielen Moralen. Funktion und Leistung aufeinander
beziehend, können wir das mit »Moral« gemeinte folgendermaßen bestimmen: Die
Moral – im Singular – ist das gelebte, d. h. handlungswirksam verinnerlichte
Grundverständnis davon, wie »wir alle« (d. h. eine mehr oder weniger inklusiv
gedachte Menge von Trägern einer moralischen Verantwortung) ernst nehmen
sollten, wie sich unser beurteilbares Tun und Lassen auf alle relevanten Anderen
sowie auf uns selbst im Guten wie im Schlechten auswirkt (vgl. Frankena 1981,
S. 26). Dass Moralsubjekte auf Andere sowie auf sich selbst Rücksicht nehmen,
impliziert nicht, dass sie auf Andere genau so und im selben Sinne wie auf sich
selbst Rücksicht nehmen. In einigen historisch einflussreichen Moralauffassungen,
besonders innerhalb der so genannten »Perfektionsmoralen« (Hurka 1993), kann
jeder, von Selbstsorge um die Steigerung der eigenen moralisch wertvollen Qualitä-
ten erfüllt, sich selbst der nächste sein, während umgekehrt in Moralen des
Altruismus die Möglichkeit der Ungleichwertigkeit von Selbst und Anderem in-
nerhalb der moralischen Berücksichtigung ins Extrem der Selbstlosigkeit gehen
kann.
Moralen – im Plural – (etwa die »christliche Moral«, die »ärztliche Standes-
moral«, die »Tierschutzmoral«, die »moderne Menschenrechtsmoral«) legen dieses
86 Matthias Kettner
Grundverständnis auf eine jeweils eigene, mehr oder weniger profilierte Weise aus.
Verschiedene Moralen können sich drastisch darin unterscheiden, wer oder was als
der relevante Andere zählen soll. (Alle Menschen – oder nur bestimmte? Nur
Menschen – oder alle empfindungsfähigen Tiere? usw.) Solche Unterschiede wer-
den in Ethik und Metaethik häufig als Unterschiede im »moralischen Status«
begriffen (Warren 1997). Sie unterscheiden sich überdies darin, in welcher Form die
moralisch verantwortlich Handelnden alle relevanten anderen Wesen berücksich-
tigen sollen – und wie sich selbst im Verhältnis zu diesen. (Durch schonende
Rücksicht auf die Leidensfähigkeit anderer Wesen? Durch Achtung der Selbst-
bestimmung von hierzu fähigen anderen – oder durch ein Gebot, ihr Wohl nach
Kräften zu fördern? Durch die Zuschreibung von Rechten, z. B. Achtung eines
Rechts auf Leben – oder durch weitergehende Verbote, sie zu schädigen? usw.)
Moderne Moralen (wie die im Menschenrechtsdenken inhärente Moral) beziehen
sich ihrem Geltungsanspruch nach auf alle Menschen, verlangen die Form von
allseits anerkannten Rechten und Pflichten und stützen diesen Anspruch auf die
Annahme eines unter allen sozialisierten Menschen normalerweise vorhandenen
oder zumindest so denkbaren Vernunftvermögens.
Drei Kultivierungsrichtungen von Moral. Durch die Geschichte des theoreti-
schen Nachdenkens über Moral (Ethik) wie durch die gelebten Moralauffassungen
selbst ziehen sich zwei Leitfragen, die vereinfachend mit den Stichworten »Gerech-
tigkeit« und »Glück« gekennzeichnet werden können: Wie handelt man (ge)recht?
Und wie wäre ein wahrhaft gutes Leben zu führen? Bestimmter: (1) Wie soll ein
Leben im Ganzen aussehen, um ein gutes zu sein? Und was muss einer tun, um ein
solches gutes Leben wirklich führen zu können? (2) Wie soll unter Personen mit
konfligierenden Zielen, Interessen, Bedürfnisansprüchen umgegangen werden, da-
mit es gerecht zugeht? Was müssen wir tun, damit es wirklich gerecht zugehen
kann?
Warum zwei Leitfragen und nicht eine? (Zur Irreduzibilität beider Fragen siehe
Kramer 1992, S. 122.) Offenbar ergibt weder die im gelebten Leben noch die in der
Reflexion erfolgende Erkundung des moralisch Guten eine einheitliche letzte
Antwort; vielmehr können in Moralgemeinschaften durchaus mehrere höchste
Güter (oberste Werte) angenommen werden, ohne dass hierbei Unvernunft im
Spiel sein müsste (Wolf 1999). Die rein vernunfthalber nicht mehr weiter ein-
schränkbare Vielfalt möglicher höchster Güter (bzw. höchster Werte) führt aber
unvermeidlich zu Konflikten. Mit solchen Konflikten können Menschen auf sehr
verschiedene Weise umgehen. Es gehört zu den Kennzeichen von »Vernunftmora-
len« (d. h. Moralauffassungen, die einen internen Zusammenhang von vernünftiger
und moralischer Autorität annehmen), dass als die am wenigsten unvernünftige
Umgangsweise mit solchen Konflikten die Gerechtigkeit erscheint (Kohlberg
1995). Gerechtigkeit ist keineswegs etwas »ganz anderes« als das Gute. Vielmehr
gehört sie selber, als etwas gutes, zum Guten. Sie hat aber auch eine Eigen-
bedeutung. Derzufolge gehört zur Gerechtigkeit wesentlich, dass Gerechtigkeit
etwas für alle Menschen, die sie betrifft, gutes sei, ja sein muss; dass sie nicht etwas
sein kann, was für einige gut, aber deshalb für andere schlecht ist. Denn wenn zwar
für die einen das, was sie gerecht nennen, gut ist, dadurch aber für andere gerade
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 87
nicht gut, dann geht es nicht wirklich gerecht zu (Baier 1995, S. 326 f.; Rawls 1992;
Tugendhat 1993, S. 364 f.).
Die genannten Leitfragen aller Moral decken sich aber nicht völlig mit der
folgenden Frage, die ein spezifisch modernes (nämlich »universalistisches« i. S. von:
an alle moralisch zurechenbaren Handlungssubjekte gerichtetes) Verständnis des-
sen ausdrückt, was es bedeutet, ernsthaft moralische Urteile zu fällen: (3) Was ist
richtig oder falsch, wenn die Frage ist, wie sich jeder x-beliebige Mensch zu
anderen soll verhalten dürfen und wie nicht? Seit der westlich-modernen Aufklä-
rung schiebt sich diese dritte Frage, die zwei anderen reformulierend und modifi-
zierend, in den Vordergrund unserer Moralauffassung. (Zur Bedeutung dieses
Aufstiegs siehe systematisch Apel 1976 und 2001, Habermas 1996, Scanlon 1998,
historisch siehe Becker 1992 und Ilting 1983.) Alle nachhaltig bekannten Moralre-
geln (z. B. »Du sollst nicht töten«, »Was jemandem gehört, soll niemand ihm
einfach wegnehmen dürfen«, »Lügen ist moralisch verboten«, »Unnötiges Leid
zufügen ist verwerflich«, »Notleidenden nach Kräften zu helfen ist gut«, »Die
Würde jedes Menschen muss respektiert werden«) können wir als inhaltsvolle
Antwortversuche auf die Herausforderung begreifen, die in der dritten Frage
ausgedrückt ist. Wenn kein Gott Autor der Moral ist, dann sind Moralregeln nicht
mehr anders zu begreifen denn als in Moralgemeinschaften sozialkonstruktiv
entwickelte und festgelegte Antwortversuche auf die dritte Frage, also unter dem
Gesichtspunkt, dass wir in der Regel die im Zusammenleben von Menschen
jederzeit möglichen (und nie eliminierbaren) Übel möglichst zu verringern versu-
chen wollen (Gert 1998, S. 344; genauer betrachtet kann es sich freilich nicht um
irgendwelche Übel handeln, sondern nur um moral-relative, d. h. nur bei Zugrun-
delegung einer bestimmten Moral identifizierbare und bewertbare, Übel. Ein Übel
oder Gut ist nicht unmittelbar ein moralisches Übel oder Gut.).
Lässt sich Moral neutral definieren? Angesichts der historischen und kulturellen
Vielfalt von Auffassungen der Menschen über das, was sie als »die eine« oder als
»ihre Moral« hochhalten (oder als »die Moral der anderen« abwerten), ist die
Bestimmung eines strukturellen Moralbegriffs ein wichtiges Problem der Meta-
ethik: Wie können wir Fragen der empirisch offenen und nichtpräjudizierenden
Beschreibung moralischer Codes von Fragen der Rechtfertigung (Begründung)
bestimmter moralischer Ansprüche oder Überzeugungen so trennen, dass wir
beide Sorten von Fragen nicht schon durch Zugrundelegung einer bestimmten, von
uns favorisierten Moral vorentschieden haben? (Ladd 1957; Gert 1998) In der
analytischen Metaethik der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trat durch die
scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit, wie Moral überhaupt zu definieren sei,
ohne eine bestimmte Moral vorauszusetzen und dadurch per definitionem und
somit unzulässig vorurteilsvoll zu privilegieren, eine jahrzehntelange Selbstläh-
mung ein. Dieses Neutralitätsproblem (der Ethik und Metaethik) löst sich aber als
Scheinproblem auf, wenn man zweierlei beherzigt: Die Beschreibungsfrage kann
empirisch-hermeneutisch angegangen werden. Die Daten sind dann das, was kom-
petente Sprecher für ihre Moral halten, und die Abgrenzungen, wer und wer nicht
als kompetent gilt, nehmen sie ebenfalls selbst vor. Die induktive Moralbeschrei-
bung bleibt erfahrungsoffen, revidierbar, modifizierbar. Die Rechtfertigungsfrage
88 Matthias Kettner
dass etwas geschehen ist, was für A, B, und C als moralisches Unrecht (oder auch
als etwas moralisch Gutes) zählt. Es genügt auch nicht, dass A für das Geschehen
irgendwie kausal eine wesentliche Rolle gespielt hat. Vielmehr muss A anerkann-
termaßen dafür zuständig sein, das Geschehen (bzw. das, was moralisch relevant
daran ist) zu kontrollieren. Mit den Grenzlinien der Zuständigkeit kovariieren
auch die Rechenschaftspflichten, die man den zuständig gemachten Subjekten
auferlegen kann (= 3). Für welches Spektrum von Aktivititäten kann ein Mo-
ralsubjekt zuständig und deshalb im Prinzip auch moralisch rechenschaftspflichtig
sein? Klarerweise gehören zu dieser Menge alle Verhaltensweisen, zu denen Perso-
nen sich frei (willentlich, absichtlich) entscheiden können. Aber es ist keineswegs
in allen Moralauffassungen so, dass man sich lediglich für das, was man tut – im
Sinne des unmittelbaren Ausführens einzelner Handlungen – verantwortlich hält
oder gehalten wird. Vielmehr kann A moralisch verantwortlich gemacht werden
für alles, was A wenigstens in einem gewissen Ausmaß von sich aus zu kon-
trollieren vermag (z. B. auch welche Wünsche man hegt, welche Vorlieben und
Abneigungen man aufbaut, welche Gewohnheiten man entwickelt, welche Ein-
stellungen man kultiviert oder aufgibt) (= 2).
Dass man sich mit einer Moralauffassung identifiziert (sich von ihr leiten lässt,
ihr folgt, »ihr gemäß lebt« usw.) beinhaltet unmittelbar, dass man etwas ernst-
nimmt. Ernstnehmen ist nicht auf Kennen oder Wissen reduzierbar sondern enthält
zudem ein »volitives« Moment: Wer moralisch (statt unmoralisch oder amoralisch)
sein will, will etwas – und zudem hält er dies, moralisch sein zu wollen, für richtig
und wichtig. Dass ein Moralsubjekt es auch für richtig (und nicht bloß für wichtig)
hält, was es will, zeigt an, dass moralisches Ernstnehmen neben dem volitiven
zugleich immer auch ein »kognitives« Moment enthält. Denn wo unter Menschen
ein Sinn für Richtigkeit gepflegt wird, bilden sich auch diesbezügliche Urteils-
praktiken; aber ohne Kognition, d. h. erkennendes Denken, keine Urteilspraktiken.
Praktiken des moralischen Urteilens wiederum vermitteln die Wichtigkeit, die
Moralakteure ihrer Moralauffassung geben (und nicht nur die Richtigkeit, von der
sie überzeugt sind): Praktiken des moralischen Urteilens werden symbolisch-
expressiv zu Vehikeln für Billigung und Missbilligung, Lob und Tadel, Hoch-
schätzung und Verachtung. Die Wichtigkeit ihrer Moralansprüche erscheint den
Moralsubjekten zugleich als ein Ausdruck dessen, dass auch andere Moralsubjekte
– gleich ihnen – diese Ansprüche an das Handeln anderer – und an sich selbst –
stellen. Sie werden in Gemeinschaft mit anderen ernstgenommen, Wichtigkeit
erscheint darum als Allgemeinverbindlichkeit (= 1). (Allgemeinverbindlichkeit be-
zieht sich auf eine wirkliche oder angenommene Wir-Gemeinschaft, doch würde
man die Moral fehlerhaft beschreiben, wenn man behaupten wollte, in jeder
Moralgemeinschaft falle deren Wir mit demjenigen unbestimmten und maximalen
Wir zusammen, an das man denkt, wenn man eine Behauptungen über alle mögli-
chen Moralen aufstellt.)
Fassen wir das repräsentative Ernstnehmen noch genauer. Das Ernstnehmen
verteilt sich auf die Mitglieder einer Moralgemeinschaft: In der Gemeinschaft wird
von jedem Einzelnen qua Mitglied der Gemeinschaft gegenüber sich selber sowie
gegenüber anderen qua Mitgliedern der Gemeinschaft, etwas ernstgenommen. A
90 Matthias Kettner
will, dass alle anderen (B, C, …) sich an etwas halten weil sie (B, C, …) wollen, dass
alle anderen (inklusive A) sich daran halten. So ist dieser wie jener und einer so gut
wie ein anderer ein »Repräsentant« ihrer Moralgemeinschaft: A wie B wie C … ist
»Repräsentant« einer Menge von Moraladdressaten, die sich als die Adressaten
derselben Moral M anerkennen. Dass moralische Anforderungen »repräsentativ«
ernstgenommen werden heißt deshalb auch, dass es Akteur A nicht egal ist, wie B
C behandelt, und zwar auch dann nicht, wenn A faktisch gar nicht von Bs
Verhalten betroffen ist.
Ist eine Moral M erst einmal intra- und interpersonell »internalisiert«, dann
zahlt eine Person, die missachtet, was unter den Adressaten von M repräsentativ
ernstgenommen werden sollte, hierfür einen Preis, sei es in Form von Furcht,
Scham, Schuld oder Beeinträchtigung der Selbstachtung oder der Wertschätzung
seitens anderer Mitglieder ihrer Moralgemeinschaft. Der oben beschriebene struk-
turelle Fähigkeitsbegriff der »Perspektive der Moral« ist aber so allgemein ange-
setzt, dass die bestimmte Rücksichtnahme auf die Berücksichtigungsansprüche
anderer etwas ist, was sich zwar normalerweise in Gemeinschaften von natürlichen
menschlichen Personen verkörpert, strukturanalog aber auch in Verantwortungs-
trägern anderer Art realisiert sein kann, deren Akteurqualitäten nicht die von
natürlichen menschlichen Personen sind, z. B. in Organisationen (Wieland 2001).
(2) Angewandte Ethik interveniert in normative Texturen. Sie modelt sie um,
macht sie zum Gegenstand von Reformen. Aber dass einzelne Normen traktiert
(identifiziert, respezifiziert, begründet, angewendet etc.) werden können, darf nicht
darüber täuschen, dass die eigentliche Angriffsfläche für die Rationalisierung zum
moralisch Besseren, die von angewandter Ethik anvisiert wird, keineswegs je
einzelne, gleichsam diskrete Normen sind. Direkte Angriffsflächen angewandter
Ethik sind vielmehr die normativen Texturen bestimmter, problematisch gewor-
dener Praxisbereiche, in denen die Quellen moralischer Irritation ausfindig ge-
macht werden. Indirekt sind es alle, wie entlegen auch immer scheinenden norma-
tiven Texturen, auf die die durch die Intervention bedingten Veränderungen mora-
lisch bedeutsame Auswirkungen haben. Ein medizinethisches Beispiel ist die Dere-
gulierung der Praktiken vorgeburtlicher Diagnostik. Sie wirkt sich auch an
entlegeneren »Orten« aus, im System der Krankenversicherung etwa so, dass für
Personen mit bestimmten Behinderungen der Genuss bestimmter Schutzleistungen
erschwert wird (Baumann-Hölzle & Kind 1998).
Ethikanwendungskonzeptionen, die sich reaktiv und vollständig von vorgege-
benen eingezirkelten Problemstellungen abhängig machen und deren Genese sich
nicht in größeren zeitlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen rekonstru-
ieren können, sind in eben dem Maße borniert und für die Affirmation des
Bestehenden anfällig. (Vgl. die kritische Diskussion von Peter Singers Anwen-
dungsmodell »praktischer Ethik« bei Schelkshorn 1999.) Allerdings finden gesell-
schaftstheoretische Überlegungen bisher noch viel zu wenig Aufnahme innerhalb
der angewandten Ethik. (Für Ansätze bezüglich der Bioethik s. Daedalus 1999.)
Das Verhältnis des primär handlungstheoretisch orientierten Denkens angewandter
Ethik zu dem primär systemtheoretisch orientierten Denken der vorherrschenden
Makro-Sozialtheorie wird als antithetisch wahrgenommen. Diese Wahrnehmung
ist nicht falsch, aber unvollständig, denn eine Vermittlung durch den Begriff
moralischer Mit-Verantwortung (für die systemische Organisierung und Verteilung
von konkreteren Verantwortlichkeiten) ist durchaus möglich (Apel 2000).
(3) Die Situierung der eigenen Aktivität (= des Versuchs, moralisch relevante
normative Texturen durch intelligente Inanspruchnahme moralischer Vernunft zu
verbessern) in einer demokratischen politischen Gemeinschaft braucht heute in
immer weniger Hinsichten die Grenzen des Staatsterritoriums mit den Grenzen
dieser Gemeinschaft zu identifizieren. Das legt für Akteure emanzipatorisch ange-
wandter Ethik einen bestimmten normativen Rahmen nah, in dem die eigene
Aktivität angemessener verstanden werden kann als in einem anderen Rahmen: In
modernen Demokratien sind die Aktivitäten angewandter Ethik zivilgesellschaft-
liche Aktivitäten und die Akteure der angewandten Ethik müssen den Anspruch
erheben, demokratisch gültig zu sein. Angewandte Ethik ist eine historisch neue
zivilgesellschaftliche Aktivität, eine kulturelle Erfindung der Bürgergesellschaft.
Von einigen anderen Aktivitäten dieser Art (etwa den sogenannten »neuen sozialen
Bewegungen«) unterscheidet sie sich nicht unwesentlich durch die Besonderheit,
dass sie überwiegend von Mitgliedern von Professionen getragen wird, und zwar
von Professionen im soziologisch engen Begriff, also von Geistlichen, Ärzten,
Juristen, Wissenschaftlern und Hochschullehrern. Die Göttinger »Akademie für
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 93
Ethik in der Medizin«, das Tübinger »Interfakultäre Zentrum für Ethik in den
Wissenschaften«, die »Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissen-
schaftlich-technischer Entwicklungen«, das Bonner »Institut für Wissenschaft und
Ethik« in Deutschland, in den Vereinigten Staaten Institute wie das »Hastings
Center« und das »Kennedy Institute of Ethics« können wir idealtypisch, d. h.
ungeachtet aller realen Größen- und sonstigen Unterschiede, in eine Reihe mit
Nichtregierungsorganisationen stellen, die im Bewusstsein euro-amerikanischer
Öffentlichkeiten als besonders verdienstvoll (oder besonders skandalös) wahr-
genommen werden, z. B. »Amnesty International«, »Greenpeace«, »Care«, »Ox-
fam«, »Ärzte gegen den Atomtod«, »Germanwatch« usw.
Das Theorie-Engagement angewandter Ethik muss sich zumindest regulativ auf
normativ universalistische Gründe zu seiner Rechtfertigung stützen. Denn ange-
wandte Ethik muss ihre Aktivitäten unter verschiedenen Geltungsansprüchen kriti-
sierbar und rechtfertigbar halten, kann dies infolge ihrer eigenen Globalisierungs-
tendenz aber gewiss nicht, wenn sie diese Geltungsansprüche zu lokal oder zu
idealistisch ansetzt. Auflösbar ist dieses Dilemma, wenn im normativen Rahmen
angewandter Ethik auf zumindest einige normative Texturen zurückgegriffen wer-
den kann, die global allgemeinverbindlich sind. Die traditionelle Ethik, wo sie auf
normative Universalien abstellt, neigt dazu, nur normative Universalien exklusiv
moralischer Art zu suchen. Da sich solche Universalien schwer finden lassen, sogar
innerhalb einer vernunftmoralisch bereinigten Version der gängigen Moral, verlegt
sich in der traditionellen Ethik die Suche auf immer abstraktere normative Univer-
salien exklusiv moralischer Art. Kants kategorischer Imperativ ist ein Beispiel. Man
kann aber auch – und diese Blickwendung hätte eine emanzipatorisch angewandte
Ethik zu vollziehen – die Voreinstellung, nur nach normativen Universalien exklu-
siv moralischer Art zu suchen, aufgeben. Dann wird der Blick frei für die Möglich-
keit normativer Universalien von polymorph-normativer Art – für Universalien,
die z. B. einen moralischen Geltungssinn und (mindestens einen) Geltungssinn
anderer, nicht moralischen Art vereinen. Die erklärten Menschenrechte sind global
allgemeinverbindlich. Und sie sind polynormative Universalien: die meisten Ele-
mente ihrer normativen Textur haben einen moralischen und juridischen Doppel-
wert. Und zumindest ihr moralischer normativer Anspruch (wenn nicht auch ihr
positiv rechtlicher normativer Anspruch) verbindet seinem Eigensinn nach alle
Menschen. Um das Dilemma zwischen dem Rekurs auf kommunitaristische oder
idealistisch-universalistische normative Quellen aufzulösen, wird sich der norma-
tive Rahmen einer emanzipatorisch angewandten Ethik, so meine These, auf
erklärte Menschenrechte und, da diese als Spezifikationen der Idee der Menschen-
würde zu begreifen sind, auf eine kritische Idee der Menschenwürde stützen. Die
Menschenrechte sind, unbeschadet ihres deontologischen, d. h. pflicht- und rechts-
förmigen normativen Formats, zugleich Ausdruck eines generalisierbaren Inte-
resses der Befreiung von vermeidenswerten Formen gravierend schlechten Lebens
– und insofern der vernünftige Ausdruck einer, wenngleich negativen, Idee des
guten Lebens aller Menschen.
(4) Auch zur Spannung der postkonventionellen Ortlosigkeit gibt es eine Ent-
sprechung im linken Flügel angewandter Ethik. Für postkonventionelle Moral-
94 Matthias Kettner
theorien ist die Frage, ob sie moralreflexiv angelegt sind, wesentlich. Denn ange-
sichts einer nahezu ausschließlich konventionell moralisch verfaßten Lebenswelt ist
von vornherein mit Blick auf die handelnden Personen davon auszugehen, dass
gewisse (persönlichkeits- und sozialpsychologische) Anwendungsbedingungen der
Theorie in der vorherrschenden Wirklichkeit nicht erfüllt sind. Eine nicht moralre-
flexiv angelegte postkonventionelle Moraltheorie (wie etwa die Kantische) ist dann
bezogen auf jene Bereiche ignorant, d. h. hält sich für zuständig, ist aber in
Wirklichkeit irrelevant, oder rigide, d. h. sie verhält sich bezogen auf jene Bereiche
gesinnungsethisch.
Zur im Vergleich zur herkömmlichen Ethik weitergehenden Reflexion innerhalb
der angewandten Ethik gehört auch, dass die angewandte Ethik, anders als der
philosophische Rechtfertigungsdiskurs über normative Grundtheorien, Anwen-
dungsbedingungen reflektieren muss, die durch die tatsächliche Verfassung be-
stimmter Praxisbereiche vorgegeben sind und sich der moralischen Legislation
entziehen, jedenfalls dann noch entziehen, wenn die angewandte Ethik die Bühne
des betreffenden Praxisbereiches betritt. Das erfordert dann für die angewandte
Ethik eine Reflexion auf – für normative Theorien ja unerlässliche – Idealisierun-
gen. Die in die Anwendung hinein verlängerte Arbeit normativer Moraltheorie ist
also keineswegs erledigt, wenn sie ein Verfahren angibt, mit dem bestimmt werden
kann, was die gültigen moralischen Sollensforderungen wären in einer möglichen
Welt von Vernunftwesen, die mit idealer Rationalität und vollkommen freiem
Willen vorgestellt werden, wie in der traditionellen rationalistischen Ethik. Sie
muss vielmehr Verfahren angeben, um gültige moralische Sollensforderungen auf-
zuweisen für Adressaten, die als konkrete Personen Handelnde in ganz bestimmten
Praxisbereichen der wirklichen Welt sind.
Oben wurde auf die besondere Schwierigkeit hingewiesen, eine immanent kriti-
sche Aktivität auf Ideen des guten Lebens, in denen sich wertrationale Ansprüche
bündeln, zu gründen, da solche Ansprüche heute immer fragmentierter, unver-
bindlicher, eingeschränkter, privater zu werden scheinen. Hinzu kommt das Prob-
lem, dass ein leider verbreitetes Missverständnis des begründungstheoretischen
Verhältnisses von Normen und Werten das ethische Vorurteil nährt, postkon-
ventionelles (d. h. über die auf Erhaltung des Bestehenden bezogenen moralischen
Überzeugungen hinausgehendes) moralisches Bewusstsein finde in wertrationalen
Ansprüchen keine Verankerung sondern nur in verallgemeinerbaren Normen.
Übersehen wird dabei, dass verallgemeinerbare Normen verallgemeinerbare Werte
zur Geltung bringen. In den beiden wichtigsten Bereichen angewandter Ethik
jedenfalls bleiben starke wertrationale und zugleich verallgemeinerbare Ansprüche,
an denen die immanente Kritik ansetzen kann, erhalten. Für die Bioethik ist dies
vor allem der wertrationale Anspruch auf Gesunderhaltung, Krankheitsprävention
und -heilung. Gesundheit ist ein universaler formaler Wert. Für die Wirtschafts-
ethik kann emanzipatorisch angewandte Ethik ebenfalls einen universalen formalen
Wert artikulieren: In vernünftigen Verhältnissen würde das Wirtschaftssystem die
(wie auch immer kulturell überformten) universal-humanen Lebensgrundlagen
sichern und überdies zu einer (wie auch immer kulturell und persönlich ausge-
richteten) erfüllten Lebensführung beitragen (vgl. Ulrich 1997, S. 209–234).
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 95
Die letzte Entsprechung zwischen der Programmatik einer kritischen Theorie und
der Programmatik einer emanzipatorisch angewandten Ethik, die ich hier hervor-
heben möchte, liegt in der Inanspruchnahme von Formen immanenter Kritik,
besonders von Ideologiekritik. Da die angewandte Ethik in bestehende normative
Texturen interveniert, um die durch sie regulierten Praktiken in einem ausweisba-
ren Sinne von »besser« moralisch zu verbessern, erscheinen ihre »Diskurse« als
eine Macht in einem Terrain, in dem sich vielfältige Formen von Macht über-
kreuzen. Ethischer Interventionismus kann ebenso der Verhärtung des Bestehen-
den dienen wie der Emanzipation von vermeintlichen Sachzwängen und unnötig
repressiven moralischen Traditionen. Angewandte Ethik, die sich am Programm
einer kritischen Theorie orientieren will, muss daher die soziale Bedeutung (d. h.
die gedankliche Formation, die Interessen und Konsequenzen) von angewandter
Ethik, die soziale Bedeutung ihrer eigenen Aktivität, ideologiekritisch themati-
sieren.
Oben wurden acht Kriterien (K1–8) beschrieben, die Anhaltspunkte für die
ideologiekritische Deutung sozialer Bedeutungen im Rahmen einer kritischen
Theorie darstellen. Eine entfaltete kritische Theorie der Moral in der Gesellschaft
hätte zu erproben, wieweit sich die Entstehungsgeschichte der angewandten Ethik
auch als eine Auseinandersetzung mit moralischen Ideologemen erzählen lässt, in
deren Verlauf aber auch immer wieder neue moralische Ideologeme produziert
werden (z. B. die Ideologeme der »Patientenautonomie« und des »republikanischen
Wirtschaftsbürgers«). Angewandte Ethik muss sich selbstkritisch dem Verdacht
stellen, die Modernisierung des moralischen Engagements, die sie programmatisch
als Anwendung moralischer Reflexion betreibt, sei selbst nichts weiter als die
zeitgemäße Erscheinung von Ethik und Moral als Ideologie. Im Folgenden werde
ich einige Beispiele aus Bio- und Wirtschaftsethik geben, die wichtige Ansatzstellen
für die ideologiekritische Aktivität einer emanzipatorisch angewandten Ethik bie-
ten.
Eine folgenreiche Form der Konfundierungen von Prä- und Deskriptivität liegt
vor, wenn ein Zusammenhang, der normativ und gestaltbar ist, als ein »Sach-
zwang«, der kausal und unabänderlich ist, dargestellt wird. Ökonomischer Sach-
zwang ist eine für Wirtschaftsethik kritische Kategorie, weil sich am Verhältnis
eines wirtschaftsethischen Ansatzes zum ökonomischen Sachzwang der Platz be-
misst, den der Anspruch auf praktische Veränderungen in dem betreffenden Ansatz
haben kann. Herrscht kein Sachzwang, dürfen diese Ansprüche grandios, herrscht
nur Sachzwang, müssen sie resignativ ausfallen. Ökonomischer Sachzwang kann
zudem eine kritische Kategorie von wirtschaftsethischen Ansätzen sein, wo Sach-
zwangbehauptungen umstritten sind: wo umstritten ist, ob tatsächlich ein be-
stimmter Sachzwang in bestimmten Aktivitäten regiert oder fälschlich angenom-
men oder nur unaufrichtig behauptet wird. Ulrich (1997, S. 148) hat die Ein-
stellung, das »Gewinnprinzip« sei ein für das Wirtschaftssystem konstitutiver
Sachzwang, der die Moralisierbarkeit der Systemoperationen begrenzt, als den
Nerv ideologieunkritischer Wirtschaftsethik offenlegt. Ulrich will die – gewiss oft
96 Matthias Kettner
4. Schluss
Literatur
Apel, Karl-Otto (1976): Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen
der Ethik, in: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M., S. 358–435
– (2000): First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung, in: Apel, Karl-
Otto/Kettner, Matthias (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt a. M., S. 21–50
– (2001): The Response of Discourse Ethics, Leuven
Baier, Kurt (1958): The Moral Point of View, Ithaca, New York 1958
– (1995): The Rational and the Moral Order. The Social Roots of Reason and Morality,
Chicaco
Beauchamp, Tom/Childress, James F. (2001): Principles of Biomedical Ethics. 5. Aufl.,
Oxford
Becker, Lawrence C. (Hg.) (1992): A History of Western Ethics, New York
Daedalus (1999): Bioethics and Beyond. Daedalus. Journal of the American Academy of Arts
and Science, Vol. 128, Nr. 4
Demirovic, Alex (1997): Demokratie und Herrschaft. Münster
Dubiel, Helmut (1978): Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Frankfurt a. M.
Düwell, Marcus (1999): Ästhetische Erfahrung und Moral. Zur Bedeutung des Ästhetischen
für die Handlungsspielräume des Menschen, München
Edelstein, Wolfgang/Nunner-Winkler, Gertrud/Noam, Gil (Hg.) (1993): Moral und Person,
Frankfurt a. M.
Frankena, William K. (1981): Thinking about Morality, Michigan
– (1973): Ethics. 2. Aufl., Englewood Cliffs
Gert, Bernard (1998): Morality. Its Nature and Justification, Oxford
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 99
Williams, Bernard (1999): Ethik und die Grenzen der Philosophie, Berlin
Wolf, Ursula (1999): Die Philosophie und die Frage nach dem guten Leben. Reinbek bei
Hamburg
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus
Thomas Sablowski
Bezug genommen, die von Marx in seinen verschiedenen Entwürfen der »Kritik
der politischen Ökonomie« entwickelt wurden. Es liegt daher nahe, einen Über-
blick über die Problemstellungen und Aussagen kritischer Gesellschaftstheorie
bezüglich der Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus mit einem
Rekurs auf Marx zu beginnen und die konkurrierenden krisentheoretischen An-
sätze zu skizzieren, die seine Nachfolger entwickelten. In einem weiteren Schritt
werde ich die Überlegungen der als Kritische Theorie im engeren Sinne bekannt
gewordenen Frankfurter Schule zur Transformation der bürgerlichen Gesellschaft
und zum Konzept des »Staatskapitalismus« darstellen. In einem dritten Schritt
werde ich die Regulationstheorie als einen neueren Ansatz einer nichtlinearen
Theorie kapitalistischer Entwicklung vorstellen und auf aktuelle Diskussionen zur
jüngsten Strukturkrise des Kapitalismus eingehen.
Marx stand vor einer doppelten Problemstellung: Einerseits wollte er durch die
Darstellung der langfristigen Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Produk-
tionsweise zeigen, dass sie an immanente Schranken stößt, dass sie sich historisch
überlebt und dass ihre Überwindung im Interesse der Arbeiterklasse liegt. An-
dererseits ging es ihm darum, die periodischen Krisen als notwendiges, immanentes
Moment dieser Produktionsweise zu begreifen. Dabei ging Marx zunächst auch
von einem engen Zusammenhang von ökonomischer Krise und Revolution aus.
Nach der Niederlage der Revolution von 1848 resümierte er in Die Klassenkämpfe
in Frankreich: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen
Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« (MEW 7, S. 98) Marx hat zwar
keine ausgearbeitete Krisentheorie hinterlassen, aber eine Reihe von krisentheo-
retischen Ansätzen und Argumenten, deren Kohärenz und innerer Zusammenhang
seinen Nachfolgern freilich erhebliche Probleme bereitete (vgl. Itoh 1976; Heinrich
1999, S. 311–370).
1.1 Die Möglichkeit der Krise und die Dynamik des Kapitals
Die allgemeine Möglichkeit der Krise begründet Marx bereits im ersten Abschnitt
seines Hauptwerks Das Kapital, der sich mit der einfachen Warenzirkulation
befaßt. Marx kritisiert dabei bürgerliche politische Ökonomen wie Say, die die
Möglichkeit der Krise leugnen, indem sie von der Existenz des Geldes abstrahieren
und den Warentausch auf einen reinen Produktaustausch reduzieren:
»Nichts kann alberner sein als das Dogma, die Warenzirkulation bedinge ein notwendiges
Gleichgewicht der Verkäufe und Käufe, weil jeder Verkauf Kauf und vice versa. […] Keiner
kann verkaufen, ohne dass ein andrer kauft. Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil
er selbst verkauft hat. Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen und individuellen
Schranken des Produktenaustausches ebendadurch, dass sie die hier vorhandne unmittelbare
Identität zwischen dem Austausch des eignen und dem Eintausch des fremden Arbeits-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 103
produkts in den Gegensatz von Verkauf und Kauf spaltet. Dass die selbständig einander
gegenübertretenden Prozesse eine innere Einheit bilden, heißt ebenso sehr, dass ihre innere
Einheit sich in äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung der
innerlich Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis zu einem gewissen Punkt fort, so
macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch eine – Krise.« (MEW 23, S. 127 f.)
Wie gelangt Marx nun im weiteren Verlauf seiner Darstellung über den Nachweis
der bloßen Möglichkeit von Krisen auf der Ebene der einfachen Warenzirkulation
hinaus? Zunächst geht er von einem inhärent dynamischen Kapitalbegriff aus. Die
kapitalistische Produktion ist demnach durch eine Verkehrung von Mittel und
Zweck gekennzeichnet. Die Tauschwertorientierung dominiert gegenüber der Ge-
brauchswertorientierung. Unmittelbares Ziel der Produktion ist nicht die indivi-
duelle Konsumtion, sondern die Verwertung des eingesetzten Kapitals, d. h. die
Maximierung des Profits, die den Akteuren als handlungsleitendes Motiv durch die
Konkurrenz aufgeherrscht wird. Damit dieses Ziel auf Dauer realisiert werden
kann, ist die ständige Reinvestition von Gewinnen, die Akkumulation des Kapitals
notwendig. Das Kapital ist ein endloser Verwertungsprozess; keine erreichte Ver-
wertung kann »ausreichend sein (und damit die Grundlage für ein Gleichgewichts-
modell abgeben), da es überhaupt kein Maß dafür gibt, was eine ausreichende
Verwertung ist. Diesem Kapitalbegriff entspricht die Tendenz zur Steigerung so-
wohl des Grades der Verwertung (d. h. Steigerung der Profitrate bzw. auf der
Ebene des unmittelbaren Produktionsprozesses der Mehrwertrate) als auch der
Größe des zu verwertenden Kapitals (d. h. der Akkumulation des erzielten Profits
sei es als Investition in produktives oder in zinstragendes Kapital)« (Heinrich 1999,
S. 314; Hervh. i. O.).
Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg der einzelnen Kapitale und Leitgröße
des Akkumulationsprozesses ist die allgemeine Profitrate, d. h. die gesellschaftlich
produzierte Profitsumme im Verhältnis zum gesellschaftlichen Gesamtkapital.
Wenn man von der Kreditgeldschöpfung und Kreditfinanzierung absieht, wird die
Höhe der für die Akkumulation maximal zur Verfügung stehenden Mittel durch
den produzierten Profit bestimmt. Bei einem Rückgang der Profitrate wird es
daher normalerweise auch zu einem Sinken der Akkumulationsrate kommen, und
dies bedeutet auch eine Verminderung des Wachstums von Produktion und Be-
schäftigung. Für die konkrete Höhe der Investitionen sind die Profiterwartungen
ausschlaggebend. Bei einer gravierenden Verschlechterung der Profiterwartungen
und einer entsprechenden Einschränkung der Investitionstätigkeit kann es zu
einem absoluten Rückgang von Produktion und Beschäftigung, d. h. zu einer
akuten Krise kommen1. Aber wodurch wird die Bewegung der Profitrate be-
stimmt? Unter welchen Bedingungen kommt es zu einer Krise? Und welche
1 Die genauere Analyse des Zusammenhangs zwischen Profitrate und Akkumulation wirft
eine Reihe von Fragen auf, die an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden können: Sind
vergangene, gegenwärtige oder zukünftig erwartete Profite für die Akkumulation maß-
geblich? Welche Rolle spielt die Profitmasse im Verhältnis zur Profitrate (d. h. Ausweitung
der Profitmasse bei beschleunigter Akkumulation trotz sinkender Profitrate)? Welchen
Einfluß hat das Kreditsystem? (Vgl. dazu Priewe 1988, S. 33 f., S. 70 ff.)
104 Thomas Sablowski
tät. Eine allgemeines Gesetz über die langfristige Entwicklungstendenz der Profit-
rate lässt sich jedoch auch unter Berücksichtigung dieser Faktoren nicht ableiten.
märkte böten für das russische Kapital keinen Ausweg, da diese durch die weiter
entwickelte ausländische Konkurrenz weitgehend besetzt seien. Die sozialistische
Bewegung könne daher nicht auf ein wachsendes Proletariat zählen, sondern müsse
sich auf die bäuerlichen Dorfgemeinschaften stützen. Die Schrecken der kapi-
talistischen Industrialisierung könnten durch den direkten Übergang von der
feudalen Agrargesellschaft zum Sozialismus vermieden werden.
Die Kritiker der Narodniki, zu denen auch Lenin (vgl. LW 3) zählte, argu-
mentierten dagegen, dass eine erweiterte Reproduktion auch auf der Basis eines
niedrigen Einkommensniveaus möglich sei. Sie konnten dabei nicht nur empirisch
auf die rasche Ausbreitung von Warenbeziehungen und ein wachsendes Proletariat
verweisen, sondern sich auch auf die Marxschen Reproduktionsschemata beziehen,
die zeigten, dass ein ausgeglichenes Wachstum von Produktionskapazität und
effektiver Nachfrage prinzipiell denkbar ist. Naiven Versionen der Unterkonsum-
tionstheorie, die die Möglichkeit erweiterter Reproduktion verkannt hatten, schien
damit die Grundlage entzogen. Realisierungskrisen resultierten demnach eher aus
der mangelnden Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige, die durch
die Anarchie der kapitalistischen Produktion, d. h. die Vielzahl der privaten, nicht
aufeinander abgestimmten Investitionsentscheidungen bedingt war.
In der deutschen Sozialdemokratie verlief die Debatte unter umgekehrten Vor-
zeichen. Revisionistische Theoretiker wie Eduard Bernstein (1899/1991) kritisier-
ten die weitverbreitete Vorstellung des unvermeidlichen Zusammenbruchs des
Kapitalismus. Aus Bernsteins Sicht war es nicht nur falsch, auf eine Revolution im
Zuge sich verschärfender Krisen zu hoffen, er diagnostizierte auch qualitative
Veränderungen des Kapitalismus, die die Strategie einer friedlichen, graduellen
Transformation zum Sozialismus nahe legten. Er lieferte damit eine theoretische
Grundlage für die reformistische Praxis der deutschen Sozialdemokratie. Bern-
steins Position wurde später unter anderem durch Rudolf Hilferding (1909/1973,
S. 326ff.) und Otto Bauer (1912/13) unterstützt, die die Ursache von Krisen
vorwiegend in der Anarchie des Marktes und den dadurch bedingten Dispro-
portionalitäten zwischen den verschiedenen Sektoren sahen. Krisen waren dem-
nach nur dadurch verursacht, dass nicht in das freie Spiel der Kräfte eingegriffen
wurde; der Kapitalismus würde jedoch nach Hilferdings Auffassung durch die
Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die Monopolisierung selbst zu
einer Milderung der Anarchie der Produktion und der Krisen tendieren. Durch den
wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung wäre es möglich, diesen naturwüchsig
entstehenden »organisierten Kapitalismus« zu demokratisieren und mittels staat-
licher Planung eine gleichgewichtige erweiterte Reproduktion sicherzustellen.
Letztlich verschwimmt hier die Grenze zwischen »organisiertem Kapitalismus«
und Sozialismus (vgl. Hilferding 1927, Winkler 1974).
Rosa Luxemburg versuchte in ihrem 1913 erschienenen Buch Die Akkumulation
des Kapitals demgegenüber, die Unvermeidlichkeit des Untergangs des Kapita-
lismus durch eine Rehabilitierung der Unterkonsumtionstheorie zu verteidigen. Sie
stellte die These auf, dass eine erweiterte Reproduktion der kapitalistischen Pro-
duktionsweise nur in dem Maße möglich ist, in dem nichtkapitalistische Schichten
im In- und Ausland jene Nachfrage beisteuern, an der es dem Kapitalismus
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 109
inhärent mangelt. Mit der zunehmenden Durchkapitalisierung der Welt und der
Auflösung nichtkapitalistischer Sektoren müsse der Kapitalismus jedoch schließ-
lich zusammenbrechen. So interessant die von ihr aufgeworfene Problemstellung
des Verhältnisses von kapitalistischem und nichtkapitalistischem Sektor ist, so
unzulänglich ist ihr Verständnis der erweiterten Reproduktion. Gebannt von der
Vorstellung, dass die kapitalistische Produktion letztlich der Konsumtion dient,
konnte sie sich nicht vorstellen, dass es eine Produktion von Produktionsmitteln
zwecks Erweiterung der Produktion von Produktionsmitteln, also einen Austausch
innerhalb der Abteilung I gibt. Damit wird jedoch ihre ganze Zusammenbruchs-
begründung unhaltbar.
Henryk Grossmann, Mitarbeiter am Institut für Sozialforsching in Frankfurt,
lieferte in seinem 1929 erschienenen Buch Das Akkumulations- und Zusammen-
bruchsgesetz des kapitalistischen Systems die bis dahin umfassenste Kritik sowohl
der harmonistischen Interpretationen der Reproduktionsschemata als auch der auf
der Unterkonsumtionstheorie basierenden Begründung des notwendigen Zusam-
menbruchs des Kapitalismus (vgl. Grossmann 1929/1970). Gleichzeitig versuchte
er jedoch mit einer überakkumulationstheoretischen Argumentation, den unver-
meidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus zu begründen. Anhand eines von
Otto Bauer entwickelten Reproduktionsschemas zeigte Grossmann, dass der – von
ihm als notwendig unterstellte – tendenzielle Fall der Profitrate bei steigender
Wertzusammensetzung des Kapitals zwar zunächst mit einer beschleunigten Akku-
mulation, d. h. einer steigenden Profitmasse einhergeht, dass es aber im weiteren
Verlauf des Akkumulationsprozesses zu einer absoluten Abnahme der Profitmasse
kommt, bis eine weitere Akkumulation unmöglich wird (ebd., S. 118ff.). Gross-
mann konzediert zwar, dass es Gegentendenzen zu dieser Entwicklung gibt, die auf
eine Änderung der von ihm gemachten Voraussetzungen (konstante Mehrwertrate,
kontinuierliches Anwachsen des konstanten Kapitals) hinauslaufen (ebd., S. 186ff.).
Seine Diskussion der Gegentendenzen kann jedoch nicht überzeugen. Hier gilt,
was oben schon bezüglich der »Gesetze« der Kapitalakkumulation angemerkt
wurde. Grossmanns methodischer Fehler besteht in einer unsachgemäßen Verwen-
dung der Reproduktionsschemata. Diese haben ihre Berechtigung, um zu zeigen,
dass kapitalistische Reproduktion überhaupt nur möglich ist, wenn bestimmte
sektorale Proportionalitätsbedingungen erfüllt sind. Der reale Verlauf des Akku-
mulationsprozesses kann jedoch weder vorausberechnet noch durch Reproduk-
tionsschemata theoretisch erfaßt werden.
Nach der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gab es immer wieder
Versuche, Unterkonsumtions- bzw. Überproduktionstheorien auszuarbeiten und
dabei gleichzeitig die gegen die früheren Ansätze vorgebrachten Einwände zu
berücksichtigen. Größere Bedeutung haben z. B. die Arbeiten von Paul Sweezy
und Paul Baran erreicht, die versuchten, aus den Problemen der Mehrwertrealisie-
rung eine säkulare Stagnationstendenz abzuleiten (vgl. Sweezy 1942/1970; Baran/
Sweezy 1967). Eine der elaboriertesten krisentheoretischen Reflexionen der jün-
geren Zeit mit überproduktionstheoretischer Orientierung stammt von Jan Priewe
(1988). Diese Ansätze können hier nicht weiter diskutiert werden. Stattdessen
möchte ich noch kurz einen systematisch wichtigen, dritten krisentheoretischen
110 Thomas Sablowski
Strang darstellen, der ebenfalls auf Überlegungen von Marx zurückgeht, jedoch erst
in den 1970er Jahren prominent wurde: die sogenannte Profit-Squeeze-Theorie, die
Krisen im Gegensatz zur Unterkonsumtionstheorie nicht mit »zu niedrigen«,
sondern mit »zu hohen« Löhnen in Verbindung bringt. Es ist kein Wunder, dass
die Profit-Squeeze-Theorie erst in dem Moment ausgearbeitet wurde, als die mit
starken Reallohnsteigerungen einhergehende »fordistische« Entwicklungsweise,
von der weiter unten noch die Rede sein wird, in die Krise geriet.
schiedene Einwände vorgebracht werden, von denen hier nur die wichtigsten kurz
genannt werden sollen (vgl. Shaikh 1978, S. 35ff.; Priewe 1988, S. 30ff.). Erstens
müssten Produktivitätssteigerungen genauer berücksichtigt werden. Zu einer Ar-
beitskräfteknappheit kommt es nur dann, wenn das Wachstum größer ist als die
Produktivitätssteigerungen, und eine Profitklemme setzt voraus, dass die Löhne
stärker steigen als die Produktivität. Zudem müsste der Anstieg der Lohnquote
auch die Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals überkompensieren, die
ebenfalls aus einem Produktivitätsanstieg resultiert.
Zweitens werden Löhne zwar als Kostenfaktor wahrgenommen, bleiben als
Nachfragefaktor aber ausgeblendet. Überhaupt müssten auch Nachfrage- und
Realisationsprobleme berücksichtigt werden. Für die Bestimmung des oberen und
des unteren Wendepunktes des Konjunkturzyklus müsste gezeigt werden, dass der
Kosteneffekt steigender oder sinkender Löhne jeweils stärker ist als der gegen-
läufige Nachfrage- und Kapazitätsauslastungseffekt.
Drittens müsste auch die monetäre Dimension des Akkumulationsprozesses
berücksichtigt werden. Nominallohnsteigerungen können z. B. durch Preisstei-
gerungen zunichte gemacht werden. Wenn durch steigende Löhne auch der Kon-
sum steigt, wenn gemäß der Annahmen gleichzeitig weitere Produktivitätsstei-
gerungen ausgeschlossen sind und wegen des Arbeitskräftemangels Kapazitätsaus-
weitungen unmöglich sind, so muss es zu Preissteigerungen kommen. Ein Fall der
Profitrate würde nur dann einsetzen, wenn keine vollständige Überwälzung der
Lohnsteigerungen auf die Preise möglich wäre.
Die Lohnbewegung hängt nicht zuletzt vom konkreten Verlauf des Klassen-
kampfes, von der Strategie und Taktik der Gewerkschaften ab. Empirisch gehen
z. B. in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1970er Jahren Aufschwungphasen
nur mit einem geringen Beschäftigungswachstum einher (»jobless growth«) und
brechen lange, bevor Vollbeschäftigung erreicht wird oder bevor die Löhne stark
steigen, ab.
In weiterentwickelten Versionen des Profit-Squeeze-Ansatzes werden diese Ein-
wände zum Teil aufgenommen. So entwickeln z. B. Jörg Glombowski und Michael
Krüger (1984) ein Modell, das die Zykluserklärung eines modifizierten Profit-
Squeeze-Ansatzes mit der Annahme eines aufgrund des technischen Fortschritts
steigenden Kapitalkoeffizienten verbindet. Die elaborierteste Theorie des Kon-
junkturzyklus auf der Basis des Profit-Squeeze-Ansatzes hat vermutlich Makoto
Itoh entwickelt. Er berücksichtigt Preisbewegungen, die Rolle des fixen Kapitals
und der effektiven Nachfrage sowie monetäre und finanzielle Aspekte, die mit dem
Kreditsystem und der gegenläufigen Bewegung von Zinsrate und Profitrate zusam-
menhängen (vgl. Itoh 1980; Itoh 1988; Itoh/Lapavitsas 1999, S. 128ff.). Philip
Armstrong u. a. (1984) wenden den Ansatz auch auf die überzyklische Entwick-
lung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg an, wobei die These einer
Blockierung der »kathartischen« Funktion der »industriellen Reservearmee« zent-
ral ist.
Welches Fazit können wir aus der Diskussion der drei dargestellten krisentheo-
retischen Ansätze ziehen? Jeder der drei Ansätze hat eine Berechtigung, insofern er
112 Thomas Sablowski
die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Zusammenhang lenkt, der für die
Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise wesentlich ist: Bei dem »Gesetz
des tendenziellen Falls der Profitrate« stehen die widersprüchlichen Auswirkungen
der Produktivitätssteigerungen auf die Wertzusammensetzung des Kapitals und die
Akkumulation im Zentrum. Die Unterkonsumtionstheorien lenken den Blick auf
Realisierungsprobleme und die effektive Nachfrage. Die Profit-Squeeze-Theorie
thematisiert den Zusammenhang von Akkumulation, Arbeitsmarkt- und Lohn-
entwicklung. Zugleich bleibt jeder dieser Ansätze unzulänglich, solange er einen
bestimmten Wirkungszusammenhang verabsolutiert und die anderen Aspekte ver-
nachlässigt. Keiner der drei Ansätze ermöglicht es, den Eintritt einer Krise mecha-
nisch vorauszuberechnen oder die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des
Kapitalismus zu beweisen. Zugleich liefern jedoch alle Ansätze Argumente dafür,
warum im Kapitalismus Krisen und Verwerfungen im gesellschaftlichen Reproduk-
tionsprozess eher die Regel als die Ausnahme sind. Alle drei Ansätze wurden auf
einem hohen Abstraktionsniveau formuliert. Zur Analyse konkreter Akkumula-
tionsverläufe und Krisen ist es notwendig, den Grad der Komplexität und Konkre-
tion der krisentheoretischen Argumentation erheblich zu steigern. Wir verlassen
damit die Ebene von Aussagen über die kapitalistische Produktionsweise in ihrem
»idealen Durchschnitt«, die der Gegenstand von Marx’ »Kritik der politischen
Ökonomie« war, und begeben uns auf die Ebene historisch-konkreter Prozesse, die
die Variabilität der kapitalistischen Verhältnisse in Raum und Zeit deutlich ma-
chen2.
2 Als Beispiel für eine solche konkrete Analyse, in der die verschiedenen krisentheo-
retischen Ansätze genutzt wurden, kann ein Projekt der Universität der Vereinten Na-
tionen (UNU) gelten, das heterodoxe Ökonomen verschiedener Richtungen zusammen-
führte, um die Entwicklung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären
(vgl. Marglin/Schor 1990).
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 113
schen der Ökonomie, der psychischen Entwicklung der Individuen und den
Veränderungen im Bereich der Kultur analysiert werden (vgl. HGS 3, S. 32). Ins
Zentrum des Forschungsprogramms des Instituts für Sozialforschung rückte zu-
nächst der Autoritätsglaube als ein wesentliches Vermittlungsglied von Herrschaft
und Selbstunterwerfung (vgl. Horkheimer u. a. 1936). Die Erforschung der öko-
nomischen Entwicklung im engeren Sinne war in der Arbeit des Instituts ver-
gleichsweise randständig.
Vorliegende Diskussionsprotokolle aus dem Jahr 1936 über wert- und krisen-
theoretische Fragen zeigen, dass es unter den Mitarbeitern des Instituts durchaus
unterschiedliche Positionen gab (vgl. HGS 12, S. 405ff.). Den Protokollen lässt sich
nicht entnehmen, dass die Diskussionen hinsichtlich der Differenzierung zwischen
verschiedenen krisentheoretischen Ansätzen und ihrer Problematisierung sehr ins
Detail gegangen wären. Sie kreisen eher um die Frage, welcher Status den »Ge-
setzen« der kapitalistischen Produktionsweise und der Krisenanalyse im Rahmen
kritischer Gesellschaftstheorie überhaupt zukommt. So beginnt die Diskussion am
20. Mai 1936 mit der Frage, ob in der gegenwärtigen Krise der Fall der Profitrate
ein entscheidender Faktor sei. Friedrich Pollock vertrat die Position, dass die
Wirksamkeit des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate »sich zur Zeit in
keiner Weise verifizieren lasse« (ebd., S. 405). Julian Gumperz stimmte Pollock zu,
führte dies jedoch auf mangelnde begriffliche Vermittlungsglieder zwischen Theo-
rie und Empirie zurück. Während er in der Verifizierung dieses »Gesetzes« die
Aufgabe der marxistischen Ökonomen sah, wandte Horkheimer ein, dass sozial-
wissenschaftliche Gesetze prinzipiell nicht so verifiziert werden können wie natur-
wissenschaftliche Gesetze. Innerhalb der historischen Theorie könne ein Phäno-
men immer aus verschiedenen Ursachen erklärt werden, eine eindeutige Zuord-
nung der Tatsachen zu den zur Erklärung herangezogenen Ursachen sei nicht
möglich. Die Wahrheit sozialwissenschaftlicher Gesetze hänge daher auch von der
Aktivität und dem Willen der Theoretiker ab (ebd., S. 406).
Die Auffassung des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate bleibt im
Fortgang der Diskussion ambivalent: Einerseits wird seine Wirksamkeit unterstellt
und es wird als Zusammenfassung aller »Untergangstendenzen des Kapitalismus«
interpretiert, andererseits wird festgestellt, Marx habe die »direkte Ableitung des
Gesetzes im Detail« mehr versprochen als geleistet (ebd., S. 407 ff.). Interessant ist,
welche Aufgabe der Krisenanalyse zugewiesen wird. Dazu heißt es im Diskus-
sionsprotokoll: »Die liberale Theorie versucht, die Krise aus exogenen, ›zufälligen‹
Faktoren kausal abzuleiten. In der Marxschen Theorie wird die Krise als ein
Moment im Prozess der kapitalistischen Wirtschaft begriffen; nicht die Krise
bedarf der Erklärung, sie ist der kapitalistischen Produktionsweise inhärent. Zu
analysieren ist das relative Funktionieren dieser Produktionsweise« (ebd., S. 412).
Diese Verschiebung der Fragestellung sollte in den 1970er Jahren der Ausgangs-
punkt des in Frankreich entwickelten Regulationsansatzes werden – doch dazu
später. Wenn auch der Kreis um Horkheimer in akkumulations- und krisentheo-
retischen Fragen nicht gerade zu klaren Ergebnissen kam, so gelangten Hork-
heimer und Pollock gleichwohl zu der Einschätzung, dass mit Faschismus und
New Deal ein neues staatskapitalistisches Zeitalter heraufziehe, in dem das system-
114 Thomas Sablowski
Die Anpassung der Arbeiter an den Faschismus sei angesichts der gewaltsamen
Niederschlagung revolutionärer Bestrebungen und der »Entwicklung der Parteien
in weltumspannende Maschinen zur Vernichtung der Spontaneität« kein Zeichen
von Verblödung, sondern auch Ausdruck rationaler Fähigkeiten. Der Faschismus
habe dem Proletariat »vielleicht nicht weniger zu bieten als die Weimarer Republik,
die den Faschismus aufzog« (ebd., S. 121 f.).
Die selbstzerstörerische Dynamik der Marktwirtschaft sah Horkheimer in einer
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 115
Letzere sind nicht mehr unbedingt die juristischen Eigentümer der Produktions-
mittel.
»Die herrschende Klasse hat sich gewandelt. Ihre Mitglieder sind nicht identisch mit den
Inhabern des kapitalistischen Eigentums. […] An die Stelle der juristischen Eigentümer tritt
die hohe industrielle Bürokratie. Es zeigt sich, dass die reale Verfügung, der physische Besitz
und nicht das nominelle Eigentum sozial entscheidend ist.« (ebd., S. 120)
Horkheimer betonte die Universalität der totalitären Tendenzen. Wie der Zweite
Weltkrieg auch enden möge, die Militarisierung führe die Welt weiter in autoritär-
kollektivistische Lebensformen hinein (ebd., S. 132). Die Hoffnung auf die Rück-
kehr des Liberalismus sei illusionär:
»Vielleicht werden nach langem Krieg für kurze Zeit in einzelnen Territorien die alten
ökonomischen Verhältnisse wiederhergestellt. Dann wiederholte sich die ökonomische Ent-
wicklung: der Faschismus ist nicht durch Zufall entstanden. Seit dem Versagen der Markt-
wirtschaft sind die Menschen ein für allemal vor die Wahl zwischen Freiheit und faschis-
tischer Diktatur gestellt.« (ebd., S. 133)
des Staatssozialismus dürfte jedoch Konsens darin bestehen, dass von einer linearen
Abfolge von Stadien kapitalistischer Entwicklung mit immer höherem Vergesell-
schaftungsniveau der Arbeit nicht ohne weiteres die Rede sein kann.
Die Entwicklung der »Neuen Linken« und die Strukturkrise der kapitalistischen
Gesellschaftsformationen in den 1970er Jahren hat auch eine Erneuerung des
krisentheoretischen Denkens und eine Vielfalt an Analysen über die kapitalistische
Entwicklung hervorgebracht. Es ist hier nicht einmal ansatzweise möglich, die
vielen neuen Ansätze im Einzelnen zu skizzieren. Ich möchte stattdessen zunächst
noch einige Bemerkungen zu dem problematischen Verhältnis von Politik und
Ökonomie machen, um dann den »Regulationsansatz« als einen der neueren
Ansätze vorzustellen und deutlich zu machen, worin der Fortschritt gegenüber den
früheren Ansätzen kritischer Gesellschaftstheorie besteht. Abschließend möchte
ich auf einige offene Fragen der Analyse kapitalistischer Entwicklung hinweisen.
3 Eine andere Frage ist, ob es angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse und
angesichts der Restriktionen, unter denen die Produktion kritischer Theorie stattfindet,
überhaupt ein sinnvolles Ziel sein kann, eine geschlossene Gesellschaftstheorie anzu-
streben. Aus meiner Sicht bleibt der holistische Anspruch bzw. der Bezug auf eine
Vorstellung von – wie auch immer komplex strukturierter und irreduzibler – Totalität
notwendiger, wenn auch praktisch schwer zu handhabender Bestandteil kritischer Theo-
riebildung.
122 Thomas Sablowski
Pijl 1998), der Weltsystemansatz (vgl. Arrighi 1994, Hopkins u. a. 1996) oder die
jüngsten Arbeiten von Robert Brenner (1998, 2000). Ich möchte unter Rückgriff
auf den Regulationsansatz lediglich skizzieren, wie krisentheoretische Ansätze für
eine historisch-konkrete Analyse der kapitalistischen Entwicklung fruchtbar ge-
macht werden können.
bereits antizipiert und in die Preise inkorporiert werden. Periodische Schübe der
Kapitalvernichtung werden durch »geplanten Verschleiß«, erhöhte Abschreibungen
und schleichende Inflation ersetzt.
Zum anderen stößt die tayloristische Transformation des Arbeitsprozesses an
Grenzen, deren Charakter in der regulationstheoretischen Diskussion freilich um-
stritten ist. Nach einer Lesart handelt es sich eher um »technologische« Grenzen,
d. h. die Produktivitätssteigerung qua Mechanisierung verursacht steigende Kosten,
die ab einem bestimmten Punkt zu einem übermäßigen Anstieg der Wertzusam-
mensetzung des Kapitals führen. Nach einer anderen Lesart handelt es sich eher
um »soziale« Grenzen des Taylorismus, d. h. die Arbeiter sind ab einem be-
stimmten Punkt nicht mehr gewillt, die zunehmende Intensivierung und Degradie-
rung der Arbeit hinzunehmen, was sich in steigendem Absentismus, in Sabotage-
akten, in sinkenden Produktivitätszuwächsen ausdrückt. Der Akzent liegt bei
dieser Interpretation eher auf dem unzureichenden Anstieg der Mehrwertrate als
auf der steigenden Wertzusammensetzung. In jedem Fall ist das Resultat eine
sinkende Profitrate, die sich seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bemerkbar
macht und die schließlich zum Erlahmen der Akkumulation führt. Mit dem
Absinken der Produktivitätszuwächse geraten die fordistischen Mechanismen der
Einkommensbildung unter Druck, die Kapitalisten kündigen unter dem Druck der
Krise den Klassenkompromiss auf und suchen Zuflucht in einer Absenkung der
Löhne und Sozialleistungen sowie in der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse.
Hier bietet sich der Neoliberalismus als Interpretation der Probleme und als
gesellschaftliches Umbauprogramm an.
Ich möchte die Beschreibung des Fordismus und seiner Krise an dieser Stelle
nicht weiter vertiefen, sondern zusammenfassen, worin ich den Fortschritt des
Regulationsansatzes gegenüber – im engeren Sinne ökonomischen bzw. ökonomi-
stischen – Krisen- und Zusammenbruchstheorien wie auch gegenüber der Kriti-
schen Theorie der Frankfurter Schule sehe. Der Regulationsansatz baut auf der
Marxschen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise auf und entwickelt ein
Set von intermediären Begriffen, die es erlauben, historisch-konkrete Gesellschafts-
formationen in ihrer Akkumulations- und Krisendynamik zu untersuchen. Dabei
vermeidet der Regulationsansatz die Hypostasierung der »Kapitallogik« und faßt
stattdessen den Prozess der Reproduktion der widersprüchlichen sozialen Ver-
hältnisse als einen Prozess von sozialen Kämpfen auf, in dem sich Produktions-
und Konsumnormen, Regulationsweisen und Akkumulationsregime durch histori-
sche Kompromisse und die hegemoniale Produktion von Konsens gleichsam als
»historische Fundsachen« (Alain Lipietz) herausbilden.
Im Unterschied zu vielen Arbeiten des traditionellen Marxismus und zur älteren
Kritischen Theorie prognostiziert der Regulationsansatz weder den unvermeidli-
chen Zusammenbruch des Kapitalismus noch die Aufhebung von Krisentendenzen
in einem Staatskapitalismus. Während die Kritische Theorie durch gravierende
ökonomietheoretische Defizite gekennzeichnet war, ist der Regulationsansatz ur-
sprünglich im Kern ein makroökonomischer Ansatz. Er wies zwar bestimmte
staats- und hegemonietheoretische Defizite auf, doch hat sich gezeigt, dass der
Begriffsrahmen eben nicht ökonomistisch, sondern ausreichend offen und er-
124 Thomas Sablowski
weiterbar ist oder zumindest wichtige Bausteine für die Weiterentwicklung kri-
tischer Gesellschaftstheorie liefert (vgl. die Beiträge in Demirović u. a. 1992, Esser
u. a. 1994, Brand/Raza 2002).
4 Die Lohnquote ist in den letzten beiden Jahrzehnten in den kapitalistischen Metropolen
erheblich gesunken, und die Reallöhne stagnieren weitgehend. Dies ist ohne Zweifel ein
zentrales Moment der Erholung der Profitabilität des Kapitals.
5 Nach einer Studie der Deutschen Bundesbank (2001) hat sich in den letzten Jahren vor
allem die finanzielle Situation der Kapitalgesellschaften verbessert, während die Situation
der Personengesellschaften und der Einzelunternehmen eher schlechter geworden ist.
126 Thomas Sablowski
löhne. Heute sind nicht nur die Reallöhne zu niedrig bzw. bleiben zu stark hinter
der Produktivitätsentwicklung zurück. Die Sättigung der Massenmärkte für die für
den Fordismus charakteristischen langlebigen Konsumgüter wie Autos und Haus-
haltsgeräte wirft zudem das Problem auf, wie eine postfordistische Konsumnorm
aussehen kann. Dabei geht es nicht nur um die massenhafte Verbreitung neuer
Waren, die ja durchaus zu beobachten ist (z. B. Handys, PCs etc.), sondern um eine
weitere Ökonomisierung der Reproduktion der Lohnabhängigen. Es gibt durchaus
noch Bereiche der Reproduktion wie etwa das Gesundheits- und Bildungswesen
und die weitgehend den Frauen aufgebürdeten Bereiche Erziehungs- und Pflege-
arbeit, deren kapitalistische Reorganisation bislang auf erhebliche Schwierigkeiten
stößt. Unklar ist auch, ob sie der Kapitalakkumulation noch einmal einen ver-
gleichbaren Schub geben könnte, wie dies die Entwicklung der fordistischen
Konsumnorm getan hat.
Die Akkumulationsschwäche im industriellen Sektor hat zwei wesentliche Kon-
sequenzen. Erstens kommt es zu einer zunehmenden Akkumulation des anlagesu-
chenden Kapitals im Finanzsektor. Die Globalisierung der Finanzmärkte und die
Entwicklung derivativer Finanzgeschäfte haben neue Anlagesphären eröffnet, die
das Akkumulationsproblem zunächst lösen und gleichzeitig in veränderter Form
erweitert reproduzieren. Wir erleben den Übergang von einem eher kredit- und
bankorientierten zu einem marktorientierten Finanzsystem, in dem »fiktives Kapi-
tal«, d. h. die Akkumulation von handelbaren Rechtsansprüchen auf Einkommen
aus zukünftigen Verwertungsprozessen, eine wachsende Bedeutung gewinnt. Die
beschleunigte Akkumulation im Finanzsektor ist nicht nur Folge der Akkumula-
tionsschwäche im industriellen Sektor, sie trägt ihrerseits zu deren Reproduktion
bei, denn die durch institutionelle Investoren vermittelten Renditeansprüche der
Geldvermögensbesitzer lasten trotz gestiegener Profitabilität in der Industrie zu-
nehmend wie ein Bleigewicht auf der industriellen Akkumulation (vgl. Chesnais
1994, Huffschmid 1999, Altvater/Mahnkopf 1999, Kap. 5, Sablowski/Rupp 2001,
Duménil/Lévy 2002).
Die Entwicklung in den USA während der 1990er Jahre hat allerdings auch die
Frage aufgeworfen, inwieweit es eventuell positive Rückkopplungseffekte zwi-
schen steigenden Wertpapierpreisen, die ja ein Ausdruck der beschleunigten Akku-
mulation fiktiven Kapitals sind, und der industriellen Akkumulation gibt. Michel
Aglietta und Robert Boyer haben die These vertreten, dass sich möglicherweise ein
finanzgetriebenes Akkumulationsregime herausbildet, in dem steigende Wertpa-
pierpreise selbst zu einer Quelle höherer Konsum- und Investitionsnachfrage und
damit vermehrter Akkumulation im industriellen Sektor werden (vgl. Aglietta
2000, Aglietta/Breton 2001, Boyer 2000). Ein solches Akkumulationsregime würde
allerdings angesichts der extrem ungleichen Verteilung des Wertpapierbesitzes nicht
nur zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheiten und zu einer vermehrten
finanziellen Instabilität führen – die aus der Wertpapierinflation resultierenden
Konsumeffekte sind im Vergleich zu anderen Komponenten der effektiven Nach-
frage empirisch auch eher als gering zu veranschlagen (vgl. Sablowski/Alnasseri
2001).
Die zweite wesentliche Konsequenz der Akkumulationsschwäche im indust-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 127
riellen Sektor ist die Bildung von Überkapazitäten, deren Bedeutung für die globale
Krisendynamik in jüngster Zeit vor allem von Brenner (1998, 2000) betont wurde.
Die globale kapitalistische Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass ein höheres Wachstum in einer Region der Triade USA – Westeuropa
– Japan jeweils auf Kosten der anderen Regionen ging, wobei die Währungsrela-
tionen entscheidend für die Vermittlung der ungleichen Entwicklung waren. Im-
mer dann, wenn sich Krisenprozesse in einer Region zuzuspitzen drohten, wurde
versucht, geldpolitisch einen Ausgleich zu schaffen, ohne dass das Akkumulations-
problem auf globaler Ebene gelöst werden konnte.
Von den Verschiebungen der Kapitalmassen zwischen den Weltregionen haben
in den 1990er Jahren vor allem die USA profitiert. Die Entwicklung in den USA
kann als eine konsum- und verschuldungsgetriebene internationale Überexpansion
charakterisiert werden (vgl. Evans u. a. 2001; Brenner 2000). Die USA profitierten
dabei zum einen von der Weltgeldfunktion des Dollar, d. h. der Möglichkeit, sich in
eigener Währung verschulden zu können, ohne wie andere Länder das Risiko einer
mit der Abwertung der eigenen Währung verbundenen Überschuldung tragen zu
müssen. Dies ermöglicht es den USA, außergewöhnlich hohe Leistungsbilanzdefi-
zite in Kauf zu nehmen. Zum anderen profitierten die USA von den Krisen in
anderen Regionen, insbesondere in Japan und in den Schwellenländern, die zu
einem großen Kapitalzustrom führten, zur Steigerung der Wertpapierpreise bei-
trugen und die problemlose Finanzierung der wachsenden Leistungsbilanzdefizite
ermöglichten. Die Frage ist allerdings, ob dieser Entwicklungspfad auf Dauer
weiter beschritten werden kann. Es ist nicht sicher, dass die internationalen In-
vestoren bereit sind, die wachsenden Leistungsbilanzdefizite der USA weiter zu
finanzieren und eine unbegrenzte Verschuldung zu akzeptieren, zumal dem Dollar
mit dem Euro nun auch ein ernstzunehmender Konkurrent heranwächst. Ob der
Dollar Weltgeld bleibt, hängt natürlich auch vom weiteren Verlauf der europäi-
schen Integration ab. Es könnte durchaus sein, dass es im Zuge der EU-Erweite-
rung zu einer Überdehnung kommt, so dass der Euro weiter geschwächt wird.
Resümierend kann festgehalten werden, dass die gegenwärtige Situation eine
Reihe von offenen Fragen aufwirft. Hat der neoliberale Umbau der Gesellschaft
bereits ein neues, gefestigtes Akkumulationsregime hervorgebracht, oder ist die
gegenwärtige Situation eher durch Anpassungsprozesse gekennzeichnet, die selbst
wesentlich krisenhaft verlaufen? Und wie sind die längerfristigen Aussichten für
die kapitalistische Entwicklung? Kann die durch die US-Hegemonie gekennzeich-
nete Entwicklungsperiode des atlantischen Fordismus nochmals überboten wer-
den, oder steuert der Kapitalismus doch auf seinen Untergang zu, wie die Welt-
systemtheoretiker annehmen? Es kann hier nicht darum gehen, diese Fragen zu
beantworten, sondern lediglich darum, das Interesse an ihrer weiteren Bearbeitung
zu wecken. Kritische Theorie als Krisen- und Entwicklungstheorie des Kapita-
lismus ist jedenfalls aktueller denn je.
128 Thomas Sablowski
Literatur
Michels, Robert (1911): Zur Soziologie des Parteiwesens in der modernen Demokratie.
Untersuchungen über die oligarchischen Tendenzen des Gruppenlebens, Leipzig
Müller, Wolfgang/Neusüss, Christel (1971): Die Sozialstaatsillusion und der Widerspruch von
Lohnarbeit und Kapital, in: Probleme des Klassenkampfs, Sonderheft 1, Juni 1971, S. 7–70
Neumann, Franz (1984 [1944]): Behemoth, Frankfurt a. M.
O’Connor, James (1974): Die Finanzkrise des Staates, Frankfurt a. M.
Offe, Claus (1972): Strukturprobleme des kapitalistischen Staates, Frankfurt a. M.
Okishio, Nobuo (1974): Technische Veränderungen und Profitrate, in: Nutzinger, H. G./
Wolfstetter, E. (Hg.), Die Marxsche Theorie und ihre Kritik, Bd. 2, Frankfurt a. M., S. 173–
191
Pollock, Friedrich (1933): Bemerkungen zur Wirtschaftskrise. In: Zeitschrift für Sozialfor-
schung, 2. Jg., H. 3, S. 321–354
– (1941): State Capitalism: Its Possibilities and Limitations, in: Studies in Philosophy and
Social Science, Vol. 9, Nr. 1, S. 200–225
Poulantzas, Nicos (1974): Politische Macht und gesellschaftliche Klassen. Frankfurt a. M.
Priewe, Jan (1988): Krisenzyklen und Stagnationstendenzen in der Bundesrepublik Deutsch-
land. Die krisentheoretische Debatte, Köln
Rosdolsky, Roman (1968): Zur Entstehungsgeschichte des Marxschen »Kapital«, Frankfurt
a. M.
Sablowski, Thomas/Rupp, Joachim (2001): Die neue Ökonomie des Shareholder Value.
Corporate Governance im Wandel, in: Prokla 122, 31. Jg., Nr. 1, S. 47–78
–/Alnasseri, Sabah (2001): Auf dem Weg zu einem finanzgetriebenen Akkumulationsregime?,
in: Candeias, Mario/Deppe, Frank (Hg.): Ein neuer Kapitalismus?, Hamburg, S. 131–149
Scherrer, Christoph (2001): New Economy: Wachstumsschub durch Produktivitätsrevolu-
tion?, in: Prokla 122, 31. Jg., Nr. 1, S. 7–30
Shaikh, Anwar (1978): Einführung in die Geschichte der Krisentheorien, in: Prokla 30, 8. Jg.,
Nr. 1, S. 3–42
Springer, Roland (1999): Rückkehr des Taylorismus? Arbeitspolitik in der Automobilindust-
rie am Scheideweg, Frankfurt/New York
Sweezy, Paul (1970 [1942]): Theorie der kapitalistischen Entwicklung, Frankfurt a. M.
Van der Pijl, Kees (1998): Transnational Classes and International Relations, London/ New
York
Winkler, Heinrich August (1974): Einleitende Bemerkungen zu Hilferdings Theorie des
Organisierten Kapitalismus, in: ders. (Hg.): Organisierter Kapitalismus, Göttingen, S. 9–
18
Fred Pollock in Silicon Valley. Automatisierung und
Industriearbeit in der vernetzten Massenproduktion
Boy Lüthje
Einleitung
mente über die variablen. Die Kalküle der Kapitalverwertung werden unter diesem
Vorzeichen dadurch beherrscht, dass die kapitalistischen Großunternehmen kaum
noch auf Konjunkturrückgänge und Markteinbrüche reagieren können, weil auch
die nachdrückliche Reduktion von Arbeitskräften und anderen variablen Kosten-
elementen nicht den Rückgang der Profitraten durch die Belastung durch fixe
Kapitalkosten kompensiert (Sohn-Rethel 1978, S. 144ff.). Diese auch in vielen
anderen – marxistischen und nicht-marxistischen – Analysen des modernen Kapi-
talismus geteilte Diagnose (vgl. Mandel 1974, Mattick 1976, Aglietta 1979 u.a.m.)
begründet bei Sohn-Rethel die Notwendigkeit einer permanenten Rationalisierung
des Produktionsprozesses unter den Vorzeichen einer rigiden Zeitökonomie.
Die sozial- und klassenstrukturellen Implikationen dieser Analyse entsprechen
in vieler Hinsicht der bei Pollock entwickelten »Polarisierungsthese«. Die Fließ-
produktion, die zum umfassenden Organisations- und Bewegungsprinzip kapi-
talistischer Produktion wird, führt ebenfalls zu einer breiten Dequalifizierung der
Masse der unmittelbaren Produktionsarbeiter und deren Abtrennung von den
Planungs- und Kontrollfunktionen, welche Angelegenheit einer relativ kleinen
Gruppe technischer Spezialisten sind. In der zunehmenden Formierung der wis-
senschaftlich-technischen Arbeit einschließlich ihrer Denkkategorien sieht Sohn-
Rethel allerdings auch ein potentiell systemsprengendes Element, denn die Auto-
matisierung würde erstmals in der Geschichte der Menscheit auch die Perspektive
auf eine Befreiung von der körperlichen Arbeit als solcher eröffnen. Im automati-
sierten Arbeitsprozess sei die Subjektivität der individuellen Arbeitskraft »durch
die Elektronik der Automatisierung ersetzt« (S. 175); in Gestalt des automatisierten
Produktionssystems trete dem Arbeiter sozusagen die perfektionierte zeitöko-
nomische Vergesellschaftung der Produktion gegenüber, die allerdings völlig den
Interessen des Kapitals unterworfen bleibe. Mit der Erkenntnis dieses Wider-
spruches entstehen letzthin die Voraussetzungen zu einer künftigen, auf einer
gebrauchswertorientierten Aneignung der Produktionsmittel basierenden Verge-
sellschaftung, wie von Marx seinerzeit in den Grundrissen postuliert.
Wie dieser revolutionäre Umschlag historisch vonstatten gehen soll, bleibt bei
Sohn-Rethel allerdings weitgehend im Dunkeln. Wichtiger sind an dieser Stelle
indes seine strategisch-historischen Vorstellungen von der Entwicklungsdynamik
des modernen Kapitalismus. Diese sind bei näherem Hinsehen denen Pollocks in
mancher Hinsicht ähnlich. Bei beiden erscheinen Rationalisierung und Automati-
sierung entlang dem Taylorschen Paradigma als ein unilinear voranschreitender
Prozess, dem in technischer Hinsicht kaum Grenzen gesetzt scheinen. Beiden
unterliegt die Vorstellung einer zunehmenden Entwertung der menschlichen Ar-
beitskraft und deren Entmachtung in der Produktion. Ähnlich wie Harry Braver-
man gehen beide zumindest implizit vom handwerklich qualifizierten Facharbeiter
»vor-fordistischen« Typs aus, die Geschichte der Rationalisierung wird wesentlich
als die einer fortschreitenden Verdrängung dieses Arbeitertyps interpretiert. Sys-
tematisch kaum berücksichtigt wird der Widerstand der betroffenen Arbeitskräfte
beziehungsweise der Organisationen und Institutionen ihrer Interessenvertretung
und ihr möglicher Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsorganisation. In beiden
Analysen lässt sich so jenes Defizit in der Analyse von Politik und Strategien der
Fred Pollock in Silicon Valley 137
Vergleicht man die Analysen Pollocks und Sohn-Rethels mit der heutigen Situa-
tion, so könnte der Kontrast zwischen Prognose und Wirklichkeit kaum schärfer
erscheinen. Angesichts der enormen Entwicklung der Mikroelektronik und an-
derer neuer Technologien scheinen die Möglichkeiten der einst mit den ersten
138 Boy Lüthje
Angesichts dieser fast altmarxistisch anmutenden Argumentation lassen sich die bei
Autoren wie Pollock oder später Sohn-Rethel formulierten Zweifel an der Ent-
wicklungsfähigkeit der kapitalistischen Automatisierung wohl fast umkehren, näm-
lich in Richtung der Frage, warum die Kapitalakkumulation in den betreffenden
Bereichen heute trotz einer Automatisierung ungekannten Ausmaßes bislang nicht
zusammengebrochen ist. Der entscheidende Punkt zur Beantwortung dieser Frage
ist jener von beiden Autoren vernachlässigte Zusammenhang zwischen einzel-
kapitalistischen Rationalisierungsstrategien und deren Übersetzung in gesamtwirt-
schaftliche Akkumulationsmodelle. Würde man sich die heutige IT-Industrie als
142 Boy Lüthje
6. Schluss
Der letzte Punkt führt zurück zur Ausgangsfrage dieses Beitrages, nämlich dem
Problem, wie in den alten und neuen Formen kapitalistischer Massenproduktion
der Zusammenhang zwischen einzelbetrieblicher Rationalisierung und der Makro-
ebene der ökonomischen, sozialen und politischen Vergesellschaftung konstruiert
ist. Der notwendigerweise sehr skizzenhafte Verweis auf die sich sehr rasch ent-
wickelnden Formen netzwerkbasierter Massenproduktion in einer Leitbranche des
zeitgenössischen Kapitalismus sollte illustrieren, warum manches zum vermeintli-
chen Grundbestand kritischer Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses
gehörende Theorem heute in empirischer Hinsicht kaum mehr haltbar ist. Hält
man indes an den Grundintentionen kritischer Gesellschaftstheorie fest, so lassen
sich aus dieser historischen Perspektive einige zentrale theoretische Problemstel-
lungen der Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses benennen.
Evident scheint, dass auch der post-fordistische Kapitalismus keinem durch
Fred Pollock in Silicon Valley 147
Literatur
Horkheimer, Max (1968 [1937]): Traditionelle und kritische Theorie, in: Zeitschrift für
Sozialforschung, 1937, zit. nach ders.: Die gesellschaftliche Funktion der Philosophie –
Ausgewählte Essays. Frankfurt a. M. 1968, S. 145–209
Hossfeld, Karen (1990): Their Logic Against Them: Contradictions in Sex, Race, and Class in
Silicon Valley, in: Ward, K. (Hg.): Women Workers and Global Restructuring, Ithaca, NY
Joy, Bill (2000): Why the future doesn’t need us, in: Wired, April
Kenney, Martin/Florida, Richard L. (1993): Beyond Mass Production: The Japanese System
and Its Transfer to the U. S., New York
Kern, Horst/Schumann, Michael (1970): Industriearbeit und Arbeiterbewußtsein, Frankfurt
a. M.
–/– (1984): Das Ende der Arbeitsteilung? Rationalisierung in der industriellen Produktion,
München
Lemke, Thomas (1997): Eine Kritik der politischen Vernunft: Foucaults Analyse der moder-
nen Gouvernementalität, Berlin/Hamburg
Lichtenstein, Nelson A. (1995): The Most Dangerous Man in Detroit. Walter Reuther and the
Fate of American Labor, New York
Lipietz, Alain (1987): Mirages and Miracles. The Crisis of Global Fordism, London/New
York
Lüthje, Boy (2001): Standort Silicon Valley: Ökonomie und Politik der vernetzten Massen-
produktion. Studienreihe des Instituts für Sozialforschung, Frankfurt a. M./New York
– (2002): Electronics Contract Manufacturing – Global Production and the International
Division of Labor in the Age of the Internet, in: Industry and Innovation. Special Issue on
Global Production Networks, Information Technology, and Local Capabilities. Coordina-
ted by Dieter Ernst and Linsu Kim, December
–/Schumm, Wilhelm/Sproll, Martina (2002): Contract Manufacturing – Transnationale Pro-
duktion und Industriearbeit in der IT-Industrie. Studienreihe des Instituts für Sozialfor-
schung, Frankfurt a. M./New York
Mandel, Ernest (1974): Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.
Marx, Karl: Das Kapital, Bd. 2, 1885. Neuaufl. Berlin (DDR) 1963, MEW 24
Mattick, Paul (1974 [1969]): Marx and Keynes. The Limits of the Mixed Economy, Boston
1969; dt. Marx und Keynes, Frankfurt a. M./Köln
Moldaschl, Manfred/Voß Günter G. (2002): Subjektivierung von Arbeit. Reihe Arbeit In-
novation und Nachhaltigkeit, Bd. 2, München/Mering
Moody, Kim (1988): An Injury to All. The Decline of American Unionism, London/New
York
– (1997): Workers in a Lean World. London/New York 1997.
Negri, Antonio/Hardt, Michael (2002 [2000]): Empire. Cambridge, Ma./London 2000; dt.
Frankfurt a. M. 2002
Ong, Aihwa (1987): Spirits of Resistance and Capitalist Discipline. Factory Women in
Malaysia, Albany, NY
Orru, Marco/Biggart, Nicole W./Hamilton, Gary G. (1997): The Economic Organization of
East Asian Capitalism, Thousand Oaks, Calif.
Piore, Michael/Sabel, Charles (1984): The Second Industrial Divide, New York
Pollock, Friedrich (1956): Automation. Materialien zur Beurteilung der ökonomischen und
sozialen Folgen. Frankfurter Beiträge zur Soziologie, Frankfurt a. M.
Reich, Robert (1991): The Work of Nations, New York
Rifkin, Jeremy (1993): The End of Work. The Decline of the Global Labor Force and the
Dawn of the Post-Market Era, New York
Sauer, Dieter/Döhl, Volker (1994): Arbeit an der Kette – Systemische Rationalisierung
unternehmensübergreifender Produktion, in: Soziale Welt, 45. Jg., H. 2, S. 197–215
Saxenian, Annalee (1994): Regional Advantage: Culture and Competition in Silicon Valley
and Route 128, Cambridge, Ma./London
Fred Pollock in Silicon Valley 151
Schumann, Michael (1997): Frisst die Shareholder-Value-Ökonomie die moderne Arbeit? Von
der menschengerechten Arbeitsgesaltung zurück zum Einminutentakt am Band, Frank-
furter Rundschau, 18.11.
Schumm, Wilhelm (1996): Überlegungen zur Soziologie und Ökonomie des globalen Kapita-
lismus, in: Mitteilungen des Instituts für Sozialforschung, H. 7 (Juni), S. 41–58
Schumpeter, J. A. (1950): Capitalism, Socialism, and Democracy, New York 1950; dt.: Kapita-
lismus, Sozialismus und Demokratie, Tübingen 1950
Sohn-Rethel, Alfred (1973): Ökonomie und Klassenstruktur des deutschen Faschismus,
Frankfurt a. M.
– (1989 [1978]): Intellectual and Manual Labour. A Critique of Epistemology, London/
Basingstoke 1978; dt.: Geistige und körperliche Arbeit, Weinheim 1989
Storper, Michael/Walker, Richard (1989): The Capitalist Imperative: Territory, Technology,
and Industrial Growth, Oxford/New York
Sturgeon, Timothy (1997): Turnkey Production Networks: A New American Model of
Manufacturing. BRIE Working Paper, Berkeley
– (1999): Turnkey Production Networks: Industry Organization, Economic Development,
and the Globalization of Electronics Manufacturing. Ph. D. Dissertation University of
California, Berkeley
Uchitelle, Louis (1994): The New Faces of American Manufacturing. California’s Vision of
the Future, in: New York Times, July 3
Womack, James P./Jones, Daniel T./Roos, Daniel (1990): The Machine That Changed the
World, New York
Yeung, Henri Wai-chung (1998): Transnational Corporations and Business Networks. Hong
Kong Firms in the ASEAN Region, London
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat,
Demokratie und Herrschaft
Birgit Sauer
In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte man in Westeuropa den Eindruck
einer »glücklichen Hochzeit« zwischen Kapitalismus und Demokratie gewinnen.
Herrschaft und Ungleichheit schienen minimiert, denn die keynesianischen Wohl-
fahrtsstaaten schufen Institutionen des sozialen Ausgleichs und der Teilhabe von
immer größeren Bevölkerungsschichten am sozialen Wohlstand. Die partizipatori-
sche »Revolution« der neuen sozialen Bewegungen trug zur Demokratisierung von
Gesellschaft und Staat bei, und »Citizenship« schien nun auch für zuvor als
unpolitisch perzipierte soziale Gruppen wie z. B. Frauen realisierbar.
Mit der Rede von der Globalisierung seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
rückten die Schattenflecken der Beziehung zwischen Politik und Ökonomie wieder
deutlicher ins Blickfeld. Einst in die Peripherie gedrängte krude Formen von
Ausbeutung und Ungleichheit kehren in die Metropolen zurück: Massenarbeits-
losigkeit und öffentlich sichtbare Armut sind Ausdruck von Veränderungen der
nationalen Sozialstaatsprojekte. Deregulierung, Internationalisierung und Denatio-
nalisierung sind Herausforderungen des »hegemonialen (National-)Staates«, wenn-
gleich auch keineswegs sein Ende (Held 1995, S. 95; vgl. Poulantzas 2001, S. 60).
Diese aktuellen Formen der »Entstaatung« sind freilich nicht automatisch mit
größerer Gestaltungsfreiheit und Mitsprache der Bürger/innen verknüpft. Sie ge-
hen vielmehr mit Entsolidarisierung und Entdemokratisierung einher. Die Rede
von der Politikverdrossenheit und das eifrige Mühen um eine Aktivierung der
»Bürgergesellschaft« sind Versuche zur Neuorganisation von Politik. Aktuelle
demokratiepolitische Debatten sind ebenso wie rechts- bzw. nationalpopulistische
oder (direkt-)demokratische Mobilisierungen Suchbewegungen nach neuen politi-
schen Mustern der Transformation von Staat und Gesellschaft (vgl. Demirovic
2001, S. 159).
Diese Entwicklungen setzen eine Theoretisierung von Staatlichkeit unter demo-
kratiepolitischer Perspektive auf die wissenschaftliche Agenda. Das Konzept des
Staates war und ist umstritten (vgl. Held 1989, S. 11). Der Verzicht auf das Konzept
»Staat« seit den 1970er Jahren (vgl. Jürgens 1990, S. 21) und die Präferenz für das
empirisch anwendbare Paradigma »politisches System« führten zum Verlust einer
herrschaftskritischen Perspektive. Auch die politikwissenschaftliche »Staatsrenais-
sance« seit den späten 1980er Jahren vernachlässigt eine gesellschaftstheoretische
Sicht auf Herrschaft und Demokratie und rückt vielmehr Aspekte der Steuerung
und Effizienz ins Zentrum.
Angesichts rezenter Transformationen von Staatlichkeit und politikwissen-
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 153
deutlich werden. Dieser Prozess lässt sich mit der Begriffskette Herrschaft und
Repressivität, Kompromiss und Kräftefeld, Diskurs, Praxis und Differenz dar-
stellen.
Der Beitrag der frühen Kritischen Theorie zur Staatsdebatte wird als gering
veranschlagt, waren doch die empirischen Forschungen und theoretischen Über-
legungen zum Verhältnis von Gesellschaft und Individuum vor 1940 nicht sys-
tematisch mit einer kritischen Politiktheorie verknüpft (vgl. Habermas 1985, S. 555;
Söllner 1982, S. 317). Es war der Nationalsozialismus – und das Scheitern von
Gegenbewegungen –, der den gesellschaftstheoretischen Arbeiten eine Beschäfti-
gung mit dem Staat gleichsam aufnötigte und die Frage nach der grundsätzlichen
Neuartigkeit von Gesellschaft, Kapitalismus und totalitärem Staat für die kritische
Herrschaftsanalyse ins Zentrum rückte (vgl. Habermas 1985, S. 555 f.).
Theoretischer Ausgangspunkt der staatstheoretischen Überlegungen war eine
empathische Neu-Perspektivierung der marxistischen Theorie. Marx und Engels
hatten zwar keine kohärente Staatstheorie entworfen, doch in Abgrenzung zu
Hegels Opposition zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft betonten beide die
Totalität sozialer Verhältnisse und die Entstehung des Staates aus den gesellschaft-
lichen Widersprüchen (vgl. Engels 1974, S. 191). Der bürgerliche Staat verkörpere
keine universelle sittliche Idee, sondern sei partikular und gebe als »Klassenstaat«
nur vor, ein Allgemeinwohl zu repräsentieren. In der imaginierten Trennung von
der Gesellschaft liege seine undemokratische, herrschaftliche Struktur begründet
(Marx 1981, S. 384 f.). Das Problem aber, wie der Zusammenhang zwischen Staat,
Gesellschaft und Ökonomie zu fassen sei, blieb in den Schriften von Marx und
Engels widersprüchlich gelöst (vgl. Held 1989, S. 36): Im Kommunistischen Mani-
fest bezeichnen sie den Staat als »Ausschuß« der herrschenden Klasse mit dem Ziel
der Ausbeutung der Lohnabhängigen (Marx/Engels 1970, S. 45; vgl. auch Engels
1974, S. 193; Knuttila/Kubik 2000, S. 101). An anderer Stelle bescheinigt Marx dem
Staat eine gewisse Autonomie gegenüber sozialen Verhältnissen; er sei das Ergebnis
von verwobenen Koalitionen und machtvollen Arrangements und könne daher
nicht eindeutige Unterdrückungsfunktionen wahrnehmen (Marx 1976, S. 306 ff.).
Die Theoretiker der Kritischen Theorie griffen zunächst den Gedanken auf, dass
der Staat mehr als eine rechtliche Ordnung sei und im Kontext einer Gesellschafts-
theorie konzipiert werden müsse. Der Staat galt als ein Moment gesellschaftlicher
Totalität, des strukturierten Zusammenhangs von ökonomischen Gesetzmäßig-
keiten und spezifischen Vergesellschaftungsprinzipien (vgl. Rudel 1981, S. 42). Aus
der herrschaftskritischen Perspektive folgte zudem eine prinzipielle Staatsskepsis:
Im Marxschen Sinne und gegen Hegel wurde der Staat als eine Herrschaftsform
betrachtet, die der Freiheit der Individuen im Wege steht (vgl. Held 1989, S. 31).
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 155
Angesichts der nationalsozialistischen Barbarei stellte sich freilich auch die Frage,
weshalb die Menschen sich dem Staat unterwarfen bzw. ihn akzeptierten.
Trotz dieser gemeinsamen Ausgangspunkte waren die Konzeptualisierungen des
Staates und mithin auch die Konturierung des Zusammenhangs von Staat, Gesell-
schaft und Ökonomie sowie der Totalität des staatlichen Zugriffs auf Gesellschaft
bei den frühen Vertretern der Kritischen Theorie unterschiedlich und wenig kon-
sistent. Ich werde im Folgenden zwei Hauptlinien herausarbeiten.
rung und Unterwerfung der Bürger/innen läuft Gefahr, den Spielraum für Auto-
nomie und politisches Handeln zu verengen, ja die gesellschaftlichen Subjekte aus
dem Blick zu verlieren (vgl. auch Marramao 1982, S. 245). Auch die Vorstellung des
Übergangs vom Konkurrenzkapitalismus zum Monopolkapitalismus erweist sich
als unhistorisch und theoretisch zu kurz gegriffen, waren doch Markt bzw. kapi-
talistische Produktion nie eine unpolitische Ordnung, sondern »immer die Re-
sultante von bestimmten Machtverhältnissen zwischen verschiedenen Subjekten«
(ebd., S. 251; Hervh. i. O.). Die Transformation des Kapitalismus und des kapi-
talistischen Staates sind mithin nicht nur als Formen der weiteren Entfremdung
und Ausbeutung, sondern auch als Ergebnisse politischer Auseinandersetzungen
zu fassen.
»aufgelöst« werden, sondern sei immer soziale Macht (Neumann 1986a, S. 85).
Auch Demokratie ist nicht zuvörderst Rechtsstaat, sondern eine »Herrschaft, die
die Unterordnung sozialer Macht unter die politische involviert und die politische
Macht verantwortlich macht« (Neumann 1986b, S. 259).
Doch basiere staatliche Herrschaft nicht nur auf Gewalt und Privilegien, son-
dern auch auf »Überzeugung«: »Durch Überzeugung erzielt der Herrscher bei den
Beherrschten einen erheblichen Grad an Habitualisierung, so daß die Reaktionen
beinahe automatisch werden« (Neumann 1986a, S. 88). Demokratie zeichne sich
dadurch aus, dass Politik »erheblich ideologischer als in früheren Epochen« ist,
weil sie zentrale Aspekte des politischen Machtkampfs »verborgen« hält. Mächtige
gesellschaftliche Gruppen respektive Parteien müssen »ihre partikularen Interessen
als universelle darstellen«, um Massenunterstützung zu erhalten. Demokratie ist
also nur eine Form zur Erlangung von Unterstützung des Volkes, bei weitem aber
keine »Volksherrschaft«. Allerdings macht Neumann in diesem demokratischen
Verbergungsversuch durchaus Positives aus: »Die Notwendigkeit, soziale Gruppen
zu gewinnen […], zwingt zur Anpassung der verschiedenen Interessen« (ebd.,
S. 91). Dies ermöglicht auch weniger mächtigen Gruppen potenziell, ihre Inte-
ressen zu realisieren.
Die neo-marxistische Staatstheorie, die zu Beginn der 1970er Jahre nicht zuletzt als
Reaktion auf die erweiterte Sozialstaatstätigkeit im deutschsprachigen Raum einen
Aufschwung erfuhr, bewegte sich zwischen den Polen »Repressivität« und »Kom-
promisshaftigkeit« des Staates. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt war, dass der Staat
eine grundlegende Voraussetzung für die Reproduktionsfähigkeit des Kapitalismus
sei (vgl. Hirsch/Jessop 2001, S. 9). Seine besonderte Institutionalisierung sei nötig,
um den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und der privaten
Aneignung des Mehrprodukts auszubalancieren (für viele: Altvater 1972; Offe
1972; Hirsch 1974). Wie Habermas gehen Neo-Marxisten davon aus, dass Staats-
und Akkumulationsverhältnisse im Spätkapitalismus »verlötet« seien. Der Staat sei
nicht nur »Überbauerscheinung«, sondern Teil des Kapitalverhältnisses. Die »Ver-
staatung« der Gesellschaft sei deshalb eine »unausweichliche Folge« (Agnoli 1995,
S. 24, 45, 711). Die umstrittene Frage aber blieb die Konkretisierung des Zusam-
menhangs zwischen politischer Form und sozialen bzw. ökonomischen Verhält-
nissen.
162 Birgit Sauer
5.1 Der Staat als Diskurs und Praxis. Mikrophysik staatlicher Macht
Einen weiteren Strang kritischer Staatstheorie bilden symbolisch-diskursive An-
sätze in der Tradition Michel Foucaults. Foucault fragt nicht, wer den Staat zu
welchem Ende entwirft, er verweigert sich einer instrumentalistischen Sicht ebenso
wie einer funktionalistischen und entwickelt gleichsam eine »Staatsphobie« (Fou-
cault 2000, S. 69). Seine Fokussierung auf die Mikrophysik der Macht ist mit einer
bewussten Abgrenzung von solchen Traditionslinien verbunden, die Macht nur
oder vornehmlich im Staatsapparat verankert sehen (vgl. Foucault 1983, S. 113).
Seit dem 18. Jahrhundert hätten sich Machtbeziehungen vervielfältigt und seien in
unterschiedlichen Formen allgegenwärtig: Macht als eine »komplexe(n) strategi-
sche(n) Situation« ist »überall« (ebd., S. 114). Die Herausbildung des modernen
Staates ist also mit neuen Loci der Macht jenseits des staatlichen Apparats ver-
bunden: »Die Macht kommt von unten« (ebd., S. 115). Die vielfältigen machtvollen
Kräfteverhältnisse verketten sich zu »Systemen«, sie »kristallisieren« sich in den
Staatsapparaten, »verkörpern« sich in »gesellschaftlichen Hegemonien« (ebd.,
S. 113 f.) und festigen sich schließlich zu »Gesamtdispositiven« (vgl. Bublitz 1999,
S. 23).
Im Unterschied zu neo-marxistischen Theoretikern begreift Foucault den Staat
166 Birgit Sauer
nicht als eine »besonderte Form«, sondern als eine spezifische Machtform, die die
Subjekte individualisiert und Gemeinschaften totalisiert (Lemke 1997, S. 152). Der
Staatsapparat ist nurmehr die »Kodifizierungsinstanz« der »mikrophysikalischen
Machtverhältnisse«; er fixiert die »Machtarrangements, denen er sein Entstehen
verdankt, ohne sie selbst zu konstituieren« (ebd., S. 121 f.). Der Staat agiert in
einem Netz sozialer Machtverhältnisse, die ihm vorausgehen, ihn stützen und ihm
gleichsam seine Omnipotenz verleihen. Er durchdringt die Alltagspraktiken und
die Mikro-Machtverhältnisse (Foucault 1978, S. 39). Macht beruht aber nicht auf
der allgemeinen Matrix einer »globalen Zweiteilung« in »Herrscher und Be-
herrschte« (Foucault 1983, S. 116), sie ist demgegenüber relational und entsteht in
einem Feld strategischer Auseinandersetzungen zwischen Menschen und Gruppen,
in denen Herrscher und Beherrschte erst entstehen. Diskurse sind nun Praktiken,
die ein »Formationssystem« von Macht und Herrschaft entstehen lassen (Foucault
1998, S. 11; ders. 1990, S. 156). Ihre »machtvolle Wirkung« bzw. »institutionelle«
Funktion besteht darin, dass sie Phänomene auf eine ganz bestimmte Weise erfahr-
bar, d. h. »wahr« machen und damit soziale Wirklichkeit schaffen (vgl. Bublitz
1999, S. 23). Staatliche Institutionen können als »Diskursgesellschaften« verstanden
werden. Sie haben die Aufgabe, »Diskurse aufzubewahren oder zu produzieren«,
um sie »nach bestimmten Regeln zu verteilen« (Foucault 1998, S. 27). Der Staats-
diskurs interpretiert also nicht den (vorgängigen) Staat, sondern bringt ihn hervor.
Foucault ver-wirft schließlich den Staatsbegriff und ent-wirft das Konzept der
»Gouvernementalität« als Konnex von (Selbst-)Regieren (gouverner) und Denken
(mentalité). Dieses Konzept bringe die Tatsache des »bewegliche(n) Zuschnitt(s)
einer ständigen Verstaatlichung« der Subjektkonstitution – also den Staat als Praxis
– weit treffender zum Ausdruck (Foucault 2000, S. 69; vgl. Lemke 1997, S. 151).
Foucault begreift den Staat nicht nur als eine den Individuen äußerliche in-
stitutionelle Struktur, sondern als eine Macht, die in den Köpfen und Körpern der
Menschen sitzt. Der moderne liberale Rechtsstaat unterwirft und diszipliniert die
Subjekte also nicht, sondern wählt die adäquate Selbstführung als neue Form der
Subjektkonstitution. Der Staat lässt sich einerseits als Disziplinierungs-, Norma-
lisierungs- und Machtapparat begreifen. Andererseits ist der repressiv-disziplinie-
rende Staat auch als produktiv-ermöglichender fassbar. Ganz ähnlich konzeptuali-
siert Louis Althussers Konzept der »Anrufung« die staatliche Subjektkonstitution
(Althusser 1969, S. 157, 172).
Subjektkonstitution und Staatsreproduktion sind »von Widersprüchen durch-
kreuzt und von Zäsuren durchschnitten« (Marramao 1982, S. 269). Dies macht die
Widersprüchlichkeit des Staates aus, ermöglicht aber auch den Widerspruch der
Staatssubjekte. Die Foucaultsche Sicht bietet mithin Ansatzpunkte für eine anti-
essentialistische und handlungsbezogene Perspektivierung von Staatlichkeit. Das
Defizit dieses diskursiven Staatskonzepts ist aber, dass Foucault das Verhältnis
zwischen Staat, Makro- und Mikromächten als äußerliches konstruiert (vgl. Lemke
1997, S. 122). Die Frage, wie es zu hegemonialen Herrschaftsstrukturen im Staat
kommt, warum Staatsdiskurse Herrschaft produzieren und reproduzieren, kann
nicht befriedigend beantwortet werden, da gesellschaftliche Verhältnisse und Kon-
flikte in ihrer Differenziertheit nicht in die Machtbegrifflichkeit einbezogen sind.
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 167
Leugnung des Geschlechts und der ambivalenten Integration von Frauen beruht.
Auch der »postfordistische Staat« ist kein simples Instrument des Kapitals, »son-
dern ein umkämpftes Terrain« (Hirsch/Jessop 2001, S. 8). In den Prozessen welt-
weiter neo-liberaler Restrukturierung werden Staaten nicht zu bloßen Funktionen
des ökonomischen Prozesses. Im Gegenteil: Staaten besitzen eine je spezifische
Fähigkeit zur Anpassung an das neue globale Setting, und sie besitzen die Kapazi-
tät, in den ökonomischen Internationalisierungsprozess einzugreifen – oder darauf
zu verzichten. Der Staat »erodiert« also nicht, sondern der Staatsapparat vollzieht
einen Wandel seiner Architektur. So geht der Umbau nationaler Staatsarchitekturen
mit dem »Wiedererstehen« von Staatlichkeit auf transnationaler Ebene, z. B. im
Gewand von »global governance«, einher. Neoliberalismus bedeutet eine Rekon-
figuration der Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre: Der Markt
expandiert, öffentlich-staatliche Räume schrumpfen und werden zur Unkenntlich-
keit privatisiert, während die Familie »entgrenzt«, d. h. zu mehr öffentlichen
Pflichten verpflichtet wird.
Viertens ist ein Ergebnis dieser Diskussion, dass der Staat als Ordnungs- und
Gewaltsystem keine eigene Macht besitzt, sondern eine besondere Form ist, »die
die gesellschaftliche Macht annimmt« (Demirovic 2001, S. 155; Hervh. B. S.). Er
pluralisiert sich vielmehr in eine Vielzahl möglicherweise gegenläufiger Herr-
schaftstechnologien (vgl. Demirovic 1997, S. 151). Staatliche Herrschaft ist somit
keine starre Struktur, sondern ein austariertes Verhältnis, das in sozialen Ausei-
nandersetzungen reproduziert, aber auch verändert wird (vgl. ebd., S. 58). Staats-
verhältnisse sind gleichsam durch gesellschaftliche Widersprüche »überdetermi-
niert«. Die Widersprüche im staatlichen Kräftefeld bieten widerständige Anknüp-
fungspunkte für emanzipatorische Politik, sie stecken aber zugleich deren Grenzen
ab.
Im neo-gramscianischen Kontext bezeichnet der Staat fünftens den (Selbst-)
Entwurf der Zivilgesellschaft zur politischen Ordnung bzw. zu politischer Füh-
rung. Diese Ordnungsform ist schließlich darum bemüht, sich zu »normalisieren«,
also hegemonial zu werden (vgl. Gramsci 1991, S. 783). Der Staat ist somit »ein
Faktor in der Dynamik der ständigen Selbsttransformation der bürgerlichen Ge-
sellschaft«, und die repräsentative Demokratie bietet eine staatliche Form, in der
sich Gesellschaften »auf formell geregelte Weise selbst immer von neuem trans-
formier(en)« können (Demirovic 2001, S. 154ff.). Staatsbürgerliche Rechte bei-
spielsweise konnten in diesem Transformationsprozess von sozialen Bewegungen
eingeklagt und erstritten werden. Demokratisierung ist somit ein gesellschaftlicher
Prozess, der in der Zivilgesellschaft entsteht, aber stets in Auseinandersetzung mit
staatlichen Ordnungsmustern vorangetrieben werden muss.
Moderne Gesellschaften sind insbesondere durch eine ständige Grenzneuzie-
hung zwischen den gesellschaftlichen Sphären charakterisiert, und moderne Staat-
lichkeit ist ein zentraler Ordnungsfaktor dieser Grenzziehung, er ist »die Bedin-
gung jeder Unterscheidung zwischen öffentlich und privat« (Althusser 1969, S. 129;
Hervh. B. S.). Die Zivilgesellschaft ist dann keine »vermittelnde Instanz zwischen
Gesellschaft und Staat« (Demirovic 1999, S. 20), Staat und Zivilgesellschaft sind
also keine dichotomen Strukturen, wie im Habermasschen Ansatz, vielmehr for-
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 171
lich auch eine den Einzelnen entfremdende Institution. Ließen die Kritische Theo-
rie sowie neo-marxistische Ansätze eine Leerstelle bei der Konzeptualisierung des
Zusammenhangs von Subjektivität und Staat, so lässt sich diese mit dem Foucault-
schen Konzept der Gouvernementalität füllen.
Fazit: Die »Kulturalisierung« von Staat in diskursbezogenen Ansätzen ermög-
licht eine Mobilisierung des sedimentierten »Gehäuses der Hörigkeit«. Auf diese
methodologische Weise kann das starre Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft
gleichsam zum Tanzen gebracht und seine Qualität als soziales Kräftefeld sichtbar
gemacht werden. Der Staat ist dann sowohl eine filternde und strukturierte Struk-
tur, er ist aber auch eine strukturierende und produktive Struktur, ein Feld, das
Identitäten, Interessen und Institutionen hervorbringt. In einem solchen Konzept
von Staatlichkeit ist schließlich die Vorstellung von demokratischer Staatlichkeit
enthalten, die als kritischen Fluchtpunkt die »autonome Vergesellschaftung der
Individuen« (Demirovic 1997, S. 19) im Blick hat. Dass sich auf staatlichem Terrain
emanzipatorische Handlungskorridore öffnen, ist möglich, aber nicht garantiert.
Auch in den globalen Restrukturierungsprozessen ist eine »Paradoxierung« von
Demokratie feststellbar: Das vieldiskutierte Mehr an Demokratie durch die In-
tegration der »Zivilgesellschaft« scheint Entscheidungslosigkeit zu demokratisieren
– die Zivilgesellschaft debattiert und deliberiert, aber entschieden wird an anderen
Orten.
Literatur
Engels, Friedrich (1974 [1884]: Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des
Staates, Berlin
Esser, Josef (1985): Marxistische Staatstheorie, in: Pipers Wörterbuch zur Politik, hg. von
Nohlen, Dieter, Bd. 1: Politikwissenschaft. Theorien, Methoden, Begriffe, hg. von Nohlen,
Dieter/Schultze, Rainer-Olaf, München/Zürich, S. 977–982
Foucault, Michel (1978): Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit.
Berlin
– (1983): Der Wille zum Wissen. Sexualität und Wahrheit, Bd. 1, Frankfurt a. M.
– (1990): Die Archäologie des Wissens, Frankfurt a. M.
– (1998): Die Ordnung des Diskurses, Frankfurt a. M.
– (2000): Staatsphobie, in: Bröckling, Ulrich/Krasmann, Susann/Lemke, Thomas (Hg.): Gou-
vernementalität der Gegenwart. Studien zur Ökonomisierung des Sozialen. Frankfurt a. M.,
S. 68–71
Fraser, Nancy (1994): Widerspenstige Praktiken, Frankfurt a. M.
Gramsci, Antonio (1991): Gefängnishefte, Bd. 1, Hamburg
Habermas, Jürgen (1973): Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.
– (1982 [1962]): Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der
bürgerlichen Gesellschaft, Darmstadt/Neuwied
– (1985): Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen
Vernunft, Frankfurt a. M.
Hartmann, Heidi (1981): The Unhappy Marriage of Marxism and Feminism: Towards a More
Progressive Union, in: Sargent, Lynda (Hg.): The Unhappy Marriage of Marxism and
Feminism: A Debate on Class and Patriarchy, London
Held, David (1989): Political Theory and the Modern State. Essays on State, Power, and
Democracy, Stanford
– (1995): Democracy and the Global Order: From the Modern State to Cosmopolitan
Governance, Cambridge
Hirsch, Joachim (1974): Staatsapparat und Reproduktion des Kapitals, Frankfurt a. M.
– (1992): Regulation, Staat und Hegemonie, in: Demirovic, Alex/Krebs, Hans-Peter/Sa-
blowski, Thomas (Hg.): Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und
Prozeß, Münster, S. 203–231
-/Roth, Roland (1986): Das neue Gesicht des Kapitalismus. Vom Fordismus zum Post-
Fordismus, Hamburg
-/Jessop, Bob (2001): Die Zukunft des Staates. Vorwort, in: diess./Poulantzas, Nicos: Die
Zukunft des Staates. Denationalisierung, Internationalisierung, Renationalisierung, Ham-
burg, S. 7–18
Horkheimer, Max (1985 [1939–42]: Die Rackets und der Geist. Aufzeichnungen und Ent-
würfe zur Dialektik der Aufklärung, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 12, Frankfurt a. M.
– (1987 [1940]): Autoritärer Staat, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. 1987,
S. 293–319
Jenson, Jane (1989): Paradigms and Political Discourse: Protective Legislation in France and
the United States Before 1919, in: Canadian Journal of Political Science 2, S. 235–258
Jessop, Bob (1990): State Theories. Putting the Capitalist States in Their Places, University
Park, Penn
– (1994): Veränderte Staatlichkeit. Veränderungen von Staatlichkeit und Staatsprojekten, in:
Grimm, Dieter (Hg.): Staatsaufgaben. Baden-Baden, S. 43–73
– (2000): Die geschlechtsspezifischen Selektivitäten des Staates, in: Kreisky, Eva/Lang, Sa-
bine/Sauer, Birgit (Hg.): EU.Geschlecht.Staat, Wien, S. 55–85
Jürgens, Ulrich (190): Entwicklungslinien der staatstheoretischen Diskussion seit den siebzi-
ger Jahren, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 9–10, S. 14–22
Kircheimer, Otto (1981 [1928–41]): Von der Weimarer Republik zum Faschismus: Die
174 Birgit Sauer
Rudel, Gerd (1981): Die Entwicklung der marxistischen Staatstheorie in der Bundesrepublik,
Frankfurt a. M./New York
Sauer, Birgit (2001): Die Asche des Souveräns. Staat und Demokratie in der Geschlechter-
debatte, Frankfurt a. M./New York
Söllner, Alfons (1982): Politische Dialektik der Aufklärung. Zum Spätwerk von Franz
Neumann und Otto Kirchheimer (1950–1965), in: Bonß, Wolfgang/Honneth, Axel (Hg.):
Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der kritischen Theorie,
Frankfurt a. M., S. 281–326
Stirk, Peter M. (2000): Critical Theory, Politics and Society. An Introduction, London/New
York
Vobruba, Georg (1983): Politik mit dem Wohlfahrtsstaat, Frankfurt a. M.
Leblose Lebendigkeit. Zur Bedeutung von Organisation,
Wissen und Norm im Konzept der verwalteten Welt
Michael Bruch
Wenn von Verwaltung die Rede ist, wird damit vor allem der Staat in Verbindung
gebracht. Der Begriff der verwalteten Welt kann deshalb leicht den Eindruck
erwecken, die Welt sei vollständig vom Staat durchdrungen. Diese Sichtweise ist,
denkt man an den Umfang staatlicher Regulierung in den wohlfahrtsstaatlich
geprägten Ländern des Westens und nicht zuletzt an die vormals realsozialistischen
Staaten, sicherlich nicht unbegründet. Was hierbei jedoch leicht übersehen wird ist,
dass die Gegenwart in einem bisher nicht gekannten Ausmaß durch Organisa-
tionen gekennzeichnet ist. Mehr oder weniger alle Lebensbereiche, in denen wir
uns bewegen, vom Gesundheits-, Erziehungs-, Bildungs- und Wissenschaftssystem
über das politische und ökonomische System bis hin zu Teilen der Freizeit, sind
organisationsförmig strukturiert. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert hat die
Bedeutung von Organisationen nicht nur aufgrund ihrer Quantität, sondern im
Zuge der ökonomischen und politischen Globalisierung auch in qualitativer Hin-
sicht in Gestalt multinationaler Unternehmungen sowie supranationaler Institu-
tionen (wie der UNO, der Weltbank, dem IWF, der Nato, etc.) erheblich zuge-
nommen. Die genannten Organisationen verfügen aufgrund des dort hochgradig
konzentrierten Kapitals bzw. politischer Entscheidungskompetenzen über Macht-
ressourcen, die sie in die Lage versetzen, im globalen Maßstab die Lebens- und
Arbeitsbedingungen der Menschen nachhaltig zu beeinflussen.
Ohne explizit auf Organisation verwiesen zu haben, sahen Horkheimer und
Adorno die Entwicklungstendenzen hin zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen
Verhältnissen bereits in der Krise des liberalen Konkurrenzkapitalismus an der
Wende zum 20. Jahrhundert angelegt. Im Gegensatz zur Einschätzung seitens der
sozialistischen Theoretiker, für die der Monopolkapitalismus Ausdruck eine den
kapitalistischen Produktionsverhältnissen innewohnenden systemtranszendieren-
den Dynamik repräsentierte, interpretierten Horkheimer und Adorno diesen ge-
sellschaftlichen Formwandel als eine Entwicklung, die zu einer Verhärtung und
Ausdehnung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse führt. In den politischen und
ökonomischen Verhältnissen in den totalitären Regimes in Deutschland und der
Sowjetunion sowie den formaldemokratisch verfassten USA sehen sie trotz aller
Differenzen jene Strukturen im Entstehen, die zur Ausbildung einer verwalteten
Welt tendieren.
Heben die Analysen des Nationalsozialismus in nicht unproblematischer Weise
den Staat als zentralen Träger der Herrschaftsverhältnisse hervor, so lassen sich
über den Bezug auf die Interpretation der US-amerikanischen Verhältnisse, wie sie
Horkheimer in seinem Racket-Theorem dargelegt hat, Ansätze eines Verständnis-
ses moderner Herrschaft als dezentrale, organisational abgestützte Struktur heraus-
arbeiten. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, nicht zuletzt für den hier
Leblose Lebendigkeit 177
1.
Mit der Wende zum 20. Jahrhundert schien sich in den fortgeschrittenen industri-
ell-kapitalistischen Zentren das zu bestätigen, was Karl Marx in seiner nur ca. 40
Jahre zuvor veröffentlichten Kritik der politischen Ökonomie prognostiziert hatte:
der Zerfall des liberalen Konkurrenz- und seine Ablösung durch den Monopolka-
pitalismus (für Deutschland s. Wehler 1995, S. 633 u. Conert 1998, S. 188). Diese
Entwicklung resultiert für Marx aus einer den kapitalistischen Produktionsver-
hältnissen immanenten Gesetzmäßigkeit, die zu ihrer Selbstaufhebung tendiert.
»Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter
ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesell-
schaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer
kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Pri-
vateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert« (Marx 1979,
S. 791).
Mit dem Monopolkapitalismus, so erschien es zumindest den wichtigen Theo-
retikern der sozialistischen Bewegung der Jahrhundertwende, sei bereits ein gesell-
schaftlicher Zustand erreicht, in dem die Gesetze der kapitalistischen Produktions-
weise weitgehend außer Kraft gesetzt seien. Zentral war dabei die Annahme, dass
178 Michael Bruch
empirische Stellenwert der kapitalistisch verfassten Ökonomie für die Struktur und
Entwicklung der modernen Gesellschaft beizumessen sei. Zentral für die weitere
theoretische Entwicklung der Kritischen Theorie war in diesem Zusammenhang
Friedrich Pollocks Analyse des Nationalsozialismus, in der er zu dem Ergebnis
kam, dass die dem Kapitalismus innewohnende Entwicklungsdynamik nicht, wie
Hilferding und Lenin annahmen, zu dessen Aufhebung, sondern zu dessen Verfes-
tigung in Gestalt des totalitären bzw. demokratischen Staatskapitalismus führe.
Sowohl in seiner totalitären als auch in seiner demokratischen (US-amerikanischen)
Variante unterscheidet sich der Staatskapitalismus vom Privatkapitalismus in drei
Punkten: (1) Nicht mehr der Markt, sondern ein System direkter Kontrolle koordi-
niert Produktion und Distribution, womit die kapitalistischen Wirtschaftsgesetze
außer Kraft gesetzt werden. (2) Die Kontrolle von Produktion und Distribution
wird dem Staat übertragen. (3) Der Staat ist im totalitären Staatskapitalismus das
Machtmittel einer »neuen herrschenden Gruppe, die aus der Verschmelzung der
mächtigsten Kapitale, der obersten Ränge in der Leitung von Industrie und Ge-
schäft, der oberen Schichten der staatlichen Bürokratie (einschließlich des Militärs)
und der Bürokratie der herrschenden Partei entstanden ist« (Pollock 1984, S. 82 f.).
Diese neue herrschende Gruppe teile sich nun die Gewalt, die vormals der Staat
monopolisiert hatte. In seiner demokratischen Variante übernehme der Staat im
Staatskapitalismus die gleichen Funktionen mit dem Unterschied, dass hier der
Staat durch das Volk kontrolliert werde und Einrichtungen der Kontrolle der
Bürokratie gegeben seien.
Die Beseitigung der Zirkulationssphäre, in der sich die Individuen über das
Medium des Tauschs als formal-rechtlich gleiche ›Partner‹ gegenübertreten, be-
zeichnet für die bürgerliche Gesellschaft insofern eine bedeutsame Veränderung, als
»in der Sphäre der Vermittlung Begriffe wie Gleichheit und Freiheit ihre objektive
gesellschaftliche Basis finden und nun historisch obsolet werden« (Demirovic 1999,
S. 86). Das Primat der Politik über die Ökonomie (s. dazu auch van Reijen/Bransen
1997, S. 457), wie es sich im Nationalsozialismus in ausgeprägter Form zeige,
bezeichnet für Horkheimer jedoch keine singuläre, auf Deutschland begrenzte
Entwicklung, sondern vielmehr stellt er das Symbol dessen dar, »[…] was einmal
kommen müßte, nämlich eine völlig verwaltete, rationalisierte, von einer Stelle aus
geleitete und gelenkte Gesellschaft […]« (Horkheimer 1985i, S. 328 f. u. Hork-
heimer 1997).
2.
Die auf der Grundlage der Interpretation der totalitären Regimes von Stalinismus
und Nationalsozialismus vorgenommenen Verallgemeinerungen hinsichtlich der
gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen beinhalten Widersprüche in der Herr-
schaftstheorie von Horkheimer und Adorno, die sich bis hin zum Theorem der
»verwalteten Welt« verfolgen lassen. Dabei handelt es sich um die Orientierung an
absolutistisch-zentralistischen Herrschaftsmodellen bei gleichzeitiger Hervorhe-
180 Michael Bruch
Hinsichtlich der hier angesprochenen Bedeutung von Organisation für das Ver-
ständnis moderner Herrschaft kann weiter an das Horkheimersche Racket-Theo-
rem angeknüpft werden. Für Horkheimer stellt das Racket zunächst keine histo-
risch besondere, sondern eine allgemeine Form sozialer Ungleichheit dar, die
allerdings historischen Modifikationen hinsichtlich des Wechsels der Machtres-
sourcen unterliegt. In seiner Geschichte löst sich das Racket von einer auf natür-
lichen und persönlichen Potenzen beruhenden Macht und wird zur Fähigkeit der
Besetzung gesellschaftlicher Schlüsselpositionen. »Die Scheidung zwischen oben
und unten, Herrschaft und Beherrschten beruht auf der Organisation jeder einzel-
nen Machtgruppe in sich selbst und gegen die, welche weiter unten stehen«
(Horkheimer 1985a, S. 287). Horkheimer benennt hier mit Organisation einen
Mechanismus sozialer Asymmetrisierung, der weder historisch noch theoretisch
genauer bestimmt wird. Wenn man Organisation nun nicht als allgemeines Prinzip
einer auf Herrschaft gerichteten Gruppenbildung, sondern als Bestandteil einer
historisch besonderen Gesellschaftsformation begreift, dann eröffnet dies die Mög-
lichkeit, die im Racket-Theorem angelegten Überlegungen zur Struktur moderner
Gesellschaft und der ihr eigenen Form von Herrschaft systematisch mit den
wissens- bzw. rationalitätstheoretischen Analysen der Kritischen Theorie zu ver-
binden.
Das Racket wird von Horkheimer als eine abgrenzbare, mit einer inneren
Ordnung versehene, Personen selektiv in- bzw. exkludierende Einheit charak-
terisiert, die als Herrschaftsinstrument fungiert. Wie sich anhand einer historisch
und gesellschaftstheoretisch orientierten Organisationsforschung zeigen lässt, han-
delt es sich hierbei um drei, die moderne Organisationsform konstituierende
Dimensionen, nämlich die der Ordnung, des Gebildes und der Vergemeinschaf-
tung. Die Rekonstruktion der Genese von Organisation entlang dieser Dimen-
Leblose Lebendigkeit 181
sionen impliziert eine doppelte Perspektive insofern, als die einzelnen Dimen-
sionen Konstellationen von Denk- und Handlungspraxen repräsentieren, die kon-
stitutiv nicht nur für Organisation, sondern zugleich für die moderne Gesellschaft
insgesamt sind. Anders formuliert: Die Genealogie der Organisation setzt nicht die
Existenz einer historischen Gesellschaftsformation voraus, sondern sie rekon-
struiert beide als wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Organisation darf vor die-
sem Hintergrund nicht in einem technisch-verdinglichten Sinn als Apparat von
Herrschaftsausübung missverstanden werden. Sie ist nicht Subjekt, sondern im
Gegenteil gehört es zu ihren Merkmalen, dass ihr ein Subjektcharakter zuge-
schrieben wird. Als materieller Ausdruck von Wissens- und Handlungspraxen
stellt Organisation ein gesellschaftliches Verhältnis (Bruch 2000) dar, das den
Beziehungen zwischen den Menschen und zur inneren wie äußeren Natur eine
historisch eigene Prägung verleiht. Die angesprochenen Organisationsdimensionen
lassen sich folgendermaßen umreißen (ausführlich s. dazu Türk/Lemke/Bruch
2002).
Die Ordnungsdimension
Mit der Erosion jener statischen, Natur und Gesellschaft gleichermaßen umfassen-
den Ordnungsvorstellung, die nach Zygmunt Bauman (2000) die für die Moderne
charakteristische »Sorge um die Ordnung« begründet, entsteht ein Ordnungskon-
zept, als dessen Zentrum sich eine rationalistisch-vernunftbasierte Wissensform
etabliert. Wie schon die frühen Staatsutopien von Thomas Morus, Tommaso
Campanella und Francis Bacon (1983) dokumentieren, verbinden sich in dem
Vernunftgedanken von Beginn an Emanzipationsbestrebungen mit sozialtechno-
kratischen und disziplinierenden Vorstellungen einer zweckgerichteten Rationali-
tät, deren Bedeutung für die Entwicklung der modernen okzidentalen Gesellschaft
von Max Weber (1984, S. 9–27) mittels des Begriffs der formalen Rationalität und
von Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft (1985h) heraus-
gearbeitet werden. Getragen vor allem vom aufstrebenden Bürgertum, verbinden
sich mit dieser Ordnungsvorstellung Produktivitäts- und Effektivitätserwartungen,
die ihrerseits die Notwendigkeit der Disziplinierung sowohl der äußeren als auch
der inneren Natur unterstellen. Legitimität gewinnt diese Unterwerfung über die
Trennung von Person und Verfahren, so dass Personen nur noch in Gestalt von
Trägern eines apersönlichen Regelwerks erscheinen.
Die Gebildedimension
Die Ordnungskonzepte bedürfen zu ihrer Umsetzung Räume, auf die sie projiziert
werden können. Parallel zu den beschriebenen Ordnungsvorstellungen lässt sich
ein ökonomischer und politisch-rechtlicher Differenzierungsprozess beobachten,
aus dem eigenständige Einheiten hervorgehen, zu deren bedeutendsten neben dem
(National-) Staat und der modernen kapitalistischen Unternehmung, das bürger-
liche Individuum gehört. Die Gebildekonstruktion erschöpft sich nicht darin, Ort
der Ordnung zu sein, sondern zugleich repräsentiert sie eine zurechnungsfähige
182 Michael Bruch
Die Vergemeinschaftungsdimension
Die Gebildekonstruktion erlaubt nicht nur die selektive Zurechnung von Hand-
lungen und ökonomischen Wertgrößen, sondern sie stellt Mechanismen der sozia-
len Inklusion bzw. Exklusion bereit. Als »sozialer Körper« produziert Organisa-
tion personenbezogene Grenzen von Zugehörigkeit und Fremdheit. Die Zugehö-
rigkeit, Bedingung jeglicher Partizipation, ist an Anforderungen an das Individuum
gebunden, das seine Zugehörigkeit erst zu erweisen hat.
Die herrschaftsförmige Einbindung der Individuen beschränkt sich nicht, wie
dies Repressionsvorstellungen nahe legen, auf die Errichtung eines ihnen äußer-
lichen Zwangskorsetts. Vielmehr verlangt sie die Berechenbarkeit der Persönlich-
keit und
»[…] absolut bündige Garantien der künftigen Zuverlässigkeit. Das Individuum muß sich
aller Macht begeben, die Brücken hinter sich abbrechen. Als der echte Leviathan fordert das
Racket den rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag. Eine Reihe gleitender Übergänge führt von
dem Opfer der eigenen Mutter, das der zukünftige Zauberer seinem Racket bringen muß, bis
zur Dissertation an den Universitäten, durch die der Adept beweist, das sein Denken, Fühlen
und Sprechen unwiderruflich die Form des akademischen Rackets angenommen hat.« (Hork-
heimer 1985a, S. 288 f.)
Bezieht man Organisation in dem hier skizzierten Sinn auf die gesellschaftlichen
Herrschaftsverhältnisse, die Horkheimer und Adorno mit ihrer Rede von der
»verwalteten Welt« im Auge haben, so kann die Beziehung von Individuen und
Macht anders begriffen werden als es totalitär-zentralistische Vorstellungen von
Herrschaft vorgeben, die trotz gegenteiliger Formulierungen die Arbeiten der
Kritischen Theorie durchziehen.
Leblose Lebendigkeit 183
3.
Wie diese Rekonstruktion gezeigt hat, ist Organisation Produkt einer Rekonfigura-
tion der gesellschaftlichen und darin inbegriffen der Herrschaftsverhältnisse, wes-
halb, genauer formuliert, eigentlich vom Organisationsverhältnis gesprochen wer-
den muss (s. Bruch 2000). In diesem Prozess, in dem bestehende gesellschaftliche
Dispositive und Institutionen durch und in sozialen Kämpfen modifiziert oder
verworfen werden, kommt den – und damit kommen wir zu der für das Projekt
der Kritischen Theorie zentralen Perspektive – Denk- bzw. Wissensformen als
Praxisform eine bedeutsame Rolle zu.
Die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse anhand der Denk- und Wissens-
formen begreift Wissen weder als reinen ideologischen Reflex der historischen
Produktionsweise, noch beschränkt sie die Bedeutung des Wissens auf dessen
Funktion als Produktivkraft im engeren Sinn. Wissen wird vielmehr als Element
der praktischen, gesellschaftlichen Naturaneignung, mithin also als Bestandteil der
Produktionsverhältnisse verstanden. Die Kritik der instrumentellen Vernunft
(Horkheimer 1985h), vor allem aber die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/
Adorno 1997) sind in diesem Sinn nicht als Abkehr von einer kritisch mate-
rialistischen Gesellschaftstheorie und Hinwendung zu einer Anthropologie der
Herrschaft zu begreifen, sondern im Gegenteil als Versuch einer Weiterentwick-
lung der politisch-ökonomischen Gesellschaftstheorie, in der den diskursiven Pra-
xen eine bedeutsame Rolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit zugeschrieben
wird. Diese Denkweise ist konsequenzenreich insofern, als sie das Verhältnis von
Sein und Bewusstsein neu bestimmt sowie dem Verständnis und der Beziehung von
Politik und Ökonomie gerade unter herrschaftstheoretischer Perspektive eine ver-
änderte Bedeutung verleiht.
Trotz dieser in ihren Arbeiten angelegten Infragestellung herrschender Denk-
und Unterscheidungsmuster bleibt die Kritische Theorie, wie insbesondere die
Debatte um das Primat von Politik oder Ökonomie im Rahmen der Faschismus-
analysen am Institut für Sozialforschung zeigt (s. Dubiel/Söllner 1984), der Tren-
nung von Politik bzw. Staat und Ökonomie weitgehend verhaftet. Dies drückt sich
zum einen in der Entpolitisierung der Ökonomie aus, die – wie die durchgehende
Verwendung der Maschinenmetapher zeigt (Horkheimer 1985c, S. 140, Adorno
1985) – zunehmend als technologisch getriebener und vermittelter Herrschafts-
prozess begriffen wird (s. dazu auch Gangl 1987, S. 202). Zum anderen findet sich
ein Verständnis der Ausweitung bzw. Totalisierung von Herrschaft als eine Ver-
schiebung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie zugunsten ersterer, wobei
Politik als Apparat unmittelbarer Herrschaftsausübung beschrieben wird.
Parallel zu einem solchermaßen gefassten Politikverständnis findet man bei
Horkheimer – wie etwa in dem Anfang 1945 an Adorno adressierten Memo-
randum – Überlegungen, die auf die zentrale Bedeutung der Wissensdimension für
die Funktionsweise moderner Herrschaft verweisen.
»Meinem Büro gegenüber ist ein Haus von ungefähr 22 Stockwerken. Dies trägt die Haus-
nummer 432 auf einem steinernen Ornament über dem Dach. Die Schrift ist zwar überlebens-
groß, aber kein Mensch kann sie von der Straße aus wahrnehmen. Sie ist auch gar nicht dafür
184 Michael Bruch
da, daß sie jemand wahrnimmt. Wahrscheinlich hat dem Erbauer die personifizierte Verwal-
tung vorgeschwebt, die gelegentlich auf riesenhaften Schwingen über den Städten schwebt.
Für sie sind die Nummern an den Dachspitzen der Wolkenkratzer bestimmt. Es ist schon
zwanzig oder dreißig Jahre her, daß dieser Block erbaut wurde, sonst stünde wohl noch unter
der Zahl: ›Space for 2176 employees and 1512 office desks, a greater number ist dangerous
and unlawful.« (Horkheimer 1985d, S. 307)
Herrschaft wird hier nicht mehr über den Bezug auf das Kapital- und Klassen-
verhältnis gedacht. Demgemäss basiert sie nicht auf der asymmetrischen Verfügung
über die Produktionsmittel, sondern vielmehr auf der Verfügung über ein identifi-
zierendes und ordnendes Wissen. Dieses Wissen bedarf, um wirksam zu werden,
der Manifestierung in gesellschaftlichen Strukturen bzw. verfestigten Verhältnissen.
Es stellt sich also die Frage, mittels welcher gesellschaftlichen Form jene ordnenden
und identifizierenden Konzepte umgesetzt werden. Bezieht man sich bei der
Beantwortung dieser Frage auf die Arbeiten Foucaults, so stößt man auf eine Reihe
unterschiedlicher gesellschaftlicher Einrichtungen, deren strukturelle Gemeinsam-
keit ihre Organisationsförmigkeit ist (s. Foucault 1981, insbes. S. 292).
Politik und Ökonomie können unter dieser Perspektive zwar hinsichtlich ihrer
je eigenen Orientierungslogiken unterschieden werden. Der Modus der Herr-
schaftsausübung bzw. ihre jeweilige Struktur unterscheiden sich jedoch nicht von-
einander. So zeigt der Entstehungsprozess der modernen bürgerlichen Gesellschaft,
dass die Formung jenes ordnenden, identifizierenden und, wie Foucault sagen
würde, disziplinierenden Wissens zu einer politischen Technologie, die sich in
Gestalt des Organisationsverhältnisses materialisiert, nicht nur für die moderne
Form staatlicher Herrschaft, sondern gleichermaßen für die kapitalistische Produk-
tionsweise konstitutiv ist.
Die kapitalistisch verfasste Ökonomie basiert auf einer neuartigen herrschafts-
förmigen Strukturierung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Tritt Orga-
nisation, wie schon beschrieben, in der Frühphase des Kapitalismus in Form der
Handelsgesellschaften und Verlage vor allem in ihrer juristisch abgestützten Ge-
bildedimension als Zuschreibungs- und Aneignungseinheit auf, so gewinnt sie in
der weiteren Entwicklung hin zur Ausbildung des Industriekapitalismus als zent-
rale Ordnungs- und Disziplinierungsinstanz an Bedeutung. Manufaktur und Fa-
brik sind, wie Marglin (1977) in seiner historischen Studie gezeigt hat, nicht
Resultat des Einsatzes maschineller Großtechnologie, sondern vielmehr dem Zent-
ralisierungs-, Kontroll- und Disziplinierungsbedürfnis des Kapitals geschuldet.
Erst die Schaffung abgegrenzter Räume und die Konzentration der Lohnab-
hängigen in ihnen schuf, wie Marx (1970) es anhand seines Theorems der formellen
und reellen Subsumtion expliziert hat, die Möglichkeit, die Ordnungskonzepte auf
den Produktionsprozess zu projizieren und damit jene Kasernendisziplin zu etab-
lieren, die typisch für den kapitalistischen Produktionsprozess werden sollte.
Die Orientierung der Fabrikdisziplin am Vorbild militärisch-absolutistischer
Ordnungskonzepte verdeutlicht, dass – zumindest unter herrschaftstheoretischer
Perspektive – die für die moderne Gesellschaft typische Ausdifferenzierung einer
ökonomischen und politisch-staatlichen Sphäre nicht bedeutet, dass diese einer je
eigenen oder gar getrennten Rationalität folgen. So zeigt eine historische Per-
Leblose Lebendigkeit 185
spektive, dass etwa die betriebliche Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert
durch die Übernahme bürokratischer Modelle (Kocka 1969 u. 1970) durch die
Unternehmungen gekennzeichnet ist und sich zugleich eine an ökonomischen
Vorbildern orientierte Restrukturierung der politisch-staatlichen Sphäre nachzeich-
nen lässt, wie wir sie ja augenblicklich in besonders ausgeprägter Form finden.
Welche zentrale Bedeutung dabei dem Wissen als Machtfaktor zukommt, lässt sich
an den Konzepten Taylors (1911/1977) ablesen, dessen Leistung ja gerade darin
bestand, erkannt zu haben, dass das Wissen der unmittelbaren Produzent/innen
einer nachhaltigen Kontrolle des Produktionsprozesses durch das Kapital ent-
gegensteht. Die Entwicklungen, die mit Taylor in Gang gesetzt wurden, doku-
mentieren, dass die Generierung neuartigen Wissens als Machtwissen, die wir etwa
im Zusammenhang mit der Entfaltung des modernen Staates in Form von Verwal-
tungs-, Ermittlungs- und Inquisitionswissen beobachten können, nur eine Seite der
Beziehung von Wissen und Macht darstellt. Die andere, wenn man will negative,
Seite ist die der Enteignung und einseitigen Aneignung einerseits und die sys-
tematische Entwertung von Wissen andererseits.
Die Bedeutung von Wissen und Wissenschaft für die Ausübung von Herrschaft
ist zwar keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, allerdings verändert sich ihre
Bedeutung insofern, als von jenem Zeitpunkt an Wissen institutionell mit Macht
ausgestattet wird.
»Innerhalb der Teilung von Handarbeit und intellektueller Arbeit hat das 19. Jahrhundert
etwas Neues gebracht, das darin besteht, daß das Wissen, ausgestattet mit einer bestimmten
Quantität Macht, in der Gesellschaft funktionieren muß. Eben dadurch, daß es Wissen ist,
verfügt es über Macht, und es sind nicht der gute Wille der Macht oder ihre Neugierde, die
sich dem Wissen öffnen.« (Foucault 2001, S. 48 f.)
Diese explizite, institutionell verankerte Verbindung von Wissen und Macht wird
vermittels der Organisationsform hergestellt, und zwar in zweifacher Weise: Die
von den Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen vorgenommene Messung,
Kalkulierung und Beglaubigung des Wissens entspricht der Überzeugung, dass
Wissen berechtigt ist, Macht auszuüben. Zugleich verwandelt sich der, wie Fou-
cault es ausdrückt, »›freischwebende‹ Gelehrte« in einen Angestellten der ver-
schiedenen Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen, »dessen Wissen sogleich
durch die Macht beglaubigt wird, die er ausübt« (Foucault 2001, S. 49).
Organisation spielt, um das bisher Gesagte zusammenzufassen, in Bezug auf das
gesellschaftliche Verhältnis von Wissen und Macht eine doppelte, selbstverstär-
kende Rolle. Zum einen werden vermittels Organisation (abgeschlossene) Räume
geschaffen, in denen das Wissen wirksam werden kann. Zum anderen ist es die
Organisierung, die erst die wissensbasierte Macht zu einem Herrschaftsverhältnis,
d. h. zu verfestigten Machtstrukturen gerinnen lässt.
Die Verwendung des Verwaltungsbegriffs zur Charakterisierung der gegenwär-
tigen Herrschaftsverhältnisse stellt sich vor diesem Hintergrund als inadäquat dar,
da er die für Horkheimer und Adorno wesentlichen Tendenzen der gesellschaft-
lichen Entwicklung verdeckt statt sie freizulegen. Verdeckt wird mit dem Verwal-
tungsbegriff nämlich gerade die Tatsache, dass die Umsetzung der Ordnungs- und
186 Michael Bruch
4.
Die für Horkheimer und Adorno wohl bedeutsamste Konsequenz der »ver-
walteten Welt« besteht in dem, was sie als die Krise des Individuums bezeichnet
haben. »Am Ende steht, wenn keine Katastrophen alles Leben vernichten, eine
völlig verwaltete, automatisierte, großartig funktionierende Gesellschaft, in der das
einzelne Individuum zwar ohne materielle Sorgen leben kann, aber keine Bedeu-
tung mehr besitzt« (Horkheimer 1985b, S. 347). Diese als Verlustgeschichte ge-
fasste Prognose steht in einem auffälligen Gegensatz zu ihrer rationalitätskritisch
angeleiteten Gesellschaftstheorie, in der die Autoren gerade entgegen einem vor-
herrschenden Trend das bürgerliche Individuum nicht als Ergebnis eines Befrei-
ungsprozesses, sondern eines herrschaftsförmigen Konstitutionsprozesses rekon-
struieren.
Der Bildungsprozess moderner Subjektivität wird von Adorno und Horkheimer
in der Dialektik der Aufklärung, und darin besteht m.E. die zentrale Bedeutung
ihrer Analyse, in einen systematischen Zusammenhang mit der Rekonstruktion der
Genese jener Wissensformen gestellt, die konstitutiv für das der okzidentalen
Moderne eigene Verständnis von Lebendigkeit sind. Gekennzeichnet sind diese
Wissensformen durch eine Erkenntnispraxis, die der Logik von Manipulation und
Herrschaft folgt. »Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu
den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der
Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An
sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je
dasselbe, als Substrat von Herrschaft« (Horkheimer/Adorno 1997, S. 31).
Lebendigkeit1 erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als Quelle jeglichen
1 Bei dem hier verwendeten Begriff der Lebendigkeit handelt es sich noch nicht um einen
theoretisch ausgearbeiteten. Es kommt mir zunächst nur darauf an zu verdeutlichen, dass
ein systematischer Zusammenhang zwischen den historischen Formen sowohl des Be-
griffs von sowie den Umgangsweisen mit menschlicher und außermenschlicher Le-
bendigkeit herzustellen ist (s. dazu auch Agamben 2002).
Leblose Lebendigkeit 187
materiellen Reichtums, sondern als ungebändigte wird sie zur Bedrohung. Nicht
zufällig entwickelt sich in der frühen Neuzeit mit der Disziplinierung ein gesell-
schaftliches Dispositiv, das gleichermaßen auf die innere wie äußere Natur ange-
wendet wurde. »Der Mensch wurde in seinem Wollen und seiner Äußerung
diszipliniert. Er suchte die Selbstbeherrschung als höchstes Ziel zu erreichen. Und
er disziplinierte sogar die Natur in den kunstvoll beschnittenen Hecken und
Bäumen der barocken Schloßparkanlagen und Gärten« (Oestreich 1969, S. 193, s.
dazu auch Bauman 1996, S. 43 ff.). Disziplinierung soll nicht nur die erfolgreiche
Beherrschung der außermenschlichen Natur gewährleisten, sondern sie stellt zu-
gleich jenes Verfahren dar, das erst die Lebendigkeit des Subjekts in produktive,
lebendige Arbeit transformieren soll. Diese doppelte Bewegung von Ent- und
Ermächtigung der Lebendigkeit ist es, die die Form gesellschaftlicher Naturan-
eignung der Moderne prägt.
Die Arbeiten Foucaults, die sich gerade durch die Herausarbeitung jenes Dop-
pelcharakters der Disziplin auszeichnen, beschränken sich in ihrer Perspektive
jedoch auf die Subjekte und die Bevölkerung. Diese Perspektive gälte es m.E.
folgendermaßen auf Lebendigkeit zu erweitern: Die Disziplin zielt auf die Steige-
rung der Kräfte der Lebendigkeit zur Erhöhung ihrer ökonomischen Nützlichkeit,
bei gleichzeitiger Schwächung ihrer Kräfte, um sie fügsam zu machen. Die Dis-
ziplin operiert über die Spaltung der Macht der Lebendigkeit in Fähigkeit und
Tauglichkeit auf der einen Seite und der Polung der daraus erwachsenden Möglich-
keiten und Energien in ein Verhältnis der Unterwerfung auf der anderen Seite (s.
dazu Foucault 1981, S. 177).
Die Fokussierung der Horkheimerschen und Adornoschen Analyse auf die
historisch besondere Konfiguration von Lebendigkeit beinhaltet nicht nur das
unausgearbeitete Konzept dessen, was bei Foucault (1993) Bio-Politik genannt
wird, sondern sie bildet zugleich den Bezugspunkt für die Bestimmung der sub-
jektbezogenen Qualität der »verwalteten Welt«. Diese Qualität kommt darin zum
Ausdruck, dass gerade jenes Merkmal, das gemäß der vorherrschenden Selbst-
beschreibung der modernen bürgerlichen Gesellschaft den Menschen erst zum
Individuum macht, nämlich das freie, selbstbestimmte Handeln, keine Bedeutung
mehr besitzt. Eingefügt in das gesellschaftliche Getriebe, werde das Individuum
herabgesetzt zum bloßen Funktionsträger, so dass, überspitzt formuliert, gesagt
werden könnte, »dass es eigentlich Leben im dem Sinn, der mit dem Wort Leben
für uns alle mitschwingt, nicht mehr gäbe« (Horkheimer 1985c, S. 123). Diese
Tendenz ist einem doppelten Mechanismus geschuldet: Mit der zunehmenden
Reglementierung und Regulierung des gesellschaftlichen Lebens oder, wie Hork-
heimer und Adorno es auch ausdrücken, dem Anwachsen der Vergesellschaftung,
korrespondiert ein psychologischer Anpassungsprozess bzw. eine Rekonstruktion
der Subjektivität. Diese besteht darin, dass die Menschen dazu tendieren, »[…] von
sich aus nochmals alle jene Prozesse der Verwaltung in sich selber zu wiederholen,
die ihnen von außen angetan werden. Jeder Einzelne wird gewissermaßen zum
Verwaltungsfunktionär seiner selbst …« (Horkheimer 1985c, S. 124). Mit dieser
Einschätzung bezeichnen Horkheimer und Adorno schon in den 1940er Jahren
eine Form von Subjektivität, die, folgt man den aktuellen Debatten zum »Arbeits-
188 Michael Bruch
Bruch 2002, S. 126ff.). Es geht um die Erzeugung eines die Individuen charak-
terisierenden Verhaltens, um – man denke zurück an die Merkmale des Racket –
die Ausbildung von Gewohnheiten, die die Individuen als Angehörige einer sozia-
len Gruppe oder Gemeinschaft bestimmen. Es geht um die Produktion von Norm
und deren Internalisierung bzw. Einschreibung in die Subjektstruktur. Zwar blei-
ben Einsperrung und Gewalt weiterhin Praxen der Herrschaftsausübung, jedoch
verlieren sie an Bedeutung zugunsten einer Ausrichtung der Subjekte an der Norm.
Herrschaft als Zwang zur Konformität ist es, was Horkheimer und Adorno
exemplarisch anhand der Kulturindustrie vorführen. Ihre Qualität besteht, wie sie
es unter Bezugnahme auf Tocqueville formulieren, darin, dass der Souverän nun
nicht mehr sagt: » […] du sollst denken wie ich oder sterben. Er sagt: es steht dir
frei, nicht zu denken wie ich, dein Leben, deine Güter, alles soll dir bleiben, aber
von diesem Tage an bist du ein Fremdling unter uns« (Horkheimer/Adorno 1997,
S. 158).
Die Veränderung des Verhältnisses von Recht und Machtausübung drückt sich
aus in der veränderten Bedeutung von Gesetz und juristischen Institutionen. Weder
wird das Gesetz aufgelöst, noch verschwinden die Institutionen der Justiz. Das
Gesetz wirkt vielmehr zunehmend als Norm, und die Justiz wird eingereiht in ein
Setting von Bildungs- Wissenschafts-, Gesundheits- und massenmedialen Organi-
sationen, die über die Generierung von Normen regulierend und integrierend
wirken, so dass wir es nicht mit einer »verwalteten Welt«, sondern mit einer
»Normalisierungsgesellschaft« (Foucault 1983, S. 172) zu tun haben.
Über die Norm wird ein Maß produziert, über das individualisiert und identifi-
ziert werden kann und das zugleich die Vergleichbarkeit erlaubt. Dabei wirkt die
Norm nicht nur differenzierend, sondern sie stellt zugleich das Prinzip der Einheit
der Individualisierung dar. Obgleich die Norm Schwellen der Abweichung impli-
ziert, kennt sie kein Äußeres, sondern nur graduelle Abweichungen von ihr.
Das Korrelat des Drucks zur Konfirmierung der Normen ist der Diskurs von
Freiheit und Individualität, der um so mehr zur Ideologie wird, je mehr an die
Stelle der Idee der Gleichheit die der Standardisierung tritt, bzw. Freiheit sich in die
Freiheit zum Immergleichen transformiert.
»Die Art, in der ein junges Mädchen das obligatorische date annimmt und absolviert, der
Tonfall am Telephon und in der vertrautesten Situation, die Wahl der Worte im Gespräch, ja
das ganze nach den Ordnungsbegriffen der heruntergekommenen Tiefenpsychologie aufge-
teilte Innenleben bezeugen den Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu ma-
chen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell
entspricht. Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so voll-
kommen verdinglicht, daß die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit
noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße
Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.« (Horkheimer/Adorno 1997,
S. 195 f.)
190 Michael Bruch
5.
Die Macht der Norm beschränkt sich in ihrer Wirkung nicht auf die Individuen
(s. dazu auch Fromm 1983, Adorno 1973). In der Konstitution eines normativen
Raumes wirkt sie gleichermaßen auf die gesellschaftlichen Institutionen. Sie produ-
ziert homogenisierende Effekte, die, wie Foucault in Überwachen und Strafen
gezeigt hat, in der institutionellen Isomorphie von Schule, Fabrik, Spital und
Gefängnis bzw., wie oben ausgeführt, in der Organisationsform zum Ausdruck
kommt. Es lässt sich beobachten, dass diese homogenisierenden Effekte nicht auf
die westlichen Länder begrenzt sind, sondern eine globale Wirkung entfalten, so
dass davon auszugehen ist, dass sich der Globalisierungsprozess nicht allein auf die
Entfaltung der Produktivkraftentwicklung (Horkheimer 1970, S. 83 u. 1985j,
S. 354) und die expansive Dynamik der kapitalistisch verfassten Ökonomie zurück-
führen lässt.
Wie Stuart Hall gezeigt hat, ist ›der Westen‹ nicht als geographisches, sondern als
historisches Konstrukt und Konzept zu begreifen. Dabei sind vor allem zwei
Aspekte wichtig. Zum einen liefert ›der Westen‹ als normatives Konzept einen
Maßstab der Vergleichbarkeit, an dem die verschiedenen Gesellschaften gemessen
und bewertet werden können, und zum anderen produziert es, indem es die Denk-
und Sprechweisen in spezifischer Weise konfiguriert, Wissen (Hall 1994, S. 138 f.).
Wie Hall weiter ausführt, entwickelte sich dieses Konzept zum organisierenden
Faktor eines Systems globaler Machtbeziehungen. Es stellt sich nun die Frage,
welche Gründe dafür verantwortlich gemacht werden können. Dazu lässt sich an
die kulturtheoretisch orientierten Arbeiten des Neoinstitutionalismus anknüpfen.
Während etwa Immanuel Wallerstein (1989) den zur Gestalt des Universalismus
geformten Denk- und Wissensformen nur eine die Kapitallogik flankierende Funk-
tion zuschreibt, kommen die Neoinstitutionalisten zu dem Ergebnis, dass die
Hegemonie der westlichen Kultur und ihre expansive Dynamik zurückzuführen ist
auf die Formierung der modernen, okzidentalen Denk- und Wissensformen als
Institution, d. h. als verfestigte, unhinterfragte Regeln, die die zentralen gesell-
schaftlichen Akteure wie den Staat, das Individuum und Organisationen kon-
stituieren (Boli-Bennett 1980, Meyer 1980). Institutionen werden von ihnen be-
griffen
»[…]as cultural accounts under whose authority action occurs and social units claim their
standing. The term account here takes on a double meaning. Institutions are descriptions of
reality, explanations of what is and what is not, what can be and what cannot. They are
accounts of how social world works, and they make it possible to find order in a world that is
disorderly. At the same time, in the Western rationalizing process, institutions are structured
accounting systems that show how social units and their actions accumulate value (in
monetary, scientific, moral, historical, and other forms) and generate progress and justice on
an ongoing basis.« (Meyer/Boli/Thomas 1994, S. 24 f.)
Die Adaption der westlich geprägten Institutionen ist dabei nicht nur Resultat
»äußeren« Drucks und Zwangs durch die global orientierten und operierenden
supranationalen Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfond,
UNO etc. Den Eliten der Peripherie eröffnet die Übernahme der westlichen
Institutionen aufgrund ihrer Legitimitätseffekte die Möglichkeit, über die Ent-
kopplung der materiellen Prozesse von der institutionellen Form erstere nach
außen abzusichern.
»It is easier to create a cabinet ministry with appropriate policies for education or for the
protection of women than build schools and organize social services implementing these
policies. It is easier to plan economic development than to generate capital or technical and
labor skills that can make development happen. Hence, the logic of copying external defined
identities promotes profound decoupling. Any rationalized ›actor‹, whether an individual,
organisation, or nation-state, reveals much decoupling between formal models and observable
practices.« (Meyer/Boli/Thomas 1997, S. 154 f.)
stitutionen zu verdecken. Wie Marx schon mit seiner Kritik der politischen Öko-
nomie hat verdeutlichen wollen, hat die mit der bürgerlichen Revolution entstan-
dene formale Gleichheit der Menschen nur dazu beigetragen, die Ungleichheit
ihrer materiellen Lebensbedingungen auf ein neues Fundament zu stellen. Die
Entwicklungen seither haben nicht, wie Horkheimer und Adorno fälschlich ange-
nommen haben, zur materiellen Gleichheit der Menschen beim gleichzeitigen
Verlust ihrer Individualität geführt (Horkheimer 1985b, S. 347, 1985c, S. 340).
Worin sich ihre Prognosen der »verwalten Welt« jedoch weitgehend bewahrheitet
haben, ist die Tendenz zur Ausbildung einer Welt, die schon im Wissen keine
Alternative mehr kennt. »There is no more outside.«
Literatur
Fromm, Erich (1983): Die Furcht vor der Freiheit, Frankfurt a. M./Berlin/Wien
Gangl, Manfred (1987): Politische Ökonomie und Kritische Theorie. Ein Beitrag zur theo-
retischen Entwicklung der Frankfurter Schule, Frankfurt a. M./New York
Hall, Stuart (1994): Der Westen und der Rest: Diskurs und Macht, in: ders.: Rassismus und
kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Hamburg, S. 137–180
Hilferding, Rudolf (1924): Probleme der Zeit, in: Die Gesellschaft, 1. Jg., Nr. 1, S. 1–17
Horkheimer, Max (1970): Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kom-
mentaren von Hellmut Gumnior, Hamburg
– (1985a): Die Rackets und der Geist, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 12, Frankfurt a. M., S. 287–
291
– (1985b): Kritische Theorie gestern und heute, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt
a. M., S. 336–354
– (1985c): Die verwaltete Welt oder: Die Krise des Individuums (Gespräch mit Th. W.
Adorno und E. Kogon, 1950), in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 13, Frankfurt a. M., S. 121–143
– (1985d): Memorandum to Dr. T.W.A., N.I.L.P. F. from Dr. M. H., M.A.M.U. January 11,
1945, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 12, Frankfurt a. M., S. 307–308
– (1985h): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, Frankfurt a. M.
– (1985i [1969/74]): Dokumente – Stationen (Gespräch mit Otmar Hersche), in: ders.: Ges.
Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M., S. 317–345
– (1985j [1970]): »Was wir ›Sinn‹ nennen, wird verschwinden.« Gespräch mit Georg Wolff
und Helmut Gumnior, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M., S. 345–357
– (1985k [1970]): Verwaltete Welt. Gespräch mit Otmar Hersche, in: ders.: Ges. Schriften,
Bd. 7, Frankfurt a. M., S. 363–384
– (1997): Autoritärer Staat, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M., S. 293–320
–/Adorno, Theodor W. (1997): Dialektik der Aufklärung, in: Horkheimer, M.: Ges. Schriften,
Bd. 5, Frankfurt a. M., S. 13–293
Kocka, Jürgen (1969): Industrielles Management: Konzeptionen und Modelle in Deutschland
vor 1914, in: Vierteljahreszeitschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Nr. 56, S. 332–
372
– (1970): Vorindustrielle Faktoren in der deutschen Industrialisierung. Industriebürokratie
und »neuer Mittelstand«, in: Stürmer, M. (Hg.): Das kaiserliche Deutschland. Politik und
Gesellschaft 1870–1918, Düsseldorf, S. 265–287
Lenin, W. I. (1961): Wie soll man den Wettbewerb organisieren?, in: Lenin, Werke, Bd. 26,
Berlin, S. 402–414
– (1979): Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus, Berlin
Marglin, Steven A. (1977): Was tun die Vorgesetzten? Ursprünge und Funktionen der
Hierarchie in der kapitalistischen Produktion, in: Duve, Freimut (Hg.), Technologie und
Politik, H. 8, S. 148–203
Marx, Karl (1970): Resultate des unmittelbaren Produktionsprozesses, Frankfurt a. M.
– (1979): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, Bd. 1, in: MEW, Bd. 23, Berlin
–/Engels, Friedrich (1983): Das Manifest der kommunistischen Partei, in: MEW, Bd. 4,
Berlin
Mead, George Herbert (1973): Geist, Identität und Gesellschaft, Frankfurt a. M.
Meyer, John W. (1980): The World Politic and the Authority of the Nation-State, in:
Bergesen, Albert (Hg.): Studies of the Modern World-System, New York
–/Boli, John/Thomas, G. M. (1994): Ontology and Rationalization in the Western Cultural
Account. In: Scott, W. Richard/Meyer, John W. (Hg.): Institutional environments and
organizations: Structural complexity and individualism, Thousand Oaks etc., S. 9–27
Meyer, John W./Boli, John/Thomas G. M./Ramirez, F. (1997): World Society and the Nation-
State, in: American Journal of Sociology, Vol. 103, S. 144–181
Morus/Campanella/Bacon (1983): Der utopische Staat, Reinbek bei Hamburg
194 Michael Bruch
Oestreich, Gerhard (1969): Strukturprobleme des europäischen Absolutismus. In: ders.: Geist
und Gestalt des frühmodernen Staates. Berlin, S. 179–197.
Pollock, Friedrich (1984): Staatskapitalismus, in: Dubiel, Helmut/Söllner, Alfons (Hg.): Wirt-
schaft und Recht im Nationalsozialismus. Analysen des Instituts für Sozialforschung
1939–1942, Frankfurt a. M., S. 81–111
Reijen, Willem van/Bransen, Jan (1997): Das Verschwinden der Klassengeschichte in der
›Dialektik der Aufklärung‹. Ein Kommentar zu den Textvarianten der Buchausgabe von
1947 gegenüber der Erstveröffentlichung von 1944, in: Horkheimer, Max: Ges. Schriften,
Bd. 5, Frankfurt a. M., S. 453–458
Roth, Joseph (1983): Brief an Klaus Mann, in: Raddatz, Fritz J.: Eros und Tod. Literarische
Portraits, Frankfurt a. M.
Taylor, Frederick W. (1977 [1911]): Grundzüge einer wissenschaftlichen Betriebsführung,
Weinheim
Türk, Klaus (1997): Organisation als Institution der kapitalistischen Gesellschaftsformation,
in: Ortmann, Günther/Sydow, Jörg/Türk, Klaus (Hg.): Theorien der Organisation. Die
Rückkehr der Gesellschaft, Opladen, S. 124–177
Türk, Klaus/Lemke, Thomas/Bruch, Michael (2002): Organisation in der modernen Gesell-
schaft. Eine historische Einführung, Wiesbaden
Voß, Gert Günter/Pongratz, Hans J. (1998): Der Arbeitskraftunternehmer. Eine neue Grund-
form der Ware Arbeitskraft?, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
Jg. 50, H. 1., S. 131–158
Wallerstein, Immanuel (1989): Der historische Kapitalismus, Hamburg
Weber, Max (1984): Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.: Die
protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hg. v. J. Winckelmann, Gütersloh
Wehler, Hans-Ulrich (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band. Von der ›Deut-
schen Doppelrevolution‹ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit
Michael Vester
Eine der wichtigsten Fragestellungen, aus denen die Frankfurter Schule entstand
und der sie lange ihre Arbeit widmete, galt einem spezifischen Problem des
»falschen Bewusstseins«. Ende der 1920er Jahre schien sich für viele linke Intel-
lektuelle die Prognose des Marxismus zu erfüllen, dass die Mehrheit der früheren
kleinbürgerlichen Klassen in die Lohnabhängigkeit und in die Erfahrung von
Wirtschaftskrisen abgestiegen war. Warum aber führte diese »Proletarisierung«
nicht zu der erwarteten Rebellion gegen die Ursache des Übels, den Kapitalismus,
oder mindestens zu Wahlerfolgen der Linken? Warum handelten stattdessen große
Teile der Arbeiter und Angestellten gegen ihre »wohlverstandenen Interessen«,
indem sie die Partei Hitlers, die im Bündnis mit dem Kapital stand, wählten?
Die Erklärung der 1917 in Russland zur Macht gelangten Kommunisten, dass
die Arbeiter im Westen durch eine »falsche« parteipolitische Führung der Sozial-
demokratie oder durch die bürgerliche Propaganda ihren wahren Interessen ent-
fremdet worden waren, reichte vielen kritischen Intellektuellen nicht aus, zumal sie
sich selbst zunehmend vom aufsteigenden Stalinismus enttäuscht sahen. Dass
schließlich in Deutschland und Italien so viele Angehörige der unteren Klassen der
faschistischen Massendemagogie folgten, musste auch Gründe in der seelischen
Verfassung der Menschen, in ihrem Bedürfnis nach autoritären Führern haben.
Wer seinen »rationalen Interessen« so zuwider handelte, konnte nur als »irratio-
nal« gelten. Als Erklärung für diese Irrationalität bot sich die Theorie Sigmund
Freuds an. Linke Freudianer und linke Marxisten wie Wilhelm Reich (1933)
versuchten, die »Schere« zwischen den wohlverstandenen Interessen und der em-
pirischen Option für den Faschismus aus der kindlichen Charakterformierung,
insbesondere der »analen« Ordnungsdressur und aus der »sado-masochistischen«
Autoritätskonstellation in den Familien, zu erklären.
Wie aber waren diese autoritären Erziehungsmuster mit der Zugehörigkeit zu
bestimmten sozialen Klassen verbunden? Erich Fromm, neben Wilhelm Reich
Pionier dieser neuen Forschungsrichtung, näherte sich in seinen frühen Studien
dem Problem von zwei Seiten, von der frühkindlichen Entwicklungen und von den
Alltagsideologien her. Einerseits glaubte er, in der analen Ordnungserziehung die
Grundlage des kapitalistischen Sparzwangs, der Triebunterdrückung und damit
auch der Entfremdung von den wahren Interessen zu entdecken (Fromm 1970).
Andererseits leitete er die erste empirische Untersuchung, die den Zusammenhang
autoritärer Einstellungen mit der Zugehörigkeit zu bestimmten berufsstatistisch
unterscheidbaren Gruppen klären wollte (Fromm 1983 [1929]). Die Ergebnisse
waren verwirrend. Autoritäre Einstellungen wurden bei einem nicht unerheblichen
Anteil der »Arbeiter und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches« – so der
Titel der späteren Veröffentlichung – gefunden.
Wie war dieser Befund zu interpretieren? Es entstand der Eindruck, dass
196 Michael Vester
autoritäre Mentalitäten über ›alle‹ sozialen Schichten oder Klassen verbreitet wa-
ren. Viele Marxisten sahen ihre Vermutung widerlegt, dass demokratische Ein-
stellungen unten und autoritäre Einstellungen oben in der Gesellschaft zu verorten
seien. War dann der Unterschied von demokratischen und autoritären politischen
Lagern gar kein Klassenunterschied, sondern ein Unterschied zwischen aufge-
klärten und unaufgeklärten, gebildeten und ungebildeten Menschen?
Von hier wäre es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Hypothese der
konservativen »Soziologie der Demokratie« von Seymour Martin Lipset (1962)
gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg den vermuteten Autoritarismus der
Arbeitermassen und ihre Neigung zu totalitären Parteien der Rechten und der
Linken aus ihrem Mangel an Bildung zu erklären suchte und damit die Gebildeten
zur einzigen legitimen und aufgeklärten Elite der Gesellschaft erklärte. Demnach
wäre der Unterschied zwischen autoritären und demokratischen Grundeinstellun-
gen nur ein Ausdruck des Unterschieds von »Eliten« und »Massen«, dem allein
durch Bildung bzw. durch Emporhebung der Milieus der körperlichen Arbeit in
die Milieus der geistigen Arbeit und in ihre gewaltfreie Gesittung abzuhelfen
wäre.
Obwohl diese – nicht nur von Lipset vertretene – Hypothese und die in ihr
enthaltene Apotheose der Intellektuellen (Bourdieu 1982, S. 677) von Anfang an
eine große Suggestivkraft für die Intellektuellen und auch für viele Anhänger der
Autoritarismusforschung der Frankfurter Schule besaß, darf nicht vergessen wer-
den, dass die ›offizielle‹ Frankfurter Schule diese Frage bis zuletzt, d. h. bis zu der
abschließenden, methodologisch weiterweisenden Untersuchung von Michaela von
Freyhold (1971), offenhielt. Diese Offenhalten bedeutet zweierlei. Zum einen
wurden im weiteren Verlauf der Autoritarismusforschung bedeutende Erkenntnis-
fortschritte erarbeitet. Zugleich blieb diese weitere Forschung im Rahmen eines
theoretischen und methodologischen Paradigmas, das einer Klärung dieser Frage
im Weg stand. Damit konnte auch das konservative Vorurteil nicht ausgeräumt
werden, dass der Gegensatz von demokratischem und autoritärem Verhalten auf
den Gegensatz zwischen »Elite« und »Masse« zurückzuführen sei.
Ein Bruch mit der konventionellen Klassenanalyse wurde erst durch die englischen
»kulturellen Materialisten« und durch Pierre Bourdieu möglich, die den Zusam-
menhang von Klassenzugehörigkeit und Mentalitätsform wieder analysierbar
machten. Auf ihren Ansätzen aufbauend, lässt sich zeigen, dass auch der Unter-
schied zwischen demokratischen und autoritätsgebundenen Grundeinstellungen
nicht nur aus dem Gegensatz von »rational« und »irrational« erklärt werden kann,
sondern durchaus mit bestimmten Klassenlagen und -erfahrungen verbunden ist.
Die Lösung des Problems, die in diesem Aufsatz entwickelt wird, erscheint im
Resultat überraschend einfach. Der Autoritarismus kann nicht in der Klassenstruk-
tur verortet werden, wenn diese auf vertikale und ökonomische Dimensionen
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 197
verkürzt wird. Beziehen wir aber auch die horizontale und die alltagskulturelle
Dimension ein, so wird erkennbar, dass die autoritären Potentiale vor allem in den
Klassenkulturen am rechten Pol des sozialen Raums reproduziert werden. Theo-
retisch und methodologisch waren aber erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden,
um zu diesem dialektischen Klassenkonzept zu gelangen.
Die Schwierigkeiten lagen vor allem in den intellektuellen Konventionen, deren
Hartnäckigkeit Pierre Bourdieu damit erklärt, dass die Intellektuellen ihre eigene
Klassenstellung selten reflektieren. Aufgrund dieser theoretischen und methodolo-
gischen Konventionen haben, so meine These, auch die Untersuchung von Erich
Fromm und die späteren Studien des Instituts für Sozialforschung den Zusammen-
hang von Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit nicht auffinden können. Sie
fanden entweder autoritäre Dispositonen in ›allen‹ sozialen Schichten (Fromm
1983) oder sie gestanden ein, dass die Stichproben ihrer Befragungen einen ›middle
class bias‹ hatten, d. h. nicht genügend Fälle aus den unteren und den weniger
gebildeten Schichten enthielten (Adorno u. a. 1950, von Freyhold 1971). Zusam-
menfassend forderte Michaela von Freyhold (1971, S. 177, 252) mit Bezug auf eine
neuere Studie: »Aussagen über sozialstatistische Merkmale einzelner Typen können
lediglich hypothetischen Charakter beanspruchen, da die Auswahl der Befragten
nicht unter dem Gesichtspunkt der Repräsentanz erfolgte. […] Eine repräsentative
Untersuchung, in der man neben der A-Skala eine kürzere Variante des Intensiv-
Interviews verwenden könnte, wäre notwendig, um die soziale Herkunft der
einzelnen Syndrome zu ermitteln […]«.
Die theoretischen Ursachen dieser Erkenntnisblockade liegen, so scheint mir, in
dem herkömmlichen Verständnis der Klassenstruktur, das die Analyse auf die
vertikale und die ökonomische Dimension der Ungleichheit verengt. In blinder
Gewohnheit werden soziale Ungleichheiten auf Unterschiede der Berufs- und
Bildungsstatistik und auf das vertikale Herrschaftsgefälle der Gesellschaft redu-
ziert.
Dieser Reduktionismus mag, wie Bourdieu hervorhebt, damit zusammenhän-
gen, dass gerade kritische Intellektuelle sich gern als klassenlose Aufklärer ver-
stehen und daher Reflexionen darüber für überflüssig halten, ob ihr eigenes Gesell-
schaftsbild durch eine intellektuelle Perspektive von oben verzerrt sei. Aus dieser
Sicht stellen sich die Unterschiede der Kultur häufig nur als die Differenz zwischen
»höherer Bildung« und »Unbildung« dar. Der Sinn der Volksklassen für das
praktisch Nützliche wird als Materialismus abgewertet, ihre bildhafte Sprache als
Mangel an Elaboration, ihr Sinn für das Körperliche als Affinität zur Gewalt.
Durch diese vertikalisierenden Schemata der Bewertung und Abwertung geraten
die kulturellen und horizontalen Klassenunterschiede, die mit der Art der Lebens-
führung, des Geschmacks und der Alltagspraxis zu tun haben, aus dem Blick.
Horizontale Differenzierungen innerhalb der Volksklassen, etwa zwischen den
Milieus der körperlichen Arbeit und der Facharbeit werden nicht erkannt oder
abgewertet. So wird am Bildungsstreben der Facharbeiter gern das Schulmäßige,
Fleißige, Angepaßte oder gar »Kleinbürgerliche« herausgehoben, das das grandiose
Selbstbild des charismatischen Intellektuellen umso mehr leuchten lässt. Oder die
kulturellen Unterschiede werden gesehen, aber durch Ästhetisierung abgewehrt,
198 Michael Vester
indem sie geschmäcklerisch beschrieben werden, ohne Blick auf das Leiden an
sozialer Ungerechtigkeit.
Für die Klassenperspektive der Intellektuellen wie auch für die Defizite der
herkömmlichen Klassentheorie ist in den 1960er Jahren, in denen die Frankfurter
Schule eine besondere Ausstrahlung gewann, bei einer Minderheit der kritischen
Intellektuellen ein zunehmendes Bewusstsein entstanden. Der Impuls kam aus dem
Umfeld des Frankfurter Instituts, dessen Studierende und jüngere Mitarbeiter in
den frühen 1960er Jahren häufig dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund
(SDS) und der nichtkommunistischen Linken anhingen (vgl. Demirovic 1999). Die
Nähe des Instituts motivierte seinerseits die sozialistischen Studenten in Frankfurt,
die Defizite der alten Orthodoxien nicht nur politisch, sondern auch theoretisch
aufzuarbeiten. Hierzu gehörte nicht zuletzt die Wiederaneignung der durch Fa-
schismus, Stalinismus und Kalten Krieg verdrängten Theorien früherer und neuerer
Dissidenten des Marxismus, die mit den alten autoritären und ökonomistischen
Orthodoxien gebrochen hatten.
Im Vordergrund dieser Versuche, theoretische Verengungen rückgängig zu ma-
chen, standen zunächst historische Autoren wie Rosa Luxemburg, Karl Korsch,
Wilhelm Reich und die frühe Frankfurter Schule, die ja – etwa in Autorität und
Familie (Fromm u. a. 1936) – ein breites Spektrum von ökonomischen, sozial-
historischen, sozialpsychologischen sowie kultur- und familiensoziologischen Per-
spektiven und Autoren repräsentierte. Die intensive Wiederaneignung dieser ver-
schütteten Traditionen, zu der auch die ersten Raubdrucke der vergessenen Bücher
beitrugen, war das Projekt von antiautoritären Sozialisten wie Monika Seifert-
Mitscherlich, Günter Amendt und Reimut Reiche, die die neuen Denkrichtungen
und neuen Bewegungen für eine antiautoritäre Erziehung und Kultur begründeten.
Als Motiv nannten sie alle ausdrücklich und unter Berufung auf die Frankfurter
Autoritarismusforschung, dass diese neue Erziehung und Kultur dazu beitragen
sollte, eine Wiederkehr des Faschismus zu verhindern.
Gleichzeitig entwickelte sich ein reger Austausch mit den linken Dissidenten in
Osteuropa sowie auch der frühen neuen Linken in Frankreich, Italien, England
und den USA. Diese vielfältigen Impulse haben Forschungen zu vielen Fragen
angeregt. Für die Fragestellung von Klasse und Kultur haben vor allem zwei
miteinander verbundene Einflüsse Gewicht erlangt. Ein starker Bezugspunkt
wurde der internationale Ouvrierismus, der sich auf den Sozialismus der Arbeiter-
räte und der Arbeiterintelligenz berief und für den in Frankfurt Monika Seifert-
Mitscherlich und in Göttingen Peter von Oertzen (vgl. von Oertzen 1976 [1963])
stand. Damit mussten aber auch die soziologischen Ansätze, die in den Arbeitern
nur die bewusstlosen, passiven und intellektuell führungsbedürftigen Opfer sehen
wollte, in Frage gestellt werden. Hier haben die Forschungen der englischen New
Left und später Pierre Bourdieus Bedeutung erlangt. (Allerdings war dieser Ou-
vrierismus nur eine von mehreren Strömungen, da in Frankfurt auch ein fruchtba-
rer Nährboden für leninistische Parteikonzepte, wie sie Georg Lukács (1923)
vertrat, und für Bewegungen der Marginalisierten, wie sie Herbert Marcuse (1967
[1964]) vertrat, bestand.)
Aus der New Left erlangten die Arbeiten zum Zusammenhang von Klassen und
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 199
Der entscheidende Impuls des Ansatzes Bourdieus und des verwandten Ansatzes
von Williams und seinen Kollegen lag in dem Bruch mit dem idealistischen
Konzept von Kultur, welches die sozialen Bewusstseinsformen allein aus der
Perspektive der Hochkultur, wie sie sich in theoretischen Diskursen, in Ideologien
und in der Ästhetik ausdrückten, betrachtete. Bourdieu und Williams stellten dem
eine »materialistische« Wendung entgegen, indem sie den geisteswissenschaftlichen
Kulturbegriff durch den ethnologischen Kulturbegriff ersetzten, für den das Sym-
200 Michael Vester
bolische noch mit der Struktur sozialer Beziehungen und der Geschmack noch mit
dem Schmecken zu tun hat. Die westdeutschen Diskussionen, die darüber in den
1970er Jahren in der Berliner Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation geführt
wurden, brachten dies auf die Formel »Was dem Bürger sein Goethe, ist dem
Arbeiter seine Solidarität«, und diese wurde, über einen programmatischen Aufsatz
(Vester 1976), auch zur Parole.
Das neue Paradigma definierte Klasse nicht nach ökonomischen Interessen oder
statistischen Standards, sondern als einen »whole way of life« (Williams), als
Alltagskultur mit eigenen Prinzipien der Lebensweise, des Geschmacks und der
Alltagsmoral. Bekannt wurde diese Sichtweise zuerst durch die historische Unter-
suchung Culture and Society, in der Williams die Kulturen des Bürgertums und der
Arbeiterklasse einander gegenübergestellte (Williams 1963). Für uns Jüngere, die
bis dahin über die Forschungen Adornos und des Instituts für Sozialforschung zur
Analyse von Typen und Syndromen der Persönlichkeit gekommen waren, füllte
dies die entscheidende Lücke.
Denn die Frankfurter Ansätze legten ihr Augenmerk besonders auf die beiden
äußeren Pole der Persönlichkeitsstruktur: einerseits auf die individuelle psychische
Tiefendynamik und andererseits auf die Legitimationen, wie sie sich in den faschis-
tischen Ideologien und in den Alltagsstereotypen faschistoider Persönlichkeiten
der Analyse anboten. Für diese beiden Bereiche waren und sind die Konzepte der
Frankfurter Schule besonders entwickelt, die sich methodologisch auf die klinische
Diagnostik der Psychoanalyse und die qualitative Inhaltsanalyse bzw. Ideologiekri-
tik stützen. Die »ethnologische« Ebene war dagegen nicht eigenständig und kon-
zeptionell durchgearbeitet. Adorno war dieser zwischen den beiden Polen liegende
Bereich der gesellschaftlichen Normen und der von Gruppenzusammenhängen
ausgeübten sozialen Kontrolle als ein Hindernis der individuellen Autonomie und
Reflexion tief suspekt. Die Möglichkeit emanzipatorischer Milieukulturen stand
ihm nicht vor Augen. Wir sahen dagegen in der von Williams begründeten neuen
Forschungsrichtung eine neue Perspektive, mit der weitergearbeitet werden
konnte, ohne dass es nötig war, die Leistungen der Frankfurter Schule auf den
anderen beiden Ebenen abzuwerten.
Mit der Möglichkeit, aus sozio-kulturellen Deutungs- und Handlungsmustern
Habitustypen zu bestimmen, waren jedoch nicht alle Probleme gelöst. Ein ab-
schreckendes Beispiel war seit den 1980er Jahren die zunehmende Produktion von
Typologien der Lebensstile, die eine bunte Vielfalt ausdrückten, ohne zu fragen, ob
und wie diese Milieus miteinander eine Konfiguration von gesellschaftlichen Bezie-
hungen bildeten. Die (»horizontalen«) Differenzierungstheorien hatten demgegen-
über noch angegeben, wie die verschiedenen Berufsgruppen durch Funktions- oder
Arbeitsteilungen zusammenhingen. Die (»vertikalen«) Konflikttheorien hatten the-
matisiert, wie die Erwerbsgruppen durch Herrschaftsbeziehungen, Konflikte und
Aushandlungsweisen aufeinander verwiesen waren. Sollte nun auf die Darstellung
gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge ganz verzichtet werden?
Bourdieu entwickelte hierfür ganz unprätentiös, aus der praktischen Methodo-
logie des sozialen Raums heraus, eine Lösung, die geeignet ist, auch die Theorie der
sozialen Klassen zu revolutionieren. Seine Landkarte des sozialen Raums (Bour-
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 201
dieu 1982, S. 212 f.) ist zum einen verblüffend einfach, insofern sie die vertikale
Dimension der Herrschaft und die horizontale der Funktionsteilung nicht gegen-
einander ausspielt, sondern, als Grundachsen des sozialen Raums, miteinander
kombiniert. Sie ist zum anderen hochkomplex, weil Bourdieu – in unserer Inter-
pretation – diesen sozialen Raum nicht als geschlossenes System statischer Fest-
legungen oder Schubladen, sondern als offenes, bewegtes und differenziertes Kräf-
tefeld mit sehr verschiedenen Handlungsebenen auffaßt.
Das Achsenkonzept lässt sich weiterdenken (vgl. Vester u. a. 2001). Die beiden
Grundachsen entsprechen einem zentralen Theorem von Marx, dem Widerspruch
zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Dieses Theo-
rem lässt sich auch auf die nichtökonomischen Bereiche der Gesellschaft aus-
weiten.
Die horizontale Achse entspricht dabei der Dynamik, durch die sich in der
bürgerlichen Gesellschaft eine zunehmende Arbeitsteilung, Spezialisierung und
intellektuelle Kompetenz herausgebildet hat, in der schon Durkheim (1988
[1893/1902]) das Streben nach Individualität und Emanzipation angelegt sah, also
durchaus nicht nur Konformismus, wie ihm dies Adorno unterstellte. Parallel zur
beruflichen Differenzierung bilden die Milieus in einem aktiven, also nicht aus dem
Ökonomischen direkt ableitbaren Prozess auch eine kulturelle Differenzierung
heraus, in der die nichtautoritären Werte, die Selbst- und Mitbestimmung, Fach-
kompetenz und kulturelles Kapital an Gewicht gewinnen. Clarke, Hall u. a. (1979)
sehen hier die Jugendkulturen, die sich mit der Stammkultur ihrer Eltern und mit
der hegemonialen Kultur der Gesellschaft auseinandersetzen, als treibendes Mo-
ment. Dabei wird aber, so betonen die Autoren, die Klassenkultur der Eltern-
generation nicht aufgegeben, sondern modifiziert. Die neuen Lebensstil- und
Habitusformen wären demnach kein Bruch mit der alten Klassenkultur, sondern
eine Modernisierung im Rahmen ihrer Grundwerte. Die Klassenkulturen ver-
schwinden nicht, sondern fächern sich nach Art von Familienstammbäumen weiter
auf. – Insgesamt lässt sich nachweisen, dass zum linken Pol hin die autoritären
Dispositionen immer mehr abnehmen, allerdings nicht als ein automatischer Effekt
von Bildung, sondern durch die Kämpfe um mehr Selbst- und Mitbestimmung.
Auch die vertikale Achse, die das Verhältnis zwischen Herrschenden und Be-
herrschten ausdrückt, kann dynamisch verstanden werden. Die Akteure stehen sich
hier nicht nur in statischen Konstellationen von Mächtigen und Ohnmächtigen
gegenüber, sondern kämpfen auch um Einfluss, Macht und Chancen, in den
Formen der individuellen Konkurrenz, der sozialen Bewegungen und der verband-
lichen, betrieblichen, politischen und kulturellen Gegenmächte. In diesen Kämpfen
können, wie Durkheim (1988) ausführt, die beherrschten Milieus ihre Kräfte
vermöge ihrer auf der ersten Achse wachsenden intellektuellen und kulturellen
Kompetenzen mehren, d. h. einen wachsenden Druck für mehr Teilhabe, Selbst-
bestimmung und demokratische Mitwirkung aufbauen. Hiergegen ist › so sehen
wir heute wieder, als Gegenbewegung eine rechtspopulistische Mobilisierung der
autoritären Potentiale am rechten Rand der mittleren und unteren Milieus mög-
lich.
Schon aus dieser knappen Beschreibung der beiden Grunddimensionen ist
202 Michael Vester
ersichtlich, dass der soziale Raum sich zusätzlich in zwei weiteren Dimensionen
aufspannt. Zum einen ist das soziale Handeln nicht aus einer einzigen Ebene, etwa
der ökonomischen, ableitbar, sondern es differenziert sich in verschiedene Hand-
lungsebenen mit je eigenen, »relativ autonomen« (Bourdieu) Feldlogiken. In den
Feldern des Privatlebens, des Ökonomischen, des Kulturellen, des Politischen
gelten bis zu einem gewissen Grade jeweils eigene »Spielregeln« (Bourdieu). In der
vierten Dimension, der Zeit, geht es um die Praxis der Akteure zwischen Wandel
und Beharrung. Wie Bourdieu (1983) in Anlehnung an die Relativitätstheorie
ausführt, nehmen die Akteure dabei auch verschiedene Aggregatzustände an, die
ihren jeweiligen Ressourcen und Strategien wie auch den Felddynamiken entspre-
chen.
Bourdieu versteht die soziale Welt nicht als »System«, sondern als Kräftefeld,
mit statischen Momenten (wie verfestigten Spielregeln und akkumulierten Macht-
positionen) und mit dynamischen Momenten (den Kämpfen in den Regeln und
Positionen und auch um die Regeln und Positionen). Damit faßt er auch die beiden
theoretischen Momente in ein dialektisches Konzept zusammen, die in den Struk-
turtheorien (die die Regeln und Positionsgefüge verabsolutieren) und den phäno-
menologischen Theorien (die die Konstruktion durch die Akteure verabsolutieren)
auseinanderfallen.
Durch das Konzept des Feldes ergibt sich eine weitere, bisher weniger beachtete
enge Korrespondenz zu den englischen Theorien, insbesondere zu Thompson, der
seinerseits eine der größten gesamtgesellschaftlichen Transformationen, die eng-
lische industrielle Revolution, als Prozess eines differenzierten »field of force« neu
analysiert und damit auch Friedrich Engels‹ These von der Verelendung als Trieb-
kraft der Revolution außer Kraft gesetzt hat (Thompson 1963, 1980b). So, wie
Bourdieu für die Kulturtheorie von Williams besondere Hochachtung hatte, so
erkannte er in Thompson nicht nur den historischen Empiriker, sondern, mit
seinem »Konzept des Feldes«, auch den Initiator einer theoretischen Revolution.
Personality (Adorno u. a. 1950) wurden auch alle diese Dimensionen mit qualita-
tiven und quantitativen Verfahren untersucht.
Die Wirkungsgeschichte dieses Buches ist demgegenüber durch eine Verengung
auf ein Untersuchungsinstrument gekennzeichnet, das den Autoritarismus als eine
einzige Dimension zu messen vorgibt. Dieses, die sog. F(aschismus)- oder A(utori-
tarismus)-Skala, war zwar aus umfangreicheren Skalen zu den antisemitischen,
ethnozentrischen und politisch-ideologischen Vorurteilsstrukturen entwickelt wor-
den, die viele Dimensionen abbildeten (Adorno u. a. 1950, S. 57–279). Aber es
wurde dann auf eine einzige Dimension, das »Messen impliziter antidemokra-
tischer Tendenzen« (ebd., S. 222) durch eine Skala von schließlich etwa elf State-
ments reduziert. Für unterschiedlich positive oder negative Bewertungen der State-
ments wurden Punkte vergeben, die dann das Maß des Autoritarismus abgeben
sollten. Die Skala wurde sogar über statistische Tests und qualitative Befragungen
erfolgreich validiert. Dieser Umstand hat zu einem naiven Glauben geführt, mit der
Skala überall gültige Messungen autoritärer Potentiale durchführen zu können. Ich
habe dies selbst mit Erschrecken festgestellt, als ich 1961 im Auftrag des Frank-
furter Instituts in New York die Dissertationen durchgesehen habe, die seit 1950
die F-Skala benutzt hatten.
Das Problem der Skala war nicht nur die Reduktion auf eine einzige Mess-
dimension, sondern auch der Umstand, dass die Überprüfung der Gültigkeit über
Stichproben von Befragten stattfand, die die Milieus von College-Studierenden und
Angehörigen der Mittelklasse bevorzugten. Heterogenere Stichproben, die auch
Arbeitermilieus – die Wertedimensionen anders kombinieren – einbezogen hätten,
hätten voraussichtlich die Grenzen der Skala gezeigt.
Es bleibt notwendig, die verschiedenen Dimensionen des Habitus und ebenso
die erwähnten drei hauptsächlichen Handlungsebenen des Habitus analytisch
streng zu unterscheiden: die Tiefendynamik des Charakters mit den psycho-
analytischen Methoden, die Muster der alltäglichen Lebensführung mit kultur-
soziologisch-ethnologischen Methoden und die ideologisch-weltanschaulichen
Muster mit den Methoden der ideologiekritische Inhaltsanalyse und der politischen
Soziologie.
Empirisch ergeben sich Verhaltensmuster nicht aus ersten Ursachen und einer
einzigen Dimension, sondern aus dem Zusammenwirken aller sozialen Instanzen
und Kontexte in den sozialen Beziehungsfeldern, die einmal vorhandene Dis-
positionen auch abwandeln. Daraus ergibt sich, dass die Habitustypen nicht wie
Schubkästen auf einen abgeteilten Platz im Regal der Milieutypen festgelegt sind.
Ihre Einzelfälle konzentrieren sich zwar um bestimmte Schwerpunkte im sozialen
Raum, streuen aber in geringerer Verdichtung auch um diese herum. So folgt aus
einer autoritären psychischen Disposition häufig, aber nicht immer eine durch-
gehend autoritäre Lebensführung und aus dieser wiederum nicht zwingend die
Übernahme faschistischer Ideologien, auch wenn sehr wohl eine Gravitation in
diese Richtung wirksam ist. Die Abweichungen von dieser Gravitation sind aller-
dings in der Regel nicht zufällig, sondern hängen nicht zuletzt von der Gravitation
in den andern Handlungsfeldern ab. Ein psychisch autoritätshöriger Mensch kann
in ein tolerantes Milieu-Umfeld geraten und wird dann dessen Ansprüchen ent-
206 Michael Vester
Eine Weiterentwicklung der Theorie und Methodologie des Klassenhabitus, die die
diskutierte Kritik berücksichtigt, wurde in einer von der Volkswagen-Stiftung
geförderten Untersuchung begonnen, mit der wir von 1987 bis 1992 die Habitus-
typologie und die sozialstrukturelle Topik der westdeutschen Gesellschaft er-
forscht haben (vgl. Vester, von Oertzen, Geiling u. a. 2001 [1993]). Dazu war
methodologisch vor allem zweierlei notwendig: erstens die Rückkehr zu einem
mehrdimensionalen Konzept des Syndroms, das auch in einer standardisierten
repräsentativen Befragung anwendbar war; zweitens das Konzept eines nicht nur
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 207
der amtlichen Statistik seit 1950 wurden nicht nur die Verschiebungen zum Dienst-
leistungssektor hin analysiert, sondern auch, für insgesamt 163 Berufsgruppen, die
Zunahme kulturellen Kapitals und der Entscheidungs- und Verantwortungskom-
petenzen. Durch ein spezifische Verfahren der Einordnung in den sozialen Raum
(nach Geiger 1932 und Bourdieu 1982) wurden die Bewegungen im sozialen
Raums nachgezeichnet. Insgesamt hatte sich allein bis 1987 der Anteil der sog.
»neuen Berufe«, die deutlich mehr Fachqualifikation, Eigenverantwortung und
horizontale Vernetzung erforderten, von etwa 5% auf mehr als 22% erhöht. Damit
konnten wir die These einer beschleunigten Linksdrift auf allen Stufen des Raums
der Berufspositionen bestätigen (Vester u. a. 2001, S. 373–426).
Zum anderen ging es um die Rolle der neuen sozialen Bewegungen bei der
Herausbildung neuer Habitusmuster in der Jugendkultur. Über drei regionale
Längsschnittuntersuchungen wurde belegt, wie durch soziale und politische
Kämpfe, durch neue Abgrenzungen und Koalitionsbildungen die im ersten Pro-
jektteil gefundenen neuen Varianten der Milieus und ihrer Weltdeutung entstanden
waren. Diese zeigten zunächst Züge eines ›fundamentalistischen‹, absoluten
Bruchs, aber seit den 1980er Jahren einen zunehmenden Realismus im Sinne einer
Variante der Herkunftskulturen (Vester u. a. 2001, S. 253–310).
Von entscheidender Bedeutung war es, anschließend die drei Einzelstränge der
Untersuchung in eine integrierte Analyse zu überführen, um sie aufeinander und
auf die gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesse beziehen zu können.
Hierzu wurde 1991 in Westdeutschland eine umfangreiche und repräsentative
standardisierte Befragung nach dem erweiterten Ansatz Bourdieus durchgeführt
(Vester u. a. 2001, S. 222–244). (Die bleibende Aktualität der Ergebnisse wurde
durch eine teilweise ähnliche Befragung im Jahre 2000 (s. Vester 2001) bestätigt.)
Für jede befragte Person wurden alle Feldebenen, einschließlich der Habitustypen
und der Berufs- und Bildungsmobilität über drei Generationen, erfragt. In einem
statistischen und hermeneutischen Auswertungsprozess konnten nun für die ge-
samte Gesellschaft die typologischen Strukturen, die Beziehungen zwischen den
Feldern und die Dynamiken im sozialen Raum näher bestimmt werden.
Insgesamt wurde eine parallele Linksdrift auf allen drei Feldebenen, in der
Erwerbsstruktur, im Habitus und im politisches Verhalten, bestätigt. Aber diese
Entwicklungen waren auseinander nicht direkt ableitbar. Die neuen Milieus ge-
hörten zwar überwiegend den »neuen Berufen« zu. Aber diese Aussage ließ sich
nicht umkehren. Von den Angehörigen der »neuen Berufe« gehörte nur etwa die
Hälfte den neuen Milieus zu; die übrigen verteilten sich über Milieus, die weniger
›progressiv‹ waren. Der berufliche Wandel war also eine notwendige Begleiter-
scheinung, aber keine hinreichende Ursache des Habituswandels. Ausschlaggebend
für den Habituswandel war vielmehr, dass die Befragten auch an den sozialen oder
politischen Generationenkonflikten teilgenommen hatten (Vester u. a. 2001, S. 23–
118).
Aus den differenzierten Ergebnissen sind hier vier räumliche bzw. zeitliche
Gesamtbilder ausgewählt, die aus jeweils anderer Perspektive und in vereinfachter
Form die gefundenen Strukturen des sozialen Raums veranschaulichen.
Die erste Perspektive (Abb. 1) besteht darin, die Milieus nach den Berufszuge-
210 Michael Vester
Die vertikalen Milieustufen und ihre horizon- Differenzierung der Traditionslinien nach Untergrup-
tale Differenzierung nach Traditionslinien pen (–) bzw. Generationen (a,b,c) in Westdeutschland
(1982 bis 2000)
1. Obere Milieus (um 25 %)
1.1. Traditionslinie von Macht und Konservativ-technokratisches Milieu (ca. 9 % – ca.
Besitz: Milieus der wirtschaftlichen 10 %)
und hoheitlichen Funktionseliten – Großbürgerliches Konservatives Milieu (ca. 5 %)
(um 10 %) – Kleinbürgerliches Konservatives Milieu (ca. 4 %)
1.2. Traditionslinie der Akademischen Liberal-intellektuelles Milieu (ca. 9 % – ca. 10 %), mit
Intelligenz: Milieus der humanisti- zwei Teilgruppen:
schen u. dienstleistenden Funktions- – Progressive Bildungshumanisten (ca. 5 %)
eliten (um 10 %) – Moderne Dienstleistungselite (ca. 4 %)
1.3. Kulturelle Avantgarde einschließlich – Alternatives Milieu (ca. 5 % –0 %)
Neues Kleinbürgertum (um 5 %) – Postmodernes Milieu (0%- ca. 6 %)
2. »Respektable« Volks- und Arbeit-
nehmermilieus (um 66 %)
2.1. Traditionslinie der Facharbeit und (a) Traditionelles Arbeitermilieu (ca. 10 % – ca. 4 %)
der praktischen Intelligenz (b) Leistungsorientiertes Arbeitnehmermilieu (ca.
(um 30 %) 20 % – ca. 18 %)
(c) Modernes Arbeitnehmermilieu (0 % – ca. 8 %)
2.2. Ständisch-kleinbürgerliche (a) Kleinbürgerliches Arbeitnehmermilieu (ca. 28 % –
Traditionslinie ca. 14 %)
(zwischen 28 % und 22 %) (b) Modernes (klein)bürgerliches Milieu (0 % – ca.
8 %)
2.3. Avantgarde der Jugendkultur * Hedonistisches Milieu (ca. 10 % – ca. 12 %)
(um 12 %)
3. Traditionslinie(n) der unterprivile- Traditionsloses Arbeitnehmermilieu, mit drei Teil-
gierten Volks- und Arbeitnehmer- gruppen:
milieus – Statusorientierte (ca. 3 %)
(um 12 %) – Resignierte (ca. 6 %)
– Unangepaßte (ca. 2 %)
Zur Beachtung: Die Prozentzahlen in der linken Spalte geben die Bandbreite der Milieugrößen an. Die
Prozentzahlen in der rechten Spalte geben an, wie sich die Milieugrößen von 1982 bis 2000 verändert
haben.
Die Zuordnung der westdeutschen Milieus ist, auch mittels der repräsentativen Befragung von 1991, näher
untersucht (Vester u. a. 1993/2001). Die Prozentsätze stützen sich auf Daten des Sinus-Instituts (SPD 1984,
Becker u. a. 1992, Flaig u. a. 1993, Spiegel 1996).
Die Milieus mit einem unverändert autoritärem Habitus sind insgesamt ge-
schrumpft, aber keineswegs verschwunden. Sie umfassen oben das kleinbürgerlich-
konservative Milieu, in der Mitte das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu und
unten die statusorientierten Traditionslosen Arbeitnehmer. Mit zusammen 25%
bilden sie noch ein starkes Potential, aus dem eine konservative oder auch eine
rechtspopulistische Politik schöpfen kann.
Die folgende Abbildung (Abb. 3) übersetzt die Daten der Milieus in eine
stilisierte Landkarte, die nicht nach Berufspositionen, sondern nach Habitustypen
gegliedert ist. Die Verortung erfolgte nach den impliziten Distinktionsprinzipien,
nach denen die Milieus sich voneinander abgrenzen. Die drei oberen Milieus,
zusammen etwa 26%, unterscheiden sich von den gewöhnlichen Volksmilieus
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 213
LIBI KONT
PO
MO Die Milieus
MOA
MOBÜ der alltäglichen Lebensführung
im sozialen Raum
H Westdeutschlands 2000*
E KLB
D LEO
avant-
eigen- hierarchie-
gardistisch verantwortlich gebunden autoritär
Differenzierungsachse
TRA
TLO PO LIBI KONT
MO Konservativ-
Post- Liberal-
Habitus der moder- intellektuelles technokratisches
Distinktion nes Milieu ca. 10% Milieu ca. 10%
Milieu
ca. 6%
durch den besonderen Wert, den sie auf höhere Bildung, Kultur und geschmack-
liche Kennerschaft legen. Unter dieser ›Trennlinie der Distinktion‹ finden wir die
›respektablen‹ Volksmilieus, mit etwa 64%. Für sie sind gute Facharbeit oder ein
sicherer sozialer Status die Grundlage der Selbstachtung. Unter ihnen sehen wir die
unterprivilegierten Milieus mit geringer Ausbildungs- und Berufsqualifikation. Ihr
Habitus ist auf eine Lage der Unsicherheit und Ohnmacht abgestimmt, weniger auf
stetiges Streben als auf spontane Nutzung von Gelegenheiten und auf die Anleh-
nung an Mächtigere. Daher werden sie von den anderen Milieus nicht sehr ge-
achtet. Sie liegen unter der unsichtbaren ›Trennlinie des Respektabilität‹.
Die Unterscheidung von demokratisch-emanzipatorischen und von autoritär-
konventionellen Milieus zeigt sich nicht in den vertikalen, sondern in den hori-
zontalen Teilungen der Gesellschaft. In der horizontalen Dimension können wir
eine dreifache Unterteilung erkennen – und eine entsprechende Bewegung des
Auseinanderdriftens von autoritären und nichtautoritären Milieus.
Die horizontalen Unterschiede liegen in den Einstellungen zur Autorität, zu den
Rechten von Minderheiten und zur sozialen Hierarchie. Rechts grenzen sich die
214 Michael Vester
kleinbürgerlichen und die konservativsten Gruppen ab. Dabei zeigt sich eine
deutliche Verbindung von habituellen und sozialstrukturellen Entwicklungen. Die
autoritäre Statusorientierung und aggressive Einstellungen gegenüber Minderheiten
konzentrieren sich vor allem bei Teilmilieus, die die Erfahrung machen, dass ihre
vergleichsweise niedrigen und veralteten Bildungs- und Berufsabschlüsse nicht
ausreichen, um mit der Modernisierung der Wirtschaft und der Lebensstile mitzu-
halten. Vor allem sie sind die »Modernisierungsverlierer«. Sie setzen diese Erfah-
rung, so wie in der Autoritarismusforschung der Frankfurter Schule beschrieben,
in Ressentiments gegen sozial Schwächere um.
Links von ihnen finden wir die Milieus, für die gute fachliche Arbeit die
Grundlage des Selbstvertrauens, des Selbstbewusstseins und auch demokratischer
Toleranz ist. Am linken Rand sehen wir eine hedonistische Avantgarde der Jugend-
kultur. Sie grenzt sich mit idealistischen Ansprüchen vom abwägenden Realismus
der horizontalen Mitte ab.
Die Methode, direkt von den Habitustypen auszugehen, hat es uns ermöglicht,
die Differenzierung der Volksmilieus in drei Traditionslinien, gegliedert in mindes-
tens neun Teilmilieus, herauszuarbeiten (ebd., S. 510–525, 532–541), während
Bourdieu (1982, S. 585–619) die Volksklassen eher kurz und zusammenfassend
charakterisierte und sich auf die feineren Unterteilungen der oberen und der
kleinbürgerlichen Milieus konzentrierte. Durch eine Feinclusterung haben wir
insgesamt die Unterteilung der Gesamtheit der Milieus in zwanzig nach Mentalität
und äußerer Lage homogenere Teilmilieus gefunden (Wiebke, in: Vögele/Bremer/
Vester 2002, S. 275–409). Dabei konnten auch die Habitus- und Datenprofile der in
der Typologie ausgewiesenen streng autoritären Teilmilieus erarbeitet werden
(ebd., S. 304–309, 359–364, 404–409).
Die Darstellung unserer Befunde von 1991 hat nutzen können, dass das Heidel-
berger Marktforschungsinstitut ›Sinus‹ seine repräsentativen Erhebungen der Rah-
mengrößen der Milieus von 1982 bis zum Jahre 2000 durchgeführt hat. Dadurch,
und auch durch eine andere Befragung im Jahre 2000 (Korte/Weidenfeld 2001,
Vester 2001), konnten wir unsere Daten mit denen aus den Jahren 1982 und 2000 in
Beziehung setzen. Dabei wird ebenso die Langsamkeit wie die Nachhaltigkeit der
Größenverschiebungen zugunsten toleranterer und weniger autoritärer Milieus
deutlich.
Die vierte Landkarte (Abb. 4) führt uns zu der Frage, wie sich die Konflikte der
Ökonomie und des Alltagslebens im politischen Feld umsetzen. Unsere bisherige
Argumentation hat die Frage nach dem Fortbestand sozialer Klassen salomonisch
beantwortet: sie bestehen im Alltagsleben weiter (aber nicht als gesamtgesellschaft-
liche Kampflager), und sie wandeln sich mittelfristig (aber ohne den Rahmen der
Herkunftskultur zu verlassen). Die Frage nach dem politischen Ausdruck der
Klassenverhältnisse ist aber damit nicht beantwortet, sondern nur auf die Analyse
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 215
des politischen Felds, in dem um die Art der gesamtgesellschaftlichen Ordnung und
der sozialen Gerechtigkeit gekämpft wird, verschoben.
Der Umfang der vorpolitischen Probleme sozialer Gerechtigkeit, nach deren
politischer Umsetzung gefragt werden soll, wird meist unterschätzt. Die Caritas-
Studie (Hübinger 1996) hat deutlich gemacht, dass die rund 10 %, die sich in der
Not- und Ausgrenzungssituation von dauerhafter Arbeitslosigkeit und Armut
befinden, nur die Spitze des Eisbergs sind. Seit dem 1980er Jahren ist für weitere
25–30 % der Wohlstand »prekär« geworden; sie können periodisch unter die
Sozialhilfegrenze sinken. Abermals weitere 20–25 % leben in Situationen der
Knappheit.
Aus diesen Zahlen wird erklärlich, warum nach Umfragen der Anteil derer, die
über die Politiker »verdrossen« sind, weil diese für die kleinen Leute zu wenig tun,
seit 1990 unveränderlich um 60 % liegt (Vester u. a. 2001; Korte/Weidenfeld 2001).
Dem liegen verschiedene, jeweils gut dokumentierte Schieflagen sozialer Gerech-
tigkeit zugrunde. Zur Exklusion der Armen und Dauerarbeitslosen und zur Preka-
rität der Ungesicherten kommen noch zwei andere Problemlagen hinzu. Zum
einen mussten durch die Strukturkrise Millionen von Arbeitnehmern den Wechsel
in weniger gesicherte Arbeitsverhältnisse bzw. eine Stagnation ihrer Einkommen
hinnehmen. Zum anderen werden immer noch Frauen und Ausländer sowie viele
Jüngere und Ältere durch vergleichsweise schlechtere Einkommen diskriminiert.
Darüber, wie diese Unzufriedenheit politisch umgesetzt wird, kursieren zwei
verschiedene Trenddiagnosen.
Im Dezember 2000 berichtete Die Zeit über eine Studie, die vor allem die
autoritäre und ausländerfeindliche Verarbeitung der sozialen Unsicherheiten be-
tont. Dies signalisierte schon der Titel: »Starke Hand gesucht. Eine Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung belegt: Autoritäre Einstellungen und Angst vor den
Fremden steckt auch in den Köpfen der bürgerlichen Mitte«. Die Studie, so hieß es,
»untermauert die Annahme, dass in der Bundesrepublik nach wie vor eine stark
autoritäre Mentalität zu Hause ist – im Osten wie im Westen, in Unter-, Mittel-
und Oberschichten« (Hofmann 2000).
Eine entgegengesetzte Diagnose bietet das von Ulrich Beck und Anthony
Giddens gemeinte »neue Politikmodell« (Giddens 1997). Es geht davon aus, dass
durch den Wohlfahrtsstaat und den Wertewandel die mit der früheren Arbeiter-
bewegung verbundenen Modelle materieller Verteilungsrechtigkeit überholt seien.
Der Trend gehe zu einem von den neuen Dienstleistungsschichten getragenen
zivilgesellschaftlichen Modell mit universalistischen Zielen »jenseits von links und
rechts«.
Beide Thesen ließen sich über typenbildende statistische Cluster- und Faktoren-
analysen unserer repräsentativen Befragungsdaten überprüfen. Wir fanden insge-
samt sechs gesellschaftpolitische »Lager«, die jeweils verschiedenen Vorstellungen
der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftpolitischen Ordnung anhingen (Ves-
ter u. a. 2001, S. 444–472). Die Lager waren, wie erwartet, nicht deckungsgleich mit
der Teilung der Gesellschaft in Milieus. Vielmehr verteilten sie sich jeweils vertikal
bzw. diagonal über verschiedene Milieus (Abb. 4). Es handelte sich also, wie es die
kritische Milieuforschung schon länger weiß (Lepsius 1973 [1966], vgl. Clarke/Hall
216 Michael Vester
Abb. 4 Die gesellschaftpo- Skeptisch-Distanziertes Lager (ca. 18%) Enttäuscht-Autoritäres lager (ca. 27%)
litischen Lager im Raum der
Milieus agis.uni-hannover.de
nisierung, die ihre Enttäuschung nach autoritärem Muster verarbeiten. Sie sehen
sich von der übrigen Gesellschaft ausgegrenzt und kompensieren dies mit Ressenti-
ments gegen Ausländer, alles Moderne und die Politiker, die ihre Fürsorgepflichten
vernachlässigen. Sie wollen gegen die Risiken des Strukturwandels durch eine
protektionistische Wirtschaftspolitik und eine restriktive Zuwanderungspolitik ge-
schützt werden. Aus Realismus wählen sie traditionell meist CDU/CSU und SPD.
Regionalwahlen zeigen aber, dass – wie in anderen Ländern Europas – rechts-
populistische Parteien hier ihre fast 20 % Proteststimmen gewinnen können.
Insgesamt zeigt sich zwar, dass die in der Zeit beschworenen autoritären Men-
talitäten noch stark sind und sich auch tatsächlich über die Unter-, Mittel- und
Oberschichten verbreiten. Aber dies heißt nicht, dass die bedrohlichen autoritären
Potentiale ›überall‹ sind, wie suggeriert wird. Vielmehr wird in den demokratischer
orientierten Lagern, bei den Sozialintegrativen und den Skeptisch-Distanzierten,
die soziale Enttäuschung überwiegend im Rahmen eines relativ stabilen demo-
kratisch-toleranten Habitus verarbeitet. Die autoritären Verarbeitungsformen kon-
zentrieren sich in bestimmten, abgegrenzten Milieus des rechten und unteren
sozialen Raums. Auch hier bilden sie kein frei flottierendes Potential, das beliebig
von rechten Demagogen mobilisiert werden kann. Vielmehr sind sie mehrheitlich
noch von den großen Volksparteien gebunden. Aber diese Bindung ist nicht mehr
sicher, vor allem solange die Politik die Modernisierungsverlierer vernachlässigt.
Insgesamt mag dieses Panorama ideologischer Lager als sehr heterogen er-
scheinen, jedenfalls im Vergleich mit der herkömmlichen Teilung in ein Oben und
Unten oder ein Rechts und Links. Bedeutet dies, dass die auseinanderstrebenden
Interessen nur noch durch eine autoritäre Politik zusammengehalten werden kön-
nen, so wie dies Ralf Dahrendorf für das 21. Jahrhundert befürchtet? Oder kann
eine neue Integrationsformel gefunden werden, die das Modell des demokratischen
Wohlfahrtsstaats erneuert?
Diese zweite Möglichkeit ist nicht ohne Chancen. Die Lager bilden durchaus
eine übersichtliche Konfiguration, in der die vertikalen Kräfte von oben und unten
und die horizontalen Kräfte von rechts und links zusammenwirken. Den vertikalen
Kräfteverhältnissen entspricht das Umfrageergebnis, dass immer noch mehr als
80% das Modell des Wohlfahrtsstaates wollen, auch wenn sie seine Erneuerung
durch mehr Mitbestimmung von unten wünschen. Doch kann dieses Ziel ver-
schieden umgesetzt werden, durch konservative Koalitionen im rechten Teil des
sozialen Raums oder durch reformerische Mitte-Links-Koalitionen.
Ein Vergleich der sozialpolitischen Ordnungsmodelle der sechs Lager (Abb. 5)
zeigt, dass es dafür mögliche gemeinsame Nenner gibt. Die Modelle der Solidarität
überwiegen mit 49 %. Für sie gehören Solidarität und individuelle Verantwortung
zusammen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wie es die extremen
Modelle des Protektionismus und des Neoliberalismus verlangen. Zusätzlich könn-
ten die 27% des protektionistischen Lagers durch eine Politik sozialer Mindest-
garantien ins Boot geholt und den Rechtspopulisten abspenstig gemacht werden.
Ein solcher historischer Kompromiss wäre sowohl unter sozialdemokratischem
wie unter konservativem Vorzeichen möglich und mehrheitsfähig.
Er würde aber auch noch erhebliche Konflikte zu regeln haben, die das Gesund-
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 219
Elitemodelle (ca. 25 %)
(1) Radikaldemokratisches Lager (RAD): progressiv-liberales Elitemodell ca. 11 %
(2) Traditionell-konservatives Lager (TKO): konservatives Fürsorgemodell ca. 14%
Solidaritätsmodelle (ca. 49 %)
(3) Gemäßigt-konservatives Lager (GKO): konservatives Solidaritätsmodell ca. 18 %
(4) Sozialintegratives Lager (SOZ): progressiv-solidarisches Modell ca. 13 %
(5) Skeptisch-Distanziertes Lager (SKED): Modell der Gegenseitigkeit ca. 18 %
Protektionistische Modelle (ca. 27 %)
(6) Enttäuscht-Autoritäres Lager (EA): populistisches Anspruchsmodell ca. 27 %
Repräsentativbefragung »Gesellschaftlich-politische Milieus in Westdeutschland« 1991: n = 2.684; deutsch-
sprachige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren in Privathaushalten; Cluster- und Faktorenanalyse (M. Vester
u. a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a. M. 2001, Kapitel 12)
heits- und Sozialsystem, den prekären Sektor des Arbeitsmarkt und die immer
noch ungleichen Bildungschancen betreffen. Dabei besteht, jedenfalls einstweilen
in Deutschland, eine andere Gefahr, die eines modernen ›antiseptischen Autorita-
rismus‹. Vor allem neoliberale Eliten vertreten einen Autoritarismus, der, wie Anja
Weiß (2001) nachgewiesen hat, offene ethnozentrische oder autoritär-aggressive
Konnotationen peinlichst vermeidet und zugleich ein sozialdarwinistisches Aus-
leseprinzip verwendet, das soziale Unterschiede ›politisch korrekt‹, mit Unter-
schieden der Leistung und der Bildung, begründet.
Es ist auch ein anderes, konservativ-autoritäres, Szenario möglich. Mit etwa
27% sind die autoritären Potentiale heute zwar zu klein für rechtsextreme Allein-
regierungen, aber doch groß genug, um, mit dem Rückenwind der langen Wirt-
schaftskrise, in nicht wenigen Ländern an die 20% Rechtspopulisten in die Parla-
mente zu bringen. Sie bilden damit die mögliche oder, nicht allein in Italien, schon
tatsächliche Basis von Mitte-Rechts-Regierungen, die autoritäre Politiken teils mit
protektionistischen und teils mit neoliberalen Elementen kombinieren.
Allerdings sind diese Entwicklungen nicht zwangsläufig. Rechtspopulistische
Mobilisierungen haben nur dann Erfolgschancen, wenn zuvor die Volksparteien
die Bindekraft, mit der sie die nachfaschistischen Gesellschaften integriert hatten,
eingebüßt haben. In diesem Falle können größere Wählergruppen von den Christ-
demokraten nach rechts und von den Sozialdemokraten zu den Nichtwählern
wandern. Dies ist nie ein automatischer Prozess gewesen. Die großen Volksparteien
haben dafür selber die Verantwortung, wenn sie mit einer neoliberalen Wirtschafts-
politik die ›kleinen Leute‹ verprellen oder durch tatsächliche oder vermeintliche
Vorteilsnahme ›der Politiker‹ das Vertrauen verspielen.
220 Michael Vester
eine neue Methodik vorgestellt, mit der die autoritären Schemata auch für größere
Stichproben untersucht werden konnten.
Diese Entwicklung ist, wie dargelegt, an die Grenzen von zwei zentralen
intellektuellen Konventionen und Denkmustern gestoßen. Zum einen hat das
vertikalistische Klassenschema den Blick auf die horizontale Teilung der sozialen
Klassen in mehr autoritätsgebundene und mehr emanzipatorische ›Klassenfraktio-
nen‹, wie Bourdieu sie nannte, verstellt. Zum anderen hat das Elite-Masse-Schema
verhindert, zwischen der Ebene der individuellen Psyche und der Ebene der
Ideologien die Ebene der praktischen Alltagskultur hinreichend in den Blick zu
nehmen.
Dabei wurden gerade diejenigen – in Konkurrenz zur Frankfurter Schule ste-
henden – Forschungsrichtungen, die auf diesen vernachlässigten Feldern der De-
mokratieforschung ihrerseits einzigartige Leistungen erbrachten, unzureichend be-
achtet. Dies traf insbesondere die seit den 1940er Jahren von den Gruppen um Paul
F. Lazarsfeld und Joseph T. Klapper über große empirische Projekte und theo-
retische Arbeit emtwickelte neue Kommunikationssoziologie, die deutlich machte,
dass die von oben kommenden Medienbotschaften nicht unerheblich durch die
Kommunikationfelder der Gruppen und Milieus wie durch die Rezeptionsmuster
der Individuen gefiltert und relativiert werden (vgl. Katz/Lazarsfeld 1955, Klapper
1960). Émile Durkheim, der Begründer des Milieukonzepts und damit der ethnolo-
gischen Sicht auf die Klassenverhältnisse (Durkheim 1988 [1893]), wurde, trotz
seiner emanzipatorischen Ansätze, als Apologet der Entindividualisierung durch
gesellschaftliche Zwänge angesehen. Unbeachtet blieb auch die von Lepsius (1973
[1966]) entwickelte und für die Klassentheorie wesentliche Neuerung, politische
Parteien nicht mehr auf ökonomische Interessen zu reduzieren, sondern als kom-
plexe historische Lagerkoalitionen bzw. »sozialmoralische Milieus« anzusehen.
Auch zu der international diskutierten neuen englischen Kulturtheorie entwickelte
sich, von individuellen Ausnahmen abgesehen, keine Beziehung.
Innerhalb der Frankfurter Schule gab es durchaus einen Pluralismus verschiede-
ner Forschungsbereiche und -ansätze. Dominant in der Autoritarismusforschung
war gleichwohl die Sichtweise, aus der Gruppen und Milieus entweder als Ver-
körperung des Konformismus oder als so fragmentiert erschienen, dass die In-
dividuen noch wehrloser den Manipulationen der Mächtigen und der Medien
ausgesetzt seien. Doch erst wenn die soziale Welt, wie die menschliche Psyche, als
Feld widerstreitender Kräfte verstanden wird, sind, in einem bestimmbaren Spiel-
raum, verschiedene Szenarien oder, wie es heißt, ›Pfade‹ der Entwicklung möglich.
Von den 1970er Jahren an wurde der Generationenwechsel der Frankfurter
Schule zur Chance, die vergangenen Abschließungen von konkurrierenden Dis-
kursen zu durchbrechen und die Arbeit an den Ausgangsfragen der kritischen
Theorie wieder aufzunehmen. Auch wenn nach außen die Nachfolge der Frank-
furter Schule wie die babylonische Sprachverwirrung anmutet, in der das Scheitern
des grandiosen Turmbauprojektes offenbar wurde, haben ihre Impulse an ver-
schiedensten Stellen wichtige Weiter- und Neuentwicklungen angeregt. Dies war
vor allem dann möglich, wenn die kritische Theorie sich nicht auf die Pflege des
Erbes verengte, sondern ohne Furcht vor Identitätsverlust die Wechselwirkung mit
222 Michael Vester
Literatur
Hoggart, Richard (1958 [1957]): The Uses of Literacy. Aspects of working class life with
special reference to publications and entertainments, Harmondsworth
Honneth, Axel (1984): Die zerrisssene Welt der symbolischen Formen. Zum kultursoziologi-
schen Werk Pierre Bourdieus, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie,
Jg. 36, S. 147–164
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947 [1944]): Dialektik der Aufklärung. Philo-
sophische Fragmente, Amsterdam
Hübinger, Werner (1996): Prekärer Wohlstand, Neue Befunde zu Armut und sozialer Un-
gleichheit, Freiburg i.Br.
Jaerisch, Ursula (1975): Sind Arbeiter autoritär? Zur Methodenkritik politischer Psychologie,
Frankfurt a. M.
Katz, Elihu/Lazarsfeld, Paul F. (1955): Personal Influence. The Part Played by People in the
Flow of Mass Communications, Glencoe, Ill.
Klapper, Joseph T. (1960): The Effects of Mass Communication, Glencole/Ill.
Korte, Karl-Rudolf/Weidenfeld, Werner (Hg.) (2001): Deutschland-TrendBuch, Opladen
(gleichzeitig: Schriftenreihe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bd. 375), S. 136–
183
Lepsius, M. Rainer (1973 [1966]): Parteiensystem und Sozialstruktur: Zum Problem der
Demokratisierung der deutschen Gesellschaft, in: Ritter, Gerhard A. (Hg.): Deutsche
Parteien vor 1918, Köln
Lipset, Seymour Martin (1962 [1960]): Soziologie der Demokratie, Neuwied/Berlin
Löwenthal, Leo/Guterman, Norbert (1969 [1949]): Lügenpropheten. Eine Studie über die
Techniken und Themen des amerikanischen Agitators, Amsterdam; engl.: diess., Prophets
of Deceit, New York 1949
Lukács, Georg (1923): Geschichte und Klassenbewußtsein, Berlin
Mangold, Werner (1960): Gegenstand und Methode des Gruppendiskussionsverfahrens,
Frankfurt a. M.
Marcuse, Herbert (1967 [1964]): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der
fortgeschrittenen Industriegesellschaft, Darmstadt/Neuwied
Mühlberg, Dietrich (Hg.) (1978/1987/1985): Textsammlung zu Problemen der marxistisch-
leninistischen Kulturgeschichtsschreibung, 3 Bde., Berlin
von Oertzen, Peter (1976 [1963]): Die Betriebsräte in der Novemberrevolution, Berlin/Bonn-
Bad Godesberg
Pollock, Friedrich (Hg.) (1955): Gruppenexperiment, Frankfurt a. M.
Reich, Wilhelm (1933): Charakteranalyse, Wien
Schachtel, Ernst (1983 [1929]): Schreibstil und Persönlichkeitszüge, in: Fromm (1983), S. 277–
293
SPD (1984), Planungsdaten für die Mehrheitsfähigkeit der SPD. Ein Forschungsprojekt des
Vorstandes der SPD, Bonn: Parteivorstand der SPD
»Spiegel« Verlag/manager magazin (Hg.) (1996): »Spiegel«-Dokumentation Soll und Haben 4,
Hamburg
Der Stern 2000, MarktProfile, Hamburg
Teiwes-Kügler, Christel (2001): Habitusanalyse und Collageninterpretation, sozialwiss. Di-
plomarbeit, Hannover
Thompson, Edward Palmer (1963 [1987]): The Making of the English Working Class,
London; dt.: Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, 2 Bde., Frankfurt a. M. 1987
– (1980a): Das Elend der Theorie, hg. v. M. Vester, Frankfurt a. M. 1987
– (1980b): Plebejische Kultur und moralische Ökonomie, hg. v. D. Groh, Berlin
Vester, Michael (1970): Die Entstehung des Proletariats als Lernprozeß, Frankfurt
– (1976): »Was dem Bürger sein Goethe, ist dem Arbeiter seine Solidarität« – Zur Diskussion
der ›Arbeiterkultur‹, in: Ästhetik und Kommunikation, H. 24 (Juni), S. 62–72
224 Michael Vester
– (1998): Was wurde aus dem Proletariat? Das mehrfache Ende des Klassenkonflikts: Prog-
nosen des sozialstrukturellen Wandels, in: Friedrichs, Jürgen/Lepsius, M. Rainer/ Mayer,
Karl Ulrich (Hg.): Die Diagnosefähigkeit der Soziologie, Sonderheft 38 der Kölner Zeit-
schrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen 1998, S. 164–206
– (2001): Milieus und soziale Gerechtigkeit, in: Korte, Karl-Rudolf/Weidenfeld, Werner
(Hg.): Deutschland-TrendBuch, Opladen, S. 136–183.
– (2002): Das relationale Paradigma und die politische Soziologie sozialer Klassen, in:
Bittlingmayer, Uwe H./ Kastner, Jens/Rademacher, Claudia (Hg.): Theorie als Kampf. Zur
politischen Soziologie Pierre Bourdieus, Opladen
–/von Oertzen, Peter/Geiling, Heiko/Hermann, Thomas/Müller, Dagmar (2001): Soziale
Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel. Zwischen Integration und Ausgrenzung, 2.
Aufl., Frankfurt a. M.
–/Gardemin, Daniel (2001): Milieu, Klasse und Geschlecht. Das Feld der Geschlechterun-
gleichheit und die »protestantische Alltagsethik«, in: Heintz, Bettina (Hg.): Geschlechter-
soziologie, Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Op-
laden, S. 454–486
Vögele, Wolfgang/Bremer, Helmut/Vester, Michael (Hg.) (2002): Soziale Milieus und Kirche,
Würzburg
Weiß, Anja (2001): Rassismus wider Willen, Wiesbaden
Williams, Raymond (1963 [1972]): Culture and Society 1780–1950, Harmondsworth; dt.:
Gesellschaftsgeschichte als Begriffsgeschichte, München 1972].
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus, Rassismus
und Reaktionen auf Einwanderung
Lena Inowlocki
Bei diesem Beispiel beziehe ich mich auf die 14. Jugendstudie der Deutschen Shell
(2002), in der es um das Politikverständnis Jugendlicher geht. Dazu gehören
Fragen, die sich auf demokratische oder aber autoritäre Einstellungen und auf
Haltungen gegenüber Fremden beziehen. Es wird eine Typenbildung vorgestellt,
die aus »Idealisten«, »Unauffälligen«, »Machern« und »Materialisten« besteht.
Unter Bezug auf Herbert Marcuse wird darauf verwiesen, dass rechtsextreme
Jugendliche als diejenigen, die sich rücksichtslos für den eigenen materiellen Nut-
zen und Machtvorteil durchsetzten, potentiell unter den »Materialisten« zu veror-
ten seien. Als aktuell interessanter Typus wird der des »Machers« diskutiert.
Nach den Ergebnissen der repräsentativen Befragung werden fünf ausführliche
Porträts »engagierter Jugendlicher« vorgestellt; es ist nicht ersichtlich, ob sie
Beispiele für »Idealisten« oder »Macher« sein sollen. Dazu zählen eine Green-
peace-Aktivistin, ein Junger Liberaler, eine Attac-Aktivistin, ein Organisator des
Störtebeker-Netzes und ein Aktivist gegen Internet-Zensur. Der vierte in dieser
Reihe »engagiert sich für eine nationale Wende«, sein Porträt ist mit einem Inter-
viewzitat betitelt: »Wenn man eine Überzeugung hat, ist das die Hauptsache«. In
der zweiseitigen Zusammenfassung erfahren wir über Robert R.: Nach dem »Mit-
schwimmen in der rechten Szene«, während der »üblichen Alkohol-Exzesse«,
»wurde er straffällig und schließlich wegen Körperverletzung für 12 Monate in der JVA
Neubrandenburg inhaftiert. In dieser Zeit wurde er intensiv von der »›Hilfsgemeinschaft
nationaler Gefangener‹« (HNG) betreut, für die er heute ebenfalls tätig ist. Mit deren Hilfe
beschloss er, seine politischen Ziele nicht mehr in Schlägereien zu artikulieren, sondern »›in
geordneten Bahnen‹« politisch aktiv zu sein.« (2002, S. 332)
ihr Handeln als auch dessen Bedingtheit und Verstrickungen klären und damit, auf
welche Weise sie zu Exponenten gesellschaftlicher Konfliktfelder werden konnten;
welches, mit anderen Worten, die biographischen, gruppen- und familienspezifi-
schen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, dann die Prozesse und
Mechanismen ihrer Gruppenzugehörigkeit sind, die ihre Täterschaft ermöglichen.
Ansetzen sollte dies daran, was sie thematisieren, wie sie sich äußern und selbst
präsentieren.
In der Darstellung von Robert R. wird ausgespart, was er getan hat und nur
erwähnt, dass er straffällig und inhaftiert wurde. Auch was er sagt, spielt keine
Rolle. Dass er die Zeit des Nationalsozialismus für die beste hält, die es je in
Deutschland gegeben hat, Demokratie ablehnt und das Recht auf freie Meinungs-
äußerung instrumentell auffasst, um Propaganda zu verbreiten, hindert nicht, sein
»politisches Engagement« wie das der anderen Jugendlichen zu werten. Vielleicht
soll diesem Interview einer Extremismus-Theorie folgend der Stellenwert zu-
kommen, »rechtsextremes« Engagement zu repräsentieren, gegenüber den »links-
extremen« Positionen einer Attac- bzw. einer Greenpeace-Aktivistin? In jedem Fall
wird nicht thematisiert, was rechtsextremes Engagement auf grundsätzliche Weise
charakterisiert und unterscheidet.1
Der Verzicht auf Thematisierung und Problematisierung hat zur Folge, dass
rechtsextreme Äußerungen als unspezifisch erscheinen. In einer missverständlichen
Pluralität »politischer Einstellungen« geht es dann scheinbar nur darum, dass
Jugendliche überhaupt eine »Überzeugung« haben, als wäre das bereits eine demo-
kratische Errungenschaft. Insofern erscheint die kommentarlose und unkritische
Wiedergabe der Äußerung von Robert R., »Wenn man eine Überzeugung hat, ist
das die Hauptsache«, als programmatisch.
Der Verzicht auf die Interpretation eines Einzelfalls beinhaltet mit der Entschei-
dung über die Vorgehensweisen empirischer Forschung auch, ob überhaupt und
inwiefern gesellschaftliche und politische Dimensionen und Zusammenhänge er-
kennbar werden. Gerade Einzelfallanalysen und ein kritischer Subjektbegriff kön-
nen soziale Prozesse und allgemeine Strukturen von Handlung und Interaktionen
erschließen. An einigen Aspekten der Untersuchungen der Kritischen Theorie und
an Beispielen neuerer Forschung möchte ich dies zeigen, nach einer kurzen Dar-
stellung einiger Grundüberlegungen Kritischer Theorie zu Vorurteilsstrukturen.
1 Die kritische Unterscheidung wäre auch deshalb wichtig, weil es in der medialen Dar-
stellung von Rechtsextremen neuerdings zu einer Veralltäglichung kommt, indem ganz
nebenbei und unkommentiert proponentenseitige Schilderungen als Lokalkolorit über-
nommen werden. Beispielsweise wird in einem Magazin-Beitrag über Jugendliche ohne
eigenen festen Wohnsitz ein Junge zitiert, der erklärt, dass er nur bei Bekannten über-
nachte, die »sauber« seien: »Holger ist Nazi, und alle Nazis sind sauber«, sagt André. »Da
gibt’s ein richtiges Wohnzimmer mit Sitzgarnitur, gehäkelter Tischdecke und Bildern an
den Wänden« (chrismon. Das evangelische Magazin, 12/2002, S. 41). Ohne darauf in
irgendeiner Weise Bezug zu nehmen, fährt der Bericht dann fort. So werden Rechts-
extreme zu einem scheinbar ganz selbstverständlichen Bestandteil unserer komplexen,
kontrastreichen (und, wie in diesem Magazin-Beitrag, trotz allem werteorientierten)
Moderne.
230 Lena Inowlocki
Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen, warum unterwerfen sie
sich selbst und andere repressiver Vergesellschaftung, die ihnen ihre Freiheit und
ihre Möglichkeiten des Glücksempfindens nimmt? Die vielfältigen persönlichen,
ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Unterdrückungszusammen-
hänge, denen die Subjekte unterliegen, sind komplex und teilweise schwierig zu
erkennen.
In der Perspektive der Kritischen Theorie sind die Subjekte sich selbst ent-
fremdet, ihre Wahrnehmung und Selbsterkenntnis wird durch Fremdbestimmung
dominiert. Im Antisemitismus äußert sich die fatale Illusion, Macht zu besitzen,
scheinbar die Ursachen ihrer Unterdrückung zu erkennen, deren Urheber personi-
fizieren und ausschalten zu können. Indem Subjekte antisemitische Vorurteile
reproduzieren, sich von Juden verfolgt wähnen, als einem Gegner, den sie »durch-
schauen« können, eröffnet sich ihnen darüber ein Code, mit dem sich die Welt
erklären lässt. Im Besitz dieses untergründigen und hintergründigen »Wissens«,
wähnen sie sich gleichzeitig als Teilhaber an einer machtvollen Gemeinschaft der
Antisemiten. Abhängig davon, wie in politischen und gesellschaftlichen Macht-
verhältnissen Antisemitismus funktionalisiert wird, kann die antisemitische Hal-
tung auch zu realem Machtgewinn führen. Der eigentliche Unterdrückungszusam-
menhang gesellschaftlicher Herrschafts- und Ausgrenzungspraktiken wird dabei
weiter verdeckt, die ihrer Individualität und Subjektivität beraubten Subjekte
werden gerade an die Strukturen gebunden, die sie fortwährend demütigen, sie
ihrer Lebensmöglichkeiten und Glücksempfindungen berauben. Die gesellschaft-
lich Ohnmächtigen werden als Konsumenten einer Kulturindustrie eingebunden,
in ihrer narzisstischen Bedürftigkeit ausgebeutet und manipuliert; in der affirma-
tiven Formulierung »es denken doch alle so« privatisiert sich das öffentliche
Bewusstsein in eine »Alltagsreligion«, die »aus Meinungen ein gegen Aufklärung
resistent gewordenes System macht«, das sich gegen den kritischen Gedanken
sperrt (Claussen 1995, S. 22).
Die Beraubung von Lebensmöglichkeiten, als eine »strukturelle Verhärtung des
Subjekts« (Adorno/Horkheimer 1975 [1952]), ist bereits im Wesen der bürger-
lichen Ordnung begründet, ebenso wie die Disposition zu Autoritarismus und
Antisemitismus. Dazu kommt, wie Rensmann2 (2001, S. 12) ausführt, dass die
»fortschreitenden sozialen Bedingungen von Isolation, Unterwerfung, Anpas-
sungsdruck und Entsagung« in einer zunehmenden Schwächung von unabhän-
gigem Bewusstsein und Gewissen münden. Nicht nur bei Faschisten und Anti-
2 In seiner kürzlich erschienenen Studie zur empirischen Forschung und den theoretischen
Überlegungen der Kritischen Theorie zum Antisemitismus untersucht Lars Rensmann
(2001) deren Erklärungspotential und Aktualität, auch hinsichtlich einer politischen
Theorie und einer Psychologie zum gegenwärtigen Antisemitismus in der Bundesrepu-
blik.
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 231
3 In einer merkwürdigen Verkehrung kann gerade die Besonderheit, den Holocaust verur-
sacht zu haben, in einen nationalen Mythos umgedeutet werden; vgl. hierzu Apitzsch
(2000).
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 233
sehr wichtig, weil sie den Gang und die Entwicklung der Untersuchung deutlich
machen – dies auch gerade deshalb, weil das Gesamtmanuskript wegen Adornos
Abreise nach Frankfurt a. M. nicht mehr redigiert wurde. So zeigen sich sowohl die
Stärken als auch die Schwächen dieses Unternehmens, dessen Aufgabe darin be-
stand, die potentielle Empfänglichkeit für faschistische, antisemitische und all-
gemein anti-demokratische Meinungen bei Angehörigen der weißen Mittelschicht
herauszufinden, die in den USA geboren (und nicht-jüdisch) waren. Die in-
dividuelle Charakterstruktur oder personality wird dabei keineswegs als etwas
Gegebenes, Fixiertes verstanden, sondern entwickelt sich vielmehr »unter dem
Druck der Umweltbedingungen und kann niemals vom gesellschaftlichen Ganzen
isoliert werden«, wie es in der Einleitung heißt (1995, S. 7). Angehörige ver-
schiedener Ausbildungs- und Berufsgruppen wurden mit Fragebögen befragt,
anschließend wurden diejenigen interviewt, die sich durch ausgeprägte oder auch
(relativ) abwesende antisemitische Vorstellungen charakterisierten. An Freuds Psy-
choanalyse orientierte Kategorien der Persönlichkeitsentwicklung dienten als In-
terpretationsfolie für die Interviews, um eine Theorie der Vorurteilshaftigkeit und
der Autoritätsgebundenheit auszuarbeiten. Im Verlauf des Forschungsprojekts ver-
schob sich der spezifische Schwerpunkt hinsichtlich antisemitischer Vorurteile, wie
Adorno erklärt: »Das führte schließlich dazu, daß wir unsere Hauptaufgabe nicht
darin sahen, den Antisemitismus als sozialpsychologisches Phänomen per se zu
analysieren, sondern vielmehr darin, die Beziehungen minoritätenfeindlicher Vor-
urteile zu umfassenderen ideologischen und charakterologischen Konfigurationen
zu untersuchen« (1995, S. 108).
Explizit wird diese Neufokussierung der Fragestellung in der Analyse zweier
Einzelfälle durch R. Nevitt Sanford ausgearbeitet. »Mack« und »Larry«, zwei
College-Studenten, die zunächst einige Ähnlichkeiten aufweisen, in ihrem Wahl-
verhalten (Republikaner) und in bestimmten politischen und gesellschaftlichen
Einschätzungen (sie sind gegen das »New Deal«), unterscheiden sich dann aber
darin, dass Mack Vorurteile gegen Juden sowie gegen andere Bevölkerungsgruppen
äußert, Larry sich jedoch ausdrücklich gegen jede Form der Diskriminierung
ausspricht und sich das auch darin zeigt, wie er über Angehörige von Minderheiten
redet. Sanford arbeitet heraus, dass Macks politische Einstellungen im Unterschied
zu denen Larrys zwar konservativ erscheinen, genaugenommen aber pseudo-
konservativ sind. Sein Eintreten für einen rugged individualism, »which apparently
expresses the liberal concept of free competition among independent and daring
entrepreneurs, actually refers more often to the uncontrolled and arbitrary politics
of the strongest powers in business – those huge combines which as a matter of
historical necessity have lowered the number of independent entrepreneurs«
(Adorno u. a. 1950, S. 50). Im Pseudo-Konservatismus, wie er sich bei Mack zeige,
gebe es eine grundlegende Bereitschaft, einen totalitären politischen Umsturz zu
befürworten.
Der Befund, dass Mack über die Juden ganz ähnlich wie über andere Minoritä-
ten und politische Gruppen spricht, denen er ablehnend bis feindselig gegenüber-
steht, führt Sanford zu dem Schluss, »that we are faced here not with a particular
set of political convictions and a particular set of opinions about a specific ethnic
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 235
group but with a way of thinking about groups and group relations generally«
(ebd., S. 51).
Um solche tiefliegenden antidemokratischen Einstellungen analysieren zu kön-
nen, wurde nach den Diagnose-Kriterien der Antisemitismus (A-S) und Ethnozen-
trismus (E)-Skalen anschließend eine Skala zum Politisch-Ökonomischen Kon-
servatismus (PEC) entwickelt. Dies bildete insgesamt die Grundlage für das Ana-
lyse-Instrument der Faschismus (F)-Skala, zur Messung impliziter antidemokra-
tischer Züge. Die F-Skala wurde nach Adornos Rückkehr nach Frankfurt
weiterentwickelt, als eine der ersten empirischen Forschungen am neugegründeten
Institut für Sozialforschung unter Horkheimers Leitung (hierzu ausführlich Demi-
rovic 1999, Kap. 3 und 4).
Die Entwicklung der Skalen wurde nach meinem Eindruck überhaupt erst aus
den beiden Einzelfall-Studien zu Mack und Larry möglich. Dies wird aus den
einzelnen Beiträgen der Authoritarian Personality deutlich, die gleichzeitig auch ein
Dokument der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Diskussionen in der For-
schergruppe sind. Beispielsweise wurde eine verkürzte Form der Antisemitismus-
Skala auch darüber validiert, dass sie den beiden College-Studenten vorgelegen
hatte, und im Verhältnis zu deren Fallstudien interpretiert wurde (Sanford 1950,
S. 89–92). Dass Fallstudien die interpretative Grundlage der Umfrage-Entwicklung
bildeten, wird allerdings aus den auf deutsch veröffentlichten Auszügen der Stu-
dien zum autoritären Charakter nicht ersichtlich. Es fehlen nicht nur die ent-
sprechenden Beiträge Sanfords, sondern auch die Beispiele, die sich auf die Fall-
studien beziehen (vgl. Anm. 21 zur Schlussbemerkung, 1995, S. 1014). Vielleicht
geht es zu weit zu sagen, dass diese »Aussparung« die Rezeptionsgeschichte der
Authoritarian Personality in Deutschland prägte. Auf jeden Fall erschließt sich
durch die Berücksichtigung der zentralen Rolle der beiden Fallstudien aber eine
Perspektive, die der gemeinsamen Zusammenarbeit in der Forschergruppe und
ihrer interpretativen Forschungspraxis die Bedeutung gibt, die ihr zukommt. Der
Eindruck eines »einsamen Theoretikers«, der viele der nachfolgenden Genera-
tionen von Studierenden davon abgehalten haben kann, Arbeiten von Adorno zu
lesen, könnte auch dadurch verändert werden, dass gerade auf seine Forschungs-
praxis aufmerksam gemacht würde.
Die empirische Forschung, auf die sich Horkheimer und Adorno zunächst als
Kompromiss eingelassen hatten, um ihre Arbeit an den »Philosophischen Frag-
menten« fortführen zu können, entwickelte eine eigene schöpferische Dynamik.
Adorno äußerte sich viele Jahre später positiv über die damalige Zusammenarbeit
in Forschungsprojekten, die gerade im amerikanischen Exil möglich war: »The
spirit of enlightenment also in relation to cultural problems, in the American
intellectual climate a matter of course, had the greatest attraction for me.«5
4 »Abschnitt F des englischen Kapitels, das sich mit den Reaktionen zweier in klinischen
Interviews Befragter auf die F-Skala befasst, wurde hier ausgespart.«
5 »Scientific Experiences of a European Scholar in America«, in: Perspectives in American
History, Harvard University, Vol. II, 1968; auf deutsch in Adorno, GS Bd. 10/2, S. 702–38;
hier zitiert nach Hohendahl (1995, S. 42)
236 Lena Inowlocki
Auf der einen Seite haben die Arbeiten der kritischen Theoretiker im amerikani-
schen Exil eine nachhaltige Wirkung auf die US-amerikanische Sozialforschung,
Sozialtheorie und Kulturanalyse ausgeübt, auf der anderen Seite beeinflussten die
damaligen Forschungssituationen und -kooperationen auch die spätere Arbeit von
Adorno und Horkheimer:
»Confronting and analyzing racial prejudice, especially anti-Semitism, remained a crucial task
for Adorno after he returned home. When he addressed this question in Germany, he
frequently drew on the authoritarian personality project as a model of theory-oriented
empirical research coming out of a specifically American cultural and intellectual climate.«
(Hohendahl 1995, S. 42)
Peter Uwe Hohendahl zitiert dazu weiter aus Adornos Aufsatz:
»This kind of cooperation in a democratic spirit that does not get bogged down in formal
political procedures and extends into all details of planning and execution, I found to be not
only extremely enjoyable but also the most fruitful thing that I became acquainted with in
America, in contrast to the academic tradition in Europe.«6
Diese Haltung Adornos entwickelte sich erst in den 1950er und 1960er Jahren,
nach seiner Rückkehr, und teilweise gerade kontrastiv dazu, wie er trotz der
positiven Forschungserfahrung in den USA seine Zeit dort erlebt hatte.
Hier bleibt festzuhalten, dass der Forschungs- und Interpretationsprozess der
Exilzeit, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit gesellschaftskritischen Psy-
choanalytikern, für die Entwicklung der Kritischen Theorie eine bedeutende Rolle
spielte. Für die Rückkehrer nach Frankfurt kam trotz ihrer Bemühungen um
empirische und interdisziplinäre Forschung ein solcher langfristiger Arbeitszusam-
menhang am neu gegründeten Institut für Sozialforschung nicht mehr zustande.
Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass bereits am »Gruppenexperiment«,
der ersten, weit beachteten sozialpsychologisch-empirischen Forschung zu Autori-
tarismus, Antisemitismus und anti-demokratischen Einstellungen, keine Psycho-
analytiker beteiligt waren (für die detaillierte Schilderung der Forschungssituation
am IfS Anfang der 50er Jahre vgl. Demirovic 1999, S. 339ff). Der Beitrag einer
gesellschaftskritischen Psychoanalyse wurde später institutionell »ausgelagert«,
durch die Gründung des universitären »Instituts für Psychoanalyse« unter Leitung
von Alexander Mitscherlich. Es gab aber weiterhin gemeinsame Arbeitszusammen-
hänge, in denen kritische Theorie weiter entwickelt wurde; Jürgen Habermas
bezieht sich darauf in Erkenntnis und Interesse (1968). Auch gegenwärtig werden
psychoanalytische und soziologische Perspektiven auf offene Weise zu Fallinter-
pretationen und thematischen Diskussionen eingebracht und weiter entwickelt.7
Im Folgenden möchte ich – wenn auch nur kurz – auf ein weiteres Teilprojekt
zu den destruktiven Tendenzen in der zivilisierten Gesellschaft eingehen, und zwar
auf Adornos brillante und exemplarische Analysen von Redeauftritten und Radio-
sendungen antisemitischer Agitatoren. Die Analysen wurden mit den emigrierten
6 Siehe Anm. 4.
7 Beipielsweise in einem »Forum«, das am Sigmund-Freud-Institut im Anschluss an den
11.09.01 initiitiert wurde, um Fragestellungen zu Gewalt, zu Öffentlichkeit, zu Anti-
semitismus, Rassismus und Autoritarismus zu besprechen.
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 237
Psychoanalytikern Ernst Simmel, Otto Fenichel und Geza Róheim diskutiert und
1946 veröffentlicht in dem von Ernst Simmel herausgegebenen Band Anti-Semi-
tism. A Social Disease (1993 auf Deutsch erschienen).
8 »The psychological technique of Martin Luther Thomas’ Radio Addresses«, 1943; aus
dem Nachlass publiziert, engl. in GS Bd. 9.2 (1975), dt. 1995, in dem Band Studien zum
autoritären Charakter.
238 Lena Inowlocki
schreibt, dass »jedes klar umrissene Programm nur eine Einschränkung« für die
agitatorische »Dynamik« darstellen würde: »Der totalitären Herrschaft ist es we-
sentlich, dass es keinerlei Garantien gibt, dass der skrupellosen Willkür keine
Grenze gesetzt wird« (S. 151). Auf die Gegenwart bezogen würde ich dies so
formulieren, dass die explizite oder implizite Bezugnahme rechtsextremer oder
populistischer Politiker auf die historisch geschehene grenzen- und skrupellose
Willkür ihnen einen Machtzuwachs verschafft. Implizit kann dies beispielsweise
über das Hervorheben scheinbar positiver Aspekte der NS-Herrschaft gehen, wenn
suggeriert wird, »damals« habe es eine gemeinschaftliche Anstrengung gegeben,
weniger Kriminalität, eine »bessere Arbeitsmarktpolitik«; gleichzeitig legitimiert
dies zumindest im Rückblick totalitäre Herrschaft.
Weiterhin sind Überlegungen interessant, wie in Politik und Medienöffentlich-
keit ganz allgemein mit rhetorischen Mitteln an der Erzeugung einer »Dynamik«
gearbeitet wird; inwiefern »Dynamik« grundsätzlich zu politischer Rede und
öffentlicher Darstellung gehört und ob besondere Formen der Erzeugung von
Dynamik eher zu einer demokratischen Öffentlichkeit beitragen als andere.
Adorno geht in der Folge auf mehrere Aspekte faschistischer Propaganda ein,
die gerade unter dem Gesichtspunkt beeindrucken, dass deren konstruktioni-
stischer Charakter und damit deren Modernität herausgearbeitet wird. Im Gegen-
satz zu der damaligen Massenpsychologie hebt er die Elemente bewusster Manipu-
lation hervor: »Zynische Nüchternheit ist für die faschistische Mentalität wahr-
scheinlich eher charakteristisch als psychologische Berauschung«. Das Ich spiele in
der faschistischen Irrationalität eine viel zu große Rolle, als dass eine Interpretation
angeblicher Ekstase »als einer bloßen Manifestation des Unbewussten zulässig
wäre«, denn: »An der faschistischen Hysterie ist immer etwas Stilisiertes, Arran-
giertes, Unechtes«, auf das sich die kritische Aufmerksamkeit richten solle
(S. 152).
Diese Sichtweise eröffnet Fragestellungen danach, wie an dem Zustand »gear-
beitet« und das produziert wird, was als eine »natürliche« massenhafte Begeiste-
rung und Erregung gelten soll. Dies ist exemplarisch für eine theoretisch-em-
pirische Vorgehensweise der Untersuchung, in der Phänomene als in einem be-
stimmten gesellschaftlichen Kontext konstituierte analysiert werden. Hier deutet
sich eine zunächst unerwartete Übereinstimmung mit phänomenologischen und
pragmatistischen Forschungstraditionen an. Substantiieren lässt sich diese Konver-
genz durch die Vorgehensweise Adornos, wenn er ein Phänomen sozusagen struk-
turell beschreibt, das heißt, es im Hinblick auf dessen Mechanismen und Prozesse
untersucht. Nach diesen kurzen Bemerkungen zur Aktualität der Analysen möchte
ich im Folgenden näher betrachten, wie Adorno dabei vorgegangen ist.
9 Eine Soziologin, die auch auf Grund ihrer Vertrautheit mit unterschiedlichen Ansätzen
deren produktive Gemeinsamkeiten herausarbeitete, war Christa Hoffmann-Riem (1994).
Für eine Konvergenz von Forschungstraditionen, gegenüber einer Zurechnung zu »Schu-
len«, vgl. auch Apitzsch und Inowlocki (2000).
240 Lena Inowlocki
zeugung und auch weitere Involvierung des Sprechers und der Zuhörer, kenn-
zeichnet auch vergleichbare Agitation und Mobilisierung in der Gegenwart. In
meiner Untersuchung zum Rechtsextremismus Jugendlicher habe ich herausge-
funden, dass sie im Prozess ihres Mitgliedwerdens und der Intensivierung ihrer
Gruppenzugehörigkeit sich selbst und sich gegenseitig immer weiter in ihre Über-
zeugungen »hineinreden«.10 Dabei beziehen sie sich auf NS-Originalquellen, auf
relativierende und legitimierende Darstellungen der NS-Zeit und des Krieges und
auf die Leugnung des Holocaust. Insbesondere der Leugnung des Holocaust – bei
gleichzeitiger Andeutung einiger Anführer, wozu man imstande sei – kommt für
eine antisemitische Welterklärung die konditionelle Relevanz zu, die Eröffnung der
Handlungsmöglichkeit, alles behaupten und damit auch scheinbar sich selber
machtvoll über andere erheben zu können.
Für die Vorgehensweise der Untersuchung, die auf offenen Einzel- und Grup-
peninterviews und ethnographischen Beobachtungen beruht, haben mich unter-
schiedliche Forschungstraditionen inspiriert: die durch Fritz Schütze entwickelte
Biographieanalyse; ethnomethodologische Sichtweisen auf »Gruppenmitglied-
schaft« von Harvey Sacks, Harold Garfinkel, Edward Rose; die durch Anselm L.
Strauss entwickelten Kategorien sozialer Weltbezüge; der symbolische Interak-
tionismus von Howard S. Becker. Nachträglich würde ich gerne Adornos Pro-
paganda-Analysen hinzu nehmen, da sie so genau charakterisieren, was rechts-
extreme Agitation ausmacht: so die Vergleichbarkeit von Propagierung mit »Re-
klame« – wie ich sie insbesondere im Fall von »Armin« fand, der für sich eine
glänzende Zukunft als Propaganda-Redner in der Nachfolge von Goebbels voraus-
sah und sich in eine illusionäre Führerrolle hinein steigerte, während er selbst
durch einen Ex-Wehrmachtsoffizier rekrutiert wurde, der sich zur Aufrechterhal-
tung seiner eigenen Lebenslüge eines »positiven Nationalsozialismus« aller Regis-
ter der Propaganda-Rede bediente, um Jüngere an sich zu binden; sowie, um nur
ein weiteres Beispiel zu nennen, die Analyse der Destruktivität des antisemitischem
Verfolgungswahns, der als allgemeine Zerstörungswut auch auf den eigenen Unter-
gang hinausläuft, wie es für einige der Jugendlichen der Fall war.
Wie kann aber Kritische Theorie in einem Atemzug mit den anderen Forschungs-
traditionen genannt werden? Dagegen sind viele Einwände denkbar. So kann die
11 Als eine Voraussetzung für situierte und kontextreflexive Analysen hat, wie Kathy Davis
(2002) ausführt, feministische Forschung die persönlichen, normativen und intellektuellen
biographischen Rekonstruktionen der Forschenden zu denen der Erzählenden in Bezie-
hung gesetzt und auch ihre Unterschiedlichkeiten in die Analyse mit einbezogen; insofern
kann gerade kritisch-reflexive Forschung auch gesellschaftskritisch sein. – Zu anderen
Weiterentwicklungen kritischer Theorie kommt es in der Auseinandersetzung mit An-
sätzen der Cultural Studies. So stellt René Gabriels (2002) zur These der grenzenlosen
kulturindustriellen Manipulierbarkeit heraus, dass es sich gerade in einer globaler Per-
spektive zeigen kann, dass durch populäre Kultur auf eigensinnige Weise auch Kritik an
der Kulturindustrie zum Ausdruck gebracht wird.
242 Lena Inowlocki
Elite- und Massenbildung, eben dem Autoritarismus und der Irrationalität zehren
und auch von der realen Destruktivität des NS-Regimes. Wenig thematisiert,
vielmehr oft direkt bestritten wird auch die Bedeutung von Familienmilieus, in
denen es auf direkte oder indirekte Weise zu legitimierenden Darstellungen der
NS-Zeit kommen kann. Dabei geht es um materiale Erinnerungsspuren, die eine
Auseinandersetzung erfordern, indem sich die am Nationalsozialismus Beteiligten
und die nachfolgenden Generationen damit beschäftigen. Eine Vermeidung von
Eingeständnis, Verzweiflung und Scham und deren reaktive Abwehr tauchen dann
auch immer wieder in Politik, Medienöffentlichkeit und Gesellschaft auf.12
tion von Vorurteilen vermieden werden? Dazu könnte eine Sozialforschung bei-
tragen, in der die Prozesse der eigenen Auseinandersetzung mit Herkunft unter-
sucht werden – und zwar für alle Gruppen in der Bevölkerung, Mehrheiten und
Minderheiten. Es würden dann nicht mehr nur oder vor allem über Andere
Aussagen getroffen, und es könnten strukturelle Ähnlichkeiten der Prozesse der
Auseinandersetzung mit Herkunft deutlich werden sowie die spezifischen Be-
sonderheiten der Auseinandersetzung Einzelner in ihrer jeweiligen Mehrheits- und
Minderheitssituation, die auch deren Schichtzugehörigkeit und Geschlecht bein-
haltet.14 Wenn es zu einer gesellschaftlichen Anerkennung von Differenz kommen
soll und zu einer Universalisierung von Perspektivenübernahme und Reziprozität
über partikulare Gruppen hinaus, so könnten Erkenntnisse solcher Forschung
etwas dazu beitragen.
Abschließend möchte ich kurz auf die Überlegungen zur Analyse von Einzel-
fällen und zum Subjektbegriff zurück kommen. Zum Verhältnis des Individuums
zur Gesellschaft schreibt Adorno in Minima Moralia:
»In der individualistischen Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich
durchs Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist wesentlich
Substanz des Individuums. Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der in-
dividuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, wäh-
rend umgekehrt die großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen
angestiftet ward, vorm Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind.« (1951, S. 12)
14 An dieser Stelle kann ich nur darauf hinweisen, dass der Traditionsbegriff von Walter
Benjamin (2000) und von Theodor W. Adorno (1973) für eine Untersuchung der Ausein-
andersetzung mit Herkunft wichtig ist. Auf Paradoxien einer solchen Auseinandersetzung
im Bewusstheitskontext der Shoah bin ich in einem anderem Zusammenhang eingegangen
(Inowlocki 2000a).
15 Vgl. hierzu Hohendahl (1995,8): »(T)he poststructuralist approach focuses on Adorno’s
critique of traditional logic, especially identity logic and its extension into the concept of
the subject. This reading wants to subvert what Marxist theory had, by and large, taken
for granted and ascribed to the writings of Adorno: namely, a stable concept of sub-
jectivity and agency (as opposed to the state of fragmentation and passivity found in
advanced capitalism, for instance). The poststructuralist reading would emphasize Ad-
orno’s critique of subjecitivity, a critique that does not merely focus (as does Lukács) on
fragmentation under monopoly capitalism but rather calls the entire Western tradition –
the very constitution of subjectivity and identity in Greek culture – into question.
The potential danger of this approach is its one-sided insistence on the subversion of the
subject, since Adorno, unlike structuralist Marxists such as Louis Althusser, did not treat
the subject as a moment of pure ideology. Negative dialectics does not cancel the subject;
rather, the text unfolds the dialectical tension between the principle of domination and the
resistance to the social system.«
244 Lena Inowlocki
Literatur
Eine der zentralen Problemstellungen, wenn nicht gar die zentrale Problemstellung
des Projektes der Kritischen Theorie (vgl. Dubiel 1978, Wiggershaus 1987) ist eine
radikale Kritik der Gegenwart in Bezug auf das Verhältnis von Macht und Ratio-
nalität. Im Zentrum steht die Frage nach den Individualisierungschancen und
-risiken in modernen Gesellschaften und ihrer historischen Genese.
Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus wandelt sich
der zunächst eher optimistische Grundton der Kritischen Theorie zu einer eher
resignativen bzw. pessimistischen Haltung. Diese Wandlung manifestiert sich über-
deutlich in der Dialektik der Aufklärung (1944), der wohl bedeutendsten Ver-
öffentlichung der Kritischen Theorie (vgl. etwa Schmid Noerr 1997, S. 423; Stre-
cker 2001, S. 308). Für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno strahlt die
»vollends aufgeklärte Erde« nun »im Zeichen triumphalen Unheils« (Horkheimer/
Adorno 1944, S. 25). Und die Autoren notieren in ihrer Vorrede, dass es ihnen in
ihrem als Verfallsgeschichte angelegten geschichtsphilosophischen Deutungsver-
such der abendländischen Zivilisationsgeschichte um nicht weniger als die Antwort
auf die Frage gehe, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft mensch-
lichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt« (ebd., S. 16).
Die formal locker verbundenen Textteile der Dialektik der Aufklärung sind argu-
mentativ streng auf einander bezogen: Über die Analyse unterschiedlicher sozialer
Phänomene rekonstruieren Horkheimer und Adorno aus dem mythisch verar-
beiteten Kampf gegen die Naturkräfte die Geburt des bürgerlichen Individuums.
Diese wiederum verbinden sie mit ihnen bedrohlich erscheinenden Entwicklungen
zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei postulieren Horkheimer und Adorno struk-
turelle Gemeinsamkeiten zwischen antiken warenproduzierenden und modernen
kapitalistischen Gesellschaften und verfolgen auf dem Hintergrund einer ›Ur-
geschichte der Subjektivität‹ die Frage nach den Ursachen totalitärer Herrschaft.
Einschränkend bemerken sie anlässlich der Neuauflage der Dialektik der Aufklä-
rung 1969 allerdings: »Nicht an allem, was in dem Buch gesagt ist, halten wir
unverändert fest. Das wäre unvereinbar mit einer Theorie, welche der Wahrheit
248 Andrea D. Bührmann
einen Zeitkern zuspricht, anstatt sie als Unveränderliches der geschichtlichen Be-
wegung entgegen zu setzen« (Horkheimer/Adorno 1969, S. 13).
Horkheimer und Adorno kommen zu dem Schluss, dass der Nationalsozia-
lismus auf den fundamentalen Grundzügen der abendländischen Zivilisation ba-
siert: In ihm kehre die elementar rächende, unversöhnte Natur zurück. Das Ver-
hältnis des Menschen zur Natur entziffern sie in diesem Zusammenhang als ein
Herrschaftsverhältnis. Um ihre Furcht vor einer chaotisch erscheinenden Natur zu
bewältigen, setzten sich die Menschen mit den Instrumenten der Aufklärung als
deren Herrscher ein. Der Mythos diene insofern der Selbsterhaltung. Dabei be-
trachten Horkheimer und Adorno Aufklärung und Mythos gerade nicht als unver-
einbare Gegensätze, sondern als dialektisch miteinander vermittelte Qualitäten.
Denn »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie
zurück« (Horkheimer/Adorno 1944, S. 21). Jener fundamentalen Vernunftskepsis
von Horkheimer und Adorno, die allerdings zuletzt von Jan Weyand (2001) in
Frage gestellt worden ist, setzt Habermas, so kommentieren Christian Schneider,
Cornelia Stillke und Bernd Leineweber (2000, S. 149) »ein ebenso hemmungsloses
Vertrauen in den Universalismus der Grundwerte der Aufklärung entgegen, das
sich in systematischer Hinsicht durch die zur Tatsache gewordene Zerstörung der
Vernunft offensichtlich nicht beirren ließ.« (Zur Aktualität dieser Fragestellung vgl.
Söffner/Miller 1996.)
Wie aber wird in der Dialektik der Aufklärung die Geburt des bürgerlichen
Individuums aus dem mythisch verarbeiteten Kampf gegen die Naturkräfte re-
konstruiert?
Zur Bearbeitung dieser Problemstellung beziehen sich Horkheimer und Adorno
vor allen Dingen auf die marxistische Gesellschaftstheorie, die sie allerdings durch
eine Integration psychologischer Theoriekonzepte – insbesondere aber der Freud-
schen Psychoanalyse – entscheidend erweitern und damit modifizieren. Zwar
bildet die Freudsche Zivilisationstheorie auch den Kern der Zivilisationstheorie,
wie sie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung entwickeln.
Jedoch verschieben sie den Akzent auf das gesellschaftliche Herrschaftsprinzip, das
sich im Freudschen Realitätsprinzip verberge.
Horkheimer und Adorno begreifen das moderne Subjekt als Ergebnis eines
historischen Prozesses, der schon in der Antike beginnt. Dabei sind für sie Men-
schen nicht schon immer Subjekte:
»Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckge-
richtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in
jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf
allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit
zu seiner Erhaltung gepaart.« (Horkheimer/Adorno 1944, S. 56)
Dieses Subjekt steht nun für Horkheimer und Adorno immer vor der Bedrohung
und Versuchung des Rückfalls in bloße Natur, der es doch gerade durch Disziplin
und Selbstverleugnung zu entgehen versucht.
»In der Klassengesellschaft schloß die Feindschaft des Selbst gegens Opfer ein Opfer des
Selbst ein, weil sie mit der Verleugnung der Natur und über andere Menschen bezahlt war um
der Herrschaft über die außermenschliche Natur und über andere Menschen willen […]. Die
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 249
Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen
Worten: die Geschichte der Entsagung.« (ebd., S. 51)
Für Adorno und Horkheimer ist schon die ›Urgeschichte der Subjektivität‹ nicht
nur als Opferlogik per se, sondern darüber hinaus als ihre Radikalisierung bis hin
zur völligen Irrationalität angelegt. Denn das Subjekt selbst werde bis zur Vernich-
tung geopfert. Der Prozess der fortschreitenden Rationalisierung zerstöre die
neuzeitliche Gestalt der Subjektivität.
Subjektivität ist also für Adorno und Horkheimer in ihren zentralen Zügen
historisch-gesellschaftlich bestimmt und Produkt einer bis in die Frühgeschichte
zurück reichenden Entwicklung, die im bürgerlichen Individuum kulminiert. Diese
bürgerliche Individualität gilt ihnen allerdings nur als Aufscheinen der von der
Aufklärung versprochenen Realisierung des Ideals gelingender autonomer Sub-
jektivität. Gleichzeitig wird sie als normatives Modell von Subjektivität überhaupt
stilisiert. Aus diesem Grunde auch interpretieren Adorno und Horkheimer die
gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Entwicklungen bis hin zu histori-
schen Formen von Subjektivität als durch die Kulturindustrie indizierte Deforma-
tionen.
Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur ›Urgeschichte der Subjektivität‹
bildet Homers Odyssee. Dabei betrachten Horkheimer und Adorno die Odysse als
»ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno
1944, S. 58) sowie als »Grundtext der europäischen Zivilisation« (ebd., S. 69), d. h.
also als ein Dokument, anhand dessen sich die Strukturen moderner Subjektivität
rekonstruieren lassen. Menschen werden – laut Horkheimer und Adorno – zu
Subjekten, indem sie Herr ihrer selbst werden, d. h. ein Herrschaftsverhältnis über
sich selbst errichten. Sie können Herr über sich selbst werden, falls sie lernen, ihre
Triebe und Gefühle – insbesondere aber ihren Sexualtrieb zum Objekt ihrer
Beherrschung zu machen und sie so zu sublimieren. »Vor den Göttern besteht nur,
wer sich ohne Rest unterwirft. Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die
Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen« (ebd., S. 31).
Dies wird für die beiden Autoren an der Geschichte über die Fahrt des Grund-
besitzers und Herrn Odysseus und seinen Gefährten vorbei am Gesang der Sirene
deutlich. Odysseus und seine Gefährten müssen nämlich dem »unwiderstehlichen
Versprechen von Lust« (ebd., S. 56) des Sirenengesangs widerstehen, indem sie sich
entweder, wie Odysseus, fesseln, oder, wie seine Gefährten, die Ohren mit Wachs
verstopfen lassen. Denn, so notieren Horkheimer und Adorno (ebd., S. 57) in
Bezug auf die Gefährten des Odysseus: »Wer bestehen will, darf nicht auf die
Lockung des Unwiderbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht
zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt. Frisch und konzentriert
müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegenlassen, was zur Seite
liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzlicher
Anstrengung sublimieren.«
In Bezug auf Odysseus, den Horkheimer und Adorno – anders als seine
Gefährten – als »Urbild eben des bürgerlichen Individuums« (ebd., S. 67) be-
greifen, führen sie aus, dass er sich um so stärker fesseln läßt, desto größer die
Lockung der Sirenen geworden sei, »so wie nachmals die Bürger auch sich selber
250 Andrea D. Bührmann
Horkheimer und Adorno zielen nun darauf, aus dieser Logik auszubrechen, die
ihrer Meinung nach unverzichtbar für die Selbsterhaltung bis in die Gegenwart
andauert. Sie plädieren für eine aufhebende Lösung der Widersprüche statt einer
regressiven Aufhebung der Widersprüche im Sinne einer Reduktion der Einzelnen
auf bloß abhängige Momente der totalitären Gesellschaft das Wort zu reden, die
demnach allenfalls noch eine kulturindustriell erzeugte ›Pseudoindividualität‹ besä-
ßen. Der Einzelne schrumpfe nämlich im Sinne einer »Pseudoindividualität« (ebd.,
S. 182) »zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zu-
sammen, die sachlich von ihm erwartet werden« (ebd., S. 51). Dabei disqualifizie-
ren sie die gegenwärtigen Denk- und Lebensformen und – darauf machen etwa
Artur Bogner (1989) und Martin Kohli (1988) aufmerksam – hypostasieren den
frühkapitalistischen Unternehmer zum »Paradigma des ›Individuums‹« (Bogner
1989, S. 76). Damit reifizieren sie allerdings auch die »großbürgerliche Verachtung
der Massenindividualisierung« (Schroer 2001, S. 80), die sie doch so heftig kriti-
sieren.
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 251
Bei näherer Betrachtung zeigen sich zwei Dinge. Erstens beantworten Horkheimer
und Adorno die Frage, wie Subjektivität entsteht, auf dem Hintergrund der
Freudschen Psychoanalyse. Diese kritisieren sie zwar: Zum einen wenden sie sich
dagegen, dass in den psychoanalytischen Begriffen Geschichte »zu einer endofami-
liären Konfliktgeschichte« (Rantis 2001, S. 44) zusammenschrumpfe. Dagegen be-
tonen sie die Bedeutung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse für
die Konstituierung von Subjektivität. Zum anderen kritisieren Horkheimer und
Adorno, dass Sigmund Freud das Subjekt als Anfang der Geschichte unterstelle,
nicht als historisch Gewordenes. Zwar beschreibe Freud die verhängnisvollen
Mechanismen des Prozesses der Kulturentwicklung, jedoch ziehe er aus diesem
Prozess gerade nicht die notwendigen Konsequenzen für eine Kritik am gesell-
schaftlichen Prinzip der Herrschaft. In ihrer Reformulierung der Freudschen Zivi-
lisationsgeschichte in der Dialektik der Aufklärung tritt »an die Stelle des Trieb-
verzichts […] das Opfer des Selbst, an die Stelle der Introjektion › der Verin-
nerlichung der gehemmten Aggression, die Introversion der Opfers, die aber die
Bedeutung von Verinnerlichung hat […], und an die Stelle der Versagung die
Entsagung« (Rantis 2001, S. 85). Jedoch übernehmen Horkheimer und Adorno den
Gedanken Freuds, dass der kulturelle Fortschritt der Menschheit nur um den Preis
der individuellen Triebunterdrückung, insbesondere aber die Unterdrückung des
Sexualtriebes, zu erlangen sei. Sie unterstellen, dass die Beherrschung der Triebe
bzw. ihre adäquate Sublimierung angesichts des Zwangs zur Selbsterhaltung wie
zur Naturbeherrschung unhintergehbar ist und kommen zu dem Schluss: »Der
Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression« (Hork-
heimer/Adorno 1944, S. 59). Ausgehend davon können die Überlegungen von
Horkheimer und Adorno als eine Reformulierung der psychoanalytischen Ent-
wicklungslehre in Gestalt der Theorie des Ödipus-Komplexes (vgl. Freud 1930)
angesehen werden. Damit aber historisieren und kontextualisieren Horkheimer
und Adorno zwar das von Freud postulierte Triebgeschehen. Gleichzeitig jedoch
ontologisieren sie die Vorstellung, dass die Verdrängung des Sexualtriebes not-
wendiger Bestandteil im Prozess der Konstituierung von Subjektivität sei.
Zweitens wird deutlich, dass Horkheimer und Adorno (1944, S. 78) in ihrer
›Urgeschichte der Subjektivität‹ die Geburt des modernen Subjekts als Geburt des
männlichen Subjekts rekonstruieren. Während der Mann sich über die Installierung
eines Herrschaftsverhältnisses über sich selbst individuieren kann – wohlgemerkt
allerdings derjenige nur, der sich für Odysseus Weise der Subjektivierung ent-
scheiden kann – wird der Frau »als Repräsentantin der Natur« (ebd., S. 95) genau
jene Möglichkeit abgesprochen. So notieren Horkheimer und Adorno (ebd.,
S. 135):
»Der Mann als Herrscher versagt der Frau die Ehre, sie zu individuieren. Die Einzelne ist
gesellschaftlich Beispiel der Gattung, Vertreterin ihres Geschlechts und darum, als von der
männlichen Logik ganz Erfaßte, steht sie für Natur, das Substratum nie endender Subsumtion
in der Idee, nie endender Unterwerfung in der Wirklichkeit. Das Weib als vorgebliches
Naturwesen ist Produkt der Geschichte, die es denaturiert.«
252 Andrea D. Bührmann
Horkheimer und Adorno konstatieren also, dass der Frau eine autonome Sub-
jektivierung versagt wird, ja sie wird immer in Abhängigkeit zum implizit männ-
lichen Subjekt gedacht, gerade weil der ›Mann als Herrscher‹ ihr die ›Ehre versagt‹,
die Frau zu individuieren. Das bedeutet auch, dass sich die Frau laut Horkheimer
und Adorno nicht selbst individuieren kann. Andrea Maihofer (1995, S. 113)
konstatiert in diesem Kontext: »Den Frauen wird Horkheimer und Adorno zu-
folge dagegen die Entwicklung eines eigenen Verhältnisses zu sich selbst als Subjekt
verweigert und die ›männliche‹ Form des Subjekts gleichsam von ›außen‹ als
Selbstverhältnis aufgezwungen.« Zugleich aber wird die Frau als Verkörperung des
Sexuellen in der Dialektik der Aufklärung als potenzielle Bedrohung der patriar-
chalen Ordnung und der männlichen Subjektivierung beschrieben (vgl. Horkhei-
mer/Adorno 1944, S. 56). In der Gestalt der Sirene bedrohe die Frau zwar die
männliche Subjektivierung, aber nur insoweit, wie der Mann nicht fähig sei, sich
selbst zu beherrschen. In der bürgerlichen Gesellschaft aber wird die Frau für
Horkheimer und Adorno schließlich zum Rätselbild von Unwiderstehlichkeit und
Ohnmacht. So spiegele sie »der Herrschaft die eitle Lüge wieder, die anstelle der
Versöhnung der Natur die eitle Lüge setzt« (ebd., S. 95). Und Horkheimer und
Adorno fahren fort: »Die Ehe ist der mittlere Weg der Gesellschaft, damit sich
abzufinden: die Frau bleibt die Ohnmächtige, indem ihr Macht nur vermittelt
durch den Mann zufällt« (ebd., S. 95 f.). Dabei verstehen Horkheimer und Adorno
die Prostituierte wie die Gattin als »Komplemente der weiblichen Selbstentfrem-
dung in der patriarchalen Welt: die Ehefrau verrät Lust an die feste Ordnung von
Leben und Besitz, während die Dirne, was die Besitzrechte der Gattin unbesetzt
lassen, als deren geheime Bundesgenossin nochmals dem Besitzverhältnis unter-
stellt und Lust verkauft« (ebd., S. 97).
Diese Rekonstruktion der Herausbildung moderner Subjektivität in der Dialek-
tik der Aufklärung ist im Rahmen der Frauen- und Geschlechterforschung vielfach
als Reproduktion traditioneller Weiblichkeitsentwürfe kritisiert worden (vgl. etwa
Benjamin 1982, Beer 1988, 1990, Kulke 1989, Rumpf 1990, Scheich 1988, Schultz
1992)
Während etwa Ursula Beer (1990, S. 78) noch die Frage verneint, ob sich mit
Adorno »das Materialismus-Postulat in eine begrifflich-analytische Form bringen
läßt und zur Verortung des Geschlechterverhältnisses in seiner objektiv-gesell-
schaftlichen Verankerung beiträgt«, insistieren in der deutschsprachigen Diskus-
sion vor allen Dingen Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp auf der
Anschlussfähigkeit der Kritischen Theorie, genauer zu den Autoren der Dialektik
der Aufklärung, für eine kritische, feministische Forschung. Becker-Schmidt und
Knapp plädieren dafür, die Erkenntnispotenziale der Kritischen Theorie für eine
Analyse der Geschlechterdifferenz und der gesellschaftlichen Organisation des
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 253
»1. die Zielsetzung, alle sozialen Phänomene als historische zu begreifen; 2. die Notwendig-
keit, Herrschaftsbedingungen und Mechanismen der Machtdurchsetzung aufzudecken; 3. den
Anspruch, das gesellschaftliche Ganze als einen aus strukturellen Gründen widersprüchlichen
Zusammenhang zu begreifen; 4. die Perspektive, Wissenschaft als Anleitung zu einer emanzi-
patorischen Praxis betreiben zu wollen.« (ebd., S. 66)
Darüber hinaus erscheinen Becker-Schmidt (ebd.) aber noch zwei weitere Motive
wichtig: »die wechselseitige Bezogenheit von kritischer Subjekt- und Gesellschafts-
theorie sowie – und damit auf engste zusammenhängend – die Vertretung des
Rechts auf Besonderung in der Interdependenz von Individuum und Allgemein-
heit«.
In einem früheren Aufsatz rekurriert Becker-Schmidt (vgl. 1991) auf Adornos
Begriff der Totalität, mit dem dieser die gesellschaftliche Organisation von Produk-
tion und Reproduktion als Ganzes erfasse und versuche, innere und äußere Verge-
sellschaftung der Subjekte als in dieser Totalität strukturell vermittelte und ver-
mittelnde zu verstehen. In diesem Kontext fordert Becker-Schmidt (vgl. 1991,
S. 392) schließlich, Geschlecht als soziale Strukturkategorie zu begreifen. Auf diese
Weise will sie die Defizite im Projekt der Kritischen Theorie mit empirisch-
historischen Forschungsbefunden füllen, um so die Leerstellen und Abstraktionen
in Bezug auf die Kategorie Geschlecht zu überwinden. Dabei fordert sie »die
Konnexionen im Geschlechterverhältnis zu denen zwischen gesellschaftlichen Sek-
toren in Beziehung zu setzen« (Becker-Schmidt 2000a, S. 56).
Auch Knapp plädiert für eine kritische Frauenforschung in der Tradition der
254 Andrea D. Bührmann
Sexualität bzw. der Sexualtrieb für die Geschlechtsidentität eine zentrale Bedeutung
zugeschrieben wird, selbst nicht. Vielmehr erhält sie – anders in den Ausführungen
zu den Dimensionen Geschlechterdifferenz, Gender, Genus-Gruppe, Geschlech-
terbeziehungen und Geschlechterverhältnisse – einen vorgeschichtlichen, überzeit-
lichen Beiklang. Wenn aber die jeweilige Organisation des Triebapparates kulturell
bedingt ist, ergibt sich gleichwohl die Forderung, die Prozesshaftigkeit und damit
auch ihre historisch-konkreten und möglichen Variationen der Herausbildung von
Subjektivität systematisch zu thematisieren und begrifflich zu reflektieren, so dass
es möglich ist, jene Zentralität von Sexualität für die Organisation des Trieb-
apparates zu hinterfragen. Diese Forderung erscheint mir mit Blick auf das histo-
risch-konkrete Transformationsgeschehen von Subjektivierungsweisen zentral.
Die erwähnte Forderung verweist zunächst auf Studien zur sozialen Konstruktion
der Zweigeschlechtlichkeit und deren Reifizierung. Einige Autorinnen wie etwa
Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1992), aber auch Cornelia Ott (1998)
beziehen sich positiv auf die kritische Frauenforschung, da sie den prozessuralen
Charakter von Vergeschlechtlichung in den Mittelpunkt rücke, Brüche bzw. Wi-
dersprüche sichtbar mache und so eine Reifizierung des Weiblichen hintergehe.
Gegen Konzeptionen, die die Kategorie Geschlecht ausschließlich als Phänomen
sozialer Konstruktion begreifen, plädieren sie für eine Rückbindung der Erfor-
schung des Geschlechterverhältnisses an gesamtgesellschaftliche Analysen. Zu-
gleich wird kritisiert, dass viele Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht
innerpsychische Dynamiken in der Konstitution geschlechtlicher Subjektivität
weitgehend ausblenden.
Damit ist eine Kontroverse zwischen Forscherinnen, die sich dem Denken
Horkheimers und Adornos verpflichtet fühlen, und Forscherinnen, die sich auf
poststrukturalistische Theorietraditionen beziehen, angesprochen, obgleich auch
hier zumindest Affinitäten in Bezug auf eine Kritik an vereinheitlichenden ontolo-
gisierenden Identitätskonzepten aufzufinden sind. Im Mittelpunkt steht dabei,
ausgehend von der Überlegung, dualistische Geschlechtervorstellungen bzw. -ord-
nungen implizierten normative bzw. normalisierende Wirkungen, die Frage: Wie
kann die Kategorie Geschlecht als soziale bzw. kulturelle Konstruktion begriffen
werden, ohne zugleich davon zu abstrahieren, dass eben diese Kategorie als struk-
turierendes Merkmal des gesellschaftlichen Zusammenlebens wirkt? Im Verlauf der
Auseinandersetzung werden ethnomethodologische, sozialkonstruktivistische und
dekonstruktivistische bzw. poststrukturalistische Forschungsansätze kontrovers
diskutiert. Die Debatte selbst entzündet sich in der deutschsprachigen Frauen-
bzw. Geschlechterforschung vor allem an Judith Butlers 1990 veröffentlichten
Studie Gender Trouble. Feminism and the Subversion and Identity (Das Unbe-
hagen der Geschlechter, 1991a).
258 Andrea D. Bührmann
Ende der 1990er Jahre in weniger aufgeregte Versuche, die produktiven Impulse
ihrer Thesen und auch anderer poststrukturalistischer Forschungskonzepte mit
gesellschaftstheoretisch orientierten Forschungskonzeptionen zu verknüpfen. In
diesem Kontext scheint mir eine ›Rückbesinnung‹ auf die Arbeiten von Michel
Foucault besonders fruchtbar, auf den sich ja auch Butler explizit bezieht.
»Die Menschen haben nie aufgehört, sich selbst zu erzeugen, d. h. den Entwurf ihrer
Subjektivität ständig zu verlagern, sich in einer unendlichen und vielfältigen Reihe ver-
schiedener Subjektivitäten zu konstituieren, die niemals ein Ende haben wird und uns niemals
etwa gegenüberstellen wird, was ›der Mensch‹ wäre.« (Foucault 1981, S. 67)
»die ›Erzeugung des Menschen durch den Menschen‹ wesentlich in der Notwendigkeit
bestehe, all das zu befreien, was in dem an die Rationalität gebundenen repressiven bzw. an
die Klassengesellschaft gebundenen Ausbeutungssystem von dem Menschen und seinem
fundamentalen Wesen bloß abseitig erlebt worden ist.« (ebd., S. 66)
Foucault sieht das Problem gerade nicht darin, eine verlorene Form von Sub-
jektivität, also im Sinne der kritischen Theorie die bürgerlicher Individualität,
wieder zu erlangen und diese zu befreien. Vielmehr betrachtet er diese Vorstellung
von Subjektivität, insbesondere aber die psychoanalytischen Vorstellungen Freud-
scher und auch Lacanscher Prägung als außerordentlich problematisch. So konsta-
tiert er:
260 Andrea D. Bührmann
»Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man uns einlädt, ist bereits
in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ›Seele‹ wohnt in ihm und
schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den
Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie.« (Foucault
1976, S. 42)
An anderer Stelle notiert er, wie Thomas Schäfer (vgl. 1995, S. 176) meint, direkt
gegen das Denken von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung
gewendet: »Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschafts-
ordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das Individuum
darin dank einer Taktik der Kräfte und der Körper sorgfältig fabriziert« (Foucault
1976, S. 278 f.). Und Foucault fährt unmittelbar fort: »Wir sind weit weniger
Griechen als wir glauben« (ebd., S. 279).
In dieser Perspektive können zumindest der erste und der zweite Band seiner
Studien zur Histoire de la sexualité (Sexualität und Wahrheit, 1976, 1984) auch als
kritische Antwort auf die Dialektik der Aufklärung dechiffriert werden. Im zwei-
ten Band dieser Studien (vgl. Foucault 1989) erforscht Foucault unter anderem die
Selbsttechniken griechischer adliger Männer und kommt – anders als Horkheimer
und Adorno in ihrer Interpretation der Odyssee – zu dem Ergebnis, es gehe in
Bezug auf das Begehren um seine Ausübung in gesundem Maße, nicht um das
Entsagen der Lust. Im ersten Band (vgl. Foucault 1977) betont Foucault, dass das
bürgerliche Individuum über diskursive und nicht diskursive Praktiken, in dem so
genannten Sexualitätsdispositiv, erst hervorgebracht werde. Die damit verbundene
Subjektivierungsweise mit ihrer Aufwertung des Körpers diene als Moment einer
Selbststilisierung der bürgerlichen Klassen und damit zugleich zur Abgrenzung
gegenüber Adel und Proletariat. Foucault (ebd., S. 153) konstatiert, »daß die
Sexualität in ihrem historischen Ursprung bürgerlich ist und daß sie in ihren
sukzessiven Verschiebungen und Übertragungen zu spezifischen Klasseneffekten
führt«. Zwar reiche die Genealogie des Sexualitätsdispositivs bis zu den christli-
chen Pastoralpraktiken des Mittelalters zurück, aber – und das scheint mir wichtig
– es erlange erst zum Ende des 19. Jahrhunderts in der abendländischen Kultur eine
immer zentralere Bedeutung. Erst zu diesem Zeitpunkt entsteht laut Foucault über
diskursive Praktiken die Vorstellung von der eigentlich sexuellen Natur des Men-
schen. Diese Vorstellung werde dann im Sexualitätsdispositiv über vier Strategien
durchgesetzt, indem nämlich der kindliche Sex pädagogisiert, Ehepaare in ihrem
Fortpflanzungsverhalten sozialisiert, der weibliche Körper hysterisiert und die
perverse Lust psychiatrisiert werden (vgl. Foucault 1977, S. 126 f.).
Die materialreichen historischen Studien Foucaults machen deutlich, dass das
bürgerliche Individuum als eine mögliche historisch-konkrete Subjektivierungs-
weise zu begreifen ist. Damit fungiert es nicht mehr als das Ideal, das es einmal
gegeben hat, und das wieder zu befreien ist, wie Adorno und Horkheimer po-
stulieren. Das Unbewußte, die Seele mit ihren Trieben, entziffert Foucault nicht
wie in der Dialektik der Aufklärung als anthropologische Konstante. Vielmehr
werde diese Seele erst mit der Konstituierung des modernen Subjekts in Gestalt des
bürgerlichen Individuums hervorgebracht.
Foucault kritisiert also Horkheimer und Adorno nicht wie Habermas für ihren
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 261
Nichtsdestotrotz denke ich, dass sich Foucaults Analysen fruchtbar mit dem
Forschungsprogramm einer kritischen Frauenforschung verknüpfen lassen.
Auf der einen Seite radikalisiert Foucaults Frage nach den Transformierungsge-
schehen moderner Subjektivierungsweisen die Frage der kritischen Frauenfor-
schung nach den subjektiven Vermittlungen gesellschaftlicher Macht- und Herr-
schaftsverhältnisse in den Individuen, insofern er den Blick auf die inneren Dyna-
miken selbst historisiert. Anstatt nämlich zu postulieren, die Konstituierung von
Subjektivität sei zentral mit Sexualität verbunden, geht es Foucault gerade darum
zu klären, wie Sexualität für die Konstituierung von Subjektivität zentral werden
konnte. Damit aber wird es möglich, nach den historisch-konkreten Weisen der
Subjektivierung, ihren Transformationen und den damit verbundenen Ungleich-
262 Andrea D. Bührmann
zeitigkeiten, Widersprüchen und Brüchen zu fragen und so ihre Relevanz für die
Konstituierung der Geschlechterverhältnisse zu erforschen. Mit Blick auf eine
solche Historisierung erscheint es mir sinnvoll, den Begriff Geschlechtsidentität
nur noch in Bezug auf die gesellschaftlich hegemoniale Weise von Subjektivierung
im 20. Jahrhundert zu sprechen, in der Sexualität eine zentrale Rolle einnimmt. Als
übergeordneten Begriff für die Dimension von Geschlecht schlage ich den Begriff
geschlechtliche Identität vor. Dieser Begriff soll auf die historische Gewordenheit
und gesellschaftliche Veränderbarkeit menschlicher Subjektivierungsweisen ver-
weisen.
Auf der anderen Seite kann ausgehend von der Forschungsergebnissen der
kritischen Frauenbewegung erforscht werden, über welche spezifischen geschlecht-
lichen Subjektivierungsweisen Menschen unterschiedliche und widersprüchliche
Formen der Vergesellschaftung erfahren, die bis in ihre Persönlichkeitsstrukturen
hineinreichen. Eine solche Beleuchtung der widersprüchlichen und konflikthaften
männlichen und weiblichen Subjektivierungsweisen – ausgehend von der Kategorie
Geschlecht als Strukturkategorie – ermöglicht es dann, diejenigen Verabsolutierun-
gen, die Foucault in seinen unterschiedlichen Studien zur (Trans-)Formierung
moderner Subjektivierungsweisen gerade durch die Ausblendung der Kategorie
Geschlecht unterlaufen, produktiv zu überwinden. Dabei hat sich im übrigen ein
Rekurs auf die Psychoanalyse und ihrer Revisionen durch die Frauen- bzw.
Geschlechterforschung für den historischen Zeitraum als außerordentlich fruchtbar
erwiesen, in dem geschlechtliche Identität als Geschlechtsidentität hegemonial
erscheint (vgl. dazu Bührmann 2000).
Es stellt sich mit Blick auf diese Überlegungen also nicht nur die Frage nach den
Widerstandspotenzialen in den Individuen, sondern auch nach den historisch-
konkreten Transformierungen geschlechtlicher Identität und deren Konsequenzen
in den Individuen sowie den Möglichkeiten und Grenzen von Taktiken bzw.
Strategien zur Reformulierung geschlechtlicher Identitäten und ihrer Konsequen-
zen im Hinblick auf die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse.
Indem aber die Erkenntnisse der kritischen Frauenforschung mit den Frage-
perspektiven einer gesellschaftstheoretisch fundierten Dispositivanalyse verbunden
werden, können nun jene Kämpfe um geschlechtliche Identität in ihren unter-
schiedlichen Dimensionen ausgelotet werden.
Ich denke, dass die Frauen- bzw. Geschlechterforschung ausgehend von diesen
Überlegungen einer doppelten Herausforderung gegenübersteht: Zum einen geht
es um eine radikale historisierende und kontextualisierende ›Dekonstruktion‹ ihrer
Konzepte, Theorien und Ansätze, die ihre eigenen Prämissen kritisch hinterfragt.
Zum anderen geht es mit Blick auf das Geschlechterverhältnis und seine Organisa-
tionsformen um eine historisierende und kontextualisierende ›Rekonstruktion‹ der
gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und ihrer subjektiven Ver-
mittlungen in den Individuen, um deren Widerstandspozentiale sichtbar zu ma-
chen.
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 263
Literatur
Adorno, Theodor W. (1980): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in:
ders.: Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M.
Beck-Gernsheim, Elisabeth/Ostner, Ilona (1978): Frauen verändern – Berufe nicht? Ein
theoretischer Ansatz zur Problematik von ›Frau und Beruf‹, in: Soziale Welt, 29. Jg. H. 3,
S. 257–287
Becker-Schmidt, Regina (1989 [1987]): Frauen und Deklassierung. Geschlecht und Klasse, in:
Beer, Ursula (Hg.): Klasse Geschlecht. Feministische Gesellschaftsanalyse und Wissen-
schaftskritik, 2. Aufl., Bielefeld, S. 213–266
– (1991): Individuum, Klasse und Geschlecht aus der Perspektive der Kritischen Theorie, in:
Zapf, Wolfgang (Hg.): Die Moderniserung moderner Gesellschaften. Verhandlungen des
25. Deutschen Soziologentages in Frankfurt am Main 1990, Frankfurt a. M./New York,
S. 383–394
– (1992): Verdrängung Rationalisierung Ideologie. Geschlechterdifferenz und Unbewusstes,
Geschlechterverhältnis und Gesellschaft, in: Knapp, Gudrun-Axeli/Wetterer, Angelika
(Hg.): Traditionen Brüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg, S. 65–113
– (1995): Von Jungen, die keine Mädchen und von Mädchen, die gerne Jungen sein wollten.
Geschlechtsspezifische Umwege auf der Suche nach Identität, in: dies./Knapp, Gudrun-
Axeli (Hg.) (1995b), S. 220–278
– (2000a): Frauenforschung, Geschlechterforschung, Geschlechterverhältnisforschung, in:
dies./Knapp, Gudrun-Axeli (2000), S. 14–62
– (2000b): Feministische Debatten zur Subjektkonstitution, in: dies./Knapp, Gudrun-Axeli
(2000), Hamburg, S. 124–142
–/Knapp, Gudrun-Axeli (1995a): Einleitung, in: dies./Knapp, Gudrun-Axeli (Hg.) (1995b),
S. 7–18
–/Knapp, Gudrun-Axeli (Hg.) (1995b): Das Geschlechterverhältnis als Gegenstand der So-
zialwissenschaften, Frankfurt a. M./New York
–/Knapp, Gudrun-Axeli (2000): Feministische Theorien zur Einführung, Hamburg
–/Brandes-Erlhof, Uta/Rumpf, Mechthild/Schmidt, Beate (1983): Arbeitsleben – Lebens-
arbeit. Konflikte und Erfahrungen von Fabrikarbeiterinnen, Bonn
–/Brandes-Erlhof, Uta/Karrer, Marva/Knapp, Gudrun-Axeli/Schmidt, Beate (1982): Nicht
wir haben die Minuten, die Minuten haben uns. Zeitprobleme und Zeiterfahrung von
Arbeitermüttern in Fabrik und Familie, Bonn
Beer, Ursula (1988): Das Zwangsjackett des bürgerlichen Selbst – Instrumentelle Vernunft
und Triebverzicht, in: Kulke, Christine (Hg.): Rationalität und sinnliche Vernunft, Berlin,
S. 16–29
– (1990): Geschlecht, Struktur, Geschichte. Soziale Konstituierung des Geschlechterver-
hältnisses, Frankfurt a. M./New York
Benjamin, Jessica (1982): Die Antinomien des patriarchalen Denkens. Kritische Theorie und
Psychoanalyse, in: Bonß, Wolfgang/Honneth, Axel (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Zum
sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Frankfurt a. M., S. 426–455
Bogner, Artur (1989): Zivilisation und Rationalisierung. Die Zivilisationstheorien Max We-
bers, Norbert Elias’ und der Frankfurter Schule, Opladen
Bührmann, Andrea D. (2000): Von der Konstatierung einer unterdrückten weiblichen Se-
xualität zur Frage nach der Konstitution weiblichen Begehrens, in: dies./Diezinger, An-
gelika/Metz-Göckel, Sigrid: Arbeit, Sozialisation, Sexualität. Zentrale Felder der Frauen-
und Geschlechterforschung, Opladen, S. 193–274
– (2002): Der Kampf um ›weibliche Individualität‹. Ein Beitrag zur Analyse des (Trans-)
Formierungsgeschehens moderner Subjektivierungsweisen im Deutschland der Jahrhun-
dertwende (Habilitationsschrift), Münster 2002
264 Andrea D. Bührmann
Kulke, Christine (1989): Die Kritik der instrumentellen Rationalität – ein männlicher Mythos,
in: Kunnemann, Harry/de Vries, Hent (Hg.): Die Aktualität der Dialektik der Aufklärung,
Frankfurt a. M., S. 128–149
Lenz, Ilse (1995): Geschlecht, Herrschaft und internationale Ungleichheit, in: Becker-
Schmidt, Regina/Knapp, Gudrun-Axeli (Hg.) (1995b), S. 19–46
–/ Germer, Andrea (Hg.) (1996): Wechselnde Blicke. Frauenforschung in internationaler
Perspektive, Opladen
Maihofer, Andrea (1995): Geschlecht als Existenzweise. Macht, Moral, Recht und Geschlech-
terdifferenz, Frankfurt a. M.
Mies, Maria (1990): Gesellschaftliche Ursprünge der geschlechtlichen Arbeitsteilung, in:
beiträge zur feministischen theorie und praxis, H. 1, S. 61–78
Müller, Ursula/Schmidt-Waldherr, Hiltraud (1993): Vergesellschaftung – Individualisierung –
neue Kollektive, in: Müller, Ursula/Schmidt-Waldherr, Hiltraud (Hg.): FrauenSozialkunde.
Wandel und Differenzierung von Lebensformen und Bewußtsein, 2. Aufl., Bielefeld, S. 1–
9
Ott, Cornelia (1998): Die Spur der Lüste. Sexualität, Geschlecht und Macht, Opladen
Rantis, Konstantinos (2001): Psychoanalyse und »Dialektik der Aufklärung«, Lüneburg
Rumpf, Mechthild (1990): ›Mystische Aura‹. Die Bedeutung des ›Mütterlichen‹, in: Max
Horkheimers Schriften, Diskussionspapier 4–90, Hamburger Institut für Sozialforschung,
Hamburg
Schäfer, Thomas (1995): Reflektierte Vernunft. Michel Foucaults philosophisches Projekt
einer antitotalitären Macht- und Wahrheitskritik, Frankfurt a. M.
Scheich, Elvira (1988): Denkverbote über Frau und Natur – Zu den strukturellen Verände-
rungen des naturwissenschaftlichen Denkens, in: Kulke, Christine (Hg.): Rationalität und
sinnliche Vernunft, Berlin, S. 72–89
Schmid Noerr, Gunzelin (1997): Die Stellung der ›Dialektik der Aufklärung‹ in der Entwick-
lung der Kritischen Theorie. Bemerkungen zu Autorenschaft, Entstehung, einigen theo-
retischen Implikationen und späterer Einschätzungen durch die Autoren, in: Horkheimer,
Max: Ges. Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M., S. 423–452
Schneider, Christian/Stillke, Cornelia/Leinweber, Bernd (2000): Trauma und Kritik. Zur
Generationengeschichte der Kritischen Theorie, Münster
Schroer, Markus (2001): Das Individuum der Gesellschaft. Synchrone und diachrone Theo-
rieperspektiven, Frankfurt a. M.
Schultz, Irmgard (1992): Julie & Juliette und die Nachtseite der Geschichte Europas. Natur-
wissen, Aufklärung und pathetische Projektion in der ›Dialektik der Aufklärung‹ von
Adorno und Horkheimer, in: Kulke, Christine/Scheich, Elvira (Hg.): Zwielicht der Ver-
nunft. Die Dialektik der Aufklärung aus der Sicht von Frauen, Pfaffenweiler, S. 25–40
Söffner, Hans-Georg/Miller, Max (Hg.) (1996): Modernität und Barbarei. Soziologische
Zeitdiagnose am Ende des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M.
Strecker, D. (2001): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in: Osterdiekhoff,
Georg W. (Hg.): Lexikon der soziologischen Werke, Wiesbaden, S. 308
Wetterer, Angelika (1992): Profession und Geschlecht: über die Marginalität von Frauen in
hochqualifizierten Berufen, Frankfurt a. M./New York
Weyand, Jan (2001): Adornos Kritische Theorie des Subjekts, Lüneburg
Wiggershaus, Rolf (1987): Die Frankfurter Schule. Geschichte, Theoretische Entwicklung,
Politische Bedeutung, München/Wien
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus
und Postfordismus
Thilo Naumann
Die Analyse von Sozialcharakteren ist seit den frühesten Jahren des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung (IfS) Arbeitsprogramm der Kritischen Theorie. Sie
beruht wesentlich auf der Entwicklung einer analytischen Sozialpsychologie, die
sich dem Problem widmet, wie die Menschen innerhalb historisch-spezifischer
Herrschaftsverhältnisse bis in ihre Leiblichkeit hinein als Subjekte im Doppelsinn
des Wortes, unterworfen und autonom, konstituiert werden, welche sozialisatori-
schen Beschädigungen sie dabei davontragen und wie diese Beschädigungen zur
Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse indienstgenommen werden. Die er-
kenntnisleitende Frage lässt sich mit Judith Butler, hier in bemerkenswerter Nähe
zur Kritischen Theorie, folgendermaßen formulieren: Wie wird die Subjektbildung
als Begehren nach Existenz an eine lebbare Gesellschaftlichkeit gekoppelt – »wie
wird aus der Unterwerfung des Begehrens ein Begehren der Unterwerfung«?
(Butler 2001, S. 23). Für das Arbeitsprogramm kritischer Theorie ergeben sich aus
dieser Fragestellung folgende Konsequenzen. Sie muss zunächst der Eigenlogik
gesellschaftlicher und subjektiver Verhältnisse Rechnung tragen. Sie muss überdies
sowohl objektivistische Verkürzungen vermeiden, weil sonst Leid und Wünsche
der Subjekte dem analytischen Blick entgleiten, als auch subjektivistische Verkür-
zungen, die allein den Subjekten die Kosten leidvoller Vergesellschaftungsbe-
dingungen aufbürden. Dementsprechend muss kritische Theorie eine interdiszipli-
näre Zusammenarbeit von Subjekt- und Gesellschaftstheorie einrichten. Schließlich
können Subjekt- und Gesellschaftstheorie infolge der Historizität ihrer Erkennt-
nisgegenstände, infolge der historischen Transformation subjektiver und gesell-
schaftlicher Verhältnisse, »nicht länger an ihren Inhalten festhalten, als die histori-
sche Praxis, in der diese Inhalte analytisch geworden sind, in ihrer Grundstruktur
fortbesteht« (Görlich 1984, S. 124).
Vor diesem Hintergrund richtet sich das Erkenntnisinteresse des vorliegenden
Textes darauf, einerseits die Ansätze, Kontroversen und Entwicklungslinien der
Sozialcharakteranalysen Kritischer Theorie nachzuzeichnen, und andererseits die
historischen Kontinuitäten und Brüche der Subjektkonstitution zu markieren. In
diesem Sinne werden zunächst die Ansätze Erich Fromms, Herbert Marcuses und
Theodor W. Adornos vorgestellt, die sich mit der Verbreitung des »autoritären
Charakters« innerhalb der durchkapitalisierten, durchstaatlichten und konformisti-
schen Verhältnisse spätkapitalistischer bzw. fordistischer Gesellschaften ausei-
nandersetzen. Anschließend werden die Entwürfe Jürgen Habermas’ und Alfred
Lorenzers als Theorien der fordistischen Krise gelesen, in der das psychosoziale
Arrangement des »autoritären Charakters« zerbricht und narzisstische Charaktere
in den Vordergrund rücken, die sich durch einen privatistischen Rückzug, aber
auch durch erweiterte Reflexionspotentiale auszeichnen. Schließlich wird der Ver-
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 267
gewaltvollen Lebensbedingungen, die nicht zuletzt die Identifikation eben mit den
herrschenden Kräften disponieren. So zielten etwa die Kämpfe der Arbeiterbewe-
gung häufig weniger auf die Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftung,
sondern vielmehr auf die Ausweitung bürgerlich-kapitalistischer Privilegien auf die
männliche Arbeiterschaft (Heeg 1994, S. 116).
Die Psychoanalyse vermag nun genau diese subjekttheoretische Leerstelle der
Marxschen Theorie zu füllen. Freud ist mit Marx zunächst weitgehend einig, dass
die Menschen ihr materielles Überleben gemeinschaftlich organisieren müssen.
Doch während Marx die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von ihren
Produktionsverhältnissen her versteht, vermutet Freud, dass die Kulturentwick-
lung von der Dynamik zweier Triebe, des Lebens- und des Todestriebes abhängt.
Diese Triebe sind, wie Freud in seiner großen kulturtheoretischen Arbeit Das
Unbehagen in der Kultur ausführt, in ihrer ursprünglichen Form nicht kulturfähig,
sondern müssen in den Dienst der Kulturentwicklung gestellt werden, um mit
ihren aggressiven Anteilen die Natur zu unterwerfen und mit ihren libidinösen
Anteilen kulturelle Gemeinschaften herzustellen (Freud 1990, S. 123). Diese »Sub-
limierung« der Triebe muss dann von allen zu bildenden Subjekten aufs neue
geleistet werden, sie sind mithin gezwungen, Triebverzicht zu leisten, Aggression
gegen sich selbst zu richten, um mit der Verinnerlichung der herrschenden Normen
im Über-Ich ein Mitglied der kulturellen Gemeinschaft zu werden. Freud zeigt
also, dass Sinnlichkeit und Bewusstsein, Begehren und Gesetz untrennbar mitein-
ander verwoben sind, und er zeigt, dass verdrängte Wünsche im Unbewussten
unter der Logik des Primärvorgangs auf schmerzvolle und gesellschaftlich kon-
forme Weise fortwirken. Kritisch zu bemerken ist jedoch das »szientistische Selbst-
missverständnis« der Psychoanalyse als bloße Naturwissenschaft (Habermas 1968,
S. 300ff.). Dieses kommt insbesondere in der Triebtheorie zum Ausdruck, die die
Verquickung von Sozialität und Leiblichkeit bloß in biologistischen Begriffen zu
fassen vermag. Auf diese Weise produziert Freud den Widerspruch, einerseits die
bürgerliche Subjektivität mit ihren ödipal verfassten, lustfeindlichen und autori-
tären Tendenzen als biologische Notwendigkeiten zu missdeuten, andererseits aber
das Leiden dieser Subjektivität in der klinischen Praxis lindern zu wollen, indem
die konflikthaften Lebensgeschichten rekonstruiert und einem glücklicheren Aus-
gang zugeführt werden.
Insgesamt dekonstruieren Marx und Freud die bürgerliche Vorstellung eines
selbstbewusst handelnden Subjekts. Marx arbeitet heraus, wie die Zwänge der
kapitalistischen Produktionsweise »hinter den Rücken der Akteure« deren Hand-
lungsfähigkeit einschränken. Freud hingegen zeigt, wie die unbewussten Konflikte
zwischen Wunsch und Tabu die Selbstverfügung der Subjekte brechen. Die Kritik
an den Entwürfen von Marx und Freud verweist auf eine durchaus ähnliche
Widersprüchlichkeit. Marx verstrickt sich in den Widerspruch zwischen öko-
nomischer Geschichtslogik und der Betonung der Bedeutung der historischen
sozialen Kämpfe für die Entwicklung der Produktionsweise. Bei Freud bleibt der
Widerspruch zwischen dem Triebbiologismus und der historisch-konkreten Kon-
flikthaftigkeit von Lebensgeschichten weitgehend unbearbeitet. Gleichwohl er-
geben sich gerade aus der Analogie und Wechselseitigkeit der Kritik bedeutsame
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 269
»libidinösen Struktur« und bezeichnet die gemeinsamen Haltungen und Ideale der
Subjekte innerhalb einer historisch-spezifischen Gesellschaft (ebd., S. 200). Damit
aber geht Fromm auch die Annahme eines inkommensurablen Anteils der Trieb-
natur als Kraft der Befreiung verloren, und er muss, um den kritischen Stachel der
Theorie zu bewahren, die menschliche Natur gleichsam normativ-ethisch rekon-
struieren. Abgekoppelt von den bloß »physiologischen« Dimensionen des Hungers
und der Sexualität unterstellt Fromm spezifisch-menschliche Entwicklungspoten-
tiale, die je nach gesellschaftlichen Voraussetzungen in progressive oder regressive
Richtungen ausschlagen: Bezogenheit durch Liebe oder Narzissmus, Transzendenz
durch Kreativität oder Destruktivität, Verwurzelung durch Brüderlichkeit oder
Inzest, Identitätserleben durch Individualität oder Konformität sowie Orientierung
durch Vernunft oder Irrationalität (ders. 1981, S. 36ff.). Mithilfe dieser Kategorien
versucht Fromm dann den sadomasochistischen, bzw. autoritären Charakter als
narzisstisch, destruktiv, inzestuös, konformistisch und irrational zu kritisieren und
ihm gleichwohl die existenziell angelegte Potentialität »reifer Charaktere« ent-
gegenzustellen (ders. 1980b, S. 47ff.). Problematisch an diesem Entwurf Fromms ist
nun vor allem, dass er die Natur des Menschen von seiner Körperlichkeit abtrennt,
Sinnlichkeit und Sexualität als widerspruchsfrei voraussetzt und mithin die Ein-
sicht Freuds preisgibt, dass Sinnlichkeit und Bewusstsein in der Subjektbildung
eine untrennbare Legierung bilden (Görlich 1980, S. 356). Er löst die Dialektik von
menschlicher Natur und Gesellschaft nach der gesellschaftlichen Seite hin auf und
handelt sich damit den Vorwurf vor allem Herbert Marcuses und Theodor W.
Adornos ein, er reduziere Subjektivität auf eine Funktionsgröße gesellschaftlicher
Verhältnisse.
Der eindimensionale Mensch einer scharfen Analyse (1970). Angesichts einer fort-
schreitenden kulturindustriellen Kommerzialisierung der Haushalte und der Frei-
zeit konstatiert Marcuse eine warenförmige Zurichtung der Subjekte, die bis in ihre
Triebstruktur hineinreicht. Es komme zu einer libidinösen und aggressiven Bin-
dung an die Warenform, weil diese einerseits zur letzten verfügbaren und gleich-
zeitig kapitalisierten Lustquelle avanciert und weil andererseits diese Lust nur im
Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft in entfremdeter Lohnarbeit erheischt werden
kann (ebd., S. 92ff.). Infolge dieser Totalisierung des Tauschprinzips innerhalb der
»eindimensionalen Gesellschaft« vermag Marcuse keine bestimmte Gruppe als
befreiende Kraft zu identifizieren. Stattdessen rückt er die Subjektivität selbst in
den emanzipatorischen Blickpunkt, weil er die Triebe als eigentümlich inkomm-
mensurabel begreift. Besonders dem Eros traut Marcuse zu, gegen die herrschende
instrumentelle Vernunft eine Haltung der »Großen Weigerung«, eine »Neue Sen-
sibilität« und eine »libidinöse Moral« in Anschlag zu bringen, um die Erotisierung
aller Lebensbereiche vorzunehmen (ders. 1984, S. 250). Dieser emphatische Über-
schwang, immer auch als Zeichen der Solidarität mit den Protestbewegungen der
1960er Jahre intendiert, birgt indes einen theoretisch und politisch bedeutsamen
Widerspruch. Es ist der Widerspruch zwischen der sozialpsychologischen An-
nahme einer bis in die Triebstruktur hineinreichenden Totalität des Tauschprinzips
und der triebtheoretischen Annahme besonders des Eros als positive Kraft der
Befreiung (Görlich 1980, S. 359).
»Das Subjekt, das seine innere Natur im Namen seiner Unabhängigkeit unterdrückt, würgt
eben die Spontaneität ab, die sein Bruch mit der Natur angeblich freigesetzt hat – so dass das
Ergebnis der anstrengenden Mühsal der Individuation in einer Unterminierung des Ich von
innen heraus besteht, bei der das Selbst nach und nach in leere mechanische Konformität
verfällt.« (1994, S. 358)
Die Subjekte sind mithin durch einen inneren Hiatus gezeichnet, der sich zwischen
den gesellschaftlichen Normierungen der Subjektivität und dem Bereich des He-
terogenen, des Spontanen, dem Bereich des Nichtidentischen also, auftut. Be-
272 Thilo Naumann
sonders dramatisch fällt dieser Hiatus im Spätkapitalismus aus, weil die Gesell-
schaft nun beherrscht ist vom Warentausch, vom Geld als sich unendlich ver-
mehrendem Signifikanten, als allgemeinem Äquivalent. Die spätkapitalistische Ge-
sellschaft macht somit »Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte
Größen reduziert« (Horkheimer/Adorno 1947, S. 18). Zugleich raubt sie den
bürgerlichen Vätern mit der Entstehung großer kapitalistischer Monopole und mit
der Durchstaatlichung der Gesellschaft ihre soziale Gestaltungsfähigkeit und ihre
relativ rationale Autorität. Sind somit die letzten Bastionen bürgerlicher, familialer
und ödipaler Resistenz zerschlagen, kommt es zur Ausbreitung des »autoritären
Charakters«, den Adorno u. a. in den umfassenden Studien zum autoritären Cha-
rakter untersucht haben (Adorno1973). Entscheidend ist, dass die Kinder weiterhin
unter repressiven Erziehungsmaßnahmen leiden, ohne jedoch ihr schwaches Ich,
Ich-ideal und Über-Ich an einer mächtigen väterlichen Identifikationsfigur restitu-
ieren zu können. Daraus resultiert dann die Identifikation mit den depersonali-
sierten herrschenden Mächten sowie das hervorstechendste Merkmal des autori-
tären Charakters, nämlich dessen Konformismus. Dieser ruft bei abweichenden
Wünschen unweigerlich Scham- und Schuldgefühle hervor, während die Aggres-
sion infolge der unbefriedigt bleibenden Wünsche an ideologisch benannten Non-
konformen ausagiert wird (ebd., S. 322ff.). Insgesamt versucht der autoritäre Cha-
rakter seine Ohnmacht in einer durchkapitalisierten und durchstaatlichten Welt
durch die folgsame Teilhabe am konformistischen Warentausch sowie an den
staatlichen Repräsentationsritualen in magische Omnipotenz zu verwandeln (vgl.
Horn 1969, S. 68 f.). Adorno schreibt:
»Individuum und Gesellschaft werden eines, indem die Gesellschaft in die Menschen unter-
halb ihrer Individuation einbricht und diese verhindert. Dass aber diese Einheit keine höhere
Gestalt der Subjekte sei, sondern sie auf ein archaisches Stadium zurückwirft, zeigt sich an der
barbarischen Repression, die dabei ausgeübt wird. Die heraufdämmernde Identität ist nicht
Versöhnung des Allgemeinen und Besonderen, sondern das Allgemeine als Absolutes, in dem
das Besondere verschwindet.« (Adorno 1980, S. 183)
Allein in der Kunst erblickt Adorno noch einen Ort, der die Idee einer Versöhnung
von Allgemeinem und Besonderem bewahrt, der das Nichtidentische zum Aus-
druck zu verbringen vermag. Es bedürfte freilich schon eines totalen Bruchs mit
dem omnipräsenten Tauschprinzip, um die Potentialität eines über seine Sinne frei
verfügenden Subjekts zu verwirklichen (vgl. Demirovic 1994, S. 89).
1.4. Resümee
Trotz ihrer unterschiedlichen Konzepte, die Naturseite der Subjektbildung zu
fassen, sind sich Fromm, Marcuse und Adorno in ihren zeitdiagnostischen Betrach-
tungen des Spätkapitalismus weitgehend einig. In der kindlichen Entwicklung wird
durch repressive Maßnahmen ein bloß schwaches Ich ausgebildet, das zudem ohne
stabiles personales Identifikationsobjekt bleibt. Es entsteht mithin ein »sadomaso-
chistischer«, bzw. »autoritärer Charakter«, der die erlittenen Beschädigungen
durch konformistische Identifikation mit den anonymisierten Mächten kompen-
siert, denen er sich bedingungslos unterwirft, während die Versagung lustvoller
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 273
Der Fordismus geriet in die Krise, als der fordistische Zusammenhang von Massen-
produktion und Massenkonsum im nationalstaatlichen Rahmen auseinanderbrach
(Demirovic 1996, S. 93) und das Kapital auf der Basis neuer Informations- und
Datenverarbeitungstechnologien versuchte, unterschiedliche Standortvorteile ratio-
nalisierend im Rahmen einer internationalisierten Arbeitsteilung zu nutzen (Hirsch
1995, S. 84). Damit aber kam es zur massenhaften Freisetzung von Lohnab-
hängigen und letztlich zur politischen Krise, weil sich die wohlfahrtsstaatliche
Vollbeschäftigungs- und Verteilungspolitik infolge der rapide steigenden Kosten
der Massenarbeitsarbeitslosigkeit nicht länger durchhalten ließ (ders. 1990,
S. 104 f.), während der Staat zugleich seine finanziellen Mittel zunehmend auf die
Förderung neuer konkurrenzfähiger Technologien konzentrierte (Demirovic 1996,
S. 94). Nicht zuletzt geriet der Fordismus auch ideologisch in die Krise. Zum einen
formulierten die neuen sozialen Bewegungen ihre Kritik an konsumistischer Ver-
einzelung, an etatistischer und patriarchalischer Bevormundung sowie an schran-
274 Thilo Naumann
»Dass die individuelle Struktur gesellschaftlich hergestellt wird, lässt sich aus der Gesell-
schaftstheorie, die aus der Kritik der politischen Ökonomie hervorgeht, zwingend ableiten.
Zu zeigen ist aber
– wie diese Herstellung vorangeht,
– wie sie über physiologische Prozesse läuft und gleichwohl alle Handlungs- und Denk-
muster umfasst,
– wie die vermittelnden Sozialisationsagenturen, nämlich die konkreten zwischenmensch-
lichen Verhältnisse, in die Persönlichkeitsstruktur eingehen,
– wie die zwischenmenschlichen Verhältnisse auf gesellschaftliche Verhältnisse zurückgehen,
– und wie die Herstellung individueller Struktur allemal zugleich eine beschädigende Her-
stellung ist.« (Lorenzer 1977, S. 168)
nennen. Darüber hinaus sollen aber auch Ansätze befragt werden, die stärker die
Vielfalt, Brüchigkeit und relative Offenheit postfordistischer Subjektivierung be-
tonen, wie die feministische Psychoanalyse etwa Jessica Benjamins oder Christa
Rohde-Dachsers, und eine an Lacan orientierte Psychoanalyse, wie sie von Judith
Butler und Slavoj Žižek betrieben wird. Zuvor aber gilt es, sich mit einer kritischen
Gesellschaftstheorie, die ökonomistische Verkürzungen vermeidet, jenen post-
fordistischen Verhältnissen kritisch zu nähern, die der Subjektbildung vorausge-
setzt sind.
Ansätze einer solchen Gesellschaftstheorie liegen mit der Regulationstheorie
vor. Sie konzeptualisiert das Verhältnis von Ökonomie, Politik und Ideologie als
Zusammenspiel von »Akkumulationsregime« und »Regulationsweise«. Akkumula-
tionsregime bezeichnet die historisch-konkreten Produktions- und Konsumtions-
weisen einer Gesellschaft, die Verhältnisse warenförmiger und nicht-warenförmi-
ger (Re-)Produktion und mithin die strukturellen Zwänge kapitalistischer Verge-
sellschaftung (Hirsch 1992, S. 205). Weil aber diese Zwänge sich erst durch das
alltägliche Handeln der Subjekte materialisieren, das sich immer schon aus ver-
schiedenen, auch transökonomischen Motiven und Deutungen speist, ist die gesell-
schaftliche Entwicklung zugleich von einer Regulationsweise bestimmt, von einer
institutionell-diskursiven »Vermittlung struktureller Zwänge mit den Handlungs-
kompetenzen sozialer Akteure« (Görg 1994, S. 107). Diskurse können dabei als
institutionelle Sprechweisen innerhalb des Staates und der Zivilgesellschaft ver-
standen werden.
»Es handelt sich um einen offenen Prozess der Bedeutungserzeugung, -zirkulation, -trans-
formation und -verschiebung. Die Bedeutungen werden in diskursiven Auseinandersetzun-
gen in der unendlichen Zahl alltäglicher Kommunikationen gebildet und miteinander zu
kompakten semiologischen Formen verknüpft, die für die sozialen Akteure einen unhinter-
gehbaren Sinnhorizont der von ihnen gelebten jeweiligen Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft konstituieren.« (Demirovic 1996, S. 100)
Innerhalb der institutionell-diskursiven Praxis entsteht dann Hegemonie als Ein-
heit von Wissen, Praxis und Leidenschaft (Gramsci 1995, S. 1465 f.), als Verallge-
meinerung einer hegemonialen Lebensweise und der Subordination anderer Le-
bensweisen. Dem Staat kommt dabei die Funktion zu, ein »nationales Interesse«
über die Widersprüche und Kämpfe der Gesellschaft hinweg im Sinne ihrer waren-
förmigen Reproduktion zu formulieren (Hirsch 1995, S. 57). Er erfüllt diese Auf-
gabe, indem er zivilgesellschaftliche Diskurse aufgreift, dethematisiert, marginali-
siert oder formt und indem er die Individuen als einzelne Staatsbürger und
Marktteilnehmer anruft, um sie dann als Angehörige einer Nation, einer Kultur
und eines Geschlechts zu vergemeinschaften (ebd., S. 15). Daraus folgt aber zu-
gleich, dass sämtliche Institutionen und Diskurse von vielfältigen Widersprüchen
gezeichnet sind, etwa zwischen Kapital und Lohnarbeit oder zwischen der Pro-
klamation von Freiheit und Gleichheit einerseits und individualistischen, sexisti-
schen und rassistischen Ausschlüssen andererseits. Die Subjekte schließlich sind in
diesem Kontext gleichsam Schnittpunkt vielfältiger Diskurse und mithin Resultate
der Hegemonie, doch die psychischen Verarbeitungsweisen ihrer widersprüchli-
chen und kontingenten Situierungen sind damit nicht unweigerlich determiniert,
sondern bleiben relativ offen (Hirsch 1990, S. 132).
280 Thilo Naumann
der Rede überlegener Männlichkeit geprägt, sondern zunehmend von der Verknüp-
fung des Individualismus mit der Rede geschlechtlicher Differenzen. Auf diese
Weise kommt es zu einer flexiblen Vernutzung von Weiblichkeit, wenn Frauen
flexibel aus der Konkurrenz um gutbezahlte Arbeitsplätze zurück in Familien- und
Hausarbeit gedrängt werden, wenn es im Widerspruch zwischen Individualisie-
rungs- und Weiblichkeitsnorm überwiegend für Frauen zur Doppelbelastung von
Familie und Beruf kommt, wenn weiblich codierte Fähigkeiten wie Kooperation in
den kommunikativen Unternehmenskulturen ebenso wie in Pflegeberufen kapi-
talisiert werden, oder wenn Symbole sexueller Differenz den Konsum der in-
dividualistischen Subjekte mit einem beträchtlichen Mehrwert ausstatten (ebd.,
S. 168). Auch der Rassismus schließlich ist nicht länger von der Rede überlegener
Rassen dominiert, sondern eher von der Rede mehr oder minder kompatibler und
zu respektierender kultureller Differenzen. Dieser »postmoderne Rassismus« (Ži-
žek 2001, S. 274) eröffnet einerseits die Möglichkeit der multikulturalistischen
Verwertung bestimmter Dienstleistungen und Symbole der »Authentizität«, »Hy-
bridität«, »Sexualität« oder »Exotik«, und andererseits dient er der Konstruktion
und Rassifizierung »gefährlicher Gruppen«, die in der imaginären Bedrohung der
vermeinten Toleranz, der »Inneren Sicherheit« oder der »nationalen Identität« die
Gemeinschaft von individualistischen und neorassistischen Subjekten erst kon-
stituieren (Naumann 2000, S. 156). Insgesamt kann demnach von der Hegemonie
einer individualistischen, postmodernen Subjektivität ausgegangen werden, die
situativ auch sexistische und rassistische Diskurse mobilisiert (Terkessidis 1998,
S. 229). Diese Subjektivitätsvorstellung ist nun freilich auf höchst prekäre und
beschädigende Weise gekoppelt an sozialisatorische Prozesse, an ihre psychische
Materialisierung.
Laisser-faire, kann in Rekurs auf Siegfried Zepfs Studie Lust und Narzissmus
festgehalten werden, dass die Eltern zur Instrumentalisierung der Kinder im Sinne
ihrer narzisstischen Bedürftigkeit neigen. Einerseits nähren sie ihre Größenphan-
tasien, indem sie sich überfürsorglich als Spender alles Guten für das Kind imagi-
nieren oder aber die Selbstbestimmungsstrebungen des Kindes gewaltvoll brechen.
Andererseits schreiben sie dem Kind eine Allmacht zu, indem sie sich den Wün-
schen des Kindes vorauseilend unterwerfen oder indem sie das Kind in der
Erwartung bloß verwalten, es besäße jene Macht, die den Eltern so schmerzlich
fehlt. Den auf diese Weise narzisstisch instrumentalisierten Kindern fehlt es dann
an wechselseitig befriedigenden Interaktionen mit konturierten Bezugspersonen
und ihre eigenen Beziehungen sind narzisstisch disponiert: entweder müssen an-
dere Subjekte unterworfen und manipuliert werden, um die Größenphantasien zu
bestätigen und die Abhängigkeit zu leugnen, oder das Wohlbefinden ist an die
Verschmelzung mit vermeintlich Mächtigeren gekoppelt, um das schwache Ich zu
restituieren. Die Begegnung mit Subjekten, die sich diesen narzisstischen Zwecken
entziehen, löst hingegen existenzielle Ängste aus (Zepf 1997, S. 84ff.).
Eklatant ist in diesem Kontext besonders die Konstruktion von Zweigeschlecht-
lichkeit, die das früh einsozialisierte Exempel für die Akzeptanz aller weiteren
Ungleichheitserfahrungen bildet (Rommelspacher 1995, S. 151). Über diesen Vor-
gang gibt nun insbesondere die feministische Psychoanalyse Auskunft. In der
Realität postfordistischer Familien bekommen es die Kinder zumeist mit einer im
Rahmen flexibilisierter, doch fortbestehender geschlechtshierarchischer Arbeits-
teilung anwesenden Mutter und einem physisch oder psychisch abwesenden Vater
zu tun. Die Mutter wird gleichzeitig als mächtig und als abhängig wahrgenommen,
ist sie es doch, die im Alltag Zuwendung oder Verbote vermittelt und zugleich bei
den Kindern verharren zu müssen scheint. Der Vater hingegen, der aus freien
Stücken zu kommen und zu gehen scheint, gerät zum machtvollen Repräsentanten
kindlicher Autonomiebestrebungen (Benjamin 1990, S. 149). Dabei werden die
Kinder unter der Maßgabe phallizistischer Signifikanten als Jungen und Mädchen
konstruiert, doch sowohl Jungen als auch Mädchen erfahren ebenso ein Mindest-
maß an Geborgenheit wie die Möglichkeit wachsender Unabhängigkeit und er-
leben die Handlungen der Bezugspersonen immer auch als Ausdruck ihrer eigenen
Omnipotenz. Erst wenn die Kinder in die »Wiederannäherungskrise« (Margret
Mahler) des 2. und 3. Lebensjahres geraten, wenn sie ihrer Abhängigkeit gewahr
werden und diese kränkende Erfahrung zu leugnen versuchen, kommt es zu einer
ersten Verhärtung einer Geschlechtsidentität (ebd., S. 99 f.). Denn zur gleichen Zeit
etwa erfolgt auch die Spracheinführung, die die frühkindlichen Erfahrungen nach-
träglich in die heterosexuelle Matrix einführt (Rohde-Dachser 1992, S. 225). Weil
aber Geborgenheit und Abhängigkeit weiblich codiert sind, während Autonomie
männlich codiert ist, kann das Mädchen zwar Nähe und Bindung zulassen, doch
die phallizistisch symbolisierte Autonomie ist für es nicht unmittelbar verfügbar
(Benjamin 1990, S. 165). Der Junge hingegen entwickelt die Tendenz einer Auto-
nomie im Zeichen männlicher Herrschaft, muss aber die Wünsche nach Nähe und
Bindung als weiblich codiert zunehmend abwehren – sie kehren dann bloß als
Idealisierung von Weiblichkeit als Ort der Nähe und als deren Verachtung als Ort
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 283
der Abhängigkeit wieder (ebd., S. 157). Während präödipal durchaus noch ein
spielerischer Umgang auch mit gegengeschlechtlichen Identifikationen möglich ist,
werden diese Geschlechteridentitäten dann in der ödipalen Phase rigide verhärtet,
wenn die Kinder gezwungen und kognitiv in der Lage sind, ihr Begehren als
genitalisiertes endgültig im Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit zu platzieren (Ben-
jamin 1993, S. 75). Allerdings zeugt die damit verfügte polarisierte heterosexuelle
Anziehung eben nicht von einer anthropologischen Konstante, sondern von den
Beschädigungen, die der weibliche Verlust selbstbestimmten Begehrens und die
männliche Subsumtion lustvoller Interaktionen unter die Erfordernisse der Herr-
schaft bedeuten, sowie von dem Wunsch, wenigstens in den kulturellen Formen
Glück zu erheischen, oder, mit Butler gesprochen, von der Melancholie, von der
verleugneten Trauer, die die konstitutive Verwerfung homosexuellen Begehrens in
den Subjekten hinterlässt (Butler 2001, S. 127).
»Nicht mehr die eigene Lebensgeschichte, sondern die Sprache bestimmt, wie mit einer
Situation umzugehen ist und was in ihr zu empfinden ist. Da die sprachlich vorgeschriebenen
Emotionen aber nicht vorhanden sind, lernt das Individuum mit dem Spracherwerb lediglich,
welche Gefühlworte in welchen Situationen zu gebrauchen sind.« (ebd., S. 84)
Auf diese Weise entsteht ein »zeichenreguliertes Verhalten« (ebd., S. 83), das eine
eigentümliche narzisstische Gefühllosigkeit und Leere nach sich zieht und zur
Bereitschaft der Subjekte beiträgt, hegemoniale Diskurse bruchlos zu reproduzie-
ren, wenn diese nur narzisstische Kränkungen vermeiden helfen. An dieser Stelle
sind nun besonders die postmodernen Entwürfe eines vielseitig begehrenden,
flexiblen Subjekts bedeutsam, weil sie eben die narzisstische Leere zu kompen-
sieren erlauben. In diesem Kontext spricht Žižek von extrem narzisstischen Sub-
jekten, die einem Genuss-Befehl des Über-Ich unterliegen und Schuldgefühle beim
Scheitern der Genussfähigkeit entwickeln (Žižek 2001, S. 511 f.). Zur Vermeidung
der Schuldgefühle entfalten sie einen gleichsam perversen Zug, der vorgibt, Lust
immer schon bezeichnen zu können, um damit sowohl die Angst vor zu großer
Nähe als auch die narzisstische Leere zu verleugnen (ebd., S. 404). Dieser Zusam-
menhang lässt sich gut am Beispiel der ästhetischen Symptombildung veranschau-
lichen, die zunehmend auch die Arbeitswelt erfasst. Besonders in jenen Unter-
nehmen, die mit lebensweltlichem Arbeitsplatzdesign, mit einer auf Kommunika-
tivität und Kooperation gründenden betrieblichen Sinn- und Ideologieproduktion
284 Thilo Naumann
Die Situierung der Subjekte innerhalb der postfordistischen Verhältnisse ist höchst
widersprüchlich und kontingent, sie bergen mithin nicht allein die aufgezeigten
heteronomen, sondern auch emanzipatorische Perspektiven. Denn neben die fort-
bestehenden Widersprüche zwischen Lohnarbeit und Kapital, zwischen der pro-
klamierten Freiheit und Gleichheit und der individualistischen, sexistischen und
rassistischen Ungleichstellung, treten im Postfordismus historisch neue Wider-
sprüche. So ist schon die infantile Sozialisation nicht nur von narzisstischer Instru-
mentalität im Zeichen heterosexueller Paarbeziehungen und privatistischer Klein-
familien geprägt, sondern ebenso ein Ort, an dem gerade infolge der Diversifizie-
rung von Lebensweisen ein sinnlicher Reichtum, Empathie und Kommunikation
gestiftet wird. Im Bereich der betrieblichen Arbeit wird Subjektivität zwar zu-
nehmend intensiv kapitalisiert, doch dieser Subjektbedarf eröffnet neue Interven-
tionsmacht und erlaubt die Signifikation der außerbetrieblichen Produktion der
Subjektivität sowie der ungleichen Verteilung jener ökonomischen, kulturellen und
psychischen Kapitalien, die der Subjektvernutzung zu Grunde liegen. Und im
Bereich der Freizeit zeigt sich der Widerspruch zwischen der Entwendung und
hegemonialen Verwertung von Symbolen der Differenz, des Protests, der Freiheit
und Sinnlichkeit und deren gleichzeitiger Popularisierung mit durchaus trans-
gressiven Lesarten, die diese Symbole auf ihre intersubjektiven und politischen
Implikationen verpflichten wollen. Aus diesen Widersprüchen können sich frucht-
bare Irritationen ergeben, die die emanzipatorische Bezeichnung subjektiver und
gesellschaftlicher Verhältnisse befördern (Lorenzer 1981, S. 130 f.). Auf einer all-
gemeinen gesellschaftlichen Ebene heißt das etwa, die globalisierte Kapitalverwer-
tung als Handlungsrahmen der vervielfältigten Lebensweisen im Postfordismus zu
repolitisieren und ebenso der Entpolitisierung der Politik, die die politischen und
sozioökonomischen Konflikte zunehmend in einen »Kulturkampf um die Aner-
kennung marginaler Identitäten« übersetzt, entgegenzutreten (Žižek 2001,
S. 302 f.). Für die Subjekte folgt daraus zunächst, bestimmte kohärente Identitäts-
behauptungen, etwa rigide Geschlechterrepräsentationen oder »nationale Identi-
täten« zurückzuweisen, ohne jener Rede flexibler, vielfältig begehrender Identi-
täten Glauben zu schenken, die die Subjekte in den postfordistischen Produktions-
und Konsumtionszusammenhang einzupassen erlaubt. Gefordert ist mithin ein
»Akt«, der die symbolische Ordnung überschreitet (ebd., S. 523), eine »Bereit-
schaft, nicht zu sein«, um die Komplizenschaft mit den hegemonialen Diskurse, die
gesellschaftliche Ausbeutung des Verlangens zu sein, durch eine dramatische Spra-
che des Verlusts und neuer Schöpfungen aufzukündigen (Butler 2001, S. 95,
S. 122 f., S. 141), gefordert ist, mit Peter Brückner gesprochen, »die dialektische
Spannung von Friede und Militanz« zu wahren (Brückner 1984, S. 8). Zurück-
gewendet auf die sozialisatorischen Beschädigungen der postfordistischen Subjekte
gilt es schließlich, deren narzisstische Bedürftigkeit ernst zu nehmen. Eine emanzi-
patorische Bearbeitung des Narzissmus wendet sich gegen den narzisstischen
Instrumentalismus unter dem Diktat der Unlustvermeidung und begründet eine
»libidinöse Moral«, die jedem Subjekt die Verwirklichung seiner/ihrer Wünsche
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 287
Literatur
ders. (Hg.): Der Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus-Kritik, Frank-
furt a. M.
– (1984): Verhältnisfiguren und ihre Enträtselung im Wechsel der Betrachtungsebenen, in:
Institutsgruppe Psychologie der Universität Salzburg (Hg.): Jenseits der Couch. Psycho-
analyse und Sozialkritik, Frankfurt a. M./New York
Görg, Christoph (1994): Krise und Institution, in: Esser, Josef/Görg, Christoph/Hirsch,
Joachim (Hg.): Politik, Institutionen und Staat. Zur Kritik der Regulationstheorie, Ham-
burg
Gramsci, Antonio (1995 [1932/33]): Philosophie der Praxis. Gefängnishefte 10 und 11,
Hamburg
Habermas, Jürgen (1968): Erkenntnis und Interesse, Frankfurt a. M.
– (1973): Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, Frankfurt a. M.
– (1976): Zur Rekonstruktion des historischen Materialismus, Frankfurt a. M.
– (1981): Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde., Frankfurt a. M.
Hagemann-White, Carol (1995): Was tun? Gewalt in der Sexualität verbieten? Gewalt se-
xualisieren?, in: Düring, Sonja/Hauch, Margret (Hg.): Heterosexuelle Verhältnisse, Stutt-
gart
Hartmann, Hans A./Haubl, Rolf (Hg.) (1992): Bilderflut und Sprachmagie. Fallstudien zur
Kultur der Werbung, Opladen
Hartmann, Hans A. (1996): The Thrilling Fields oder: »Bis ans Ende – und dann noch
weiter«. Über extreme Outdoor Activities, in: Hartmann, Hans A./Haubl, Rolf (Hg.):
Freizeit in der Erlebnisgesellschaft: Amüsement zwischen Selbstverwirklichung und Kom-
merz, Opaden
Haubl, Rolf (1996): »Welcome to the pleasure dome«. Einkaufen als Zeitvertreib, in: Hart-
mann, Hans A./Haubl, Rolf (Hg.): Freizeit in der Erlebnisgesellschaft: Amüsement zwi-
schen Selbstverwirklichung und Kommerz, Opladen
Heeg, Susanne (1994): Flexibilisierte Frauen. Historische und aktuelle Veränderungen auf
dem Arbeitsmarkt, in: Eichhorn, Cornelia/Grimm, Sabine (Hg.): Gender Killer. Texte zu
Feminismus und Politik, Berlin/Amsterdam
Hirsch, Joachim (1990): Kapitalismus ohne Alternative. Materialistische Gesellschaftstheorie
und Möglichkeiten einer sozialistischen Politik heute, Hamburg
– (1992): Regulation, Staat, Hegemonie, in: Demirovic, Alex/Krebs, Hans-Peter/Sablowski,
Thomas (Hg.): Hegemonie und Staat. Kapitalistische Regulation als Projekt und Prozess,
Münster
– (1995): Der nationale Wettbewerbsstaat. Staat, Demokratie und Politik im globalen Kapita-
lismus, Berlin/Amsterdam
Holzkamp, Klaus (1979): Zur kritischen Theorie der Subjektivität II, in: Das Argument 41
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1947 [1944]): Dialektik der Aufklärung. Philo-
sophische Fragmente, Amsterdam
Horn, Klaus (1969): Über den Zusammenhang zwischen Angst und politischer Apathie, in:
Marcuse, Herbert/Rapaport, Anatol/Horn, Klaus/Mitscherlich, Alexander/Senghaas, Die-
ter/Markovic, Mihailo: Aggression und Anpassung in der Industriegesellschaft, Frankfurt
a. M.
– (1972): Psychoanalyse – kritische Theorie des Subjekts, Frankfurt a. M.
– (1990 [1987]): Subjektivität und Gesellschaft. Entwicklung eines neuen Persönlichkeitstyps,
in: ders.: Schriften zur kritischen Theorie des Subjekts, Bd. 2. Subjektivität, Demokratie
und Gesellschaft, Frankfurt a. M.
König, Hans-Dieter (1992): Der amerikanische Traum. Eine tiefenhermeneutische Analyse
gesellschaftlich produzierter Unbewusstheit, in: Hartmann, Hans A./Haubl, Rolf (Hg.)
(1992)
– (1993): Auf dem Weg in die elternlose Gesellschaft, in: Zepf, Siegfried (Hg.): Die Erkun-
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 289
dung des Irrationalen: Bausteine einer analytischen Sozialpsychologie nebst einigen Kultur-
analysen, Göttingen
Lorenzer, Alfred (1977): Lacan und/oder Marx, in: ders.: Sprachspiel und Interaktionsformen.
Vorträge und Aufsätze zu Psychoanalyse, Sprache und Praxis, Frankfurt a. M.
– (1980): Die Sozialität der Natur und die Natürlichkeit des Menschen. Zur Interpretation
der psychoanalytischen Erfahrung jenseits von Biologismus und Soziologismus. Ein Ge-
spräch zwischen Alfred Lorenzer und Bernard Görlich, in: Görlich, Bernard (Hg.): Der
Stachel Freud. Beiträge und Dokumente zur Kulturismus-Kritik, Frankfurt a. M.
– (1981): Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit. Eine Religionskritik,
Frankfurt a. M.
Marcuse, Herbert (1970 [1964]): Der eindimensionale Mensch. Darmstadt/Neuwied
Marcuse, Herbert (1984): Versuch über die Befreiung, in: ders.: Schriften, Bd. 8, Frankfurt
a. M.
Marcuse, Herbert (1987 [1955]): Triebstruktur und Gesellschaft, Frankfurt a. M.
Marx, Karl (1988 [1845]): Thesen über Feuerbach, in: ders./Engels, Friedrich: Marx Engels
Werke, Bd. 3, Berlin
Naumann, Thilo (2000): Das umkämpfte Subjekt. Subjektivität, Hegemonie und Emanzipa-
tion im Postfordismus, Tübingen 2000
Neuberger, Oswald/Kompa, Ain (1993): Wir, die Firma. Der Kult um die Unternehmenskul-
tur, München
Ottomeyer, Klaus (1989): Zur Sozialisation der Sinnlichkeit, in: Psychoanalytisches Seminar
Zürich (Hg.): Die Gesellschaft auf der Couch. Psychoanalyse als sozialwissenschaftliche
Methode, Frankfurt a. M.
Rohde-Dachser, Christa (1992): Expedition in den dunklen Kontinent. Weiblichkeit im
Diskurs der Psychoanalyse, Berlin/Heidelberg/New York
Rommelspacher, Birgit (1995): Dominanzkultur: Texte zu Fremdheit und Macht, Berlin
Schmidt, Gunter (1995): Emanzipation und der Wandel heterosexueller Beziehungen, in:
Düring, Sonja/Hauch, Margret (Hg.): Heterosexuelle Verhältnisse, Stuttgart
Terkessidis, Mark (1998): Psychologie des Rassismus, Opladen/Wiesbaden
Zepf, Siegfried (1993): Bemerkungen zur gesellschaftlichen Produktion und Funktion zei-
chenregulierten Verhaltens, in: ders. (Hg.): Die Erkundung des Irrationalen: Bausteine einer
analytischen Sozialpsychologie nebst einigen Kulturanalysen, Göttingen
– (1995): Einige allgemeine Anmerkungen zu den Begriffen des »Rationalen« und des
»gesellschaftlichen Unbewussten«, in: ders. (Hg.): Diskrete Botschaften des Rationalen.
Göttingen
– (1997): Lust und Narzissmus. Göttingen
Žižek, Slavoj (2001): Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M.
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus
zur Postmoderne
Jost Müller
gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Trennung von Gesellschaft und Staat, von Stadt
und Land usw. eine in Klassen gespaltene Gesellschaft hervorgebracht, dann, so
lautet die These hier, äußert sich die Teilung der geistigen und materiellen Arbeit
auch in der herrschenden Klasse selbst. Sie bringt die soziale Kategorie von
Denkern dieser Klasse hervor, die als die »aktiven konzeptiven Ideologen« die
moralischen, rechtlichen, politischen, ästhetischen oder religiösen »Illusionen«
über diese Klasse selbst, über ihre Herrschaft, den Staat etc. produzieren, während
sich die anderen Angehörigen der Klasse zu diesen illusionären Vorstellungen und
Ideen »mehr passiv und rezeptiv verhalten« (Marx/Engels 1969, S. 46 f.). Anlässlich
seiner Analyse des Scheiterns der Revolution von 1848 und der Errichtung der
bürgerlichen Diktatur in Frankreich hat Marx – unübertroffen in der Schrift Der
achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 – diesen Ansatz konkretisiert
und erweitert, indem er nun die politischen und ideologischen Repräsentanten
verschiedener gesellschaftlicher Klassen und ihrer Fraktionen, vor allem aber auch
die Brüche in den Repräsentationsbeziehungen für eine bestimme Konjunktur der
Klassenkämpfe und die konkrete Situation gesellschaftlicher Krise zu bestimmen
sucht (vgl. Marx 1960). Der zweite Ansatz betont also gerade die relative struk-
turelle Autonomie des ideologischen Überbaus gegenüber der ökonomischen Ba-
sis, der Ideologien gegenüber den ökonomischen Interessenslagen der Klassen in
den sozialen Kämpfen.
mit strukturellen Homologien behalf, ebnet die Kritik der instrumentellen Ver-
nunft bzw. der technologischen Rationalität die Topik des Basis-Überbau-Modells
ein und setzt an die Stelle der Verkennungsfunktion von Ideologie ein gewaltsam
anomisches Potenzial von Vergesellschaftung. Dennoch, die letzte Volte gegen den
ins Totale zielenden Prozess der Vergesellschaftung ist der Verzicht auf dessen
theoretische Sanktion: ein theoretischer Bruch mit jener Art von Gesellschafts-
theorie nach dem subsumtionslogischen Modell historisch-gesellschaftlicher Totali-
tät, wie Lukács es an der Warenform herausgestellt hatte und Adorno es nun im
Konzept des »mikrologischen Blicks« (Adorno 1970, S 400) auf das Vereinzelte
zurückweist.
Der aporetische Charakter des Gesellschaftstheorie bei Lukács und dann vor allem
in der Kritischen Theorie machte zweifellos einen zweiten Gang durch die Ge-
schichte kritisch-materialistischer Theoriebildung über Ideologie erforderlich, um
die teils parallel zur Entfaltung des Verdinglichungsparadigmas und zum Konzept
der instrumentellen Vernunft entworfenen Ansätze zu untersuchen (zu weiteren
Ansätzen vgl. Eagleton 1993; Žižek 1994). Die Hegemonietheorie bei Antonio
Gramsci und die Ideologietheorie im Kreis um Louis Althusser seien hier deshalb
hervorgehoben, weil sie dazu beitragen können, die Aporie kritischer Gesell-
schaftstheorie zu vermeiden. In der gegenwärtigen Theoriebildung spielen sie denn
auch eine herausragende Rolle. Beide Ansätze kritisieren die Konzeption von
Ideologie als falschem Bewusstsein und beinhalten die These von der Materialität
der Ideologie. Ist diese These etwa bei Karl Korsch in Marxismus und Philosophie
von 1923 bereits vorweggenommen, dort aber eher kryptisch formuliert, mehr
postuliert als ausgearbeitet (vgl. Korsch 1993, S. 348ff.), so wird sie bei Gramsci
und Althusser staatstheoretisch präzisiert.
politica‹ das zentrale Element von Herrschaft, so bildete im Westen die ›società
civile‹ deren Grundlage (vgl. Anderson 1979, S. 34ff.).
Für Letztere kann Hegemonie nicht einfach politische Führung bedeuten, son-
dern meint einen politisch-ethischen und kulturellen Führungsanspruch der herr-
schenden Klasse. Er muss über den herrschaftssichernden Einsatz repressiver
Mittel wie über die Durchsetzung partikularer ökonomischer Interessen hinaus-
gehen, sodass konsensuelle Verknüpfungen innerhalb der ›società civile‹ zwischen
dem Herrschaftsprojekt und verschiedenen sozialen Klassen oder Klassenfraktio-
nen hergestellt werden können. Gelingt es ein solches Herrschaftsprojekt zu
stabilisieren und zu kontinuieren, dann spricht Gramsci von einem ›blocco storico‹,
einem historischen Block, in dem verschiedene soziale Klassenkräfte dauerhaft
zusammengefügt sind. Der historische Block repräsentiert die Einheit und Kohä-
renz von Basis und Überbau im Marxschen Sinn, von ökonomischen Bedingungen
und gesellschaftlichen Institutionen sowie den Zusammenschluss von ›società ci-
vile‹ und ›società politica,‹ den ›stato integrale‹ (zu Gramscis erweitertem Staats-
begriff vgl. Buci-Glucksmann 1981, S. 86ff.; Priester 1981, S. 32ff., 76ff.).
Im Rahmen dieser Hegemonie-Konzeption kommt Ideologie nach Gramsci eine
zementierende und vereinheitlichende Funktion zu, wenn unter dem Ideologiebe-
griff nicht ein mehr oder weniger rationales System von zu verwirklichenden Ideen
oder ein Komplex von Illusionen, sondern weiter eine »concezione del mondo«
(Gramsci 1975, S. 1380) verstanden wird. Obgleich Gramsci keine festgelegte
Terminologie entwickelt, lässt sich dennoch sagen, dass Ideologie in diesem umfas-
senden Sinn über eine Reihe von gesellschaftlichen Institutionen und durch die
Intellektuellen als Funktionäre ihrer Verbreitung die Verbindung von Philosophie,
Wissenschaft, Religion und Alltagsverstand, von Wissen, Glauben und Fühlen
organisiert. Die Übersetzung des Begriffs ›concezione del mondo‹, wie übrigens die
anderer Begriffe bei Gramsci auch, wirft in der deutschen Sprache gewisse Schwie-
rigkeiten auf, denn er ist weder mit ›Weltanschauung‹ noch auch mit ›Weltauf-
fassung‹ präzise wiedergegeben. Beide Wörter betonen den kontemplativen bzw.
rezeptiven Aspekt von Bewusstseinsformen, den Gramsci aber nicht meinen kann.
Bei ihm konstituiert die Konzeption der Welt als Ideologie vielmehr das praktische
Verhältnis der Menschen zu Natur und Gesellschaft; sie ist Weltaneignung in einem
eminenten Sinn. Daher manifestiert sie sich zugleich »in der Kunst, im Recht, in
der ökonomischen Aktivität, in allen individuellen und kollektiven Lebensäuße-
rungen« (Gramsci 1994, S. 1380; Gramsci 1983, S. 77). Wenn das Herrschafts-
projekt diese Art Ideologie einbegreift, dann verfügt es über die Konstruktion von
Wirklichkeit, über das, was Marx das wirkliche Leben genannt hat. Der ideo-
logische Kampf um die hegemoniale Strategie ist in Gramscis Augen nicht zuletzt
ein »Kampf um die Objektivität« (Gramsci 1994, S. 1412) und erst in der Durch-
setzung der Strategie ist der Zusammenhalt von Gesellschaft und damit auch der
Prozess der Vergesellschaftung bis hinein in die Lebensgewohnheiten ihrer Mit-
glieder überhaupt gewährleistet (vgl. Demirovič 1989).
298 Jost Müller
sichtigen. Diese sind in dem Modell der »strukturalen Kausalität« als »Vorhanden-
sein der Struktur in ihren Wirkungen« (Althusser/Balibar 1972, S. 254) gedacht,
d. h. als Präsenz in ihren Wirkungen bei Abwesenheit ihrer als Ursache. Nicht
Determination einer Struktur durch eine andere wie im Basis-Überbau-Modell,
sondern Überdetermination der Instanzen ist in diesem Sinn der Schlüsselbegriff
von Althussers Totalitätskonzeption. Unter dieser Voraussetzung steht bei Alt-
husser nicht die Analyse einer bestimmten Struktur der Ideologie im Mittelpunkt
des Interesses, sondern die Analyse ideologischer Effekte.
chung fußt nach Jameson auf der sich immer wieder herstellenden, sogar ver-
steifenden Trennung von Produktion und Konsumtion, die eine hochkulturelle
Monumentalisierung ästhetischer Werke bewirke und einen populistischen Anti-
intellektualismus befördere (vgl. Jameson 1991, S. 315ff.).
Horkheimer und Adorno gingen davon aus, dass die kulturellen Praktiken in
der Massenkultur industrialisiert sind, dass sich die Organisation von Fabrik und
Büro einerseits und der von Freizeit und Kultur andererseits angleiche, kurz:
»Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus« (Hork-
heimer/Adorno 1987, S. 162). Kulturelle Verdinglichung in der Postmoderne je-
doch vollzieht sich nicht mehr in erster Linie dadurch, dass kulturelle Produkte zur
Ware werden oder im Bereich der Kulturmedien wie Illustrierte, Film, Rundfunk
oder Fernsehen als Waren produziert werden, sondern indem kulturelle Praktiken
selbst zunehmend bestimmend im informationstechnologisch gestützten Produk-
tionsprozess und nicht zuletzt im Medium Internet wirksam sind. Auf diese
Veränderung im Verhältnis von Warenproduktion und Kultur bezieht sich schließ-
lich auch der Begriff der »immateriellen Arbeit« bei Michael Hardt und Antonio
Negri (vgl. Hardt/Negri 2001, S. 300 ff.). Mit Rücksicht auf deren »Soziologie der
immateriellen Arbeit« in Empire muss die Kulturindustriethese der Kritischen
Theorie als veraltet angesehen oder doch zumindest erheblich modifiziert werden.
Unter der Dominanz des postmodernen Kapitalismus sind die Massen immer
weniger in einem industriellen Aggregat zusammengefasst, sondern die Postmo-
derne formiert die vereinzelten Individuen, indem sie als Subjekte auffordert, ihre
Kreativität, ihr Wissen und ihre Affekte dem neuen vernetzten, horizontal in-
tegrierten Produktions- und Distributionsprozess zur Verfügung zu stellen. In
dieser Hinsicht kehrt sich das Verhältnis um: die immaterielle Arbeit erscheint nun
als Verlängerung des Amusements, einer kulturellen Aktivität allerdings, die selbst
auf der Grundlage ihrer Industrialisierung im Spätkapitalismus funktioniert. Wenn
man so will, entspricht dies einer zweiten Stufe der Vergesellschaftung, auf der die
kulturindustriell fabrizierte stilistische, habituelle und affektive Besonderheit des
Selbst, wie sie sich im Starkult, in der biographischen Literatur oder im Schema
charismatischen Managements darstellt, also alles das, was Horkheimer und
Adorno als »Pseudoindividualität« (Horkheimer/Adorno 1987, S. 181) bezeichnet
haben, in die Produktion von Waren re-investiert wird.
Im Anschluss an diese Thesen zur Postmodernisierung wäre nicht mehr von
Verdinglichung im Singular zu sprechen, sondern von den verschiedenen Logiken
der Verdinglichungen: der institutionellen Verdinglichung der sozialen Bewegun-
gen zum Bestandteil des herrschenden Pluralismus im politischen Bereich etwa und
der technologischen Verdinglichung der Sprache in ihrer Computer gestützten
Kodifizierung, der kommunikativen Verdinglichung von Kreativität nach Maßgabe
ökonomischer Effektivität und Rentabilität, der psychischen Verdinglichung der
Subjekte in der affektiven Selbstkontrolle im Alltag etc. Der Postmodernismus ist
im Sinn der ideologischen Hegemonie bei Gramsci jene Konzeption von Welt, in
der diese unterschiedlichen Logiken eben nicht homologisiert, sondern bei Auf-
rechterhaltung ihrer Unterschiede artikuliert werden. Der Terminus ›Kultur‹ selbst
steht für diese Artikulation; er oszilliert zwischen Relativismus oder Holismus,
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 301
beruhe, wird es also kaum erschüttern, weil es das universelle Freiheitspostulat als
das probate Mittel zur Realisierung der partikularen Freiheit annimmt, das Recht
als den sauberen Weg zur Aufrechterhaltung von Ungerechtigkeit anerkennt, die
Wahrheit als die effektivere Form von Lüge ansieht, die Moral als die höhere Form
von Lasterhaftigkeit und Verworfenheit schätzt (vgl. Žižek 1989, S. 29 f.). Das
zynische Subjekt selbst vollzieht eine Distanzierung von ideologischer Maskerade
und Realität.
Nach Žižek ist die zynische Haltung nur wirksam außer Kraft zu setzen, wenn
die Ideologietheorie die paranoide Konstruktion des Zynismus im Subjekt selbst
offen legt. Die Funktion von Ideologie könne nicht länger, und so deutet er die
Marxsche Metaphorik der Mystifikation und der Phantasmagorie wie auch Alt-
hussers Theorie der ideologischen Staatsapparate und der Anrufung, als ein Ange-
bot zur Flucht vor der sozialen Realität aufgefasst werden. Sie müsse vielmehr
darin gesehen werden, eine Realität sozialer Beziehungen zur Verfügung zu stellen,
die der Flucht vor den traumatischen Konsequenzen der sozialer Realität dient
(vgl. Žižek 1989, S. 45). Das zynische Subjekt als allwissender Realist ist durch
alltägliche Erfahrungen ebenso wenig zu widerlegen wie durch rationale Argu-
mentation. Im Zynismus verwirklicht sich das postmoderne Subjekt selbst, indem
es sich in einer post-ideologischen Welt imaginiert. Jeden Appell an soziale Solida-
rität kontert der neokonservative Zyniker mit dem Verdacht, er diene nur dazu eine
neue Elite zu etablieren. Er unterstellt seinen Gegnern immer nur den eigenen
Zynismus; er sieht in einer alternativen Handlungsweise immer nur die camouf-
lierte Logik des eigenen Verhaltens am Werk.
Die postmoderne Subjektivität ist der Reflex auf das Wissen, dass die eigene
Identität, wie es bei Žižek 1999 in The Ticklish Subject. The Absent Centre of
Political Ontology (Die Tücke des Subjekts, 2001) heißt, von den identifizierenden
Praktiken innerhalb einer Machtstruktur abhängt, von einer »Reihe digitalisierter
informatorischer Akte« im Gesundheits- und Ausbildungssystem, in den Sozial-
und Finanzverwaltungen sowie den Polizeibehörden, von einer staatlichen An-
sammlung von Daten also, auf die das Subjekt keinen Zugriff mehr hat, die es aber
entscheidend affizieren. Hierin sieht Žižek den »spezifisch protoparanoiden Mo-
dus der Subjektivierung« (Žižek 2001, S. 355 f.) begründet, der die Postmodernisie-
rung kennzeichnet.
Mit Althusser begreift Žižek Ideologiekritik als Kritik der Praxisformen und
Rituale, doch distanziert er sich von dessen Konzept der durch die ideologischen
Staatsapparate determinierten Subjektivation. Unter Verweis auf die Figurenkon-
struktion in den Romanfragmenten Das Schloss und Der Process von Franz Kafka
insistiert er auf einem den Prozeduren der sozialen Subjektivation vorausgehenden
psychischen Subjekt. Sicherlich bewegen sich die Figuren in Kafkas Erzählungen
an der Grenze, wo Machtapparate und Phantasmagorien aneinander stoßen. In der
psychologischen Interpretation allerdings ist genau diese Spannung, die durch die
Naht der surrealen Erzähltechnik aufrechterhalten wird, zugunsten der Phantas-
men aufgelöst. Für Žižek entspricht das kafkaeske Subjekt dann auch dem Modus
einer »Anrufung ohne Identifikation/Subjektivation« (Žižek 1989, S. 44). Denn ein
solches Subjekt verstehe die Anrufungen der mysteriösen Bürokratien, bei Kafka
306 Jost Müller
Literatur
Adorno, Theodor W. (1970): Negative Dialektik, in: ders: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt
a. M., S. 7–412
– (1972a): Aberglaube aus zweiter Hand, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M.,
S. 147–176
– (1972b): Reflexionen zur Klassentheorie, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M.,
S. 373–391
– (1972c): Beitrag zur Ideologienlehre, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M., S. 457–
477
Althusser, Louis (1968): Für Marx, Frankfurt a. M.
– (1977): Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie,
Hamburg/Berlin
– (1995): Sur la reproduction, Paris
–/Balibar, Étienne (1972): Das Kapital lesen I/II. 2 Bde, Reinbek bei Hamburg
Anderson, Perry (1979): Antonio Gramsci. Eine kritische Würdigung, Berlin
Balibar, Étienne (1993): Nation, Gemeinwesen, Imperium. Das Problem der bürgerlichen
politischen Form, in: ders.: Die Grenzen der Demokratie, Hamburg, S. 124–136
Balibar, Étienne (1994): Für Althusser, Mainz
Beiersdörfer, Kurt (1986): Max Weber und Georg Lukács. Über die Beziehung von Ver-
stehender Soziologie und Westlichem Marxismus, Frankfurt a. M.
Buci-Glucksmann, Christine (1981): Gramsci und der Staat. Für eine materialistische Theorie
der Philosophie, Köln
Butler, Judith (1995): Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts, Berlin
Butler, Judith (2001): Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, Frankfurt a. M.
Dannemann, Rüdiger (1987): Das Prinzip Verdinglichung. Studie zur Philosophie Georg
Lukács’, Frankfurt a. M.
Demirovič, Alex (1989): Die hegemoniale Strategie der Wahrheit. Zur Historizität des Mar-
310 Jost Müller
xismus bei Gramsci, in: Die Linie Luxemburg-Gramsci. Zur Aktualität und Historizität
marxistischen Denkens. Das Argument 159, Sonderband, Berlin/Hamburg, S. 69–89
Eagleton, Terry (1993): Ideologie. Eine Einführung. Stuttgart/Weimar
Engels, Friedrich (1967): Brief an Conrad Schmidt vom 27. Oktober 1890, in: MEW, Bd. 37,
Berlin, S. 488–495
– (1968): Brief an Franz Mehring vom 14. Juli 1893, in: MEW, Bd. 39, S. 96–100
Gramsci, Antonio (1975): Quaderni del carcere. Edizione critica dell’Instituto Gramsci.
Volume 1–4, Torino
– (1983): Marxismus und Literatur. Ideologie, Alltag, Literatur, Hamburg
– (1994): Gefängnishefte, Bd. 6: Philosophie der Praxis, Hamburg/Berlin
Grossberg, Lawrence (2000): What’s going on? Cultural Studies und Popularkultur, Wien
Hall, Stuart (1994): Rassismus und kulturelle Identität. Ausgewählte Schriften, Bd. 2, Ham-
burg
Hardt, Michael/Negri, Antonio (2001): Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt a. M.
Haug, Wolfgang Fritz (1984): Die Camera obscura des Bewusstseins. Zur Kritik der Subjekt/
Objekt-Artikulation im Marxismus, in: Projekt Ideologie-Theorie: Die Camera obscura
der Ideologie. Philosophie, Ökonomie, Wissenschaft, Berlin, S. 9–95
– (1993): Elemente einer Theorie des Ideologischen, Hamburg
Horkheimer, Max (1988a): Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: ders: Ges. Schrif-
ten, Bd. 3, Frankfurt a. M., S. 36–39
– (1988b): Traditionelle und kritische Theorie, in: ders: Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M.,
S. 162–216
– (1991): Zur Kritik der instrumentellen Vernunft, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt
a. M., S. 19–186
-/Adorno, Theodor W. (1987): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, in:
Horkheimer, Max: Ges. Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M., S. 11–290
Jameson, Fredric (1986): »Postmoderne – zur Logik der Kultur im Spätkapitalismus, in:
Huyssen, Andreas/Scherpe, Klaus R. (Hg.): Postmoderne. Zeichen eines kulturellen Wan-
dels. Reinbek bei Hamburg, S. 45–102
– (1991): Postmodernism, Or, The Cultural Logic of Late Capitalism, London/New York
Korsch, Karl (1993): Marxismus und Philosophie, in: ders.: Marxismus und Philosophie.
Schriften zur Theorie der Arbeiterbewegung 1920–1923. Gesamtausgabe, Bd. 3, Ams-
terdam, S. 299–367
Lindemann, Kai (2000): Der Racketbegriff als Gesellschaftskritik. Die Grundform der Herr-
schaft bei Horkheimer, in: Zeitschrift für kritische Theorie 6, H. 11, S. 63–81
Link, Jürgen (1996): Wie ›ideologisch‹ war der Ideologie-Begriff von Marx? Zur verkannten
Materialität der Diskurse und Subjektivitäten im Marxschen Materialismus, in: Scholz,
Rüdiger/Bogdal, Klaus-Michael (Hg.): Literaturtheorie und Geschichte. Zur Diskussion
materialistischer Literaturwissenschaft, Opladen, S. 132–148
Löwenthal, Leo (1982): Individuum und Terror, in: ders.: Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.,
S. 161–174
Lukács, Georg (1968): Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialek-
tik, in: ders.: Frühschriften II. Werke, Bd. 2, Neuwied/Berlin, S. 161–517
Lyotard, Jean François (1986): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht, Graz/Wien
Lyotard, Jean François (1989 [1987]): Der Widerstreit. 2. Aufl., München
Marcuse, Herbert (1979a): Der Kampf gegen den Liberalismus in der totalitären Staatsauf-
fassung, in: ders.: Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M., S. 7–44
– (1979b): Einige gesellschaftliche Folgen moderner Technologie, in: ders.: Schriften, Bd. 3,
Frankfurt a. M., S. 286–319
– (1984a): Industrialisierung und Kapitalismus im Werk Max Webers, in: ders.: Schriften, Bd.
8, Frankfurt a. M., S. 79–99
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 311
– (1984b): Bemerkungen zu einer Neubestimmung der Kultur, in: ders.: Schriften, Bd. 8,
Frankfurt a. M., S. 115–135
– (1989): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen In-
dustriegesellschaft, in: ders.: Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M.
Marx, Karl (1960): Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in: MEW, Bd. 8, Berlin,
S. 111–207
– (1962): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, in: MEW, Bd. 23,
Berlin
– (1964): Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Dritter Band, in: MEW, Bd. 25,
Berlin
–/Engels, Friedrich (1962): Die deutsche Ideologie, in: MEW, Bd. 3, Berlin
Müller, Jost (1995): Zauberwort Kultur. Zur Geschichte der Kulturideologie in Deutschland,
in: ders.: Mythen der Rechten. Nation, Ethnie, Kultur, Berlin, S. 33–62
Pêcheux, Michel (1983): Ideologie – Festung oder paradoxer Raum, in: Das Argument 25,
S. 379–387
– (1984a/b), Zu rebellieren und zu denken wagen! Ideologien, Widerstände, Klassenkampf,
in: kultuRRevolution, Nr. 5 (1984a), S. 61–65 und Nr. 6 (1984b), S. 63–66
– (1988): Sind die Massen ein beseeltes Objekt?, in: kultuRRevolution, Nr. 17/18, S. 7–12
Priester, Karin (1981): Studien zur Staatstheorie des italienischen Marxismus: Gramsci und
Della Volpe. Frankfurt a. M./New York
Schweppenhäuser, Hermann (2001): Bilder der Natur in der kritischen Theorie, in: Zeitschrift
für kritische Theorie 7, H. 13, S. 7–24
Williams, Raymond (1972): Gesellschaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur histori-
schen Semantik von Kultur, München
Zima, Peter V. (2000): Theorie des Subjekts. Subjektivität und Identität zwischen Moderne
und Postmoderne, Tübingen/Basel
Žižek, Slavoj (1989): The Sublime Object of Ideology, London/New York
– (Hg.) (1994): Mapping Ideology, London/New York
– (2001): Die Tücke des Subjekts, Frankfurt a. M.
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel
der gebildeten Klasse
Christine Resch und Heinz Steinert
»Kulturindustrie« ist ein Begriff, der als Überschrift eines Kapitels in Horkheimer/
Adornos Dialektik der Aufklärung (1944/47) bekannt wurde: Kulturindustrie –
Aufklärung als Massenbetrug. Die Sache – intellektuelle Produktion nach Impera-
tiven der Warenförmigkeit – war von beiden Autoren schon in früheren Arbeiten
analysiert worden: Wagners Musikdramen (Adorno 1933a, 1939/1952), Jazz-Musik
(Adorno 1933, 1937), Fanatismus in der bürgerlichen Politik (Horkheimer, 1936),
Hindemiths »Neo-Klassizismus« (Adorno 1922ff., 1932). Das Wort setzte sich erst
jetzt, im US-Exil, durch. (Die US-Erfahrung bestätigte also nur, was die beiden
schon aus Europa und seiner Entwicklung zum Faschismus kannten.) Kultur-
industrie wurde ab diesem Zeitpunkt als ein »Markenbegriff« der Kritischen
Theorie gehandhabt, aber nicht mehr weiter begrifflich bearbeitet und entwickelt.
Darauf wird zurückzukommen sein.
Nach Adornos Tod wurde der Begriff vor allem verabschiedet, revidiert und
schließlich von kritisch zu affirmativ gewendet: Heute haben besonders Betriebs-
wirte ein gutes Verhältnis zu ihm, die Kulturmanagement als interessantes Arbeits-
feld etabliert haben. Auch die Apologeten der »Wissensökonomie« (z. B. Lash/
Urry 1994) können ihm viel abgewinnen.
Es ist also heute nötig, den Begriff in seiner kritischen Fassung erst wiederzuge-
winnen. Wir tun das im ersten und zweiten Abschnitt »Was Kulturindustrie nicht
ist« und »Falsche Alternativen«: ein Durchgang durch die Revisionen und angebli-
chen Verbesserungen, die dem Begriff angetan werden (vgl. dazu auch Claussen
1990). Im dritten Abschnitt »Was Kulturindustrie ist« werden zentrale Bestim-
mungsstücke von Kulturindustrie identifiziert. Dabei entwickelt sich zugleich eine
angemessene Aktualisierung: »erweiterte Kulturindustrie«. Sie wird im letzten
Abschnitt an Beispielen dargestellt.
Musik als Abschluss einer Versammlung. In der Parole »l’art pour l’art« selbst-
bewusst geworden, erzeugt der Eigensinn von Kunst eine eigene Welt, eine Gegen-
welt, eine Ahnung des anderen, des Möglichen. In Kulturindustrie wird dieser
Bereich von Befreiung eingezogen, wird Kultur restlos funktionalisiert.
Das geschieht Kultur aber nicht von außen, sondern es setzt sich eine der
Gesetzmäßigkeiten, von denen sie bestimmt wird, durch: Produktion nach den
Imperativen der Warenförmigkeit. Die Institutionen der Kunst, der Ausstellungs-
oder Konzertbetrieb, das Verlagswesen oder die Wissenschaft, organisieren sich
entsprechend. Der einzelne Künstler steckt in derselben Dialektik: Er wehrt sich
gegen den Zugriff, will aber von seiner Kunst leben, braucht daher ein Publikum
und einen Verkauf. Er wehrt sich dagegen, gibt dem Druck aber auch nach. Er
macht Erfindungen in der Auseinandersetzung mit Aufträgen, Zensur und Markt,
kann sich aber nicht ganz entziehen, will das auch nicht unbedingt. Manche
arbeiten diesen Rahmenbedingungen ohne Widerstand zu, produzieren in ihnen,
was gut ankommt.
Kunst geschieht im Rahmen der kulturindustriellen Gegebenheiten und in mehr
oder weniger widerständiger Auseinandersetzung mit ihnen. Schönberg steht für
eine Form der Reaktion auf Kulturindustrie, die man als letzten Versuch, sich
dagegen aufzubäumen, einordnen kann. Es ist ein Versuch, Autonomie gegen die
kulturindustriellen Regeln von Verkäuflichkeit und marktförmiger Aufmerksam-
keit zu behaupten. Schönbergs Haltung ist mit »öffentlicher Einsamkeit« be-
schrieben worden, eine Form der Kunstproduktion, die sich ostentativ vom Publi-
kum abwendet (Steinert 1989). Bei der insgesamt verwirrenden Verwendung von
»Moderne« und »Postmoderne« ist das zugleich auch eine Klärung dieser Begriffe:
»Die Moderne«, die Adorno interessiert, ist die »öffentliche Einsamkeit«. Und hier
besteht die Übereinstimmung zur Kunst: Es ist diese Haltung, die auch seiner
Theorieproduktion zugrunde liegt.
In der Theorie der Kulturindustrie wird kritisiert, dass dieses Modell von
künstlerischer Produktion zu Ende geht. Adorno rettet nicht die Kunst, er hält an
einer bestimmten widerständigen intellektuellen Haltung fest (ausführlich dazu:
Demirovic 1999). In Adornos Verständnis liegt damit ein Ende der Kunst nahe. Mit
einem Rückzug von Theorie und einer Flucht ins Ästhetische, wie Rüdiger Bubner
(1989) argumentiert, hat das nichts zu tun.
1.3. Kritik der Kulturindustrie ist nicht die Ablehnung von Unterhaltung
Die Kritik an Kulturindustrie ist auch keine am Amüsement, sondern (unter
anderem) daran, dass sie Unterhaltung nicht konsequent genug betreibt.
Dass es nicht Kunst ist, die kritisch, während Populärkultur und die dazuge-
hörige Unterhaltung affirmativ sei, lässt sich mit einer Reihe von Textpassagen
veranschaulichen. Absurdität, glücklichen Unsinn und die körperliche Kunst im
Zirkus verwendet Adorno als Beispiele für das »Bessere«, das Kulturindustrie
bietet. Konsequente Unterhaltung bestehe in einem entspannten »sich Überlassen
an bunte Assoziationen und glücklichen Unsinn«. Diese Unterhaltung der Unter-
haltung wegen, den »wahren Luxus«, wenn man so will, zerstöre Kulturindustrie
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 315
aber fortwährend, indem sie allen Produkten »das Surrogat eines zusammen-
hängenden Sinns« beigibt, der freilich nur dazu diene, das Auftreten der Stars zu
rechtfertigen. Darauf bezieht sich Adornos Kritik am Amüsement: Es ist schlechte
Unterhaltung.
Dass Adorno nicht der Verfechter einer elitären vergeistigten Hochkultur ist,
zeigt auch seine Anmerkung zum Zirkus. Die körperliche Könnerschaft von
Reitern, Akrobaten und Clowns verteidige körperliche gegen geistige Kunst. Das
aber heißt, sie ist Einspruch der »unteren Klassen« gegen das Privileg der Bildung.
Was dagegen sehr wohl kritisiert wird, wir haben es schon angedeutet, ist
populistische Vereinnahmung. Das ist schon im Untertitel »Aufklärung als Mas-
senbetrug« festgehalten. Die Rezipienten werden nicht als Individuen gedacht,
sondern in großen Kategorien zusammengefasst. Der kulturindustrielle Zugriff auf
die Konsumenten entspricht dem von Verwaltung: einer Kategorisierung der Rezi-
pienten nach Merkmalen der Benutz- und Kontrollierbarkeit. Es geht, wie es
Adorno und Horkheimer ausdrücken, um »lückenlose Quantifizierung«:
»Emphatische Differenzierungen wie die von A- und B-Filmen oder von Geschichten in
Magazinen verschiedener Preislagen gehen nicht sowohl aus der Sache hervor, als daß sie der
Klassifikation, Organisation und Erfassung der Konsumenten dienen. Für alle ist etwas
vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und
propagiert.« (Horkheimer/Adorno 1944/47, S. 147)
»Daß der Unterschied der Chrysler- von der General-Motors-Serie im Grunde illusionär ist,
weiß schon jedes Kind, das sich für den Unterschied begeistert.« (Horkheimer/Adorno
1944/47, S. 148)
»Der Fortschritt der Verdummung darf hinter dem gleichzeitigen Fortschritt der Intelligenz
nicht zurückbleiben.« (ebd., S. 171)
» … die zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.«
(ebd., S. 196)
» … daß die Reduktion des Kunstwerks auf die empirische Vernunft bereit ist, in jedem
Augenblick in den offenen Wahnsinn umzuschlagen, den die Fans, indem sie dem Lone
Ranger Hosen und seinem Pferd Sattelzeug schicken, einstweilen halb noch spielen.« (ebd.,
S. 302)
Das ist kein starker und heldenhafter Widerstand, der hier angesprochen wird, aber
immerhin bewusste Selbstüberwindung, die sich nichts vormacht, Wissen um den
Zwang, dem man unterliegt, und um die Widerstände, die man in sich niederhalten
muss, schließlich ein Mitmachen nur halb im Ernst. Von einem souveränen In-
dividuum kann hier nicht die Rede sein, aber auch nicht von einem »auf das
Stadium der Lurche« reduzierten Manipulationsprodukt. (Zu den verschiedenen
Facetten, wie die Rezipienten in der Kulturindustrie-Theorie vorkommen, vgl.
Steinert 1998, S. 150–156.)
Und unabhängig von der Einschätzung der (damals) gegenwärtigen Möglich-
keiten von Widerstand (Adorno hielt sie für gering) ist das theoretische Grund-
modell wichtig, in dem die der Herrschaft Ausgesetzten an ihrer eigenen Beherr-
schung mitarbeiten müssen – und das daher auch grundsätzlich verweigern kön-
nen. Auch wenn er den Untergang des Individuums betrauert, Adornos Theorie
kennt das Subjekt, das in der Perspektive der Medien und ihrer Betreiber als
»Publikum« verdinglicht und besonders gründlich ausgespart bleibt.
affirmativ: »Die Kulturindustrie« wird zum Apparat, mit dem Propaganda für die
»Wissensgesellschaft« gemacht wird.
(Dass Kulturindustrie dazu beitrage, eine »kritisch räsonierende Öffentlichkeit«
herzustellen, wie Erd (1989) argumentiert, ist eine frühere, wissenschaftliche Ver-
sion dieses affirmativen Verständnisses.)
2. Falsche Alternativen
Aus den »falschen Vorwürfen« ergeben sich die Theorien, die als Alternativen
angeboten werden. Die verschiedenen alternativen Theorien haben eine Gemein-
samkeit: Sie eignen sich für Intellektuellenselbstdarstellung. Kulturindustrie wird
zum Apparat, mit dem sich die »gebildete Klasse« darstellt, Öffentlichkeitsarbeit
betreibt und um gesellschaftliche Hegemonie kämpft (zum Zusammenhang von
Kulturindustrie und Hegemonie vgl. Demirovic 2002). An einigen wenigen Bei-
spielen wollen wir das diskutieren.
Benjamin/Cultural Studies
Walter Benjamin (und Bertold Brecht, gelegentlich auch Umberto Eco) seien
möglichen Subversionspotentialen der Rezipienten gegenüber viel aufgeschlos-
sener. Im Kontext der Cultural Studies sei ausführlich gezeigt worden, wie wider-
ständig das Publikum ist, dass von Manipulation also keine Rede sein könne. Dass
Günther Anders (1956) fast vergessen ist, verwundert wenig. Seine Kritik des
Fernsehens ist den gegenwärtigen Medientheoretikern wohl auch zu pessimistisch.
Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
zierbarkeit« (1936) wird als kritische (Gegen-) Theorie zur Theorie der Kultur-
industrie hochgehalten. Benjamin argumentiert darin, dass mit der technischen
Reproduzierbarkeit der Künste der Verlust der Aura verbunden sei (langfristig war
das ein Irrtum, wie in Resch 2000, gezeigt) und dass damit Möglichkeiten zu einer
kritischen Aneignung entstehen. Das wird am Beispiel des Films entwickelt: die
technische Apparatur bringe die Zuschauer in eine distanzierte Haltung und in die
Position des kritischen Begutachters. Das auratische Kunstwerk dagegen, mit
seinem Ursprung im religiösen Ritual, erzeuge Unterwerfung. Benjamins zentrale
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 319
These impliziert einen Fortschritt der Produktivkraft und eine dazugehörige fort-
schrittliche Rezeptionspraxis.
Diese Theorie wird verwendet, um zu entkräften, dass Kulturindustrie die
Massen manipuliere. Noch radikaler wird dieses Missverständnis in den gegenwär-
tigen Cultural Studies forciert und zugleich widerlegt. In den letzten Jahren sind
erhebliche wissenschaftspolitische Anstrengungen unternommen worden, Cultural
Studies in Deutschland zu etablieren. Das Erstaunliche dabei ist, dass die stereo-
typen Rezeptionen der Kulturindustrie-Theorie trotz der Nähe zu den Primärtex-
ten mit importiert werden. In beinahe jedem Reader, der die Tradition der Cultural
Studies vorstellt, findet sich eine stereotype Abgrenzung von der Kritischen Theo-
rie. Die Frankfurter Kunst- und Kulturtheorie sei elitär. Hier werde ein manipu-
liertes Publikum unterstellt, das sich den herrschenden Verhältnissen bereitwillig
einfügt.
Den Cultural Studies gilt längst als empirisch belegt, was Benjamin noch als
Möglichkeit konzipiert, die in den Produkten eine Entsprechung haben müsse.
Man kann es sogar noch schärfer formulieren: Die Cultural Studies kennen in-
zwischen nur noch kritische Aneignungen von Künsten und Widerständigkeit der
verschiedener Rezipientengruppierungen. Untersucht werden Freizeitphänomene,
die nicht mehr gesellschaftstheoretisch reflektiert werden. Dass und wie sich
zugleich Thatcherismus, ein autoritärer Populismus, etablieren konnte, wird in
anderen Studien (Hall 1988) erforscht. Die verschiedenen Ergebnisse stehen unver-
bunden nebeneinander. Eine Fraktion der Cultural Studies hat die herrschaftlichen
Aspekte aus ihren Studien verbannt. Deshalb kommt ihnen Adorno so pessimis-
tisch vor.
In einer ausführlichen Beschäftigung mit diesen Rezeptionsstudien konnte aller-
dings gezeigt werden, dass das »widerständige Publikum« die Forscher selbst sind:
Sie durchschauen die herrschende Ideologie, sind aber in keiner gesellschaftlichen
Position, um ihre Weltsicht verbindlich zu machen. Die Pointe ist dann freilich,
dass gerade die Protagonisten der Cultural Studies (in der zweiten und dritten
Generation) ihre eigene Lebensweise und damit Intellektualität verallgemeinern
(vgl. dazu Resch 1999, S. 94–129). Der Bezug auf die »Gründungsväter« der
Cultural Studies bleibt dagegen abstrakt.
Richard Hoggart (1957), Raymond Williams (1958) und Edward P. Thompson
(1963), die den ökonomischen Determinismus kritisiert, Arbeiterbewegung als
Lernprozess reflektiert, die Erfahrungen der Arbeiterklasse in eine marxistische
Kulturtheorie einbezogen haben, sind um ihre materialistische Grundorientierung
verkürzt worden. Inzwischen ist alles Kultur, die gesellschaftstheoretische Dimen-
sion fehlt in den Studien. Dazu kommt, dass die Aneignung der Cultural Studies in
Deutschland erst begonnen hat, als in den angelsächsischen Ländern daraus ein
kulturindustrielles Label für den Buchvertrieb geworden war, unter dem entspre-
chend Vielfältiges versammelt wird. Es ist der verspätete Versuch, Soziologie als
Kulturwissenschaft zu konstituieren (Winter 2001).
320 Christine Resch und Heinz Steinert
»Postmoderne«: das ist der Abschied von Gesellschaftstheorie, der Abschied von
der »großen Erzählung«, wie sie Marx und der Kritischen Theorie zugeschrieben
wird. Jochen Venus (2001) stellt dar, dass postmoderne »Denkstile« deshalb so
überzeugend seien, weil sich ein kulturelles Selbstverständnis von den Theorien des
»Industriezeitalters« nicht mehr auf den Begriff gebracht erfahre.
Nichts ist mehr wie es war. Baudrillards Theorien über die verschiedenartigen
Gegenstände haben eines gemeinsam: Sie seien, so Venus, durch die Metaphorik
eines »welthistorischen Umschlags« vermittelt. Die gegenwärtigen Medien ver-
fügten über keine außermediale Realität mehr, seien reine Simulation. Ihre Macht,
so die Annahme, sei total geworden, Rückschlüsse auf andere gesellschaftliche
Macht- und Herrschaftsverhältnisse seien nicht mehr möglich, Ideologiekritik sei
obsolet geworden. Die These vom »kulturhistorischen Bruch« hat einen Steige-
rungsmechanismus eingebaut: Absolut Neues muss permanent verkündet werden.
»Postmoderne Medientheorie« hat damit selbst den Status eines Kultur-(In-
dustrie)-Ereignisses, bedient sich gekonnt der kulturindustriellen Mechanismen.
Die wissenschaftlich und medial forcierte Hochkonjunktur ist zwar inzwischen
wieder abgeflaut, aber die Denkmodelle von Baudrillard werden doch dann be-
müht, wenn über einen Krieg philosophiert wird, der sich unserer Erfahrung
entzieht (Golf) – mit der Schlussfolgerung, dass er deshalb auch nicht stattgefunden
habe – oder, wenn Denkverbote die Bearbeitung eines Ereignisses strukturieren,
wie bei den Anschlägen auf World Trade Center und Pentagon.
Baudrillards Äußerungen zu den Attentaten vom 11. September sind ein aktuel-
les Beispiel für Postmoderne als »negative Hermeneutik« (Schurz 1995) – Theo-
rien, deren Kern Nicht-Verstehen ist. In einem Spiegel-Interview (3/2002) wird
über das »absolute Ereignis« gesagt, dass »keine Ideologie«, »kein Kampf für die
Sache« und »auch nicht der islamische Fundamentalismus« es erklären können.
Terrorismus sei wie ein Virus, Bin Laden gewinne eine »übernatürliche Dimen-
sion«, der Einsatz gegen ihn sei »fast schon metaphysisch«. Der »immanente
Irrsinn der Globalisierung« bringt »Wahnsinnige« und eine »universelle Allergie
gegen eine endgültige Ordnung« hervor. (Dem Interviewer, Romain Leick, ist das
offenbar noch zu konkret. Er fragt: »Warum können Sie nicht einfach akzeptieren,
dass die Zerstörung des World Trade Center die willkürliche, irrationale Tat einiger
verblendeter Fanatiker war?«)
Gesellschaftliche Konflikte zu naturalisieren und sie zu entpolitisieren, sie als
Sachzwang, Krankheit, Wahnsinn, Metaphysik darzustellen, gehört zu den elabo-
rierten Herrschaftstechniken. Es gibt ein herrschendes Interesse, Nicht-Verstehen
zu kultivieren. Die kulturindustriellen Imperative für das Nachdenken über den 11.
September verlangten Zurückhaltung, der Kreis des überhaupt Sagbaren wurde
ungewöhnlich eng gezogen. Tabus und Klischees prägten die intellektuellen State-
ments zum Thema (Laster/Steinert 2002).
Baudrillard gelingt es, die ewig wiederholten Gemeinplätze noch als provokante
Ideen zu verkaufen. Deshalb passt seine Position zu gut zu diesem kulturin-
dustriellen Ereignis.
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 321
Pierre Bourdieu hat mit seinem Buch über die »feinen Unterschiede« (1979) ein
Gegenprogramm zur Kritischen Theorie ausgearbeitet. Er untersucht den sozialen
Status, der mit den Vorlieben für bestimmte Künste verbunden ist und spart eine
Interpretation der Inhalte von Kultur vollkommen aus. Bei entsprechender Kennt-
nis der Szene kann man aus diesen Vorlieben recht genaue Auskunft über den
sozialen Ort einer Person ableiten.
Das ist schon der Kern dessen, was Bourdieus hoch gelobte Theorie der sozialen
Verteilung von kulturellen Vorlieben und Geschmäckern ausmacht: Kompetente
Gesellschaftsmitglieder wissen darüber Bescheid, mit welchen kulturellen Signalen
man welche soziale Zugehörigkeit markiert und benützen sie entsprechend – aktiv
wie passiv. Was damit in keiner Weise erklärt wird, ist der Inhalt der jeweiligen
Zuordnung: Warum ist der Gartenzwerg unterschichtig und Marcel Duchamp
oberschichtig? Warum konnte man seinerzeit die von Mozart geprägten Mütter mit
Mulligans »News from Blueport« in tiefe Bestürzung treiben, von den Rolling
Stones und »I Can’t Get No Satisfaction« gar nicht zu reden? Warum rührt
manchen Parkers kaputter »Lover man« an die Seele, während andere hauptsäch-
lich hören, dass hier ein Betrunkener im Cold Turkey alle möglichen musikalischen
Fehler macht? Warum gibt es Glaubenskriege zwischen Musikstilen und ihren
Anhängern und Kritikern? Mit Bourdieu und dem ganzen erheblichen Aufwand an
Theorie und Empirie, den er in Die feinen Unterschiede betrieben hat, kommt man
schon in diesen Fragen nicht weiter, die noch ganz nahe an der Problematik liegen,
die er explizit behandelt. Völlig unmöglich ist es, mit Bourdieus Instrumentarium
ein einzelnes Kunstereignis inhaltlich zu analysieren oder etwas über eine mögliche
kritische Funktion von Kunst zu sagen (vgl. zu dieser Kritik und als Gegenbeispiel
Steinert 2002).
Obwohl das eher ein Gegenprogramm zu Adorno ist, stellt Oliver Fahle (2000)
Bourdieu als jemanden vor, der »scheinbar antiquiert« (im Vergleich zu den
Forschungen im Kontext der Cultural Studies) Fernsehen – analog zur Kritischen
Theorie – als »homogenisierten Raum« beschreibe. Fahle legt den Akzent auf
Gemeinsamkeiten der »Franzosen-Theoretiker« mit der Kritischen Theorie. Sie
konkretisierten erst, wie wahr Adornos Theorie der Kulturindustrie sei, aber auch,
dass die Thesen nur auf das Fernsehen zutreffen, nicht aber etwa auf den Autoren-
film. Hier müsse genauer differenziert werden. Die Verharmlosung von Kultur-
industrie zur Medientheorie, die erst von Bourdieu/Virilio/Baudrillard differen-
ziert ausgearbeitet worden sei, ist das Ergebnis dieses komplizierten Vergleichs.
Diese These ist aus verschiedenen Gründen nicht haltbar. Sie ist es vor allem
deshalb nicht, weil Bourdieu nicht die kulturindustrielle Logik von Fernsehen
analysiert. Im Gegenteil.
Pierre Bourdieus Sur la télévision (1996) ist ein evidentes Beispiel dafür, wie sehr
Intellektuelle um Einschaltquoten konkurrieren. Der Gegenstand des ersten im
Fernsehen gehaltenen Vortrags ist eine Klage über die Einschaltquote und die
damit verbundene »unsichtbare Zensur«, wie Bourdieu es nennt. Einschaltquoten
seien nur mit bestimmten Inhalten und Formen, in denen sie präsentiert werden, zu
322 Christine Resch und Heinz Steinert
Habermas kritisiert die Dialektik der Aufklärung nicht aus der Perspektive der
Kritischen Theorie, sondern formuliert eine Alternative, eine Gegentheorie. Gesell-
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 323
schaftstheorie ist diesem Verständnis nach nicht mehr Ergebnis einer Analyse der
Produktionsweise, der damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse und der ver-
schiedenen sozialen Positionen und Widersprüche, die sich daraus ergeben. Nicht
mehr die materiellen Lebensbedingungen werden reflektiert, sondern Ideen wie
»Gerechtigkeit« und »herrschaftsfreier Diskurs«, und die Behauptung von der
universellen Gültigkeit von Recht und Moral leiten die Kritik des Bestehenden an.
Dabei hat er mit der diskurstheoretischen Begründung von Anerkennung (indem
ich mich mit jemanden auf ein Argument einlasse, anerkenne ich ihn als gleich-
berechtigt diskursfähig) ein Modell von Politik entworfen, das eindeutig Intel-
lektuellenpolitik ist: Die räsonierende Öffentlichkeit ist eine »permanente Po-
diumsdiskussion« (hat man es auf einer öffentlichen Veranstaltung polemisch
nennen hören). Die reflexive Kritik der Kritischen Theorie wird durch die Erfin-
dung der moralischen Wahrheit ersetzt, die der »Philosophenkönig« kennt (Stei-
nert 1998a).
In den Entwürfen war das Kulturindustrie-Kapitel noch mit »Das Schema der
Massenkultur« überschrieben. Unter diesem Titel ist dann der »zweite Teil« des
Kulturindustrie-Kapitels auch bekannt geworden – Teil der vorher unveröffent-
lichten Schriften aus dem Nachlass von Adorno, nicht mehr überarbeitet, auch von
Horkheimer nicht mehr bearbeitet. Bekanntlich endet das Kulturindustrie-Kapitel
mit »fortzusetzen« und das ist mit »Das Schema der Massenkultur« auch ge-
schehen, den Begriff »Kulturindustrie« gibt es dort nicht – aus den von Adorno
oben genannten Gründen.
Einiges spricht dafür, dass das Wort von Horkheimer stammt. Im Zweiten
Entwurf (Oktober 1942) des Kulturindustrie-Kapitels, ein handschriftlich bear-
beitetes Typoskript (Max Horkheimer Archiv, XI 6.4b, S. 13), wird die Formulie-
rung »So wird die Tendenz des Liberalismus sanktioniert, […]« durchgestrichen
und handschriftlich ersetzt: »So überlebt in der Kulturindustrie die Tendenz des
Liberalismus seinen Tüchtigen freie Bahn zu gewähren«. Der Begriff »Massen-
324 Christine Resch und Heinz Steinert
Die Denkfigur, die Beatles, wie überhaupt Kulturindustrie, seien der »eigenen
objektiven Gestalt nach etwas Zurückgebliebenes«, gibt es schon in den Analysen
des Jazz. Und dass autonome Kunst im Gegensatz zu Kulturindustrie sich durch
einen Fortschritt der Produktivkräfte auszeichnet, ist ein zentrales Argument in
der Dialektik der Aufklärung. Im Denken Adornos ist Kulturindustrie ein a-
historisches Phänomen: Sie bleibt über 50 Jahre unverändert.
Es ist aber ein Begriff, der aktualisiert werden muss: als »erweiterte Kultur-
industrie« werden wir das im letzten Abschnitt tun. An der grundsätzlichen
Bedeutung der zentralen Begriffe – Waren- und Verwaltungsform – und an der
Perspektive – Reflexivität – hat sich nichts geändert. Dass sie in der spezifischen
Verwendung historisiert und erweitert werden müssen, ändert nichts an ihrem
Stellenwert für eine Theorie der Kulturindustrie.
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 325
Warenförmigkeit
Kulturindustrie ist intellektuelle Produktion nach den Imperativen von Warenför-
migkeit. Mit Kulturindustrie sind nicht Produktionsstätten gemeint. Und es ist
auch nicht einfach Kritik daran, dass Kultur auch verkauft wird. Horkheimer und
Adorno unterscheiden genau zwischen Kunst, die auch verkauft wird, das aber in
der Produktion reflektiert (Beethoven verwenden sie als Beispiel) und Künsten, die
von vornherein nach Kriterien der Verkäuflichkeit produziert werden.
An Klischees und Stereotypen, die zugleich als Neuheiten angepriesen werden,
wird am häufigsten vorgeführt, dass sie den Kriterien der Warenförmigkeit entspre-
chen. Aber auch Verstöße gegen Konventionen werden verziehen, weil »sie als
berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen«, wie
Horkheimer und Adorno an Orson Welles zeigen (S. 153). Wagners »Phantasma-
gorie« (Adorno 1937/38, S. 82–91) wird von Adorno als Ware interpretiert. Hier
dominiere der Ausstellungscharakter, das Phänomenale. Feuerzauber schlage um in
den Prototyp zukünftiger Lichtreklame. Aber Adorno geht noch weiter: Wagners
Phantasmagorien tendierten zum Traum, weil Arbeit aus ihnen verbannt sei. Sie
präsentieren sich als sich selbst Produzierendes, als absolute und zeitlose Erschei-
nung. Gesellschaftliche Arbeit wird zum Wunder. Man kann das leicht übersetzen
als Darstellung und Reproduktion von entfremdeter Arbeit, von Arbeitskraft als
Ware.
Viele weitere Beispiele lassen sich finden: Großformatige, abstrakte Kunst ent-
steht zu dem Zeitpunkt, als Schalter- und Empfangshallen dekoriert werden. Die
Protagonisten in Eiskalte Engel (1998, Regie: Roger Kumble), einem weiteren
Remake von Gefährliche Liebschaften (1959, Regie: Roger Vadim; 1989, Regie:
Stephen Fears), sind so jung wie das Kino-Publikum, mit dem man, seit der
Verbreitung des Fernsehens, noch Kassenschlager machen kann. Es ist zwar albern
und unglaubwürdig, Jugendliche in Liebesangelegenheiten zynisch sein lassen zu
wollen, aber die Einschaltquote hat trotzdem gestimmt. Man konnte den Film als
»Porno für Kinder« verstehen. Dass die Bundesliga an drei Tagen der Woche (und
nicht nur an Samstagen) spielen muss, ist eine Errungenschaft des Privatfernsehens,
das die Zuschauer mehrmals an die Werbe-Industrie verkaufen will. Menge und
Inhalte von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bezeugen nicht unbedingt einen
Erkenntnisfortschritt. Sie sind Konkurrenzen, Publikationszwängen aus Karriere-
gründen und einem Kampf um Aufmerksamkeit geschuldet. Gesellschaftsdiag-
nosen (»Risiko«-, »Erlebnis«-, »Informations«-, »Wissensgesellschaft«) sind unter
diesen Bedingungen besonders beliebt. Usw.usf.
Warenförmigkeit, und das ist der Merksatz, ist nichts, was intellektuellen Pro-
dukten von außen angetan wird. Vielmehr verändert sie die Sache, ist das zentrale
Bestimmungsstück der intellektuellen Produktionsmittel.
Verwaltungsförmigkeit
Mit Kapitalismus und Warenförmigkeit als Vergesellschaftungsform korrespon-
diert eine Staats- und Bürokratieform. Bei Max Weber kann man das nachlesen.
326 Christine Resch und Heinz Steinert
Reflexivität
Die Perspektive, die Kritische Theorie auszeichnet, ist Reflexivität. Sozialwissen-
schaft bestimmt sich nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihre Per-
spektive. Soziologie, das ist eine bestimmte Art, die Dinge der Welt und des Lebens
anzusehen – Reflexivität. Um diese Perspektive zu bestimmen, können wir nach
den anderen Arten von Wissen über Gesellschaft fragen, um im Kontrast deutlicher
zu sehen. Wissenschaftlich produziertes Wissen über Gesellschaft steht ja nicht
allein. Es baut vielmehr auf dem auf, was die Teilnehmer an der Gesellschaft schon
wissen, und es entsteht parallel zu (und in Wechselwirkung mit) dem Wissen, das
andere Einrichtungen der Wissensproduktion hervorbringen und verbreiten. So-
ziologie hat es also einerseits mit dem Alltagswissen über Gesellschaft zu tun und
andererseits mit dem spezialisierten operativen Wissen verschiedener Berufsstände,
besonders Verwaltung und Politik sowie – wegen ihrer Bedeutung extra zu nennen
– Kulturindustrie, von Werbung und PR, Journalismus und Propaganda bis Unter-
haltung und Kunst.
Expertenwissen, technisches Wissen ist in unserer Gesellschaft beruflich organi-
siert und zum Teil auch aus dem Bestreben entstanden, umschriebene Berufsbilder
abzugrenzen. Es unterscheidet sich vom Alltagswissen hauptsächlich dadurch, dass
es ziemlich explizit kodifiziert und damit schulisch vermittelbar ist. Mit allen
beruflichen Positionen ist ein bestimmtes Wissen über Gesellschaft verbunden, ein
328 Christine Resch und Heinz Steinert
technisches Wissen über Arbeitsabläufe und über die Arbeitskräfte, die sie durch-
führen, ein technisches Wissen auch über Kunden und wie man ihnen etwas
verkauft, ein technisches Wissen schließlich über Konkurrenten und was man
ihnen gegenüber tun kann und muss. Usw.usf. Schließlich wird Wissen über
Gesellschaft in beruflichen Positionen, die zur Kulturindustrie gehören, bearbeitet
und dargestellt, rein um an die Leute gebracht zu werden, sei es als Propaganda, sei
es als Unterhaltung einfacherer oder raffinierterer Art. Diese Industrie ist für uns
besonders relevant, weil sie unter anderem über eine Hauptabteilung »Wissen-
schaft« verfügt und auch sonst gern wissenschaftliche Sensationen und wissen-
schaftliche Autoritäten vorführt.
Sozialwissenschaftliches Wissen über Gesellschaft steht diesen konkurrierenden
Arten von Wissen nicht einfach gegenüber, es nimmt vielmehr vielfach an ihnen
teil. Auch Sozialwissenschaftler/innen sind zunächst Mitglieder ihrer Gesellschaft
und teilen als solche das in ihr verbreitete Wissen darüber, wie sie funktioniert. Mit
technischem Expertenwissen ist Soziologie identifiziert, sofern sie »angewendet«
werden soll. (Am stärksten institutionalisiert ist hier die Markt- und Meinungsfor-
schung, dazu kommen aber auch Erhebungen, die vor allem für die Planung und
Verwaltung in den verschiedensten Bereichen durchgeführt werden.) Schließlich ist
Soziologie mit dem kulturindustriellen Wissen besonders verbunden, insofern
dieses einen Teil seiner Informationen und – wichtiger – seiner Fragestellungen aus
der Wissenschaft zu übernehmen sucht. Sofern wir (schriftlich oder mündlich)
veröffentlichen, machen wir uns auch selbst zu einem Teil der Kulturindustrie.
Die sozialwissenschaftliche Aufgabe kann unter diesen Bedingungen nur das
Sicherstellen von Reflexivität sein. Das ist zugleich der Kern der Ideologiekritik
von Adorno und Horkheimer. Man kann sich den anderen Wissensformen, insbe-
sondere den kulturindustriellen nicht entziehen, man kann sie nur mit zum Gegen-
stand der Reflexion machen. Es ist Aufgabe von Reflexivität, an das in den
Selbstverständlichkeiten Ausgeblendete zu erinnern. Reflexivität heißt, auch in
Wissensfragen die gesellschaftlichen Konflikte zu benennen, um die es dabei geht,
und ihre strukturellen Ausgangspunkte kenntlich zu machen. Damit kann man
Bornierungen sichtbar werden lassen, sie vielleicht verhandelbar machen. Ohne
Frage ist das am schwierigsten, insofern wir aufgrund der eigenen Position – als
Gebildete, als Kopfarbeiter, als Frauen und Männer, als Angehörige einer Alters-
gruppe – in die Konflikte verstrickt sind.
4. Erweiterte Kulturindustrie
Wenig später wurde mitgeteilt, der Kanzler habe den Begriff »Zivilgesellschaft« ad
acta gelegt. Er blieb der Szene der NGOs und Protestbewegungen zur Selbst-
benennung erhalten. (Zur Klärung des Begriffs und zur Kritik seiner Verwendung
vgl. Demirovic 1997, Kap. 9 und 10.)
Ulrich Becks Vorschlag, von einer »zivilcouragierten Gesellschaft« zu reden,
hatte einen entscheidenden Vorteil. Er war auf vertraute Diskussionen beziehbar:
Die Gewalt nehme zu und auch »Zuschauen ist Gewalt«, Bürger mit Zivilcourage
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 331
sehen nicht nur hin, sondern tun was. So wurde es jedenfalls in Anzeigen-
kampagnen propagiert. Wie bei Blairs Übersetzung des »dritten Wegs« konnte sich
jeder vorstellen, in eine solche Situation zu geraten.
An dieser politischen Strategie ist noch etwas anderes interessant. Hier wird uns
offen mitgeteilt, dass es bei populistischer Politik nicht um Inhalte geht, sondern
um ein »Label«, mit dem man Wahlstimmen gewinnen kann. Wenn ein Begriff
nicht populär gemacht werden kann, entscheidet sich die politische Klasse eben für
einen anderen. Es ist uns längst vertraut, dass die Verhandlungen, welche Partei mit
welchem Thema um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler kämpft, schon Teil
des Wahlkampfes sind. So überrascht es auch niemanden, dass Wahlkampfverspre-
chen nicht eingehalten werden. Das klagt niemand ein (entsprechende Ideen der
CDU 2002 waren gewollt naiv), und alle wissen, dass es darum auch nicht geht.
Die Frage ist nicht mehr, wie eine reale Politik so verpackt wird, dass sie
wahlkampftauglich ist. In der »erweiterten Kulturindustrie« sind instrumentelle
Politik und Wahlkampfpolitik zwei weitgehend getrennte Bereiche. Die eine wird
gemacht, die andere dargestellt – und das wird offen gesagt: Wir werden darüber
auf dem Laufenden gehalten, mit welchen Schlagworten wir weichgeklopft werden
sollen – es gibt kein klareres Beispiel für affirmative Reflexivität. Die Wähler
antworten (angemessen) mit »Politikverdrossenheit«.
Populismuskritik
Gegenwärtig sind Schlagworte wie »Mediendemokratie«, »Infotainment« oder
»Politainment« geläufig. Sie werden als Vorwurf an Journalisten verwendet, sie
seien nicht mehr der Aufklärung verpflichtet. Diese Schlagworte sind auch dann
beliebt, wenn öffentliche Inszenierungen der Politiker, ihre Selbstdarstellungs-
kompetenzen und ihre Fähigkeit, eine »gute Show« zu bieten, beschrieben werden.
In der Kulturindustrie-Theorie ist aber eine viel umfassendere politische Theorie
angelegt. Als Prototyp von Kultur unter kulturindustriellen Bedingungen wird
Werbung bestimmt, die wiederum fließend in Propaganda übergeht.
Wenn man das Kapitel über Kulturindustrie auf die Arbeiten von Horkheimer,
besonders seinen Aufsatz »Egoismus und Freiheitsbewegung« (1936) bezieht, wird
deutlich, was damit gemeint ist. In diesem Aufsatz analysiert Horkheimer politi-
sche Agitation, die sich im Kampf gegen die Herrschenden und mit eigenem
Machtanspruch instrumentell auf die Massen beruft. Er beschreibt – ohne den
Begriff zu verwenden – verschiedene historische Ausprägungen dessen, was wir
heute Populismus nennen: Populismus wird als Politikform bestimmt (vgl. Steinert
1999).
Populismus ist kulturindustrielle Politik.
Populismus stellt – im Gegensatz zu Interessenpolitik – Identifikation mit einem
großartigen Großen & Ganzen her, ist Identitätspolitik. Statt Interessen werden
übergreifende Kategorien bestimmt, die Zugehörigkeit und damit soziale Aus-
schließung definieren.
Populismus hebt statt politischen Programmen einzelne großartige Persönlich-
keiten hervor, die das Gemeinwohl/das Große & Ganze/den Staat repräsentieren
und mit denen man sich identifizieren soll.
332 Christine Resch und Heinz Steinert
Populismus konstituiert ein passives politisches Subjekt, das nur als Inhaber
einer Wahlstimme interessant ist, als Teilchen »des Volkes«, mit dem man der
herrschenden Fraktion droht. Das Individuum wird klein und nichtig gemacht, in
seiner nationalen Identifikation und Zugehörigkeit ist es aber Teil des Großen &
Ganzen, das als selbstbewusst gewordene Nation den Weltenlauf mitbestimmt.
Erweiterte Kulturindustrie, so lässt sich das Gesagte zusammenfassen und auf
die allgemeinste Formel zuspitzen, ist eine Theorie über strukturellen Populismus
in der Produktion von Wissen, vor allem von politischem Wissen. Der Begriff lässt
sich aber verallgemeinern: Zum Beispiel kann man mit Gewinn von »Markt-
populismus« und »Kulturpopulismus« sprechen (vgl. Frank 2000; McGuigan
1992).
Erst die Reflexion, dass die gebildete Klasse unterstellt, »Bildung« als Merkmal
spalte Gesellschaft mit Fug und Recht, macht aus Kritik Ideologiekritik, die nach
wie vor notwendig ist, wenn sie mit einer Gesellschaftstheorie verbunden wird.
Ideologiekritik
Das Kernstück der Kritischen Theorie ist Ideologiekritik. Dass Kritische Theorie
so leicht als veraltet definiert werden kann, hat auch damit zu tun, dass mit der
Postmoderne Ideologiekritik als unzulänglich verabschiedet wurde. Eine »Krise«
der Ideologiekritik wird auch damit begründet, dass mit jedem Satz (und Produkt)
der Hinweis, wofür und für wen das gut ist, gleich mitgeliefert wird. Da will uns
niemand etwas vormachen, da gibt es nichts mehr aufzudecken. Die Erfahrung, mit
der diese Haltung begründet wird, ist freilich nicht neu und wurde schon von
Horkheimer und Adorno reflektiert. Dass Ideologiekritik damit schon obsolet sei,
ist ein Kurzschluss. Im Gegenteil: Ideologiekritik ist immer noch notwendig,
immer noch die adäquate Form, sie ist nur komplizierter geworden (vgl. Adorno
1949).
Die voreilige Verabschiedung von Ideologiekritik hat damit zu tun, dass die
Dialektik der Aufklärung häufig als Theorie über das Ende von Dialektik gelesen
und eindimensional als Verschwörungstheorie interpretiert wird. Gegen dieses
Verständnis benennt und diskutiert Ritsert (2002) vier »ideologietheoretische Zent-
raltheoreme« des Kulturindustrie-Kapitels. Kulturindustrie ist nicht einfach eine
gigantische Manipulationsmaschine. Dieser unterstellten Beschreibung zuzustim-
men oder sie als nicht angemessen abzulehnen, geht an der Sache vorbei. Ritsert
analysiert gegen derart simplifizierende Deutungen die vielfältigen Widersprüche
und komplizierten Vermittlungen (von Gegensätzen in sich), die von Adorno und
Horkheimer mit diesen Theoremen reflektiert werden. Dabei zeigt er: Befreiungs-
theoretisches Nachdenken über Gesellschaft ist notwendig ideologiekritisches
Denken.
Unideologisch ist nur der Gedanke, »der sich nicht auf operational terms
bringen lässt, sondern versucht, rein der Sache selbst zu jener Sprache zu verhelfen,
welche ihr die herrschende sonst abschneidet« (Adorno 1949, S. 24). Diese Denk-
figur ist vertraut: Kunst ist dann ein Statthalter für Befreiung, wenn sie sich die
Probleme von der Sache vorgeben lässt und nicht auf Verkäuflichkeit schielt.
Adorno argumentiert analog, wenn er auf gesellschaftliche Wissensproduktion
reflektiert. Ideologiekritik ist damit nicht einfach eine Analyse der impliziten (und
zunehmend ohnehin explizit gemachten) Interessen. Vielmehr setzt ideologie-
kritisches Denken Herrschaftsanalyse voraus. Unter Bedingungen einer erweiter-
ten Kulturindustrie, die der gebildeten Klasse die Produktionsmittel vorgibt, die sie
als Apparat nutzt, um ihre gesellschaftlichen Hegemonie-Ansprüche durchzu-
setzen, kann von Ideologiekritik nur dann die Rede sein, wenn die gebildete Klasse
selbstreflexiv ihre gesellschaftliche Position in jede Kritik eines Gegenstands ein-
bezieht. Dass genau das nicht geschieht, haben wir am Beispiel der »Bell-Curve-
Debatte« veranschaulicht. Ideologiekritik ist nicht obsolet, sie wird nur zu wenig
praktiziert.
334 Christine Resch und Heinz Steinert
schiebt sich zwischen die Herrschenden und die Beherrschten. In der heutigen
Situation sind es diese Gebildeten, die mit ihren Theorien (zur Zeit ein forcierter
Ökonomismus und Marktpopulismus) um Anerkennung ringen und werben und
sie auch hinreichend bekommen. Sie haben sich durchgesetzt. Die Erfahrung mit
der Welt wurde von der Wirksamkeit der Gebildeten, von deren Organisations-
talent auf die Erfahrung mit Gebrauchsanweisungen reduziert, besonders kompli-
zierte Gebrauchsanweisungen etwa im Fall des Computers, aber zuletzt nicht mehr
als das.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1922ff.): Ad vocem Hindemith, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 17,
Frankfurt a. M., S. 210–246
– (1932): Zur gesellschaftlichen Lage der Musik, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 18, Frankfurt
a. M., S. 729–777
– (1933): Abschied vom Jazz, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 18, Frankfurt a. M., S. 795–799
– (1933a): Notiz über Wagner, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 18, Frankfurt a. M., S. 204–209
– (1937): Über Jazz, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 17, Frankfurt a. M., S. 74–108
– (1939/1952): Fragmente über Wagner/Versuch über Wagner, in: ders.: Ges. Schriften, Bd.
13, Frankfurt a. M., S. 7–148
– (1949): Kulturkritik und Gesellschaft, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt a. M.,
S. 11–30
– (1959): Theorie der Halbbildung, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M., S. 93–
121
– (1960): Kultur und Verwaltung, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M., S. 122–146
– (1963): Résumé über Kulturindustrie, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt a. M.,
S. 337–345
–/Haselberg, Peter von (1965): Über die geschichtliche Angemessenheit des Bewußtseins, in:
Akzente. Zeitschrift für Dichtung, H. 6/65, S. 487–497
– (1970): Ästhetische Theorie, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M.
– (1973): Philosophische Terminologie, Bd. 1 und 2, Frankfurt a. M.
Anders, Günther (1956): Die Antiquiertheit des Menschen, München
Beck, Ulrich/Anthony Giddens/Scott Lash (1994): Reflexive Modernization: Politics, Tradi-
tion and Aesthetics in the Modern Social Order, Cambridge
Behrens, Roger (2000): Popkulturkritik und Gesellschaft. Probleme nach der Kulturindustrie,
in: Zeitschrift für kritische Theorie 10/2000, S. 51
Benjamin, Walter (1936): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 1.2, Frankfurt a. M., S. 431–508
Bourdieu, Pierre (1979 [1982]): La distinction: Critique sociale du jugement. Paris 1979; dt.
Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft, Frankfurt a. M. 1982
– (1996): Sur la télévision, Bd. 1 der Reihe »Liber – Raison d’agir« 1996; dt. Über das
Fernsehen, Frankfurt a. M. 1998
Bubner, Rüdiger (1989): Ästhetische Erfahrung, Frankfurt a. M.
Castells, Manuel (1996/97/98): The Rise of the Network Society/The Power of Identity/End
of Millennium: The Information Age vol I-III, Oxford
Claussen, Detlev (1990): Fortzusetzen. Die Aktualität der Kulturindustriekritik Adornos, in:
Hager, Frithjof/Pfütze, Hermann (Hg.) (1990): Das unerhört Moderne: Berliner Adorno-
Tagung, Lüneburg: zu Klampen, S. 134–150
Demirovic, Alex (1999): Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kriti-
schen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M.
– (1997) Demokratie und Herrschaft. Aspekte kritischer Gesellschaftstheorie, Münster
– (2002): Rekrutierung von Intellektuellen im Fordismus. Vergleichende Anmerkungen zu
Horkheimers und Adornos Analyse der Kulturindustrie und Gramscis Analyse der Zivil-
gesellschaft, in: Brüchert, Oliver/Resch, Christine (Hg.) (2002): Zwischen Herrschaft und
Befreiung. Politische, kulturelle und wissenschaftliche Strategien. Festschrift zum 60. Ge-
burtstag von Heinz Steinert, Münster, S. 55–69
Erd, Rainer (1989): Kulturgesellschaft oder Kulturindustrie? Anmerkungen zu einer falsch
formulierten Alternative, in: Erd, Rainer u. a. (Hg.) (1989): Kritische Theorie und Kultur,
Frankfurt a. M., S. 216–235
Fahle, Oliver (2000): Der Zwang zur Ähnlichkeit. Adorno und die französische Medien-
theorie, in: Zeitschrift für kritische Theorie 11/2000, S. 103–126
338 Christine Resch und Heinz Steinert
Frank, Thomas (2000): One Market under God. Extreme Capitalism, Market Populism, and
the End of Economic Democracy, New York
Göttlich, Udo (1996): Kritik der Medien. Reflexionsstufen kritisch-materialistischer Medient-
heorien, Opladen
Gouldner, Alvin W. (1979): The Future of Intellectuals and the Rise of the New Class. New
York
Habermas, Jürgen (1983): Die Verschlingung von Mythos und Aufklärung. Bemerkungen zur
Dialektik der Aufklärung – nach einer erneuten Lektüre, in: Bohrer, Karl Heinz (Hg.)
(1983): Mythos und Moderne, Frankfurt a. M., S. 405–431
– (1990) Vorwort zur Neuauflage von Strukturwandel und Öffentlichkeit, in: ders. (1990):
Strukturwandel und Öffentlichkeit, Frankfurt a. M., S. 11–50
– (2000): Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und Interesse, in: Müller-
Doohm, Stefan (Hg.) (2000): Das Interesse der Vernunft. Rückblicke auf das Werk von
Jürgen Habermas seit »Erkenntnis und Interesse«, Frankfurt a. M., S. 12–20
Hall, Stuart (1988): The Hard Road to Renewal. Thatcherism and the Crisis of the Left,
London/New York
Hochschild, Arlie Russel (1990): Das gekaufte Herz. Zur Kommerzialisierung der Gefühle,
Frankfurt a. M.
– (1995): Der kommerzielle Geist des Intimlebens und die Ausbeutung des Feminismus, in:
Das Argument 211, 37. Jg., H. 5, September/Oktober, S. 667–680
Hoggart, Richard (1957): The Uses of Literacy: Aspects of Working-Class Life with Special
Reference to Publications and Entertainments, London
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1942): Das Schema der Massenkultur, Zweiter
Entwurf (Oktober 1942), Typoskript: Max Horkheimer Archiv der Stadt- und Universi-
tätsbibliothek Frankfurt am Main (XI 6.4b, S. 13)
–/– (1947 [1944]): Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Amsterdam; zit.
nach Horkheimer, Max, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max (1936): Egoismus und Freiheitsbewegung: Zur Anthropologie des bürger-
lichen Zeitalters, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M., S. 9–88
Institut für Sozialforschung (Hg.) (1956): Soziologische Exkurse, Frankfurt a. M.
Jacoby, Russell/Glaubermann, Naomi (1995) (Hg.): The Bell Curve Debate. History, Docu-
ments, Opinions, New York
Kausch, Michael (1988): Kulturindustrie und Populärkultur. Kritische Theorie der Massen-
medien, Frankfurt a. M., S. 238
Kracauer, Siegfried (1937): Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit, in: ders.: Ges.
Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M.
Lash, Scott/Urry, John (1994) Economies of Signs & Space. London
Laster, Kathy/Steinert, Heinz (2002): New York, 11. Sept. 2001: Unsägliches und Unsagbares,
in: Wespennest. zeitschrift für brauchbare texte und bilder, Nr. 126, S. 112–118
–/– (2002a): Herr und Knecht in der (Un)Wissensgesellschaft, in: Wespennest. zeitschrift für
brauchbare texte und bilder, Nr. 129, S. 90–94
Löwenthal, Leo (1980): Literatur und Massenkultur, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 1, Frankfurt
a. M.
Marcuse, Herbert (1957): Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philosophischer Beitrag zu
Sigmund Freud, in: ders.: Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M.
– (1965): Repressive Toleranz, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M., S. 136–166
– (1967): Der eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen In-
dustriegesellschaft, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M.
– (1977): Die Permanenz der Kunst, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 9, Frankfurt a. M., S. 191–
241
McGuigan, Jim (1992): Cultural Populism, London
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 339
Resch, Christine (1999): Die Schönen Guten Waren. Die Kunstwelt und ihre Selbstdarsteller,
Münster
– (2000): Auratische Reproduktion – reproduzierte Aura. Über die Unersetzlichkeit des
Museums-Shops für die Kunst, in: Wespennest. zeitschrift für brauchbare texte und bilder,
Nr. 121, S. 54–61
– (2002): »›Dem deutschen Volk‹ Staat zeigen«: Das Bundeskanzleramt und die Instru-
mentalisierung der Nazi-Zeit, in: Brüchert, Oliver/Resch, Christine (Hg.) (2002): Zwischen
Herrschaft und Befreiung. Politische, kulturelle und wissenschaftliche Strategien. Fest-
schrift zum 60. Geburtstag von Heinz Steinert, Münster, S. 285–297
Resch, Christine/Steinert, Heinz (2003): Der Potsdamer Platz aus der Perspektive der Kriti-
schen Theorie. Die Widersprüche von Herrschaftsdarstellung – Bescheidenes Großtun als
Kompromiss, in: Ästhetik und Kommunikation, H. 116, 2002, S. 103–107
Ritsert, Jürgen (2002): Ideologie, Münster
Schurz, Robert (1995): Negative Hermeneutik. Zur sozialen Anthropologie des Nicht-
Verstehens, Opladen
Soeffner, Hans-Georg (1989): Auslegung des Alltags – Der Alltag der Auslegung. Zur
wissenssoziologischen Konzeption einer sozialwissenschaftlichen Hermeneutik, Frankfurt
a. M.
Steinert, Heinz (1989): Adorno in Wien. Über die (Un-)Möglichkeit von Kunst, Kultur und
Befreiung, Wien; überarbeitete Neuausg. Münster 2003
– (1992): Die Entdeckung der Kulturindustrie oder: Warum Professor Adorno Jazz-Musik
nicht ausstehen konnte, Wien; überarbeitete Neuausg. Münster 2003
– (1997): Warum Professor Adorno in späteren Jahren vom Surrealismus nichts mehr hielt,
in: Hoß, Dietrich/Steinert, Heinz (Hg.) (1997): Vernunft und Subversion. Die Erbschaft
von Surrealismus und Kritischer Theorie, Münster, S. 116–134
– (1998) Kulturindustrie, Münster; überarbeitete engl. Ausg.: Culture Industry, Cambridge
2003
– (1998a): Über die organisierte Verhinderung von Wissen über Gesellschaft, in: Görg,
Christoph/Roth, Roland (Hg.) (1998): Kein Staat zu machen. Zur Kritik der Sozialwissen-
schaften, Münster, S. 291–312
– (1999): Kulturindustrielle Politik mit dem Großen & Ganzen: Populismus, Politik-Dar-
steller, ihr Publikum und seine Mobilisierung, in: Internationale Politik und Gesellschaft,
4/1999, S. 401–413
– (2000): Kulturindustrie in der Architektur: E-U-Kultur und die Autonomie des Publikums,
in: Zeitschrift für kritische Theorie, 10/2000, S. 73–87
– (2002): Musik und Lebensweise. Warum und wie sich Jazz-Musik eignet, eine soziale
Position zu markieren, in: Knauer, Wolfgang (Hg.): Jazz und Gesellschaft. Sozialge-
schichtliche Aspekte des Jazz. Darmstädter Beiträge zur Jazzforschung, Bd. 7, Hofheim,
S. 105–122
Thompson, Edward P. (1963): The Making of the English Working Class, London; dt. Die
Entstehung der englischen Arbeiterklasse, Frankfurt a. M. 1987
Venus, Jochen (2001): Konjunktur und konjunkturelle Einbrüche postmoderner Medientheo-
rien, in: Pfeiffer, K. Ludwig/Kray, Ralph/Städtke, Klaus (Hg.) (2001): Theorie als kulturel-
les Ereignis, Berlin, S. 205–223
Williams Raymond (1958): Culture and Society 1780–1950, London/New York; dt. Gesell-
schaftstheorie als Begriffsgeschichte. Studien zur historischen Semantik von »Kultur«,
München 1972
Winter, Rainer (2001): Die Kunst des Eigensinns. Cultural Studies als Kritik der Macht,
Weilerswistf
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur
Gerhard Schweppenhäuser
Die Kritische Theorie war die begriffliche Konstruktion struktureller und his-
torischer Wesensmerkmale der hoch- und spätkapitalistischen Gesellschaft und
ihrer Antagonismen. Diese Konstruktion war materialistisch und normativ; sie
geschah in Begriffen, die beschreiben, was ist, und antizipieren, was sein soll und
sein könnte. Von Anfang an hatten dabei Kunst und Theorien des Ästhetischen
einen hohen Stellenwert im Forschungsprogramm. Im ersten Heft der Zeitschrift
für Sozialforschung erschienen 1932 programmatische Aufsätze »Zur gesellschaft-
lichen Lage der Literatur« und »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«. Ihre
Autoren Leo Löwenthal und Theodor W. Adorno nahmen keine kunstsoziologi-
schen Reduktionen ästhetischer Gehalte auf die gesellschaftliche Positionierung
ihrer Urheber vor, was die Titel und der damalige Stand der Kunstsoziologie
vielleicht vermuten lassen könnten. Sie gaben mustergültige Darstellungen, wie sich
in ästhetischen Gebilden – die zwar nie autark sind, aber als Kunstwerke sehr wohl
autonom sein können – gesellschaftliche Erfahrungen niederschlagen.
Löwenthal bezeichnete es als die Aufgabe einer soziologisch, historisch, ökono-
misch und sozialpsychologisch inspirierten Literaturwissenschaft, »zu untersu-
chen, was von bestimmten gesellschaftlichen Strukturen in der einzelnen Dichtung
zum Ausdruck kommt und welche Funktion die einzelne Dichtung in der Gesell-
schaft ausübt« (Löwenthal 1932, S. 317). »Fragen der Form, des Motivs wie des
Stoffs haben in gleicher Weise sich der materialistischen Betrachtungsweise zu
eröffnen« (Löwenthal 1932, S. 320). Ähnliche formale Mittel wie offene Dialoge
oder die auktoriale Beschränkung auf Kommentare wurden auf die unterschiedli-
chen Bedeutungen hin transparent gemacht, die sie in verschiedenen sozialen und
historischen Stadien haben. Löwenthal verglich z. B. den jungdeutschen Gutzkow
mit dem Impressionismus des späten Fontane und Schnitzlers. Er zeigte, dass »das
moderne Gespräch der bürgerlichen Gesellschaft« bei jenem die post-traditionale
Vorstellung informierter, autonomer Subjekte in einem liberalen, ergebnisoffenen
Kontext zum Ausdruck bringt und damit die Zuversicht über die Möglichkeiten
des Individuums. Das demonstrative Zurücktreten der späteren Autoren in ihren
Texten sei dagegen von einer Verunsicherung getragen. Diese Verunsicherung habe
einerseits das Unvermögen bewirkt, noch einmal verbindliche Theorien zu kon-
zipieren, die der eigenen literarischen Produktion zu Grunde gelegt werden;
anderseits belege sie eine selbstkritische Sensibilität der liberalen Bürger, die spür-
ten, dass ihrer Epoche die Stunde geschlagen hat (Löwenthal 1932, S. 321 f.).
Löwenthals Methode war widerspiegelungstheoretisch, aber ihr fehlte die miss-
liche Ausblendung ästhetischer Eigenlogiken, die diese Methode in der kom-
munistischen Orthodoxie rasch zum schematischen Instrument der Gesinnungs-
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 341
prüfung und -überwachung machte. Die Deutung des ästhetischen Sinns eines
literarischen Kunstwerks und die Entzifferung seiner gesellschaftlichen Bedeutung
sind nach Löwenthal nicht von einander zu trennen.
deren vergessene oder verzerrte Wahrheit ›bewahren‹, indem sie ihnen ihre eigene ›schöne‹
Form, Harmonie, Dissonanz, Rhythmik usw. verleihen.« (Marcuse 2000, S. 90; vgl. dazu
Koppe 1992)
Die Ästhetik der Kritischen Theorie ist von den ersten Aufsätzen aus der Zeit-
schrift für Sozialforschung bis hin zu den letzten Arbeiten von Adorno und
Marcuse immer eine geschichtsphilosophische Ästhetik gewesen. Ihre Grund-
annahme lautet, dass der Emanzipationsprozess der Kunstwerke in der Moderne
mit dem sozialen Emanzipationsprozess des Subjekts korrespondiert. Beide Eman-
zipationsprozesse, so die These, sind vom gleichen inneren Widerspruch durch-
zogen, dem des Fortschritts in der bürgerlichen Gesellschaft. Und die Autonomi-
sierung der Kunstwerke verhält sich zu dem des Subjekts in vieler Hinsicht
antizipatorisch – auch im Hinblick auf ihr Scheitern.
Ästhetische Emanzipation ist für die Kritische Theorie also nicht Widerspie-
gelung der gesellschaftlichen, sondern ihr Modell. In dieser Optik verhalten sich
Kunst und Massenkultur zueinander wie eine radikale utopische Vision und eine
schale Ersatzbefriedigung. Schematisch ausgedrückt: Wahrheit und Ideologie spie-
len sowohl in der autonomen Kunst der bürgerlichen Gesellschaft in einander als
auch in der Massenkultur, die nach Adorno und Horkheimer für deren Spätform
kennzeichnend ist.
Adorno hat das 1938 in seinem Aufsatz Ȇber den Fetischcharakter in der
Musik und die Regression des Hörens« für die Zeitschrift für Sozialforschung
eingehend untersucht; in diesem Text ist das Paradigma seiner Kritik der Kultur-
industrie entfaltet. Kunst, so die These, bewahrt ein Glücksversprechen – auch als
nicht mehr schöne, sondern radikal moderne. Im Schein des Ästhetischen erscheint
»das Bild eines gesellschaftlichen Zustands«, in dem die »partikularen Momente
von Glück« – nämlich die Momente unreglementierter Erfahrung von sinnlichem
musikalischen Reiz und authentischem subjektiven Ausdruck – »mehr wären als
gerade Schein« (Adorno 1938, S. 324). Die neue Musik, behauptete Adorno, breche
asketisch mit dem Glücksversprechen des Scheins; nicht, um ihren Hörer Glück
vorzuenthalten, sondern weil sie vom Bewusstsein der Unwahrheit des ästhe-
tischen Scheins durchdrungen sei. Schon in den Ritualen des bürgerlichen Musik-
lebens im 19. Jahrhundert und dann vollends in der industriell produzierten und
distribuierten Massenkultur des frühen 20. Jahrhunderts habe der ästhetische
Schein den Subjekten bloß vorgegaukelt, ihre Sinne zu stimulieren und ihnen
unverkürzte Ausdrucksgestalten bereit zu stellen. Wo der Genuss, der durch den
Gebrauch und die Erfahrung der Sinne vermittelt ist, durch seine Funktionalisie-
rung für die Reklame missbraucht wird, und zwar sowohl im Kunstbereich wie in
der Sphäre der Massenkultur, werde authentische Kunst spröde und entziehe sich
ihrer Funktionalisierung, aber damit auch ihrer Zugänglichkeit.
Bereich der Produktion und Zirkulation von Waren sowie der Rahmenbedingun-
gen sozialer Herrschaft und Naturbeherrschung. Seit die kapitalistische Markt-
gesellschaft in der Ford-Ära in autoritär-monopolistische Staaten übergehe, werde
aber die avancierte industrielle Produktionsweise zum Muster kultureller Repro-
duktion. Die Zerlegung der Produktion in Segmente und ihre Stereotypisierung
bewirke auch die der Wahrnehmung. »Der Montagecharakter der Kulturindustrie,
die synthetische, dirigierte Herstellungsweise ihrer Produkte« (Horkheimer/
Adorno 1947, S. 191) diene der vollständigen gesellschaftlichen Integration durch
Mediatisierung aller Lebens- und Erfahrungbereiche. Die Folge sei die »falsche
Identität von Allgemeinem und Besonderem« (Horkheimer/Adorno 1947, S. 145).
Die Kultur-Produkte würden ununterscheidbar von einander, weil sie nicht mehr,
wie Kunstwerke, einer je besonderen eigenen Logik gehorchen. Arbeit und Freizeit
würden sich immer ähnlicher. Als universeller medialer Amüsierbetrieb werde
Kulturindustrie zum Gegenteil von Amusement, nämlich zur Verlängerung der
Arbeit in die Freizeit. Funktion der Kulturindustrie sei die Verdoppelung der
bestehenden Welt.
Die Identifikation mit sozialer und ökonomischer Herrschaft sei der Kern des
Konformismus der Massenkultur-Rezipienten, hatte Adorno in seinem Essay von
1938 behauptet. Alle Lust in ihr sei ausschließlich masochistisch. Ihre Objekte
seien durchweg verdinglichte Kulturgüter. Im musikalischen Bereich seien sie von
außen gekennzeichnet durch Bekanntheit und ökonomischen Erfolg, von innen
durch leicht memorierbare Momente wie markante Melodien oder eingängige
Texte, durch einfache Strukturen wie Steigerung und Wiederholung oder Syn-
kopierungen, sowie durch isolierte Sinnesreize, die partikular bleiben und in
keinem kompositorisch-sinnhaften Verhältnis zum Ganzen des musikalischen Ge-
bildes mehr stehen: schöne Stimmen oder der vermeintlich exklusive Sound selte-
ner Instrumente und üppiger Klangkörper.
Vor der Emigration hatte sich Horkheimers Institut dafür eingesetzt, die Erhe-
bungsmethoden empirischer Sozialforschung in Deutschland einzuführen, um
seine Schlüsselfrage beantworten zu können, warum eine objektiv dringend um-
wälzungsbedürftige Gesellschaft sich der praktischen Umwälzung hartnäckig ent-
ziehen kann; warum die Menschen es vorzuziehen schienen, sich dem autoritären
Staat zu fügen, anstatt für politische und soziale Freiheit zu kämpfen. Auch
während der Arbeit in den USA waren empirische Erhebungen ein integraler
Bestandteil der Institutsarbeit. Die empirischen Methoden der Kultursoziologie, in
deren Zentrum die Ermittlung von Wirkungen, Hör-, Seh- und Lesegewohnheiten
der Rezipienten stehen, schienen Adorno aber nicht zureichend, um eine struk-
turelle Erkenntnis der Massenkultur zu gewinnen. Er entschied sich dafür, die
Phänomene, mit denen er bei der Mitarbeit beim Princeton Radio Research Project
zu tun hatte (siehe Wiggershaus 1988, S. 266–276 u. Müller-Doohm 2000), nicht
neutral zu beschreiben und später auszuwerten; er versuchte, die Reaktionen der
Rezipienten aus den gesellschaftlichen Antagonismen und ihren ästhetischen Kor-
relaten selbst zu deduzieren. Kritische Theorie der Kultur und Ästhetik war für ihn
eine philosophische Theorie, und das bedeutete in diesem Fall, dass Konsumtions-
weisen aus Produktionsverhältnissen abzuleiten seien, die selbst wiederum aber
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 345
nicht als letzte Gegebenheiten aufgefasst, sondern auf den dialektischen Begriff des
gesellschaftlichen Ganzen zurückgeführt werden (Adorno 1938, S. 339). Diese
methodische Perspektive nahm ihren Ausgang von der These, dass die Rezipienten
der zeitgenössischen Massenkultur, also der Großteil der Menschen in den moder-
nen industrialisierten Gesellschaften des Westens, weitgehend sich selbst, d. h. ihren
eigenen Produkten und Erfahrungsweisen, entfremdet und von der Möglichkeit
zur freien Selbstbestimmung abgeschnitten seien. Zur teils erzwungenen, teils
freiwillig konformierenden »Preisgabe der Individualität« gehöre, gleichsam als
Prämie fürs Mitmachen, die »affektive Besetzung des Tauschwerts« (Adorno 1938,
S. 332).
Adornos Analysen waren also streng kategorial konstruiert, aber kaum oder gar
nicht empirisch überprüft. Der Preis dafür war ihr Pathos der Distanz zum
Untersuchungsfeld, den Radiohörern. Wer gerne hörte, wie Ella Fitzgerald »A
Tisket, A Tasket« singt, bekam von Adorno bescheinigt, dass er ein sadomasochi-
stischer Sozialcharakter sei, der gehorsam »die masochistische Verhöhnung des
eigenen Wunsches nach dem verlorenen Kinderglück« und »die Kompromittierung
des Glücksverlangens« zum eigenen Anliegen mache (Adorno 1938, S. 341). Hörer
klassischer Musik kamen nicht besser davon. »Daß z. B. viele Leute eine ihnen
vertraute Melodie in entstellter Form pfeifen, war für Adorno das gleiche, wie
wenn Kinder einen Hund am Schwanz ziehen. Die mindestens ebenso nahelie-
gende Möglichkeit, daß es sich dabei um ein Variieren des Bekannten, eine re-
spektlose Nutzung des Vertrauten für eigene Abwandlungen handeln könnte, hielt
er gar nicht für der Erwähnung wert« (Wiggershaus 1988, S. 275 f.). Das unter-
scheidet seine Sicht wesentlich von der (später zu betrachtenden) der Cultural
Studies, die sich besonders für abweichende und heterodoxe Aneignungen kultu-
rellen Materials durch dessen Benutzer interessieren. Adorno meinte, in der Mas-
senkultur würde als vertraut und nah erfahren, was der individuellen Erfahrung
eigentlich fremd ist, nämlich die Standardproduktionen des Mainstream, während
Avantgarde-Kunst, die »für die Stummen zu reden versucht« (Adorno 1938,
S. 330), diesen zutiefst fremd sei und abgelehnt werde. So zutreffend diese Beob-
achtung auch sein kann – dass avantgarde-ferne Menschen grundsätzlich nur die
falsche Wahl hätten, entweder stumm zu bleiben oder in faschistisches Gebrüll
auszubrechen, war eine Unterstellung, die Adorno für ästhetisch und sozial pro-
duktive Seiten der Massenkultur taub machte.
scheidung zwischen hoher und niederer Kunst hinter sich lässt. Dabei entwarf er
die Grundzüge einer Utopie der Massenkunst. Seine Ausgangspunkte waren ästhe-
tische Überlegungen zweier sehr verschiedener Autoren: die modernistische Ästhe-
tik von Paul Valéry, die Kunstautonomie lehrt, und die politische, realistische
Poetik und Medientheorie von Bertolt Brecht.
Von Valéry stammte das Moment der intrinsischen ästhetischen Reflexion auf
die substantiellen Veränderungen, denen das Kunstwerk im 20. Jahrhundert ausge-
setzt ist. Valéry hatte als erster darauf aufmerksam gemacht, wie Wissenschaft und
soziale Praxis in der Moderne die Kunst betreffen und ihre Physiognomie und
Struktur verändern. Technische Innovationen würden die Künste und den theo-
retischen Begriff der Kunst verändern (Benjamin 1936, S. 472). Er hatte erkannt,
dass die Technologie der Moderne zur Reproduktion tendiert, sowohl im Bereich
sinnlicher Wahrnehmung überhaupt als auch in dem der Kunst; und er hatte die
moderne Unterhaltungstechnologie antizipiert, die Bilder und Töne in die Woh-
nungen liefern würde wie Wasser, Strom und Gas (Benjamin 1936, S. 475).
Von Brecht übernahm Benjamin den Anspruch, einen neuen ästhetischen Ansatz
zu entwickeln, der für faschistische Zwecke, konkret: für dessen »Ästhetisierung
der Politik« »vollkommen unbrauchbar« sei (Benjamin 1936, S. 506 bzw. 473; z. T.
kursiv). Damals war abzusehen, dass die Haltung zu technischen Innovationen, die
italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus einnahmen, äußerlich
ambivalent, aber eindeutig zweckorientiert war. Radikale Modernisierung war die
Kehrseite der Wiederbelebungsversuche abgestorbener Traditionen und artifizieller
Stiftung von kulturellen Pseudo-Archaismen. In Italien hatte die futuristisch in-
spirierte faschistische Ästhetik durchaus an der Avantgarde des 20. Jahrhunderts
teil; sie hatte zwar den radikalen Modernismus ausgebeutet, jedoch nicht ohne eine
innere, sachliche Affinität zu ihm. In Deutschland wurden hingegen synthetische
Kunstrichtungen wie der »heroische Realismus« ersonnen und politische Ereig-
nisse mit neuester Technologie massenwirksam als ästhetische Ereignisse inszeniert.
Die autoritäre Massengesellschaft wurde mit Hilfe neuester massenmedialer Errun-
genschaften geformt.
Solche Inszenierung von Politik erkannte Benjamin als Ersatzbefriedigung des
neuen Bedürfnisses nach politischer und kultureller Selbstbestimmung der ar-
beitenden Menschen. Statt zu ihrem »Recht«, nämlich der Revolutionierung der
Eigentumsverhältnisse, würden die Nationalsozialisten den Massen nur zum »Aus-
druck« verhelfen, der freilich nicht ihr authentischer eigener sei (Benjamin 1936,
S. 506). Gemeinsam mit Brecht hatte Benjamin Überlegungen angestellt, wie das
Radio für fortschrittliche soziale Umwälzungen nutzbar zu machen sei. Davon
ausgehend entwickelte er nun eine materialistische Theorie der modernen Medien,
ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen.
Benjamins neue, ›von rechts‹ unbrauchbare Kategorien waren die Kriterien
»Kultwert« und »Ausstellungswert«, mit denen er archaische, religionsorientierte,
feudale und bürgerliche Kunstpraxen von einander unterschied. Während die
Kunst in ihren Anfängen Teil des magischen und religiösen Rituals gewesen sei,
werde in der bürgerlichen Gesellschaft das Kunstwerk gemäß seiner Einzigartigkeit
bewertet. Der Kultwert, der seine Legitimität aus der vermeintlichen Teilhabe am
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 347
Für die Rezeption autonomer Kunstwerke war das Erlebnis ihrer Einzigartigkeit
entscheidend, also ihrer individuellen Besonderung und raum-zeitlichen Einmalig-
keit, was Benjamin mit der Metapher des Auratischen beschrieb. Charakteristisch
für die Rezeption von Kunstwerken auf der Höhe der Zeit sei nun, dass die Aura
zerfalle. Filme und die Glasarchitektur der Bauhaus-Moderne »haben keine Aura«
(Benjamin 1936, S. 217). Kunst im (reproduktions-) technologischen Zeitalter ist
für Benjamin Massenkunst. Massenhaft hergestellte Werke sind auf die Massen als
Publikum angewiesen. Die Massenkultur, Folge der »zunehmenden Bedeutung der
Massen im heutigen Leben«, meinte Benjamin, sei durch ein »leidenschaftliches
Anliegen der gegenwärtigen Massen« bestimmt: das Bedürfnis, die »Dinge sich
räumlich und menschlich ›näherzubringen‹« (Benjamin 1936, S. 479).
348 Gerhard Schweppenhäuser
»Film war eine Ware, serienmäßig hergestellt zur Erzielung maximaler Gewinne.« »Schon vor
dem [Ersten] Weltkrieg wurde die Filmproduktion ökonomisch konzentriert und technisch
rationalisiert.« »Wo man eine Erfolgsformel zu haben glaubte, wurden die Produkte standar-
disiert, um den Aufwand möglichst niedrig zu halten und Studios und Kopierfabriken
wirklich industriell zu nutzen.« (Maase 1997, S. 111 f.)
stellvertetend einen außer ihm selbst liegenden Gehalt. Ein gelungenes Kunstwerk
sei aber die einzig angemessene Formgestalt eines bestimmten Gehalts, seine
Elemente bezögen ihre Legitimität aus der stimmigen Beziehung auf den Geist, der
seine Form im Ganzen durchdringe.
Die Bestimmung des Kunstwerks als organische Totalität war für die Kunst der
Klassik und bis weit in die Moderne hinein verbindlich. Der Künstler schafft eine
eigene Natur. Er »schneidet die Begebenheiten gleichsam aus ihrem Zusammen-
hang heraus« und stellt sie in neue Konstellationen, die der Idee verpflichtet sind,
die das Werk durchherrscht: »die allmälige Verwandlung der äußern Zweck-
mäßigkeit in die innere, oder kürzer, das in sich selbst Vollendete, scheinet daher
der eigentlich leitende Zweck des Künstlers bei seinem Kunstwerk zu seyn.«
Christa Bürger hat das treffend als »die Vernichtung der Wirklichkeit durch die
künstlerische Bearbeitung« genannt. Entsprechend galt nun die kontemplative
Versenkung als angemessene Haltung einem Kunstwerk gegenüber. Bringe der
Rezipient das Werk in Beziehung zu seiner eigenen Lebenswirklichkeit, dann
degradiere er es. Es sei, im Kantischen Sinn, Zweck an sich selbst und bedürfe
keiner äußeren Rechtfertigung – schon gar nicht der Legitimation durch ver-
meintliche Nützlichkeit für die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten
außerhalb der Kunst. Daher habe man sich in der Aneignung des Werks zurück-
zunehmen. »Der Vernichtung der Wirklichkeit durch das Werk entspricht die
Auslöschung des Rezipienten im Akt der Rezeption« (Bürger 1977, S. 121).
Diese Ästhetik ist in der Folge zur Grundlage der Kunstreligion der bürger-
lichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geworden. Damit ließen sich in der
bürgerliche Kultur zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Praxis und Erfahrung
des Ästhetischen dienten als Genussmittel für Saturierte und Beruhigungsmittel für
Leidende. Kunst erhielt einen anerkannten Platz und wurde zugleich unschädlich
gemacht; ihre Gehalte sprengten nicht die engen Grenzen des Erlaubten. Das war
einer der charakteristischen Züge der »affirmativen Kultur«, wie Marcuse, auf den
sich Christa Bürger bezog, in der 1930er Jahren gezeigt hatte:
»Nur in der Kunst hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale
geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen. Was in der Tatsächlichkeit als
Utopie, Phantasterei, Umsturz gilt, ist dort gestattet. [. . .] Das Medium der Schönheit
entgiftet die Wahrheit und rückt sie ab von der Gegenwart. Was in der Kunst geschieht,
verpflichtet zu nichts.« (Marcuse 1937, S. 76)
Doch es waren auch schon diese Kehrseiten der bürgerlichen Kunstideologie, die
Karl Philipp Moritz im Auge hatte, als er seine Ästhetik des autonomen Werks
formulierte. Deren Intention war das Gegenteil der ideologischen Rechtfertigung
des Scheins, Kunstwerke hätten nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Moritz stieß
sich daran, dass der Geist der aufkommenden industriekapitalistischen Gesellschaft
auf geschäftlichen Nutzen fixiert war. Was sich dem Effizienzdenken entzog oder
widersetzte, wurde zunehmend delegitimiert. Die Herrschaft instrumenteller Ra-
tionalität, die nur gelten lässt, was als Mittel für Erwerbszwecke dienen kann,
beschrieb er als moralische und ästhetische Verlusterfahrung. Noch ehe sich die
Verwertungslogik zum universellen Prinzip ausgebreitet hatte, sah Moritz, dass
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 353
formuliert hatte: Die Abkehr von der Tradition muss immerfort radikalisiert
werden, um ihre Frische und ihre schockierende Kraft zu behalten. Bei Poe trat das
Neue als über die Maßen Grauenhaftes auf, und Baudelaire formulierte die Erfah-
rung, dass die Jagd nach dem Neuen ihr Ziel erst im Untergang des Subjekts,
nämlich im Tod, erreicht und damit zugleich verfehlt.
Die unausweichliche Frage der ästhetischen Moderne ist die, ob ein Neues
möglich sei. Betrachtet man, wie in den Minima Moralia, die ästhetische Forderung
nach Neuheit kunstsoziologisch, zeigt sich, dass sie als abstrakte Forderung mit
dem Bewegungsgesetz der Warenproduktion verwandt ist (vgl. Adorno 1951,
S. 266–270). Das nicht weiter spezifizierte Postulat des Neuen ist das Prinzip der
Warenproduktion auf erweiterter Stufe. Hier kommt es darauf an, dass ständig
neue Produkte auf den Markt geworfen werden, damit bei steigendem Konkur-
renzdruck und zunehmender Sättigung des Marktes mit Gebrauchswerten die
immer aufwendiger werdende Produktion sich dennoch rentiert. In den ent-
wickelten Industrienationen Europas und ihren großstädtischen Märkten der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich die Warenzirkulation. Als
abstraktes Prinzip gleicht die ästhetische Kategorie des Neuen dem Prinzip, dem
sie sich ursprünglich strikt entgegenstellte oder entzog: der Verwertungslogik der
bürgerlichen, nutzenorientierten Zweckrationalität. Deren Drang nach Neuem
macht die Erfahrung des Neuen kaputt und lässt sie umschlagen in die des
Immergleichen; die Dialektik von Innovation und Antiquation wird potenziert.
Aber das ist nur eine Seite. Im Ideal des Neuen (Rimbauds Forderung, man
müsse absolut modern sein) steckt auch das inner-ästhetische Postulat, »daß ein
Künstler über den einmal erreichten Stand seiner Periode verfügen müsse«
(Adorno 1970, S. 37). Die Kunst der radikalen Moderne entzieht sich zwar der
Verwertungslogik der bürgerlich-ökonomischen Vernunft, aber das tut sie nicht
abstrakt, indem sie aus der Geschichte und dem gesellschaftlichen wie technisch-
industriellen Fortschritt aussteigt. Die ästhetisch-autonome Rationalität der Mo-
derne hat an der technischen Innovationstendenz teil, indem sie ihre eigenen
künstlerischen Produktionstechniken radikalisiert und revolutioniert. Auf diese
Weise, meinte Adorno, ist die ästhetische Moderne zwar in Gefahr, das Neue um
seiner selbst willen abstrakt zu vergötzen und damit die ökonomische Logik
widerzuspiegeln; aber mehr noch verkörpere sie ein Versprechen, das in der
Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft auch enthalten gewesen, jedoch mehr
und mehr marginalisiert worden sei: das Versprechen der Erfahrung von etwas, das
anders ist als die Erwerbslogik des Produktions- und Zirkulationsalltags. Dieses
Andere, das bei Baudelaire hinter der Negativ-Chiffre des Todes steht, wäre die
Utopie einer Lebenspraxis, in der Autonomie verwirklicht wäre – auch als Selbst-
bestimmung der Individuen.
Die Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts sprachen diese utopi-
sche Intention teilweise offen aus. Im Ästhetizismus der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts ist die utopische Intention nur indirekt, negativ formuliert, in der
totalen Ablehnung aller Instanzen der bestehenden Gesellschaft. Der Rückzug in
eine Kunst um der Kunst willen kann mit Adorno durchaus als Absage, als negativ
gewendete Utopie wirklicher Schönheit und authentischer Erfahrung interpretiert
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 355
werden, die die Grenzen der Kunst überschritte. Die Abkehr von der Lebenspraxis
um der Kunst willen und die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis erweisen sich
als polare Bemühungen, die ein gemeinsames Ziel haben. Autonomie der Kunst
wird im Ästhetizismus absolut gesetzt, ist als solche aber Platzhalter verwirklichter
gesellschaftlicher Autonomie.
In der gesellschaftstheoretischen Zweideutigkeit der Autonomieästhetik, die bei
Moritz begonnen und mit Baudelaire einen weiteren Höhepunkt erreicht hat,
liegen die Wurzeln für die eigentümliche Stellung ästhetischer Autonomie in der
Kultur der Moderne. Einerseits vollzieht die Kunst, die sich auf sich selbst zurück-
zieht, das Bewegungsgesetz der Moderne, das die »Eigengesetzlichkeit der kultu-
rellen Wertsphären von Wissenschaft, Moral und Kunst« (Habermas 1986, S. 64)
durchsetzt. Andererseits scheint die Kunst damit aber auch aus dem Projekt der
Moderne auszuscheren, denn dessen Tendenz besteht Max Weber zufolge darin,
durch immer adäquatere Kenntnis und Beherrschung der Wirklichkeit die Lebens-
verhältnisse der Menschen zu verbessern, indem sie vernünftig eingerichtet werden.
Habermas beschreibt das als fortschreitende Verwirklichung der in ihnen ent-
haltenen Vernunftpotentiale bei gleichzeitiger Entfaltung der Pathologien der Mo-
derne.
»Die professionalisierte Bearbeitung der kulturellen Überlieferung unter jeweils einem ab-
strakten Geltungsaspekt läßt die Eigengesetzlichkeiten des kognitiv-instrumentellen, des
moralisch-praktischen und des ästhetisch-expressiven Wissenskomplexes hervortreten. Von
nun an gibt es auch eine interne Geschichte der Wissenschaften, der Moral- und Rechts-
theorie, der Kunst – gewiß keine linearen Entwicklungen, aber doch Lernprozesse. Das ist die
eine Seite. Auf der anderen Seite wächst der Abstand zwischen den Expertenkulturen und
dem breiten Publikum. Was der Kultur durch spezialistische Bearbeitung und Reflexion
zuwächst, gelangt nicht ohne weiteres in den Besitz der Alltagspraxis. Mit der kulturellen
Rationalisierung droht vielmehr die in ihrer Traditionssubstanz entwertete Lebenswelt zu
verarmen.« (Habermas 1981, S. 452 f.)
haben Bedeutung insoweit, als sie zur Wahrheit oder Schönheit beitragen, die dem Werk als
Ganzem innewohnt. Ihre Funktion ist nicht, die Realität widerzuspiegeln, sondern eine
Vision von ihr zu vergegenwärtigen.« (Kracauer 1985, S. 390)
Im Gegensatz zu Adorno war für Kracauer aber keineswegs selbstverständlich,
dass das Ästhetische im Fortschreiten seiner immer reflektierteren Stellung zur
Objektivität notwendig darauf hin angelegt sei, zunehmend zu sich selbst, das heißt
zur Kunstautonomie, zu kommen oder katastrophisch zu scheitern (oder beides).
Kracauers Theorie unterscheidet sich hier wesentlich von Adornos apokalyptischer
Ästhetik. Und zwar nicht nur deshalb, weil sie nicht in einem starken geschichts-
philosophischen Rahmen steckt, sondern auch, weil sie viel stärker auf den bild-
lichen Bereich mit seinen spezifischen visuellen Wahrnehmungsbedingungen kon-
zentriert ist als auf den konstruktiven Bereich notierter musikalischer Strukturen.
Kracauer hatte seine frühe ideologiekritische Filmtheorie aus den 1920er Jahren
mit der Zeit zu einer Variante des ästhetischen Realismus weiterentwickelt, die von
der Bildtheorie Erwin Panofskys beeinflusst ist (und eine interessante Alternative
zum Realismus der Ästhetik von Georg Lukács darstellt). Für Kracauer ist der
Film die Kunstgattung, die die äußere Wirklichkeit »retten« kann. Er konfrontierte
das Filmkunstwerk mit dem autonomen Kunstwerk, das die Wirklichkeit »ver-
nichtet«. Die dialektische Pointe in Kracauers Theorie ist: Der Film wird zwar in
eine Oppositionstellung zum autonomen Kunstwerk gebracht, aber mit einer
Intention, die die Oppositionstellung gegen das Nützlichkeitsdenken der zweck-
rationalen bürgerlichen Gesellschaft mit ihm teilt. Darum ging es Kracauer vor
allem, als er für die Rettung der erscheinenden, physischen, äußeren Realität
plädierte.
»Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche«, lautete die These von
Panofsky, der den theoretischen Grundstein für die Anerkennung des Mediums
Film als Kunstgattung legte (Panofsky 1967). Kracauer ist ihm darin gefolgt. Der
Film arbeite mit »Leben im Rohzustand«. Mit anderen Worten: Er kann Realität,
d. h. »unsere sichtbare Welt abbilden« (Kracauer 1985, S. 390). Das sei mehr, als
einen bloßen visuellen Abklatsch der Welt zu geben, an dem das Publikum sich
dann ergötzen könne; erst in der filmischen Abbildung werde Realität für uns
sichtbar. Filmbilder sind Zeichen, die eine je spezifische, nicht-arbiträre Beziehung
zum Bezeichneten haben. Filme, die auf der Höhe ihrer spezifischen ästhetischen
Möglichkeiten sein, hätten objektiv die Intention, die Erscheinungen der Welt zu
»retten«. Gerettet werden sollen sie davor, nicht wahrgenommen zu werden, aber
auch vor Desinteresse und funktionaler Reduktion, d. h. Verstümmelung durch den
Verschleiß, dem sie die warenproduzierende Gesellschaft aussetzt; und auch vor
der Bedeutungsminderung, die sie durch instrumentell-rationale Verengungen der
Wahrnehmung erleiden. Gerettet werden soll die physische, erscheinende Wirk-
lichkeit aber eben auch vor der Degradierung zum amorphen Stoff, die sie durch
Künstler erfährt, die in ihr nur das Material sehen können, das es durch Formung
allererst zu einer sinnhaften und ästhetischen Totalität zu machen gilt.
Wo sie gelingen, erbeuten Filme Bilder als Rohmaterial, die »ihre eigene Story
erzählen«; sie zeigen wirklich, »was sie zeigen«. Filmkünstler sind Menschen, die
»sich immer tiefer in den Dschungel der materiellen Phänomene hineinwag[en], auf
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 357
die Gefahr hin, sich unrettbar darin zu verlieren« (Kracauer1985, 392). Das ist der
ontologische Realismus der Kracauerschen Filmtheorie (s. dazu Koch 1996, S. 125–
147).
Kluge konnten zeigen, was sich in der Öffentlichkeit des Spätkapitalismus qualita-
tiv verändert hatte, weil sie ihre empirischen Beobachtungen in intensiver Ausei-
nandersetzung mit einer europäischen Medienkultur machten, die bis heute in
weiten Teilen immer noch eine Mischform aus privatkapitalistisch und, wie in
Deutschland, öffentlich-rechtlich organisierten Massenmedien ist.
Ein Widerstandspotential sahen Negt und Kluge damals nun eben gerade darin,
dass die Vergesellschaftung von Erfahrungen, also deren Integration in den kapi-
talistischen Verwertungsprozess, zunehmend notwendig wird. Der Speer, der die
Wunde schlug, sollte sie auch heilen. Die nicht mehr schwerindustrielle kapi-
talistische Produktionsweise in den 1970er Jahren verlangte neue Qualifikationen
der Subjekte, die ihre Arbeitskraft anboten. Subjektive Faktoren wie Sensibilität,
veränderte Wahrnehmungsfähigkeit, Gefühl und Emotion wurden in den nach wie
vor entfremdeten Arbeitsprozess eingebaut. Medien sind in diesem Prozess wider-
sprüchliche Agentien: sowohl treibende Kraft einer heteronomen, ausbeutenden
Vergesellschaftung von Erfahrung, Phantasie und Subjektivität, als auch deren
Förderer, Transportmittel und Beschleuniger. Kino, Fernsehen und reproduzierte
Musik, also die Basis-Ingredizien der modernen Massenkultur, haben in diesem
Licht einen Doppelsinn. Sie dringen in die letzten Ritzen dessen ein, was bis dahin
tendenziell noch unverfügbar war, beuten dies aus und führen das individuelle wie
das soziale Imaginäre der marktförmigen Verwertung zu (wie Fredric Jameson das
bald darauf formulierte). Aber zugleich stimulieren sie das Unverfügbare, können
es zur Selbstreflexion bringen, und damit die mögliche Aneignung des entfremde-
ten Eigenen vorbereiten. Der Eigen-Sinn der Medien ist also mehr als nur die
kultur- und bewusstseinsindustrielle Verwertung des Imaginären; er ist kompatibel
mit dem Eigen-Sinn der Subjekte und dessen utopischem Potential (das als Kon-
zept seinen Wert nicht dadurch verliert, dass sich Negt und Kluges »proletarische
Gegenöffentlichkeit« nie so recht zeigen wollte).
4.1. Todeskampf des Realen und die experimentelle Ästhetik der Avantgarde
In den ästhetischen Debatten der Postmoderne ist die technisch reproduzierte
Simulation des Wirklichen, die von Benjamin zuerst ins Visier genommen wurde,
als wichtigstes Phänomen der Gegenwart bezeichnet worden. Jean Baudrillard
verfolgt und kommentiert seit Mitte der 70er Jahre den Untergang der Wirklichkeit
im Hyperrealismus der elektronischen Bildmedien, die das Reale permanent ver-
doppeln würden (Baudrillard 1982). Der iterative Selbstbezug der Bildmedien in
ihrem ständigen Reproduktionskreislauf, in dem von einem Medium in das andere
hinüber kopiert werde, zerstöre das Reale. Realität sei nur noch im Simulakrum
greifbar, das sozusagen eine Reproduktion ist, zu der es kein Original gibt. Das
Reale sei durch seine Ähnlichkeit mit sich selbst vermittelt, die freilich den
Charakter einer Halluzination habe und damit selbst irreal sei. Baudrillards para-
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 359
doxe These: Diese Aufhebung des Realen sei das Ergebnis des Triumphs des
Realismus in der bildenden Kunst. Wie ein Vampir habe dieser die Wirklichkeit bei
seinen beharrlichen mimetischen Annäherungen entkräftet. Die Verdoppelung der
sichtbaren Welt in realistischen Bildern sei immer schon der Wiederholungszwang
gewesen, der im Zeitalter seiner industriellen Reproduzierbarkeit triumphiere;
Realität sei als dasjenige definiert worden, wovon sich eine äquivalente Reproduk-
tion herstellen lasse.
Baudrillard beschwört diesen Prozess als allgemeine mediale Apokalypse, in der
es nicht mehr auf die Unterscheidung zwischen Kunst und Massenkultur an-
kommt. Jean-François Lyotards Kritik der Massenkultur basiert dagegen auf der
Unterscheidung zwischen einer falschen Postmoderne, dem Eklektizismus der
Waren und Ideologien, und einer authentischen Postmoderne, der Weiterführung
des experimentellen Ansatzes der Avantgarde. Massenkultur, glaubte Lyotard,
befriedige heute das Identitätsverlangen und das Sekuritätsbedürfnis der meisten
Menschen. Statt risikofreudiger Lust auf das Neue sei »Erschlaffung« das Signum
unserer Kultur. Gesucht würde nach Bedeutungen und Wirklichkeit, Sinn und
Transzendenz, subjektiver Expressivität und kommunikativem Konsens. Der reali-
stische Konsens der modernen Alltagskultur sei ein Index für die Integrationskraft
des Kapitalismus, der Kunst, Literatur, soziale Rollen, Alltagsleben und Ge-
brauchsgegenstände durchdringe. Wie für Baudrillard stand für ihn fest, dass
Abbildungen der Wirklichkeit, von der großen realistischen Malerei des 19. Jahr-
hunderst bis zur Pop-Art, zu sehnsüchtiger oder spöttischer Beschwörung der
Wirklichkeit würden. Die nach der Logik der Warenform gebildete Vergesellschaft-
ungs- und Sprachform sei der real existierende Realismus, aber tatsächlich sei die
Wirklichkeit, im Gegensatz zu den Suggestionen des Kapitalismus und der
»Techno-Wissenschaft« (Lyotard 1999, S. 41), destabilisiert. Authentische Kunst
müsse vom Nihilismus ausgehen und den experimentellen Weg der Avantgarden
einschlagen: sie müsse versuchen, das Nichtdarstellbare darzustellen.
Der kulturindustrielle Realismus der neuen visuellen Medien, meinte Lyotard,
könne »besser, schneller und mit hunderttausendmal größerer Verbreitung als der
bildnerische und erzählerische Realismus«, »das Bewußtsein vom Zweifel [. . .]
bewahren« (Lyotard 1999, S. 37). Die industriellen Bildkünste stellten Kontinuitä-
ten und Rezeptionssicherheiten wieder her, die die Avantgarden in der Moderne
liquidiert hatten. Der Film stabilisiere die prekär gewordenen Zeichen, die nun
wieder in sequentielle Strukturen eingefasst würden und »als wiedererkennbarer
Sinn« erscheinen, der jederzeit verfügbar ist. Über ihn können sich die Zuschau-
enden ihres »Identitätsbewußtseins« und der kommunikativen Geborgenheit aller
versichern. Künstler dürften aber nicht den »Konformismus der Massen« bedienen
und »zu Anwälten des Bestehenden« werden, wie Lyotard in Adornoscher Diktion
fordert; sie müssen »sich solcher therapeutischen Praxis verweigern« (Lyotard
1999, S. 38). Das täten sie durch Infragestellung der Tradition, wodurch sie das
Vertrauen des Publikums verlieren. Das »Verlangen nach Realität, das heißt nach
Einheit, nach Einfachem, nach Mitteilbarkeit« sei für die Kunstrezeption im Zeit-
alter der Massenkultur kennzeichnend (Lyotard 1999, S. 39). Die »Dialektik der
Avantgarden« dagegen entstehe seit Duchamps aus den Herausforderungen, »die
360 Gerhard Schweppenhäuser
von den industriellen und massenmedialen Realismen auf die Kunst des Malens
und Erzählens ausgeht« (Lyotard 1999, S. 38).
Das hat Jameson u. a. mit Analysen erfolgreicher Kinofilme wie Jaws oder The
Godfather demonstriert, in denen Konflikte bearbeitet und scheinbaren Lö-
sungen zugeführt werden, die aus dem zivilisatorischen Naturverhältnis, aus sozia-
len Spannungen oder der modernen Erfahrung des Verlusts familiärer Strukturen
hervorgehen und somit existentielle und soziale Erfahrungen fast aller Menschen
berühren. Die ideologischen und populistischen Lösungs- und Harmoniesugges-
tionen, die von der Filmindustrie nahegelegt werden, sind dabei nur eine Seite; die
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 361
andere, so Jameson, ist das utopische oder transzendente Potential, das gerade auch
solche Produkte der Massenkultur besitzen.
»Angst und Hoffnung sind die zwei Seiten des kollektiven sozialen Bewusstseins, und daher
können die Produkte der Massenkultur, selbst wenn es ihre Funktion ist, die bestehende
Ordnung (oder eine schlechtere) zu legitimieren, ihre Aufgabe nicht erfüllen, ohne die
tiefsten, fundamentalsten kollektiven Hoffnungen und Phantasien im Dienst jener Ordnung
umzulenken, wobei sie diesen Hoffnungen und Phantasien eine wie auch immer entstellte
Stimme verleihen.« (Jameson 1992a, S. 30)
Selbst die seichtesten Erzeugnisse der Massenkultur hätten noch, zumindest im-
plizit, negative und kritische Elemente der gesellschaftlichen Ordnung gegenüber,
deren warenförmige Produkte sie sind. Andernfalls könnten sie ihre ideologisch-
manipulative Funktion überhaupt nicht erfüllen. Ihre Anziehungskraft verdankten
sie dem verlockenden Bestechungsgeld, das sie den Konsumenten sozusagen in
Phantasiewährung anbieten. Sie legitimieren die bestehende Ordnung, aber damit
sie das können, müssen sie Ängste und Widerstände gegen das Bestehende wenigs-
tens rudimentär ausdrücken.
Literatur
Adorno, Theodor W. (1938): Über den Fetischcharakter in der Musik und die Regression des
Hörens, in: Zeitschrift für Sozialforschung, Jg. 7, S. 321–356
– (1980 [1951]): Minima Moralia, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M.
– (1970): Ästhetische Theorie, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 7, Frankfurt a. M.
– (1977 [1963]): Résumé über Kulturindustrie, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 10.1, Frankfurt
a. M., S. 337–345
364 Gerhard Schweppenhäuser
– (1975 [1949]): Philosophie der neuen Musik, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 12, Frankfurt
a. M.
Barthes, Roland (1964): Mythen des Alltags. Frankfurt a. M.
Baudrillard, Jean (1982): Der symbolische Tausch und der Tod. München
Benjamin, Walter (1980 [1936]): Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzier-
barkeit, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. I.2, Frankfurt a. M., S. 471–508
– (1980): Ges. Schriften, Bd. I.3, Frankfurt a. M.
– (1980 [1933]): Erfahrung und Armut, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. II.1, Frankfurt a. M.,
S. 213–219.
Bürger, Christa (1977): Der Ursprung der bürgerlichen Institution Kunst. Literatursoziologi-
sche Untersuchungen zum klassischen Goethe, Frankfurt a. M.
Fiske, John (1999): Elvis: Body of Knowledge. Offizielle und populäre Formen des Wissens
um Elvis Presley, in: Hörnig, Karl H./Winter, Rainer (Hg.): Widerspenstige Kulturen.
Cultural Studies als Herausforderung, Frankfurt a. M., S. 339–378
Habermas, Jürgen (1981): Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: ders.: Kleine politi-
sche Schriften I-IV, Frankfurt a. M., S. 444–464
– (1986): Der philosophische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.
Hall, Stuart (1999): Kodieren/Dekodieren, in: Bromley, Roger/Göttlich, Udo/Winter, Cars-
ten (Hg.): Cultural Studies. Grundlagentexte zur Einführung, Lüneburg, S. 92–110
Hansen, Miriam (1981/82): Cooperative Autuer Cinema and Oppositional Public Sphere:
Alexander Kluge’s Contribution to Germany in Autumn, in: New German Critique, No.
24–25, Fall/Winter 1981/82, S. 36–56
Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W. (1987 [1947]): Dialektik der Aufklärung. Philo-
sophische Fragmente, in: Horkheimer, Max: Ges. Schriften, Bd. 5, Frankfurt a. M. [GS 5]
Hullot-Kentor, Robert (1997): The Philosophy of Dissonance: Adorno and Schoenberg, in:
Huhn, Tom/Zuidervaart, Lambert (Hg.): The Semblance of Subjectivity. Essays in
Adorno’s Aesthetic Theory, Cambridge, Mass./London, S. 309–319
Jameson, Fredric (1992a): Reification and Utopia in Mass Culture, in: ders.: Signatures of the
Visible, New York, S. 11–34
– (1992b): Spätmarxismus. Adorno oder Die Beharrlichkeit der Dialektik, Hamburg
Kluge, Alexander (1975): Gelegenheitsarbeit einer Sklavin. Zur realistischen Methode, Frank-
furt a. M.
Koppe, Franz (1992): ›Durchsichtig als Situation und Traum der Menschheit‹. Grundzüge
einer Kunstphilosophie im Ausgang von Herbert Marcuse», in: Institut für Sozialforschung
(Hg.): Kritik und Utopie im Werk von Herbert Marcuse, Frankfurt a. M., S. 247–261
Koch, Gertrud (1996): Kracauer zur Einführung. Hamburg
Kracauer, Siegfried (1963): Kult der Zerstreuung, in: ders.: Das Ornament der Masse, Frank-
furt a. M., S. 311–317
– (1985): Theorie des Films. Frankfurt a. M.
Löwenthal, Leo (1981 [1932]): Zur gesellschaftlichen Lage der Literatruwissenschaft, in: ders.:
Ges. Schriften Bd. 1, Frankfurt a. M.
Lyotard, Jean-François (1999): Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?, in: Engelmann,
Peter (Hg.): Postmoderne und Dekonstruktion. Texte französischer Philosophen der Ge-
genwart, Stuttgart, S. 33–48
Maase, Kaspar (1997): Grenzenloses Vergnügen. Der Aufstieg der Massenkultur 1850–1970,
Frankfurt a. M.
Marcuse, Herbert (1937): Über den affirmativen Charakter der Kultur, in: Zeitschrift für
Sozialforschung, Jg. 6, S. 54–94
– (2000): Musik von anderen Planeten, in: ders., Nachgelassene Schriften, Bd. 2, Lüneburg,
S. 87–94
McBride, Douglas Brent (1998): Romantic Phantasms: Benjamin and Adorno on the Subject
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 365
of Critique, in: Monatshefte für deutschsprachige Literatur und Kultur, Winter 1998, Bd.
90, Nr. 4, S. 465–487
Müller-Doohm, Stefan (2000): Kritische Medientheorie – die Perspektive der Frankfurter
Schule, in: Neumann-Braun, Klaus/Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Medien- und Kom-
munikationssoziologie, Weinheim/München, S. 69–92
Negt, Oskar/Kluge, Alexander (1972): Öffentlichkeit und Erfahrung. Zur Organisations-
analyse bürgerlicher und proletarischer Gegenöffentlichkeit, Frankfurt a. M. 1972
Panofsky, Erwin (1967): Stil und Stoff im Film, in: Filmkritik, 11, S. 343–355
Wiggershaus, Rolf (1988): Die Frankfurter Schule, München
Williams, Raymond (1977): Marxism and Literature, Oxford
Zuidervaart, Lambert (1991): Adorno’s Aesthetic Theory. The Redemption of Illusion,
Cambridge, Mass.
Warum ist die Kritische Theorie kritisch?
Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen
Wolfgang Bonß
I.
Eine der vielen Merkwürdigkeiten des Positivismusstreits (Adorno et al. 1969) war
der weitgehend unkritische Umgang mit dem Stichwort der Kritik. So etikettierten
sich Popper und Albert ebenso wie Adorno und Habermas als »kritisch«, und dies
wurde von ihren jeweiligen Anhängern unbesehen übernommen. Popper/Albert
traten dementsprechend als Verfechter des »Kritischen Rationalismus« in den
Blick, während Adorno/Habermas für das Label »Kritische Theorie« standen.
Angesichts der ansonsten betonten Differenzen hätte es durchaus nahe gelegen, die
parallelen (Selbst-)etikettierungen zum Problem zu machen und eine Debatte über
die Dimensionen und Kriterien des Kritischen zu beginnen. Aber genau dies
geschah nicht. Statt dessen beschränkte man sich darauf, »ein Streitgespräch zwi-
schen politisierten Wissenschaftlern« (Schablow 1974) zu führen und das Kritik-
konzept der jeweils anderen Seite als unkritisch bis ideologieverdächtig zu atta-
ckieren.
Dass der unterschiedliche Gebrauch des Kritikkonzepts jenseits der wechselsei-
tigen Polemik kaum zum Thema gemacht wurde, ist mit dem Abstand von mehr
als drei Jahrzehnten weniger den unmittelbaren Kontrahenten vorzuwerfen, son-
dern eher der Rezeption der Kontroverse. Letztere zeichnet sich durch vieles, aber
nicht unbedingt durch eine nachhaltige Arbeit am Begriff aus. Statt bereits vorlie-
gende Argumentationen zu »Kritik und Erkenntnisfortschritt« (Lakatos/Musgrave
1965) oder zur »Kritik als Beruf« (Lepsius 1964) aufzugreifen und für die Frage
»Was ist Kritische Theorie?« (Bubner 1969) fruchtbar zu machen, wurde die
systematische Diskussion des Kritikbegriffs weitgehend ausgeblendet und in die
Welt der philosophischen Handbücher (z. B. Bormann 1973) oder der Spezialunter-
suchungen (z. B. Röttgers 1975) abgeschoben. Vor diesem Hintergrund fanden sich
die Beteiligten weitgehend problemlos damit ab, dass das Konzept der Kritik
ubiquitär wurde, wobei diese Entwicklung nicht selten als Fortschritt begriffen
wurde. So war und ist es für manche ein entscheidendes Kennzeichen der moder-
nisierten Moderne, dass Kritik an allem und jedem geübt werden kann. Angesichts
fehlender ›fester‹ Maßstäbe scheint umgekehrt das Stichwort der Kritik zu einem
»Verpflichtungsbegriff« (Röttgers 1990, S. 889) geworden zu sein. Sich unkritisch
zu geben, ist jedenfalls verpönt, wobei die ubiquitär gewordene Kritik meist
folgenlos bleibt und wohl auch bleiben muss, da ihre Grundlagen nur selten
explizit gemacht werden.
Man kann darüber streiten, ob eine solche Verflachung des Kritikbegriffs irre-
versibel und unausweichlich ist. Dies um so mehr, als es seit den 1990er Jahren
durchaus »Gegenbewegungen« gegeben hat, die auf eine vertiefte Begründung des
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 367
Kritikbegriffs abzielen. So finden sich Versuche, eine »Soziologie der Kritik« (Holz
1990) zu entfalten und die Geschichte des Kritikbegriffs genauer zu beleuchten
(z. B. Geyer 2000). Darüber hinaus ist gerade in letzter Zeit eine erstaunlich
lebhafte Diskussion um die Kritikmaßstäbe insbesondere auf dem Feld der Gesell-
schaftskritik entbrannt (vgl. Wenzel 2002). Zwar steht diese Debatte erst am
Anfang und hat bislang nicht unbedingt zu mehr Klarheit geführt, sondern eher die
Defizite der bisherigen Reflexion aufgezeigt. Aber auch wenn zunächst die Vielfalt
und historische Veränderbarkeit der Begründungsstrategien deutlich geworden
sind, so zeigen sich in den neuen Ortsbestimmungen des Kritikkonzepts durchaus
Gemeinsamkeiten, die dann klarer werden, wenn man sich die Anfänge des okzi-
dentalen Kritikkonzepts vergegenwärtigt.
Die etymologische Wurzel des okzidentalen Kritikbegriffs liegt in dem griechi-
schen Verb krinein, das mehrere Bedeutungsschichten hat und sich am ehesten mit
(ab-)sondern, (unter-)scheiden und (be-)urteilen übersetzen lässt. Auch wenn sich
die Experten im Detail nicht unbedingt einig sind, so ist zumindest eins klar: Das
Geschäft des Kritisierens bezieht sich auf die Formulierung von Urteilen bzw.
genauer: auf die urteilende Feststellung von Differenzen, die ihrerseits nicht be-
liebig sind, sondern sich auf Dimensionen wie wahr/falsch, zutreffend/unzutref-
fend oder angemessen/unangemessen beziehen. Zwar ist keineswegs klar, wie die
Stichworte wahr/falsch, zutreffend/unzutreffend oder angemessen/unangemessen
im Einzelnen auszubuchstabieren sind. Aber dies ändert nichts daran, dass sich
Kritik immer auf die Feststellung von Differenzen bezieht.
Unter kognitiven Perspektiven verweist die Differenzsetzung auf die Abgren-
zung von zwei Beschreibungsebenen und damit auf eine spezifische ›Doppelstruk-
tur‹ bei der Beurteilung von Wirklichkeit. Egal worauf sie sich bezieht und wie sie
formuliert wird – Kritik ist nur möglich auf der Grundlage eines unterstellten
Gegensatzes von tatsächlicher und behaupteter bzw. von faktischer und möglicher
Wirklichkeit. Wer kritisiert, trifft immer ein Urteil über das Verhältnis von be-
schriebenen und ›wirklichen‹ Wirklichkeiten, wobei die angesprochenen Wirklich-
keiten immer nur einen bestimmten Realitätsausschnitt betreffen. Denn bei den
Wirklichkeiten, die der Kritik zugänglich sind, handelt es sich stets um Handlungs-
wirklichkeiten. die abzugrenzen sind von jenen Realitäten, auf die der Mensch
keinen Einfluss hat. Oder in den Worten von Kurt Röttgers (1990, S. 889) ausge-
drückt: das Konzept der Kritik ist von Anfang an »begrenzt auf solche Sach-
verhalte, die als Handlungen oder Handlungsresultate aufgefasst werden können.
Die Natur oder Teile der bloßen Natur zu kritisieren gilt als unangemessen.« Kritik
bezieht sich also immer nur auf durch den Menschen veränderbare Dinge, und dies
macht deutlich, dass insbesondere die okzidentale Kritik per definitionem einen
praktischen Ursprung hat und stets auf Veränderung drängt.
Allerdings ist weder die Praxisorientierung noch das Faktum der Feststellung
von Differenzen eine eindeutige Angelegenheit. So kann die Veränderungsorientie-
rung unterschiedlich ausfallen, und ähnliches gilt für die Feststellung von Differen-
zen. Bleibt man zunächst bei den Differenzen, also bei dem mit jeglicher Kritik
behaupteten Gegensatz von tatsächlicher und behaupteter bzw. von faktischer und
möglicher Wirklichkeit. so lassen sich weiterführend und jenseits der griechischen
Ursprünge mindestens drei Varianten von Kritik unterscheiden:
368 Wolfgang Bonß
(1) Für die erste Variante ist entscheidend, dass die vorgelegte Beschreibung mit der
faktischen Wirklichkeit (bzw. genauer: mit der Realität im Sinne der Welt der
Tatsachen) nicht übereinstimmt oder sie nur unzutreffend wiedergibt; wer diesen
Punkt betont, formuliert eine empirische Kritik.
(2) Das behauptete Spannungsverhältnis kann sich aber auch darauf beziehen, dass
die beschriebene Realitätsstruktur in sich inkonsistent ist bzw. (Neben-)Folgen
zeitigt, die den Strukturprinzipien widersprechen oder sie außer Kraft setzen;
orientiert sich die Kritik an diesem Punkt, so handelt es sich um eine immanente
Kritik.
(3) Die dritte Variante schließlich operiert mit der These, dass die beschriebene
Wirklichkeit nicht so ist, wie sie sein sollte oder sein könnte. Die (schlechte)
Wirklichkeit wird aus der Perspektive eines (wie auch immer begründeten) mögli-
chen Andersseins kritisiert; sofern diese Form der Kritik das Spannungsverhältnis
von Sein und Sollen ins Zentrum stellt, kann sie als normativ charakterisiert
werden.
Zwar sind die drei Kritikvarianten keineswegs völlig trennscharf, und es wäre auch
falsch, sie gegeneinander auszuspielen. Gleichwohl ist es erhellend, die Unter-
scheidung der verschiedenen Kritikformen auf den Positivismusstreit zu über-
tragen. Denn eine solche Übertragung macht deutlich, dass die Kontrahenten
höchst unterschiedliche Kritikkonzeptionen vertraten. So war für den Kritischen
Rationalismus die Idee einer empirischen Kritik entscheidend, ergänzt um Aspekte
einer immanenten Kritik. Normative Perspektiven hingegen wurden explizit abge-
lehnt und damit letztlich auch das Konzept der Gesellschaftskritik. Ganz anders
hingegen die Akzentsetzung bei den Verfechtern der Kritischen Theorie. Zwar
akzeptierten deren Vertreter von Adorno und Horkheimer bis hin zu Habermas
die Varianten der empirischen und der immanenten Kritik in ihrem jeweiligen
Rahmen durchaus. Aber mindestens ebenso wichtig war für sie die vom Kritischen
Rationalismus verworfene Gesellschaftskritik, die nur denkbar erschien vor dem
Hintergrund der Idee und/oder der Erfahrung eines möglichen Andersseins, und
damit im Kontext einer normativen Kritik.
Dass Gesellschaftskritik stets normativ sein muss, ist eine keineswegs selbst-
verständliche, aber bei genauerer Betrachtung durchaus plausible These. So lassen
sich insbesondere noch (oder nach außen) funktionierende gesellschaftliche Sys-
teme letztlich nur kritisieren vor dem Hintergrund der Idee eines wie auch immer
gedachten möglichen Andersseins, das Ausbeutung und Ungerechtigkeiten erst
richtig sichtbar werden lässt. Zwar ist Gesellschaftskritik zum Teil als empirische
und/oder immanente Kritik denkbar, nämlich dann, wenn gesellschaftliche Systeme
an mehr oder weniger deutlichen, internen Funktionsstörungen leiden. Aber selbst
in diesen Fällen setzt die Kritik normative Momente insofern voraus, als sie in der
Regel nur dann überzeugend ist, wenn sie sich auf das Konzept einer anderen
Gesellschaft als Denkmöglichkeit und ›Kontrastfolie‹ bezieht. Gleichwohl bleibt
die Frage, wie sich die Idee des möglichen Andersseins als Kontrastfolie zur
schlechten Wirklichkeit begründen lässt. Sie bloß zu behaupten, reicht jedenfalls
nicht aus, und seitens der Kritischen Theorie wurde von Anfang an darauf hin
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 369
gewiesen, dass ein mögliches Anderssein nicht idealistisch gegen die schlechte
Wirklichkeit gewandt werden könne, sondern realitätsbezogen begründet und
erfahrungsbezogen verankert sein müsse.
An dieser ebenso richtigen wie problematisierungswürdigen Feststellung setzen
die folgenden Argumentationen an. Diese beschäftigen sich mit der Frage der
Begründbarkeit von Kritik, und zwar sowohl allgemein als auch im Sinne von
Gesellschaftskritik. Historisch wie systematisch lässt sich die Frage der Begründ-
barkeit unterschiedlich beantworten, und geht man die diversen Begründungsvor-
schlage durch, so fällt auf, dass sich die Bezugspunkte, Gegenstände und Adressaten
der Kritik gleichermaßen verändern. Genau diese drei Dimensionen sollen im
Folgenden genauer betrachtet werden, denn anhand der Veränderungen in diesen
drei Dimensionen lässt sich so etwas wie eine Lerngeschichte der Gesellschafts-
kritik erkennen, die unabgeschlossen ist und grob skizziert werden soll, um die
offene Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit von Kritik heute« zum
Thema zu machen.
II.
Bezugspunkt der Kritik. Aus ihr ergaben sich die Normen des menschlichen
Zusammenlebens, die auf dem Wege der Kritik zu verdeutlichen waren. Oder wie
Reinhart Koselleck (1973, S. 99) es am Beispiel der vormodernen Königskritik
formuliert: Die legitime »Kritik am König bestand« nicht darin, ihn ins Unrecht zu
setzen, sondern »darin, ihm sein Recht zu zeigen« und jenen die Grenzen aufzu-
weisen, die ihm sein Recht streitig machten und sich damit der göttlichen Ordnung
verweigerten. Kritik bedeutet somit ziemlich das Gegenteil von dem, was wir seit
der Moderne mit diesem Stichwort verbinden, nämlich Bestätigung einer vorgege-
benen Ordnung, die es nicht zu verändern, sondern wiederherzustellen gilt.
Andere Perspektiven ergaben sich erst mit der breitenwirksamen Einbürgerung
des Kritikbegriffs in den europäischen Nationalsprachen und mit der Entstehung
der aufklärerischen Kritik im frühen 18. Jahrhundert. Die hiermit verknüpfte,
konzeptuelleVeränderung lag in einer entscheidenden Verweltlichung der Kritikba-
sis. Basis und Bezugspunkt der Kritik wurden nicht länger in einer durch Gott
repräsentierten, externen Ordnung gesehen, sondern im Menschen selbst. Als
neues Leitmodell fungierte die naturrechtlich begründete Idee des vernunftbegab-
ten Menschen als unterstellte Wesensnatur und normative Letztbegründung.
Sofern die Menschen als potentiell vernunftgesteuerte und dementsprechend
gleiche begriffen wurden, wandelte sich aber nicht nur der Bezugspunkt, sondern
ebenso der Gegenstand der Kritik. Wie die Praxis der Freimaurer und anderer
aufklärerischer Geheimgesellschaften zeigt, waren Religion und Politik als Kritik-
gegenstände zwar zunächst ausgeklammert worden. Aber sofern die Vernunft
gegen einen unvernünftigen Glauben ins Feld geführt werden konnte, erschien der
absolute Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligion immer weniger haltbar, und
angesichts der postulierten Vernunftgleichheit der Menschen konnte es auch nicht
mehr um die Anerkennung einer vorgegebenen Ordnung der Ungleichheit gehen;
die Ungleichheiten des Absolutismus gerieten vielmehr selbst in die Kritik, da sie
der unterstellten Wesensnatur des Menschen widersprachen. Hiermit veränderte
sich schließlich auch der Adressat der Kritik, der gleichsam herrschaftskritisch
aufgespalten wurde. Auf der einen Seite stehen die ›positiven‹ Adressaten, nämlich
die als vernunftbegabte Wesen begriffenen Bürger, die den Mut haben, sich aus der
selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, und auf der anderen Seite als
›negativer‹ Adressat der diese Vernunft negierende König bzw. Adel, der auf durch
die Vernunft nicht zu rechtfertigende Privilegien pocht und sich dadurch selbst ins
Unrecht setzt.
Die herrschaftskritische Akzentuierung bildet ein zentrales Kennzeichen moder-
ner Gesellschaftskritik, wie sie sich im 18. Jahrhundert allmählich herausbildete
und als Konsequenz ihrer immanenten Dynamik zunehmend radikalisierte (vgl.
Koselleck 1979, S. 89ff.). So stellte die Kritik immer mehr scheinbare Selbst-
verständlichkeiten in Frage, und sofern sie praktisch vor nichts mehr halt machte,
wurde sie selbst scheinbar haltlos. Denn mit ihren eigenen Fortschritten entzog sie
jeglichen normativen Letztbegründungen ungewollt den Boden. Diese Akzentuie-
rung war zwar weder direkt sichtbar noch bestimmte sie das Selbstverständnis der
Kritiker; Letztere hofften vielmehr, gerade durch eine Radikalisierung der Kritik
doch noch zu einer widerspruchsfreien Wahrheit zu gelangen. Aber dies ändert
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 371
nichts daran, dass die Kritik durch ihren eigenen Fortschritt immer weniger in
überzeitliche Wahrheitszusammenhänge eingebunden und durch diese begrenzt
war; sie wurde vielmehr zunehmend in dem Sinne autonom, dass sie als entgrenzte
nicht mehr aus allgemeinen Prinzipien, sondern letztlich nur aus sich selbst heraus
begründet werden konnte.
Freilich wurde diese Konsequenz, die heute vor allem in den Konzeptionen der
Postmoderne betont wird, zunächst kaum gesehen. Denn auch die entgrenzte und
damit autonom gewordene Kritik beanspruchte nach wie vor Verallgemeiner-
barkeit, weshalb ihr der Gedanke eines möglichen Relativismus zunächst fremd
war. Ungeachtet dessen konnte die Idee der vernünftigen Menschennatur kaum
länger im Sinne überzeitlich-verbindlicher Wertkriterien als gleichsam säkulari-
sierte göttliche Ordnung gedacht werden. Hiergegen sprachen nicht zuletzt Argu-
mentationen wie die von Jean-Jacques Rousseau, dessen Polemik gegen die Ver-
fechter eines vernünftigen Gesellschaftsvertrages eine Ahnung davon vermittelte,
dass die scheinbar überzeitlichen Wertkriterien keineswegs unveränderlich waren.
Nach Rousseau waren besagte Wertkriterien selbst als ein gesellschaftliches Pro-
dukt zu begreifen, das ebenso problematisch wie veränderbar erscheint. Diese
Argumentation ist zwar durchaus unterschiedlich aus deutbar, aber nimmt man sie
ernst, dann ist die menschliche Existenz nicht determiniert, und die menschliche
Entwicklung muss als eine prinzipiell offene Angelegenheit verstanden werden
(vgl. Geyer 1997, S. 202ff.).
Als Reaktion auf den Verlust apriorischer Werte und auf die Unmöglichkeit, das
konkrete Einzelsubjekt umstandslos auf Gattungsprinzipien zu beziehen, kam es
zu spezifischen Weiterentwicklungen des Kritikkonzepts, die hier kaum im Detail
(vgl. Röttgers 1975) beschrieben werden können. Festzuhalten sind aber zumindest
drei Punkte, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine entscheidende Rolle
spielen, nämlich (a) eine grundsätzliche Verzeitlichung der Kritik, (b) eine wach-
sende Verknüpfung von Kritik und Krise sowie (c) ergänzende soziale bzw. sozial-
strukturelle Differenzierungen.
Verzeitlichung der Kritik bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die einge-
klagte Gestaltung der Welt als vernünftige nicht mehr als eine einfache ›Um-
setzung‹ von zeitlosen Prinzipien begriffen wird, sondern als ein zeitabhängiger
Prozess, der verschiedene Stufen durchlaufen muss und dessen Ausgang überdies
ungewiss ist. Diese Akzentverschiebung war angesichts der zeitgeschichtlichen
Situation Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs zufällig. Denn vor dem Hinter-
grund der Erfahrungen der französischen Revolution ließ sich das nach wie vor an
überzeitlichen Wertkriterien orientierte Kritikverständnis der Frühaufklärung
kaum ungebrochen halten. So zeigte der Umschlag der Revolution in den Terreur,
dass die Vernunft weder von selbst noch problemlos zur Verwirklichung drängt.
Die Gestaltung der Welt als vernünftige erschien nicht mehr unbedingt als ein
selbstverständliches Projekt, dessen Realisierung allein durch die Unvernunft der
feudalen Ungleichheit behindert wird. Sie stellte sich vielmehr als eine historisch
unentschiedene Aufgabe dar, die nicht scheitern musste, aber scheitern konnte und
auf jeden Fall als ein mehr oder weniger offener Prozess zu begreifen war.
Freilich wurde diese prinzipielle Offenheit von den Zeitgenossen nur begrenzt
372 Wolfgang Bonß
realisiert. Dies gilt auch für die intellektuelle Avantgarden, die zumeist mit dem
Versuch reagierten, die verzeitlichte Kritik in eine Geschichtsphilosophie mit
eindeutigem Ende einzubinden. Hierfür stehen die frühromantischen Entwürfe à la
Novalis ebenso wie die weit prominentere Dialektik Hegels, die explizit darauf
abzielte, die im Zuge der sich radikalisierenden Kritik zersplitterte Welt noch
einmal zu einem Gesamtentwurf zusammen zu fügen. Gleichwohl konnte selbst
Hegels Entwurf die prinzipielle Ambivalenz der modernen Kritik nur begrenzt
überdecken. Deutlich wird diese prinzipielle Ambivalenz freilich in einer anderen
Entwicklung, nämlich in dem parallelen Aufschwung des Konzepts der Krise, das
seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine immer breitere Verwendung fand.
Der ursprünglich aus der Rechtswissenschaft stammende und im Kontext der
Medizin reformulierte Krisenbegriff, der interessanterweise auf dieselbe etymologi-
sche Wurzel zurück geht wie das Stichwort der Kritik, bezieht sich auf eine schwer
zu beeinflussende Entscheidungssituation, die ins Positive wie ins Negative um-
schlagen und dem menschlichen Zugriff durchaus entzogen sein kann (vgl. Gold-
berg 1990, S. 889). So ist ein kritischer Zustand in der Medizin ein solcher, der die
Möglichkeit einer irreversiblen Verschlechterung ebenso in sich birgt wie die
Chance einer Heilung, wobei die Mediziner selbst nach der Feststellung und
Setzung der Rahmenbedingungen oftmals nur abwarten können. Eben diese Ambi-
valenz ist auch für die Gesellschaftskritik in der Moderne kennzeichnend. Zwar
kann die Kritik, sofern sie gut begründet ist, destruktive und konstruktive Mo-
mente der Situation unter Umständen präzise benennen. Aber dies bedeutet nicht,
dass sie in der Lage wäre, die weitere Entwicklung eindeutig zu prognostizieren
und die Doppelung von destruktiven und konstruktiven Momenten aufzulösen.
Hier ist vielmehr auf die Dimension der Praxis als Konsequenz und Fortsetzung
der Kritik zu verweisen. Zwar kann die Praxis im Sinne Hegels als ein Zu-sich-
selbst-kommen der Kritik begriffen werden. Aber im Unterschied zu den An-
nahmen Hegels ist dieses Zu-sich-selbst-kommen der Kritik keine zwangsläufige
und eindeutige Entwicklung, sondern eine eigenständige mit ungewissem Ausgang,
bei der oft genug gewartet werden muss, und genau diese Erfahrung ist ausschlag-
gebend für die wachsende Verknüpfung der Konzepte von Kritik und Krise als
einer prinzipiell ambivalenten Situation.
Neben der Verzeitlichung der Kritik und der Verknüpfung von Kritik und Krise
sind gegen Ende des 18. Jahrhunderts schließlich auch soziale bzw. sozialstruk-
turelle Differenzierungen der Kritik zu notieren. Da die Kritik nicht mehr um-
standslos aus einer unterstellten universalen Menschennatur begründet werden
konnte, stellte sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Begrün-
dung in veränderter Form. Wurde in der politisierten Phase der Aufklärung vor
1789 damit argumentiert, dass bestimmte soziale Akteure, nämlich König und
Adel, Privilegien beanspruchten, die durch die allgemeine Menschennatur nicht
gerechtfertigt waren, so war dies nach 1789 nur begrenzt möglich. Zugleich – und
dies war letztlich noch wichtiger – zerbrach die Gleichsetzung von ›vernünftigem
Subjekt‹ und ›Bürger‹. Denn nach der französischen Revolution und der Erfahrung
des Terreur wurde unübersehbar, dass der Sieg des »Dritten Standes« keineswegs
zu einem Sieg der Vernunft und einer Realisierung der mit ihr postulierten neuen
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 373
Gleichheit geführt hatte. Statt dessen wurden neue soziale Ungleichheiten sichtbar,
die in der überlieferten ständegesellschaftlichen Terminologie alle »unterständi-
schen« Gruppen betrafen, und hier insbesondere den im Gefolge der industriellen
Revolution entstandenen »vierten Stand«, nämlich die Arbeiterklasse, die allmäh-
lich als ebenso eigenständige wie depravierte soziale Gruppe ins gesellschaftliche
Bewusstsein trat.
Vor diesem Hintergrund veränderten sich Gegenstand und Adressat der Kritik
gleichermaßen. Kritikgegenstand waren nicht länger der absolute Wahrheitsan-
spruch der Offenbarungsreligion und die der Wesensnatur des Menschen wider-
sprechenden Ungleichheiten des Absolutismus. Statt dessen ging es um handfeste
ökonomische, soziale und politische Ungleichheiten der nationalstaatlich verfassten
kapitalistischen Klassengesellschaft, die sich in der massiven Verelendung des
vierten Standes niederschlugen und mit der postulierten Gleichheit nicht vereinbar
waren. Sofern klar wurde, dass diese Ungleichheiten bestimmte soziale Gruppen
wie die Arbeiterklasse betrafen und diese wegen ihrs Elends von den postulierten
Vernunftgleichheit ausgeschlossen waren, nahm die Gesellschaftskritik fast
zwangsläufig die Gestalt einer Ideologiekritik an, die darauf hinwies, dass die
postulierte Vernunftgleichheit angesichts der unübersehbaren materiellen Un-
gleichheit nicht realisiert und damit pure Ideologie sei.
Hierbei stellte die Ideologiekritik des 19. Jahrhunderts die Ideen einer all-
gemeinen Menschennatur, wie sie seit der Frühaufklärung formuliert worden
waren, als normatives Ideal keineswegs vollständig in Frage. Diese wurden viel-
mehr als verzeitlichte zu einem gesellschaftlichen Projekt erklärt und bildeten
somit eine implizite Bezugsfolie, vor deren Hintergrund darauf hingewiesen
wurde, dass (a) bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgrund sozialer Barrieren von
der postulierten Gleichheit ausgeschlossen seien und (b) diese Gruppen keine zu
vernachlässigenden Randgruppen darstellen, sondern als zentrale Träger von Ge-
sellschaftskritik zu begreifen seien und (c) eine Realisierung der verzeitlichten
Ideale nur auf dem Wege entsprechender sozialer Veränderungen möglich sei. Als
Adressat und Träger der Kritik rückt dementsprechend der vierte Stand ins Zent-
rum, also das Proletariat und die deklassierten Bürger, die über entsprechende
Ausbeutung- und Entfremdungserfahrungen verfügen. Ihr Thema ist keine selbst-,
sondern eine fremdverschuldete Unmündigkeit, die es auf dem Wege der Kritik zu
bearbeiten gilt, und zwar mit dem Ziel, nicht realisierte Gerechtigkeitsideale (Frei-
heit, Gleichheit) einzuklagen und den Übergang zu einer vernünftigen Gestaltung
der Welt zu ermöglichen.
III.
Diese Kritikkonzeption war im Kern auch für die Kritische Theorie gültig, wie sie
zu Beginn der 1930er Jahre am Frankfurter Institut für Sozialforschung entstand.
Zwar wurde das Etikett der »kritischen« (in Abgrenzung von der »traditionellen«)
Theorie erst seit dem gleichnamigen Aufsatz von Max Horkheimer aus dem Jahre
374 Wolfgang Bonß
1937 verwandt. Aber die damit verknüpften Intentionen waren von Anfang an
leitend, wobei das Konzept der Kritik stets gesellschaftstheoretisch verstanden
wurde. »Kritisch« war das Projekt insofern, als es darum ging, eine »Theorie der
Gesamtgesellschaft« (Horkheimer 1933, S. 161) zu entwickeln, die sich durch ein
spezifisches Erkenntnisinteresse auszeichnet und deren »einziges Geschäft in der
Beschleunigung einer Entwicklung besteht, die zur Gesellschaft ohne Ausbeutung
führen soll« (Horkheimer 1937, S. 274). Als »Theorie des historischen Verlaufs der
gegenwärtigen Epoche« (Horkheimer 1932, S. III) richtete sich die Kritische
Theorie an »die vorwärts strebenden Kräfte der Menschheit« (Horkheimer 1933,
S. 161) und verstand sich als ein »Faktor zur Verbesserung der Wirklichkeit«
(ebd.).
Der Bezug auf die »vorwärts strebenden Kräfte der Menschheit« und die Idee
einer »Gesellschaft ohne Ausbeutung« macht deutlich, dass sich die gesellschaft-
liche Entwicklung für den Frankfurter Kreis nicht auf den faktischen Zustand
moderner Gesellschaften und Kritik nicht auf empirische oder immanente Kritik
reduzieren ließ. Vielmehr orientierte man sich von Anfang an einem möglichen
Anderssein, das mit der Chiffre der Vernunft gleichgesetzt wurde. So schrieb
Horkheimer in einem Nachtrag zu seinen Ausführungen über »traditionelle und
kritische Theorie«: »das Ziel einer vernünftigen Gesellschaft […] ist in jedem
Menschen wirklich angelegt« (Horkheimer 1937, S. 630), wobei die Begründung
dieses Diktums offen blieb. Klar war allerdings, dass das Begründungsproblem
kaum im Kontext des tradierten akademischen Betriebes behandelt werden konnte.
Dies betonte vor allem Theodor W. Adorno, der mit etwas anderen Akzent-
setzungen als Horkheimer für eine neue Ortsbestimmung der philosophischen
Arbeit plädierte. So sei es eine »Illusion […] in Kraft des Denkens die Totalität des
Wirklichen zu ergreifen« (Adorno 1931, S. 325), wie dies besonders prominent
Hegel behauptet hatte. Zielte Hegels Philosophie darauf ab, die Wirklichkeit in all
ihren Facetten unter normativen wie empirischen Perspektiven auf den Begriff zu
bringen, so war ein solcher Ansatz für Adorno im 20. Jahrhundert ebenso wenig
möglich wie die Entfaltung allgemeiner Prinzipien der Menschennatur. Hiergegen
sprachen die Fortschritte der Kritik und des Kapitalismus gleichermaßen. Denn
egal, aus welcher Perspektive man sie betrachtete – die Wirklichkeit des 20.
Jahrhunderts ließ sich nicht länger als ein vernünftiges Insgesamt begreifen. Im
Gegenteil: Reduziert auf die Dimensionen des Zweckrationalen und der instru-
mentellen Vernunft bietet die Welt »allein polemisch […] dem Erkennenden als
ganze Wirklichkeit sich dar, während sie in Spuren und Trümmern die Hoffnung
gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten« (Adorno
1931, S. 325).
Hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein entscheidender Perspektivenwech-
sel im Blick auf das mögliche Anderssein als Basis und Bezugspunkt der Kritik.
Gingen Kant, Hegel oder auch Marx davon aus, dass ein »Durchbruch« der
Vernunft historisch kontingent, aber systematisch unausweichlich sei, so argu-
mentiert Adorno umgekehrt. Für ihn werden die Indikatoren für eine Durch-
setzung der Vernunft nicht stärker, sondern schwächer. Zwar hält auch er an dem
Glauben an die Möglichkeit einer richtigen und gerechten Welt fest. Aber Adorno
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 375
geht nicht mehr davon aus, dass die Idee eines möglichen Andersseins in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit immer klarer hervortritt. Im Gegenteil: Das mögli-
che Anderssein wird unschärfer, bruchstückhafter und schwieriger zu finden. Ge-
rade deshalb wird die Aufgabe aber auch wichtiger. Denn das Projekt der Gesell-
schaftskritik macht nur solange Sinn, wie in der Krise der Gegenwart und in den
Trümmern der Geschichte zumindest Spuren der Hoffnung und Splitter eines
möglichen Andersseins zu finden sind.
Hierbei hatten Horkheimer und Adorno zunächst unterschiedliche Vorstellun-
gen, wie eine solche Spurensuche zu bewältigen sei. Während Adorno das Problem
eher methodologisch reflektierte und für neue Analysestrategien mit exemplari-
schen und monographischen Akzentsetzungen plädierte (vgl. Bonß 1983), argu-
mentierte Horkheimer stärker wissenschaftsorganisatorisch. Für ihn verwies die
Kritische Theorie nicht unbedingt auf eine spezifische Methodologie, sondern eher
auf einen methodologischen Pluralismus, der seinerseits strukturiert, gesteuert und
begrenzt wurde durch eine interdisziplinäre Kooperation von begründender Philo-
sophie und erklärender Wissenschaft. Letztlich entscheidend war daher in seinen
Augen die Frage der Organisation dieser interdisziplinären Kooperation, deren
Beantwortung ihm auch und gerade bei der Gesellschaftskritik unverzichtbar
erschien.
Die Begründung und Ausführung dieser Position lässt sich in der Antrittsrede
zur Übernahme des Direktorats am Frankfurter Institut (Horkheimer 1931)
ebenso studieren wie in den »Bemerkungen über Wissenschaft und Krise« (Hork-
heimer 1932). In beiden Aufsätzen wurde die gesellschaftliche Situation als eine
prinzipiell krisenhafte beschrieben, nämlich als eine widersprüchliche Mixtur von
»vorwärts strebenden« und retardierenden Momenten, deren weitere Entwicklung
offen erschien und positiv wie negativ gedacht werden konnte. Für Horkheimer
betraf diese Krise Ökonomie und Wissenschaft gleichermaßen, und hier setzte er
andere Akzente als die meisten Weimarer Intellektuellen. Gingen Letztere davon
aus, dass die Wissenschaftsentwicklung im Prinzip positiv verlaufe, auch wenn sie
durch ökonomische Schwächen und Krisen behindert werde, so konstatierte Hork-
heimer (1932, S. 2) nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine wissenschaft-
liche Grundlagenkrise: »Die wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal
der Produktivkräfte und Produktionsmittel anderer Art: Das Maß ihrer Anwen-
dung steht in fürchterlichem Mißverhältnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und
zu den wirklichen Bedürfnissen des Menschen; dadurch wird auch ihre weitere
quantitative und qualitative Entwicklung gehemmt.«
Zwar begriff Horkheimer die Wissenschaft noch nicht als »erste Produktiv-
kraft«, wohl aber als ein zentrales Produktionsmittel, das sich in seinen Augen
keineswegs so entwickelte wie es sich entwickeln könnte. Dies nicht nur aufgrund
der unübersehbaren Praxiskrise. Mindestens ebenso wichtig ist für Horkheimer die
»innere Krise« (ebd., S. 4) der Erkenntnisproduktion, wie sie in der Trennung von
Philosophie und Wissenschaft zu Tage tritt ‹ sowie in der darüber hinaus gehenden
Verselbständigung der Einzelwissenschaften. Letztere sammeln zwar immer mehr
Detailerkenntnisse, aber sie versagen »vor dem Problem des gesellschaftlichen
Gesamtprozesses«, der gleichsam unwirklich erscheint, obwohl er »durch die sich
376 Wolfgang Bonß
verschärfenden Krisen […] und gesellschaftlichen Kämpfe […] die Realität be-
herrscht« (ebd.). An die Stelle einer systematischen Analyse der Wirklichkeit als
historische Totalität von Mensch und Natur tritt die »chaotische Spezialisierung«
der Fachdisziplinen (Horkheimer 1931, S. 40), deren instrumentelle Selektivität zu
einem unvernünftigen Bild der Realität ebenso führt wie zu einer »Vernach-
lässigung der dynamischen Beziehungen zwischen den einzelnen Gegenstands-
gebieten« (Horkheimer 1932, S. 4).
Aus dieser Diagnose ergab sich im Prinzip bereits die Lösung. Denn die
anvisierte kritische Theorie der Gesamtgesellschaft schien für Horkheimer nur in
dem Maße realisierbar, wie es gelang, die prekäre Trennung von Philosophie und
Wissenschaft zu überwinden bzw. genauer: allgemeine Sozialphilosophie und ein-
zelwissenschaftliche Sozialforschung arbeitsteilig zu vereinen und prozessual zu
verknüpfen. Hierbei fiel der Sozialphilosophie die Aufgabe zu, in Form von
allgemeinen Annahmen über die Struktur und Entwicklungsmöglichkeiten des
gesellschaftlichen Zusammenhangs die »aufs Allgemeine, ›Wesentliche‹ gerichtete
theoretische Intention« (Horkheimer 1931, S. 41) zu formulieren. Sofern derartige
Annahmen auch Ideen über ein mögliches Anderssein enthalten, ist die Sozial-
philosophie zwar der Motor der Kritik. Gleichwohl können die sozialphilosophi-
schen Überlegungen gerade wegen ihrer impliziten Normativität keine wissen-
schaftliche Objektivität beanspruchen. Sie haben eher einen auf vorwissenschaftli-
cher Erfahrung beruhenden Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit und Praxisrele-
vanz, der nur in dem Maße wissenschaftlich reformuliert werden kann, wie die
einzelwissenschaftliche Überprüfung gelingt.
Genau hier setzt nach Horkheimer die Sozialforschung an, deren Funktion darin
bestand, die allgemeinen Fragen aufzugreifen, sie nach Maßgabe der einzelwissen-
schaftlichen Standards umzuformulieren und mit dem auf dieser Ebene zur Verfü-
gung stehenden methodischen Instrumentarium umfassend zu bearbeiten. Letztlich
hatte die Sozialforschung dabei eine doppelte Aufgabe: Auf der einen Seite sollte
sie den Gegenstand der Kritik einzelwissenschaftlich präzise bestimmen. Unter
dieser Perspektive ging es um die Analyse ökonomischer, sozialer und politischer
Ungleichheiten, die sich zuspitzen, aber nicht zu dem erwarteten Umsturz der
kapitalistischen Klassengesellschaft geführt haben, wobei geklärt werden musste,
warum dies der Fall war. Auf der anderen Seite sollte die Sozialforschung aber auch
zeigen, dass die Idee eines möglichen Andersseins nicht völlig aus der Luft gegriffen
war, sondern einzelwissenschaftlich übersetzt und belegt werden kann. Unter
dieser Perspektive griffen einige Mitglieder des Frankfurter Kreises (einschließlich
Horkheimer, aber ohne Adorno) auch kulturanthropologische Studien auf wie
etwa Robert Briffaults Analysen zu »Family Sentiments« (Briffault 1933) oder
Margaret Meads Geschlecht und Temperament in drei primitiven Gesellschaften
(Mead 1935). Diese Arbeiten waren vor allem deshalb wichtig, weil sie empirische
Belege dafür zu liefern schienen, dass ein mögliches Anderssein durchaus gelebt
werden konnte. Noch mehr Aufmerksamkeit wurde allerdings den eigenen Unter-
suchungen über die Lebenslage und die Wertorientierungen von Arbeitern und
Angestellten (Fromm 1937/38) sowie über den Zusammenhang von Autorität und
Familie (Horkheimer1936) gewidmet. Diese sehr breit angelegten Untersuchungen
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 377
sollten den Zusammenhang von ökonomischer Basis, sozialer Lage sowie kulturel-
len und politischen Präferenzen herausarbeiten, wobei es ursprünglich auch darum
ging, in der empirischen Analyse widersprüchliche Spuren und Splitter eines
kritischen Bewusstseins und einer anderen Lebenspraxis zu dechiffrieren.
Bezogen auf diese Erwartung waren die Ergebnisse allerdings enttäuschend. So
wies nur eine verschwindend geringe Minderheit der befragten Arbeiter und
Angestellten einen »revolutionären Charakter« und alternative Wertorientierungen
auf. Die überwiegende Mehrheit war inkonsistent, und ein nicht geringer Anteil
offensichtlich reflexionsresistent und anfällig für autoritäre oder faschistische Ori-
entierungen. Diese Befunde waren für Horkheimer und seine Kollegen ebenso
bezeichnend wie ernüchternd und erklärten in ihren Augen zum Teil auch den Sieg
des Nationalsozialismus, den sie bereits Ende der 20er Jahre befürchteten, und der
sie selber 1933 zur Emigration zwang.
Spätestens in der Emigration sah sich der Frankfurter Kreis auch zu einer
veränderten Ortsbestimmung des kritischen Intellektuellen gezwungen, der nicht
mehr unbedingt so gefasst werden konnte wie in Lukács’ Analysen zu Geschichte
und Klassenbewußtsein (Lukács 1923). In Geschichte und Klassenbewußtsein hatte
Lukas eine einflussreiche Antwort auf die Frage gegeben, warum das Proletariat
der zentrale Träger der Kritik sein sollte. Zum einen, so Lukács, sei das Proletariat
nicht irgendeine partikulare Gruppe; als zentraler Gegner der Bourgeoisie vertrete
die Arbeiterklasse in den Klassenauseinandersetzungen vielmehr potentiell verall-
gemeinerbare Positionen. Zum anderen verfüge nur das Proletariat über die alltäg-
lichen Ausbeutungs- und Entfremdungserfahrungen in der Produktion, vor deren
Hintergrund die Ideen eines möglichen Andersseins erlebnisfundiert formuliert und
begründet werden könnten.
Diese Überlegung akzeptierte Horkheimer zwar insofern, als das kritische
Denken nicht aus sich heraus entsteht. Vielmehr gelangen »die Menschen [..] im
geschichtlichen Gang zur Erkenntnis ihres Tuns und begreifen damit den Wider-
spruch in ihrer Existenz« (Horkheimer 1937, S. 266). Aber auch wenn die kritische
Erkenntnis entsprechende Praxiserfahrungen voraussetzt und die Arbeiterklasse
hier einen strukturellen Erkenntnisvorteil hat, so bildet »die Situation des Proleta-
riats […] keine Garantie der richtigen Erkenntnis« (ebd., S. 267). Denn »an der
Oberfläche sieht [..] die Welt auch für das Proletariat anders aus« (ebd.); hier geht
es oft genug um das blanke Überleben, und da dies mit tiefergehenden Wahrheiten
nicht unbedingt etwas zu tun hat, konnte die Kritische Theorie für Horkheimer
keineswegs »in der Formulierung der jeweiligen Gefühle und Vorstellungen einer
Klasse« (ebd., S. 268) bestehen.
Diese Einschätzung, die nicht nur durch die politische Entwicklung insbe-
sondere in Deutschland, sondern auch durch die stalinistischen Schauprozesse
bestätigt wurde, warf allerdings die Frage auf, wer überhaupt noch Produzent und
Adressat Kritischer Theorie sein könne und aufgrund welcher Kriterien. Hierauf
gab Horkheimer keine klare Antwort, und wenn er davon sprach, dass es nur ein
»paar Menschen (seien), zu denen die Wahrheit sich geflüchtet hat« (Horkheimer
1937, zit. n. Dubiel 1978, S. 69), dann schob er die Kriterienfrage eher der Wahrheit
selber zu. Auf der anderen Seite hob er die Bedeutung eines vergleichsweise
378 Wolfgang Bonß
IV.
Im Vergleich zu den Argumentationen zu Beginn der 1930er Jahre verweist dies auf
eine skeptische Rückzugsposition mit elitären Akzentsetzungen, die von der zwei-
ten Generation der Kritischen Theorie so nicht unbedingt geteilt wurde. Zwar
gingen auch deren Vertreter davon aus, dass die Idee kritischer Theorie sinnlos
wäre, wenn es nicht die gesellschaftliche Erfahrung eines »möglichen Andersseins«
und eines »gesellschaftlichen Insgesamt« gäbe. Im Unterschied zu Horkheimer und
Adorno versuchten sie die Basis dieser Erfahrungen jedoch genauer zu bestimmen
und auf die veränderten gesellschaftlichen Erfahrungen nach 1945 zu beziehen.
Exemplarisch hierfür steht Jürgen Habermas, der schon früh die Frage nach der
Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik stellte und sich hierbei vor
allem mit der »philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« (Haber-
mas 1957) beschäftigte.
In seiner hierauf aufbauenden Ortsbestimmung des Marxismus bezeichnete er
diesen explizit als »Kritik« und damit als eine Theorieform »zwischen Philosophie
und Wissenschaft« (vgl. Habermas 1963, insbes. 244ff.). Zwar bezog sich Habermas
bei dieser Charakterisierung an keiner Stelle auf die Thesen der Kritischen Theorie
aus den 1930er Jahren – dies geschah erst fast zwei Jahrzehnte später in den
Überlegungen zu den »Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie« (vgl. Ha-
bermas 1981, S. 555ff.). Aber seine Argumentationen knüpften durchaus an die
frühen Überlegungen an. So betont auch Habermas, dass der Marxismus als
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 379
Kritische Theorie eine Krisenwissenschaft sei und den Status »einer explizit in
politischer Absicht entworfenen, dabei wissenschaftlich falsifizierbaren Ge-
schichtsphilosophie« (Habermas 1963, S. 244) habe. Ihr kritischer Gehalt ergibt
sich aus einer spezifischen Kontrastierung von Möglichkeit und Wirklichkeit, vor
deren Hintergrund in einer wissenschaftlicher Überprüfung zugänglichen Form
zentrale gesellschaftliche Krisenpotentiale benannt und Möglichkeiten ihrer posi-
tiven Auflösung angedeutet werden können.
Gleichwohl muss das Kritikpotential zeitdiagnostisch aktualisiert und dement-
sprechend anders gefasst werden. Denn die gesellschaftlichen Entwicklungstrends
haben sich verändert, wobei für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mindestens
vier Akzentverschiebungen zu notieren sind: Zum einen ist unter den Bedingungen
der modernisierten Moderne die Trennung von Staat und Gesellschaft einer wech-
selseitigen Verflechtung beider Sphären gewichen, und dies hat zur Folge, dass die
ökonomischen Widersprüche auch als politische beschrieben werden können. Zum
zweiten haben sich die Bedingungen der Politisierung insofern gewandelt, als »in
den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern der Lebensstandard […] so weit [..]
gestiegen [ist], dass sich das Interesse an der Emanzipation der Gesellschaft nicht
mehr unmittelbar in ökonomischen Ausdrücken artikulieren kann« (Habermas
1963, S. 228). Unter diesen Vorzeichen hat sich, zum dritten, der Adressat der
Theorie verändert. Denn der »designierte Träger einer künftigen sozialistischen
Revolution, das Proletariat [hat sich] als Proletariat aufgelöst« (ebd., S. 229). Zwar
gibt es nach wie vor ökonomisch bedingte soziale Ungleichheiten. Aber diese
schlagen im Alltag nur noch abgepuffert durch, weshalb »ein Klassenbewußtsein,
zumal ein revolutionäres, […] auch in den Kernschichten der Arbeiterbewegung
nicht festzustellen« ist (ebd.). Hinzu kommen schließlich die allmählich bewusst
gewordenen Negativerfahrungen der russischen Revolution, die eben nicht zu
mehr Freiheit und Gerechtigkeit geführt hat, sondern zu einer Funktionärs- und
Kaderherrschaft, an deren Ende der Gulag stand.
Zwar war die Intention der Marxschen Kritik für Habermas hierdurch keines-
wegs falsifiziert. Denn auch unter den veränderten Bedingungen stimmen die
Möglichkeiten der Gesellschaft mit ihrer Wirklichkeit nicht überein. Zugleich, so
das Fazit seiner Heidelberger Antrittsvorlesung, ist das Interesse an Mündigkeit als
Basis und Bezugspunkt der Kritik in jedem Menschen angelegt. Bemerkbar macht
sich dieses Interesse vor allem dann, wenn es verletzt wird. Wie Habermas implizit
bereits in den frühen Schriften angedeutet und in der Theorie des kommunikativen
Handelns (Habermas 1981, insbes. S. 173ff.) explizit ausgeführt hat, geschieht dies
nicht unbedingt in der Sphäre von Ökonomie und Arbeit, sondern eher unter
Rekurs auf den Bereich der Lebenswelt. Mit der Unterscheidung von »System-«
und »Sozialintegration« (Lockwood) und der parallel gedachten Kontrastierung
von »System« und »Lebenswelt« grenzt sich Habermas von Marx und Lukács ab
und kritisiert deren Beschreibungen als systematisch unterkomplex. So zeige die
Entwicklung der fortgeschrittenen Industriegesellschaften, dass es letztlich nicht
die Systemkrisen sind, die zu Kritik und Protest führen. Kritik und Protest
entstehen vielmehr durch eine Kolonialisierung der Lebenswelt, nämlich dann,
wenn die Imperative der System- auf die der Sozialintegration in unangemessener
380 Wolfgang Bonß
thodologischer Hinsicht darauf hin, dass Kritische Theorie letztlich doppelt an-
setzen muss: Sie ist einerseits immanente, andererseits normative Kritik. Als imma-
nente Kritik zielt sie auf das, was Habermas als die Nachkonstruktion sozialer
Entwicklungslogiken beschreibt, als normative Kritik hingegen auf die (Selbst-)
Reflexion der an Mündigkeit interessierten Subjekte. In seiner Abgrenzung von
Nachkonstruktion und Selbstreflexion (vgl. Habermas 1973a, S. 411ff.) setzte Ha-
bermas die Akzente allerdings etwas anders und beschränkte das Etikett der Kritik
auf den Bereich der Selbstreflexion, während die Nachkonstruktionen eher den
Charakter positiver Wissenschaft annehmen. Denn Nachkonstruktionen, so seine
These, beziehen sich auf objektivierbare Gegenstände und anonyme Regelsysteme,
denen beliebige Subjekte mit entsprechenden Kompetenzen folgen; hier geht es
also um Funktionszusammenhänge und nicht um praktische Veränderung sozialer
Verhältnisse. Genau das hingegen ist Thema der Kritik, die sich nicht auf objek-
tivierbare Gegenstände beschränkt, sondern deren Objektivierbarkeit in Frage
stellt und sich immer »auf ein Partikulares, nämlich auf den besonderen Bildungs-
prozeß einer Ich- oder Gruppenidentität erstreckt« (ebd., S. 412).
Sofern Kritik »Unbewußtes praktisch folgenreich bewusst macht und die De-
terminanten eines falschen Bewußtseins verändert« (ebd., S. 413) ist sie im Unter-
schied zur Nachkonstruktion stets praktisch orientiert, wobei Habermas weiter-
führend zwischen sozialer und politischer Praxis unterscheidet. Unter sozialer
Praxis verstand er den »geschichtlichen Konstitutionszusammenhang einer Interes-
senlage, der die Theorie gleichsam durch die Akte der Erkenntnis hindurch noch
angehört« (Habermas 1971, S. 10), unter politischer Praxis hingegen den bewussten
Versuch, »das bestehende Institutionensystem umzuwälzen«. Als soziale Praxis
verweist Kritische Theorie auf den Versuch, mit den Mitteln von Philosophie und
Wissenschaft die in der Gesellschaft enthaltenen Momente eines möglichen An-
dersseins ebenso herauszuarbeiten wie die immanenten Widersprüche der gesell-
schaftlichen Organisation. In dem Maße wie ihr dies gelingt bleibt Kritische
Theorie – und hier grenzt sich Habermas von Horkheimer wie von Adorno ab –
nicht für sich stehen; sie zielt vielmehr über den Weg der Selbstreflexion auf
politische Veränderungen und drängt somit zur politischen Praxis, ohne mit dieser
identisch zu werden.
V.
obachten. Zugleich zeichnet sich in den 1980er und 1990er Jahren eine Verflachung
des Kritikkonzepts ab. So wurde die ebenso bedenkenswerte wie plakative These,
dass Kritik nur unter Rekurs auf quasitranszendentale Überlegungen begründet
werden könne, kaum aufgegriffen. Statt dessen schälte sich ein ubiquitäres und
zugleich abgeschwächtes Verständnis von Kritik heraus, wobei die Abschwächung
und Relativierung der Kritik höchst unterschiedlich begründet wird.
Für eine eher konventionelle Begründung der veränderten Kritikbedingungen
stehen die Argumentationen von Klaus Holz (1990) oder Georg Vobruba (1999),
die sich nach dem ›langen Schweigen‹ der 80er Jahre mit als erste an die Frage der
Bedingung der Möglichkeit von Kritik heute wagten. So konstatierte Holz als
Ausgangspunkt für die »Kritik nach der ›Moderne‹« ein doppeltes Dilemma: Zum
einen ist die Moderne seit Kant mit der Unmöglichkeit substanzieller Kritik
konfrontiert, zum anderen werden alle »festen« Kritikmaßstäbe angesichts der
Pluralisierung möglicher Kritik nachhaltig relativiert. Dass diese Entwicklung zu
einer grundlegenden Veränderung des Konzepts der Kritik zwingt, ist klar. Frag-
lich ist allerdings, in welche Richtung diese Veränderung geht. Holz und Vobruba
ziehen den im Prinzip seit Popper (1958) bekannten Schluss, dass unter dieser
Voraussetzung zumindest jegliche normative Kritik unhaltbar bis ideologisch
werde. Als Konsequenz raten raten daher beide zu einem Verzicht auf derartige
Konzepte. Denn »das Problem ist unlösbar, weil ein normativer Kritikmaßstab
sozialwissenschaftlich nicht begründbar ist. Es ist unnötig, weil es auf einen
sozialwissenschaftlich begründbaren Kritikmaßstab gar nicht ankommt« (Vobruba
1999, S. 34). Statt immer wieder nach einem solchen Maßstab zu suchen, sollten
sich die Sozialwissenschaften auf empirische und immanente Kritik beschränken,
wobei freilich offen bleibt, ob diese ›neue Bescheidenheit‹ nicht letztlich mit einem
Verzicht auf Gesellschaftskritik überhaupt erkauft wird.
Während Holz und Vobruba sich eher auf den Kritikbegriff des Kritischen
Rationalismus zurück ziehen, verweisen andere Autoren auf reale gesellschaftliche
Veränderungen, die angeblich zu einer Umakzentuierung und vielleicht auch zur
einer Aufgabe bisheriger Kritikansprüche zwingen. Besonders pointiert sind hier
die Ausführungen von Scott Lash über »Informationcritique« (Lash 2000a, 2000b,
S. 1 ff.), die vor dem Hintergrund einer expliziten Auseinandersetzung mit dem
Konzept der Kritik (vgl. Lash 2000b, S. 6ff.) auf die These eines Strukturwandels
der Kritischen Theorie unter den Bedingungen der »Informationsgesellschaft«
hinauslaufen. In Abgrenzung von den Konzepten, wie sie von Bell (1973) bis
Castells (1996) entwickelt worden sind, interpretiert Lash den Übergang zur
Informationsgesellschaft weniger als Übergang von einer Güter- zu einer Wissens-
gesellschaft. Statt dessen richtet er sein Augenmerk auf die »primary qualities of
information itself« (Lash 2000b, S. 2), die er als »flow, disembeddedness, spatial
compression, temporal compression, real time relations« (ebd.) beschreibt. Unter
dieser Perspektive bedeutet das Informationszeitalter gerade nicht mehr Wissen
i.S.v. Wissensakkumulation und präziserer Erkenntnisbildung. Statt dessen spricht
Lash von der »Disinformed Information Society« (Lash 2000b, S. 141) und stellt
die sinkende Halbwertzeit des Wissens, die Relativierung und Verflüchtigung von
(Wissens-)Strukturen sowie die generelle Beschleunigung des strukturellen Wan-
384 Wolfgang Bonß
S. 7). Was sich abzeichnet, ist eine »schöpferische Selbstzerstörung der von Natio-
nalstaaten dominierten, ›legitimen‹ Weltordnung« (ebd., S. 14), wobei dieser Pro-
zess als Erosion alter Grenzziehungen und als Herausbildung eines neuen Struk-
turierungsmuster gleichermaßen beschrieben werden kann. Ähnlich wie bei Lash
bleibt das neue Strukturierungsmuster vergleichsweise offen und unscharf, und
hierfür gibt es auch einen Grund. Denn jenseits des Streits um die empirische
Bedeutung der Globalisierung wird das neue Strukturierungsmuster nicht als ein
bereits realisiertes, sondern ein sich ankündigendes beschrieben. Die Globalisie-
rung, so Beck, steckt erst in den Anfängen, aber sie ist unausweichlich, wobei gilt:
»Der Widerstand gegen Globalisierung beschleunigt und legitimiert dieselbe«
(ebd., S. 415) und: die »Globalisierung schreitet durch eine paradoxe Verbrüderung
ihrer Gegner voran« (ebd., S. 419).
Von ihrer Logik her erinnert diese Konstruktion an die Marxsche Analyse des
Kapitalismus im 19. Jahrhundert. In der Kritik der politischen Ökonomie be-
schrieb Marx den Kapitalismus ebenfalls als eine neue Form der Vergesellschaftung,
die noch keineswegs dominant sei, aber sich nicht aufhalten lasse und alle traditio-
nalen Strukturierungsmuster hinwegfege und verdampfen lasse. Sofern diese Per-
spektive zutraf, erschienen alle Beschreibungen, die sich nicht an diesem neuen
Strukturierungsmuster orientierten, per definitionem veraltet und konnten als
›ideologisch‹ kritisiert werden, wobei sich die Kritik keineswegs gegen die Dyna-
mik des Kapitalismus an sich richtete, sondern gegen dessen dysfunktionale Ne-
benfolgen, die sich in Ausbeutung und Ungleichheit niederschlagen und am Wider-
spruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen festgemacht wurden.
Das Becksche Kritikkonzept ist in mancher Hinsicht ähnlich angelegt. So argu-
mentiert die Kritische Theorie in kosmopolitischer Absicht nicht gegen die Dyna-
mik der Globalisierung. Sie fragt vielmehr »nach den Widersprüchen, Dilemmata
und den ungesehenen, ungewollten Nebenfolgen einer sich kosmopolitisierenden
Moderne und zieht aus der Spannung zwischen der politischen Selbstbeschreibung
und deren sozialwissenschaftlicher Beobachtung ihre kritische Definitionsmacht«
(ebd., S. 67).
Ein Spannnungsverhältnis zwischen dem politischen Handeln und der wissen-
schaftlichen Beobachtung entsteht vor allem dann, wenn das Handeln durch einen
»nationalen Blick« geprägt ist, die wissenschaftliche Beobachtung hingegen auf der
Grundlage eines »methodologischen Kosmopolitismus« erfolgt. Letztlich ist es
genau die Diskrepanz der Blicke, die eine »kosmopolitische Kritik der national-
staatlich zentrierten Gesellschaft und Politik, Soziologie und Politikwissenschaft«
(ebd., S. 53) ermöglicht. Denn aus der Perspektive des methodologischen Kosmo-
politismus wird deutlich, dass das politische Selbstverständnis nationalstaatlich
verengt ist, und dies erlaubt eine Ideologiekritik (und vielleicht auch eine »In-
formationcritique«), die sich durch dreierlei auszeichnet:
(a) Zwar verfügt die Neue Kritische Theorie mit dem kosmopolitischen Blick
über ein vergleichsweise eindeutiges Kritikpotential, das nach Beck aber keines-
wegs dogmatisch gehandhabt wird. Sofern das in der sich ankündigendender
Globalisierung aufscheinende mögliche Anderssein offen und unbestimmt ist, muss
die Neue Kritische Theorie in letzter Instanz der »Logik der Selbstkritik« (ebd.,
386 Wolfgang Bonß
S. 444) folgen. Sie ist zwar nicht unbedingt relativistisch, wohl aber konstruk-
tivistisch-selbstkritisch akzentuiert. Denn unter der Voraussetzung der Verflüssi-
gung und Kontingenz der reflexiven Moderne lassen sich für Beck wie für Lash
keine klaren normativen Optionen der Kritik mehr angeben. Dies hat zur Folge,
dass Kritik vorrangig empirisch-analytisch und weniger normativ verstanden wird.
Zwar gibt es sehr wohl normative Bezugspunkte und Verweise auf ein mögliches
Anderssein (»Anerkennung der Andersheit des Anderen«, ebd., S. 412), »Zustim-
mung, Selbstlegitimation, Menschheitsgefahren« (ebd., S. 433). Aber diese bleiben
vergleichsweise blass und unexpliziert, und die entscheidenden Argumente ergeben
sich auf der Grundlage der kosmopolitischen Perspektive auch eher aus der em-
pirischen und immanenten Kritik.
(b) Vor dem Hintergrund der kosmopolitischen Perspektive als Basis und
Bezugspunkt zielt die Kritik nicht nur auf das Aufzeigen von Widersprüchen,
Dilemmata und Nebenfolgen: mindestens ebenso wichtig ist das Aufzeigen der
Kontingenzen der gesellschaftlichen Entwicklung. In einer verflüssigten, offenen
Gesellschaft ist zwar keineswegs alles möglich. Gleichwohl spielen Kontingenzen
in der Zweiten Moderne eine weit größere Rolle als in der Ersten, und zwar
sowohl quantitativ als auch qualitativ. Denn die Entwicklung geht weder linear
aufwärts oder abwärts, sondern kann in höchst unterschiedliche Richtungen füh-
ren. So sind »Chancen der kosmopolitischen Erneuerung der Staatlichkeit« (ebd.,
S. 404) durchaus vorstellbar, aber es gibt auch die »Nachtseiten des Kosmopolitis-
mus« (ebd.), die auf die Möglichkeit einer Universalisierung und Depolitisierung
von Herrschaft in einer »verwalteten Welt« verweisen, und schließlich kann auch
eine desaströse Zukunft im Sinne einer Katastrophengesellschaft nicht ausge-
schlossen werden. Welche der verschiedenen Varianten und welche Mischformen
realisiert werden, ist eine Frage der Praxis und kann auf keinen Fall von einer
Theorie vorentschieden werden, deren Aufgabe eher darin liegt, kontingente Ent-
wicklungsmöglichkeiten und -szenarien zu konstruieren und experimentell auszu-
testen.
(c) Zum dritten schließlich hat die Neue Kritische Theorie keine spezifischen
Adressaten, und es gibt auch keine bestimmten Träger der Kritik. Weder rekurriert
Beck, wie Habermas, auf alle diskursorientierten bzw. dem zwanglosen Zwang des
besseren Arguments zugänglichen Menschen noch auf bestimmte Protestgruppen
oder Neue soziale Bewegungen. Statt dessen benennt er eine Vielzahl möglicher
Adressaten, wobei die Bandbreite von den politischen Konsumenten bis hin zu
Administration und Eliten reicht. Zwar wendet sich Beck insbesondere an die
durch Individualisierung-, Pluralisierungs- Globalisierung- und Desintegrations-
erfahrungen geprägten Individuen, deren Freiheits-, (Un-)Gleichheits-, Leistungs-
und Integrationsvorstellungen in den klassisch-nationalstaatlich geprägten Ab-
grenzungen nicht aufgehen. Aber diese Adressaten werden nicht unbedingt als
potentielle Akteure, sondern eher als Globalisierungsbetroffene zum Thema, und
dies macht deutlich, dass die Neue Kritische Theorie im Sinne Becks eher praxisab-
stinent angelegt ist. Denn sie zielt nicht unbedingt auf die Beförderung von
Selbstreflexion ab, sondern auf Konstruktion und Nachkonstruktion von Ambiva-
lenzen, Nebenfolgen und Kontingenzen.
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 387
VI.
Sowohl Lash als auch Beck vertreten die These, dass Kritik unter den Bedingungen
der Globalisierung und/oder der Informationsgesellschaft anders formuliert wer-
den müsse als in der einfachen Moderne. Sie arbeiten sich aber keineswegs sys-
tematisch an der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Kritik ab. Dies
ist um so bedauerlicher, als diese Frage vor allem dann wichtig wird, wenn die
Strukturveränderungen der Vergesellschaftung tatsächlich so zutreffen sollten wie
sie behauptet werden. Denn unter der Voraussetzung einer Verflüssigung der
Kritik, einer wachsenden Kontingenzorientierung (bei gleichzeitig sinkender Ein-
deutigkeit) und angesichts der Tatsache, dass das mögliche Anderssein selbst kon-
tingent wird und als Emanzipation und Katastrophe gleichermaßen gedacht wer-
den kann, scheint sich nicht nur das Verhältnis zwischen Kritik und Praxis zu
verändern. Vielmehr kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die ›bodenlos‹
gewordene Kritik aller Kriterien verlustig geht und somit kaum noch jene Funk-
tionen erfüllen kann, die von der Gesellschaftskritik bislang erwartet wurden.
Genau hier setzt die Debatte um den »kritischen Blick« (Wenzel 2002) an, die
sich explizit mit der Begründbarkeit und Möglichkeit von Gesellschaftskritik
beschäftigt und zusätzliche Differenzierungen liefert. Den Auftakt zu dieser De-
batte lieferte Michael Walzer, der schon in den 1980er Jahren versuchte, »einen
philosophischen Rahmen für das Verständnis von Gesellschaftskritik als einer
gesellschaftlichen Praxis« (Walzer 1990, S. 7) zu liefern. Hierbei unterschied er drei
Traditionen von Gesellschaftskritik, die er als »Pfad der Entdeckung«, »Pfad der
Erfindung« und »Pfad der Interpretation« bezeichnete (ebd., S. 11 ff.). Bei der
ersten Variante, die vor allem mit Beispielen aus der Religionsgeschichte illustriert
werden kann, liegt die Quelle der Kritik in einer Offenbarung, aus der sich
bestimmte moralische Gebote ergeben, und zwar letztlich begründungsfrei. Eine
solche Offenbarung führte beispielsweise Luther zu seiner Kritik der Amtskirche,
und wenn Luther darauf hinwies, dass er »nicht durch Zeugnisse der Schrift und
klare Vernunftgründe überzeugt« werden könne und eine Widerrufung seiner
Thesen »wider das Gewissen« sei, dann zog er eindeutige Grenzen für eine
vollständige Begründbarkeit der Kritik. Ganz anders akzentuiert ist der »Pfad der
Erfindung«, der für Walzer mit Descartes beginnt und bei Horkheimer, Habermas
oder Rawls endet. Hier entsteht Kritik nicht aus einer irrationalen Offenbarung,
sondern aus einer rationalen Konstruktion, die moralische Gebote (oder Verfahren
zu ihrer Gewinnung) theoretisch begründet und damit »erfindet«, wobei der Praxis
die Aufgabe der Realisierung dieser Erfindungen zufällt.
Der »Pfad der Interpretation« schließlich verweist auf eine Art pragmatische
Zwischenposition, die Walzer anhand eines Gedankenexperiments erläutert, das
implizit gegen Rawls und Habermas gerichtet ist (ebd., S. 22ff.). Die von Rawls bis
Habermas formulierten Ethiken machen nach Walzer nur Sinn für eine Gruppe
Reisender aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Sprachen, die
sich irgendwie auf gemeinsame Normen verständigen müssen. Das kann die
Gruppe nur, wenn alle Beteiligten, zumindest zeitweise, davon ablassen, auf ihren
je eigenen Praktiken und Werten zu beharren. Aber die auf diese Weise erfundenen
388 Wolfgang Bonß
Regeln und Gebote haben nicht zwangsläufig Geltung, wenn die Reisenden wieder
in ihre Kulturen und Lebenswelten zurück kehren. Dort können sie allenfalls den
Status von regulativen Ideen haben, die vor dem Hintergrund einsozialisierter
Werte und Normen interpretiert und angepasst werden müssen, wobei die ent-
scheidenden Auslöser der Kritik auch nicht in den erfundenen Regeln zu sehen
sind, sondern im praktischen Unbehagen an den konkreten Verhältnissen.
So verdienstvoll die Verdienste der Varianten der »Entdeckung« und »Erfin-
dung« historisch gesehen auch sein mögen – für die Begründung von Kritik in
modernisiert-modernen Gesellschaften sind sie nach Walzer unzureichend. Dies
gilt nicht nur für diejenigen Konzepte, die auf (meist hoch problematische) Strate-
gien der »Offenbarung« rekurrieren, sondern auch für jene Ansätze, die auf dem
Wege der Konstruktion allgemeine Regeln und Normen zu begründen versuchen.
Dass dies schief gehen muss, lässt sich für Walzer nicht zuletzt am Beispiel der
Kritischen Theorie studieren. So ist Horkheimer in seinen Augen ein typisches
Beispiel für jene Leute, »die eine gute Theorie haben und trotzdem keine präzise
und rechtzeitige Kritik hervorbringen« (Walzer 2002, S. 28). Die Bedingung der
Möglichkeit von Kritik, so seine Schlussfolgerung, liege nicht in einer guten
Theorie, sondern in spezifischen Tugenden, also in praktischen Gesinnungen, die
auf die Verwirklichung moralischer Werte ausgerichtet sind. Woher diese Tugenden
kommen, ob sie angeboren oder einsozialisiert sind und wie sie sich entwickeln
bzw. verändern, ist für Walzer (im Unterschied zu Alasdair MacIntyre (1987))
nicht von Interesse; er beharrt allein auf dem Punkt, dass das auslösende Moment
für praktisch wirksame Kritik nicht in der theoretischen Reflexion liegt, sondern
vor allem in drei Tugenden, nämlich in Mut, Mitleid (»compassion«) und Augen-
maß.
Mit diesen Thesen stieß Walzer auf erheblichen Widerspruch, und zwar nicht
nur bei Ralf Dahrendorf (2002), sondern auch bei Axel Honneth (2002), der in
seiner Entgegnung eine wichtige weiterführende Differenzbildung vornahm. Für
Honneth ist im Unterschied zu Walzer die Gleichsetzung von intellektueller
Tätigkeit und Gesellschaftskritik historisch wie systematisch nicht mehr möglich.
So hat sich die Funktion der Intellektuellen in den Informations-, Wissens- und
Mediengesellschaften erheblich geändert. Sie sind nicht mehr Außenseiter und
Randfiguren, sondern im Zuge der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft selbst
»normalisiert« worden. Mit ihren Analysen und Kommentaren erfüllen sie wich-
tige Aufgaben der Wissensbeschaffung, Symbolanalyse und Entscheidungsvor-
bereitung, und bei der in diesen Zusammenhängen formulierten Kritik »geht es um
die Korrektur von Sichtweisen öffentlicher Belange innerhalb des in der demo-
kratischen Öffentlichkeit akzeptierten Beschreibungssystems« (Honneth 2002,
S. 67). Diese Form der Kritik darf mit Gesellschaftskritik freilich nicht verwechselt
werden. Bei Gesellschaftskritik geht es nicht um die Veränderung von Sichtweisen
innerhalb der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, sondern »um die Hinterfra-
gung jenes Beschreibungssystems selber« (ebd.). Im Unterschied zur normalisier-
ten und ubiquitär gewordenen Kritik interner Blockaden und Unzulänglichkeiten
stellt die Gesellschaftskritik die Frage nach dem möglichen Anderssein in einer
grundsätzlichen Form: »Hinterfragt wird nicht die vorherrschende Deutung eines
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 389
keitserfahrungen« bilden für Honneth daher die unverzichtbare Basis und den
Bezugspunkt einer Kritik, deren Gegenstand in Anschluss an Habermas als »Pa-
thologien der kapitalistischen Gesellschaft« (ebd., S. 25) beschrieben wird und
später als »Paradoxien kapitalistischer Modernisierung« (Honneth 2001, S. 62).
Derartige Paradoxien sind krisenhafte Störungen der Vergesellschaftung, die in
empirischer Hinsicht auf unterschiedlichen Ebenen identifiziert werden können
und dann gegeben sind, »wenn durch dieselben Mechanismen, die moralische,
rechtliche und kulturelle Fortschritte zustande bringen, diese normativen Errun-
genschaften auch wieder gefährdet (werden), weil der Kreis der von ihnen tatsäch-
lich Profitierenden strukturell reduziert wird« (ebd.).
Diese Formulierung erinnert an die Becksche These von den »Nebenfolgen« der
Modernisierungsprozesse, und Honneth bezieht sich indirekt auch auf Beck, wenn
für ihn »die reflexive Modernisierung […] ein zutiefst paradoxer Prozeß« ist, den
es im Rahmen Kritischer Theorie »auf breiter Ebene empirisch zu untersuchen«
gilt (ebd., S. 63). Aber ungeachtet der sich hier andeutenden Nähen in der Dia-
gnostik bestehen in der Konzeption des Kritikbegriffs und des möglichen Anders-
seins erhebliche Differenzen. Abgesehen davon, dass Honneth im Unterschied zu
Beck die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Kritik vor dem Hinter-
grund der Entwicklungsschritte der kritischen Theorie explizit zu begründen
versucht, hält er an Idee der Möglichkeit einer ›vernünftigen‹ Welt fest und
versucht zugleich, auch potentielle Träger zu benennen. Während Beck das mögli-
che Anderssein im Spannungsfeld zwischen positivem Kosmopolitismus und poten-
tieller Katastrophengesellschaft weitgehend kontingent beschreibt (und an dieser
Stelle unfreiwillige Nähen zu Niklas Luhmann aufweist), sucht Honneth unter
Bezug auf konkretes Protestverhalten nach den schon von Adorno beschworenen
Spuren und Splittern einer Welt jenseits der instrumentellen Vernunft. Zwar wird
diese potentiell vernünftige Welt an keiner Stelle positiv bestimmt und auch nicht
unbedingt mit bestimmtensozialen Gruppen in Verbindung gebracht. Aber auch
wenn in empirischer und analytischer Hinsicht die Katastrophengesellschaft als eine
mögliche Option nicht ausgeschlossen wird, so weigert sich Honneth, diese Op-
tion auch unter normativen Perspektiven zu akzeptieren, da dies letztlich ein Ende
der Möglichkeit von Gesellschaftskritik bedeuten würde.
Gegenüber den von Beck und Lash formulierten Thesen ist dieser Einwand
insofern bedenkenswert, als bei beiden Zweifel bestehen können, ob nicht die von
ihnen postulierte veränderte Kritik in letzter Instanz auf einen Abschied von der
Idee der Gesellschaftskritik hinausläuft. Umgekehrt ist an Honneth die Frage zu
stellen, ob die von ihm in Anschluss an Habermas entwickelten Argumentationen
ausreichen, um am Projekt der Gesellschaftskritik unter den Bedingungen einer
kontingenten Moderne nicht nur mit guten Gründen, sondern auch mit em-
pirischen Indikatoren festhalten zu können. Die Antwort auf beide Fragen ist nach
wie vor offen.
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 391
Literatur
Alex Demirovic, geb. 1952, lehrt Soziologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Neuere
Veröffentlichungen: Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kritischen
Theorie zur Frankfurter Schule (Frankfurt a. M. 1999); (Hg.:) Komplexität und Emanzipation.
Kritische Gesellschaftstheorie und die Herausforderung der Systemtheorie Niklas Luhmanns
(Münster 2001)
Wolfgang Bonß, geb. 1952, Professor für Allgemeine Soziologie an der Sozialwissenschaftli-
chen Fakultät der Universität der Bundeswehr München-Neubiberg. Neuere Veröffentli-
chungen: Vom Risiko. Ungewißheit und Unsicherheit in der Moderne (Hamburg 1995); Was
wird aus der Erwerbsgesellschaft?, in: Ulrich Beck (Hg.): Die Zukunft von Arbeit und
Demokratie (Frankfurt 2000); (Hg. zus. mit Ulrich Beck): Die Modernisierung der Moderne
(Frankfurt a. M. 2001)
Michael Bruch, geb. 1963, wissenschaftlicher Assistent an der Bergischen Universität Wup-
pertal. Neuere Veröffentlichungen: Herrschaft in der modernen Gesellschaft. Zur Bedeutung
des Organisationsverhältnisses in kritischen Theorien der Gesellschaft (Wiesbaden 2000); (zus.
mit Klaus Türk und Thomas Lemke:) Organisation in der modernen Gesellschaft. Eine
historische Einführung (Wiesbaden 2002)
Andrea Dorothea Bührmann, geb. 1961, Privatdozentin an der Universität Münster. Neuere
Veröffentlichungen: (Hg. zus. mit Hannelore Bublitz, Christine Hanke und Andrea Seier:)
Das Wuchern der Diskurse. Perspektiven der Diskursanalyse Foucaults (Frankfurt a. M./New
York 1999); (zus. mit Angelika Diezinger und Sigrid Metz-Göckel:) Arbeit – Sozialisation –
Sexualität. Zentrale Felder der sozialwissenschaftlichen Frauen- bzw. Geschlechterforschung,
Bd. I der Lehrbuchreihe: Einführung in die sozialwissenschaftliche Frauen- bzw. Geschlech-
terforschung (Opladen 2000)
Alexander García Düttmann, lehrt Philosophie an der Middlesex Universität in London.
Neuere Veröffentlichungen: Freunde und Feinde (Wien 1999); Kunstende (Frankfurt a. M.
2000), Philosophie der Übertreibung (Frankfurt a. M. 2003)
Christoph Görg, lehrt Politikwissenschaft an der Universität/GH Kassel. Neuere Veröffentli-
chungen: Gesellschaftliche Naturverhältnisse (Münster 1999); (Hg. zus. mit Uli Brand:)
Mythen globalen Umweltmanagements. »Rio + 10« und die Sackgassen nachhaltiger Ent-
wicklung (Münster 2002); Regulation der Naturverhältnisse (Münster 2003)
Lena Inowlocki, lehrt Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.
Neuere Veröffentlichung: Sich in die Geschichte hineinreden. Biographische Fallanalysen
rechtsextremer Gruppenzugehörigkeit (Frankfurt a. M. 2000)
Matthias Kettner, geb. 1955, Professor für Philosophie an der Fakultät für das studium
fundamentale der Privatuniversität Witten/Herdecke. Neuere Veröffentlichungen: (Hg.:) An-
gewandte Ethik als Politikum (Frankfurt a. M. 2000); Die Konzeption der Bioethik von
Bernard Gert, Charles M. Culver und K. Danner Clouser, in: Marcus Düwell/Klaus Steig-
leder (Hg.): Bioethik. Eine Einführung (Frankfurt a. M. 2002)
Boy Lüthje, geb. 1959, lehrt am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolf-
gang Goethe-Universität Frankfurt a. M., wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für So-
zialforschung in Frankfurt a. M. Neuere Veröffentlichungen: Standort Silicon Valley – Öko-
nomie und Politik der vernetzten Massenproduktion (Frankfurt a. M./New York 2001);
394 Die Autorinnen und Autoren des Bandes