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Alex Demirovic (Hrsg.

Modelle kritischer
Gesellschaftstheorie
Traditionen und Perspektiven
der Kritischen Theorie
Modelle kritischer Gesellschaftstheorie
Modelle kritischer
Gesellschaftstheorie
Traditionen und Perspektiven
der Kritischen Theorie

Herausgegeben von Alex Demirovic

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek
Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
über <http://dnb.ddb.de> abrufbar.

ISBN 978-3-476-01849-6
ISBN 978-3-476-02788-7 (eBook)
DOI 10.1007/978-3-476-02788-7

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Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

© 2003 Springer-Verlag GmbH Deutschland


6STQSàOHMJDI erschienen bei J. B. Metzlersche Verlagsbuchhandlung
und Carl Ernst Poeschel Verlag GmbH in Stuttgart 2003
www.metzlerverlag.de
info@metzlerverlag.de
Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
Alex Demirovic
TRUST ME . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28
Alexander García Düttmann
Dialektische Konstellationen. Zu einer kritischen Theorie gesellschaftlicher
Naturverhältnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39
Christoph Görg
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute . . . . . . . . . . . . . . 63
Gunzelin Schmid Noerr
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements . . 77
Matthias Kettner
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus . . . . . . . . . . . . . 101
Thomas Sablowski
Fred Pollock in Silicon Valley. Automatisierung und Industriearbeit in der
vernetzten Massenproduktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131
Boy Lüthje
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und
Herrschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152
Birgit Sauer
Leblose Lebendigkeit. Zur Bedeutung von Organisation, Wissen und Norm
im Konzept der verwalteten Welt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176
Michael Bruch
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
Michael Vester
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus, Rassismus und Reaktionen auf
Einwanderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
Lena Inowlocki
›Wir sind weit weniger Griechen als wir glauben‹. Überlegungen zum
Projekt einer kritischen Geschlechterforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . 247
Andrea D. Bührmann
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus . . . . . . . . 266
Thilo Naumann
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne . 290
Jost Müller
VI Inhalt

Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse . 312


Christine Resch und Heinz Steinert
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . 340
Gerhard Schweppenhäuser
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen
Entwürfen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Wolfgang Bonß
Die Autorinnen und Autoren des Bandes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 393
Vorwort
Alex Demirovic

Die kritische Theorie ist in den 1960er Jahren zum Eigennamen eines besonderen
theoretischen Zusammenhangs und einer akademischen Schule geworden, zur
Kritischen Theorie der Frankfurter Schule (vgl. Demirovic 1999). Im breiteren
Verständnis handelte es sich dabei um eine Richtung der Soziologie, die von
anderen Richtungen der damaligen Soziologie in Westdeutschland unterschieden
wurde: die, die vor allem von René König repräsentiert wurde, der in Köln lehrte
und dort über lange Zeit die innerhalb der Soziologie als Fachorgan sehr ein-
flussreiche Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie herausgab; und
die Richtung, für die Helmut Schelsky stand, der in den 1950er Jahren in Ham-
burg, danach in Münster und Bielefeld tätig war. Die Kritische Theorie auf eine
Theorierichtung in der Soziologie zu begrenzen, ist ungenau. Denn die Vertreter
der Kritischen Theorie haben in Frankfurt neben der Soziologie auch Philosophie
gelehrt. Diese Verbindung von Soziologie und Philosophie war im von Hork-
heimer und Adorno vertretenen Verständnis von Kritischer Theorie immer unge-
mein wichtig. Dies unterschied sie auch ganz erheblich von den anderen Vertretern
der Soziologie. Denn diese lehnten es ab, die philosophiegeschichtlichen und
gesellschaftlichen Voraussetzungen der Entstehung der Soziologie selbst mit in ihr
Wissenschaftsverständnis einzubeziehen. Aus ihrer Sicht hatte sich die Soziologie
von allen anderen Disziplinen befreit und als empirisch ausgerichtete Wirklich-
keitswissenschaft etabliert. Als eigenständige Fachwissenschaft sollte sie sich –
vergleichbar einer Naturwissenschaft – mit strengen Methoden allein aus sich selbst
begründen und nur den Maßstäben der internen Forschungslogik folgen. Mit der
Kritik an philosophischen Begriffe, die ihnen, wie der Begriff der Totalität, der
Praxis oder der Vernunft, als metaphysisch galten, sollte vor allem die geschichts-
philosophisch begründete Perspektive auf die vernünftige Einrichtung eines welt-
bürgerlichen Zusammenlebens aus dem Aufmerksamkeitshorizont wissenschaftli-
cher Fragestellungen gedrängt werden. Solche Begriffe und Ziele erschienen als
außerwissenschaftliche Werturteile, die für die empirische Sozialforschung nicht
operationalisiert werden konnten. Gleichzeitig meinte eine solche Option für
wertfreie Wissenschaft selbst nie mehr als ein nicht offen formuliertes Werturteil
für den Zustand, wie er ist – und zu dessen Erhaltung Soziologie mit ihrer
Sachkenntnis beiträgt.
Horkheimer und Adorno ging es jedoch nicht darum, jene philosophische
Tradition um ihrer selbst willen lebendig zu halten; vielmehr waren sie der Ansicht,
dass die einzelwissenschaftliche Forschung der philosophischen Impulse bedurfte,
denn nur hier finden sich Begriffe, die über einzelwissenschaftliche Beschränkung
hinausführen. Sie sahen sich nicht als disziplinär gebundene Einzelwissenschaftler,
sondern eher als Intellektuelle, die an einer Gesellschaftstheorie arbeiteten; und um
dieses Zieles willen durfte es nicht zu einer Begrenzung des Blicks oder des Begriffs
2 Alex Demirovic

durch disziplinäre Vorgaben kommen. Trotz einer jahrzehntelangen Praxis in der


empirischen Sozialforschung blieben sie im Großen und Ganzen der Auffassung
verpflichtet, die Horkheimer schon in seiner Antrittsrede als Direktor des Instituts
für Sozialforschung 1931 formuliert hatte. Auf Grund »aktueller philosophischer
Fragestellungen« wollte er Untersuchungen organisieren, »zu denen Philosophen,
Soziologen, Nationalökonomen, Historiker, Psychologen in dauernder Arbeits-
gemeinschaft sich vereinigen und das gemeinsam tun, was auf anderen Gebieten im
Laboratorium einer allein tun kann, was alle echten Forscher immer getan haben:
nämlich ihre aufs Große zielenden philosophischen Fragen an Hand der feinsten
wissenschaftlichen Methoden zu verfolgen, die Fragen im Verlauf der Arbeit am
Gegenstand umzuformen, zu präzisieren, neue Methoden zu ersinnen und doch
das Allgemeine nicht aus den Augen zu verlieren« (Horkheimer 1931, S. 33 f.).
Wissenschaftler aus vielen Einzeldisziplinen sollen zusammen an übergreifenden
Fragestellungen mit dem gemeinsamen Ziel arbeiten, zu einer »Theorie der gegen-
wärtigen Gesellschaft« beizutragen, die unter der Oberfläche der zahlreichen Ein-
zelereignisse die Struktur wirkender Mächte erkennen und den gesamtgesellschaft-
lichen Verlauf erkennen will (Horkheimer 1932, S. 36).
Horkheimer grenzt sich mit diesen Überlegungen zu einem interdisziplinären
Materialismus nach zwei Seiten hin ab. Auf der einen Seite kritisiert er eine
Auffassung, die die Philosophie als eine Art Königswissenschaft betrachtet, die
glaubt, obwohl sie im Laufe des 19. Jahrhunderts den Einzelwissenschaften gegen-
über hoffnungslos ins Hintertreffen geraten war, den Menschen Sinn und Orientie-
rung geben zu können. So würde die Philosophie bloß kompensatorisch einen
Goldgrund malen für einen grauen Alltag, in dem die Menschen zwar vielleicht
nach Glück streben, es aber in den Bemühungen, ökonomisch nicht unterzugehen,
doch nie erlangen. Philosophie würde zu weltanschaulicher Gesinnung, die noch
vor jedem Wissen ums Detail und vor jeder Erkenntnis immer dogmatisch bliebe
und sich im Besitz eines Schlüssels zur Erkenntnis wähnte, wenn sie sich nur auf
einen letzten, Halt gewährenden Begriff gründete. Von einem solchen Fundament
getragen, könnte eine solche Philosophie dann unangreifbare Theorien und Sys-
teme konstruieren, während die einzelwissenschaftliche Tatsachenforschung als
langweilige Spezialistenaufgabe erschiene, die nur ausführte, was ihr die Philo-
sophie vorgäbe. Auf der anderen Seite beobachtete Horkheimer zwar bei Fach-
wissenschaftlern eine Tendenz, sich auf ihrem Gebiet ganz kompetent und rational
zu verhalten; diese Rationalität, das zeigt die Wissenschaftsgeschichte, blieb aber
oft auf jenen engen Bereich begrenzt. Durchaus war es möglich, dass Spezialisten
mit Blick auf wissenschaftliche Einzelfragen sehr fortgeschritten dachten, an-
sonsten jedoch sehr konventionell blieben. Sie immunisierten ihre Weltsicht und
ihr Alltagsleben gegenüber den Rationalitätsansprüchen ihrer Erkenntnispraxis.
Für die wissenschaftliche Arbeit und die Rationalität selbst hatte dies fragwürdige
Konsequenzen. Denn die Wissenschaftler, und vor allem solche der Sozialwissen-
schaften, konnten so zu kalten Technokraten werden, die zwar über ganz hervor-
ragende Einzelkenntnisse und Lösungskompetenzen verfügten, die aber in vielen
anderen Hinsichten nach den Standards des Alltagsverstandes und des Konformis-
mus lebten.
Vorwort 3

Das widerspricht aber dem Begriff der Rationalität selbst. Denn Vernunft lässt
sich nicht parzellieren und nur auf einen schmalen Bereich begrenzen, sie strebt
danach, das rational Erschlossene selbst wieder in einem umfassenderen Kontext
zu begreifen. Diese Dynamik rationaler Erkenntnis verbindet sich zudem mit der
Erwartung, dass ihre Ergebnisse allen einsichtig sind und alle daran teilhaben
können. Vernunft beinhaltet eine demokratische Haltung – demokratisch nicht in
dem Sinne, dass die Wahrheit von der Mehrheit abhängig gemacht würde, jedoch in
dem Sinne, dass jede Einsicht und jedes Argument der Möglichkeit nach allen
verständlich und zugänglich sein müsste. Wissenschaft und Vernunft widerspre-
chen demgemäß bloßem Glauben, dem Wunder, dem spirituellen Erlebnis oder
einer ästhetischen Sinnerfahrung. Denn sie alle erlauben lediglich Einzelnen den
Zugang, sie verbinden sich mit dem Privileg. Vernunft widerspricht aber auch
Demagogie und Propaganda, die darauf zielen, die individuelle Einsichtsfähigkeit
außer Kraft zu setzen. Wie eine lange, und gerade von der Kritischen Theorie
angestoßene, Diskussion erkennen lässt, ist allerdings auch Wissenschaft, Vernunft
und Wahrheit mit Ausschluss und Herrschaft verbunden. Im Namen von Wissen-
schaftlichkeit und Rationalität kann Macht ausgeübt und können Privilegien in
Anspruch genommen werden. Nicht allen wird der Zugang zur freien Erkenntnis
erlaubt oder ermöglicht. Es gibt viele Wissenschaftler, die bereitwillig der Logik
herrschaftlicher Institutionalisierung von Wissenschaft entsprechen, die also ein
Monopol auf Expertenwissen für sich zu errichten versuchen und den Zugang zu
Erkenntnissen begrenzen wollen. Dazu nutzen sie die Mittel guter Beziehungen,
des Geldes, staatlicher Kontrolle über die Verteilung von Bildungszertifikaten oder
Eigentumstiteln. Irrationalität kann eine der Formen sein, wie Wissenschaftler den
rationalen Kernbereich ihres Wissens nach außen hin abschirmen. Sie verbergen
den Zugang zu diesem Wissen durch spontane Wissenschaftsideologien, seien es
spiritualistische Ganzheitsphilosophien oder quasi-theologische Kosmologien, die
das Publikum über den rationalen Gehalt der Theorien hinwegtäuschen und auf
den Pfad kompensatorischer Metaphysik führen.
Doch Wissenschaftlichkeit und Rationalität, die durchaus zu einer solchen
Verteilung von Privilegien beitragen können, sind eben immer auch mit dem
Anspruch verbunden, dass alle Individuen die Erkenntnisse kritisch überprüfen
können. Rationalität ist kritisch – jede Erkenntnis kann von jedermann und
jederfrau zu jeder Zeit darauf geprüft werden, ob sie im Lichte eigener Erfahrung
und anderer Erkenntnisse noch plausibel ist und standhält. Horkheimer macht
gerade an diesem Punkt auch das fest, was er für den entscheidenden Unterschied
der Kritischen Theorie zu anderen Wissenschaftsauffassungen hält, die er als
traditionelle Theorie bezeichnet: die Haltung des Wissenschaftlers gegenüber sei-
nen Erkenntnissen. Im Fall traditioneller Theorie wird alles genau geregelt: Ge-
forscht und nachgedacht wird nur im Rahmen der Arbeitszeit, streng nach den
Regeln und Relevanzgesichtspunkten der jeweiligen Disziplin, folgsam gegenüber
denen, die als die wichtigsten Vertreter des Faches gelten und von denen erwartet
wird, dass ihre Ansichten die bestimmenden sein werden. Die Kritik wird einge-
schränkt, die Forschung und das Nachdenken wird nicht im Zusammenhang mit
dem Gegenstand gesehen; und wenn die Logik der Sache doch zu diesem drängt,
4 Alex Demirovic

setzt die (Selbst-) Zensur ein: Das ist nicht Gegenstand der Disziplin, dazu gibt es
keine zitierfähige Literatur, das findet in der Disziplin keine Anerkennung, dafür
gibt es kein Geld durch Fördereinrichtungen, es darf keine Werturteile geben. So
wird das Denken durch die Disziplin vom Gegenstand getrennt und diszipliniert.
Gerade dem stellten sich Horkheimer und Adorno mit dem Programm einer
Kritischen Theorie entgegen. Kritische Theorie meint eine Haltung gegenüber dem
Erkenntnisprozess, die die Theorie selbst als eine besondere Praxis begreift. Ver-
nunft ist die Form, in der sich Praxis selbst reflektiert. Vernunft drängt auf
Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Denn die theoretische Praxis
findet in einer besonderen gesellschaftlichen Konstellation statt, Erkenntnis ist Teil
der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion. Theorie muss dessen einsichtig sein,
was sie selbst in diesem Prozess tut und bewirkt. Isoliert und distanziert sie sich
jedoch arbeitsteilig vom Gegenstand, wird sie sich selbst gegenüber blind; sie
beschränkt sich und macht sich gleichsam von innen her dumm.
Kritische Theorie ist also dem Anspruch nach mehr als nur eine einzelwissen-
schaftliche Theorie. Seit Poppers Überlegungen zur Logik der Forschung wird
allgemein angenommen, dass wissenschaftliche Theorien ihrem Prinzip nach ohne-
hin kritisch sind. Denn eines ihrer bestimmenden Merkmale ist, ihre eigenen
Voraussetzungen, ihre Begriffe und ihre Ergebnisse immer wieder zu prüfen. Zur
wissenschaftlichen Haltung gehört, eine Theorie fallen zu lassen und eine bessere
Theorie zu entwickeln. Zwar lehnte die Kritische Theorie ausdrücklich jede Art
von Standpunktlogik ab, doch entsprach es nicht ihrem Selbstverständnis, neue
gesellschaftliche Veränderungen zum Anlaß zu nehmen, die Theorie der Gesell-
schaft und ihre Begriffe insgesamt aufzugeben, da sie ja auf die bürgerlich-kapi-
talistische Gesellschaftsformation als ganze zielen. Die Vertreter der Kritischen
Theorie sahen sie jedoch an den Entwicklungsgang der Gesellschaft gebunden. Mit
diesem ändert sich auch die Theorie: Das Verhältnis der Begriffe zueinander
registriert die Veränderungen in deren Erfahrungsgehalt und modifiziert die be-
griffliche Struktur der Theorie in ihrer Gesamtheit. Anders als dies in den Sozial-
wissenschaften so häufig der Fall ist, hatte die Kritische Theorie nicht das Ziel,
letzte universell gültige Gesetzmäßigkeiten des gesellschaftlichen Lebens zu erken-
nen. Glaubt man an solche Gesetze, dann wird man auch die Soziologie wie eine
soziale Physik begreifen, die sich mit immer größerer Genauigkeit den an sich
beständigen Formen und Universalien des menschlichen Zusammenlebens nähert.
Die Kritische Theorie war demgegenüber davon überzeugt, dass der von ihr
analysierte Gegenstand, die kapitalistisch bestimmte Gesellschaft, ein dynamischer,
sich selbst verändernder Gegenstand sei. Die Gesetzmäßigkeiten, die theoretisch
bestimmt werden konnten, und nach denen die Veränderungen in dieser Gesell-
schaft abliefen, werden ihrerseits historisch durch die widerstreitenden Kräfte der
Gesellschaft verändert. Auch in der besonderen Form der Theorie und der wissen-
schaftlichen Konflikte handeln Menschen und greifen in die gesellschaftlichen
Abläufe ein. Die Theorie ist demnach konstitutiv an der Erzeugung und Formie-
rung der sozialen Welt beteiligt, die sie erkennt. Diese Verschlungenheit der
Theorie mit ihrem Gegenstand muss zur Folge haben, dass sich die Begriffe und
ihre Stellung in der Theorie selbst ändern, wenn es zu starken Umgewichtungen
Vorwort 5

innerhalb der Gesellschaft kommt, neue Bereiche der Gesellschaft entstehen oder
früher wichtige in ihrer Bedeutung durch andere in den Hintergrund gedrängt
werden. Auch das Verhältnis der Theorie zum gesamtgesellschaftlichen Reproduk-
tionsprozess selbst kann sich je nach historischer Konstellation ändern.
Diese zunächst abstrakt erscheinende Überlegung betrifft auch das Selbstver-
ständnis der Kritischen Theorie. Sie sieht sich nämlich selbst als Fortsetzung
früherer Formen von kritischer Theorie, wie sie sich vor allem seit der frühen,
französischen Aufklärung herausgebildet hat. Je nach Entwicklungsstand der mo-
dernen, auf Tausch und formell freier Lohnarbeit beruhenden Gesellschaft, hat
auch rationale Einsicht in die Gesellschaft eine verschiedene Form. Handelte es
sich zunächst um kritische Aufklärung über die Bibel, die Rolle der Kirche und des
Adels, so in einer weiteren Phase um die Bestimmung der Möglichkeiten poli-
tischer Freiheit. Zu einem paradigmatischen Umbruch kam es mit der Theorie von
Marx, die nun zum ersten Mal eine Theorie der gesamtgesellschaftlichen Repro-
duktion sein wollte, um die Möglichkeiten konkret-materieller, nicht nur innerer,
geistiger Freiheit auszuloten. Er knüpfte dort an, wo Fichte über Kant hinaus-
gegangen war und eine objektive Verwirklichung von Vernunft und Freiheit ge-
fordert hatte, also »dort draußen in der Welt« und nicht im Innern einer sich frei
wähnenden Vernunft. Trotz aller Verdienste von Marx war die weitere theoretische
Analyse der modernen bürgerlichen Gesellschaft nicht allein mit dem von ihm
entwickelten Begriffsapparat und seinen theoretischen Vorstellungen zu bewäl-
tigen. Eine entscheidende Schwäche war die Suggestion, es könne von sozial-
ökonomischen Bedingungen auf die emanzipatorische Handlungsmöglichkeit oder
gar -fähigkeit der Arbeiterschaft geschlossen werden. Dabei gab Marx in einigen
Hinsichten der Produktionssphäre zu großes Gewicht und ließ andere soziologisch
relevante Prozesse außer Acht, die gleichfalls quasi naturgesetzlichen Charakter
annehmen können: die sozialpsychologisch ausmachbaren Charakterdispositionen
und Identitätsmuster, die das Handeln von Individuen in erheblichem Maße len-
ken, und die kulturtheoretisch zu analysierenden Prozesse des modernen Konsums
und des Marketings, der Medien, des Sports, also all der Bereiche, die Horkheimer
und Adorno dann als das System der Kulturindustrie zu begreifen versuchten. Mit
der fortschreitenden Veränderung der bürgerlichen Gesellschaft schoben sich neue
gesellschaftliche Bereiche in der Vordergrund, sie bestimmten verstärkt den Ge-
samtprozess, und damit stellten sich neue theoretische und praktische Fragen.
Der »Wahrheitskern« der Kritischen Theorie ändert sich. Dessen waren sich ihre
Vertreter genauestens bewusst. Ihrem eigenen Verständnis nach war die ältere
Kritische Theorie eine historizistische Theorie, ihren eigenen Begriffen, Theoremen
und einzelnen Diagnosen nach ebenso veränderbar wie in ihrem Verhältnis zur
Gesellschaft und ihren Akteuren. Die Autoren der älteren Kritischen Theorie
glaubten, dass der Kapitalismus nach einer liberalen Hochphase in das eher von
Katastrophen bestimmte Stadium der Spätkapitalismus eingetreten sei. Noch bei
Jürgen Habermas, der die Kritische Theorie paradigmatisch neu ausrichtete und ins
Zentrum der Theoriebildung die Frage demokratischer und aufgeklärter Verständi-
gungsverhältnisse zwischen frei miteinander sprechenden Bürgern stellte, finden
sich Spuren jener Zeitdiagnose. Denn auch er vertritt die Ansicht, dass die für
6 Alex Demirovic

kapitalistische Gesellschaften charakteristischen Widersprüche im Spätkapitalismus


durch den Wohlfahrtsstaat befriedet worden seien. Doch sah er in dieser Entwick-
lung die positiven Aspekte: Fortschreitende Demokratisierung wäre möglich und
die öffentliche Diskussion könnte sich auf die Bearbeitung der negativen Folgen
jener Befriedung einstmaliger Klassenkonflikte konzentrieren, also jener Kolonial-
isierungsprozesse, in denen durch staatlich-rechtliche und ökonomische Übergriffe
in den Bereich der alltagssprachlichen Verständigung die moralische Infrastruktur
drohte zerstört zu werden. Unerwartet jedoch haben sich in den 1980er und 1990er
Jahren die politischen, ökonomischen, sozialen, kulturellen und psychischen Ver-
hältnisse mit der Globalisierung der kapitalistischen Weltwirtschaft erneut verän-
dert: Seitdem stehen die vermittelnden Mechanismen zwischen Lohnarbeit und
Kapital zur Disposition, der Wohlfahrtsstaat gerät von vielen Seiten unter Druck.
Die kapitalistische Vergesellschaftung wirkt so dynamisch, dass sich bei vielen
Beobachtern der Eindruck einstellt, überhaupt erst heute sei der zur globalen
Weltwirtschaft entfaltete Kapitalismus zu sich gekommen und bilde nun das alles
ergreifende und durchdringende System. Das Verständnis der heutigen Welt lässt
sich nicht aus einer Interpretation allein der Texte von Horkheimer und Adorno
entwickeln, so wenig, wie diese glaubten, dies durch eine Interpretation von de
Sade, Kant, Marx, Nietzsche oder Freud tun zu können. Immer wieder neu stellt
sich die Frage nach der Gegenwart und der ihr gemäßen Theorie. Aus dem
Blickwinkel dieser Gegenwart und der von ihr hervorgebrachten Fragen wird es
jeweils darum gehen, auch die früheren Formen kritischer Theoriebildung sich
anzueignen. Die Kritische Theorie ist eine davon, eine besonders bedeutsame,
beeindruckende und folgenreiche.
Deswegen kann sie in solchen zeitgemäßen Analysen ein Modell sein: zunächst
ein Modell im Sinne eines konkreten, begrifflich ausgearbeiteten Verständnisses
davon, wie die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche im Gesamtprozess zusammen-
hängen; ein Modell auch dafür, welche Gegenstandsbereiche überhaupt berück-
sichtigt werden müssen, um einer anspruchsvollen Theorie gerecht zu werden;
weiter ein Modell dafür, wie eine anspruchsvolle Theorie als solche beschaffen sein
muss, die ernsthaft beanspruchen kann, zum Verständnis des gesamtgesellschaft-
lichen Prozesses beizutragen; schließlich auch ein Modell hinsichtlich der Grund-
begriffe und vor allem auch dessen, was kritisch heißen könnte. Mit dem Begriff
des Modells kann sich etwas Starres und Autoritatives verbinden, denn die Begriffe
werden aus dem Fluss ihrer Bewegung herausgenommen und zu einem kategoria-
len System zusammengestellt. Es wäre dann die Vorgabe, an ihm sollte man sich
orientieren. Alles muss stimmig sein in einem solchen Modell, sonst ist es nicht
brauchbar; jede weitere Einsicht dient nur wie ein Puzzlestein seiner Vervoll-
ständigung, um seine Komplexität zu vergrößern, so dass es der komplexen gesell-
schaftlichen Welt angemessener wird. Theorien bilden ein systematisches Ganzes,
allein in ihm gewinnen die Begriffe erst ihre stimmige Bedeutung. Ihm soll sich
alles einfügen. Einen solchen Anspruch legt auch die Kritische Theorie selbst nahe,
wenn sie den Anspruch erhebt, eine interdisziplinäre Theorie des Gesamtprozesses
der gegenwärtigen Gesellschaft zu entwickeln. Doch in der Kritischen Theorie gibt
es die Erfahrung, dass auch die angestrengteste theoretische Bemühung es nicht
Vorwort 7

immer erreicht, einen logisch einheitlichen Zusammenhang zwischen verschie-


denen gesellschaftlichen Bereichen oder Phänomenen herzustellen. Immer wieder
stellen sich Widersprüche ein, die nicht logisch sind, die sich nicht ableiten lassen
und die dann in einer traditionellen Geste als »Abweichung« oder als bloßes
»Phänomen« abgewertet werden. Solche Widersprüche sind der von Freiheit und
Gleichheit oder der von Fortschritt und Regression: dass nämlich auf der Stufe
hoher zivilisatorischer Entwicklung von Wissenschaft, Technologie, Recht und
Moral oder alltäglichen Umgangsformen kaltblütig rassistischer Mord an vielen
Millionen Menschen geplant und durchgeführt werden kann; ein anderer Wider-
spruch entspricht der Erfahrung, dass Demokratie zwar die Teilnahme aller an den
allgemeinverbindlichen Entscheidungen meint, viele jedoch die Erfahrung machen,
dass ihre Beteiligung weder gewünscht ist noch irgend etwas bewirken könnte – ein
Rückzug von der Teilnahme aber wiederum nur die Ohnmacht und das Ressenti-
ment stärken würde (vgl. Adorno 1959). Die Unzulänglichkeiten und Wider-
sprüche der Theorie lassen sich weder logisch schlichten noch durch eine korrekte
wissenschaftliche Fragestellung beseitigen noch durch Ausdauer in der Bewälti-
gung immer neuer Themengebiete überwinden. Es gehört konstitutiv zur Erfah-
rung kritischer Gesellschaftstheorie, dass die Gesellschaft sich immer wieder einem
konsistenten, systematischen Zugang entzieht. Das bleibt ihr eigener Widerspruch
– sie will das Ganze begreifen, und doch kann sie es, so die Erfahrung, die sie mit
sich selbst und den theoretischen Gegenständen macht, nie erreichen. Die Theorie
bleibt, nimmt sie diese begriffliche Erfahrung ernst, zwangsläufig fragmentarisch.
Angesichts dieser theoretischen Konstellation gelangt Adorno zu der Ansicht, dass
sich kritische Theorie in Modellen entfaltet. Zwei seiner Bücher, die Eingriffe und
die von ihm geplanten, erst nach seinem Tod erschienenen Stichworte, tragen den
Begriff des Modells im Untertitel, in der Negativen Dialektik steht der dritte Teil
unter diesem Begriff. Modelle, so versteht dies Adorno, sind keine beiläufigen
Beispiele für oder Erläuterungen zur Kritischen Theorie. Sie sind diese Theorie,
immer zugleich Reflexion, sachhaltige Erörterung und Eingriff in das Bewusstsein,
das kritisiert werden soll, wo es nicht mehr als ein Reflex der Realität ist, also nur
nachvollzieht und affirmiert, was ohnehin geschieht (vgl. Adorno 1963, S. 457). Die
eigenartige Schwierigkeit dieses Modell-Begriffs ist, dass Adorno mit ihm keines-
wegs verbindet, er werde zu einem späteren Zeitpunkt von einer vollständigen
Theorie ersetzt. Adornos Ziel ist das »Anti-System«, an die Stelle des »Einheits-
prinzips und der Allherrschaft des übergeordneten Begriffs« soll die »Idee dessen
rücken, was außerhalb des Banns solcher Einheit wäre« (Adorno 1966, S. 10). Nach
dem Modell kommt nicht die vollständige Theorie, sondern wiederum nur ein
weiteres Modell. Das Modell folgt, nach einem Ausdruck Jacques Derridas, der
Logik des Supplements. Jedes Modell ist wie die Ergänzung zu einer Theorie, die
sich allein erst in ihm entfaltet, und die nur jeweils durch immer neue Modell-
analysen je besonderer Erfahrungen, begrifflicher Konstellationen und Sachver-
halte zu ihrer prismatischen Vielfalt gelangt. Das Denken in Modellen ist demnach
selbst schon eine Übung in aufgeklärtem, emanzipatorischem Denken, da es sich
nicht darin beruhigen kann, über einen letzten Begriff zu verfügen, der wie ein
Schlüssel das Tor zum letzten metaphysischen Geheimnis öffnet, ein Begriff, auf
den die Theorie wie ein Logo immer wieder zusammenschnurrt.
8 Alex Demirovic

Ob die Beiträge dieses Buches einem solchen Anspruch kritisch-aufklärerischen


Denkens gerecht werden, müssen die Leserinnen und Leser beurteilen. Das Buch
orientiert sich jedenfalls an den drei dargelegten Gesichtspunkten, die für die
Kritische Theorie charakteristisch waren, also an Interdisziplinarität, Historizität
und am modellartigen Charakter der Theoriebildung. Es wurde versucht, die
Vielfalt der Themen zu repräsentieren, die in die Ausarbeitung der Kritischen
Theorie eingegangen sind: Ökonomie, Technikkritik, Psychoanalyse und Sozial-
psychologie, Philosophie, Ästhetik, Antisemitismus- und Rassismusforschung.
Weitere Themen wurden aufgegriffen, die im Laufe einer jahrzehntelangen For-
schung im Kontext der kritischen Gesellschaftstheorie deutlichere Konturen ge-
wonnen haben oder hinzugekommen sind: Industriesoziologie, Staatstheorie, Fe-
minismus, Ethik. Manches, was der Kritischen Theorie immer wichtig war, Bildung
und Sozialisation, fehlt; anderes, das von der älteren Kritischen Theorie gar nicht
oder kaum zum Gegenstand gemacht wurde, aber heute notwendig ist, um das Bild
zu vervollständigen, fehlt bedauerlicherweise: eine Darstellung der kritischen
Raumsoziologie oder Erörterungen zum aktualisierten kritischen Wissenschafts-
verständnis, die die Diskussionen der postempiristischen und konstruktivistischen
Wissenschaftstheorie oder der Foucaultschen Archäologie der Denksysteme auf-
nehmen.
Die vorliegenden Beiträge wollen die Kritische Theorie nicht musealisieren.
Eine Theorie bleibt nicht allein durch Interpretation älterer Texte lebendig, son-
dern muss im Lichte neuer gesellschaftlicher Herausforderungen, neuer Fragestel-
lungen und konkurrierender Theorien fortentwickelt werden. Entsprechend su-
chen die Autorinnen und Autoren Anknüpfungspunkte in der Kritischen Theorie
von Horkheimer bis zu den Fortentwicklungen durch Jürgen Habermas, denn hier
finden sich für das Projekt der kritischen Gesellschaftstheorie wichtige Impulse
und Einsichten, dem anspruchsvollen Argumentationsniveau und der Breite des
Ansatzes ist vieles zu verdanken. Aber die Kritische Theorie rückt auch in eine
theoriegeschichtliche Perspektive, insofern die Autorinnen und Autoren sie mit
aktuellen gesellschaftlichen Entwicklungen und Konflikten, mit neuen Fragestel-
lungen, Begriffen, Überlegungen und Einsichten konfrontieren. Die Autorinnen
und Autoren versuchen, für ihre Thematik relevante Entwicklungsprozesse zu
umreißen, und lassen sich von neueren Theorien anregen, solchen, die aus Post-
strukturalismus und Semiologie hervorgegangen sind, der Theorie von Pierre
Bourdieu, des französischen Regulationsansatzes, der internationalen politischen
Ökonomie, von den queertheoretisch-dekonstruktivistisch orientierten Arbeiten
von Judith Butler oder den Cultural Studies, und sie suchen weiterführende Wege.
Dabei entwickeln sie nach beiden Seiten hin kritische Thesen, manche Überlegung
aus der Kritischen Theorie wird in Frage gestellt, doch erscheint in ihrem Licht
auch manches Neuere als wenig plausibel oder affirmativ.
Die Kritische Theorie ist ein Modell. Dieses Modell ist im besten Sinn histo-
risch: immer noch verpflichtend, aber gleichzeitig schon längst aufgehoben in und
überholt durch neuere gesellschaftliche Entwicklungen und theoretische und poli-
tische Debatten. Das ist heterodox und gleichzeitig bewahrend gemeint. Denn die
Kritische Theorie selbst gibt den Anstoß, das Projekt kritischer Gesellschafts-
Vorwort 9

theorie zeitgemäß fortzusetzen. Das verändert auch seine Gestalt. Denn die theo-
retischen Versuche, in die mit quasi-naturgesetzlicher Gewalt verlaufenden Pro-
zesse der gesellschaftlichen Entwicklung einzugreifen, verändern auch die Theorie.
In sie gehen neue Motive, Erfahrungen, Probleme und Begriffe ein. Indem die
Autorinnen und Autoren in ihren Beiträgen das vielfache Verhältnis von Kon-
tinuität und Diskontinuität ausloten, entfalten sie selbst Modelle kritischer Gesell-
schaftstheorie für die jeweiligen Gegenstandsbereiche der gesellschaftlichen Ent-
wicklung.

Literatur

Adorno, Theodor W. (1977 [1959]): Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit, in: ders.,
Ges. Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a. M.
– (1963): [Vorbemerkung] zu »Eingriffe«, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 10.2, Frankfurt a. M.
– (1973 [1966]): Negative Dialektik, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 6, Frankfurt a. M.
Demirovic, Alex (1999): Der nonkonformistische Intellektuelle. Die Entwicklung der Kriti-
schen Theorie zur Frankfurter Schule, Frankfurt a. M.
Horkheimer, Max (1988 [1931]): Die gegenwärtige Lage der Sozialphilosophie und die
Aufgaben eines Instituts für Sozialforschung, in: ders., Ges. Schriften, Bd. 3, Frankfurt
a. M.
Horkheimer, Max (1988 [1932]): Vorwort [zu Heft 1/2 des I. Jahrgangs der »Zeitschrift für
Sozialforschung«], in: ders., Ges. Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft
Alex Demirovic

I. Kritik

Die Komposita »Kritische Theorie« und »Kritische Gesellschaftstheorie« wurden


in den vergangenen beiden Jahrzehnten vor allem hinsichtlich des Begriffs der
Kritik thematisiert (vgl. Demirovic 1993; Honneth 2000). Kritisiert wird, dass der
Anspruch, eine kritische Theorie zu sein, selbst schlecht begründet sei. Als Bezugs-
punkt dient die kritische Auseinandersetzung mit Horkheimer und Adorno sowie
mit Foucault (vgl. Habermas 1985). Das ist einleuchtend, denn in ihren Arbeiten
wird gerade die moderne Vernunft kritisiert, und Vernunft stand seit der Aufklä-
rung und insbesondere seit Marx im Zentrum der Überlegungen zu einer ver-
söhnten Form des menschlichen Zusammenlebens. Weil der gesellschaftliche Zu-
sammenhang der Gesellschaft trotz aller Freiheit und Rationalität der Individuen
immer noch blind und anarchisch bleibt, solange er allein durch den Markt
hergestellt wird, sollen Bedingungen einer höheren, nämlich vernünftig organisier-
ten Produktionsform geschaffen werden.
»Der Kampf ums Einzeldasein hört auf […] Der Umkreis der die Menschen
umgebenden Lebensbedingungen, der die Menschen bis jetzt beherrschte, tritt jetzt
unter die Herrschaft und Kontrolle der Menschen, die zum ersten Male bewusste,
wirkliche Herren der Natur, weil und indem sie Herren ihrer eigenen Verge-
sellschaftung werden. Die Gesetze ihres eignen gesellschaftlichen Tuns, die ihnen
bisher als fremde, sie beherrschende Naturgesetze gegenüberstanden, werden dann
von den Menschen mit voller Sachkenntnis angewandt und damit beherrscht.«
(Engels 1880, S. 226)
Aufklärung zielt darauf, dass Menschen mit Vernunft ihre natürliche und gesell-
schaftliche Umwelt erkennen und gestalten, so dass sie sich von der Furcht vor
undurchschauten Verhältnissen befreien.
Bislang hat Herrschaft über Natur die Furcht vor ihr zurückdrängen können,
doch hat dies auf Gesellschaft selbst derart zurückgewirkt, dass unter dem Impera-
tiv, die Naturgesetze zu beherrschen und die gesellschaftliche Arbeit für das Ziel
des Überlebens zu organisieren, Formen des gesellschaftlichen Lebens entstanden,
die sich gegenüber den vernünftigen Einzelnen verselbständigten und von ihnen
nicht gemeinsam mit anderen gestaltet wurden. In der Dialektik der Aufklärung
halten Horkheimer und Adorno die Einsicht fest – nur wenige Jahrzehnte nach
Engels, aber nach der Erfahrung mit durch rationale Bürokratie, Ingenieurskunst
und Wissenschaft ermöglichten ungeheuren Wellen der Menschenvernichtung, die
schließlich in den Mordfabriken der Konzentrationslager und in der Erfindung der
Atomwaffen ihren vorläufigen Höhepunkt fanden –, dass die Aufklärung zwar in
vielerlei Hinsicht wissenschaftlich und technisch erfolgreich und das Maß der
Naturbeherrschung wie der Kontrolle und Regulierung gesellschaftlicher Ver-
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 11

hältnisse immer umfassender geworden ist, jedoch die Aufklärung an der Gestal-
tung der Gesellschaft bislang immer noch scheitert. Es bestehen trotz aller auf-
klärerischer Bemühung und durch diese hindurch gesellschaftliche Verhältnisse, die
nach wie vor von unbeherrschten Naturgesetzen bestimmt sind. So gerieten die
Menschen in den vergangenen zweihundert Jahren mit zunehmender Aufklärung
und rationaler Beherrschung von Natur und Gesellschaft gleichzeitig immer weiter
in eine von ihnen selbst erzeugte, also selbstverschuldete Unmündigkeit. Die
Vernunft setzte sich nur in Einzelbereichen durch, trug aber wenig zur Gestaltung
des Gesamtzusammenhangs bei. Dies hat etwas Paradoxes. Denn dass historisch
mit der Komplexität und Differenziertheit der Gesellschaft das Maß an Unfreiheit
vielleicht sogar noch zunimmt, lässt sich nur behaupten, weil mit der wie immer
widersprüchlichen bürgerlichen Gesellschaft und mit der Aufklärung überhaupt
erst die historischen Bedingungen entstanden sind, die den Menschen einen Begriff
von Rationalität und Erfahrungen geben, die ihnen die Emanzipation und ein
freies, ungezwungenes, glückliches Leben als realistische Perspektive immer wieder
von neuem und auf jeweils höherer Stufenleiter vor Augen führen. Das Miß-
verhältnis wird aus der Sicht Horkheimers und Adornos immer größer. Einerseits
führt der naturwissenschaftlich-technische Fortschritt zu einer immer weiter vor-
dringenden Beherrschung und Nutzbarmachung von Naturgesetzmäßigkeiten und
natürlichen Ressourcen, die gesellschaftliche Produktion und der Reichtum steigt
auf ein menschheitsgeschichtlich nie gekanntes Niveau und wächst immer noch
weiter. Gleichzeitig führt dies nicht oder nur in geringerem Maße zur Einlösung
der damit verbundenen Versprechungen auf Fortschritt von Freiheit, Genuss und
Muße. Reproduziert sich die Wirtschaft auch nur in etwa auf gleichem Niveau, also
mit geringer Wachstumsrate, so beginnt sich sogleich eine tiefe Erschütterung und
Krisenwahrnehmung bemerkbar zu machen; Arbeitslosigkeit gilt als Zeichen man-
gelnder Leistungsbereitschaft und nicht als gesellschaftlicher Reichtum. Technik
und Wissenschaft tragen zur Schaffung ungeheurer technischer Selbstzerstörungs-
kräfte der Menschheit bei, Armut, Verelendung, Naturzerstörung nehmen keines-
wegs ab, vielmehr werden gerade erzielte Erfolge bei ihrer Beseitigung schon in der
nächsten Wirtschaftskrise wieder zerstört, und jahrelange Anstrengungen vieler
Menschen werden – wie in Thailand oder in Argentinien – innerhalb kurzer Zeit
zunichte gemacht. Der Fortschrittsglauben ist tief verankert, über Einbrüche wird
schnell mit dem Hinweis auf langfristige Verbesserungen hinweggetröstet, die,
selbst wenn sie eintreten sollten, zwischenzeitlich doch viele Opfer kosten.
Horkheimer und Adorno vertreten nun entschieden die Ansicht, dass Vernunft
und Aufklärung an solchen Fehlentwicklungen nicht unschuldig sein können. Es
wäre auch in der Tat zu einfach, dies alles einfach nur ökonomischen Prozessen
anzulasten. Bis ins Denken hinein sei Herrschaft zu erkennen – und zwar als
unversöhnte Natur. Denn Vernunft ist selbst ein Organ der Natur, sie ist ein Mittel
der Selbsterhaltung und befähigt zur Erkenntnis und Anpassung an die Natur-
gesetze (vgl. Horkheimer, Adorno 1944, S. 64). Anders gesagt: Vernunft hat sich
mit sich selbst noch nicht versöhnt und selbstkritisch noch nicht erkannt, dass sie
bislang nicht allein eine Form von Freiheit, sondern auch ein Instrument von
Herrschaft ist. Vernunft gehört konstitutiv zur Entwicklung auch der modernen
12 Alex Demirovic

Ökonomie und Gesellschaft, denn ohne Wissenschaft, also ohne rationale Buch-
führung, Arbeits- und Unternehmensorganisation, ohne genaue sozialwissen-
schaftliche Analyse der ökonomischen Prozesse, ohne statistische Kenntnisse der
Zu- und Abnahme der Bevölkerung, ihrer ökonomisch-sozialen Situation und
ihres politischen Verhaltens, ohne die Entwicklung moderner großindustrieller
Produktionsverfahren und technischer Produkte wäre die moderne Gesellschaft
nicht entstanden und hätte sich auch nicht derart entwickelt. Es ist charakteristisch
für die kapitalistische Gesellschaft, dass sie einen Anteil ihres wirtschaftlichen
Gesamtprodukts in systematisch organisierte Innovationsprozesse – also vor allem
in Wissenschaft und Technik, aber auch allgemeiner in Rationalisierungsprojekte –
investiert, weil sie davon abhängig ist. In diesem Fall ist Vernunft, die sich selbst
permanent überholt, der Antrieb und das Medium der Veränderung. Die Vernunft
kann also von der Kritik nicht ausgenommen bleiben.
Horkheimer und Adorno kritisieren nun an der Vernunft ihren totalisierenden
Charakter. Ihrem eigenen Anspruch nach müsse sie alles begreifen wollen; und dies
geschieht, indem sie alles in einen systematischen Zusammenhang bringt. Die
Vernunft ist also ihrer Dynamik nach totalitär, sie perfektioniert sich immerzu
selbst, treibt sich selbst teleologisch immer weiter dazu an, das schon Erkannte zu
revidieren und zu überbieten, bis alles ins System paßt. Dieses System will rein als
solches gelten, es glaubt, keine Geschichte zu haben und will ewig bestehen.
Gerade in diesen Implikationen entsprechen sich moderne Vernunft und bürger-
liche Gesellschaft. Getrieben von dieser totalisierenden Logik rationalisiert die
Vernunft am Ende auch noch sich selbst – also die Motive, die ihre Grundlage sind,
nämlich den Menschen die materielle Existenz und ihre Freiheit und Autonomie zu
ermöglichen. Mit Vernunft wird begründet, dass Menschen nicht frei sein können
oder – unter Umständen und zum Wohl der Menschheit – vernichtet werden
müssen, denn als vernünftig erscheint die Einsicht, dass alles so, wie es ist, auch
notwendig ist. Wird die Gesellschaft nach Gesichtspunkten der Vernunft organi-
siert, dann führt dies im Grenzfall dazu, dass, weil alles vernünftig organisiert ist,
niemand sich anders verhalten darf, als es nach allgemeinen Gesetzen immer schon
feststeht. Dialektisch geht an diesem Punkt Aufklärung in ihr Gegenteil über: Wird
die Logik der Vernunft nämlich zu Ende gedacht, schlägt die Vernunft, das Mittel
und die Lebensform größter Freiheit, in ein Zwangsverhältnis um und bringt die
Individuen um ihre Autonomie.
Horkheimers und Adornos kritische Überlegung hat als solche eine problemati-
sche Konsequenz. Wenn ihr Argument stimmt, dann ist ihre Kritik an der Vernunft
nur eine weitere reflexive Steigerung ihrer totalitären Dynamik zur Kontrolle;
wenn sie sich dem jedoch entziehen wollen, dann scheint ihnen nur noch der
hilflose Ausweg zu bleiben, auf Erfahrungs- und Handlungsbereiche auszuwei-
chen, die sich ausdrücklich als außerhalb des Bereichs der Vernunft stehend
verstehen: Kunst, Erfahrungen, Gefühle – oder aber, und darauf zielt der Einwand
von Habermas, die Autoren müssen schließlich in ihrem Anspruch scheitern,
überhaupt zur kritischen Gesellschaftstheorie etwas beizutragen.
Habermas hat die Frage, wie die Gesellschaftstheorie als eine kritische be-
gründet werden kann, ins Zentrum seiner Überlegungen zur kritischen Gesell-
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 13

schaftstheorie gestellt. Ein großer Teil seiner theoretischen Bemühung ist dem
Problem gewidmet, den Begriff der Vernunft neu zu fassen, der Tradition der
Aufklärung neue Impulse zu geben und damit die Grundlagen für die Maßstäbe
der Kritik zu sichern. Diese sollen unanfechtbar und damit verbindlich für alle
Individuen sein. Die Theorie nimmt also die Gestalt einer Begründung von Gesell-
schaftskritik an. Damit ändert sich aber auch der Status der Gesellschaftstheorie
und der Begriff der Gesellschaft selbst. Der Lösung von Habermas nach ist der
Maßstab der Kritik in die alltägliche Sprachverwendung eingelagert. Immer, wenn
Individuen miteinander sprechen, anerkennen sie implizit und zumeist auch kon-
trafaktisch ihre Gesprächspartner als rational argumentierende, autonome Indivi-
duen, die das Gesprochene bestreiten können. Kritik ist zunächst die mit der
alltäglichen Sprachverwendung verbundene Möglichkeit, die in und mit den Sätzen
erhobenen Geltungsansprüche auf objektive Wahrheit, moralische Richtigkeit und
subjektive Wahrhaftigkeit in Frage stellen zu können. Zu einem gesellschaftstheo-
retischen Maßstab der Kritik wird dieses kommunikationstheoretische Argument,
weil es sich um eine normative Kontrastfolie zur gesellschaftlichen Wirklichkeit
handeln soll. Ganz in der praxisphilosophischen Tradition des Marxismus – aber
einhergehend mit einer Umstellung der theoretischen Grundbegriffe von Arbeit
auf Kommunikation, von Produktionsverhältnissen auf Intersubjektivität – wird
nämlich mit dem Rückgriff auf die natürliche Sprache dem Anspruch Rechnung
getragen, dass die Kritik nicht von außen kommen darf, sondern sich in den
gesellschaftlichen Verhältnissen immer schon als Tendenz entfalten muss. Mit der
Sprache scheint dies gewährleistet. Denn Menschen sprechen als Menschen immer
miteinander, sind durch Sprache also immer schon in ein gesellschaftliches Verhält-
nis zueinander eingetreten. Gesellschaft könnte ohne kommunikative Vermittlung
der Individuen nicht existieren. Der Rückgriff auf Sprache als universelles und
vorhistorisches Medium der Verständigung gewährleistet aber auch, dass der kriti-
sche Maßstab tief genug gelegt wird, um von oberflächlichen Veränderungen und
sich verändernden Orientierungen der sozialen Akteure unabhängig zu bleiben.
Aus diesem Blickwinkel einer unverstellten Kommunikation, in der Individuen
immer dann, wenn sie es für erforderlich halten, das im Sprechen mit-kom-
munizierte Recht auf Widerspruch in Anspruch nehmen, kann die Gesellschaft
darauf hin geprüft werden, ob sie den argumentativen Austausch der Individuen
einschränkt, verhindert oder sogar die lebensweltlichen Kontexte zerstört, in denen
die Individuen die Fähigkeit erwerben, sich auf ebenbürtige Weise miteinander zu
verständigen. Die Gesellschaft verletzt in solchen Fällen Bedingungen kommu-
nikativ vermittelter Intersubjektivität, mit anderen Worten, gerät hier in Wider-
spruch zu ihren eigenen Reproduktionsbedingungen und wird pathologisch.
Eine der Folgen dieser Überlegungen ist, dass sich die Aufmerksamkeit der
Gesellschaftstheorie auf moralphilosophische Begründungsfragen verschiebt. Die
Anforderungen an die materiale Gesellschaftstheorie sinken entsprechend, im
Grenzfall reicht es aus, zu wissen, dass die gesellschaftliche Entwicklung öffent-
liche Diskussionen be- oder verhindert. Gesellschafttheorie geht in Demokratie-
theorie oder Theorie der Zivilgesellschaft über. Der Gesamtprozess der gesell-
schaftlichen Entwicklung, die dynamische Reproduktion eines durch zahlreiche
14 Alex Demirovic

Spannungen und Widersprüche vermittelten und aus vielen Praxisbereichen mit


jeweils autonomen Handlungslogiken bestehenden gesellschaftlichen Ganzen wird
nur unter einem Gesichtspunkt Gegenstand: wieweit Gesellschaft einer zugrunde
gelegten, im Sprachvermögen des Menschen als solchem verankerten Norm ent-
spricht oder noch nicht entspricht und ihrer weiteren Entwicklung nach dort hin
gelangen könnte, ihr zu entsprechen. Gerade die Offenheit der historischen Ent-
wicklung – die mit dem Begriff der Freiheit selbst verbunden ist –, wird damit aber
reduziert. Das gesellschaftliche Zusammenleben soll einer stillen Teleologie folgen
und lediglich zu dem werden, was es eigentlich immer schon ist.
Eine zweite Folge ist, dass mit der Verlagerung auf eine Begründung der Kritik
das nicht erreicht wird, was damit erreicht werden soll, nämlich eine Begründung,
die der Gesellschaftstheorie eine überzeugende, ja unanfechtbare Grundlage gibt.
Mit dem moralphilosophischen Argument entgeht man nämlich nicht dem Prob-
lem, das jede Gesellschaftstheorie als eine wissenschaftliche Theorie hat: dass sie
nämlich Gegenstand von Widerlegungsversuchen wird. Adorno hat auf dieses
Problem hingewiesen. Moralische Fragen würden nicht durch die üblichen läppi-
schen philosophischen Beispiele angezeigt, vielmehr ließen sie sich in bündigen
Sätzen zusammenfassen: Es soll nicht gefoltert werden, es sollen keine Konzentra-
tionslager sein. Den Moralphilosophen, die nun glaubten, ihn, den Kritiker der
Moral, doch bei normativen Sätzen erwischt zu haben, hält er entgegen: »Wahr sind
die Sätze als Impuls, wenn gemeldet wird, irgendwo sei gefoltert worden. Sie
dürfen sich nicht rationalisieren; als abstraktes Prinzip gerieten sie sogleich in die
schlechte Unendlichkeit ihrer Ableitung und Gültigkeit« (Adorno 1966, S. 281). Es
bekommt etwas Geschmackloses, gar Zynisches, wenn die Verurteilung der Folter
davon abhängig sein soll, dass die Argumente für die Begründung eines solchen
moralischen Urteils auch Einwänden stand halten. Gerade in eine solche zwei-
felhafte Situation geriete kritische Theorie, wenn sie ihre Grundlage in moral-
philosophisch unumstößlichen Normen zu finden hoffte. Philosophiegeschichtlich
werden solche letzten Gründe für moralische Normen seit Jahrhunderten gesucht,
und bislang ohne Erfolg. Doch konkrete Gesellschaftskritik wartet nicht auf eine
letzte, unwiderlegbare Begründung – und kann auch nicht darauf warten.
Das Problem, widerlegt zu werden, hat die Theorie auch von Habermas längst
schon eingeholt. Um nur ein mögliches Argument zu nennen, das von Michael
Walzer (1990, S. 20) und Axel Honneth (2000, S. 97 f.) vorgetragen wurde: Die tiefe
Ebene der natürlichen Sprache und der mit ihr verbundenen kommunikativen
Ansprüche ist gar nicht mit den Erfahrungen und den besonderen Bedürfnissen
und Interessen der Individuen verbunden. Tatsächlich kann Habermas nicht er-
klären, warum die Norm des unverzerrten Sprechens, die mit der natürlichen
Sprache, also mit der Existenz der Menschheit als solcher verbunden sein soll,
historisch erst so spät, also erst heute zur Grundlage der Kritik wird. Schon zu
früheren Zeitpunkten jedoch waren die Menschen in der Lage, Kritik zu üben; und
in der Gegenwart gibt es vielfältige Formen von Kritik, die sich nicht auf die
Fähigkeit zum kommunikativen und öffentlichen Austausch von Argumenten
berufen. Ohne Zweifel entfaltet Habermas in seiner Theorie wichtige Einsichten in
die ungeheure gesellschaftliche Produktivität und Kreativität der kollektiven Dis-
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 15

kussion und des kommunikativen Austauschs. Doch er möchte diese gesellschaft-


liche Potenz der Kommunikationsverhältnisse gleichsam auf seine Theorie ver-
pflichten. Diese Beschränkung gelingt nicht und führt zu einer für Habermas selbst
nicht auflösbaren Paradoxie: seine eigene Theorie ist nicht widerlegbar. Das er-
weckt den Eindruck, als hätte er den von Adorno angesprochenen Nachteil
moralphilosophischer Argumentation, sich in die Unendlichkeit von Einwänden
und neuen Begründungen zu verlieren, überwunden. Habermas kann nicht wider-
legt werden. Denn jedes Argument gegen ihn ist immer noch ein Argument; es
würde also diskursiv auf die Einlösung eines erhobenen Geltungsanspruchs zielen
– und damit würde es nur bestätigen, dass Habermas mit seiner Theorie recht hat.
Gleichzeitig aber widerspricht seine Theorie auf diese Weise ihrem eigenen An-
spruch, dass sie nämlich Geltungsansprüche erhebt, die in der offenen Diskussion
widerlegt werden können und zu einer Veränderung der Einstellungen führen. Die
Produktivität und Kreativität ebenso wie der agonale Charakter von Diskussionen,
die schließlich immer wieder zu unvorhergesehenen Ergebnissen führen, werden
durch solche universalistischen Vorsichtsmaßnahmen und Hegungsversuche be-
grenzt.
Ich meine, dass Versuche zur Begründung von Kritik die kritische Gesellschafts-
theorie nicht weiterbringen. Sie münden ihrerseits in philosophische Diskussionen,
die wenig zur konkreten Einsicht in gesellschaftliche Prozesse beitragen. Es scheint
mir die Rückwendung von Michel Foucault sehr plausibel, sich zu fragen, was es
historisch mit der Obsession der Kritik, mit der kritischen Praxis als Haltung auf
sich hat. Foucaults Antwort: Werden die Individuen mittels Machtmechanismen
regiert, die sich auf Wahrheit berufen, so ist die Kritik der Versuch, die Macht-
effekte der Wahrheit zurückzuweisen und sich in der Kunst der freiwilligen
»Entunterwerfung« zu üben (Foucault 1992, S. 15). Kritik muss sich deswegen
material und nach vielen Hinsichten entfalten, sie darf nicht zusammenschrumpfen
auf eine philosophische Formel, die nun mit Macht bei jeder Gelegenheit ihre
Wahrheit zur Geltung bringen will.
Genauer betrachtet sind auch solche moralischen Begründungsformeln gesell-
schaftstheoretisch nicht neutral und implizieren jeweils eine bestimmte Auffassung
von Gesellschaft. In der älteren Kritischen Theorie ist dementsprechend auch die
Kritik nicht von der Analyse von Gesellschaft getrennt. Das beinhaltet eine Ver-
pflichtung nach beiden Seiten. Denn die materiale Seite des gesellschaftlichen
Prozesses kann ihrerseits nicht unter der Form der Anschauung, also positivistisch
dargestellt werden; immer muss präsent bleiben, dass es sich um eine begriffliche,
argumentative Arbeit handelt. Daraus ergibt sich die eigenartige Verschlungenheit
von Philosophie und Soziologie in den Texten der älteren Kritischen Theorie. Sie
entfaltet dies – ähnlich wie Marx in seiner Kritik an den Theorien über den
Mehrwert – in einer Auseinandersetzung mit dem, was Horkheimer als traditio-
nelle Theorie charakterisiert. Diese unterstellt eine äußere Welt als faktisch gege-
ben, als ein Inbegriff von Faktizitäten, die so da sind – entsprechend wird der
Mensch als von der Natur getrennt begriffen, der bestrebt ist, sie zu beherrschen.
Dieser traditionellen Konzeption nach steht am Ende der wissenschaftlichen Be-
mühungen ein universales theoretisches System, in dem alle einzelnen Einsichten
16 Alex Demirovic

ihren logisch widerspruchsfreien Platz haben. Horkheimer unterstreicht dem-


gegenüber die Annahme der Kritischen Theorie, dass die Wirklichkeit nur auf
konkrete Weise erkannt werde, weil sie von vornherein durch kollektive soziale
Praxis angeeignet, verändert und reproduziert werde – im Kontext dieser Praxis
entfalten sich auch alle kognitiven und intellektuellen Fähigkeiten der Individuen.
Die Vernunft ist selbst Natur, die sich durch Kreativität und Einsicht vom bloßen
Ablauf der natürlichen Gesetzmäßigkeiten befreien kann. »Aufklärung ist mehr als
Aufklärung, Natur, die in ihrer Entfremdung vernehmbar wird […] Naturver-
fallenheit besteht in der Naturbeherrschung, ohne die Geist nicht existiert. Durch
die Bescheidung, in der dieser als Herrschaft sich bekennt und in Natur zurück-
nimmt, zergeht ihm der herrschaftliche Anspruch, der ihn gerade der Natur
versklavt« (Horkheimer, Adorno 1944, S. 63). Erkenntnis ist demnach ein kollekti-
ver praktischer Prozess, zu dem die Einzelnen mit ihren jeweiligen Fähigkeiten
beitragen. Diese Überlegung, dass Welt und menschliche Praxis eine konstitutive
Einheit bilden, berührt das Verständnis der Theorie an einem entscheidenden
Punkt. Die Theorie ist nämlich immer schon eine tätige, verändernde Aneignung
dieser Wirklichkeit; sie ist selbst ein besonderes Verhältnis in ihr, steht ihr also
nicht frontal im Sinne einer Subjekt-Objekt-Relation gegenüber. Doch die gesell-
schaftliche Wirklichkeit ist von Konflikten durchzogen. Es gibt wirkliche Ver-
hältnisse, die sich dieser theoretischen Praxis, diesem besonderen Verhältnis der
vernünftigen Aneignung und Bearbeitung zu entziehen versuchen. Es lässt sich
deswegen auch davon sprechen, dass es sich um ein besonderes Kräfteverhältnis
handelt zwischen solchen Kräften, die die gesellschaftliche und natürliche Wirk-
lichkeit der tätigen Erkenntnis entziehen wollen, weil ihnen gerade die Natur-
wüchsigkeit, die Beschränkung der Rationalität einen Nutzen bringt. Es handelt
sich um ein besonderes Kräfteverhältnis, denn die Annahme, dass die Gesellschaft
und die Natur sich außerhalb der Reichweite der menschlichen Praxis befinden
und Gegenstand einer technisch Manipulation sind, ist ja kein traditionelles Über-
bleibsel, sondern Ergebnis fortwährender wissenschaftlicher, rationaler, herrschaft-
licher Bemühungen. Diese Bemühungen sind sich aber ihrer tätigen Einheit mit
ihrem Erkenntnisgegenstand nicht bewusst oder leugnen ihn. Wissenschaft wird zu
Ideologie: »Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbständigt wird, als ob er
etwa aus dem inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu be-
gründen sei, verwandelt er sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie«
(Horkheimer 1937, S. 168). Sofern die Theorie dieses traditionellen, empiristischen
Typs doch kritisch ist, ist die Kritik dem Erkenntnisprozess als moralischer Ge-
sichtspunkt vorgeschaltet und bleibt ihm als Gesinnung äußerlich. Der Dualismus
von Denken und Sein, von Sein und Sollen, die »Abhebung intellektueller Teilvor-
gänge von der gesamtgesellschaftlichen Praxis« bleibt erhalten (ebd., S. 173). Kriti-
sche Theorie unterscheide sich weniger durch ihren Gegenstand, als vielmehr
durch ihre Haltung: die Sachverhalte, die in der Wahrnehmung gegeben sind,
werden als Produkte einer kollektiven Praxis begriffen, die unter menschliche
Kontrolle gehören. Das Denken wird sich seines Beitrags zur gesellschaftlichen
Arbeitsteilung bewusst, der darin besteht, dass es die intellektuellen, konzeptiven,
planerischen, wissenschaftlich-künstlerischen Tätigkeiten als besondere Funktio-
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 17

nen bündelt und monopolisiert und auf diese Weise an der Unmündigkeit von
Menschen mitwirkt. Kritische Theoriebildung ist demnach die reflexive Analyse
dieser Stellung der Vernunft zur Wirklichkeit und der Folgen für die Organisation
der Gesellschaft. Entsprechend begreift Horkheimer kritische Theorie als ein
»einziges entfaltetes Existenzialurteil« (ebd., S. 201). Sie muss derart beschaffen
sein, dass sie gleichzeitig material die Gesellschaft bestimmt und dem Gestus der
eigenen Rede nach auch Kritik einschließt. Dies ist nicht durch eine äußerlich
bleibende Parteilichkeit für besondere gesellschaftliche Gruppen möglich, sondern
allein durch das reflexive Wissen der Vernunft über die Folgen, die es für sie selbst
hat, wenn sie sich aus den Zusammenhängen der gesellschaftlichen Kooperation
herauslöst und sich in die hierarchische Position der überlegenen, befehlenden,
planenden und beherrschenden Vernunft bringt – also die gesellschaftliche Arbeits-
teilung in der Weise strukturiert, dass sie selbst eine Position einnimmt, die ihr
erlaubt, die intellektuellen, rationalen Potenzen aller anzueignen.
Die Analyse der Vernunft ist demnach kein bloß philosophisches Problem,
sondern eines des historischen Stands der Arbeitsteilung; sie gibt darüber Aus-
kunft, wie rational die Kooperation zwischen den Individuen und ihren Tätig-
keiten organisiert ist. Reflektiert die Vernunft auf sich selbst, so ist sie gerade auch
darin ein Moment der elliptischen, widersprüchlichen Bewegung der Vernunft, die
ineins ebenso Moment von Herrschaft wie von Befreiung ist – durch Selbstrefle-
xion wird sie sich dessen bewusst, dass sie sich als naturbeherrschende von der
Natur distanziert und doch deren Opfer wird, weil sie nur die Gesetze der
Notwendigkeit nachvollzieht und in immer noch größeren wissenschaftlich-tech-
nischen Fortschritt umsetzt. Partikulare Form der Herrschaft und universale Per-
spektive sind in der Vernunft untrennbar. Dies führe zur Entwicklung einer
gewaltigen materiellen wie intellektuellen Apparatur; doch gleichzeitig sei gerade
wegen dieser materiellen Entwicklung, die notwendige Arbeit praktisch überflüssig
macht, die »gesellschaftliche Verwirklichung des Denkens so weit offen, daß
ihretwegen Denken von den Herrschenden selber als bloße Ideologie verleugnet
wird« (Horkheimer, Adorno 1944, S. 61). War die Organisation der Selbsterhaltung
die historische Grundlage noch der Herrschaft von Feudalen und des frühen
Bürgertums, so ist die gesellschaftliche Kooperation derart weit fortgeschritten,
dass alle gemeinsam diese Aufgabe erfüllen könnten (ebd., S. 66). Der Gesellschaft
wird ihr Verhältnis zur Natur transparent – es ist keine mystische Einheit von
Subjekt und Objekt, sondern bleibt ein Verhältnis –, die Menschen werden sich
ihres Zusammenlebens als eines kooperativen, kreativen, freien Zusammenhangs
bewusst.

II. Gesellschaft

Die Bemühungen um die Begründung der Kritik isolieren diesen Begriff von dem
der Gesellschaft und lassen außer Acht, dass kritische Theorie der Gesellschaft kein
positives Verständnis von Gesellschaft hat. Der Begriff der Gesellschaft meint ja
18 Alex Demirovic

sehr häufig eine nationalstaatlich konstituierte und umrissene Gesellschaft. Es


handelt sich um einen Container-Begriff: Gesellschaft ist demnach ein Raum, in
dem sich alles ereignet, was Gegenstand der Analyse ist – die dann in einem
weiteren Schritt erst um eine normative Kritik ergänzt wird. Über die Grenzen
dieses Raumes hinausgehende Verhältnisse werden entsprechend als internationale,
als politische Beziehungen bestimmt. Deren Gesellschaftlichkeit selbst wird in nur
geringem, im Zusammenhang mit der Globalisierungsdiskussion nun zunehmen-
den Maße thematisiert. Allerdings wird häufig allein das Container-Modell der
nationalstaatlich-territorialen Gesellschaft ausgedehnt auf größere Räume, in denen
sich Transport, Kommunikation, Wirtschaft, politische Entscheidungen, rechtliche
Normierungen zu besonderen Aktionsbündeln verdichten. Das gilt für die Euro-
päische Union, die in jüngster Zeit nicht mehr nur als ein zwischenstaatlicher
Zusammenschluss, sondern allmählich auch als eine neue Stufe von Gesellschaft
gesehen wird (vgl. Kaelble 1997).
Die Beschränkung auf den nationalstaatlich begrenzten Begriff von Gesellschaft
ist deswegen bemerkenswert, weil es in der Geschichte der Soziologie neben
Durkheim und Weber, die deutlich nationalstaatliche Gesellschaften vor Augen
hatten, immer auch Bemühungen gab, eine Ebene der Analyse zu wählen, die
unterhalb des Niveaus solcher territorial begrenzter Einheiten angesiedelt war. Für
Luhmann ist Gesellschaft durch Kommunikation bestimmt; insofern ist Gesell-
schaft identisch mit Weltgesellschaft. Nationale Grenzen sind auch ihrerseits nur
weltgesellschaftliche Kommunikation; Nationalstaaten überlagern als Differenzie-
rungen zweiter Ordnung primäre, weltweite Kommunikationen in den einzelnen
Funktionssystemen wie Wirtschaft, Wissenschaft, Politik und Kunst.
Marx hat für die kritische Gesellschaftstheorie eine Sichtweise erschlossen, die
sich nicht von den Grenzen der nationalstaatlichen Gesellschaft beschränken lässt.
Die bürgerliche Gesellschaftsformation, in der die kapitalistische Produktionsweise
herrscht, ist ein Verhältnis, das quer zu staatlichen Grenzen steht. Es stellt sich
überall dort ein, wo Menschen Glieder einer Arbeitsteilung werden, in denen das
Ergebnis ihrer Tätigkeit wie ihre Arbeitskraft zur Ware wird. Auch in diesem Fall
ist der Nationalstaat eine sekundäre Form der modernen, bürgerlichen Gesell-
schaft. Diese Form des Nationalstaats wird auf der Grundlage des Kapitalver-
hältnisses reproduziert, das sich seit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Weltmarkt
ausdehnt hat. Das Verhältnis von Weltmarkt und Nationalstaat reproduziert sich
seitdem auf historisch erweiterter Stufenleiter. Waren Verwertungsinteressen bis-
lang mit der Erhaltung nationalstaatlicher Grenzen, Interessenvermittlung und
Regulierung verbunden, so wenden sie sich gegenwärtig davon ab – dieser Prozess
wird versucht, in zahlreichen Begriffen wie Globalisierung, global governance,
nationaler Wettbewerbsstaat, schumpeterianisches Workfare-Regime oder Empire
zu fassen. Der Staat verändert offenkundig seine Bedeutung als Nationalstaat, wird
mehr zu einem Moment des Gesamtprozesses als dass er konstitutiver Rahmen
bleibt, er deterritorialisiert sich, verliert seine institutionelle Einheit und nimmt die
Gestalt eines Ensembles von politischen Stütz- und Knotenpunkten in einem
transnationalen gesellschaftlichen und politischen Prozess an.
Die ältere Kritische Theorie folgte bei der Bestimmung von Weltmarkt und
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 19

nationalstaatlicher Gesellschaft den Überlegungen von Marx. Ihre Analysen zur


Veränderung des Kapitalismus durch die Inwertsetzung und Industrialisierung von
Kultur ebenso wie ihre Analysen zum Sozialcharakter machen deutlich, dass
Horkheimer und Adorno der Ansicht sind, dass neue Formen des Kapitalver-
hältnisses die nationalstaatlich konstituierten Gesellschaften durchdringen und
reorganisieren. Hier sehen sie Spannungen auftreten, die zu Ungleichzeitigkeiten in
den Entwicklungen der einzelnen Staaten führen. Insgesamt scheint die Analyse so
aufgebaut, dass es nationalstaatliche Gesellschaften gibt, denen die Form der
kapitalistischen Warenvergesellschaftung zugrunde liegt. Ökonomische und tech-
nisch-wissenschaftliche Dynamiken brechen sich jedoch an politischen und kultu-
rellen Traditionen, die Ergebnisse historisch spezifischer Kämpfe und sozialer und
räumlicher Kompromisse sind.
Mit Blick auf den Gesellschaftsbegriff hat die ältere Kritische Theorie allerdings
noch eine andere Bedeutung entfaltet. Kritik der Gesellschaft meint in diesem Fall
nicht nur die kritische Analyse dessen, was in einer Gesellschaft stattfindet, son-
dern Kritik zielt auch auf Gesellschaft selbst, also die Form Gesellschaft, Gesell-
schaftlichkeit als solche. Gesellschaft gilt also nicht als theoretische Selbstverständ-
lichkeit, sondern als eine zu problematisierende Universalie des soziologischen
Alltagsverstands. Der Begriff der Gesellschaft ist ein negativer. So wie sich die
Aufklärung überflüssig machen soll, ist auch Gesellschaft nur eine historische
Form des Zusammenlebens der Menschen, eine bürgerliche Form, die sich ver-
sucht, als Totalität zu setzen. Einige Hinweise auf diese These will ich hier
anführen. In einem Brief vom Mai 1945 anlässlich einer ephemeren Beobachtung
anderer Schiffspassagiere betont Horkheimer gegenüber Adorno den problemati-
schen Charakter des Begriffs und der Form der Gesellschaft. Gesellschaft als Form
assoziiert er mit Härte, mit dem Zwang von Menschen, andere zu zwingen, die
Natur zu zwingen, damit nicht umgekehrt die Natur die Menschen zwingt.
»Das ist der Begriff der Gesellschaft. Unsere spezifische Aufgabe ist es, ihn präzise in seiner
Bedingheit zu erkennen, ohne, wie Hegel, den Geist zu setzen. Kritik der Soziologie ist die
des totalen Gesellschaftsbegriffs, dem seit Hegel alle verfallen sind, selbst der ›gute Europäer‹
[…] Bei all dem hat man aber das Gefühl, dass die Gesellschaft im prägnanten Sinn heute
ausgespielt hat. Eigentlich gibt es doch gar nicht mehr, was die alle darunter verstanden haben
– so wenig wie Europa. Als die Gesellschaft sich zur Wissenschaft erhob, schwand sie dahin.
Aber der Zwang ist geblieben. Wir müssen das Falsche an diesem Prozeß bestimmen.«
(Horkheimer an Adorno, 8.5. 1949, in: Horkheimer 1996, S. 31)

Horkheimer setzt in diesen wenigen Sätzen mehrere Akzente: Zunächst will er den
Begriff der Gesellschaft als einen bedingten, vermittelten begreifen, dieser Begriff
ist demnach nicht der allgemeinste und umfassendste, der allen anderen gesell-
schaftlichen Phänomenen vorausgeht; dem entspricht die Absicht, den totalen
Begriff der Gesellschaft zu kritisieren, wie er in der Soziologie Verwendung findet.
Gleichzeitig lassen die Sätze aber auch den Eindruck entstehen, dass der Begriff der
Gesellschaft aufgrund der gesellschaftlichen Entwicklung selbst seinen Sinn ver-
loren hat, der von Horkheimer offenkundig positiv bewertet wird. Es stellt sich die
Frage, ob Gesellschaft von ihm nur insofern kritisiert wird, als sie zur totalen
Gesellschaft sich entwickelt hat. Adornos Antwort legt dies nahe. Totale Verge-
20 Alex Demirovic

sellschaftung ergebe sich aus den Bedingungen der gegenwärtigen Integration.


»Das Veralten des Begriffs Gesellschaft kann man beinah dem Wort anhören, das
ganz nach neunzehntem Jahrhundert klingt und auf die vollkommen verdinglichte
Form des Zusammenlebens heute, die Menschheit in ihrer negativen Gestalt, gar
nicht zutrifft.« Diese Überlegung legt nahe, dass Adorno durchaus einen Begriff
von Gesellschaft unterlegt, der, wenn er auch eher aufs 19. Jahrhundert passt, doch
noch Kriterien zur Verfügung stellt, an denen gemessen die weitere Entwicklung
als ein Rückschritt erscheint. Aber er gibt diesem historischen Verlauf auch eine
Bedeutung, durch die Gesellschaft deutlicher als ein problematischer Begriff er-
scheint. »Positiv scheint mir die Überholtheit der Gesellschaft darauf hinaus-
zulaufen, daß die Produktivkräfte einen Stand erreicht haben, der nicht nur die
Herrschaft über andere Menschen, sondern wahrscheinlich sogar das alte Unrecht
gegen die lebendige Natur überflüssig macht – daß die Naturbeherrschung einer
Dialektik unterliegt, die sie am Ende selber aufheben mag« (Adorno an Hork-
heimer, 19. 5. 1949, in: Horkheimer 1996, S. 32). Während Horkheimer in seinen
Formulierungen nahelegt, dass es Gesellschaft als Zwang geben muss, um die
Erhaltung menschlichen Lebens zu sichern, betont Adorno, dass Gesellschaft
tatsächlich durch Herrschaft von Menschen über Menschen und Natur konstitu-
tiert ist, und erinnert an die optimistische These in der Dialektik der Aufklärung,
derzufolge die Produktivkraftentwicklung im Prinzip jede Herrschaft überflüssig
mache. Diese Dialektik, keineswegs bloß ein kulturkritisch zu beklagender Rück-
schritt, ist auch der Grund dafür, dass Gesellschaft selbst als überholt gelten kann.
Diese Überlegungen zur Kritik der Soziologie und des Begriffs der Gesellschaft
wurden in dieser expliziten Weise von Horkheimer später nicht mehr weiter
verfolgt. Auch Adorno behandelt diese Frage nur sehr vorsichtig. Doch es lassen
sich Spuren des Arguments erkennen. Gesellschaft sei nicht die »höchste Abstrak-
tion«, die »alle anderen Gebilde unter sich beschlösse« (Adorno 1965, S. 9), nicht
das Universum seiner Elemente, auch nicht Totalität in dem trivialen Sinn, dass
alles mit allem zusammenhängt (ebd., S. 13). Weder sei Gesellschaft selbst ein
Faktum, noch durch Abstraktion aus Einzeltatsachen zu gewinnen. Gesellschaft sei
ein Prozess und ein funktionaler Zusammenhang, der nicht unmittelbar gegeben
ist; sie sei diskontinuierlich und fragmentarisch. Wenn Adorno von einer »totalen
Vergesellschaftung« spricht, dann meint dies entsprechend, dass Gesellschaft ein
besonderer Prozess ist, der Individuen neben anderen Formen des Zusammen-
lebens in ein Verhältnis zueinander setzt. Dieser Prozess ist der Tausch; er ab-
strahiert zwangsläufig von allen qualitativen Momenten, denn seinem Prinzip nach
ist er eine soziale Handlung, in dem zwei Besonderheiten dadurch verglichen
werden, dass sie in ein Verhältnis zu einem Dritten gesetzt werden. So bleiben die
konkreten Momente außer Betracht, es zählt allein der Gesichtspunkt ihrer Gleich-
wertigkeit; sie werden also nicht für sich genommen, sondern auf anderes redu-
ziert, nämlich auf gesellschaftlich durchschnittlich notwendige Arbeitszeit, um
schließlich nach diesem Prinzip quantifiziert zu werden. Allein in dieser Weise,
nämlich durch den Tausch in ein Verhältnis gesetzt zu sein, findet Vergesellschaf-
tung konkreter Gegenstände ebenso wie der Menschen und ihrer Tätigkeiten statt.
Vergesellschaftung geschieht den Menschen also wie von außen und mit einer
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 21

gewissen Gewaltsamkeit. Ob sie sich überhaupt vergesellschaften können, erfahren


sie erst nach Abschluss des ganzen Tauschvorgangs. Damit sie aber erwarten
können, sich zu vergesellschaften, müssen sie Erwartungen über den Tauschvor-
gang ausbilden, also über die Erwartungen, die andere hegen, müssen realitätstüch-
tig sein und sich anpassen. Gesellschaft nimmt auf diese Weise die Form von
Allgemeinheit an, die das Besondere und die Zwangsmitglieder beherrscht. Ent-
sprechend kritisiert Adorno den Umstand, dass die Menschen als Mitglieder der
Gesellschaft sich dem Warentausch unterwerfen müssen, also die Reduktion der
besonderen Individuen auf eine Funktion im totalisierenden Zusammenhang.
Nun könnte man zunächst denken, dass Adorno hier doch ganz moralisch
argumentiert; die Kritik bestünde darin, dass das Individuum subsumiert wird
unter den einen, seine Besonderheit leugnenden Zusammenhang, der im Wesentli-
chen nach abstrakten, monetären Gesichtspunkten funktioniert. Genauer betrach-
tet, setzt die Analyse und Kritik einen anderen Akzent. Gesellschaft ist weniger als
das Ganze des menschlichen Zusammenlebens; sie ist ein Gewaltverhältnis und
nicht rational durch die Individuen vermittelt, sie ist ein totalisierender Zusammen-
hang und als solcher bestrebt, ein vollständig vermitteltes, einheitliches Ganzes
herzustellen. Diese Tendenz zur Formierung eines homogenen Ganzen, das seiner
eigenen Teleologie gehorcht, bestimmt auch die kritische Analyse des gesellschaft-
lichen Gesamtprozesses: alle Bereiche der Politik, der Kultur, der Wissenschaften
sowie der individuellen Verhaltensmöglichkeiten werden als derart durchdrungen
und reorganisiert verstanden, dass sie sich zu einer Einheit fügen, die von den
großen Unternehmen kontrolliert und gelenkt werden kann. Reelle Subsumtion
besteht insofern nicht nur aus der Unterordnung unter das Tauschverhältnis,
sondern hat auch einen formierenden, verändernden Aspekt. Die entscheidende
und so häufig übersehene These in der Kritischen Theorie ist, dass diese Einheit,
dass Gesellschaft bislang nicht gelungen ist und nicht gelingen wird. Denn der
Prozess der zwanghaften Vergesellschaftung durch den Tausch gründet die Kon-
stitution der Gesellschaft auf einen Selbstbetrug. Der Grund dafür ist, dass im
Namen des Austauschs gleicher Quanta abstrakter Arbeit, die für die der Her-
stellung der Produkte durchschnittlich notwendig ist, faktisch die Mehrarbeit der
unmittelbar Arbeitenden angeeignet wird; im Namen der Gerechtigkeit wird die
Enteignung vollzogen – dieser Betrug ist jedoch keine oder nicht nur Täuschung,
denn die Enteignung kann nur vollzogen werden, da sie als gerecht erscheint (vgl.
Adorno 1966, S. 249 f.). Der Vergesellschaftungsprozess »vollzieht sich nicht jen-
seits der Konflikte und Antagonismen oder trotz ihrer. Sein Medium sind die
Antagonismen selbst, welche gleichzeitig die Gesellschaft zerreißen […] Einzig
durch das Profitinteresse hindurch und den immanent-gesamtgesellschaftlichen
Bruch« erhalte sich das Getriebe. Nach wie vor seien die Produktionsverhältnisse
durch den Klassengegensatz charakterisiert; der Klassenunterschied wachse ob-
jektiv sogar noch an (Adorno 1965, S. 15). Der Vergesellschaftungsprozess zeichnet
sich also dadurch aus, das er ein Ganzes werden und sich in sich selbst zu einer
Totalität verschließen will, in der alles als Gleiches aufgeht. Um dies zu erreichen,
muss er jedoch die fortdauernden Gegensätze und die Tatsache der Vielfältigkeit
leugnen. Gleichzeitig gelingt dem Vergesellschaftsprozess jedoch nicht, sich zu
22 Alex Demirovic

totalisieren. »Nicht bloß verlangt das Ganze, um nicht unterzugehen, seine Ände-
rung, sondern ist ihm auch, kraft seines antagonistischen Wesens, unmöglich, jene
volle Identität mit den Menschen zu erzwingen, die in den negativen Utopien
goutiert wird« (Adorno 1964, S. 632). Totalisierungsprozesse finden statt, doch sie
scheitern, und zwar gerade an den inneren Widersprüchlichkeiten eben dieses
Vergesellschaftungsprozesses selbst, der durch Antagonismen gekennzeichnet ist,
durch Tauschhandlungen, in denen eine Seite immer wieder des Profits wegen um
einen Teil ihres Produkts betrogen wird. Gesellschaft besteht demnach aus den
prekären, weil immer wieder fehlschlagenden Versuchen, eine Totalität herzustel-
len, die jeweils an ihren eigenen Konstruktionsprinzipien zerbricht.
Adorno spricht nun durchaus von der »rational durchsichtigen, wahrhaft freien
Gesellschaft« – die der Verwaltung so wenig wie der Arbeitsteilung entraten
könnte (Adorno 1965, S. 17). Nach diesem Begriff einer gelingenden Gesellschaft
wird von ihm auch der positive Aspekt des Tausches gedeutet. Annullierte man das
Identitätsprinzip, die Maßkategorie der Vergleichbarkeit, »so träten anstelle der
Rationalität, die ideologisch zwar, doch auch als Versprechen dem Tauschprinzip
innewohnt, unmittelbare Aneignung, Gewalt, heutzutage: nacktes Privileg von
Monopolen und Cliquen. Kritik am Tauschprinzip als dem identifizierenden des
Denkens will, daß das Ideal freien und gerechten Tauschs, bis heute bloß Vorwand,
verwirklicht werde. Das allein transzendierte den Tausch« (Adorno 1966, S. 250).
Aufgrund solcher Formulierungen lässt sich vielleicht zunächst noch annehmen,
dass Adorno einen ganz emphatischen Begriff von gesellschaftlicher Totalität haben
könnte, von einer Gesellschaft, in der es keine inneren Widersprüche mehr gäbe.
Doch Adorno äußert sich hinsichtlich des Totalitätsbegriffs deutlich negativ:
»Nicht etwa ist die Totalität das Interesse der kritischen Theorie der Gesellschaft
derart, daß sie jene herstellen möchte« (Adorno 1968, S. 587). Es verhält sich also
komplizierter. Denn Adorno zufolge treten Menschen in eine Gesellschaft ein, um
sich durch Zusammenschluss und gemeinsame Praxis zu erhalten. Eine Gesell-
schaft, die ganz ihrem Begriff entsprechen würde, in der Gesellschaftlichkeit selbst
die höchste Potenz des Zusammenhandelns entfalten würde, wäre jedoch keine
Gesellschaft als Totalität mehr.
»Bleibt die Menschheit eingefangen von der Totalität, die sie selbst bildet, so hat, nach Kafkas
Wort, ein Fortschritt noch gar nicht stattgefunden, während doch bloß Totalität erlaubt, ihn
zu denken. Am einfachsten ist das zu verdeutlichen durch die Bestimmung von Menschheit
als des schlechterdings nichts Ausschließenden. Würde sie eine Totalität, die in sich selbst
kein begrenzendes Prinzip mehr enthält, so wäre sie zugleich ledig des Zwangs, der alle ihre
Glieder einem solchen Prinzip unterwirft, und wäre damit Totalität nicht länger, keine
erzwungene Einheit.« (Adorno 1964, S. 619)

Gesellschaft, die ihrem Begriff entspräche, ginge über in Menschheit; und mensch-
heitliches Zusammenleben stellt sich Adorno ganz offensichtlich nicht mehr in der
Kategorie der Gesellschaft oder der Totalität vor – also weder Weltstaat noch
Weltgesellschaft.
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 23

III. Und schließlich: Theorie

Häufig wurde die ältere Kritische Theorie wegen ihres pessimistisch-kulturkriti-


schen Charakters abgelehnt. In den voranstehenden Abschnitten habe ich so
argumentiert, dass diese Theorie deutlich Perspektiven der Freiheit und Vernunft
zeichnet, auf keinen Fall aber durch geschichtsphilosophisch begründeten Zu-
kunftsoptimismus der Geschichte und damit der Freiheit der Handelnden vor-
greifen will. Genau besehen, bemühten sich Horkheimer und Adorno um den
Nachweis, dass der Gesamtprozess der modernen kapitalistischen Gesellschafts-
formation ohne Zweifel zu Totalisierung und Barbarei tendiert, gleichzeitig aber
auch die Bedingungen einer Zukunft der Freiheit entfaltet. Doch wollten sie keinen
versöhnlichen Goldgrund malen, der den Handelnden gleichsam anzeigt, dass alles
schon gut wird. Sie wollten einen langfristig angelegten widersprüchlichen Prozess
thematisieren, der sich im Wesentlichen aus der herrschaftlichen Teilung von
körperlicher und geistiger Arbeit ergibt und die Vernunft als Organ einer freien
Gestaltung des Zusammenlebens immer weiter von den Lebensverhältnissen der
vielen Individuen trennt und partikularen Interessen unterwirft. Doch in diesem
Herrschaftsprozess werden die Vernunft und das menschliche Zusammenhandeln
als entscheidende Form der gesellschaftlichen Produktivkraft fortentwickelt und in
diesem Prozess selbst frei gesetzt, weil die Herrschenden sich von Vernunft
bedroht fühlen. Der Kapitalismus kann sich auf Vernunft gar nicht mehr stützen, er
hat selbst seine historische Notwendigkeit und schöpferische Bedeutung verloren.
Er wirkt zerstörerisch und strebt danach, die einstmals von ihm geschaffenen
Bedingungen der Gesellschaftlichkeit, der Freiheit, Rationalität und individuellen
Differenzierung nicht nur einzuschränken, sondern gar zu zerstören. Schon längst
ließe sich Emanzipation unbeschwert von materiellen Zwängen und Notwendig-
keiten verwirklichen. Stattdessen wird ein enormer herrschaftlicher Druck erzeugt,
der alles unter die Bedingungen einer integrierten Gesellschaft zusammenzwingen
will. Entsprechend beklagt Adorno weder – wie so viele, die sich auf kritische
Theorie berufen – Desintegration noch – wie Luhmann – Integration. Die Rede
von der Krise des Systems sei als Ideologie beliebt geworden. »Die Realität soll
nicht mehr konstruiert werden, weil sie allzu gründlich zu konstruieren wäre. Ihre
Irrationalität, die unterm Druck partikularer Rationalität sich verstärkt: die Desin-
tegration durch Integration, bietet dafür Vorwände.« (Adorno 1966, S. 34) Auf dem
Zivilisationsniveau entfalteter Produktion, politischer Demokratie und höchster
Bildung und Wissenschaft findet Barbarei nicht nur im Großen, sondern auch im
Kleinen des Alltags statt. Das Problem ist Gesellschaft als historisch spezifische
Form der Beherrschung des kooperativen Zusammenlebens.
Nun kann der Sinn der hier vorgeschlagenen Interpretation nicht sein, die ältere
Kritische Theorie auf falsche Weise zu aktualisieren. Horkheimer und Adorno
selbst wussten genau um die Zeitabhängigkeit ihrer Theorie bis ins Innere ihrer
Wahrheit selbst. Kritische Gesellschaftstheorie meint aus ihrer Sicht ein Projekt,
das die gesamte moderne, kapitalistische Gesellschaftsformation durchzieht, in
verschiedener Weise praktiziert wird und unterschiedliche Gestalt annimmt. Die
Theorie besteht nicht aus kanonischen Formeln; sie verliert ihren Projektcharakter
24 Alex Demirovic

nicht. Denn die Gesellschaftsformation wird durch immer neue Praxis reproduziert
und umgestaltet, da der Antagonismus fortexistiert; die Rationalität kritischer
Theoriebildung müssen sich die Akteure jeweils neu erschließen. Interessant an den
vorgestellten Überlegungen der älteren Kritischen Theorie erscheint mir hier zwei-
erlei: (a) das Problematisierungsniveau; (b) der Hinweis auf schon mögliche Frei-
heit.
(a) Mit dem Problematisierungsniveau meine ich die unaufdringliche Radikalität
der Theoriebildung, die auch die Frage nach der Gesellschaft selbst noch ein-
schließt. Adorno und Horkheimer sehen wohl – wenn auch nicht immer deutlich
genug – die Bedeutung von Klassenkompromissen als Grundlage für die Struktur-
bildung der Gesellschaft; sie sehen die Notwendigkeit und die damit verbundenen
Errungenschaften. Doch sehen sie auch den Preis, da die Kompromissbildung mit
enormen ökonomischen und politischen Krisen, mit Krieg und massenmörde-
rischer Barbarei einherging; vor allem betonen sie auch die negativen Folgen der
Integration sozial gegensätzlicher Interessenlagen für die Einzelnen, für die psych-
ischen Dispositionen und das Naturverhältnis.
Die Klage über die Desintegration der Gesellschaft, ihr Auseinandertreiben ist
heute vielfach der Tenor kritischer Analysen: Arbeitslosigkeit, Einwanderung,
Verarmungsprozesse, Demokratieverluste durch Globalisierung, Individualisie-
rung, Anomie, Gewalt, Auflösung von Familien, Unsicherheit. Dies richtet sich
gegen die Gesellschaftsfeindlichkeit des Neoliberalismus und die Privatisierung der
Gemeingüter. Doch die heute so verbreitete melancholische Geste der Kritik macht
die integrierte Gesellschaft zum Maßstab: Gemeinschaftlichkeit, relativer Wohl-
stand, Chancengleichheit oder Einbettung der Ökonomie in stabile soziale Ver-
hältnisse. Damit ist die Kritik immer davon bedroht, in Affirmation überzugehen.
Denn kaum jemand fragt nach den Folgen einer solchen Integration und des sie
befördernden neuen Kompromisses. Auch wenn es vielleicht besser wäre, diesen
zustande zu bringen, als sich bewusstlos dem von einem subjektlosen Chor vorge-
tragenen Appell zur Anpassung an die Prozesse der Deregulierung, der Entstaat-
lichung, der Aushöhlung der Demokratie, der Ungewissheit zu folgen, so sind
schon jetzt die sich abzeichnenden Folgen erkennbar: Das Naturgesetz des Wirt-
schaftswachstums bleibt bestehen, Ressourcen werden auch während der nächsten
Jahrzehnte überbeansprucht, die Arbeit nimmt extensiv und intensiv zu, die struk-
turelle Arbeitslosigkeit verschärft sich und die Ungleichverteilung des gesellschaft-
lichen Reichtums wächst. Es ist eine der wichtigen Überlegungen der jüngeren
gesellschaftstheoretischen Diskussion, dass Gesellschaft Ergebnis einer konstruk-
tiven Praxis der sozialen Akteure ist, ein Verallgemeinerungs- und Totalisierungs-
prozess, in dem einzelne Akteursgruppen ihre Lebensformen miteinander ver-
knüpfen und für einen überschaubaren Zeitraum bestimmte Regelmäßigkeiten des
kollektiven Lebens erzeugen (vgl. dazu Laclau/Mouffe 1991; Demirovic 1992).
Kritisch gegen die ältere Kritische Theorie ist festzuhalten, dass sie annahm, die
Kräftekonstellation des Fordismus würde historisch ein für allemal eingefroren.
Der einmal geschlossene Kompromiss würde zu einer derartig stabilen Integration
führen, dass Freiheit in das Außen dieser Gesellschaft abgedrängt und von dorther
residual wieder in den Prozess eingeführt werden könnte. Sie hat also nicht
Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 25

gesehen, was in der weiteren Diskussion seitdem von großer theoretischer Wichtig-
keit wurde, dass nämlich die Gesellschaft sich von einem umfassenden instabilen
Kompromissgleichgewicht zum nächsten fortbewegt. Auch in der Form der
zwanghaften Vergesellschaftung reproduziert sich Gesellschaft auf immer noch
höherer Stufenleiter und nimmt neue Gestalten an, die von einer neuen Dialektik
von Notwendigkeit und Freiheit bestimmt sind.
(b) Die Analyse der Dialektik der Aufklärung hatte ergeben, dass die Vernunft,
wenn sie sich auf ihre eigenen Grenzen besinnt, also selbstkritisch ihre privilegierte
»geistige« Rolle in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung erkennt, sich von ihrer
Herrschaftsfunktion leicht befreien kann. Denn Vernunft als eine solche, die auf
gesamtgesellschaftliche Veränderung zielt und mit anspruchsvoller Praxis der ver-
nünftigen Gestaltung verbunden sei, werde nicht mehr gebraucht und sei daher
freigesetzt. Freiheit erscheint also aufgrund der ungeheuren Entfaltung des gesell-
schaftlichen Reichtums und des Grades an Kooperation möglich, doch werde sie
mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln blockiert. Systematisch würden die
Vernunft entkräftet und die Verbindlichkeit der Theorie unterhöhlt – systematisch
werde Halbbildung erzeugt. Für Adorno war es ein entscheidender praktischer
Beitrag zur Emanzipation, der Theorie und der Vernunft verbindliche Geltung zu
verschaffen – also die Produktionsbedingungen von Vernunft zu reproduzieren
(vgl. dazu Demirovic 1999).
Betrachten wir die Konstellation aus heutiger Sicht, so hat sich an dieser
Aufgabe als solcher nichts geändert, doch ist der Kontext ein anderer. In den
vergangenen Jahrzehnten hat es zahlreiche Bemühungen gegeben, zu zeigen, dass
die Individuen in der Reproduktion der gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse
immer frei sind und sich Rationalität auch unter widrigen Bedingungen immer
wieder erneuert. In jüngster Zeit haben vor allem Michael Hardt und Antonio
Negri Argumente vorgetragen, die Gesichtspunkte der älteren Kritischen Theorie
wieder aktualisieren. Aus der Sicht dieser beiden Autoren ist die Entwicklung der
gesellschaftlichen Arbeit und Kooperation in eine Phase getreten, in der die
gesellschaftlichen Potenzen des Zusammenhandelns der Menge von Singularitäten
sich durchgesetzt haben. Die Trennung von körperlicher und geistiger Arbeit als
die wohl entscheidende Form der gesellschaftlichen Arbeitsteilung ist ihrer Sicht
nach aufgrund neuer Formen der immateriellen, intellektualisierten Arbeit tenden-
ziell überwunden. Sie gehen damit weiter als Horkheimer und Adorno, denen
zufolge das Bürgertum auf Distanz zur Vernunft gegangen war und sie freigelassen
hatte, ohne dass jedoch emanzipatorische Kräfte sie sich unter taylorisierten Ar-
beitsbedingungen hätten aneignen können. Heute hat die Form von Arbeit eine
Einheit von körperlicher und intellektueller Arbeit geschaffen, die Bedingung einer
historisch konkreten, objektiven Form von Freiheit ist. Demgegenüber hat die sich
in Gestalt einer neuen Form von globalisierter Netzwerkmacht als Empire reor-
ganisierende Herrschaft keine objektive Funktion mehr. An diesem Punkt wieder-
holen die beiden Autoren die Diagnose, die Horkheimer und Adorno 1944 ihrem
Buch über die Dialektik der Aufklärung schon zugrunde legten. Auch Hardt und
Negri wiederholen noch einmal, dass der Kapitalismus selbstreferentiell wird und
alle Prozesse sich nun innerhalb des Empire abspielen. Das gilt nun auch für die
26 Alex Demirovic

Kritik und kritische Theorie: die reelle Subsumtion ist abgeschlossen, mit dem
globalisierten Weltmarkt herrscht Immanenz. Der entscheidende Unterschied lässt
sich deutlich benennen: Nahmen Horkheimer und Adorno an, dass der kultur-
industrialisierte Spätkapitalismus alles mit Wiederholung, Eintönigkeit und Gleich-
heit banne und dem die Differenz, die Vielfalt und das Nichtidentische entgegen-
gehalten werden könne, so vermuten nun Hardt und Negri aufgrund ihrer Diag-
nose, dass sich die Reproduktion des Weltmarkts heute auf der Grundlage von
Differenz und Vielfalt vollzieht (vgl. Hardt/Negri 2002, S. 150ff.). Eines der wich-
tigsten Kriterien für Emanzipation verliert also seine emanzipatorische Kraft: Es
handelt sich um das Plädoyer für Differenz, für die Auflösung von binären
Gegensätzen und die Überwindung der Dialektik, also der Gesellschaft als Totali-
tät, die sich teleologisch selbst auf den Begriff bringt. Denn dieses Kriterium wurde
selbst schon in die Reproduktion des postmodernen Kapitalverhältnisses aufge-
nommen.
Auch wenn vieles gegen die These von Hardt und Negri spricht, dass die
Befreiung von der Notwendigkeit für alle unmittelbar möglich ist, so erinnert sie
doch mit Emphase daran, dass es Aufgabe kritischer Gesellschaftstheorie ist, das
Reich der Freiheit konkret auszuloten; und nehmen wir den Denkanstoß der
kritischen Gesellschaftstheorie von Horkheimer und Adorno ernst, dann ist diese
Freiheit von der Notwendigkeit schon seit langem möglich. Allerdings kann diese
Frage nicht allein theoretisch entschieden werden, sie ist auch eine Frage der Praxis.
Diese Möglichkeit der Freiheit muss den Individuen mit Evidenz vor Augen
stehen. »Aufklärung vollendet sich und hebt sich auf, wenn die nächsten prakti-
schen Zwecke als das erlangte Fernste sich enthüllen« (Horkheimer, Adorno 1944,
S. 66).

Literatur

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Schriften, Bd. 8, Frankfurt a. M. 1972
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Kritische Gesellschaftstheorie und Gesellschaft 27

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Kaelble, Hartmut (1997): Europäische Vielfalt und der Weg zu einer europäischen Gesell-
schaft, in: Hradil, Stefan/Immerfall, Stefan (Hrsg.): Die westeuropäischen Gesellschaften
im Vergleich, Opladen
Laclau, Ernesto/Mouffe, Chantal (1991): Hegemonie und radikale Demokratie, Wien
Walzer, Michael (1990): Kritik und Gemeinsinn, Berlin
TRUST ME
Alexander García Düttmann

Kann man Aufklären verneinen? Oder kann man nur aufklärend verneinen? For-
mal und nicht eigentlich klärend mag der Bescheid sein, Aufklärung könne nicht
verneint werden, weil Negativität als Medium der Verneinung, der Kritik, die einen
Ausgang anzeigt und einen Ausgang nimmt, eben das Aufklären ausmache und
Aufklärung stets auch Aufklärung über Aufklärung sei, Aufklärung, die sich nicht
bei einer Vorstellung oder einem Begriff ihrer selbst beruhigt. Das Über der
Reflexion, das sich noch auf die Reflexion richtet und sie in eine Reflexion der
Reflexion, in zweite Reflexion oder in Selbstreflexion verwandelt, in Eingedenken
oder Selbstbesinnung, die über das Reflektieren und Spekulieren aufklärt, statt sich
von ihm leiten zu lassen, gehört konstitutiv zur Aufklärung, ist von ihr nicht
ablösbar. In dem Maße, in dem Aufklärung eines anderen bedarf, unablösbar
Aufklärung über etwas ist, das sie erhellt, bleibt sie an eine Voraussetzung ge-
bunden, an eine dunkle oder wolkige Vergangenheit, verhält sie sich dem Neuen
gegenüber gleichgültig oder feindlich und richtet sie Negativität gegen Negativität.
In dem Maße aber, in dem das Über an keine bestimmte Voraussetzung gebunden
sein darf und Aufklärung ihm so sehr untersteht wie es der Aufklärung, ist
Aufklärung ein unablässiges und grundsätzlich offenes Entwerfen ihrer selbst,
offen für und gar angewiesen auf das Neue, ohne das sie zu erstarren und sich in
einen Selbstwiderspruch zu verwickeln droht. In dem Maße schließlich, in dem ihr
das Neue wiederum zu einem Vorausgesetzten wird, das sie auflöst, ist Aufklärung
nichts als ein Medium, eine Mitte, in der Kräfte aufeinandertreffen, die sich nie zu
einem positiv Gesetzten verselbständigen. Ihre eigene Kraft liegt in der Negativität
der Auflösung, des entwerfenden Auflösens und des auflösenden Entwerfens.
Jede Verneinung der Aufklärung würde also lediglich zu dieser beitragen, diese
weitertreiben, über sich hinaus und dadurch gerade auf sich zu. Die Öffnung der
Aufklärung, durch die sie sich zu einem Vergangenen und einem Kommenden
verhält, prägt ihren Gegenwartsbezug oder ihren strukturell modernen Aspekt, die
»reine Aktualität«, um die es der »Haltung« des Aufklärers geht, die Foucault in
seinem bekannten Vortrag aus den frühen 80er Jahren als »attitude de modernité«
bezeichnet, als eine gegenwartsbezogene Haltung oder als ein Modernsein.1 Ob
man plötzlich des Verlusts eines vormals Geglaubten sich bewusst wird oder tätig
Aufklärung über die Heteronomie herrschender Bewusstseinsgestalten betreibt,
regelmäßig ist Aufklärung ein Eingriff, ein Einschnitt, der einen Gegenwartsbezug
schafft, einen Bezug zu einem Hier und Jetzt.

1 Michel Foucault, »Qu’est-ce que les Lumières?«, in: Dits et Ecrits, Bd. 4, Paris 1994, S. 564
und S. 568. Foucault wehrt sich dagegen, die Aufklärung lediglich als geschichtliches
Zeitalter zu definieren und spricht von ihr als einer »Art und Weise, sich zur Gegenwart
zu verhalten«, als einem »Ethos«.
TRUST ME 29

Das Hinaustreiben der Aufklärung über die Aufklärung, durch das sie sich über
sich aufklärt, setzt sie der Gegenaufklärung aus, dem Aberglauben und dem
Vorurteil, der ideologischen Handhabung ihrer Mittel, der selbstzerstörerischen
Beschränkung ihrer selbst, der Verklärung. Weil indes solches Hinaustreiben an
Aufklärung teilhat und sich damit in der Negativität hält oder als Negativität
bewährt, erweist es sich als eines, durch das Aufklärung ständig auf sich zutreibt.
Wie muss man dieses zutreibende Hinaustreiben verstehen? Nicht als ein Resultie-
ren, so, als würde Aufklärung am Ende aus der Aufklärung über Aufklärung
hervorgehen. Vielmehr beschreibt es die doppelte Bewegung einer Aussetzung und
einer Einsetzung, durch die sich Aufklärung als Negativität oder Medium des
Verneinens erhält. In diesem Sinne gibt es keine Gegenaufklärung, die nicht bereits
von der Aufklärung bestimmt würde, mag auch die Gefahr, welche die Gegenauf-
klärung für die Aufklärung darstellt, darin bestehen, dass die Spannung zwischen
Aussetzung und Einsetzung, welche die aufklärende Bewegung zeitigt, sich zeit-
weilig zumindest als Unterbrechung auswirkt. Was in der Aufklärung nicht auf-
geht, was sie, kantisch gesprochen, beschränkt, nicht aber begrenzt, kann nicht ihre
Verneinung sein, kann nichts sein als bloße Verneinung, die als Verneinung der
Aufklärung äußerlich bleibt, Verneinung ohne Verneinung, blinde, unumkehrbare
und unwiderrufliche, im Verhältnis zu möglicher Mündigkeit und Unmündigkeit
unverhältnismäßige und niemals selbstverschuldete Gewalt, Gewalt jenseits allen
Vermögens und Könnens, ohne Ausgang.
So zeigt sich, dass nie ein anderes die Aufklärung verneint, weil allein Aufklä-
rung ein anderes zu verneinen vermag. Man kann nicht für oder gegen die
Aufklärung sein; die vermeintlichen Aufklärer, die mit dieser falschen Alternative
den anderen »erpressen«, wie Foucault wiederum es ausdrückt,2 sind über die
Aufklärung unaufgeklärt, verdinglichen sie, reden dem Dogmatismus das Wort.
Was Aufklärung verneint, ist von ihr schon angesteckt worden, behauptet sich
lediglich verstockt und ohnmächtig gegen sie.
In dem Abschnitt der Phänomenologie des Geistes, in dem Hegel jene Gestalt
des Bewusstseins untersucht, deren Züge man in der geschichtlichen Aufklärung
wiedererkennt, ist es nicht eigentlich der Glaube, der die Aufklärung verneint,
sondern die Aufklärung, die den Glauben verneint. Die aufklärende Verneinung
erweist sich jedoch als Verkennung und verweist auf ihre eigene Beschränktheit,
auf eine mangelnde Aufgeklärtheit der Aufklärung über sich selber. Dass nämlich
allein Aufklärung ein anderes zu verneinen vermag, beinhaltet, dass es ein anderes,
einen Gegenstand der Verneinung, gar nicht gibt, und dass das andere, durch seine
Verneinbarkeit von Aufklärung immer schon angesteckt, in sich deren Keim trägt,
von ihrem Begriff nicht verschieden ist. Immer liegt es an der Aufklärung. Die
Macht der Aufklärung, ihr unwiderstehlich Ansteckendes, ist zugleich ihre Ohn-

2 ebd., S. 571 f. In der Aufklärung erblickt Foucault das »Prinzip einer Kritik« und das
»Geschichtsbewußtsein« einer »ständigen Erschaffung unserer selbst«, die Autonomie
sowohl bestätigt als auch stiftet. Beide sind mit einem »Humanismus« inkompatibel, der
von einem Menschenwesen oder von einem festgesetzten Begriff des Menschen ausgeht
(ebd., S. 573).
30 Alexander García Düttmann

macht, ihre Autoimmunisierung, vergeblicher Kampf gegen ein anderes, in dem sie
versäumt, sich wiederzuerkennen. Die wahre Einsicht in die Schwierigkeiten der
Aufklärung, die mit dem Titel ihrer Verneinung gemeint sind, kann man aus diesem
Grund dort ausmachen, wo ihr nicht ein anderes entgegensetzt wird, ein Prinzip,
ein Wesen, eine Kraft, sondern ihre Selbstverstrickung erörtert wird, die Dialektik
der Aufklärung. Darum spricht Kant konsequent von einer selbstverschuldeten
Unmündigkeit, nicht von einer Unmündigkeit, die der Aufklärung geschichtlich
vorausgeht, als eine frühere Stufe des Bewusstseins, die sich von Aufklärung noch
unangetastet wähnen darf. Längst habe die »Natur« den Menschen von »fremder
Leitung« freigesprochen, sagt Kant am Anfang seines berühmten Artikels, um im
weiteren Verlauf das gewaltsame Abbrechen des Aufklärungsprozesses als »Verbre-
chen wider die menschliche Natur« und ihre »ursprüngliche Bestimmung« zu
brandmarken.3 Aufklärung hat immer schon alle Unmittelbarkeit vermittelt und
alle Unschuld mit dem Schatten eines Zweifels bedeckt. Immer schon hat sie die
schlichte Aufeinanderfolge von Mittelbarkeit auf Unmittelbarkeit und von Mün-
digkeit auf Unmündigkeit durchkreuzt, Virus, Tod Gottes, unvordenkliches Ereig-
nis, das Struktur und Geschichte konfundiert.4 Wäre die Unmündigkeit, aus der
Aufklärung den Weg weist, nicht selbstverschuldet, kein Aufklärungseffekt, wäre
sie nicht der Effekt einer unentwickelten, über sich selber ungenügend aufge-
klärten, willkürlich angehaltenen Aufklärung, hätte Aufklärung keinen Bezug zur
Unmündigkeit, wäre ihre Mündigkeit verdinglicht und damit unmittelbar ihr
eigenes Gegenteil, wäre das Medium, die Mitte, das Zwischen zum Ding erstarrt.
Man könnte nicht von einer Aufklärung über reden, nicht von Aufklärung über-
haupt. Umgekehrt erzeugt Aufklärung wiederum eine Aufeinanderfolge, inaugu-
riert sie Geschichte, muss sie Ausgang aus einer selbstverschuldeten Unmündigkeit
sein, eben weil das Über für sie konstitutiv und sie wesentlich Verhältnis oder
Negativität ist. Diese Aufeinanderfolge stellt sich zwangsläufig als ein Fortschrei-
ten dar, als ein Fortschritt von dem einen Über zu dem nächst höheren, und damit
ebenfalls als universalisierende Tendenz, buchstäblich als Vollendung. Aufklärung
erscheint stets auch und vor allem als Fortschritt zum Allgemeinen. Die Grenze
solchen Fortschritts und der mit ihm gleichgesetzten Aufklärung wird von dem
Über gezogen, das kein Über mehr ist, weil es sich auf das Über und seine
fortschreitende Erneuerung bezieht. Mit der Aufklärung stirbt Gott in dem Au-
genblick, in dem er geboren wird, wird er in dem Augenblick geboren, in dem er
stirbt.
Hegel unterscheidet zwischen zwei Verhältnissen, in die Aufklärung zu ihrem
anderen tritt, zum Glauben. Einerseits erlaubt gerade die grundsätzliche Einheit
von Glaube und Aufklärung, über die beide sich täuschen, die »durchdringende
Ansteckung«, gegen die kein Gegenmittel gefunden werden kann. Verneint der
Glaube die Aufklärung, hat er sich ihr bereits preisgegeben. Die Verbreitung der

3 Immanuel Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, in: Werke, Bd. 9.1, hg.
von Wilhelm Weischedel, Wiesbaden 1964, S. 58.
4 Alexander García Düttmann, Uneins mit Aids. Wie über einen Virus nachgedacht und
geredet wird, Frankfurt a. M. 1993, S. 111.
TRUST ME 31

Aufklärung besteht allerdings nicht nur in einer »gegensatzlosen Ausdehnung«,


durch die »Gleiches mit Gleichem zusammengeht«. Die Aufklärung verhält sich zu
ihrem anderen ebenfalls negativ oder als ein »Tun des negativen Wesens«, als
»Kampf mit dem Entgegengesetzten«, der in diesem Fall sich nicht deshalb »zu
spät« ereignet, weil die Ansteckung geschehen ist, sondern weil die Aufklärung,
über sich unaufgeklärt, verkennt, dass sie als »absolute Negativität« wesentlich
»das Anderssein an ihr selbst« hat.5 Hat es Aufklärung also stets nur mit sich selber
zu tun, dann muss man gerade in diesem Selbstverhältnis jenes suchen, was in ihr
nicht aufgeht – dann muss man das Verhältnis von Glaube und Aufklärung als ein
Selbstverhältnis denken, das den Übergang von dem An sich zu dem Für sich des
Andersseins verspricht und versperrt. Bei Hegel indiziert dieses Versprechen und
dieses Versperren die geschichtliche Aufklärung oder die Aufklärung in ihrer
Verwirklichung, durch die hindurch sie erst zu ihrem Begriff kommen, sich über
sich selber aufklären6 und am Ende in ihrer Beschränktheit aufheben kann, Nega-
tivität gegen Negativität, die allein das »unbefriedigte Sehnen«7 der verwirklichten
Aufklärung befriedigt, das Sehnen, das durch die in der Denunziation des Glau-
bens angelegten Leere des Jenseits ebenso ensteht wie durch die in der unmittelbar
sinnlichen Gewissheit des Diesseits angelegten Verallgemeinerung der Nützlich-
keit. Was bedeutet es also, dass die Aufklärung das Anderssein »an ihr selbst« hat,
den Glauben oder das Vertrauen?
Die geschichtliche Aufklärung, die Aufklärung, die sich verwirklicht, tritt,
zumindest aus der Sicht Hegels, in einen Bezug zur Wahrheit, da der Mangel an
Realität einem Mangel an Wahrheit gleichkommt und dem bloßen Bewusstsein, der
bloßen Vorstellung, der bloßen Reflexion gegenüber die Kraft des Wirklichen »mit
der Wahrheit im Bunde« steht, wie es einmal in der Phänomenologie des Geistes
heißt.8 Einerseits bleibt eine Aufklärung, die sich nicht verwirklicht und die in der
Möglichkeit verharrt, kraftlos und unwahr, verloren an die Abstraktion, in der sie
zu verschwinden droht; andererseits wird gerade die Kraftlosigkeit und Unwahr-
heit der Aufklärung in ihrer Verwirklichung offenbar, ja durch sie hervorgebracht.
Die Verwirklichung der Aufklärung schließt gleichsam die Öffnung, die ihrem
Begriff wesentlich ist, ihrer Bestimmung als Aufklärung über etwas, die selbst das
Über und das Etwas betreffen kann, die Vorstellung als Vorstellung und den
Gegenstand als Gegenstand. In diesem Sinne lässt sich behaupten, Aufklärung
müsse sich positiv oder negativ verwirklichen und gehe in ihre negative oder
positive Verwirklichung ein, in die entlarvende Kritik an der Gewissheit des
Glaubens, in die pragmatistische Setzung des sinnlich Gewissen, während zugleich
keine Verwirklichung einfach die der Aufklärung sei. Deshalb – aufgrund dieses
Uneinssein der Aufklärung, ziehe sie auch einen doppelten Affekt auf sich, einen
Affekt gegen ihre als reduktionistisch empfundenen kritischen Entlarvungen und

5 G.W.F. Hegel, Phänomenologie des Geistes, in: Theorie-Werkausgabe, Band 3, Frankfurt


a. M. 1970, S. 404.
6 ebd., S. 418.
7 ebd., S. 424.
8 ebd., S. 344.
32 Alexander García Düttmann

gegen ihre eigene Plattheit, und einen Affekt gegen ihre Ungreifbarkeit, zwischen
Verwirklichung und Unwirklichkeit, zwischen Wahrheit und Unwahrheit. Alle
Ungreifbarkeit hat eine irritierende Wirkung und provoziert eine Ungeduld, die
dem Aufklären den Riegel vorschieben möchte. Alle Setzungen haben etwas Be-
schränkendes und Plattes, das sich in der Enttäuschung kundtut: ein Abgrund tut
sich auf zwischen dem Aufwand an aufdeckendem Scharfsinn und jenem, was nach
geleisteter Aufklärung bleibt, offen und sichtbar für alle. Alle Entlarvungen, mögen
sie berechtigt sein oder nicht, rufen den Protest gegen ein Herabminderndes auf
den Plan, das in der Einseitigkeit und in der Übertreibung liegt, deren sie um ihrer
Wirksamkeit willen bedürfen, deren sie bedürfen, soll die aufklärerische Wider-
standskraft gegen Dogmatismus und Usurpation der Macht nicht im Ansatz schon
gebrochen werden.
Bestimmt er in einem Abschnitt der Minima Moralia das »dialektische Ver-
fahren« kurz und bündig als negatives, als eines, das »Aussagen macht, um sie
zurückzunehmen und dennoch festzuhalten«9, so skizziert Adorno mit dieser
Bestimmung einen Aufklärungsbegriff, der mit der geschichtlichen Verwirklichung
von Aufklärung nicht einfach zusammenfällt, dessen Verwirklichung also allein in
dem Ganzen der aufklärenden Bewegung ihren Ort hat, vorausgesetzt, diese
Bewegung bildet je ein Ganzes. Dass Adorno an anderer Stelle die »Nötigung«
anerkennt, »dialektisch zugleich und undialektisch zu denken«,10 widerspricht
jener Bestimmung nicht. Vielmehr macht diese Anerkennung den Leser auf den
aufklärerischen Zug in Adornos Denken aufmerksam, auf die für Aufklärung
konstitutive Funktion eines Über, das sich auf sich richten und gegen sich muss
kehren können. Die ungeheuere Beweglichkeit des Über hat zur Folge, dass es sich
nicht einmal zum Über verfestigt und als Über wiedererkennen lässt, als Instanz
der Denkbewegung, der man eine Funktion, eine Bedeutung, eine Bestimmung
zuerkennt. In einem weiteren Abschnitt, den Adorno in seine Aphorismensamm-
lung schließlich nicht aufgenommen hat und der aus dem Nachlaß veröffentlicht
wurde, rückt er den Versuch der Dialektik, »dem Entweder-Oder zu entgehen«, in
einen Zusammenhang mit verwirklichendem Vollzug und Wahrheit: »Jeder Ge-
danke ist ein Kraftfeld, und wie vom Wahrheitsgehalt des Urteils dessen Volluzg
nicht sich abtrennen lässt, so sind wahr überhaupt nur Gedanken, die über die
eigene These hinausdrängen.«11 Ein Gedanke kann Wahrheit nur in dem Maße
beanspruchen, in dem er ein »einzelnes Moment« isoliert, sich zum Urteil ver-
dichtet und eine These formuliert, in dem er durch diesen Vollzug sich als Gedanke
verwirklicht; der Gedanke jedoch, der es bei seinem Vollzug belässt, als wären sein
thetischer Gehalt und sein Wahrheitsgehalt identisch und als würde er mit seiner
Setzung an die Wahrheit rühren, auf die sein Anspruch zielt, bleibt über sich
unaufgeklärt und erweist sich als unwahr. Denn Gedanken sind Kraftfelder, die
sich von ihren Thesen oder Setzungen nicht eingrenzen lassen. Stets schießen sie

9 Theodor W. Adorno, Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, in: Ges.
Schriften, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1980, S. 240.
10 ebd., S. 171.
11 ebd., S. 293.
TRUST ME 33

über sich hinaus und müssen als Übertreibungen gelten, misst man sie an ihnen
selber, an ihren Thesen oder Setzungen, nicht an anderen Gedanken; ihr Vollzug
vermag nie auf die Verwirklichung zurückgeführt zu werden, die mit der Formulie-
rung der jeweiligen These, mit ihrer Setzung stattfindet. Am Ende berühren sich
die beiden Extreme, in die sich der Gedanke spaltet, die »Obsession«, die in dem
Festhalten eines »einzelnen Moments« und gar in der Verdichtung des festhalten-
den Gedankens zur »fixen Idee« zum Ausdruck kommt, und die Übertreibung, das
»Über-sich-Hinausdrängen«, das die Einzelheit und alle »petrifizierte Ansicht«
auflöst, verflüssigt, in die Ströme des Kraftfeldes oder des Werdens reißt.
Die Minima Moralia kann man als Kritik an Setzungen im Geiste einer Aufklä-
rung lesen, die ihr konstitutives Über wie einen vereinzelnden Lichtkegel auf den
Gegenstand lenkt und zugleich der transzendierenden Bewegung dieses Über folgt,
hinaus ins Offene. Wo das »Intime zwischen Menschen«, das in »Nachsicht,
Duldung, Zuflucht für Eigenheiten« besteht, nach außen gekehrt und auf solche
Weise gesetzt wird, wo sich »Dinge, die einmal Zeichen liebender Sorge, Bilder von
Versöhnung gewesen sind«, plöztlich verselbständigen und in »Werte« verwandeln,
erscheint die Nähe als Schwäche und wird dadurch preisgegeben, zeigen die
besetzten Objekte ihre »böse, kalte und verderbliche Seite«.12 Wo das Obsolete,
gerichtet und durch den Gang der Geschichte um seine Gegenwart gebracht, sich
selber noch einmal setzt, um seinem Schicksal zu entgehen, wird es zum »Unheil
drohenden Gespenst«.13 Wo die Setzung das Mal eines Mangels an Widerstand
gegen die identifizierende Bestimmung ist, nach der der Gegenstand selber ver-
langt, trägt sie zu dessen Verhängnis bei: »Kultur einzig mit Lüge zu identifizieren
ist am verhängnisvollsten in dem Augenblick, da jene wirklich ganz in diese
übergeht und solche Identifikation eifrig herausfordert.«14 Während die »Befreiung
der Natur« von der Abschaffung ihrer »Selbstsetzung« abhängen soll,15 lässt sich
jenes, was den Anspruch auf »Echtheit« erhebt, der »Lüge« überführen, weil es »in
der Reflexion auf sich, in seiner Setzung […] bereits die Identität überschreitet, die
es im gleichen Atemzug behauptet«.16 Die Drastik solcher Thesen wie der, es gebe
kein richtiges Leben im falschen, und der, das Ganze sei das Unwahre, eine
Drastik, an der sich Leser wiederholt stoßen, die sie jedoch ebenfalls unwider-
stehlich anzieht, rührt vom Thetischen selber her, von einer Setzung, die weder die
Rolle einer reaktiven Selbstbehauptung übernimmt noch die Rolle einer Bestäti-
gung, einer Bewahrung oder einer Wiederherstellung, durch die sie, dienstbar dem
Gesetzten, sich selber gleichsam durchstreicht oder verleugnet. Die Setzung gibt
sich als Setzung zu erkennen, schlägt mit unausweichlicher und ungerechter Un-
mäßigkeit zu, aphoristische Zuspitzung, verwirklichende Verdichtung und Verein-
zelung des Gedankens, die ihn zwar über seine Rechtfertigung hinausdrängt, es
ihm aber so gerade ermöglicht, für einen undurchsichtigen Augenblick zumindest

12 ebd., S. 33.
13 ebd., S. 37.
14 ebd., S. 49.
15 ebd., S. 106.
16 ebd., S. 174.
34 Alexander García Düttmann

mit dem Argument zu verschmelzen und blitzhaft den Gegenstand zu erhellen.


Der Gedanke, der sich im Zuge seiner Setzung erst bildet und der deshalb seine
Setzung ausstellt, eilt mit unendlicher Geschwindigkeit und unbändiger Gewalt auf
sich zu und doch von sich weg; das macht sein aufklärerisches Potential aus.
Muss sich Aufklärung als Bewegung des Denkens, als Verhalten, nicht immer an
einen Adressaten wenden, an den Denkenden, den sie zum Selbstdenken anhält
und dessen Selbstverhältnis sie dadurch konstituiert, an einen oder an mehrere, die
aufgeklärt werden sollen, an mehr als nur einen,17 über dessen zufälliges Einzelda-
sein ihre inhärent universalisierende Tendenz oder ihre Tendenz auf allgemeine
Einsicht hinaustreibt, an eine Öffentlichkeit, die sie sowohl voraussetzt als auch
stiftet? Muss sie sich deshalb nicht immer verwirklichen, die Negativität unter-
brechen, die sie erhält, Negativität gegen Negativität? Wäre nicht eine Aufklärung,
die sich gänzlich auf eine Grenze zurückgezogen hätte,18 in die Reinheit eines
Über, das sich nicht zu einem wiedererkennbaren Über verfestigt und das als
Verhältniswort, als Prä-position, zur Chiffre der Frage: Was ist Aufklärung? wird,
eine Aufklärung ohne Adressaten und ohne Öffentlichkeit, also eine im Wider-
spruch mit sich selbst befangene Aufklärung? Hat Aufklärung das Anderssein, das
als Glauben oder Vertrauen bezeichnet wird, nicht darum »an sich«, weil sie sich
verwirklichen, an eine von ihr geschaffene Öffentlichkeit wenden muss?
Die Verwirklichung der Aufklärung macht den begrifflichen Rahmen sichtbar,
auf den ihre »lösende« und »bindende« Kraft, die Funktion, mit der Cassirer die
aufklärende Vernunft gleichsetzt,19 jeweils angewiesen ist. Dieses Vertrauen der
Aufklärung widerstreitet ihrem Über, das zugleich von ihm abhängt. Folglich sucht
es das Über als uneinholbare Verdoppelung heim, als gespenstische Reflexion, als
Über, das über das Über hinausreicht, über die Kritik am Überkommenen und
über die Offenheit gegenüber dem Kommenden. Es zeichnet sich zum einen als
Horizont ab, der jeder Verwirklichung des aufklärerischen Vorstosses eigentümlich
ist, zum anderen als Mindest- oder Vorleistung, die im doppelten Sinne eines
Vertrauens in das Denken und eines Vertrauens des Denkens selber das Denken
überhaupt ermöglicht, den Zweifel und den Entwurf, die Kritik und das Projekt.
Am Horizont der geschichtlichen Aufklärung stehen zum Beispiel der Begriff
der Menschheit und der Begriff der Toleranz. Foucault, der die Frage unbeant-
wortet lässt, ob Kritik »heute« noch mit »Vertrauen in oder Glauben an [foi] die

17 »Daß aber ein Publikum sich selbst aufkläre, ist eher möglich; ja es ist, wenn man ihm nur
Freiheit läßt, beinahe unausbleiblich.« (Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklä-
rung?«, s. o., S. 54)
18 Foucaults »positiver« Aufklärungsbegriff ist der einer »Grenzhaltung« (Foucault,
»Qu’est-ce que les Lumières?«, s. o. Anm. 1, S. 574).
19 Ernst Cassirer, Philosophie der Aufklärung, Tübingen 1932, S. 16. Cassirer schreibt, die
Vernunft in der Aufkärung löse »alles bloß-Faktische, alles einfach-Gegebene, alles auf
das Zeugnis der Offenbarung, der Tradition, der Autorität Geglaubte auf«. Sie ruhe nicht,
»bis sie es in seine einfachen Bestandteile und bis in die letzten Motive des Glaubens und
Für-Wahr-Haltens zerlegt« habe. Nach dieser »Arbeit der Auflösung« setze allerdings die
»Arbeit des Aufbaus« von neuem ein.
TRUST ME 35

geschichtliche Aufklärung« einhergehen müsse,20 unterstreicht die Zweideutigkeit


des Menschheitsbegriffs. Die Zweideutigkeit des Toleranzbegriffs unterstreicht
bereits Kant, wenn er von einem »hochmütigen Namen« redet;21 zweihundert
Jahre nach der geschichtlichen Aufklärung hat sie Marcuse zur »Kritik der reinen
Toleranz« angehalten.22
Die Mindest- oder Vorleistung des Denkens, das in ein Spannungsverhältnis zu
sich selber tritt, vor allem als Aufklärung, als Kritik und Zweifel an allem Gege-
benen, Hergebrachten, Vorausgesetzten, kann als arbeitsteiliges, anerkennendes
und abgrenzendes Vertrauen verstanden werden. Die Arbeitsteilung zwischen
einem privaten Vernunftgebrauch, dessen Einschränkung das vernünftige Denken
dem Gehorchen und Befolgen unterordnet, und einem freien öffentlichen Ver-
nunftgebrauch, der »allein Aufklärung unter Menschen zustande bringen«23 kann,
ist Kant zufolge erforderlich, weil ohne die Mindest- oder Vorleistung des Den-
kens, die als ordnungsstiftenden und ordnungserhaltenden Verzicht den privaten
Vernunftgebrauch prägt, die Vernunft nicht in der Lage wäre, ihr kritisches Ge-
schäft zu betreiben: Negativität gegen Negativität. Die Anerkennung der Unmög-
lichkeit, durch Zweifel einer Beantwortung grundsätzlicher Fragen wie etwa der
nach der Existenz der Außenwelt nahezukommen, ist ihrerseits, folgt man Stanley
Cavell, eine Mindest- oder Vorleistung des Denkens, ein Skeptizismus des Vertrau-
ens, dessen Negativität sich wiederum gegen die Negativität richtet – findet das
Denken doch in solchem Vertrauen die unerkennbare und darum strenggenommen
unauffindbare Bedingung seiner Möglichkeit, die Bedingung möglichen Wissens
und Erkennens: »Es ist natürlich umwillen des Wissens und Erkennens, dass man
auf Wissen und Erkenntnis verzichtet.«24 Schließlich lässt sich die Notwendigkeit

20 Foucault, »Qu’est-ce que les Lumières?«, s. o. Anm. 1, S. 578 – meine Hervorhebung,


AGD.
21 Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, s. o. Anm. 3, S. 60.
22 »Die Idee der Toleranz erscheint heute wieder als dasjenige, was sie an ihren Ursprüngen
war, zu Beginn der Neuzeit – als ein parteiliches Ziel, ein subversiver, befreiender Begriff
und als ebensolche Praxis. Umgekehrt dient, was heute als Toleranz verkündet und
praktiziert wird, in vielen seiner wirksamsten Manifestationen den Interessen der Unter-
drückung.« Herbert Marcuse, »Repressive Toleranz«, in: Robert Paul Wolff/Barrington
Moore/Herbert Marcuse, Kritik der reinen Toleranz, Frankfurt a. M. 1973, S. 93 – Hervh.
AGD.
23 Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, s. o. Anm. 3, S. 55.
24 Stanley Cavell, Must We Mean What We Say?, Cambridge 1976, S. 325. Auch die
»Einstellung zur Seele«, von der Wittgenstein in seinen Philosophischen Untersuchungen
einmal handelt (Ludwig Wittgenstein, Philosophical Investigations, Bilingual Edition,
Oxford 1999, S. 178), könnte man als Mindest- oder Vorleistung des Denkens interpretie-
ren, als Annahme oder Anerkennung, ohne die das Verhalten des anderen undurchsichtig
bliebe; nicht als erkenntnistheoretisches Argument, welches das Wissen um das Dasein des
anderen begründet, um dessen Befindlichkeiten, Bewußtseinszustände und Verhaltens-
weisen, sondern als eine selber irreduktible Form, dem anderen zu begegnen, die es
allererst erlaubt, sinnvoll etwa zu behaupten, man glaube, der andere habe Schmerzen.
Peter Winch spricht in diesem Kontext von Reaktionen, die so ursprünglich sind, dass
jeder Versuch, sie weiterhin in ihre Bestandteile zu zerlegen, einer Auflösung intelligibler
Beziehungen gleichkommen würde (Peter Winch, ›Eine Einstellung zur Seele‹, in: ders.,
36 Alexander García Düttmann

eines Glaubens oder Vertrauens, eines Abbrechens des zweifelnden Fragens, mit
dem das Denken eine Mindest- oder Vorleistung erbringt, als Abgrenzung von
Wahn und Schein deuten. So gilt es, mit gewissen Gedanken nicht zu spielen und
gewisse Zweifel nicht in Erwägung zu ziehen, will man in der Lage sein, vernünftig
zu denken; durch den Ausschluss von gewissen Gedanken und gewissen Zweifeln,
durch solche auch in diesem Fall gegen die Negativität gekehrte Negativität
unterscheidet sich der Denkende, den man als zurechnungsfähig betrachtet, vom
Wahnsinnigen. In seinem Buch A Common Humanity bemerkt Raimond Gaita:
»Wissen und Verstehen – und damit alle ernsthaft radikale Kritik – hängen davon
ab, dass man fähig ist, mit gesundem Verstand abzuwägen, was als Beweisstück
zählen, wann man sich auf höhere Instanzen verlassen und wann man zurecht
ihnen keinen Glauben schenken darf.«25 Das Abwägen, von dem Wissen und
Verstehen abhängen, ist aber kein Argumentieren, das zu einem bestimmenden
Urteil führt, sondern eine letztlich von keinem Argument getragene Entscheidung
über jene Möglichkeiten, die man nicht bereit ist, zu erwägen: »Daß Dinge nicht
aus der Erwägung ausgeschlossen werden, gehört zu der Art und Weise, wie
verrückte Menschen die Welt sehen […] Nicht Vernunft bestimmt, was es bedeutet,
einen ›Bezug zur Wirklichkeit‹ zu haben. Der Bezug zur Wirklichkeit bedingt
nämlich die nüchterne Anwendung jener kritischen Begriffe, die unser Verständnis
von richtigem oder falschen Denken auszeichnen.«26 Das Vertrauen des Denkens,
das als arbeitsteiliges, anerkennendes und abgrenzendes gerechtfertigt wird, stellt
den Denkenden vor die Frage, ob eine derartige Rechtfertigung nicht in Wahrheit
die Spannung verdeckt, die zwischen Aufklärung und dem Anderssein, das sie »an
sich« haben soll, herrscht; die Spannung, die sowohl die Aufklärung selber als auch
das Anderssein durchquert und durchtrennt. Kann man zwischen dem privaten
und dem öffentlichen Gebrauch der Vernunft einfach eine Grenze ziehen, ohne das
Befehlen und Gehorchen der Kritik und dem Zweifel zu unterwerfen und damit
das Vertrauen des Denkens, seine Mindest- oder Vorleistung prinzipiell einzu-
schränken? Kann man etwas einfach annehmen und anerkennen, ohne das Ange-
nommene und Anerkannte der Erkenntnis und dem Wissen zu unterwerfen und
damit das Vertrauen des Denkens, seine Mindest- oder Vorleistung prinzipiell
einzuschränken? Kann man gewisse Gedanken und gewisse Zweifel einfach aus-

Trying To Make Sense, Oxford 1987, S. 153). Raimond Gaita hebt in diesem Kontext die
Verflechtung von Antwort und Begriff hervor. Wir verfügen nicht zunächst über einen
Begriff des anderen, der bestimmte Antworten auf dessen Befindlichkeiten hervorruft.
Vielmehr sind Antwort und Begriff so miteinander verflochten, dass Verhalten im all-
gemeinen ohne die »Einstellung zur Seele« undenkbar ist (Raimond Gaita, Good and Evil.
An Absolute Conception, Basingstoke und London 1991, S. 189).
25 Raimond Gaita, A Common Humanity. Thinking About Love And Truth And Justice,
London 2000, S. 160.
26 ebd., S. 164 f. Vgl. dazu auch folgende Stelle in Gaitas Untersuchung über Gut und Böse:
»Der Umstand, daß wir als zurechnungsfähige und gesunde Wesen bestimmte Gedanken
nicht haben, lässt sich nicht auf praktische Gründe zurückführen, sondern wirkt sich
bedingend auf den Sinn aus, den Begriffe wie Möglichkeit (›es ist möglich, dass … ‹),
Wahrscheinlichkeit (›es ist wahrscheinlich, dass … ‹) und Unmöglichkeit (›es ist unmög-
lich, dass … ‹) haben.« (Gaita, Good and Evil. An Absolute Conception, s. o., S. 314)
TRUST ME 37

schließen, ohne das Ausgeschlossene dem Ausschließenden zu unterwerfen und


damit das Vertrauen des Denkens, seine Mindest- oder Vorleistung prinzipiell
einzuschränken? Einfach: ohne den Widerstreit des Uneinsseins. Wenn Denken,
das sich mit bloßem Vertrauen nicht abgeben kann, ja dessen Begriff unvereinbar
ist mit bloßem Vertrauen, durch die arbeitsteilige, anerkennende und abgrenzende
Rechtfertigung des Vertrauens, in dem seine unabdingbare Mindest- oder Vor-
leistung liegt, diese prinzipiell einschränkt, so erhebt es sich subreptiv über das,
was es ermöglicht, eignet sich Aufklärung das Anderssein an, das sie »an sich«
haben soll.
Um aber überhaupt eine Grenze zwischen einem privaten und einem öffentli-
chen Vernunftgebrauch ziehen, um überhaupt etwas annehmen und anerkennen,
um überhaupt einen Gedanken und einen Zweifel ausschließen zu können, durch
eine reflektierte oder durch eine beinahe unmittelbare Entscheidung, muss das
Denken bereits Vertrauen in sich haben, genug, um anzuheben, anzusetzen, anzu-
fangen, um einen ersten und vorläufigen Ausgang zu nehmen. Das Denken muss
sich trauen. Dieses Vertrauen des Denkens in das Denken geht der Unterscheidung
von Wahn und Vernunft voraus, dem Vertrauen des Denkens, durch das es sich als
Vernunft vom Wahn abhebt. Ohne ein solches Vertrauen in sich selber, das
einerseits schon einen Abstand, eine Reflexion, zu implizieren scheint, andererseits
analytisch nicht zerlegbar ist, wie eigentlich Vertrauen stets sich der Analyse
entwindet und eine Leerstelle in ihr einträgt, könnte sich das Denken indes gar
nicht vom Wahn abheben, von einer Gestalt des Aberglaubens oder des Dogmatis-
mus, und als vernünftiges, aufgeklärtes und aufklärendes Denken konstituieren.
Somit zeigt sich, dass das Vertrauen in sich selber, das Denken als Anderssein »an
sich« hat, unaufhebbar ist und nicht weniger abstrakt als das Über, an dem sich sein
aufklärerischer Zug ablesen lässt.
Hegel faßt Glauben als Vertrauen und Vertrauen als unmittelbare Selbstgewiss-
heit, als »schöne Einheit« von vertrauendem Subjekt und Gegenstand des Vertrau-
ens: »Wem ich vertraue, dessen Gewissheit seiner selbst ist mir die Gewissheit
meiner selbst; ich erkenne mein Fürmichsein in ihm, dass er es anerkennt und es
ihm Zweck und Wesen ist. Vertrauen ist aber der Glaube, weil sein Bewusstsein
sich unmittelbar auf seinen Gegenstand bezieht und also auch dies anschaut, dass es
eins mit ihm, in ihm ist.«27 Dass die Aufklärung den Glauben zunächst verkennt,
am Ende aber gegen ihn das »absolute Recht« behauptet, weil »das Selbstbewußt-
sein die Negativität des Begriffs ist, die nicht nur für sich ist, sondern auch über ihr
Gegenteil übergreift«,28 vermag Hegel nur darzustellen, weil er das Wesen des
Vertrauens in einer unmittelbaren Selbstgewissheit ausmacht, die von der Anerken-
nung bedingt wird, von der Einheit des Selbstbewusstseins in seinem Anderssein.29
Ist jedoch Vertrauen nicht an die Ungewissheit gebunden, die in einem Mangel an
Autarkie und in der Möglichkeit eines Verrats enthalten ist? Wenn ich mir meiner

27 Hegel, Phänomenologie des Geistes, s. o. Anm. 5, S. 406.


28 ebd., S. 417.
29 Vgl. dazu: Alexander García Düttmann, Zwischen den Kulturen. Spannungen im Kampf
um Anerkennung, Frankfurt a. M. 1997, S. 182 f.
38 Alexander García Düttmann

selbst gewiss wäre und autark, bräuchte ich einem anderen nicht zu vertrauen.
Wenn sich der andere seiner selbst gewiss wäre, wenn ich mir aufgrund dieser
Gewissheit des anderen und meiner selbst gewiss wäre, wenn ich von dem anderen
nicht verraten und mein Vertrauen von ihm nicht zerstört werden könnte, bräuchte
ich ebensowenig einem anderen zu vertrauen. Das Vertrauen wird von dem Zweifel
heimgesucht, den es wiederum einholt. Weniger formal als der Bescheid, Aufklä-
rung sei das Medium der Negativität und könne daher nicht verneint werden, ist
also vielleicht die Auskunft, Aufklärung könne zwar nicht verneint werden, erfahre
aber ständig ihre eigene Beschränktheit, da sie eines Vertrauens bedürfe, an das sie
nicht rühren könne. Dieses Vertrauen fordert die Aufklärung heraus, um so mehr,
als es sich nicht zur Negation zusammenzieht, Anderssein, das die Aufklärung stets
»an sich« hat, nie aber »für sich«, Trauma, Tatsache, Gedächtnis des Denkens,
Gewalt, die sich von der des unterbrechenden und abbrechenden Schlages, der
immer tödlich sein kann, nicht unterscheiden lässt. Aufklärung strebt folglich nicht
nach der Herstellung einer gänzlichen Durchsichtigkeit und vollkommenen Helle
der Reflexion, wie jene irrtümlich meinen, die ihre Selbstverstrickung außer Acht
lassen, das An-sich-Haben eines unaufhebbaren Andersseins, sondern danach, an
ein Glauben oder Vertrauen zu rühren, das sich ihr entziehen muss, durch das sie
außer sich gerät und sich gegen ihre Einheit kehrt, gegen die Einheit des kritischen
und des entwerfenden Über. Für die Aufklärung gilt jederzeit der Satz, den Kant
als einen vorläufigen formuliert: »Wenn denn nun gefragt wird: Leben wir jetzt in
einem aufgeklärten Zeitalter?, so ist die Antwort: Nein, aber wohl in einem
Zeitalter der Aufklärung.«30 Vertrauen ist die Passion der Aufklärung, der Schat-
ten, den sie an sich und in sich ziehen möchte, bis sie beinahe zum Schatten, der
Schatten hingegen beinahe zum Leib wird. Mit leidenschaftlichem Doppelsinn sagt
der Aufklärer: Der lösende und bindende Zweifel ist meine Sache und deshalb
kann ich nicht umhin, dem anderen zu glauben und zu vertrauen, dem anderen in
mir selbst. Trust me.

30 Kant, »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklärung?«, s. o. Anm. 3, S. 59.


Dialektische Konstellationen. Zu einer kritischen Theorie
gesellschaftlicher Naturverhältnisse
Christoph Görg

Eine Entwarnung kann nicht gegeben werden. Zwar haben die Gesellschaften seit
einigen Jahren und Jahrzehnten damit begonnen, auf die verschiedenen ökologi-
schen Problemlagen zu reagieren. Doch trotz einer kaum mehr überschaubaren
Fülle von Maßnahmen und neuen gesellschaftlichen Einrichtungen – vom betrieb-
lichen Umweltschutz und der Entwicklung neuer umweltschonender Technologien
über politische Umweltbehörden bis zu einer Vielzahl von internationalen Ab-
kommen – ist eine Überwindung der ökologischen Krise nicht in Sicht. Dies
betrifft einmal die materiale Ebene. Trotz unbestreitbarer Erfolge in einigen Berei-
chen (wie z. B. der Gewässerverschmutzung oder der Luftbelastung in Teilen
Europas) ist in zentralen Feldern eine z. T. dramatische Verschlechterung der
Situation zu beobachten – nicht nur beim anthropogenen Klimawandel (der in-
zwischen wohl nicht mehr abzuwenden ist), sondern auch im Hinblick auf den
Verlust der biologischen Vielfalt oder der weltweiten Versorgung mit Trinkwasser.
Die empirischen Tendenzen sind also zumindest widersprüchlich und bieten gewiss
keinen Anlass für übertriebene Hoffnungen. Vielmehr belegen sie eine höchst
selektive Bearbeitung ökologischer Probleme, jedoch keine wirkliche Verbesserung
in den gestörten Beziehungen zur äußeren Natur.
Diese selektive Bearbeitung bietet über die materialen Phänomene hinaus einen
tieferen Grund für die Bezeichnung der Situation als »Krise« (die ansonsten schon
unüblich geworden ist). Denn die Ursache für diese Selektivität liegt in der
spezifischen Form der Institutionalisierung der Umweltproblematik und ist eng
verbunden mit anderen gesellschaftlichen Krisenphänomenen. Die gesellschaft-
lichen Einrichtungen, die für die Bearbeitung ökologischer Probleme geschaffen
wurden, sind von den allgemeinen Strukturmerkmalen kapitalistischer Vergesell-
schaftung geprägt und insofern von einer Irrationalität gekennzeichnet, die die
Bearbeitung der Probleme erschwert und eine Überwindung der Krise verunmög-
licht. So sind viele Einrichtungen wie z. B. die Konvention über die biologische
Vielfalt eher von der Tendenz zu einer kommerziellen Nutzung der Natur, ihrer
Verwertung unter kapitalistischen Bedingungen gekennzeichnet, als von einer an-
gemessenen Reaktion auf den Verlust der Vielfalt an Arten, Varietäten und Lebens-
räumen. Darüber hinaus sind die unternommenen Schritte von den Begleiterschei-
nungen dieser Kommerzialisierung überformt, der Konkurrenz um wertvolle Res-
sourcen zwischen Unternehmen, Staaten und Regionen und den Begleiterscheinun-
gen dieser Konkurrenz: der Absicherung der Marktposition durch Patente und
andere Formen »geistigen Eigentums« (Görg/Brand 2001b).
Eine kritische Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse muss diesen Begleit-
erscheinungen der gesellschaftlichen Reaktion auf die Ökologieproblematik ge-
recht werden. Sie muss aufzeigen können, warum ›Umwelt‹ oder ›Natur‹ gegen
40 Christoph Görg

Ende des 20. Jahrhunderts den modernen Gesellschaften zum Problem geworden
sind und diese ihr Verhältnis zur Natur eben nicht endgültig »optimiert« haben.
Davon gingen nämlich sowohl Vertreter der Modernisierungstheorie (Parsons
1975) als auch der postindustriellen Gesellschaft (Bell, Touraine) bis in die 1970er
Jahre hinein aus. Sie muss darüber hinaus erfassen können, in welcher Weise die
Gesellschaften reagiert haben und welche Probleme bzw. welche von Macht- und
Herrschaftsverhältnissen geprägten Verzerrungen wiederum in diesen Bearbei-
tungsstrategien angelegt sind. Anders als bei Niklas Luhmann (1986) heißt die
Ausgangsfrage daher nicht: »Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische
Gefährdungen einstellen?« Während die überwiegende Mehrheit der heutigen
Umweltwissenschaften sich aber immer noch an dieser Leitfrage orientiert und eine
ignorante oder gar affirmative Haltung zu den globalen gesellschaftlichen Herr-
schaftsverhältnissen einnimmt, müsste eine kritische Theorie diese in das Zentrum
stellen und fragen: Wie stellen sich die Gesellschaften ein, und welche herrschaft-
lichen Selektivitäten und Verzerrungen sind darin impliziert? Um diese Frage aber
angemessen angehen zu können, muss sie ganz grundsätzlich danach fragen, welche
Bedeutung Natur und Naturverhältnisse für die gesellschaftliche Entwicklung und
das Selbstverständnis von Gesellschaften überhaupt haben bzw. haben sollten.
Der Begriff der Naturverhältnisse setzt dabei schon einen wichtigen Akzent.
Anders als in den meisten sozialwissenschaftlichen Ansätzen wird davon ausge-
gangen, dass Natur und Gesellschaft (und wie wir sehen werden: auch der Prozess
der Individuierung) in einem konstitutiven und nicht in einem äußerlichen Verhält-
nis zueinander stehen. Was Natur, was Gesellschaft ausmacht, das kann nicht ohne
Bezug auf den jeweils anderen Pol gesagt werden (Görg 1999a). Dies meint mehr
als den Versuch, gegen die vorherrschenden dualistischen Betrachtungsweisen in
den Sozialwissenschaften, die die sozialen Prozesse ohne Bezug zur Natur themati-
sieren und beides dann äußerlich aufeinander beziehen, eine symmetrische Betrach-
tung einzuklagen (wie z. B. Latour 1995). Es bedeutet, aufzuzeigen, dass beide
Relate immanent vermittelt sind: Was Gesellschaft ist und wie sie sich entwickelt,
wird wesentlich dadurch bestimmt, wie Natur ganz konkret vergesellschaftet wird,
d. h. wie sie sprachlich-kulturell (als kulturspezifische Naturvorstellungen oder als
wissenschaftliche Naturbegriffe) und materiell-praktisch (z. B. als Ressource in der
Ökonomie) in den gesellschaftlichen Prozess involviert ist. Umgekehrt gibt es
keine unberührte Natur (nicht nur nicht mehr, sondern es hat sie eigentlich noch
nie gegeben), denn Natur ist immer in Relation zu einer historisch bestimmten
gesellschaftlichen Situation zu interpretieren, jenseits dessen die Rede von Natur
keinen Gehalt hat. Gleichwohl gilt, dass Natur in dieser Relation auch ein Motiv
der Unverfügbarkeit bzw. der Widerständigkeit gegen die Gesellschaft behält, das
sich u. a. in ökologischen Problemen und Gefahren zur Geltung bringt. Der Begriff
der gesellschaftlichen Naturverhältnisse setzt also bewusst andere Akzente als der
Begriff der Umwelt (der eine bloße äußerliche Relation suggeriert) oder der
Ökologie (der eine substantielle Natur in Form ›natürlicher‹ Kreisläufe unterstellt).
Er bezieht damit Position in der Kontroverse um Naturalismus vs. Kulturalismus
bzw. Soziozentrismus (vgl. Scharping/Görg 1994; Brand 1998; Görg 1999a), indem
er den Naturalismus als eine problematische und mit Herrschaftsverhältnissen
Dialektische Konstellationen 41

(sexistischer oder rassistischer Art) verbundene Projektion kritisiert und gegen den
Soziozentrismus die Nichtidentität der Natur festhält (vgl. dazu ausführlicher:
Görg 2002a). Und er koppelt darüber hinaus die Ökologieproblematik ganz eng an
die konkrete Verfasstheit der Gesellschaft und insbesondere an deren Herrschafts-
verhältnisse. Dies nicht nur in dem Sinn, das soziale Herrschaft als Ursache für eine
Fehlentwicklung in den Naturverhältnissen verantwortlich gemacht wird, sondern
auch insofern, dass erst über eine Kritik der herrschaftlichen Verfasstheit von
Gesellschaften eine Alternative zur krisenhaften Vergesellschaftung der Natur zu
gewinnen ist.
Doch eine solche kritische Theorie gesellschaftlicher Naturverhältnisse ist ein
Desiderat. Seit die ökologische Krise in der Mitte der 1980er Jahre – und d. h. mit
einiger Verspätung im Vergleich zur öffentlichen Diskussion – die Sozialwissen-
schaften erreicht und dort zu weitreichenden Debatten um angemessene Reak-
tionsweisen geführt hat, hat es zwar einige Bemühungen gegeben, die Tradition der
kritischen Theorie in diese Diskussionen einzubringen. Allerdings waren diese nur
bedingt erfolgreich – und sie wurden nicht von denen unternommen, die in der
Öffentlichkeit als ›Erben der Frankfurter Schule‹ gehandelt wurden. Vielmehr kam
der Anstoß eher von den ›Rändern‹ der Tradition, und zudem wurde beim Versuch
einer Aktualisierung kritischer Theorie auf ganz andere theoretische Traditionen
zurückgegriffen (vgl. Böhme/Manzei 2003). Dieser Vernachlässigung der Thematik
vor allem in der sog. ›jüngeren kritischen Theorie‹ korrespondiert eine ähnliche
Entwicklung innerhalb des Mainstreams der Sozialwissenschaften. Trotz weit-
reichender empirischer Beschäftigung mit ihren Erscheinungsformen lässt sich
nämlich zunehmend eine Ausblendung der theoretischen Provokation der Natur-
problematik wie auch ein Verzicht auf eine kritische Beschäftigung mit ihren
gesellschaftlichen Bearbeitungsformen beobachten. Stattdessen hat sich ein tech-
nokratisches Umweltmanagement etabliert, das auf eine Kritik der dominanten
Bearbeitungsformen ökologischer Probleme verzichtet (Brand/Görg 2002). Eine
kritische Theorie der Naturverhältnisse ist also ›an der Zeit‹.
Dabei lassen sich zwei gegenläufige Tendenzen im Verhältnis zur kritischen
Theorie beobachten. Einerseits eine Ignoranz gegenüber dem Potential, das in den
Schriften der älteren Kritischen Theorie angelegt war und das dazu geeignet
gewesen wäre, der Vernachlässigung ökologischer Probleme und der Ausblendung
der Naturverhältnisse in den Sozialwissenschaften entgegenzuwirken. Dafür ver-
antwortlich war einmal, dass der an die Arbeiten von Jürgen Habermas anschie-
ßende Strang der Weiterentwicklung Kritischer Theorie die theoretische wie politi-
sche Brisanz der Krise der Naturverhältnisse weitgehend ignoriert hat. Anderer-
seits wurde dieses Potential der älteren Kritischen Theorie dann jedoch wenigstens
teilweise auf völlig anderem Wege und mit Hilfe anderer Theorieansätze in die
Diskussion eingebracht – von der poststrukturalistisch orientierten feministischen
Wissenschafts- und Technikkritik bis zur Regulationstheorie. Diese gegenläufigen
Tendenzen haben jedoch dazu geführt, dass ein einheitlicher Theorierahmen zur
Diskussion der Naturverhältnisse sich noch nicht herausgebildet hat. Daher besteht
Anlaß genug, sich nochmals der erwähnten Potentiale der sog. älteren Kritischen
Theorie, einschließlich ihrer Voraussetzungen in der auf Marx zurückgehenden
42 Christoph Görg

Theorietradition, zu vergewissern und den Ansatz genauer zu bestimmen, der mit


den Arbeiten Benjamins, Horkheimers, Adornos und Marcuses verbunden war (1).
Danach soll dann kurz darauf eingegangen werden, welche Gründe dafür verant-
wortlich waren, dass diese Motive in den 1970er und 1980er Jahren nicht aufge-
nommen wurden und welche Probleme bzw. ungelösten Fragen mit diesen Arbei-
ten verbunden sind (2), bevor abschließend ein kurzer Überblick über heutige
Themenfelder und theoretische Ansätze, über Gegenstände und Probleme einer
kritischen Theorie der Naturverhältnisse gegeben wird (3).

1. Die Kritik der Naturbeherrschung als Fortschrittskritik

Eine sozialwissenschaftliche Behandlung der ökologischen Krise steht vor dem


Problem, zwei gegensätzliche Prozesse gleichermaßen berücksichtigen zu müssen:
Einer zunehmenden Relevanz der natürlichen Umwelt für die gesellschaftliche
Reproduktion steht nämlich die These vom ›Ende der Natur‹ gegenüber. Ökologi-
sche Bedingungen gesellschaftlicher Entwicklung werden also zu einem Zeitpunkt
(wieder) in Erinnerung gebracht, an dem die Annahme einer gegenüber mensch-
lichem Handeln und Kommunikation vorgängigen Natur endgültig überholt zu
sein scheint. Ein eher methodisch argumentierender Sozialkonstruktivismus
stimmt in diesem Punkt mit denen überein, die in sachlicher Hinsicht von einem
»Ende der Natur« (McKibben 1989) sprechen. Natur kann kein festes Fundament
menschlichen Handelns (mehr) sein, weil sie nach Maßgabe sprachlicher Prozesse
und/oder technischer Fähigkeiten konstruiert bzw. im gesellschaftlichen Prozess
mit erzeugt wird – und dies inzwischen in einem Ausmaß, das den Rückgriff auf
eine vermeintliche unabhängige Natur verbietet. Radikalisiert wird diese Einsicht
in der Kritik an den herrschaftsförmigen Implikationen, die die Rede von Natur
immer auch hat, sei es in der Legitimation vermeintlich ›natürlicher‹ Unterschiede
zwischen den Geschlechtern oder ethnischen Gruppen (›Rassen‹) oder in der
vermeintlichen Naturwüchsigkeit des sozialen Geschehens überhaupt (verschie-
dene Varianten der Evolutionstheorie, Sozialdarwinismus, Soziobiologie etc.).
Gleichzeitig gilt aber auch, dass diese sprachlichen und technischen Konstruk-
tionen auf materiell-stoffliche Bedingungen sozialer Prozesse verweisen, die nicht
beliebig ignoriert werden können – eine gegenüber menschlichen Handlungen
potentiell sperrige ›Natur‹ ist ein wichtiges Element der ökologischen Krise. Aus-
gangspunkt einer soziologischen Analyse muss daher ein Begriff der Gesellschaft
sein, der diese weder von den ›natürlichen‹, d. h. materiell-stofflichen Bedingungen
ihrer Existenz isoliert und einen Dualismus zweier vermeintlich unabhängiger
Bereiche reproduziert oder gar die Vermitteltheit von Gesellschaft mit Natur völlig
leugnet, noch zu einem unhistorischen und substantialistischen Begriff der Natur
zurückkehrt.
Beide Elemente sind im Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie angelegt. Im
Rückgriff auf die materialistische Geschichtsauffassung – auf den der Begriff der
gesellschaftlichen Naturverhältnisse eigentlich zurückgeht – haben insbesondere
Dialektische Konstellationen 43

Theodor W. Adorno, Walter Benjamin, Max Horkheimer und Herbert Marcuse


seit den 1930er Jahren das Verhältnis von Gesellschaft und Natur in den Horizont
sozialwissenschaftlicher Analysen geholt. Auch wenn ihre Fragestellungen keines-
wegs deckungsgleich mit der heute vorherrschenden ökologischen Problematik
waren, lassen sich doch einige Parallelen ziehen und einige ihrer zentralen Motive
auf die heutige Problemlage übertragen. Mit der Dialektik der Aufklärung wird die
Kritik der Naturbeherrschung zu einem der zentralen Motive kritischer Theorie,
die den Fortschrittsutopien der Moderne eine deutliche Absage erteilt und die
Kritik an den herrschaftsförmigen Implikationen des Naturbegriffs mit der Erfah-
rung der ›Nichtidentität‹ der Natur verbindet.
Dabei wurde von den Autoren eine Krisendiagnose entworfen, die trotz der
historischen Distanz erstaunliche Parallelen aufweist zur ökologischen Problema-
tik. Denn obwohl Anlass und Gegenstand dieser Zeitdiagnose – die Bedeutung des
Nationalsozialismus und der Vernichtung der europäischen Juden für das Ge-
schichtsverständnis der Moderne – mit der heutigen Problemlage völlig differieren,
lässt sich ihr schon die Erfahrung entnehmen, dass alle Versuche bürgerlich-
kapitalistischer Gesellschaften sowie des ›real existierenden Sozialismus‹, sich von
den Abhängigkeiten von der Natur zu emanzipieren, diese Abhängigkeiten nur in
neuer und destruktiverer Weise reproduziert haben: »Jeder Versuch, den Natur-
zwang zu brechen, indem Natur gebrochen wird, gerät nur um so tiefer in den
Naturzwang hinein. So ist die Bahn der europäischen Zivilisation verlaufen«
(Horkheimer/Adorno 1987, S. 35). Allerdings lässt sich diese Diagnose nur richtig
verstehen, wenn ihr theoretischer Hintergrund wie ihr zeitdiagnostischer Gehalt
berücksichtigt wird. Denn obwohl Horkheimer und Adorno hier auf den Begriff
der ›zweiten Natur‹ in der Tradition von Hegel und Marx zurückgreifen – der
›Naturzwang‹, in den sich die modernen Gesellschaften verstricken, ist die gegen-
über den Alltagsdeutungen der Akteure verselbständigte und sich scheinbar wie ein
Sachzwang oder ein ›Naturgesetz‹ entwickelnde kapitalistische Gesellschaft –, ha-
ben sie aus den historischen Erfahrungen heraus wichtige Revisionen am marxisti-
schen Geschichtsverständnis ihrer Zeit vorgenommen, die mit dem Fortschrittsver-
ständnis zentral auch die Bedeutung der gesellschaftlichen Naturverhältnisse be-
rührt.
Die Diagnose der Dialektik der Aufklärung wie der Gesellschaftsbegriff der
kritischen Theorie sind also in einer komplexen Weise an die Tradition der mate-
rialistischen Geschichtsbetrachtung angeschlossen. Gleichzeitig sind sie erst als
Kritik wesentlicher Grundannahmen dieser Tradition richtig zu verstehen. Bis zur
Dialektik der Aufklärung arbeiteten Horkheimer und seine Mitarbeiter/innen am
Institut für Sozialforschung am Programm eines interdisziplinären Materialismus,
der sich in wesentlichen Punkten als Ergänzung und Korrektur, aber gleichwohl als
Fortsetzung der marxistischen Geschichtsauffassung interpretieren lässt (Dubiel
1978). Doch schon in dieser Zeit wurden einige wichtige Vorannahmen in Frage
gestellt. Eine wichtige Vorbereitung kam von Walter Benjamin. In seinen nach-
gelassenen Thesen Über den Begriff der Geschichte (Benjamin 1980) stellt er das
von der organisierten Arbeiterbewegung über alle politischen Gegensätze hinweg
geteilte Bild eines linearen geschichtlichen Fortschritts grundsätzlich in Frage
44 Christoph Görg

(Gandler 2002). Zentral dafür war die Rolle der Naturbeherrschung in der Emanzi-
pationsgeschichte des Menschen. Schon in einer früheren Arbeit (von 1928) hatte
Benjamin die Vorstellung einer Steigerung der Naturbeherrschung als Ziel des
gesellschaftlichen Fortschritts kritisiert und dem die Idee einer Beherrschung der
Verhältnisse zur Natur entgegengestellt (vgl. dazu Wehling 1992, S. 370 f.). In
seinen ›Thesen‹ wendet er diese Einsicht nun gegen das Geschichtsverständnis der
Sozialdemokratie seiner Zeit, dem er vorwarf, den Charakter des geschichtlichen
Prozesses ganz grundsätzlich zu verfehlen: es »will nur die Fortschritte der Natur-
beherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahr haben« (Benjamin
1980, S. 256 f.). Weil ein solches Geschichtsverständnis die revolutionäre Verände-
rung der Gesellschaft und die Emanzipation des Menschen von der Ausbeutung
der Natur abhängig mache, verkenne es sowohl den genuin gesellschaftlichen
Charakter der Emanzipation wie die destruktiven Folgewirkungen der Natur-
beherrschung.
Dabei konnte sich solch ein mechanisches Geschichts- und Emanzipations-
verständnis nicht auf Marx selber berufen – auch nicht, was die Naturverhältnisse
angeht. Denn der »nicht-ontologische Materialismus« (Schmidt 1993) behandelt
die Natur nicht als vorausgesetztes Sein, sondern immer als eine vergesellschaftete
Natur. Marx ging zwar von der Existenz eines universellen gesellschaftlichen
Systemproblems aus, nach der jede Gesellschaft untergehen muss, die auch nur für
ein paar Tage die Arbeit und damit ihre Reproduktion in der Natur einstellen
würde – der Prozess des Stoffwechsels muss aufrecht erhalten und organisiert
werden. Aber wie dieses Systemproblem in einer bestimmten Gesellschaftsforma-
tion und in einer konkreten Gesellschaft bearbeitet wird, dies ergibt sich erst aus
der gesamten Einrichtung der Gesellschaft und der gesellschaftlichen Arbeits-
teilung in ihr – und dies geht über die Ökonomie im engeren Sinne hinaus. Der
nicht-ontologische Charakter des Marxschen Materialismus spricht also weder den
gesellschaftlichen Naturverhältnissen einen ontologischen Primat zu, noch ist sein
Ziel die Optimierung des Stoffwechsels und die Steigerung der Naturbeherrschung.
Vielmehr geht es darum, das die Menschen die Kontrolle über die verselbständigten
gesellschaftlichen Reproduktionsprozesse erlangen sollen und damit auch eine
rationalere Gestaltung der Naturverhältnisse vornehmen können.
Schon in den frühen 1930er Jahren formuliert Adorno in einem Vortrag über
»Die Idee der Naturgeschichte« (Adorno 1973) wesentliche Grundbestimmungen
eines Verhältnisses von Natur und Geschichte, die er als »Auslegung gewisser
Grundgedanken der materialistischen Dialektik« (ebd., S. 365) verstanden wissen
wollte. Schon hier deutete sich bereits eine Akzentsetzung an, die die Arbeiten
Adornos bis in sein Spätwerk, das Kapitel »Weltgeist und Naturgeschichte« aus der
Negativen Dialektik (ders. 1982, S. 295ff.; vgl. ebd. S. 409) immer begleitet haben.
Ein zentraler Gedanke seines Anschlusses an Marx ist die doppelte Wendung gegen
eine Ausblendung der Naturverhältnisse aus dem Gesellschaftsbegriff sowie gegen
eine dualistische Fassung ihres Verhältnisses. Anders als in der Durkheimschen
oder der Weberschen Tradition der Soziologie wird Gesellschaft nicht durch
Abgrenzung von der Natur (vgl. Görg 1999a), sondern als konstitutiv auf Natur
bezogen bestimmt, ohne dabei mit ihr zusammenzufallen. Für diese Denkfigur ist
Dialektische Konstellationen 45

die Kategorie der Vermittlung zentral: »Der gesellschaftliche Prozeß ist weder bloß
Gesellschaft noch bloß Natur, sondern Stoffwechsel der Menschen mit dieser, die
permanente Vermittlung beider Momente« (Adorno 1979, S. 221). Während hier in
direkter Anknüpfung an den Marxschen Begriff des Stoffwechsels der Zwang zum
materialen Austausch mit der Natur besonders hervorgehoben wird, betont die
Kategorie der Vermittlung zudem den geschichtlichen Charakter, die wechselnden
Konstellationen von Individuum, Gesellschaft und Natur:
»Die Konstellation zwischen den drei Momenten ist dynamisch. Es genügt nicht, bei der
Einsicht in ihre perennierende Wechselwirkung sich zu beruhigen, sondern eine Wissenschaft
von der Gesellschaft hätte wesentlich die Aufgabe, die Gesetze zu erforschen, nach denen
jene Wechselwirkung sich entfaltet, und die wechselnden Gestalten abzuleiten, die In-
dividuum, Gesellschaft und Natur in ihrer geschichtlichen Dynamik annehmen.« (Institut für
Sozialforschung 1956, S. 43)
Wechselnde Konstellationen im Verhältnis von Individuum, Gesellschaft und Na-
tur sind danach also der eigentliche Gegenstand einer kritischen Gesellschafts-
theorie – und nicht die Dynamik des gesellschaftlichen Prozesses oder sozialer
Interaktionen in Abstraktion von der Natur. Allerdings lässt dieses Zitat offen, was
genau mit den ›Gesetzen‹ gemeint ist, die diese Dynamik antreiben. Adorno
erweckt hier den Anschein, allgemeine Entwicklungsgesetze dieser Gesamtkon-
stellation angeben oder zumindest prinzipiell auffinden zu können, aus denen sich
dann einzelne historische Konstellation ableiten lassen. Obwohl dies besonders mit
Blick auf die Rolle der Naturbeherrschung in der Dialektik der Aufklärung immer
wieder behauptet wurde, lässt sich besonders an diesem Werk verdeutlichen, dass
etwas anderes gemeint ist.
Die Argumentation der Dialektik der Aufklärung kreist um das Verhältnis
dreier Aspekte von Herrschaft, die von Horkheimer und Adorno in enge Bezie-
hung gebracht werden: auf die Konstellation zwischen der Naturbeherrschung,
sozialer Herrschaft und der Herrschaft im Subjekt (vgl. Honneth 1989; zur Kritik:
Görg 1999b). Hinter dieser Konstellation steht das Vermittlungsverhältnis von
Individuum, Gesellschaft und Natur, nun nach seinen herrschaftlichen Implika-
tionen hin gewendet. Die für das Verständnis entscheidenden Fragen kreisen
darum, was diese Momente jeweils für sich bedeuten, ob es sich dabei wirklich
gleichermaßen um Herrschaftsaspekte handelt, und wie weit sie voneinander abge-
leitet bzw. aufeinander reduziert werden können. Der Zweifel an der Sinnhaftigkeit
der Verwendung des Herrschaftsbegriffs betrifft vor allem seine Anwendung auf
Natur, da Herrschaft angeblich ein genuin soziales Verhältnis impliziere. Zudem
wird die Frage gestellt, ob denn auf eine Beherrschung der Natur im Laufe des
technischen Fortschritts überhaupt verzichtet werden kann. Naturbeherrschung
meint jedoch in der Dialektik der Aufklärung etwas anderes als die Aneignung
oder Transformation von Natur zu menschlichen Zwecken, die in der Tat unver-
zichtbar ist (und auf die verzichten zu wollen die Ausblendung des gesellschaftlich
organisierten Stoffwechselprozesses implizieren würde). Die Thematisierung von
Naturbeherrschung in diesem Werk zielt dagegen primär auf die symbolische
Konstruktion der Natur, auf einen Naturbegriff, der durch eine bestimmte Klassifi-
zierung, eine projizierte Ordnung der Natur gebildet wird und der dem wissen-
46 Christoph Görg

schaftlichen Denken wie der technisch-praktischen Aneignung der Natur zugrunde


liegt. Dabei kritisieren die Autoren die Entqualifizierung der konkreten Mannigfal-
tigkeit des natürlichen Geschehens durch das begrifflich-identifizierende Denken,
also eine bestimmte Art und Weise, die »Einheit der Natur« (ebd., S. 31) zu
konstruieren.
Horkheimer und Adorno rekurrieren dabei auf Untersuchungen von Emile
Durkheim und Marcel Mauss »Über einige primitive Formen der Klassifikation«
(Durkheim/Mauss 1993). Durkheim und Mauss stellen dort die fundamentale Rolle
von Herrschaft selbst heraus (ebd., S. 176; vgl. dazu Görg 1999a, Kap. 4.1.). Ihre
Überlegungen enden in der Kategorie des Soziozentrismus (Durkheim/Mauss 1993,
S. 254), der im Unterschied zum Anthropozentrismus gerade den »Aspekt der
sozialen Hierarchie« (der Gesellschaft über das Individuum) betont, von dem die
logische Hierarchie nur ein Teil sei. Der Soziozentrismus ist im Durkheimschen
Verständnis eine Projektion der vermeintlich naturwüchsigen Dominanz der Ge-
sellschaft über das Individuum auf die Natur. Daran schließt die Dialektik der
Aufklärung insoweit an, als das naturbeherrschende Denken aus der sozialen
Herrschaft, letztlich aus dem Primat der Gesellschaft, verankert in der gesellschaft-
lichen Arbeitsteilung, abgeleitet wird. Anders als Durkheim gehen Horkheimer
und Adorno jedoch nicht von einer naturwüchsigen Dominanz der Gesellschaft
aus, sondern betonen gegenüber Durkheim die »undurchdringliche Einheit von
Gesellschaft und Herrschaft« (Horkheimer/Adorno 1987, S. 44). Nicht ein natur-
wüchsiger und unhistorischer Primat der Gesellschaft, sondern deren spezifische
Beschaffenheit bildet so letztlich die Basis des herrschaftlich verfassten Sozio-
zentrismus der Naturbeherrschung.
Wenn Adorno und Horkheimer die in die gesellschaftliche Arbeitsteilung einge-
lassenen Herrschaftsverhältnisse betonen, dann heben sie damit gerade den nicht-
funktionalen Charakter gesellschaftlicher Synthesis hervor. Die Dominanz der
Gesellschaft über das Individuum ergibt sich nicht zwangsläufig als Nebenaspekt
einer funktionalen Arbeitsteilung oder einer funktionalen Differenzierung der
Gesellschaft und den quasi-natürlichen Abhängigkeiten der Individuen von ihr,
sondern ist Ausdruck einer spezifischen, im Kern sogar dysfunktionalen Ein-
richtung der Gesellschaft. Diese Einrichtung ist von sozialer Herrschaft (Klassen-
herrschaft und geschlechtsspezifischer Herrschaft) geprägt, und ihre Funktions-
weise ist, nach der Einsicht der Marxschen Wertformanalyse, in ihrem Kern
irrational. Wiewohl Gesellschaft immer ein Funktionsbegriff ist, einen Zusammen-
hang gesellschaftlicher Arbeitsteilung kennzeichnet, ist die kapitalistische Gesell-
schaftsordnung gerade keine funktionale Einheit, sondern eine »antagonistische
Totalität«, ein verselbständigter Zwangszusammenhang (vgl. Adorno 1979, S. 9ff.).
Damit ist die Thematik der Naturverhältnisse zentral für eine Neubestimmung des
Emanzipationsbegriffs, denn diese Neubestimmung ist als Kritik an den An-
nahmen einer funktionalistischen Gesellschaftstheorie und insbesondere als Kritik
an der These einer fortschreitenden Fähigkeit zur Naturbeherrschung angelegt
(Arnason 1986).
Darüber hinaus argumentieren Horkheimer und Adorno explizit mit den Fol-
gen, die die Entqualifizierung der Natur auf dem Wege des naturbeherrschenden
Dialektische Konstellationen 47

Denkens für das Subjekt selbst hat. Auch dabei wird wieder das konstitutive
Verhältnis zwischen Gesellschaft, Individuum und Natur deutlich. Dieser kon-
stitutive Charakter äußert sich darin, dass der Versuch einer Negation der be-
sonderen Qualitäten eines Pols, z. B. der Natur, auch Folgen hat für die anderen
Pole, die Gesellschaft oder das Individuum: »Die disqualifizierte Natur wird zum
chaotischen Stoff bloßer Einteilung und das allgewaltige Selbst zum bloßen Haben,
zur abstrakten Identität.« (Horkheimer/Adorno 1987, S. 32) Die »Disqualifizie-
rung der Natur«, ihre begriffliche Konstitution als beliebig verfügbarer »Stoff«,
schlägt sich in einem Selbst nieder, das apriori beschädigt ist. Ein solches Modell
einer konstitutiven Verhältnisbestimmung als Relation von Selbstständigkeit und
Abhängigkeit lässt sich schon der Dialektik von ›Herr und Knecht‹ bei Hegel
entnehmen (Hegel 1970, S. 145ff.), auf die Horkheimer und Adorno direkt Bezug
nehmen (vgl. dazu auch: Vogel 1987; Ritsert 1988; Görg 1999a, Kap. 5.2.).
Schon bei Hegel war die soziale Herrschaft durch das Naturverhältnis ver-
mittelt, insofern erstere beinhaltete, dass der Knecht für den Herrn arbeiten, den
Stoffwechsel mit der Natur sicherstellen muss. Hegel rechnet dabei allerdings noch
relativ unproblematisch mit einem Bildungs- und Emanzipationsprozess (Hegel
1970, S. 153 f.). Das bedeutet, er rekurriert, wie nach ihm die Arbeiterbewegung,
auf die bürgerliche Ideologie der ›tätigen Klasse‹ gegenüber dem untätigen Adel
(bzw. dann später dem Bürgertum). In der Aneignung der Natur soll danach
unmittelbar ein sozialer Emanzipationsprozess angelegt sein, der zur Überwindung
sozialer Herrschaft führt. Dieses Vertrauen in einen Bildungsprozess durch Arbeit,
das sich noch in den Marxschen Frühschriften findet (MEW Erg.-Bd.1, S. 533ff.),
ist nun seit Benjamin in die Kritik geraten. Und diese Kritik wird auch von Adorno
und Horkheimer geteilt und weitergeführt. Im Gegensatz zur bürgerlichen wie zur
proletarischen Emanzipationsvorstellung verbürgt die durch Arbeit vermittelte
Aneignung der Natur keinen Bildungs- und Emanzipationsprozess. Vielmehr ge-
neriert die in der sozialen Herrschaft enthaltene Möglichkeit zur Distanzierung
von Natur auch die Ideologie der beliebigen Verfügbarkeit von Natur. »Die
Distanz des Subjekts zum Objekt, Voraussetzung der Abstraktion, gründet in der
Distanz zur Sache, die der Herr durch den Beherrschten gewinnt« (Horkheimer/
Adorno 1987, S. 36). Erst die soziale Herrschaft bringt mit der Distanz zur Natur
die Ideologie ihrer vollständigen Beherrschbarkeit als Abstraktion von allen be-
sonderen Qualitäten mit sich. Und so, wie das Naturverhältnis damit selbst in
spezifischer Weise durch die Herrschaftsbeziehungen geprägt wird, ist die soziale
Herrschaft, obwohl ihrerseits eine Voraussetzung des naturbeherrschenden Den-
kens, selbst durch das Naturverhältnis vermittelt.
Die Kritik der Naturbeherrschung beruft sich nicht auf die Naturwüchsigkeit
und Alternativlosigkeit des geschichtlichen Prozesses und nimmt auch keine Natu-
ralisierung gesellschaftlicher Entwicklung vor. Vielmehr ist diese vermeintliche
Naturwüchsigkeit gerade der Gegenstand der Kritik. Diese für die ökologische
Problematik sehr wichtige Wendung lässt sich vor allem an einem zentralen
Denkmodell aufzeigen: der Kritik der falschen Alternative.
48 Christoph Görg

»Das Wesen der Aufklärung ist die Alternative, deren Unausweichlichkeit die der Herrschaft
ist. Die Menschen hatten immer zu wählen zwischen ihrer Unterwerfung unter Natur oder
der Natur unter das Selbst.« (Horkheimer/Adorno 1987, S. 55)
Diese Alternative zwischen der Unterwerfung unter oder der Beherrschung von
Natur wird hier in ihrer vermeintlichen Unausweichlichkeit von den Autoren zum
Inbegriff des naturbeherrschenden Denkens erklärt. Weil sie aber eine Alternative
in der Herrschaft ist, die im naturbeherrschenden Denken reproduziert wird, kann
sie grundsätzlich sehr wohl überwunden werden. Genau diese falsche Alternative
wird aber auch in der ökologischen Krise in der Kontroverse zwischen Naturalis-
ten bzw. Ökozentristen und Konstruktivisten wieder zum Problem. Während
angesichts der destruktiven Entwicklung der Naturverhältnisse zuweilen gefordert
wird, die Gesellschaft den ›Gesetzen der Natur‹ unterzuordnen, weist die Gegen-
position darauf hin, dass genau dies unmöglich sei und die (begriffliche wie
technische) Konstruktion der Natur zu menschlichen Zwecken unhintergehbar ist.
Adorno und Horkheimer nehmen in diesem Streit insoweit eine soziozentristische
Position ein, als der Naturbegriff immer eine gesellschaftliche Projektion darstellt.
Sie bleiben aber nicht dabei stehen, diese Projektion zu entlarven oder sie gar als
Einsicht in die Kontingenz der Natur zu affirmieren, wie dies in vielen Schulen des
Sozialkonstruktivismus versucht wird (vgl. zur Kritik an Luhmann: Görg 2001).
Vielmehr wenden sie sich kritisch gegen die scheinbare Alternativlosigkeit des
›entweder-oder‹ und versuchen, den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Kon-
struktion – die darin enthaltenen Herrschaftsverhältnisse – aufzudecken. Die fal-
sche Alternative zu durchschauen ist aber deswegen möglich, weil die Herrschaft
niemals völlig total ist. So wie der Herr dem Knecht nicht beliebig befehlen kann,
so kann eine »Selbstbesinnung […] des Denkens« (Horkheimer/Adorno 1987,
S. 64) aus der vermeintlichen Alternativlosigkeit der Naturbeherrschung heraus-
treten. Nicht die Verabsolutierung einer Sphäre der Notwendigkeit bzw. das
Aufzeigen der Kontingenz allen Geschehens, sondern die Hinterfragung der Vor-
annahmen der falschen Alternative ist also die Botschaft der Dialektik der Auf-
klärung.
Dem Verdacht eines naturalistischen Reduktionismus in den Naturverhältnissen
widerspricht auch die Kritik an einem vorgängigen ›Reich der Notwendigkeit‹, die
Adorno und Horkheimer noch gegen den späten Marx vorbringen. Hatte dieser in
dem durch Arbeit vermittelten Stoffwechsel mit der Natur ein solches ›Reich der
Notwendigkeit‹ gesehen, das neben dem von Menschen zu gestaltenden und im
Übergang zum Sozialismus seiner Naturwüchsigkeit zu entkleidenden ›Reich der
Freiheit‹ immer bestehen bleibt, dann widersprechen Adorno und Horkheimer
dem explizit und bezeichnen diese Denkfigur »als Zugeständnis an den reaktio-
nären common sense« (ebd., S. 64). Der Grund dafür liegt aber nicht darin, dass
Adorno und Horkheimer den Zwang zur Aneignung, zum Stoffwechsel mit der
Natur nicht als eine Tatsache ansehen würden. Sie wenden sich jedoch dagegen,
diesen Zwang als unveränderliche Notwendigkeit zu einem Quasi-Naturgesetz zu
erhöhen, weil dies eine dualistische und hierarchische Verfestigung des Verhältnis-
ses von Notwendigkeit und Freiheit implizieren würde. Das Reich der Freiheit
würde den Naturverhältnissen abstrakt entgegen gestellt und damit Natur »als
Dialektische Konstellationen 49

ganz fremd gesetzt« (ebd.). Soll menschliche Freiheit und die Fähigkeit zur Gestal-
tung von sozialen Verhältnissen nicht abstrakt-dualistisch und dadurch hierar-
chisch der Natur entgegengesetzt werden, dann muss sie sich auch in der Gestal-
tung der Naturverhältnisse verkörpern.
Wenn die Dialektik der Aufklärung als »verkannte Wahrheit aller Kultur« das
»Eingedenken der Natur im Subjekt« einfordert (Horkheimer/Adorno 1987, S. 64;
vgl. dazu Schmid Noerr 1990), dann ist damit also kein reduktionistischer Natura-
lismus intendiert. Dieser Grundgedanke bezieht sich nicht nur auf die ›innere‹
Natur des Menschen. Da als ›Subjekt‹ im oben angeführten Zitat auch die Gesell-
schaft eingesetzt werden kann, betrifft es auch die natürliche Umwelt der Gesell-
schaft, also die ›äußere‹ Natur. Gefordert wird mit diesem Theorem, dass der
Mensch trotz aller Konstruktion einer Objektwelt ›für sich‹ Natur als eine ihm
fremde (äußere wie innere) Bedingung seiner Existenz anerkennt. Wenn Natur also
immer eine subjektive, d. h. gesellschaftliche Konstruktion ist, bleibt sie gleichwohl
auch eine von ihm verschiedene eigenständige Realität. Mehr noch: Solange er sie
nicht als Bedingung seiner eigenen Entwicklung, seiner Emanzipation von sozialer
Herrschaft wie seiner Gestaltung der gesellschaftlichen Reproduktion anerkennt
(was natürlich ein subjektiver Akt ist), bleibt er selbst in seinem Verhältnis zur
eigenen und zur äußeren Natur deformiert. Das naturbeherrschende Denken und
Handeln kann die spezifisch menschlichen Möglichkeiten zur Reflexion und zur
Selbstverwirklichung nicht ausschöpfen und zerstört gleichzeitig die natürlichen
wie sozialen Bedingungen seiner Existenz. Verleugnung der Eigenständigkeit eines
Anderen (der Nichtidentität der Natur) als die Bedingung der eigenen (vermeintli-
chen) Unabhängigkeit ist die Grundform von Herrschaft. Und diese Verleugnung
lässt sich als das übergreifende Moment der Gesamtkonstellation erkennen.
In der Kritik der Naturbeherrschung ist damit die Emanzipation des Menschen
unentrinnbar mit der Anerkennung der Nichtidentität der Natur verbunden. Der
Mensch hat sich nicht vermeintlich objektiven Grenzen in der Natur zu unter-
werfen (denn jede Objektivität ist unhintergehbar auch seine Konstruktion). Und
er kann gleichzeitig die konstitutive Bezogenheit auf die Natur und insofern seinen
eigenen Status als Naturwesen auch nicht durch die Perfektionierung der Natur-
beherrschung aufheben. Das Ziel einer nicht-herrschaftlichen Gestaltung der Na-
turverhältnisse lässt sich in Abwandlung der oben angeführten Zeitdiagnose viel-
mehr so umschreiben: Dem ›Naturzwang‹ kann die Gesellschaft nur entkommen,
wenn sie nicht Natur sich zu unterwerfen versucht, sondern sie als eigenständige
Bedingung ihrer eigenen Geschichte anerkennt und gleichzeitig ihre durch Herr-
schaftsverhältnisse verkürzten Fähigkeiten zur reflexiven Gestaltung ihrer eigenen
sozialen Verhältnisse wie ihrer Naturverhältnisse freisetzt.

2. Von der Dialektik der Aufklärung zu Arbeit und Interaktion

Mit dieser kurzen Rekonstruktion der Kerngedanken der Dialektik der Aufklä-
rung soll nun nicht der Anschein erweckt werden, hier sei ein Modell einer
50 Christoph Görg

kritischen Theorie der Naturverhältnisse mehr oder weniger komplett vorgezeich-


net gewesen, das dann im ökologischem Diskurs seit den 1970er Jahren nur noch
hätte angewendet werden müssen. Vielmehr lassen sich mindestens drei Prob-
lembereiche erkennen, die dagegen sprechen. Zum einen sah sich die Kritische
Theorie, vor allem ihre Vertreter Adorno und Horkheimer nach der Rückkehr aus
dem Exil nach Deutschland in eine historische Konstellation versetzt, in der sie
eindeutig andere Prioritäten zu erkennen glaubte. Nicht die Erkenntnis der krisen-
haften Entwicklung der Naturverhältnisse, sondern die Nachkriegssituation mit
der Problematik des Nachwirkens des Nationalsozialismus in der Demokratie und
der Frage, wie hier ein Gegensteuern möglich wäre, bildeten den Horizont ihrer
wissenschaftlichen wie publizistisch-politischen Praxis (Demirovic 1999). Während
sich damit die Abhängigkeit jeglicher kritischen Theorie von der Entwicklung
gesellschaftlicher Konflikte und der Praxis sozialer Bewegungen belegen lässt, die
oftmals gesellschaftliche Krisentendenzen erst zum Vorschein bringen (Görg 1992),
bedeutet dies im Umkehrschluss nicht, diese Variante von Sozialwissenschaft sei
blind gewesen gegen die Vermitteltheit gesellschaftlicher Verhältnisse mit Natur.
Vor allem Herbert Marcuse (1987, zuerst 1972 erschienen; 1990, Vortrag von 1977)
hat denn auch frühzeitig die Brisanz der ökologischen Problematik erfasst. Und für
Adorno war die Naturthematik bis in seine letzten Schriften, die Negative Dialek-
tik und die Ästhetische Theorie, hinein von zentraler Bedeutung für die Gesell-
schaftstheorie (Ritsert 1990).
Doch stellt sich hier ein zweites Problem, das die Rezeption der Ökologiepro-
blematik erschwert hat: die fehlende Beschäftigung mit den Naturwissenschaften
(Wehling 1997). Während Adorno wohl der Ansicht war, diese seien in toto dem
naturbeherrschenden Denken zu subsumieren – eine Einschätzung, die nur wenig
durchbrochen wird durch beiläufige Bemerkungen, die neuesten Varianten der
Naturwissenschaften seien weniger positivistisch eingestellt als manche Zweige der
Sozialwissenschaften (Adorno 1979, S. 280ff.) – finden sich bei Marcuse wenigstens
Ansätze zu einer anderen Herangehensweise. Steht nämlich ›die Naturwissen-
schaft‹ generell unter Ideologieverdacht, ist kaum einzusehen, warum naturwissen-
schaftliches Wissen über ökologische Probleme überhaupt ernst genommen wer-
den und – zusammen mit technischen Lösungsoptionen – in gesellschaftliche
Reaktionsmuster eingebaut werden sollte. Nun hatte Marcuse zwar einen großen
Anteil daran, dass Wissenschaft und Technologie als ein wichtiges Element der
kapitalistischen Form der Vergesellschaftung kritisch hinterfragt wurde (Marcuse
1979, Vortrag von 1965; 1967, engl. Original 1964). Dabei artikuliert seine Ausei-
nandersetzung mit der Rationalitätstheorie Max Webers das Spannungsverhältnis,
dass einerseits gesellschaftliche Herrschaft der Technik selbst innewohnt, anderer-
seits aber Technik aus dieser Funktion befreit und zur »Technik der Befreiung«
(Marcuse 1979, S. 129) umgewandelt werden kann. Obwohl Marcuses Thesen eine
wichtige Rolle in den Debatten um Naturwissenschaft und Technik spielten (Ul-
rich 1979: Hack/Hack 1985), war damit auch das Problem vorgegeben, wie denn
ein solcher Wandel denkbar sei – und ob er sich überhaupt begründen ließe.
Hier ist eine entscheidende Weichenstellung im Übergang von der ›älteren‹ zur
›jüngeren‹ Kritischen Theorie angelegt. Denn Jürgen Habermas, obwohl in ge-
Dialektische Konstellationen 51

wisser Hinsicht den kritischen Gedanken des herrschaftlich verfassten Charakters


von Wissenschaft und Technik aufnehmend, bestritt schon sehr früh die Möglich-
keit einer anderen Technologie bzw. einer neuen Wissenschaft mit dem Argument,
beide seien ein historisch alternativloses Projekt der Menschengattung überhaupt
(Habermas 1968, S. 55). Stattdessen entwickelte er eine theoretisch weitreichende
Umakzentuierung der Grundlagen kritischer Theorie. Wissenschaft und Techno-
logie seien »zur ersten Produktivkraft« (ebd., S. 79) wie zu einer eigenen Quelle der
Legitimation von Herrschaft im ›Spätkapitalismus‹ geworden. Aber diese Entwick-
lung sei nicht mehr unter Verweis auf ein alternatives historisches Projekt zu
kritisieren. Vielmehr käme es nach Habermas darauf an, unterschiedliche Rationali-
sierungsprozesse zu unterscheiden und die Kolonisierung des einen durch den
anderen Prozess zum Gegenstand der Kritik zu machen. Während nämlich Technik
und Wissenschaft dem Funktionskreis instrumentellen Handelns zuzuordnen
seien, der mit Produktion und Arbeit den Stoffwechselprozess mit der Natur
organisiert, sei in der menschlichen Interaktion, genauer: im kommunikativen
Handeln, ein davon deutlich unterschiedenes Rationalisierungsmuster angelegt
(vgl. ebd., S. 9ff.).
Die damit vorgenommene theoretische Weichenstellung ist im Hinblick auf die
Rolle der Naturverhältnisse fatal. Einmal wird damit der Weg zurück zu einem
dualistischen Verhältnis sozialer und natürlicher Prozesse vollzogen. Kommunika-
tion als eigentlicher Gehalt sozialer Interaktionen wird den Naturverhältnissen
abstrakt gegenübergestellt. Dieser Dualismus übersieht aber nicht nur die Ver-
mitteltheit beider, sondern ebnet auch den Weg zu einem herrschaftlich verfassten
Verständnis der Naturverhältnisse, weil er implizit auf eine Perfektionierung wis-
senschaftlich-technischer Konstruktionen ausgerichtet ist. Darüber hinaus wird
auch die Frage ausgeklammert, ob es nicht doch Alternativen in der Gestaltung der
Naturverhältnisse gibt, die schon als Alternativen in der Wissenschaft, als Al-
ternativen zwischen verschiedenen Paradigmen und Schulen in den unterschiedli-
chen Disziplinen zu behandeln wären. Während Adorno und besonders Hork-
heimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft (1985, zuerst 1947 erschienen)
noch mit einem Generalverdacht in Bezug auf Naturwissenschaft und Technik
reagieren und sie in Gänze dem instrumentellen Handeln und der Naturbeherr-
schung zurechnen, antwortet Habermas mit einer Generalabsolution bzw. mit der
These einer historischen Alternativlosigkeit. Dies wird aber nicht nur der tatsäch-
lichen Entwicklung nicht gerecht (vgl. zur Kritik z. B. Hack 1988; Weingarten
1998). Dies setzt auch noch ein weiteres Element des naturbeherrschenden Den-
kens wieder in Geltung, nämlich die Annahme, dass der geschichtliche Prozess in
einer alternativlosen Steigerung der Naturbeherrschung seinen eigentlichen Rich-
tungsvektor besitzt. Dies war die Grundannahme der funktionalistischen Gesell-
schaftstheorie (vor allem formuliert bei Parsons 1975; vgl. dazu Görg 1999a). In
dem Maße, in dem Habermas die Naturverhältnisse nach dem Modell der Parson-
schen Theorie der Moderne interpretiert (vgl. besonders Habermas 1981), über-
nimmt er damit auch das funktionalistische Gesellschaftsverständnis und damit
gerade im Hinblick auf die Naturverhältnisse einen der zentralen Mythen der
Moderne (zur Kritik: Wehling 1992).
52 Christoph Görg

Zentraler Gegenstand der Kritik an der ›älteren‹ Kritischen Theorie ist dement-
sprechend auch die Zeitdiagnose der Dialektik der Aufklärung und ihr zentrales
Kritikmodell: die Kritik der Naturbeherrschung. Indem die Kritik von Jürgen
Habermas, aber auch von Axel Honneth nahe legt, die Dialektik der Aufklärung
verwende ein Geschichtsmodell, dass davon ausgehe, ein »ursprüngliche(r) Akt der
Subsumtion der Naturvorgänge unter das Handlungsschema technischer Verfü-
gung« (Honneth 1989, S. 60; vgl. Habermas 1987, S. 177) habe einen irreversiblen
Prozess des Anwachsens der Naturbeherrschung und des gleichzeitigen Anwach-
sens sozialer Herrschaft und psychischer Verhärtung induziert, übersieht sie aber
die konstitutive Vermitteltheit dieser Prozesse (zur Kritik Görg 1999b). Denn es ist
eben nicht generell die Technik oder das ›Handlungsschema technischer Verfü-
gung‹, das von den Autoren für die Naturbeherrschung verantwortlich gemacht
wird. Adorno und Horkheimer betonen ausdrücklich: »Das behaupten die Sozio-
logen, die nun wieder auf ein Gegenmittel sinnen […] um des Gegenmittels Herr
zu werden. Schuld ist ein gesellschaftlicher Verblendungszusammenhang« (Hork-
heimer/Adorno 1987, 65). Die These der Naturbeherrschung zielt explizit nicht auf
eine Kritik an der verselbständigten Technik oder gar auf einen Technikdeter-
minismus, sondern auf die gesellschaftlichen Verhältnisse, die der Produktion und
Anwendung von Technik zugrunde liegen. Der Fokus der Kritik ist der Zusam-
menhang von Herrschaft, Vernunft und gesellschaftlicher Arbeitsteilung, und ge-
nau dieser Zusammenhang ist von einer Rezeption zu wenig beachtet worden, die
die Verbindungen der Dialektik der Aufklärung zur Tradition materialistischer
Gesellschaftstheorie aus den Augen verloren hat (Demirovic 1999, S. 55).
Damit deutet sich in der Bearbeitung der ökologischen Problematik die Not-
wendigkeit einer Umkehrung des in der Folge von Habermas’ Kritik an Adorno
propagierten Programms an (vgl. Habermas 1981 und 1985). Sah dieses Programm
aufgrund der vermeintlich unüberwindlichen Aporien der Dialektik der Aufklä-
rung einen Anschluss an die frühe Form des interdisziplinären Materialismus vor,
dann lässt sich umgekehrt die These begründen, dass erst diese Zeitdiagnose einen
Materialismus der Spätphase vorbereitet hat, der zum Ausgangspunkt einer Refle-
xion der Naturverhältnisse werden kann und der auch heute noch ›an der Zeit‹ ist.
Allerdings müsste eine kritische Theorie in der Lage sein, der Vermitteltheit von
(Natur-)Wissenschaft und Technik konkret nachzugehen und dadurch auch die
über die gegenwärtigen Verhältnisse möglicherweise hinausreichenden Potentiale
aufzuzeigen, die für eine Bewältigung ökologischer Probleme unverzichtbar sind.
Die hier vorgenommene Rekonstruktion impliziert mit anderen Worten, damit
ernst zu machen, dass sich aus dem Begriff der Totalität wie aus dem Verständnis
der menschlichen Naturgeschichte als ›zweiter Natur‹ keine überhistorischen Ge-
setze über die wechselnden Konstellationen im Naturverhältnis ableiten lassen.
Dies wäre der dritte Problembereich, der für eine Aktualisierung zu beachten ist.
Die tatsächliche Relevanz der Naturverhältnisse lässt sich nur kritisch durch
Analyse der historisch-konkreten Prozesse und Strukturen gesellschaftlicher Re-
produktion aufzeigen. Selbst der Verweis auf ›den Kapitalismus‹ ist für sich ge-
nommen dafür noch zu abstrakt. Es kann aber kein Zweifel daran bestehen, dass
die Arbeiten von Adorno und Horkheimer nach der Dialektik der Aufklärung nur
Dialektische Konstellationen 53

wenig zur Bearbeitung das damit aufgeworfenen Problems beigetragen haben, wie
eine Gestaltung der Naturverhältnisse in die gesellschaftliche Entwicklung konkret
eingeschrieben ist und welche historische Alternativen trotz der Dominanz der
Naturbeherrschung sich möglicherweise eröffnen könnten. Dazu ist eine Beschäfti-
gung mit anderen theoretischen Denktraditionen notwendig, die die Erfahrung der
ökologischen Krise in die Gesellschaftstheorie zu integrieren versuchten.
Allein Herbert Marcuse war aus dem engeren Kreis der älteren Kritischen
Theorie noch in der Lage, auf die wachsende Thematisierung ökologischer Prob-
leme seit den 1970er Jahren direkt zu reagieren (eine der wenigen direkten An-
wendungen der Dialektik der Aufklärung in späterer Zeit liefert Wiggershaus 1996;
andere mehr rhetorische finden sich z. B. bei Narr 1988 und Beck 1988). Neben der
erwähnten Technikkritik war seine Auseinandersetzung mit der Krise der Natur-
verhältnisse vor allem durch zwei Motive geprägt, die den späteren Diskussionen
fast völlig fehlen: einerseits die Existenz des Menschen als Naturwesen und die
psychoanalytische Tiefendimension der Vermittlung von Natur und Gesellschaft
im Individuum aufzudecken (Marcuse 1990) und andererseits noch die ökologische
Problematik in ihrem emanzipativen Potential bestimmen zu wollen (ders. 1987;
1990).
Beide Dimensionen stehen dabei quer zu heutigen Debatten um ökologische
Probleme. Im Hinblick auf die erste hat dies allerdings nicht nur damit zu tun, dass
dort scheinbar nur die ›äußere Natur‹ und nicht auch die ›innere‹ des Menschen
thematisch ist. Selbst dort nämlich, wo im Zuge neuer Technologien wie der
Informations- oder der Gentechnologie auf das Schicksal des ›Naturwesen
Mensch‹ und auf die Transformationen im Verhältnis zu Wissenschaft und Technik
reflektiert wird, ist dafür meist nicht der Zugang über die Psychoanalyse zentral.
Dabei findet nicht nur die Terminologie der ›inneren Natur‹ kaum Verwendung.
Marcuse versuchte vor allem auszuloten, inwieweit in dieser Tiefendimension
befreiende Kräfte für den Widerstand gegen die destruktiven gesellschaftlichen
Kräfte vorhanden sein könnten. Die Ökologiebewegung verstand er deshalb als
»psychologische Freiheitsbewegung« (ders. 1990, S. 66), die neben dem Schutz der
äußeren Natur auch den destruktiven Kräften in den Individuen entgegentreten
und stattdessen deren »erotische Energien« (ebd.) freisetzen werde.
Doch nicht nur die menschliche Natur, selbst die äußere Natur wurde von
Marcuse auf ihre »befreienden Kräfte« (ders. 1987, S. 63) hin untersucht. Ihm ging
es generell darum, inwieweit sich ein neues Verhältnis zwischen Mensch und Natur
– innerer wie äußerer – im ökologischen Gesellschaftskonflikt andeutete. Beides
wird durch die Kritik der Naturbeherrschung vermittelt. In Marcuses Worten geht
es um eine »Herrschaft über Menschen vermittels Herrschaft über die Natur«
(ebd., S. 65), wobei die Ökologiebewegung als Bindeglied der Befreiung fungiert,
die, indem sie eine Änderung in den Naturverhältnissen einfordert, auch zum
Abbau sozialer Herrschaft beizutragen vermag. Allerdings schwankt Marcuse in
seiner Diskussion der Naturverhältnisse zwischen der These, Natur sei »als Subjekt
eigenen Rechts« (ebd., S. 64) und als wesentliche Grenze der Vergesellschaftung
anzuerkennen (ebd., S. 72), und der Suche nach eben den befreienden Kräften in
der Natur selbst, oder dem, was Marcuse als Eigenschaften der menschlichen
54 Christoph Görg

Natur zu erkennen glaubte und was nicht frei von Projektionen ist. Insbesondere
im Hinblick auf die vermeintliche ›Natur der Frau‹ ist dies denn auch als typisch
männliches Weiblichkeitsbild kritisiert worden (vgl. Kill 1990). Wo aber heute auf
den Zusammenhang zwischen ökologischen Problemen, menschlicher Natur und
neuen Technologien reflektiert wird, da werden solche naturalistischen und essen-
tialistischen Reste meist konsequent zurückgewiesen. So ist vor allem Donna
Haraway (1995) in der Ablehnung jeglicher essentialistischer und naturalistischer
Denkmuster so weit gegangen, alle wesensmäßigen Unterschiede zwischen Men-
schen, Tieren und Maschinen zu leugnen. Letztlich landet sie beim Ideal des
›Cyborgs‹, eines Mischwesens zwischen Mensch und Maschine, das sie der Vor-
stellung eines menschlichen Subjekts entgegenstellt. Ob diese Zurückweisung jegli-
cher Grenzen bzw. wesensmäßiger Unterschiede zwischen Mensch und Natur
wirklich angebracht ist, ist jedoch eine durchaus umstrittene Frage (zur Kritik:
Gransee 1998; Becker-Schmidt 1997). Vielmehr scheinen gerade durch die neuesten
Formen der technischen Konstruktion menschlicher Natur Fragen nach den an-
thropologischen Dimensionen dieser Konstruktion wieder neue Bedeutung zu
bekommen (und dabei wird das Kritikmodell der Dialektik der Aufklärung in
neuer Form aktuell, vgl. Manzei 2002).
Während aber die naturalistischen Anklänge bei Marcuse heute am wenigsten
anschlussfähig zu sein scheinen, ist eine andere, politisch motivierte Einschätzung
hoch aktuell. Denn obwohl er die gesellschaftliche Verursachung ökologischer
Probleme und die kapitalistische Verfassung der Gesellschaft herausstellt, wendet
er sich gegen die einfache Alternative Reform oder Revolution. »Damit der Um-
weltschutz sich so weit entwickelt, dass er im kapitalistischen Rahmen nicht mehr
eingedämmt werden kann, muss er zunächst innerhalb desselben vorangetrieben
werden« (Marcuse 1987, S. 65; Hervh. i. O.). Ökologische Probleme erfordern
demnach eine neue Dialektik von Reform und Revolution, von Veränderung
innerhalb der bestehenden Gesellschaftsform und ihrer radikalen Umgestaltung,
die als radikaler Reformismus bezeichnet werden kann (Görg/Hirsch 1994). Doch
von einer solchen Dialektik im Verständnis der ökologischen Krise ist nicht nur die
Praxis, sondern auch die sozialwissenschaftliche Theoriebildung weit entfernt.

3. Die Krise der Naturverhältnisse

Einer der ersten Versuche im deutschsprachigen Raum, die Ökologieproblematik


als Herausforderung für die Gesellschaftstheorie zu begreifen, die Risikogesell-
schaft von Ulrich Beck (1986), ließ deutliche Anklänge an die Diagnose der
Dialektik der Aufklärung erkennen, zumindest in einigen Passagen. Kontinuitäten
ergeben sich zumindest dort, wo Beck versucht, als Motor für die Entstehung
neuer ökologischer, technisch vermittelter Risiken eine Verkennung im Selbst-
verständnis der Moderne verantwortlich zu machen. Während diese glaube, auf
dem Wege der »Entzauberung der Welt« (Weber 1973, S. 317), nach Max Weber das
Kennzeichen der abendländischen Moderne, ein untrügliches Sicherheitsverspre-
Dialektische Konstellationen 55

chen generieren zu können, sei ihr entgangen, dass gerade diese Entzauberung nur
zu einer »halbierten Moderne« geführt und aus sich heraus eine Gegenmoderne
produziert habe. Gerade das Sicherheitsversprechen der Aufklärung führt nämlich
zur »organisierten Unverantwortlichkeit« (Beck 1988), zur Produktion und zur
gleichzeitigen Leugnung von Gefahren, die mit dem etablierten Instrumentarium
wissenschaftlicher Aufklärung gerade nicht mehr zu bewältigen sind.
Obwohl dabei Beck explizit auf die Dialektik der Aufklärung anspielt, unter-
scheidet sich seine Diagnose jedoch in mehrerer Hinsicht erheblich von dem dort
entwickelten Modell. Zum einen bleibt seine Reflexion der Naturverhältnisse
widersprüchlich: konstruktivistische und realistische Naturbegriffe gehen eine
kaum zu entwirrende und höchst inkonsistente Verbindung ein, wobei hier offen
bleiben kann, ob die Defizite eher in Richtung Realismus (Krohn/Krücken 1993)
oder in Richtung Konstruktivismus (Brand 1998) weisen. Wichtiger sind die Defi-
zite in gesellschaftstheoretischer Hinsicht und die damit verbundenen zeitdiag-
nostischen Probleme. So verbindet Beck die Diagnose der Risikogesellschaft mit
der These, diese sei ein deutlich neuer Gesellschaftstyp, ein Typ, in dem nicht mehr
die Logik der Reichtumsverteilung und damit die Klassenspaltung der Gesellschaft
dominiere (Beck 1986). Dabei bleibt aber letztlich unklar, wie die Risikogesell-
schaft in der Kontinuität kapitalistischer Vergesellschaftung entstanden ist und wie
sie sich weiterentwickelt – und damit die Frage nach den Möglichkeiten und den
Chancen ökologischer Reformen. Beck ignoriert aber nicht nur die Frage, ob denn
die Institutionen und Praktiken, mit denen die gesellschaftlichen Naturverhältnisse
in der Risikogesellschaft gestaltet werden, nicht doch etwas mit sehr spezifischen
Macht- und Herrschaftsverhältnissen, und zwar mit der kapitalistischen Verfasst-
heit der Gesellschaft und damit mit globalen Verteilungsproblemen zu tun haben.
Er nimmt auch verstärkt einen Automatismus in der Veränderung der Gesellschaft
an, der gleichzeitig zu einem rationaleren Umgang mit selbst geschaffenen Risiken
beitragen soll. In dem Maße, in dem sich der Schwerpunkt seiner Diagnose von
einer Kritik der ›halbierten Moderne‹ zur Ausrufung einer ›zweiten Moderne‹
verlagert hat (Beck 1996), hat sich seine Theorie von einer kritischen zu einer
affirmativen Theorie der abendländischen Zivilisation gewandelt.
Damit soll keineswegs der These widersprochen werden, dass im Zusammen-
hang mit der ökologischen Krise seit den 1970er Jahren erhebliche gesellschaftliche
Umstrukturierungsprozesse zu beobachten wären, die Auswirkungen auf eine
zeitgemäße kritische Theorie haben müssen. Zwei Punkte müssen besonders her-
vorgehoben werden: Veränderungen im wissenschaftlichen Selbstverständnis und
weitgehende Umstrukturierungen innerhalb der Kontinuität kapitalistischer Verge-
sellschaftung. Der erste Punkt schließt direkt an die Diagnose der Risikogesellschaft
an. Wie vor allem Wolfgang Bonß (1993; 1995) gezeigt hat, zwingt das Thema
Risiko bzw. die Ungewissheit und Unsicherheit des Handelns angesichts neuer
technisch vermittelter Risiken zu einer Umorientierung in den Grundlagen kri-
tischer Theorie. Während für Adorno und Horkheimer das Gelingen instru-
mentellen Handelns und ihre Verfestigung und Perfektionierung in der ›ver-
walteten Welt‹ der Fokus der Kritik gewesen sei, sei heute das Scheitern natur-
wissenschaftlich-technischer Naturbeherrschung zentral. Obwohl das Thema Ri-
56 Christoph Görg

siko und Unsicherheit über alle verschiedenen Schulen hinweg zu einem der
wichtigsten Themen in der sozialwissenschaftlichen Beschäftigung mit ökologi-
schen Problemen geworden ist, kann dieses Argument doch nur bedingt über-
zeugen. Ist nämlich der Ausgangspunkt der Kritik der Naturbeherrschung nicht die
Perfektionierung einer technisch vermittelten Aneignung der Natur, sondern ihre
Subsumtion unter ein projektiv entworfenes Klassifikationsschema und damit die
Leugnung der Nichtidentität der Natur, dann ist zumindest die Frage offen, ob
nicht unter dem Terminus ›Unsicherheit‹ eine modifizierte Erneuerung des Para-
digmas der Naturbeherrschung stattfindet, nun nicht mehr ausgerichtet auf den
Glauben an die vollständige Berechenbarkeit der Welt (wie noch bei Max Weber),
sondern auf die Kontrolle der Nebenfolgen (Görg 2002a).
Trotzdem ist die relativ abstrakte Kritik Horkheimers und Adornos an Natur-
wissenschaft und Technik heute so nicht mehr haltbar. Selbst theoretische Tradi-
tionen, die teilweise in mehr oder weniger direkter Anlehnung an die ältere
Kritische Theorie Wissenschaft- und Technikkritik aktualisiert haben, haben deut-
liche Umakzentuierungen vorgenommen. Am deutlichsten in der Tradition stehen
dabei noch bestimmte Zweige der feministischen Wissenschaftskritik (Becker-
Schmidt; Knapp; vgl. Scheich 1993; 1994), die zwar teilweise recht deutlich die
patriarchalischen Motive noch der Dialektik der Aufklärung kritisiert haben –
trotz aller Anerkennung ihrer Vorläuferschaft im Hinblick auf die Thematisierung
geschlechtsspezifischer Herrschaft. Doch gleichzeitig werden einige Motive der
älteren Kritischen Theorie recht direkt übernommen, so die Kritik am identifizie-
renden Denken und der Subsumtionslogik der Naturbeherrschung wie an den
herrschaftsförmigen Aspekten einer Naturalisierung sozialer Verhältnisse, beson-
ders – aber nicht nur – in geschlechtsspezifischer Hinsicht. In diesem Punkt
wurden sogar am deutlichsten Berührungspunkte mit anderen theoretischen Tradi-
tionen, z. B. in der Tradition des Poststrukturalismus stehenden Autor/innen aus-
gelotet, die diese Kritik inzwischen noch viel weiter getrieben haben (bei allen,
oben angesichts von Haraway erwähnten Problemen; vgl. dazu Becker-Schmidt
1997; Gransee 1998; J.Weber 1998).
Für ökologische Probleme im engeren Sinne waren die Arbeiten des Frankfurter
Instituts für sozial-ökologische Forschung (ISOE) seit den 1980er Jahren von großer
Bedeutung (Becker/Jahn 1987; Jahn 1991; Jahn/Wehling 1998). Hier wurde sicher-
lich am deutlichsten Abstand von der pauschalen Naturwissenschaftskritik der
älteren Kritischen Theorie – bei gleichzeitiger Distanz zur Habermasschen Theorie
(vgl. Wehling 1992) – genommen und stattdessen eine der Krise der Natur-
verhältnisse entsprechende Neuentwicklung versucht. Dies hat mindestens drei
wesentliche Komponenten: eine starke Betonung interdisziplinärer Forschung und
einen deutlichen Bezug auf soziale Akteure und soziale Bewegungen (Trans-
disziplinarität), verbunden mit der Hervorhebung der Pluralität der Naturver-
hältnisse – ihrer Nichtrückführbarkeit auf einen basalen oder dominanten gesell-
schaftlichen Prozess. Der zentrale Gedanke besagt, dass die ökologische Krise eine
umfassende Krise gesellschaftlicher Naturverhältnisse sei: Über die materiell-stoff-
lichen Dimensionen der Krise, die im engeren Sinn als ökologische oder als
Umweltprobleme behandelt werden, sind auch die symbolischen Beschreibungen
Dialektische Konstellationen 57

von Natur und Gesellschaft und damit die Natur- wie die Sozialwissenschaften
ebenfalls in die Krise geraten. Mit der Krise der Naturverhältnisse ist damit
tatsächlich ein historisches Ereignis verbunden, dass es erforderlich macht, den
Gegensatz zwischen Natur und Gesellschaft und damit das gesellschaftliche Selbst-
verständnis überhaupt neu zu reflektieren.
Allerdings ist auch dieser Ansatz in wesentlichen Punkten bislang nicht zu
einem umfassenden Neuansatz ausgebaut worden. Dies berührt mindestens zwei
Aspekte, den der Wissenschaftskritik und die Ebene der Gesellschaftstheorie.
Selbst wenn man den Anspruch aufgibt, Kritik an den Naturwissenschaften nur
pauschal von außen betreiben zu wollen, bleibt offen, wie eine der ökologischen
Problematik angemessene Wissenschaftskritik aussehen kann und was die zentralen
Gehalte dieser Kritik sein könnten. Das ISOE arbeitet im Wesentlichen mit dem
Element des Konzepttransfers zwischen den Wissenschaften, bei dem z. B. der
Übertragung naturwissenschaftlicher Konzepte wie dem der Autopoiese in die
Sozialwissenschaften nachgegangen wird (Becker/Jahn/Wehling 1990). Dabei bleibt
jedoch der Gehalt der Kritik unklar – bzw. wird auf die Kritik von Vereinseiti-
gungen und Reduktionismen bei der Übertragung von Theorieelementen zurück-
genommen, ohne diese selbst in ihrer Funktion im gesellschaftlichen Prozess zu
hinterfragen. Neben diesem Modell, das stark von einer relativ pragmatischen
Bearbeitung konkreter ökologischer Probleme geprägt ist, lassen sich jedoch noch
andere Kritikmodelle erkennen. Neben der schon erwähnte feministischen Wissen-
schaftskritik, die der Kritik an herrschaftlichen Implikationen in wissenschaftlichen
Denkmodellen noch am direktesten folgt, lassen sich z. B. Versuche einer natur-
philosophisch inspirierten Kritik (Böhme 1999) bzw. einer stärker konstruktivis-
tisch, den gesellschaftlichen Konstruktionsprozessen und ihren Zwecksetzungen
nachgehenden Kritikstrategie unterscheiden (Weingarten 1998). Nur im letzten Fall
lässt sich jedoch auch die Hoffnung auf eine enge Verbindung zwischen Wissen-
schafts- und Gesellschaftskritik aufrechterhalten, die die ältere Kritische Theorie
ausgezeichnet hatte, und die mit den jüngsten gesellschaftlichen Veränderungen –
von der neuen Runde der Verwissenschaftlichung und Technisierung der Gesell-
schaft bis zur Globalisierung – undeutlich geworden ist.
In diesen gesellschaftlichen Umstrukturierungsprozessen, die mit dem Übergang
zum Postfordismus verbunden sind, und ihrer Bedeutung für die Naturverhältnisse
liegt jedoch die stärkste Herausforderung für eine kritische Theorie der Natur-
verhältnisse, die ›an der Zeit‹ ist. Während in den Sozialwissenschaften der Ein-
druck verbreitet wird, der Hinweis auf den kapitalistischen Charakter der Gesell-
schaft trage zum Verständnis dieser Umstrukturierungen nichts bei, so nicht die
neue Gesellschaft sowieso von anderen Strukturprinzipien organisiert werde, ha-
ben gerade die Diskussionen um die Globalisierung gezeigt, dass der kapitalistische
Charakter dieser Prozesse nicht zu vernachlässigen ist, auch und gerade dann,
wenn Globalisierung nicht auf ökonomische Prozesse reduziert werden kann.
Doch die eigentliche Herausforderung hinsichtlich des Standes der Naturver-
hältnisse wie der gesellschaftlichen Zeitdiagnose überhaupt besteht gerade darin,
die Diskontinuität gesellschaftlicher Verhältnisse, d. h. die Analyse der besonderen
historischen Situation, zu vermitteln mit der Kontinuität kapitalistischer Struk-
58 Christoph Görg

turprinzipien. Dies bedeutet, die Neuheit aktueller Krisenprozesse, in den Natur-


verhältnisse wie in der globalen Vergesellschaftung, in Verbindung zu bringen mit
ihrem kapitalistischen Charakter. Diese Verbindung von Kontinuität und Dis-
kontinuität ist die zentrale Botschaft der Regulationstheorie (vgl. Esser u. a. 1994),
und in ihrem Umfeld sind denn auch wichtige Beiträge entstanden zu einem
besseren Verständnis der Entwicklung der Naturverhältnisse wie den Chancen zu
ihrer demokratischen Gestaltung (Demirovic 1997; Brand 2000; Brand u. a. 2001;
Görg 2002a). Obwohl die Thematik der Naturverhältnisse in dieser Tradition
insgesamt immer noch relativ schwach verankert ist (zur Kritik: Görg 2002b), und
obwohl auch andere gesellschaftstheoretische Probleme wie auch eine angemessene
Wissenschafts- und Technikkritik bislang noch nicht befriedigend gelöst sind,
bietet sie doch insgesamt einen guten Ausgangspunkt zur Erneuerung einer kriti-
schen Gesellschaftstheorie, die der zentralen Bedeutung der Naturverhältnisse
gerecht wird. Dazu muss sie den eingangs erwähnten Herausforderungen gerecht
werden: sowohl eine historische Verortung der ökologischen Krise in der Krise
fordistischer Vergesellschaftung liefern als auch eine Analyse der postfordistischen
Bearbeitungsstrategien und ihrer herrschaftsförmigen Implikationen wie der kon-
stitutiven Bedeutung der Naturverhältnisse für die gesellschaftliche Entwicklung
überhaupt.
Denn der Ausbruch der ökologischen Krise in den 1970er Jahren ist eng
verbunden mit dem historisch beispiellosen Wirtschaftswachstum des ›Goldenen
Zeitalters‹ des Kapitalismus und seiner immensen Ressourcenverschwendung. Der
Grund dafür liegt aber nicht in einem anonymen Modernisierungszwang, sondern
ist in der spezifischen Form der Bearbeitung der gesellschaftlichen Klassenver-
hältnisse und der Integration der Arbeiterklasse durch Beteiligung am wachsenden
gesellschaftlichen Gesamtprodukt. Letztlich sind es also sehr spezifische Herr-
schaftsverhältnisse, verbunden mit spezifischen Denk- und Verhaltensmustern, die
die ökologische Krise verursacht haben. Als gesellschaftliche Krise thematisiert
wurde sie jedoch erst durch die Kritik sozialer Bewegungen hindurch, die den
wissenschaftlichen Beschreibungen erst ihre politische Brisanz verliehen haben
(Görg 1992). Schon für die Krise des Fordismus ist also die Kritik an den
Entwicklungen in den gesellschaftlichen Naturverhältnisse eng verbunden mit der
Kritik an der herrschaftlichen Verfasstheit der Gesellschaft.
Gleiches gilt auch im Hinblick auf die Durchsetzung postfordistischer Natur-
verhältnisse (Görg/Brand 2001a). Hierbei geht es nicht allein um die manifest
gewordenen lokalen oder globalen Umweltprobleme, sondern auch um die gesell-
schaftlichen Rahmenbedingungen und deren Veränderung. Neben der Berück-
sichtigung neuer Technologien (I&K-Technologien, Gentechnik) und neuer poli-
tisch-rechtlichen Gestaltungsformen (intellektuelle Eigentumsrechte, globale Um-
weltregime etc.) kommt es hier vor allem darauf an, die Umkämpftheit dieser
Prozesse und die Auswirkung dieser sozialen Konflikte im Weltmaßstab zu analy-
sieren (vgl. für das Feld der genetischen Ressourcen: Flitner u. a. 1998; für die
fossilen Ressourcen: Altvater/Mahnkopf 1999; für die Klimaproblematik: Brunnen-
gräber 2002). Die Möglichkeiten einer Gestaltung der Naturverhältnisse sind also
auch hier an die globalen Macht- und Herrschaftsverhältnisse gebunden – und
Dialektische Konstellationen 59

beides gibt weniger denn je Anlass zu Optimismus. Trotzdem kommt es für eine
kritische Theorie der Naturverhältnisse darauf an, eine solche Möglichkeit der
Gestaltung offen zu halten und damit sowohl dem Gestaltungspessimismus der
neofunktionalistischen Gesellschaftstheorie entgegenzutreten (vgl. zur Kritik an
Luhmann: Demirovic 2001), als auch einem steuerungstheoretischen Optimismus
wie der Tendenz zu einem pragmatischen Management der Probleme in den
Sozialwissenschaften. Während erstere alternativlose systemische Sachzwänge hy-
postasiert und damit die gesellschaftliche Entwicklung naturalisiert, unterschätzen
letztere die herrschaftlich verfestigten Strukturen des globalen Kapitalismus.
Es käme mit anderen Worten darauf an, den Anspruch Marcuses ernst zu
nehmen, ökologische Reformen praktisch wie theoretisch bis zu einem Punkt
voranzutreiben, an dem die Unvereinbarkeit mit der kapitalistischen Form der
Vergesellschaftung offenkundig wird. Derzeit erfordert dies, die jüngsten Erschei-
nungsformen globaler sozialer Bewegungen ernst zu nehmen und die von ihnen
artikulierten globalen Konfliktfronten daraufhin zu untersuchen, ob und inwieweit
diese Unvereinbarkeit besteht – und welche Chancen zu einer weitergehenden
Veränderung sich eröffnen. Besteht ein wesentlicher Aspekt der Verbindung von
Globalisierung und Ökologie nicht in der vermeintlichen gleichen Betroffenheit
der gesamten Menschengattung, sondern ganz im Gegenteil in der konflikthaften
Gestaltung globaler gesellschaftlicher Verhältnisse einschließlich ihrer Naturver-
hältnisse, dann kann die Untersuchung dieser Konflikte sich auch weiterhin am
Gesellschaftsbegriff der Kritischen Theorie orientieren. Denn die Untersuchung
konkreter Konstellationen im Verhältnis von Gesellschaft, Individuum und Natur
ist weiterhin ein wichtiger Referenzrahmen einer kritischen Gesellschaftstheorie,
gerade im Hinblick auf die Entwicklung des globalen Kapitalismus (Görg 2002c).

Literatur

Adorno, Theodor W. (1970): Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M.


– (1973): Die Idee der Naturgeschichte, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 1, Frankfurt a. M.
– (1979): Soziologische Schriften 1, Frankfurt a. M.
– (1982): Negative Dialektik, 3. Aufl., Frankfurt a. M.
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Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute
Gunzelin Schmid Noerr

1. Gesellschaft als soziotechnisches System

Mehr als je zuvor ist das Leben der Menschen heute durch Wissenschaft und
Technik geprägt. Wissenschaftlich konzipierte Technik und Gesellschaft stehen
nicht in einer bloßen Wechselbeziehung, vielmehr ist die Gesellschaft selbst sub-
stanziell technisiert. Technik ist das wichtigste Medium der gesellschaftlichen
Vermittlung, der Erzeugung und Befestigung überindividueller Strukturen, nicht
nur bei der Produktion von Gütern, sondern auch bei der Generierung von
Kommunikationsstrukturen. Der Wahrnehmung der Einzelnen weitgehend ent-
zogen, reicht das Wurzelwerk des soziotechnischen Systems tief hinab in den
Bereich der persönlichen und sozialen Identitätsbildung. Wissenschaftliche Ansich-
ten und technische Modelle wie zum Beispiel die der biologischen Evolutions-
theorie, der Genetik oder der elektronischen Datenverarbeitung beherrschen viel-
fach, wenn auch in fragwürdig vereinfachter Gestalt, die Selbstdeutungen der
Menschen und ihren Umgang mit anderen. Auch ihre Ängste und Hoffnungen sind
eng mit einer noch weiter fortgeschritten Technologie verwoben. Nicht vorstellbar
ist dagegen, abgesehen von Bildern einer finalen Katastrophe, ein Ende der Tech-
nisierung, ja auch nur ein Nachlassen ihrer Geschwindigkeit. Die Vermeidung der
Katastrophe ist selbst ein Motor der Entwicklung. Scheint das Risiko katastro-
phaler Folgen einerseits der akzeptierte Preis des möglichen technischen Fort-
schritts zu sein, so erfordert das Kalkül der Vermeidung, Begrenzung, Kompensa-
tion von Fehlern, Unfällen, Missbräuchen weitere wissenschaftliche und technische
Anstrengungen. Die globale »Risikogesellschaft« bezeichnet eine neue qualitative
Stufe im Verbrauch von Natur und sozialen Bindungskräften, wenn auch ihre
Grundmechanismen so alt sind wie die ökonomische Grundverfassung der Mo-
derne.
In der Philosophie wurde die Eigendynamik der technischen Naturbeherr-
schung, ihre Tendenz, sich auch ihre eigenen menschlichen Schöpfer zu unter-
werfen, seit dem Ersten Weltkrieg zum Gegenstand. Gewiss wurde technisches
Handeln schon in der Antike als anthropologische Grundbestimmung thematisiert.
Aber im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts hatte jene Eigendynamik offenbar
einen Schwellenwert erreicht, der zu einer zeitdiagnostisch zugespitzten Technik-
und Kulturkritik herausforderte. Technik wurde von einer spezifischen Hand-
lungsweise zu einem Weltzustand. In Deutschland wurde philosophische Tech-
nikkritik seitens des Neoidealismus (Dessauer 1927), der Existentialontologie (Hei-
degger 1927), des Rechtsnietzeanismus (Spengler 1931) und des Marxismus formu-
liert. An letzteren anknüpfend entwickelte die Kritische Theorie der Frankfurter
Schule vor allem in der Zeit ihres amerikanischen Exils in den 30er und 40er Jahren
eine zeitdiagnostisch zugespitzte Zivilisationstheorie, der zufolge Wissenschaft,
64 Gunzelin Schmid Noerr

Technik, Staat und Wirtschaft tendenziell zu einem umfassenden gesellschaftlichen


Verblendungszusammenhang zu verschmelzen schienen. Ähnliche Auffassungen
fanden sich in den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg in deskriptiver
Hinsicht auch in anderen philosophischen Entwürfen. So erschien auch bei Gehlen
(1957) jenes Zusammenwirken als automatisierte »Superstruktur«.
Marcuse spitzte die Technikkritik der Frankfurter Schule in Der eindimensionale
Mensch (1964) zu der These zu, die moderne Technik sei nicht mehr bloß das
Instrument von überflüssiger Herrschaft, sondern verkörpere diese selbst. Aber er
sah auch Raum für eine andere, humane Technik und ebnete damit die Bahn für die
spätere ökologische Kritik. Die vielleicht allzu weit ins »Seit jeher« ausgreifende
sozialphilosophische Technikkritik hat sich inzwischen abgeschliffen, ohne dass
man sagen könnte, die Bedrohungen seien uns nicht mehr auf den Fersen; im
Gegenteil. Aber der grundsätzlichen Reflexion von Entfremdungserfahrungen in
der technisierten Gesellschaft wurde seit den 60er Jahren mit der Kritik an der
sogenannten Technokratie-These und am technologischen Determinismus die
Spitze abgeprochen. In der Folge verschob sich die Debatte zunehmend in Rich-
tung auf Ethik der Technik und Detailanalysen der Technikfolgen, später auch
verstärkt der Technikgenese und Technikimplementierung. Diese Diskussionen
bezogen sich vor allem auf die Bedrohungen, die von der atomaren Rüstung
ausgingen, auf die Gefährdungen der Umwelt durch Atomenergieerzeugung und
chemische Gifte, auf die möglichen Folgen der biotechnologischen Manipulation
genetischer Elemente und auf die befürchteten sozialen Wirkungen der Informa-
tionstechnologie. Allgemeinere Techniktheorien richteten den Blick auch auf we-
niger riskante Technologien und ihre Folgen im Alltagsleben. Zugleich änderten
sich die subjektiven Maßstäbe der Kritik. Hatte beispielsweise Anders (1956,
S. 21ff.) in den 40er Jahren die »prometheische Scham« diagnostiziert, die Scham,
mit der Leistung der technischen Geräte als Mensch nicht mithalten zu können, so
hat diese heute in einer Kultur der Simulation keinen Platz mehr, in der die
informationsverarbeitende Maschine zum zweiten Selbst wird und Vorstellungen
von Bewusstsein und Persönlichkeit, Körper und Identität modelliert (vgl. Turkle
1995). Ob Technik heute, wie Anders proklamierte, zum eigentlichen Subjekt der
Geschichte geworden ist, oder ob dies nur eine neue geschichtsphilosophische
Mystifikation im Gewand der Aufklärung darstellt – jedenfalls muss eine Kritik
der Technik heute mit Anders davon ausgehen, dass die technische Existenzform
umfassend, endgültig und unwiderrufbar geworden ist.

2. Kritische Theorie

Welche Forschungsanstöße kann in diesem Zusammenhang die Kritische Theorie1


geben, und zwar nicht allein ihre historisch bestimmte(n) Gestalt(en), sondern ihre

1 Um der Unterscheidung zwischen historischer und struktureller Bezeichnung Rechnung


zu tragen, verwende ich den Terminus »Kritische Theorie« (Großschreibung) als Namen
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 65

»Idee«? Lässt sich diese Idee, als die »sich identisch durchhaltenden Frageposi-
tionen« oder das Ensemble »relativ invarianter, abstrakter Relevanzmuster« (Du-
biel 1978, S. 21), ertragreich in die inzwischen veränderten Problemstellungen
einbringen? Welches wären demnach die Grundlinien einer kritischen Theorie der
Technik heute? Ich möchte diese Fragen auf dem Umweg einer historischen
Verortung des Horkheimerschen Entwurfs der Kritischen Theorie zu beantworten
versuchen. Dazu ist der Gegenstand der Technologie in besonderem Maße geeig-
net, ist es doch wesentlich das Verhältnis von Wissenschaft, Wissensverwertung
und Gesellschaft, auf das bezogen Horkheimer die kritische Theorie profilierte.
Der historische Rückblick erlaubt es, sich nicht nur der seither erfolgten theorie-
und realgeschichtlichen Veränderungen zu vergewissern, sondern auch zu klären,
auf welche Weise die von Horkheimer formulierten Merkmale der Kritischen
Theorie strukturellen Veränderungen im Verhältnis von Wissenschaft, Technik und
Gesellschaft entsprachen, deren Reflexion in der Technikphilosophie und -sozio-
logie nach wie vor aktuell sind. Dass dabei die geschichtlichen Veränderungen die
Theorie nicht unberührt lassen, gehört zu ihrem eigenen Inhalt:
»Ihre Begriffe kennt [die kritische Theorie]«, wie der späte Horkheimer im Rückblick auf
seine Arbeiten der 30er Jahre schrieb, »als Momente der historischen Konstellation wie als
Ausdruck jenes Willens zur richtigen Gesellschaft, der in verschiedenen historischen Situa-
tionen theoretisch und praktisch verschieden sich äußert und zugleich als derselbe sich
erhält.« (Horkheimer 1965, S. 13)

Zu den wesentlichen Merkmalen der Kritischen Theorie, wie sie von Horkheimer
in seinem programmatischen Aufsatz über Traditionelle und kritische Theorie
bestimmt wurde, gehörte die Reflexion des außertheoretischen Bedingungs- und
Wirkungszusammenhangs der Theorie. Der Terminus »kritische Theorie der Ge-
sellschaft« sollte einen bestimmten Typus von Theorie bezeichnen, dem die Refle-
xion über seine Beziehung zu gesellschaftlicher Praxis als den Voraussetzungen und
Intentionen der Theorie inhärent war. Dieser Typus war paradigmatisch in der
Marxschen Kritik der politischen Ökonomie verkörpert, wenn auch keineswegs
auf diese beschränkt. Politische Mimikry war allenfalls nur ein Motiv für die Wahl
der Bezeichnung, ein anderes, systematisch wie wirkungsgeschichtlich wichtigeres,
war die Transformation der Marxschen Theorie durch den Einbezug von Kultur-
und Subjekttheorie zu einer materialistischen Sozialphilosophie und philosophisch
orientierten Sozialforschung als Theorie emanzipatorischer Praxis. Methodisches
Vorbild blieb die Marxsche Theorie aber hinsichtlich der Einheit von Kritik und
Theorie: Die Kritik bezog sich nicht nur auf falsche und unzureichende Ansichten
und Theorien über die Gesellschaft, sondern auf deren Strukturen selbst, mit denen
jene Ansichten als Ideologieproduktion verflochten waren.
Von »traditioneller« Theorie, so Horkheimer, unterschied sich die »kritische«
dadurch, dass sie die in scheinbar rohe »Tatsachen« wie auch in abstrakte Begriffe
eingegangenen, dort aber nicht mehr sichtbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen

der historisch identifizierbaren Denkrichtung der »Frankfurter Schule«, dagegen »kriti-


sche Theorie« (Kleinschreibung) in der von Horkheimer ursprünglich intendierten struk-
turellen Bedeutung.
66 Gunzelin Schmid Noerr

und Folgen, Vorentscheidungen und Intentionen, vergangenen und erstrebten zu-


künftigen Funktionen und Verwendungsweisen in die Reflexion mit aufnehmen
sollte, und zwar unter der Perspektive der Veränderbarkeit der herrschenden
Gesellschaftsformation zum Besseren. Während die traditionelle Theorie ein Mo-
ment des arbeitsteilig organisierten Prozesses der Naturbeherrschung blieb, ging es
der kritischen Theorie um eine umfassende Konstruktion der geschichtlichen
Gegenwart und Zukunft. Der zentrale theoretische Bezugspunkt von Horkheimers
Überlegungen war also das Verhältnis von Wissenschaft und Gesellschaft, der
moralisch-praktische Bezugspunkt das Interesse an der vernünftigen Gestaltung des
gesellschaftlichen Ganzen. Wegen des mit der kritischen Theorie verbundenen
moralischen Motivs, des vernünftigen »Interesse[s] an der Aufhebung des gesell-
schaftlichen Unrechts« (1937b, S. 216), sprach Horkheimer individualisierend auch
von »kritischem Denken«, »kritischem Verhalten« und »kritischen Subjekten«
(1937b, S. 180ff.).
Während die traditionellen Theorien, seiner Konzeption zufolge, ihr legitimes
Paradigma in Naturwissenschaften und Mathematik haben, in denen Erkennt-
nissubjekt und -objekt prinzipiell getrennt sind, verkörpert die kritische Theorie
das Begreifen der Gesellschaft, bei dem diese Trennung allemal schon eine ideo-
logieanfällige Abstraktion ist. Horkheimers Entwurf der kritischen Theorie war
demnach vor allem gegen diejenigen philosophischen und soziologischen Theorien
gerichtet, die sich selbst am empirisch-analytischen Paradigma der Naturwissen-
schaften orientieren, damit aber, so Horkheimer, ihren Gegenstand letztlich ver-
fehlen. »Die kritische Theorie der Gesellschaft in Soziologie zu verwandeln, ist […]
ein problematisches Unternehmen« (Horkheimer 1937b, S. 213), und zwar vor
allem dann, wenn das soziologische Begriffsinventar formal, das heißt ohne Bezug
auf den jeweiligen historischen Kontext verwendet wird. Auf der anderen Seite
müsste »jede konsequente intellektuelle Anstrengung, die sich um den Menschen
kümmert, sinngemäß in [die kritische Theorie der Gesellschaft] einmünde[n]«
(1937b, S. 206). Der Begriff des »Menschen« ist dabei für die kritische Theorie
widersprüchlich angelegt, insofern die dem Individuum zugeschriebene Vernunft-
bestimmtheit des Handelns der gesellschaftlichen Praxis ermangelt. »In der bürger-
lichen Wirtschaftsweise ist die Aktivität der Gesellschaft blind und konkret, die des
Individuums abstrakt und bewußt« (1937b, S. 174). Der kritischen Theorie geht es
um nicht weniger als dass dieser Widerspruch durch die praktische Verwirklichung
ihres Vernunftinteresses gegenstandslos werde.

3. Traditionelle Theorie

Um nun Horkheimers Konzept der kritischen Theorie historisch zu situieren, ist


die sogenannte traditionelle Theorie und ihr Wandel noch genauer zu betrachten.
Hinsichtlich der philosophischen Begründungen dieser Theorieform bezog sich
Horkheimer auf den von Descartes bis Husserl entfalteten Begriff der »Theorie«,
der ein Zusammenspiel von induktiver Beschreibung und deduktiver Systematisie-
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 67

rung enthält. Das logische Gerüst der traditionellen Theorie ist die Subsumtion des
einzelnen Sachverhalts unter Gesetzesaussagen. Aus beiden lassen sich bedingte
Prognosen ableiten. Horkheimer sah darin einen adäquaten Ausdruck der gesell-
schaftlichen Funktion traditioneller Theorien, zur technischen Handhabung natür-
licher (und sozialer) Mechanismen beizutragen. Seine Kritik der traditionellen
Theorie bezog sich weniger auf diese Funktion als auf ein falsches Selbstverständ-
nis beziehungsweise eine falsche philosophische Deutung ihrer Methodik:

»Es besteht kein Zweifel, dass solche Arbeit [der Wissenschaftler] ein Moment der fortwäh-
renden Umwälzung und Entwicklung der materiellen Grundlagen dieser Gesellschaft dar-
stellt. Soweit der Begriff der Theorie jedoch verselbständigt wird, als ob er etwa aus dem
inneren Wesen der Erkenntnis oder sonstwie unhistorisch zu begründen sei, verwandelt er
sich in eine verdinglichte, ideologische Kategorie.« (Horkheimer 1937b, S. 168)

Die Gesellschaftsblindheit der traditionellen Theorie und gegebenenfalls die Ab-


spaltung gesellschaftsbezogener Zwecke und Verantwortlichkeiten in den privaten
Bereich des jeweiligen Gelehrten war, so Horkheimer, als Folge der gesamtgesell-
schaftlichen Arbeitsteilung erklärbar, insofern diese Arbeitsteilung im Rahmen der
bürgerlichen Gesellschaft unvermeidlich schien. Aber sie musste zu ideologisch
verzerrten Resultaten führen, sobald sie auf die Methodologie der Sozialforschung
übertragen wurde oder philosophisch-erkenntnistheoretisch verallgemeinert
wurde. Daraus ergab sich eine doppelte wissenschaftstheoretische Frontstellung:
Gegenüber pragmatistischen und utilitaristischen Erkenntnistheorien betonte
Horkheimer die Autonomie des Wahrheitskriteriums in der Wissenschaft. Und
zugleich bestand er gegenüber der positivistischen Trennung von Theorie und
sozialer Praxis auf deren Vermitteltheit in der Differenz (Horkheimer 1932,
S. 40 f.).
Diese These der Vermittlung lässt sich am Kontrast zur Philosophie des frühen
Wittgenstein erläutern. Eines der Wesensmerkmale der traditionellen Theorie war
für Horkheimer das des ordnenden Denkens, das sich auf scheinbar unmittelbar
gegebene Tatsachen bezieht, ohne zu berücksichtigen, wie weit diese selbst und
auch deren Wahrnehmung geschichtlich präformiert sind. »Die gesamte wahr-
nehmbare Welt, wie sie für das Mitglied der bürgerlichen Gesellschaft vorhanden
ist […], gilt ihrem Subjekt als Inbegriff von Faktizitäten, sie ist da und muß
hingenommen werden« (1937b, S. 173). Diese Formulierung erinnert nicht zufällig
an den ersten Hauptsatz von Wittgensteins Tractatus (1918/21, S. 11): »Die Welt ist
alles, was der Fall ist.« Der frühe Wittgenstein erscheint im Kontext der Frank-
furter Schule wiederholt als einer der am ernstesten zu nehmenden Vertreter des
Positivismus. Wittgenstein hatte die atomistische Methode der Naturwissenschaf-
ten, nach letzten Bausteinen der Wirklichkeit zu suchen und ihre Gesetzmäßig-
keiten zu beschreiben – die Methode, die schon Hume in die Philosophie hatte
einführen wollen – in logisch strengster Form auf die gedankliche Repräsentation
der Wirklichkeit angewandt. Auf diese Weise sollte die logische Struktur sinnvoller
Sätze bestimmt werden, um das Sagbare und Denkbare gegen das Unsagbare
abzugrenzen. Sinnvoll ist ein Satz demnach dann, wenn er eine Wahrheitsfunktion
von Elementarsätzen ist, die wiederum Wahrheitsfunktionen ihrer selbst sind. Die
68 Gunzelin Schmid Noerr

so strukturierten Gedanken und Sätze sind mit den dargestellten Sachverhalten


isomorph, also Bilder oder Modelle der Welt. Wittgensteins Entwurf der wissen-
schaftlichen Tätigkeit ist – in heutiger Terminologie – der einer sorgfältigen, logisch
gesteuerten Informationsverarbeitung. Zutreffend hat denn auch der Informatiker
Zemanek den Tractatus dem geistigen Umfeld der Informationstechnik zugerech-
net, ja diese Philosophie als »Computerphilosophie« (Zemanek 1992, S. 18) be-
zeichnet. Horkheimers Gegenbegriff zur Beschreibung elementarer Sachverhalte ist
der der »Konstruktion«. Dieser bezeichnet sowohl die Anstrengung der Theorie,
die Tatsachen und Erscheinungen in Richtung auf das ihnen Wesentliche, in ihnen
erscheinende Allgemeine zu durchdringen, als auch das geschichtlich Neue zu
erfassen, das der menschlichen Aktivität entspringt, als Tendenz vielleicht schon
latent gegenwärtig ist – das Blochsche »Noch nicht«.
Mit seinem Begriff der traditionellen Theorie kennzeichnete Horkheimer we-
sentliche Bestandteile im Verständnis der neuzeitlichen Wissenschaft. In der Tat
war für diese die Entlastung der Erkenntnisproduktion von unmittelbaren Verwer-
tungsgesichtspunkten konstitutiv. Wissenschaftlichkeit im strengen Sinn begrün-
dete sich durch die alleinige Geltung von Wahrheitsansprüchen und den Aus-
schluss sozialer Ansprüche wie Dienst an der Kirche oder an Herrschern. Experi-
ment und Hypothese entsprachen, über den von Horkheimer beschriebenen Sinn
der Rationalisierung des Tatsachenwissens hinaus, vor allem der Abkopplung des
wissenschaftlichen Handelns von moralischen Zuschreibungen und sozialen Kon-
sequenzen. Irrtümer und Misserfolge der wissenschaftlichen Arbeit wurden in
Gestalt des wissenschaftstheoretischen Postulats der Falsifizierbarkeit in die Idee
des wissenschaftlichen Fortschritts selbst eingebaut. Theorien galten ebenso als
prinzipiell reversibel wie die praktischen Operationen des Experiments. Bevor
wissenschaftliche Erkenntnisse durch gesellschaftliche Praxis und Industrie ange-
wandt werden konnten, bildeten sie zunächst ein in sich geschlossenes und von der
Gesellschaft abgeschlossenes, durch methodische Empirie, Mathematik, Logik und
den Diskurs der scientific community geordnetes Reich des Wissens. Dieses besteht
aus Modellen, deren Geltung von idealisierten Bedingungen abhängt, wie sie im
Labor konstruiert werden.

4. Affirmative Vergesellschaftung von Wissenschaft und Technik

Nun stimmte dieses (Selbst-)Bild der Wissenschaft freilich nur partiell mit ihrem
wirklichen Verfahren überein. Richtung und Ziele der Forschung, der Einfluss der
Empirie auf die Konstruktion von Theorien sowie die Möglichkeiten ihrer Anwen-
dung waren – darauf wies Horkheimer nachdrücklich hin – immer auch gesell-
schaftlich präformiert. Zudem wirkten Theoreme auch unabhängig von ihrer inner-
wissenschaftlichen Akzeptanz auf die Alltagswelt zurück. Und doch konnte man,
jedenfalls in einem bestimmten historischen Rahmen, von einer Autonomie wissen-
schaftlicher Erkenntnisbildung sprechen. Diese historische Grenze scheint nun
aber in den 30er Jahren des letzten Jahrhunderts erreicht und überschritten worden
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 69

zu sein. Die Vergesellschaftung der Wissenschaft hatte einen markanten Schwellen-


wert erreicht. Gegenüber der Differenzierung des gesellschaftlichen Teilsystems
der Wissenschaft nahm dessen Zusammenwirken mit den Teilsystemen von Tech-
nik, Wirtschaft und Politik eine neue Qualität an, die sich in der Etablierung
großtechnischer Systeme niederschlug. Unter großtechnischen Systemen sind dabei
solche Techniken zu verstehen, für deren Funktionieren ein komplexes Netz
weiterer technischer und sozialer Komponenten erforderlich ist und die aus diesem
Grund tief in die Lebensbereiche hinein wirken (vgl. Bechmann 1990). Beispiele
dafür sind vor allem Energie-, Verkehrs- und Konmmunikationsysteme. Zwar gab
es im Laufe der Menschheitsgeschichte, seit dem Turmbau von Babel und den
ägyptischen Pyramiden, immer schon technische Großprojekte, »Megamaschinen«
(Mumford 1964/66), aber erst im 20. Jahrhundert wurden sie zur vorherrschenden
Gestalt der Technik und zu bestimmenden Elementen der gesellschaftlichen Ent-
wicklung.2 Sie waren aufgrund ihres umfangreichen Bedarfs an Kapital, Infrastruk-
tur sowie wissenschaftlichem und technischem Personal auf die Verflechtung von
Staat, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik angewiesen. So führte die Entwicklung
großtechnischer Systeme zu jenen grundlegenden gesellschaftliche Veränderungen,
die sich bei der Kritischen Theorie in der Rede vom Staatskapitalismus, später von
der verwalteten Welt niederschlugen – einem Begriff, der freilich in Bezug auf die
Technikentwicklung das Zusammen- und Gegeneinander-Spiel von Technik, Wis-
senschaft, Ökonomie und staatlicher Verwaltung (vgl. dazu Rammert 1993) noch
allzu undifferenziert wiedergab.
Mit der zunehmenden gesellschaftlichen Bedeutung großtechnischer Systeme
änderten sich auch grundlegende Bedingungen der Wissenschaft. Neue technische
Konstrukte waren immer weniger einzelnen wissenschaftlichen Entdeckern, tech-
nischen Erfindern oder unternehmerischen Initiatoren zuzurechnen. Stattdessen
entstanden sie jetzt als Resultate von institutionalisierten Entwicklungsprozessen.
Dadurch wurde die Geschwindigkeit der technischen Entwicklung und des Ein-
dringens von Technik in alle gesellschaftlichen Lebensbereiche stark beschleunigt.
Die klassische Trennung von theoretischem Wissen und technischer Anwendung
begann sich aufzulösen. Man sprach jetzt von reiner und angewandter Wissen-
schaft, aber auch diese Trennung erwies sich als nicht haltbar. Die gesellschaftlichen
Voraussetzungen und Folgen von Wissenschaft und Technik wurden unter dem
Titel wissenschaftlicher Begleitforschung zunehmend selbst zum Gegenstand der
Forschung. Die staatliche Initiierung entsprechender Forschungsvorhaben (Atom-
bombe, Kernenergie) führte zur Einrichtung entsprechend zweckorientierter au-
ßeruniversitärer Forschungszentren entweder unter staatlicher Administration
oder als Abteilungen innerhalb der Industrie. Hatte Horkheimer den einsam nach
Wahrheit suchenden Wissenschaftler noch als Ausdruck der gesamtgesellschaft-
lichen Arbeitsteilung zwischen Wissenssystematisierung und -anwendung ver-
standen, so entfernten sich die Wissenschaftler mit fortschreitender Arbeitsteilung

2 Anders (1980, 110ff.) hat dies Ende der 60er Jahre unter dem Titel »Die Antiquiertheit der
Maschinen« angedeutet, ohne freilich die neue, dezentrale Netzwerkstruktur (später
paradigmatisch durch die Vorläufer des Internet eingeführt) schon erkennen zu können.
70 Gunzelin Schmid Noerr

tatsächlich schon zunehmend von jenem Ideal und wurden zu Funktionsträgern


innerhalb eines bürokratisch geregelten kapitalintensiven Produktionsprozesses.
Heute werden in Deutschland etwa zwei Drittel der Forschungen von Wirtschafts-
unternehmen finanziert. Das verbleibende, staatlich finanzierte Drittel liegt je zur
Hälfte in Händen der Hochschulen und von außeruniversitären Instituten. Die
weitergehende intensive Verflechtung von universitärer und unternehmerischer
Forschung gilt allgemein als erstrebtes Ziel.
Während die Kritische Theorie der 1930er Jahre die scheinbar autonome Wis-
senschaft sowie die diesem Schein erliegende Philosophie und Erkenntnistheorie
kritisierte, während sie die Reflexion des gesellschaftlichen Bezugs von Wissen-
schaft einforderte, vollzog sich tatsächlich ein entsprechender Wandel im Verhält-
nis von Wissenschaft und Gesellschaft – nur freilich nicht in jenem emphatischen
Sinn eines moralischen Vernunftinteresses. Dieser Wandel lässt sich auf Grund
interner Ungleichzeitigkeiten erst im Nachhinein als umfassender Zusammenhang
begreifen. Als Horkheimer sich in seinen Aufsätzen der 30er Jahre kritisch auf den
Tractatus als das »philosophische Hauptwerk« (Horkheimer 1937a, S. 119) des
Logischen Empirismus bezog, konnte er nichts davon wissen, dass dessen Autor
inzwischen daran gegangen war, seinen eigenen Entwurf, die Welt durch die
Zerlegung in einfachste Tatsachen und atomare Dinge in den Griff zu bekommen,
zu zertrümmern. Wittgenstein selbst verwarf nun den Gedanken von Sachver-
halten, die unabhängig von der Sprache und ihrem kontextuellen Gebrauch exis-
tieren, als metaphysische Fiktion. Stattdessen markierte für ihn der Begriff des
»Sprachspiels« die regelhafte Einbettung jeder sprachlichen Bedeutung in sprach-
liche und außersprachliche Zusammenhänge, in »Lebensformen« (Wittgenstein
1953/58).
Über den absolutistischen, Eindeutigkeit beanspruchenden Atomismus der
sprachlichen Weltaneignung wurde aber tatsächlich »nicht im Kopf der Gelehrten,
sondern in der Industrie« (Horkheimer 1937b, S. 170) entschieden, nämlich in
Form der Weiterentwicklung der Rechenmaschinen. Diese kamen durch die fort-
geschrittene Lochkartentechnik zu einem breiten Einsatz im staatlichen und öko-
nomischen Bereich. Ende der 30er Jahre begann man damit, die zahlreich einge-
setzten – in den USA »Computer« genannten – Rechner(innen), die vorgegebene
Schemata schrittweise in mechanische Rechenmaschinen eingaben, durch automati-
sierte, auf Lochstreifen codierte Rechenpläne zu ersetzen. Während des Zweiten
Weltkriegs hatten in den USA und in Großbritannien die nun mit Relais, dann mit
Röhren arbeitenden Rechenautomaten eine wichtige Funktion für Militärtechnik
und Spionage. 1945 legte der im amerikanischen Atombombenprojekt beschäftigte
Mathematiker John von Neumann ein Konzept digitaler Rechenautomaten vor, das
bis heute die Grundlage der gängigen Computerarchitekturen darstellt. So nahm in
Form des binären Codes der elektronischen Datenverarbeitung jener Atomismus
des Tractatus eine materielle Gestalt an, den Wittgenstein selbst längst als starr und
einseitig kritisierte und überwand. Technisch aber ließ er sich deshalb erfolgreich
einsetzen, weil das Datenatom, das Bit, kein Modell für Tatsachen, sondern nur für
andere Modelle, zum Beispiel Zahlen oder sprachliche Zeichen, darstellt. Die
Automatisierung der Verwandlung von Bits in Bits war und blieb eine rein
syntaktische Operation ohne semantischen Bezug.
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 71

Diese Eingeschränktheit des Computers auf syntaktische Zeichenmanipulation


war später ein entscheidenderAnsatz, um die technokratischen Blütenträume der
»starken« Künstlichen-Intelligenz-Forschung zu kritisieren (vgl. Searle 1984,
S. 27ff.). Sie ist darüber hinaus auch zu einem Bestandteil der wissenschaftstheo-
retischen Reflexion der Informatik geworden. So betont Zemanek (1992, S. 275):
»[Wittgensteins] Wende hat nur eine Deutung [für die Informatik]: Die Bedeutung eines
Programms hängt von dem Informationsverarbeitungsspiel ab, das mit ihm getrieben wird.
Nicht der Formalismus in sich vermag die Bedeutung zu tragen, sondern das Umfeld, die
vielen Facetten des Anwendungsfeldes und der Institution, in der diese Informationsverarbei-
tung betrieben wird, bestimmen die Bedeutung des Geschehens.«
Wenn das Verfahren der Informationsverarbeitung das der syntaktischen Manipu-
lation ist, dann folgt daraus, dass es sich beim Informationsbegriff der Informatik
um eine mehr oder weniger zweckmäßige Abstraktion handelt. Abstrahiert wird
nämlich von den sprachlichen Dimensionen der Semantik und Pragmatik. Diese
kommen spätestens dann ins Spiel, wenn es um die technischen Anwendungen der
Informatik in der Gesellschaft geht. Steinmüller (1993, S. 194 f.), der eben dieses
Verhältnis thematisiert, interpretiert den entsprechenden Informationsbegriff als
komplexes Modell, das aus vier Subsystemen und den sie verbindenden Relationen
zusammengesetzt ist: 1) dem Modell (M) oder Informationsobjekt, das die fragliche
Wirklichkeit repräsentiert, 2) dem Informationsoriginal (O), der repräsentierten
Wirklichkeit, 3) dem Informationssubjekt (S), das die Information erzeugt oder
nutzt, und 4) dem aktuell zu beeinflussenden Informationsadressaten (A):
S
M
A O
Die analytisch zu trennenden Aspekte der Informationsrelation können nun in
unterschiedlicher Weise realisiert werden, auch so, dass etwa A mit O zusammen-
fällt (der Adressat wird über sich informiert), oder auch A mit S (das Subjekt bildet
sich Informationen über sich). Kann das Verhältnis M – O in der ausschnitthaften
Abstraktion noch als Abbildverhältnis verstanden werden, so erweist es sich im
systematischen Überblick als perspektivisch-zweckhafte, interessengeleitete Kon-
struktion. Mit diesem Schema – darauf kommt es mir hier an – entwirft Steinmüller
die formalen Koordinaten des sozialen »Entstehungs- und Verwendungszusam-
menhangs« (1993, S. 193), in den jede Information, ob den Benutzern bewusst oder
nicht, eingebettet ist. Das aber bedeutet, dass avancierte »traditionelle Theorien«
wie die Informatik und Informationstechnologie, auf Grund der Struktur ihres
Gegenstandes heute zumindest auf wissenschaftstheoretischer Ebene nicht mehr
umhin kommen, das einst von Horkheimer bezeichnete theoretische Merkmal der
»kritischen Theorie«, die Reflexion des Entstehungs- und Verwendungszusammen-
hangs, in eigene Regie zu nehmen.
Kennzeichnend für die Risikogesellschaft ist nun insbesondere der (von Stein-
müller nicht in Erwägung gezogene) Fall, dass M mit O verschmilzt, dass sich also
die traditionelle Unterscheidung von erkenntnisbildendem Forschungsmaterial und
repräsentierter Wirklichkeit auflöst. Dies geschieht zunehmend dort, wo sich eine
72 Gunzelin Schmid Noerr

komplexe Realität der modellhaften Simulation entzieht, zum Beispiel im Fall der
Berechnung von nicht-linearen Wirkungen der Emission von Abgasen oder von
Freisetzungsversuchen gentechnisch manipulierter Organismen. Die hier stattfin-
dende affirmative Vergesellschaftung der Wissenschaft – »Vergesellschaftung« nicht
als kritische Indienstnahme der Wissenschaft durch ein gesellschaftliches Gesamt-
»Subjekt«, sondern umgekehrt als Instrumentalisierung des sozialen Lebens durch
die Wissenschaft – nimmt heute unter den Bedingungen immer rascherer tech-
nischer Innovationen die Form an, dass deren gesellschaftliche Implementierung
sich zunehmend weniger auf gesichertes Wissen berufen kann und stattdessen
selbst Merkmale der experimentellen Erzeugung neuen Wissens aufweist. Krohn
und Weyer (1990) haben diese vor allem im Fall von Risikotechnologien be-
drohliche Tendenz dargestellt, die Gesellschaft mit der Durchführung von »Real-
experimenten« zu belasten. Die Gesellschaft wird Wissensgesellschaft und trägt als
solche auch die Risiken des Wissenserwerbs, den Irrtum, mit. Technische Unfälle,
obwohl nicht als Experimente intendiert, erlangen die Funktion der Bestätigung
und Falsifikation von Theorien. In der Folge werden technische Implementationen
auch dort, wo sie in der öffentlichen Meinung zunächst nicht mit Risiken ver-
bunden wurden (zum Beispiel im Fall der FCKW-Emissionen), zunehmend in den
Risikodiskurs einbezogen. Ökonomische, politische und instrumentelle Klugheits-
regeln bestimmen die wissenschaftlich-institutionelle »Technikfolgenabschätzung«
(die freilich gegenüber der realen Technikentwicklung notorisch zu spät kommt).
So verschränkt sich die Vergesellschaftung der Wissenschaft mit der Verwissen-
schaftlichung der Technik. Wissenschaft heute
»ist an der gesellschaftlichen Entwicklung nicht mehr nur indirekt über die Anwendung ihrer
Erkenntnisse, sondern direkt über die Erzeugung neuen Wissens beteiligt. Sie ist ihrem
(historisch erkämpften) Freiraum entwachsen, und es ist an der Zeit, ihr Verhältnis in der
Gesellschaft neu zu bestimmen.« (Krohn/Weyer 1990, S. 118)

5. Kritische Vergesellschaftung von Wissenschaft und Technik

Die geforderte Neubestimmung bezieht sich auf die Legitimation des mehr oder
weniger unvermeidbar die Laborgrenzen überschreitenden Forschungshandelns.
Krohn und Weyer weisen selbst darauf hin, dass ihre Thematik eng mit morali-
schen Fragen verknüpft ist: wie Verantwortung für Forschung neu zu verteilen sei,
und ob auch die Gesellschaft als ganze Anspruch auf einen der Menschenwürde des
Individuums analogen normativen Schutz vor experimenteller Indiestnahme habe.
Allerdings suspendieren sie diese Fragen sogleich zu Gunsten einer diagnostischen
Analyse. Damit verbleiben sie zwar in den selbst gezogenen Grenzen »traditio-
neller« Theorie, verweisen aber zugleich (ganz im Sinn des oben zitierten Horkhei-
merschen Diktums, jede konsequente intellektuelle Anstrengung, die sich um den
Menschen kümmert, müsse sinngemäß in die kritische Theorie der Gesellschaft
einmünden) auf die Notwendigkeit der Überschreitung dieser Grenze. Während
also der theoretische Aspekt der kritischen Theorie, die gesellschaftliche Konstruk-
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 73

tion von Wissenschaft und Forschung, heute vielfach in die avancierten »traditio-
nellen« Theorien eingewandert ist, hat die kritische Theorie ihr genuines Feld nach
wie vor in der (Neu-)Bestimmung der moralisch-praktischen Beziehung zwischen
Wissenschaft, Technik und Gesellschaft.
Horkheimers Entwurf entstand an der krisenhaften Schwelle einer Gesell-
schaftsepoche, die die Individuen ihres traditionellen Ortes beraubte und in die
Ortlosigkeit, die U-topie hinauswarf. Es war eine entscheidende Schwelle hin zur
heutigen Risikogesellschaft. Dass die Wissenschaft nun zur entscheidenden Pro-
duktivkraft wurde, bedeutete auch, dass sie in ihren Fortschritten weniger den
immanenten Gesetzen reiner Theorie folgte, sondern zunehmend durch gesell-
schaftliche Interessen bestimmt wurde. Denn die Fortschritte von Wissenschaft
und Technologie erforderten eine erhebliche räumliche und zeitliche Ausweitung
der ökonomischen, militärischen und staatlichen Planungen. Zugleich aber
schirmte sich die Gesellschaft politisch und kulturell gegen grundlegende Al-
ternativen immer dichter ab. Dagegen stemmte sich die Kritische Theorie mit
ihrem Engagement für die Einrichtung einer »vernünftigen Gesellschaft«. Sie
wollte die Weichenstellung der gesellschaftlichen Entwicklung im Sinn der von ihr
teils implizit, teils explizit normativ ausgezeichneten gesellschaftlichen Interessen
beeinflussen, indem sie der Ortlosigkeit der bestehenden Verhältnisse ihre Utopie
einer endlichen Versöhnung entgegenhielt. »Zeiten wie die heutige«, schrieb Bloch
in eben diesem Sinn, »in denen Geschichte, vielleicht für Jahrhunderte, auf der
Waage steht, haben das Gefühl fürs Novum extrem, sie spüren, was Zukunft ist,
mit angehaltenem Atem, mit befördernder Arbeit am Heraufziehenden, herauf-
ziehend Möglichen« (Bloch 1954, S. 336). Sie spürten, so lässt sich konkretisieren,
die Tendenz zur Vegesellschaftung von Wissenschaft und Technik und glaubten an
die Möglichkeit, diesem Prozess humane Formen und Ziele zu geben, ja sie
übersteigerten ihn zu Entwürfen gesamtgesellschaftlicher Praxis. Vor dem Hinter-
grund der einsetzenden affirmativen Vergesellschaftung von Wissenschaft und
Technik entwarfen sie Gegenbilder einer kritischen Vergesellschaftung.
Unter Bedingungen der affirmativen Vergesellschaftung von Wissenschaft und
Technik heute hat aber nichts weniger Platz und Zustimmung als die subjektive
Verkörperung der Reflexion gesellschaftlicher Voraussetzungen und Folgen des
Wissens, nämlich die von Horkheimer intendierte Möglichkeit und Fähigkeit der
»kritischen Subjekte«, bei ihrem Forschungshandeln gleichsam neben sich zu treten
und nach dem übergreifenden Sinn ihres Tuns zu fragen.3 Diese schwer zu er-
füllende Zumutung der kritischen Theorie besteht für die Einzelnen darin, ihre
moralische Urteilskraft weit über die gewöhnlich überschaubaren Handlungs-
ketten hinaus auszudehnen, und für die Gesellschaft darin, die systemisch indu-
zierten Abläufe durch individuelle moralische Einsprüche gefährden zu lassen.
Vielleicht sind es nicht zuletzt diese Zumutungen, die in Kreisen gestandener
Philosophen und Soziologen anhaltend starke, negative Gegenaffekte generieren.

3 Auch diesen Effekt hat bereits Anders (1980, 362ff.) innerhalb seines Erklärungsschemas
analysiert und als »Antiquiertheit des ›Sinns‹« verbucht.
74 Gunzelin Schmid Noerr

Auf den miteinander konkurrierenden Einzelnen lastet ein hoher Druck, sich mit
den gesellschaftlichen Anforderungen, die an sie gestellt werden, zu identifizieren.
Dennoch sind die Verantwortungsprobleme technischen Handelns offensicht-
lich zunehmend unabweisbar geworden. Deshalb haben sich in den vergangenen
Jahrzehnten zwei weitgehend voneinander getrennte Fachdiskurse entwickelt,
nämlich einerseits eine eher indvidualisierende Ethik der Technik (und der Wirt-
schaft), andererseits eine politisch ausgerichtete Technikfolgenabschätzung oder
Technikbewertung (vgl. Ropohl 1996). Beide zielen auf unterschiedliche Weise auf
die Beherrschung des faktisch unbeherrschten Prozesses der Technisierung ab, um
deren Risiken und negative Folgen zu minimieren. Während die Ethik der Technik
diesen Ansatzpunkt in der moralischen Aufklärung über technisches Handeln
(insbesondere der Erzeuger von Technik) sucht, dient die Technikbewertung der
wissenschaftlichen Politikberatung und damit der staatlichen Steuerung der Tech-
nisierung. Folgt man der zusammenfassenden Darstellung dieser beiden Diskurse
bei Ropohl, dann leiden beide an komplementären, typischen Schwierigkeiten. Die
Ethik der Technik krankt grundsätzlich an der moralischen Schwäche der Einzel-
nen gegenüber der Logik der Verhältnisse. So verordnen sich Berufsverbände
Ethikkodizes, die freilich dem Handeln und Bewusstsein der Ingenieure weitge-
hend äußerlich bleiben.4 Eine normative Ethik der Technik ist weder allgemein
verbindlich formulierbar noch gar durchsetzbar. Ihre Schwierigkeiten resultieren
unter anderem daraus, dass sie von einem individualistischen Handlungsbegriff
ausgeht, der der kollektiven Struktur technischen Handelns unangemessen ist.
Umgekehrt bleibt die sozialwissenschaftliche Technikbewertung zum Zweck der
politischen Steuerung oft ohne Einfluss, da sie, die eine Sackgasse der Planwirt-
schaft vermeidend, in die andere Sackgasse einer bloß reaktiven Bewertung von
Entwicklungen hineinführt, die außerhalb ihrer Entscheidungsmöglichkeiten, in
der Industrie, ablaufen. Zudem sind die Werte, die den Bewertungen zugrunde
liegen, zumeist als allzu selbstverständlich unterstellt, ohne ihr oft genug ant-
agonistisches Verhältnis untereinander und in der Gesellschaft zu reflektieren.
Die ältere Kritische Theorie war noch, wie erwähnt, von der Hoffnung getragen,
dass der Gegensatz von individueller ohnmächtiger Vernunft und gesellschaftlicher
unvernünftiger Macht sich in der Konstitution eines gesellschaftlichen Gesamt-
subjekts versöhnen lasse. Diese Hoffnung, die gelegentlich auch heute noch von
kritischen Theoretikern proklamiert wird, ist aber insofern illusorisch, als eine
zentralperspektivische politische Steuerung auf Grund des mit ihr verbundenen
Machtgefälles grundlegende Täuschungen und Selbsttäuschungen erzeugt und so
hinsichtlich ihrer Kapazitäten der Problembewältigung unterkomplex bleibt. Den
Produktionsverhältnissen moderner Gesellschaften scheint, wenn sie nicht totalitär
restringiert sind, ein relativ hohes Maß an Ungesteuertheit des Gesamtprozesses
unabdingbar zu sein. Zwar mag eine Perfektionierung der gesellschaftlichen Steue-
rung zukünftig erreichbar sein. Damit würden aber auch die Freiheitsspielräume

4 Beispielsweise hat die Gesellschaft für Informatik 1994 entsprechende »Ethische Leit-
linien« formuliert. Eine darin angekündigte Fallsammlung über ethische Konflikte ist
mangels Mitgliederresponses bis heute nicht zustande gekommen.
Zur sozialphilosophischen Kritik der Technik heute 75

der Einzelnen tendenziell beseitigt werden, die zu den Bedingungen von Produk-
tivität gehören. Demgegenüber kann es nur darum gehen, die Instanzen der
Problembeobachtung und -artikulation zu vervielfältigen und demokratisch zu
institutionalisieren.
Zu den zentralen Aufgaben einer kritischen Theorie der Technik heute gehört es
deshalb, neue Wege zur Überwindung der Aufspaltung in einen individualistischen,
gesellschaftsblinden Ethikdiskurs und einen politisch-soziologischen, aber ethik-
blinden oder -entsagenden Diskurs der Technikbewertung zu suchen. Das Miss-
trauen gegen eine verselbständigte, zur philosophischen Spezialdisziplin gewordene
Ethik war für die ältere Kritischen Theorie ebenso kennzeichnend wie das gegen
eine »formale« Soziologie ohne Bezug auf das moralische Vernunftinteresse. Mora-
lischer Impuls und gesellschaftliche Reflexion verweisen, ihr zufolge, notwendig
aufeinander. Gesellschaftliche Reflexion bezieht sich hier auf alle diejenigen Be-
reiche, die Bedingungen und Schranken des (für sich allein ohnmächtigen) ethi-
schen Wissens darstellen, von der Sozialisation der Individuen über die politische
Öffentlichkeit bis zur gesetzlichen Sanktionierung. Die Ethik der Technik wie die
ingenieurwissenschaftliche und gesellschaftstheoretische Technikbewertung müs-
sen, da technisches Handeln heute zugleich soziales, kooperatives Handeln ist, die
Last der sozialphilosophischen Frage nach den Grundlagen unserer ökonomischen
und sozialen Ordnung auf sich nehmen, die Frage also, in welcher Gesellschaft wir
leben wollen.
Wenn die Konstruktion eines gesamtgesellschaftlichen Subjekts, als Alternative
zur krisenträchtigen Unbeherrschtheit des sozialen beziehungsweise soziotech-
nischen Prozesses, versperrt ist – ein Weg mit ehrwürdiger Tradition, den schon
Platon mit der Gleichsetzung von Gutsein und Wissen, Rousseau mit dem Begriff
der volonté générale und der Marxismus mit dem des wahren, durch Ideologien
bloß verdeckten Interesses eingeschlagen haben – dann bleibt offenbar nur die
Alternative, Technisierung als gemeinschaftliches Unternehmen mit gemeinschaft-
licher Verantwortung zu konzipieren. Dies setzt wiederum die Erprobung und
Durchsetzung neuer Wege der Partizipation an Entscheidungen und des Schutzes
individueller Rechte voraus. Hier verbindet sich die techniktheoretische mit der
demokratietheoretischen Aufgabe. Neue kommunikative Netzwerke wären zu
erfinden, zu erproben und zu institutionalisieren, mit Hilfe derer die Technikbe-
wertung mit dem Prozess der Technikgenese in allen seinen Stadien verbunden
werden könnte (vgl. Ropohls Konzepte der »innovativen Technikbewertung« und
der »konzertierten Techniksteuerung«; 1996, S. 259 ff.). Dabei stiege allerdings auch
die Gefahr der erneuten Vereinnahmung des kritischen Potentials durch partikulare
Technisierungsinteressen. Dennoch scheint es unabdingbar, dass sich Ethik der
Technik und sozialwissenschaftliche Technikbewertung in sozialphilosophischer
Orientierung der detaillierten Konfrontation mit der Praxis der Technisierung
aussetzen. Anderenfalls bleiben diese Diskurse akademisches Glasperlenspiel oder
notorisch verspätete und unzureichende Reparaturanleitung.
76 Gunzelin Schmid Noerr

Literatur

Anders, Günther (1994 [1956]): Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 1: Über die Seele im
Zeitalter der zweiten industriellen Revolution, München
– (1980): Die Antiquiertheit des Menschen, Bd. 2: Über die Zerstörung des Lebens im
Zeitalter der dritten industriellen Revolution, München
Bechmann, Gotthard (1990): Großtechnische Systeme, Risiko und gesellschaftliche Unsicher-
heit, in: Jost Halfmann/Klaus-Peter Japp (Hg.): Riskante Entscheidungen und Katastro-
phenpotentiale, Opladen
Bloch, Ernst (1973 [1954]), Das Prinzip Hoffnung, Bd. I, Frankfurt a. M.
Dessauer, Friedrich (1927): Philosophie der Technik, Bonn
Dubiel, Helmut (1978): Wissenschaftsorganisation und politische Erfahrung, Frankfurt a. M.
Gehlen, Arnold (1957): Die Seele im technischen Zeitalter, Hamburg
Heidegger, Martin (1963 [1927]): Sein und Zeit, Tübingen
Horkheimer, Max (1988 [1932]), Bemerkungen über Wissenschaft und Krise, in: ders.: Ges.
Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.
– (1988 [1937a]): Der neueste Angriff auf die Metaphysik, in: ders.: Ges. Schriften, Bd. 4,
Frankfurt a. M.
– (1988 [1937b]): Traditionelle und kritische Theorie, in: Ges. Schriften, Bd. 4, Frankfurt
a. M.
– (1988 [1965]): Brief an den S. Fischer Verlag, in: Ges. Schriften, Bd. 3, Frankfurt a. M.
Marcuse, Herbert (1967 [1964]): Der eindimensionale Mensch, Neuwied und Berlin
Mumford, Lewis (1977 [1964/66]): Mythos der Maschine, Frankfurt a. M.
Krohn, Wolfgang/Weyer, Johannes (1990): Die Gesellschaft als Labor. Risikotransformation
und Risikokonstitution durch moderne Forschung, in: Jost Halfmann/Klaus Peter Japp
(Hg.): Riskante Entscheidungen und Katastrophenpotentiale, Opladen
Rammert, Werner (1993): Wer oder was steuert den technischen Fortschritt?, in: ders.:
Technik aus soziologischer Perspektive, Opladen
Ropohl, Günter (1996): Ethik und Technikbewertung, Frankfurt a. M.
Searle, John R. (1986 [1984]): Geist, Hirn und Wissenschaft, Frankfurt a. M.
Spengler, Oswald (1971 [1931]): Der Mensch und die Technik, München
Steinmüller, Wilhelm (1993): Informationstechnologie und Gesellschaft. Einführung in die
Angewandte Informatik, Darmstadt
Turkle, Sherry (1999 [1995]): Leben im Netz. Identität in Zeiten des Internet, Reinbek bei
Hamburg
Wittgenstein, Ludwig (1964 [1918/21]): Tractatus logico-philosophicus, Frankfurt a. M.
– (1967 [1953/58]): Philosophische Untersuchungen, Frankfurt a. M.
Zemanek, Heinz (1992): Das geistige Umfeld der Informationstechnik, Berlin u. a.
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen
Engagements
Matthias Kettner

1. Einleitung

Die Geschichte der kritischen Theorie und die Motive, die ihre Diskursformation
erklären, sind bereits eindringlich und facettenreich dargestellt worden (Dubiel
1978, Reijen 1986, Jay 1991, Demirovic 1997, Waschkuhn 2000). Doch auch dort,
wo sich mit der Historisierung der Kritischen Theorie, die in enzyklopädischer
Form betrieben wird (Rasmussen 1996), noch systematische Erkenntnisinteressen
verbinden, vermisse ich eine Beschreibung des Kerns dieser Theorieform, die
deutlich machen könnte, dass zwischen dieser Theorieform (die nur scheinbar
abgetan ist) und bestimmten aktuellen normativen Theoriepraktiken (die nur
scheinbar gesamtgesellschaftlich bedeutungslos sind) Ähnlichkeiten bestehen. Ich
denke an Theoriepraktiken angewandter Ethik, die in einer Reihe von wichtigen
Teilbereichen der Gesellschaft, in denen sich Krisenphänomene in ganz verschie-
denen bereichsspezifischen Formen ausbreiten, mit reformerischen Ansprüchen
auftreten. Ihre Gemeinsamkeit besteht darin, dass sie an den bereichsspezifischen
Krisenphänomenen diejenigen Aspekte angehen, oder die Phänomene auf be-
stimmte Aspekte reduzieren, die sich als Moralprobleme fassen und bearbeiten
lassen.
Das Spektrum angewandter Ethik ist inhaltlich sehr breit. Wieviel Zweige
angewandter Ethik man unterscheiden möchte, hängt davon ab, wie weit man
spezielle Anwendungen (z. B. »Computer-Ethik«) und allgemeinere (z. B. »Medi-
enethik«) auseinanderhalten möchte. Aber zwei Zweige angewandter Ethik haben
sich in den letzten zwanzig Jahren unbestreitbar gut etabliert und konturiert: Die
biomedizinische Ethik und, mit gewissen Einschränkungen, die Wirtschafts- und
Unternehmensethik. Die Bioethik artikuliert Legitimationsprobleme der Lebens-
wissenschaften und des Gesundheitssystems in der Sprache der Moral. Die Wirt-
schafts- und Unternehmensethik behandelt alles, was an den Bedingungen kapi-
talistischen Wirtschaftens moralisch belangvoll für die so eingebundenen Akteure
ist. Beide Zweige angewandter Ethik haben in den letzten zwanzig Jahren in vielen
Ländern einen erheblichen Einfluss auf institutionelle Veränderungen gewonnen.
Besonders die Bioethik hat ein internationales Netz von eigenen Institutionen
ausgebildet, von Ethik-Komitees in Krankenhäusern auf lokaler Ebene bis hin zu
internationalen ethikberatenden Gremien, die sich z. B. mit der Erarbeitung von
völkerrechtlichen Erklärungen, etwa der Bioethik-Konvention innerhalb der Euro-
päischen Union, beschäftigen. (Ein deutschsprachiger Versuch, das Spektrum ange-
wandter Ethik vorzuführen, liegt mit dem von Nida-Rümelin (1996) heraus-
gegebenen Handbuch vor. Die Paradigmenvielfalt innerhalb der beiden genannten
Hauptzweige angewandter Ethik kann ich an dieser Stelle nicht behandeln; auf
78 Matthias Kettner

interessante Weise verschiedene Paradigmen in der angelsächsischen Bioethik ver-


anschaulichen Beauchamp & Childress (2001) vs. Gert et al. (1997), innerhalb der
deutschsprachigen Wirtschafts- und Unternehmensethik Ulrich (1997) vs. Homann
und Blome-Drees (1992).)
Im Folgenden argumentiere ich für die These, dass zwischen jenem Theorie-
Engagement, das programmatisch als kritische Theorie der Gesellschaft entworfen
worden ist, und einem Theorie-Engagement, das in progressiven Teilen der ange-
wandten Ethik angestrebt wird, genug Ähnlichkeiten (trotz tiefgreifender Unter-
schiede) bestehen, um Letzteres als eine Fortsetzung der kritischen Theorie in
einem begrenzten Feld, als kritische Theorie der gesellschaftlichen Moral, begreifen
zu können.

2. Eine normative Charakterisierung der kritischen Theorie

Horkheimers programmatischer Aufsatz über »Traditionelle und kritische Theo-


rie« charakterisiert die anvisierte Theoriegestalt in verschiedenen Hinsichten. Ich
versuche nun fünf Momente zu rekonstruieren, die den normativen Kern der
kritischen Theorie bilden und, wie ich im nächsten Abschnitt zeigen werde,
interessante Ähnlichkeiten mit denjenigen Momenten angewandter Ethik haben,
aus denen sich Teile der angewandten Ethik als ein kritisches Reformprojekt
begreifen lassen.
Kritische Theorie ist keine kontemplative Tätigkeit, die auf eine in kohärenten
Aussagen artikulierte Weltbeschreibung und -erklärung abzielt, sondern ein inter-
disziplinäres, Theoriewissen bündelndes praktisches Engagement, das auf die Er-
möglichung bestimmter Lernprozesse gesellschaftlicher Art abzielt. Die im her-
kömmlichen engeren Sinne theoretische Tätigkeit geht in die kritische Theorie
insoweit ein, wie diese Tätigkeit und ihre Ergebnisse relevant für jene Lernprozesse
sind, an deren ermöglichenden oder einschränkenden Bedingungen kritische Theo-
retiker interessiert sind. Diese Lernprozesse können wir auch als Übergänge in den
normativen Texturen begreifen, die über die gesamte Breite des sozialen Lebens
unseren Praktiken Richtung, Sinn und Form geben. Ein Lernprozess ist im Sinne
der kritischen Theorie erwünscht, wenn er eine bestimmte Transformation der
normativen Texturen eines Praxisbereichs enthält, die sich als ein Übergang von
einem weniger vernünftigen zu einem vernünftigeren Zustand bewerten lässt.
(1) Im Hintergrund solcher Bewertungen steht für kritische Theoretiker ein
normativer (und auch moralisch gehaltvoller) materialer Vernunftbegriff, der an
einem Interesse an Emanzipation ausgerichtet ist, ein Interesse, von dem die
kritische Theorie ohne weiteres meint, dass wir berechtigt sind, es (und die daran
ausgerichtete Konzeption von Vernunft) bei allen Menschen prima facie zu unter-
stellen: Es »hat die Idee einer künftigen Gesellschaft als der Gemeinschaft freier
Menschen, wie sie bei den vorhandenen technischen Mitteln möglich ist, einen
Gehalt, dem bei allen Veränderungen die Treue zu wahren ist. Als die Einsicht, dass
und wie die Zerrissenheit und Irrationalität jetzt beseitigt werden kann, wird diese
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 79

Idee unter den herrschenden Verhältnissen stets reproduziert« (Horkheimer 1970a,


S. 36). Diese Vernunftkonzeption ist material (statt formal), weil sie offenbar eine –
zwar dünne aber richtungsweisende – Idee des guten Lebens einschließt. (»Die
kritische Theorie hat bei aller Einsichtigkeit der einzelnen Schritte und der Über-
einstimmung ihrer Elemente mit den fortgeschrittensten traditionellen Theorien
keine spezifische Instanz für sich als das mit ihr selbst verknüpfte Interesse an der
Aufhebung des gesellschaftlichen Unrechts. Diese negative Formulierung ist […]
der materialistische Inhalt des idealistischen Begriffs der Vernunft«, Horkheimer
1970a, S. 56. Die Unterstellung der Anerkennungswürdigkeit dieses Vernunftbe-
griffs prima facie bedeutet, dass Fälle, wo die Zuschreibung zurückgezogen werden
muss oder die Unterstellung der Anerkennung offensichtlich nicht greift, als
erklärungsbedürftige Ausnahme zu betrachten sind. Die »Interessen des kritischen
Denkens sind allgemein, aber nicht allgemein anerkannt«, Horkheimer 1970a,
S. 37.)
Kritische Theorie zielt »auf die Emanzipation des Menschen aus versklavenden
Verhältnissen« ab (Horkheimer 1970b, S. 58). Die Rede von Versklavung lässt sich
seit Marx zur Rede von ökonomischen Verhältnissen, die die ihnen Unterworfenen
versklaven, spezifizieren, da offenbar von der Organisation der Wirtschaft der
Gesellschaft mehr als von der Organisation anderer Bereiche des sozialen Lebens
die »vernünftige Verfassung der Gesellschaft« abhängt und von dieser wiederum
die »freie Entwicklung der Individuen« (ebd.). Der Bezugsbereich der kritischen
Theorie ist das gesellschaftliche Leben in allen seinen Äußerungen (kritische
Theorie der Gesellschaft), aber eine Teiltheorie der kritischen Theorie wird spezi-
fisch eine kritische Theorie der Wirtschaft der Gesellschaft (kritische Theorie der
Ökonomie) sein. (Es fällt nicht leicht, unter den gegenwärtigen Fortsetzungen
kritischer Theorie auch eine aktuelle kritische Theorie der Wirtschaft der Gesell-
schaft auszumachen. Womöglich kommen Hardt/Negri 2002, sowie Kurz 1999
dem am nächsten.)
(2) Zwei weitere Prämissen sind für die Arbeit kritischer Theoretiker wesentlich:
»Die Trennung von Individuum und Gesellschaft, kraft deren der Einzelne die
vorgezeichneten Schranken seiner Aktivität als natürlich hinnimmt, ist in der
kritischen Theorie relativiert. Sie begreift den vom blinden Zusammenwirken der
Einzeltätigkeiten bedingten Rahmen, das heißt die gegebene Arbeitsteilung und die
Klassenunterschiede, als eine Funktion, die, menschlichem Handeln entspringend,
möglicherweise auch planmäßiger Entscheidung, vernünftiger Zielsetzung unter-
stehen kann« (Horkheimer 1970a, S. 28). Horkheimer beschreibt hier die Prämisse
einer holistischen gesellschaftstheoretischen Betrachtungsweise. Von dieser Prä-
misse her ist auch zu verstehen, warum das Denken in Konstellationen, Kohären-
zen, Korrespondenzen und Analogien innerhalb der kritischen Theorie der ersten
Generation eine so große Rolle gespielt hat. (Adornos oft zitiertes Diktum, es gebe
kein richtiges Leben im falschen, wäre ohne die Prämisse der holistischen Betrach-
tungsweise unverständlich. Vgl. auch Horkheimer, 1970b, S. 57: »Die kritische
Theorie der Gesellschaft hat […] die Menschen als die Produzenten ihrer gesamten
historischen Lebensform zum Gegenstand.«) In der Konsequenz dieser Prämisse
liegt auch, dass das Theorie-Engagement der kritischen Theorie in dieser Theorie
80 Matthias Kettner

selbst als eine Form von Praxis unter anderen im Gesamt gesellschaftlich etablierter
Praktiken reflektiert werden muss – eine Selbstsituierung.
(3) Die andere Prämisse ist die Gestaltbarkeit. Die Prämisse der Gestaltbarkeit
gilt in der marxistisch inspirierten Sozialtheorie viel weniger eingeschränkt als in
der heute dominanten Systemtheorie, derzufolge die Rede von der Herstellung
vernünftiger Verhältnisse an der autopoietischen Realität aller sozialen Subsysteme
(und somit auch an »der« Gesellschaft im ganzen) abprallt und einer handlungs-
theoretisch nicht mehr einholbaren Form von Rationalität, der »Systemrationali-
tät«, Platz machen muss. (Zur Kritik an der systemtheoretischen Konzeption von
Vernunft s. Dorschel und Kettner 1996.) Die empirische Frage, wieweit die Prä-
misse der Gestaltbarkeit trägt, muss hier offen bleiben. Jedenfalls muss der Fehl-
schluss vermieden werden, dass wenn in einem normativ texturierten Bereich des
gesellschaftlichen Lebens keine nach Ergebnis und Absicht kontrollierbaren Verän-
derungen möglich sind, dann der betreffende Bereich B nicht zum Gegenstand des
kritisch-theoretischen Engagements werden könne. Der ungestaltbare Bereich
kann nämlich auch dann zumindest indirekt zum Gegenstand des kritisch-theo-
retischen Engagements werden, wenn kritisiert wird, dass seine Nichtsteuerbarkeit,
die von bestimmten Bedingungen C abhängt, die Menschen in eine – kritisch
betrachtet: unerwünscht – schlechte Position der Verantwortungslosigkeit bringt,
so dass C so verändert werden müsste, dass die Gestaltbarkeit von B zunimmt.
(4) Das vierte Moment, das ich hervorheben möchte, ist die Spannung der
postkonventionellen Ortlosigkeit. Sie betrifft den Adressatenbereich der kritischen
Theorie, d. h. den Kreis derer, die die kritische Theorie bewusst in ihr Selbst- und
Weltverständnis aufnehmen und die Kommunikationsgemeinschaft der kritischen
Theoretiker bilden können: »Was die traditionelle Theorie ohne weiteres als vor-
handen annehmen darf, ihre positive Rolle in einer funktionierenden Gesellschaft,
die freilich vermittelte und undurchsichtige Beziehung zur Befriedigung allge-
meiner Bedürfnisse, die Teilnahme an dem sich erneuernden Lebensprozess des
ganzen, alle diese Erfordernisse, um die sich die Wissenschaft selbst gar nicht zu
kümmern pflegt, weil durch die soziale Position des Gelehrten ihre Erfüllung
belohnt und bestätigt wird, stehen beim kritischen Denken in Frage. […] [D]ie
Gesamttendenz des Unternehmens, das intellektuelle Tun selbst, auch wenn es als
erfolgversprechend gilt, [hat] keine Sanktion des gesunden Menschenverstands,
keine Gewohnheit für sich« (Horkheimer 1970a, S. 36).
Weil sie die Evidenzen des gesunden Menschenverstands nicht einfach zulässt,
sondern als kompromisslerischen Ausdruck rationaler Anpassung an die bestehen-
den, wenig rationalen Verhältnisse entziffert, ist ihr Diskursuniversum dem ge-
sunden Menschenverstand suspekt (z. B. »unwissenschaftlich«). Und weil das En-
gagement der kritischen Theorie die bestehenden Verhältnisse an einer vernünfti-
gen Idee misst, die im Horizont der bestehenden Verhältnisse zwar allgemeinver-
ständlich, aber, weil sie das in diesem Horizont konventionalisierte Verständnis
von vernünftigen Verhältnissen zugleich auch transzendiert, nicht allgemein ver-
bindlich ist, erscheint das kritische Engagement als eine bestimmte Parteilichkeit,
die eine andere Parteilichkeit, die nämlich zugunsten des status quo, stört: »Wenn-
gleich die kritische Theorie nirgends willkürlich und zufällig verfährt, erscheint sie
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 81

der herrschenden Urteilsweise […] subjektiv und spekulativ, einseitig und nutzlos.
Da sie den herrschenden Denkgewohnheiten, die zum Fortbestehen der Vergan-
genheit beitragen und die Geschäfte der überholten Ordnung besorgen, diesen
Garanten einer parteiischen Welt, zuwiderläuft, wirkt sie als parteiisch und unge-
recht« (Horkheimer 1970a, S. 37).
(5) Die kritische Theorie übernimmt von Hegel und Marx die Denkfigur der
bestimmten Negation. Methodologisch läuft diese Denkfigur auf Verfahren der
immanenten Kritik hinaus. Immanent ist Kritik dann, wenn die einbekannte
Normativität der bestehenden normativen Textur einer Praxis aufgegriffen und mit
derjenigen Normativität verglichen wird, die sich in den Vollzügen der betreffen-
den Praxis lebendig verkörpert und ausdrückt, in Erwartung eines hinreichend
guten Passungsverhältnisses zwischen einbekannter und gelebter Normativität.
Feststellbare Diskrepanzen müssen erklärt und gerechtfertigt werden können.
Wenn sich Entstehung und Aufrechterhaltung normativer Texturen aus Verhältnis-
sen erklären, die Ausdruck partikularer Interessen sind (z. B. einseitig vorteilhafter
Machtverteilungen) und sich deshalb nicht aus allgemein anerkennungswürdigen
Gründen rechtfertigen sondern nur motiviert verschleiern lassen, wird immanente
Kritik zu Ideologiekritik. Als »Ideologie« wird üblicherweise ein kollektives »Be-
wusstsein« – besser gesagt: eine einigermaßen holistische Bewusstseinsform – als
auf eine eigentümlich Weise »falsch« angeprangert, als »falsch« nämlich im Hin-
blick auf bestimmte soziale oder politische Tatsachen. In marxistischer Perspektive
hat sich die Betrachtung zugespitzt auf solche Tatsachen, die indizieren, welche
Regeln und Rahmenbedingungen des Wirtschaftshandelns aktuell in einer Gesell-
schaft bestehen (»Bestimmtheit der ökonomischen Verhältnisse«) und wie die
Beteiligten diese Verhältnisse interpretieren. Für Marx liegt die Kernbestimmung
von »Ideologie« in seiner Theorie des Warenfetischismus.
Ich meine, dass Ideologizität nach der diskurstheoretischen Wende der kriti-
schen Theorie nur befriedigend beschrieben werden kann als unrechte Verknap-
pung von Diskursivierungschancen zwischen Repräsentanten kollektiver Akteure
durch bestimmte »Diskurse«. (Für diese Auffassung habe ich andernorts, Kettner
1994, argumentiert.) Die Anführungszeichen um »Diskurs« stehen in dieser For-
mulierung für einen stets möglichen methodologischen Blickwechsel, eine Doppel-
perspektive: »Diskurse« sind in der sozialen Wirklichkeit stattfindende symbolisch
strukturierte Sinn-Ereignisse. Sie lassen sich beschreiben nicht nur aus der Per-
spektive kompetenter Teilnehmer, sondern auch aus der objektivierenden Ein-
stellung von Beobachtern, wie besonders Foucault vorgeführt hat. Eine Beschrei-
bung aus der objektivierenden Einstellung von Beobachtern ist beim argumen-
tativen Diskurs, ohne Anführungszeichen, ausgeschlossen, denn eine Beobach-
tungshaltung verfehlt naturgemäß dessen konstitutive interne Normativität.
Freilich gibt es keinen privilegierten, a priori unideologischen Standort: wer ihn
behaupten und Ideologie stets zur Sache der Anderen erklären wollte, überführte
sich selbst des Dogmatismus und ließe jene selbstkritisch-reflexive Haltung ver-
missen, die ausgedrückt ist in dem eigentümlich inklusiven Verhältnis des Dis-
kurses zum »Diskurs«: Der argumentative Diskurs, der ebenso sich selbst als
»Diskurs« problematisieren kann, wie er in faktischen »diskursiven Ereignissen«
82 Matthias Kettner

auch deren Diskursivität wiederzuerkennen gestattet – ein Verhältnis der Selbst-


korrigibilität, mit älteren Begriffen gesagt: der Aufhebung, oder der selbstbezüglich
bestimmten Negation.
Als »unrecht« kann eine Verknappung von Diskursivierungschancen auf so viele
Weisen bewertet werden, wie Herrschaftsverhältnisse von Personengruppen über
Personengruppen ungerechtfertig sein können (nicht unter allen Umständen sind
sie es) bzw. wie institutionelle etablierte Machtverteilungen zwischen kollektiven
Akteuren systematisch asymmetrisch und ungerecht sein können. Unter den In-
stanzen von Herrschaft, die heute hervorstechen, sind nicht mehr nur diejenigen
relevant, die systematische Machtasymmetrien zwischen ökonomisch definierten
Klassen erzeugen, sondern u. a. auch die, welche systematische Machtasymmetrien
zwischen (kulturell definierten) Geschlechtern, (politisch definierten) Rassen und
Nationalstaaten, (religiös definierten) Weltanschauungsgemeinschaften und
(ethisch definierten) Moralgemeinschaften bedingen. Zu den ambivalenten, Dis-
kurse anreizenden aber auch verknappenden Instanzen muss natürlich auch das
Subsystem Wissenschaft gezählt werden, dessen prestigebesetzte Definitionsmacht
über die Codierung des umlaufenden Wissens als wahr/falsch eminente Möglich-
keiten bietet, Unerwünschtheit von institutionell etablierten, systematisch asym-
metrischen Machtbeziehungen zu verschleiern – z. B. dadurch, dass solche Macht-
beziehungen als für die betreffenden kollektiven Akteure unausweichlich darge-
stellt werden (»Sachzwänge«) oder als für alle gleichermaßen wünschenswert
(»soziale Ziele«). Sinnfällig wird das z. B. an der Selbstaffirmation der Biowissen-
schaften im Kontext der öffentlichen Kontroverse um Nutzen und Nachteil der
Gentechnologie. Für die Öffentlichkeit stellen Wissenschaftler, bisweilen sogar
offen wider besseres Wissen, den Fortgang dieser Dinge dadurch als wünschens-
wert dar, dass sie mit starkem utilitaristischem Appeal den gewaltigen Nutzen
herausstreichen, den »wir alle« erwarten dürfen. Eine andere und ungleich dramati-
schere Weise, wie die »Diskurse« des Subsystems Wissenschaft Verknappungen
von Diskursivierungschancen erzeugen, ist die (bereits von der ersten Generation
kritischer Theoretiker thematisierte) Anmaßung von Definitionsmacht über den
Begriff der Vernunft: Wissenschaft legt den Vernunftbegriff so eng aus, dass z. B.
moralische Geltungsansprüche tendentiell gar nicht mehr als vernünftige An-
sprüche angesehen werden – eines der Ideologeme des »Szientismus«.
Raymond Geuss hat die methodische Verfassung von Ideologiekritik analysiert.
Ideologiekritisch gedeutet wird eine Bewusstseinsform B, so Geuss, wenn wir
nachzuweisen versuchen, dass B konstitutive Überzeugungen enthält, deren epis-
temischer Status von den Trägern von B falsch interpretiert wird. Geuss (1983,
S. 24) listet auf, was »Falschsein« in diesem Zusammenhang heißen kann. Er nennt
vor allem:
(K1) Konfundierungen von Prä- und Deskriptivität.
(K2) Konfundierungen von analytisch und empirisch.
(K3) Konfundierung von Plausibilität und Gewissheit.
Außerdem ist B ein Ideologem, d. h. »ideologisch falsch«, wenn B
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 83

(K4) an zentraler Stelle einen Objektivierungsfehler enthält, d. h. wenn es wesent-


lich für B ist, dass ein soziales Phänomen für ein natürliches gehalten wird; oder
(K5) »falsche Überzeugungen enthält dergestalt, dass das partikulare Interesse
einer Teilgruppe das allgemeine Interesse der Gruppe als Ganzer sei«; oder
(K6) »Überzeugungen, die sich selbst bewahrheiten […] mit solchen verwech-
selt, von denen das nicht gilt«.
Diese »epistemologische« Bestimmung von Ideologie ist noch unzureichend, weil
nicht folgt, dass eine Bewusstseinsform B, die eine oder mehrere der kognitiven
Anomalien (K1–6) hat und insofern Züge epistemischer Irrationalität trägt, es
darum verdient, zum Gegenstand von Ideologiekritik gemacht zu werden. Die
angeführten kognitiven Anomalien bilden allenfalls Ansatzpunkte. Geuss führt
deshalb zwei weitere Bestimmungen ein, eine »funktionale« und eine »genetische«:
Die Ideologizität von B deuten heißt erklären, wie B
(K7) relevant dazu beiträgt, dass bestimmte zu verurteilende Macht-Arrangements
(= Institutionen, Praktiken, Herrschaftsverhältnisse u. ä.) eingerichtet oder auf-
rechterhalten werden können.
Macht-Arrangements können freilich in ganz unterschiedlichen Hinsichten verur-
teilt werden, u. a. danach, ob sie die optimale Entfaltung der Produktivkräfte
hemmen, gesellschaftliche Widersprüche verschleiern, Emanzipationskämpfe er-
schweren (Marx), die Gesellschaftsmitglieder sich selbst entfremden (Horkheimer/
Adorno), ihnen überflüssige Repression auferlegen (Marcuse) oder nicht gleicher-
maßen im Interesse aller liegen (Habermas).
(K8) Ein Machtarrangement kann darum verurteilenswert sein, weil es kausal zur
Entstehung der Bewusstseinsform B eines kollektiven Akteurs (z. B. einer Gesell-
schaft) beiträgt, deren Entstehungsursachen die Mitglieder dieses Kollektivs nicht
anerkennen oder gutheißen könnten, wenn ihnen bewusst würde, dass die Existenz
von B auf diesen Ursachen beruht.
Die fünf herausgearbeiteten Momente kritischer Theorie – ein an der Emanzipation
des Glückstrebens der Einzelnen orientierter Vernunftbegriff, die holistische gesell-
schaftstheoretische Betrachtungsweise, das Desiderat der Gestaltbarkeit, die Span-
nung der postkonventionellen Ortlosigkeit, die immanente Kritik und Ideologie-
kritik – ergeben Folgendes:
Dem ursprünglichen Programm einer kritischen Theorie zufolge ist kritische
Theorie eine Theoriepraxis, die sich für die Veränderung (und gegen die Wider-
stände gegen die Veränderung) der bestehenden Gesellschaft engagiert. Im Leben
jeder Gesellschaft werden wertrationale (d. h. nicht bloß instrumentell vernünftige)
Ansprüche reproduziert, mindestens in der Prätension, dass die Gesellschaft es
vielen oder allen Mitgliedern ermöglicht, ein gutes Leben zu führen. Die im
sozialen Leben einer Gesellschaft bestimmenden wertrationalen Ansprüche er-
scheinen teils in einbekannten Formen (manifest, explizit), teils in eher verdeckten
und verstellten, erst durch Interpretation artikulierbaren Formen (implizit, latent).
Eine kritische Theorie greift diese Ansprüche auf und konfrontiert sie damit, dass
sie den Erfahrungen des gelebten Lebens nicht gerecht werden. Die Ideologiekritik
84 Matthias Kettner

der kritischen Theorie verfährt dabei zwar immanent, aber angeleitet durch eine
kontexttranszendierende regulative Idee vernünftiger Praxis, die in ihrer Vernunft-
konzeption liegt. Eine besondere Schwierigkeit entsteht der so verstandenen kriti-
schen Aktivität daraus, dass Ideen des guten Lebens, in denen sich die wert-
rationalen Ansprüche bündeln, immer fragmentierter, unverbindlicher, einge-
schränkter, privater werden. Damit schwindet die Basis für immanente Kritik. Im
Grenzwert legitimiert die Gesellschaft ihren Fortbestand nur noch mit dem Hin-
weis auf ihr gutes Funktionieren, ihre systemische Rationalität. Einige Neuerungen
in der Entwicklungsgeschichte der Programmatik der kritischen Theorie lassen sich
als Reaktionen auf diese Schwierigkeit verstehen, so vor allem die mit Habermas’
»Theorie des kommunikativen Handelns« abgeschlossene Wendung gegen System-
rationalität als Ideologie.

3. Eine normative Charakterisierung angewandter Ethik

Wenn es eine Fortsetzung der kritischen Theorie in einem begrenzten Feld, eine
kritische Theorie der gesellschaftlichen Moral, überhaupt geben kann, und wenn
ein progressives Selbstvertändnis von angewandter Ethik sich mit dieser Theoriege-
stalt identifizieren kann, dann muss sich die kritische Theorie der Moral 1.) ihrer
moralischen Grundbegriffe versichern, zuerst des Begriffs der Moral selbst, sodann
2.) relevante Ähnlichkeiten zwischen der Programmatik einer emanzipativ ange-
wandten Ethik und der Programmatik der kritischen Theorie ausweisen (»Ange-
wandte Ethik als kritische Theorie«) und 3.) Ansätze zur Selbstkritik angewandter
Ethik auszeichnen (»kritische Theorie der angewandten Ethik«). Im Folgenden
stelle ich einige Elemente dieses Programms dar.

3.1. Grundbegriffe einer kritischen Theorie der gesellschaftlichen Moral


»Moral« als ein beschreibend gebrauchter Begriff bezeichnet summarisch alle von
einem Menschen oder einer Gesellschaft als richtig und wichtig anerkannten
Normen und Ideale des guten und richtigen Sichverhaltens plus der mehr oder
weniger vernünftigen Überzeugungen, die es ermöglichen, diesen Normen und
Idealen einen ernst zu nehmenden Sinn zu geben, sie zu rechtfertigen oder gege-
benenfalls auch kritisch zu modifizieren. Wie die Moral einer sozialen Gruppe
positiv in ihren »Sitten«, »moralischen Idealen« oder anerkannten »Moralregeln«
sich manifestiert, so tritt sie an den individuellen Personen in Form von moralisch
bedeutsamen »Charakterzügen« und »Tugenden« (ethos: Charakter und auch Ge-
wohnheit), ihrem »Gewissen« und ihren moralisch »wertvollen Handlungen« in
Erscheinung (Westermarck 1909; Edelstein et al. 1993). »Ethik« hingegen ist eine
bestimmte Disziplin in den überkommenen Einteilungen der Philosophie, nämlich
Philosophie der Moral, eine theoretische Reflexion der gelebten Moral, der prak-
tisch vorhandenen und in Geltung stehenden moralischen Überzeugungen. Es ist
die Aufgabe der Ethik, unseren moralischen Urteilen (z. B. »Reproduktives Klo-
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 85

nieren ist moralisch verwerflich, weil es die Menschenwürde missachtet«) auf den
Grund zu gehen, d. h. sie auf ihre Verallgemeinerbarkeit, Einsichtigkeit, Triftigkeit
und Vereinbarkeit mit unseren übrigen moralischen und sonstigen (z. B. wissen-
schaftlichen oder religiösen) Überzeugungen und Urteilsgründen zu untersuchen
(Frankena 1973 und 1981; Leist 2000).
Soziale Funktionen von Moral. Lässt sich die so beschriebene Moral durch eine
spezifische soziale Funktion und Leistung genauer fassen? Für Moralregeln bzw.
-normen (nicht aber für moralische Ideale) bietet es sich an, ihre Funktion darin zu
sehen, dass man nach ihnen leben sowie eigenes und fremdes Verhalten beurteilen
kann; denn Moralregeln bzw. -normen teilen Verhalten, eigenes wie fremdes, in
moralisch »richtiges« (d. h. schätzenswertes, erlaubtes oder sogar gebotenes) und
moralisch »falsches« (d. h. verachtenswertes, nicht erlaubtes bzw. verbotenes Ver-
halten). Diese Einteilung ist informell (ähnlich wie etwa im normativen System
Takt und Höflichkeit), d. h. es gibt keine formell zur Entscheidung unklarer Fälle
und zur Weiterentwicklung der Moral beauftragte Instanz (anders als im positiven
Recht). Diese Einteilung von beurteilbarem Verhalten ist gemeint, wenn Moral, wie
es oft geschieht, als eine »normative Institution«, als »Handlungsorientierungs-
system« oder als »handlungsleitendes Wissen« apostrophiert wird (Gert 1998,
S. 12–18). Es liegt dann nah, Moral als einen sozialen Mechanismus zu sehen,
dessen Leistung in dem Schutz besteht, den sie Personen gegen physische sowie
symbolische Verletzungen gewährt; gegen »Abhängigkeiten und Angewiesenhei-
ten, die in der Unvollkommenheit der organischen Ausstattung und der fort-
bestehenden Hinfälligkeit der leiblichen Existenz (besonders deutlich in Phasen
von Kindheit, Krankheit und Alter) begründet sind. Die normative Regelung
interpersonaler Beziehungen lässt sich als poröse Schutzhülle gegen Kontingenzen
verstehen, denen der versehrbare Leib und die darin verkörperte Person ausgesetzt
sind« (Habermas 2001, S. 62 f.).
Die eine Moral und die vielen Moralen. Funktion und Leistung aufeinander
beziehend, können wir das mit »Moral« gemeinte folgendermaßen bestimmen: Die
Moral – im Singular – ist das gelebte, d. h. handlungswirksam verinnerlichte
Grundverständnis davon, wie »wir alle« (d. h. eine mehr oder weniger inklusiv
gedachte Menge von Trägern einer moralischen Verantwortung) ernst nehmen
sollten, wie sich unser beurteilbares Tun und Lassen auf alle relevanten Anderen
sowie auf uns selbst im Guten wie im Schlechten auswirkt (vgl. Frankena 1981,
S. 26). Dass Moralsubjekte auf Andere sowie auf sich selbst Rücksicht nehmen,
impliziert nicht, dass sie auf Andere genau so und im selben Sinne wie auf sich
selbst Rücksicht nehmen. In einigen historisch einflussreichen Moralauffassungen,
besonders innerhalb der so genannten »Perfektionsmoralen« (Hurka 1993), kann
jeder, von Selbstsorge um die Steigerung der eigenen moralisch wertvollen Qualitä-
ten erfüllt, sich selbst der nächste sein, während umgekehrt in Moralen des
Altruismus die Möglichkeit der Ungleichwertigkeit von Selbst und Anderem in-
nerhalb der moralischen Berücksichtigung ins Extrem der Selbstlosigkeit gehen
kann.
Moralen – im Plural – (etwa die »christliche Moral«, die »ärztliche Standes-
moral«, die »Tierschutzmoral«, die »moderne Menschenrechtsmoral«) legen dieses
86 Matthias Kettner

Grundverständnis auf eine jeweils eigene, mehr oder weniger profilierte Weise aus.
Verschiedene Moralen können sich drastisch darin unterscheiden, wer oder was als
der relevante Andere zählen soll. (Alle Menschen – oder nur bestimmte? Nur
Menschen – oder alle empfindungsfähigen Tiere? usw.) Solche Unterschiede wer-
den in Ethik und Metaethik häufig als Unterschiede im »moralischen Status«
begriffen (Warren 1997). Sie unterscheiden sich überdies darin, in welcher Form die
moralisch verantwortlich Handelnden alle relevanten anderen Wesen berücksich-
tigen sollen – und wie sich selbst im Verhältnis zu diesen. (Durch schonende
Rücksicht auf die Leidensfähigkeit anderer Wesen? Durch Achtung der Selbst-
bestimmung von hierzu fähigen anderen – oder durch ein Gebot, ihr Wohl nach
Kräften zu fördern? Durch die Zuschreibung von Rechten, z. B. Achtung eines
Rechts auf Leben – oder durch weitergehende Verbote, sie zu schädigen? usw.)
Moderne Moralen (wie die im Menschenrechtsdenken inhärente Moral) beziehen
sich ihrem Geltungsanspruch nach auf alle Menschen, verlangen die Form von
allseits anerkannten Rechten und Pflichten und stützen diesen Anspruch auf die
Annahme eines unter allen sozialisierten Menschen normalerweise vorhandenen
oder zumindest so denkbaren Vernunftvermögens.
Drei Kultivierungsrichtungen von Moral. Durch die Geschichte des theoreti-
schen Nachdenkens über Moral (Ethik) wie durch die gelebten Moralauffassungen
selbst ziehen sich zwei Leitfragen, die vereinfachend mit den Stichworten »Gerech-
tigkeit« und »Glück« gekennzeichnet werden können: Wie handelt man (ge)recht?
Und wie wäre ein wahrhaft gutes Leben zu führen? Bestimmter: (1) Wie soll ein
Leben im Ganzen aussehen, um ein gutes zu sein? Und was muss einer tun, um ein
solches gutes Leben wirklich führen zu können? (2) Wie soll unter Personen mit
konfligierenden Zielen, Interessen, Bedürfnisansprüchen umgegangen werden, da-
mit es gerecht zugeht? Was müssen wir tun, damit es wirklich gerecht zugehen
kann?
Warum zwei Leitfragen und nicht eine? (Zur Irreduzibilität beider Fragen siehe
Kramer 1992, S. 122.) Offenbar ergibt weder die im gelebten Leben noch die in der
Reflexion erfolgende Erkundung des moralisch Guten eine einheitliche letzte
Antwort; vielmehr können in Moralgemeinschaften durchaus mehrere höchste
Güter (oberste Werte) angenommen werden, ohne dass hierbei Unvernunft im
Spiel sein müsste (Wolf 1999). Die rein vernunfthalber nicht mehr weiter ein-
schränkbare Vielfalt möglicher höchster Güter (bzw. höchster Werte) führt aber
unvermeidlich zu Konflikten. Mit solchen Konflikten können Menschen auf sehr
verschiedene Weise umgehen. Es gehört zu den Kennzeichen von »Vernunftmora-
len« (d. h. Moralauffassungen, die einen internen Zusammenhang von vernünftiger
und moralischer Autorität annehmen), dass als die am wenigsten unvernünftige
Umgangsweise mit solchen Konflikten die Gerechtigkeit erscheint (Kohlberg
1995). Gerechtigkeit ist keineswegs etwas »ganz anderes« als das Gute. Vielmehr
gehört sie selber, als etwas gutes, zum Guten. Sie hat aber auch eine Eigen-
bedeutung. Derzufolge gehört zur Gerechtigkeit wesentlich, dass Gerechtigkeit
etwas für alle Menschen, die sie betrifft, gutes sei, ja sein muss; dass sie nicht etwas
sein kann, was für einige gut, aber deshalb für andere schlecht ist. Denn wenn zwar
für die einen das, was sie gerecht nennen, gut ist, dadurch aber für andere gerade
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 87

nicht gut, dann geht es nicht wirklich gerecht zu (Baier 1995, S. 326 f.; Rawls 1992;
Tugendhat 1993, S. 364 f.).
Die genannten Leitfragen aller Moral decken sich aber nicht völlig mit der
folgenden Frage, die ein spezifisch modernes (nämlich »universalistisches« i. S. von:
an alle moralisch zurechenbaren Handlungssubjekte gerichtetes) Verständnis des-
sen ausdrückt, was es bedeutet, ernsthaft moralische Urteile zu fällen: (3) Was ist
richtig oder falsch, wenn die Frage ist, wie sich jeder x-beliebige Mensch zu
anderen soll verhalten dürfen und wie nicht? Seit der westlich-modernen Aufklä-
rung schiebt sich diese dritte Frage, die zwei anderen reformulierend und modifi-
zierend, in den Vordergrund unserer Moralauffassung. (Zur Bedeutung dieses
Aufstiegs siehe systematisch Apel 1976 und 2001, Habermas 1996, Scanlon 1998,
historisch siehe Becker 1992 und Ilting 1983.) Alle nachhaltig bekannten Moralre-
geln (z. B. »Du sollst nicht töten«, »Was jemandem gehört, soll niemand ihm
einfach wegnehmen dürfen«, »Lügen ist moralisch verboten«, »Unnötiges Leid
zufügen ist verwerflich«, »Notleidenden nach Kräften zu helfen ist gut«, »Die
Würde jedes Menschen muss respektiert werden«) können wir als inhaltsvolle
Antwortversuche auf die Herausforderung begreifen, die in der dritten Frage
ausgedrückt ist. Wenn kein Gott Autor der Moral ist, dann sind Moralregeln nicht
mehr anders zu begreifen denn als in Moralgemeinschaften sozialkonstruktiv
entwickelte und festgelegte Antwortversuche auf die dritte Frage, also unter dem
Gesichtspunkt, dass wir in der Regel die im Zusammenleben von Menschen
jederzeit möglichen (und nie eliminierbaren) Übel möglichst zu verringern versu-
chen wollen (Gert 1998, S. 344; genauer betrachtet kann es sich freilich nicht um
irgendwelche Übel handeln, sondern nur um moral-relative, d. h. nur bei Zugrun-
delegung einer bestimmten Moral identifizierbare und bewertbare, Übel. Ein Übel
oder Gut ist nicht unmittelbar ein moralisches Übel oder Gut.).
Lässt sich Moral neutral definieren? Angesichts der historischen und kulturellen
Vielfalt von Auffassungen der Menschen über das, was sie als »die eine« oder als
»ihre Moral« hochhalten (oder als »die Moral der anderen« abwerten), ist die
Bestimmung eines strukturellen Moralbegriffs ein wichtiges Problem der Meta-
ethik: Wie können wir Fragen der empirisch offenen und nichtpräjudizierenden
Beschreibung moralischer Codes von Fragen der Rechtfertigung (Begründung)
bestimmter moralischer Ansprüche oder Überzeugungen so trennen, dass wir
beide Sorten von Fragen nicht schon durch Zugrundelegung einer bestimmten, von
uns favorisierten Moral vorentschieden haben? (Ladd 1957; Gert 1998) In der
analytischen Metaethik der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts trat durch die
scheinbar unüberwindliche Schwierigkeit, wie Moral überhaupt zu definieren sei,
ohne eine bestimmte Moral vorauszusetzen und dadurch per definitionem und
somit unzulässig vorurteilsvoll zu privilegieren, eine jahrzehntelange Selbstläh-
mung ein. Dieses Neutralitätsproblem (der Ethik und Metaethik) löst sich aber als
Scheinproblem auf, wenn man zweierlei beherzigt: Die Beschreibungsfrage kann
empirisch-hermeneutisch angegangen werden. Die Daten sind dann das, was kom-
petente Sprecher für ihre Moral halten, und die Abgrenzungen, wer und wer nicht
als kompetent gilt, nehmen sie ebenfalls selbst vor. Die induktive Moralbeschrei-
bung bleibt erfahrungsoffen, revidierbar, modifizierbar. Die Rechtfertigungsfrage
88 Matthias Kettner

hingegen kann strikt normativ-reflexiv angegangen werden. Eine normative Diffe-


renz, gegenüber wem und wie sich Moralurteile im Rahmen einer Moral M1
rechtfertigen lassen sollen, und gegenüber wem und wie sie sich »eigentlich«
rechtfertigen lassen sollten, kann dann immer nur im Rahmen einer Moral M2
behauptet werden, die natürlich ihrerseits sich kritisch befragen lassen muss,
gegenüber wem und wie es sich im Rahmen von M2 rechtfertigen lässt, wenn mit
der Behauptung jener Differenz irgendwelche normativen Konsequenzen ver-
bunden werden (z. B. die Abwertung von M1 als »eine primitive Gruppenmoral«
oder die Aufwertung von M2 als »moderne postkonventionelle Moral«).
Eine andere und bequemere, aber unhaltbare Lösung des Moraldefinitions-
problems suggeriert die unter rationalistischen Ethikern beliebte Rede von »dem
Gesichtspunkt« oder »der Perspektive« der Moral (The moral point of view, Baier
1958). Diese metaethische Begriffsbildung wird dogmatisch oder zirkulär, sobald
bestimmte Züge derjenigen Moralauffassung, von der »die Perspektive der Moral«
abgelesen wird, in den Rang von Demarkationskriterien von Moral gegen Nicht-
moral (wie Recht, Etiquette, Klugheit, Ästhetik, Religion) erhoben werden (Wil-
liams 1999). Solche Züge können sein: Universalismus (vs. Partikularismus);
Pflichtförmigkeit des Moralischen (vs. Tugendförmigkeit des Moralischen); Grün-
dung des moralischen Sollens auf Vernunft (vs. auf Emotionen oder »Werterfah-
rung«, Düwell 1999, S. 161 f.); Vorrang des normativen Modus von Verboten (vs.
Vorrang von Erlaubnissen oder Geboten); Vorrang des Richtigen/Gerechten vor
dem Guten/Tugendhaften; Sorge-für-Andere (vs. Selbstsorge); Unparteilichkeit (vs.
beziehungsspezifische Loyalitäten); Konkurrenzlosigkeit (»overridingness«) mora-
lisch guter Gründe, wo diesen in einer Entscheidungssituation Gründe anderer Art
entgegenstehen könnten. Der Begriff einer Moral überhaupt sollte derlei Unter-
scheidungen Raum bieten, ohne jeweils eine Seite der Unterscheidung bereits
auszuzeichnen.
Moral als Fähigkeit zur Mitbetroffenheit. Hinreichend offen wird die »Mo-
ralperspektive« erst dann begriffen, wenn damit eine komplexe Fähigkeit gemeint
ist, die in der Kommunikations- und Interaktionsgemeinschaft von Menschen
normalerweise entwickelt wird: Die Fähigkeit, (1) repräsentativ ernstzunehmen,
wie (2) Handlungsaktivitäten von Menschen (3) in einem Bereich, für den sie als
zuständig gelten, (4) zum Guten oder Schlechten (5) aller Wesen ausschlagen, die
diesbezüglich zählen sollen.
Die so strukturierte Fähigkeit können wir als Mitbetroffenheit bezeichnen.
Worauf stützt sich diese Beschreibung? Soweit wir wissen, enthält jede Moralauf-
fassung Abgrenzungen, um bestimmte Bereiche von Objekten zu bilden, auf die,
soweit sich zurechnungsfähige Subjekte zu ihnen verhalten, in moralischem Sinne
Rücksicht genommen werden soll: Status- oder Anspruchsgruppen von Moral-
objekten (= 5). Auch wird jede Moralauffassung irgendwelche Wertstandards
enthalten, die bestimmbar machen, ob und inwieweit Moralobjekte durch Ak-
tivitäten, die sie betreffen, besser oder schlechter gestellt werden: ob und inwieweit
es für sie zuträglich oder abträglich, schädigend oder nützlich, gut oder übel ist,
wie sie behandelt werden (= 4). Damit die Moralsubjekte B und C das Mo-
ralsubjekt A für etwas moralisch verantwortlich machen können, genügt es nicht,
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 89

dass etwas geschehen ist, was für A, B, und C als moralisches Unrecht (oder auch
als etwas moralisch Gutes) zählt. Es genügt auch nicht, dass A für das Geschehen
irgendwie kausal eine wesentliche Rolle gespielt hat. Vielmehr muss A anerkann-
termaßen dafür zuständig sein, das Geschehen (bzw. das, was moralisch relevant
daran ist) zu kontrollieren. Mit den Grenzlinien der Zuständigkeit kovariieren
auch die Rechenschaftspflichten, die man den zuständig gemachten Subjekten
auferlegen kann (= 3). Für welches Spektrum von Aktivititäten kann ein Mo-
ralsubjekt zuständig und deshalb im Prinzip auch moralisch rechenschaftspflichtig
sein? Klarerweise gehören zu dieser Menge alle Verhaltensweisen, zu denen Perso-
nen sich frei (willentlich, absichtlich) entscheiden können. Aber es ist keineswegs
in allen Moralauffassungen so, dass man sich lediglich für das, was man tut – im
Sinne des unmittelbaren Ausführens einzelner Handlungen – verantwortlich hält
oder gehalten wird. Vielmehr kann A moralisch verantwortlich gemacht werden
für alles, was A wenigstens in einem gewissen Ausmaß von sich aus zu kon-
trollieren vermag (z. B. auch welche Wünsche man hegt, welche Vorlieben und
Abneigungen man aufbaut, welche Gewohnheiten man entwickelt, welche Ein-
stellungen man kultiviert oder aufgibt) (= 2).
Dass man sich mit einer Moralauffassung identifiziert (sich von ihr leiten lässt,
ihr folgt, »ihr gemäß lebt« usw.) beinhaltet unmittelbar, dass man etwas ernst-
nimmt. Ernstnehmen ist nicht auf Kennen oder Wissen reduzierbar sondern enthält
zudem ein »volitives« Moment: Wer moralisch (statt unmoralisch oder amoralisch)
sein will, will etwas – und zudem hält er dies, moralisch sein zu wollen, für richtig
und wichtig. Dass ein Moralsubjekt es auch für richtig (und nicht bloß für wichtig)
hält, was es will, zeigt an, dass moralisches Ernstnehmen neben dem volitiven
zugleich immer auch ein »kognitives« Moment enthält. Denn wo unter Menschen
ein Sinn für Richtigkeit gepflegt wird, bilden sich auch diesbezügliche Urteils-
praktiken; aber ohne Kognition, d. h. erkennendes Denken, keine Urteilspraktiken.
Praktiken des moralischen Urteilens wiederum vermitteln die Wichtigkeit, die
Moralakteure ihrer Moralauffassung geben (und nicht nur die Richtigkeit, von der
sie überzeugt sind): Praktiken des moralischen Urteilens werden symbolisch-
expressiv zu Vehikeln für Billigung und Missbilligung, Lob und Tadel, Hoch-
schätzung und Verachtung. Die Wichtigkeit ihrer Moralansprüche erscheint den
Moralsubjekten zugleich als ein Ausdruck dessen, dass auch andere Moralsubjekte
– gleich ihnen – diese Ansprüche an das Handeln anderer – und an sich selbst –
stellen. Sie werden in Gemeinschaft mit anderen ernstgenommen, Wichtigkeit
erscheint darum als Allgemeinverbindlichkeit (= 1). (Allgemeinverbindlichkeit be-
zieht sich auf eine wirkliche oder angenommene Wir-Gemeinschaft, doch würde
man die Moral fehlerhaft beschreiben, wenn man behaupten wollte, in jeder
Moralgemeinschaft falle deren Wir mit demjenigen unbestimmten und maximalen
Wir zusammen, an das man denkt, wenn man eine Behauptungen über alle mögli-
chen Moralen aufstellt.)
Fassen wir das repräsentative Ernstnehmen noch genauer. Das Ernstnehmen
verteilt sich auf die Mitglieder einer Moralgemeinschaft: In der Gemeinschaft wird
von jedem Einzelnen qua Mitglied der Gemeinschaft gegenüber sich selber sowie
gegenüber anderen qua Mitgliedern der Gemeinschaft, etwas ernstgenommen. A
90 Matthias Kettner

will, dass alle anderen (B, C, …) sich an etwas halten weil sie (B, C, …) wollen, dass
alle anderen (inklusive A) sich daran halten. So ist dieser wie jener und einer so gut
wie ein anderer ein »Repräsentant« ihrer Moralgemeinschaft: A wie B wie C … ist
»Repräsentant« einer Menge von Moraladdressaten, die sich als die Adressaten
derselben Moral M anerkennen. Dass moralische Anforderungen »repräsentativ«
ernstgenommen werden heißt deshalb auch, dass es Akteur A nicht egal ist, wie B
C behandelt, und zwar auch dann nicht, wenn A faktisch gar nicht von Bs
Verhalten betroffen ist.
Ist eine Moral M erst einmal intra- und interpersonell »internalisiert«, dann
zahlt eine Person, die missachtet, was unter den Adressaten von M repräsentativ
ernstgenommen werden sollte, hierfür einen Preis, sei es in Form von Furcht,
Scham, Schuld oder Beeinträchtigung der Selbstachtung oder der Wertschätzung
seitens anderer Mitglieder ihrer Moralgemeinschaft. Der oben beschriebene struk-
turelle Fähigkeitsbegriff der »Perspektive der Moral« ist aber so allgemein ange-
setzt, dass die bestimmte Rücksichtnahme auf die Berücksichtigungsansprüche
anderer etwas ist, was sich zwar normalerweise in Gemeinschaften von natürlichen
menschlichen Personen verkörpert, strukturanalog aber auch in Verantwortungs-
trägern anderer Art realisiert sein kann, deren Akteurqualitäten nicht die von
natürlichen menschlichen Personen sind, z. B. in Organisationen (Wieland 2001).

3.2. Angewandte Ethik mit emanzipatorischem Selbstverständnis


Von der herkömmlichen philosophischen Ethik hat sich seit drei Jahrzehnten die
»angewandte« oder »praktische« Ethik abgesetzt. (Wie diese Absetzbewegung als
Ausdifferenzierung begriffen werden kann, habe ich andernorts, Kettner 1992,
dargestellt.) Als »angewandte Ethik« firmieren alle Versuche, normative, in philo-
sophischen Begründungsdiskursen rechtfertigbare Moraltheorien in bestimmten
Praxisbereichen zu verwenden oder so verwendbare Moraltheorien zu entwickeln,
um Problemlagen, die dort typisch anfallen und eine moralisch irritierende Seite
haben, besser, und zwar in einem moralisch qualifizierten Sinne von »besser«, zu
bewältigen. Angewandte Ethik will moralische Orientierung im konkreten Einzel-
fall gewinnen (»im Einzelnen«) oder, wenn nicht dies, dann zumindest in be-
stimmten Klassen von konkreten Einzelfällen (»im Besonderen«). Die traditionelle
»reine« Ethik hingegen sucht moralische Orientierung unter gezielten Abstrak-
tionen von konkreten Problemsituationen, d. h. sie sucht sie allein im abstrakt
Allgemeinen.
Ob Versuche, moralisch relevante normative Texturen durch intelligente Inan-
spruchnahme moralischer Vernunft zu verbessern, in eine emanzipatorische, kon-
servative oder restaurative Richtung gehen, hängt freilich von den leitenden Moral-
vorstellungen der angewandten Ethik selbst ab. Nur wenn sich das moralisch
Bessere, für das sie sich einsetzt, zugleich als ein Beitrag im weiteren Engagement
zur Herstellung vernünftigerer Lebverhältnisse begreifen lässt, ist die Moder-
nisierung des moralischen Engagements, die die angewandte Ethik betreibt, eman-
zipatorisch.
Zwischen einer emanzipatorisch angewandten Ethik und den fünf Momenten
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 91

kritischer Theorie, die im vorigen Abschnitt herausgearbeitet wurden, bestehen


Entsprechungen. Auf diese konzentriere ich mich im Folgenden.
(1) Angewandte Ethik ist keine frei stehende und kontemplative, sondern eine
engagierte und transformative Theorie. Sie wird sinnlos im bestimmten Fall in dem
Maße, wie die Prämisse der Gestaltbarkeit normativer Texturen (und somit: nor-
mativ regulierter Praxis) im bestimmten Fall nicht aufrechterhalten werden kann.
Die Unverzichtbarkeit dieser Prämisse, die die angewandte Ethik mit der kriti-
schen Theorie teilt, ist Ausdruck derselben Bedingung, die moralisches Verhalten
überhaupt möglich macht, die Bedingung des Bestehens eines ausfüllbaren Spiel-
raums der Autonomie.
Die interventionistische Verwendung moralischen Denkens in der angewandten
Ethik – eine Form diskursiver Macht – ist ein praktisches, kein »rein theoretisches«
Verhältnis. So bedarf es offenbar seinerseits einer moralischen Normierung, wenn
denn angewandte Ethik angewandte Ethik sein soll. Den Aktorinstanzen ange-
wandter Ethik fällt daher (ob sie dies wahrhaben oder nicht) eine spezifische,
nämlich moralreflexive Verantwortung zu. Dieser Verantwortung gerecht zu wer-
den erfordert eine bis ins theoretische Selbstverständnis angewandter Ethik selbst
hinein verlängerte Sensibilität für die – nur um den Preis von Hegemonialität oder
Moralpaternalismus reduzierbare – Vielfältigkeit von Moralvorstellungen, und zu-
gleich Widerstand gegen jede Form von Kontextrelativismus, der irgendwelche
geltenden normativen Texturen, nur weil sie die lokal geltenden sind, affirmieren
würde. Sie kann dies, wenn sie sich als eine überformende, transformative Ethik
zweiter Stufe begreift, die für die Steigerung der Diskursivierungschancen ange-
sichts von bereits konfliktiv gewordenen moralisch-normativen Texturen sorgt: im
Medium »moralischer Diskurse«. (Den Begriff eines »moralischen Diskurses«, der
die Tatsache berücksichtigt, dass auch die diskursrationale argumentative Ausei-
nandersetzung eine Form der Verwendung diskursiver Macht ist, habe ich andern-
orts begründet, Kettner 1999.)
Wenn angewandte Ethik Diskursivierungschancen, die in den vorhandenen (und
konfligierenden) moralischen Vorstellungen in bestimmten Praxisbereichen schon
angelegt sind, nicht hegemonial verknappen will, muss eine emanzipatorisch ange-
wandte Ethik die folgende, als Frage ausgedrückte Rationalitätsbedingung be-
achten, die die beiden angesprochenen Seiten der moralreflexiven Verantwortung
berücksichtigt: Wie können bestimmte Moralvorstellungen, die in den normativen
Texturen eines Praxisbereichs, wie konfliktiv auch immer, bereits gegeben sind, mit
einer bestimmten Moralvorstellung, die aus der Sicht einer Anwendungskonzep-
tion die »richtige« wäre, um die moralischen Verhältnisse in dem betreffenden
Praxisbereich zu verbessern, so zusammengebracht werden, dass nicht neue und
womöglich sogar moralisch irritierendere Problemlagen entstehen?
Nur bei Annahme dieser moralreflexiven Verantwortung nämlich ist die Verän-
derung von Moral selber moralisierbar und ohne diese Weiterführbarkeit der
Reflexion wäre die absichtliche Veränderung von Moral nicht kritisierbar und
somit auch nicht vernünftig gestaltbar. Hieraus erhellen zwei weitere Strukturähn-
lichkeiten mit der Programmatik einer kritischen Theorie, nämlich die holistische
Betrachtungsweise und der Rekurs auf einen materialen Vernunftbegriff, der mit
generalisierbaren Emanzipationsinteressen intern verknüpft ist:
92 Matthias Kettner

(2) Angewandte Ethik interveniert in normative Texturen. Sie modelt sie um,
macht sie zum Gegenstand von Reformen. Aber dass einzelne Normen traktiert
(identifiziert, respezifiziert, begründet, angewendet etc.) werden können, darf nicht
darüber täuschen, dass die eigentliche Angriffsfläche für die Rationalisierung zum
moralisch Besseren, die von angewandter Ethik anvisiert wird, keineswegs je
einzelne, gleichsam diskrete Normen sind. Direkte Angriffsflächen angewandter
Ethik sind vielmehr die normativen Texturen bestimmter, problematisch gewor-
dener Praxisbereiche, in denen die Quellen moralischer Irritation ausfindig ge-
macht werden. Indirekt sind es alle, wie entlegen auch immer scheinenden norma-
tiven Texturen, auf die die durch die Intervention bedingten Veränderungen mora-
lisch bedeutsame Auswirkungen haben. Ein medizinethisches Beispiel ist die Dere-
gulierung der Praktiken vorgeburtlicher Diagnostik. Sie wirkt sich auch an
entlegeneren »Orten« aus, im System der Krankenversicherung etwa so, dass für
Personen mit bestimmten Behinderungen der Genuss bestimmter Schutzleistungen
erschwert wird (Baumann-Hölzle & Kind 1998).
Ethikanwendungskonzeptionen, die sich reaktiv und vollständig von vorgege-
benen eingezirkelten Problemstellungen abhängig machen und deren Genese sich
nicht in größeren zeitlichen und gesellschaftlichen Zusammenhängen rekonstru-
ieren können, sind in eben dem Maße borniert und für die Affirmation des
Bestehenden anfällig. (Vgl. die kritische Diskussion von Peter Singers Anwen-
dungsmodell »praktischer Ethik« bei Schelkshorn 1999.) Allerdings finden gesell-
schaftstheoretische Überlegungen bisher noch viel zu wenig Aufnahme innerhalb
der angewandten Ethik. (Für Ansätze bezüglich der Bioethik s. Daedalus 1999.)
Das Verhältnis des primär handlungstheoretisch orientierten Denkens angewandter
Ethik zu dem primär systemtheoretisch orientierten Denken der vorherrschenden
Makro-Sozialtheorie wird als antithetisch wahrgenommen. Diese Wahrnehmung
ist nicht falsch, aber unvollständig, denn eine Vermittlung durch den Begriff
moralischer Mit-Verantwortung (für die systemische Organisierung und Verteilung
von konkreteren Verantwortlichkeiten) ist durchaus möglich (Apel 2000).
(3) Die Situierung der eigenen Aktivität (= des Versuchs, moralisch relevante
normative Texturen durch intelligente Inanspruchnahme moralischer Vernunft zu
verbessern) in einer demokratischen politischen Gemeinschaft braucht heute in
immer weniger Hinsichten die Grenzen des Staatsterritoriums mit den Grenzen
dieser Gemeinschaft zu identifizieren. Das legt für Akteure emanzipatorisch ange-
wandter Ethik einen bestimmten normativen Rahmen nah, in dem die eigene
Aktivität angemessener verstanden werden kann als in einem anderen Rahmen: In
modernen Demokratien sind die Aktivitäten angewandter Ethik zivilgesellschaft-
liche Aktivitäten und die Akteure der angewandten Ethik müssen den Anspruch
erheben, demokratisch gültig zu sein. Angewandte Ethik ist eine historisch neue
zivilgesellschaftliche Aktivität, eine kulturelle Erfindung der Bürgergesellschaft.
Von einigen anderen Aktivitäten dieser Art (etwa den sogenannten »neuen sozialen
Bewegungen«) unterscheidet sie sich nicht unwesentlich durch die Besonderheit,
dass sie überwiegend von Mitgliedern von Professionen getragen wird, und zwar
von Professionen im soziologisch engen Begriff, also von Geistlichen, Ärzten,
Juristen, Wissenschaftlern und Hochschullehrern. Die Göttinger »Akademie für
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 93

Ethik in der Medizin«, das Tübinger »Interfakultäre Zentrum für Ethik in den
Wissenschaften«, die »Europäische Akademie zur Erforschung von Folgen wissen-
schaftlich-technischer Entwicklungen«, das Bonner »Institut für Wissenschaft und
Ethik« in Deutschland, in den Vereinigten Staaten Institute wie das »Hastings
Center« und das »Kennedy Institute of Ethics« können wir idealtypisch, d. h.
ungeachtet aller realen Größen- und sonstigen Unterschiede, in eine Reihe mit
Nichtregierungsorganisationen stellen, die im Bewusstsein euro-amerikanischer
Öffentlichkeiten als besonders verdienstvoll (oder besonders skandalös) wahr-
genommen werden, z. B. »Amnesty International«, »Greenpeace«, »Care«, »Ox-
fam«, »Ärzte gegen den Atomtod«, »Germanwatch« usw.
Das Theorie-Engagement angewandter Ethik muss sich zumindest regulativ auf
normativ universalistische Gründe zu seiner Rechtfertigung stützen. Denn ange-
wandte Ethik muss ihre Aktivitäten unter verschiedenen Geltungsansprüchen kriti-
sierbar und rechtfertigbar halten, kann dies infolge ihrer eigenen Globalisierungs-
tendenz aber gewiss nicht, wenn sie diese Geltungsansprüche zu lokal oder zu
idealistisch ansetzt. Auflösbar ist dieses Dilemma, wenn im normativen Rahmen
angewandter Ethik auf zumindest einige normative Texturen zurückgegriffen wer-
den kann, die global allgemeinverbindlich sind. Die traditionelle Ethik, wo sie auf
normative Universalien abstellt, neigt dazu, nur normative Universalien exklusiv
moralischer Art zu suchen. Da sich solche Universalien schwer finden lassen, sogar
innerhalb einer vernunftmoralisch bereinigten Version der gängigen Moral, verlegt
sich in der traditionellen Ethik die Suche auf immer abstraktere normative Univer-
salien exklusiv moralischer Art. Kants kategorischer Imperativ ist ein Beispiel. Man
kann aber auch – und diese Blickwendung hätte eine emanzipatorisch angewandte
Ethik zu vollziehen – die Voreinstellung, nur nach normativen Universalien exklu-
siv moralischer Art zu suchen, aufgeben. Dann wird der Blick frei für die Möglich-
keit normativer Universalien von polymorph-normativer Art – für Universalien,
die z. B. einen moralischen Geltungssinn und (mindestens einen) Geltungssinn
anderer, nicht moralischen Art vereinen. Die erklärten Menschenrechte sind global
allgemeinverbindlich. Und sie sind polynormative Universalien: die meisten Ele-
mente ihrer normativen Textur haben einen moralischen und juridischen Doppel-
wert. Und zumindest ihr moralischer normativer Anspruch (wenn nicht auch ihr
positiv rechtlicher normativer Anspruch) verbindet seinem Eigensinn nach alle
Menschen. Um das Dilemma zwischen dem Rekurs auf kommunitaristische oder
idealistisch-universalistische normative Quellen aufzulösen, wird sich der norma-
tive Rahmen einer emanzipatorisch angewandten Ethik, so meine These, auf
erklärte Menschenrechte und, da diese als Spezifikationen der Idee der Menschen-
würde zu begreifen sind, auf eine kritische Idee der Menschenwürde stützen. Die
Menschenrechte sind, unbeschadet ihres deontologischen, d. h. pflicht- und rechts-
förmigen normativen Formats, zugleich Ausdruck eines generalisierbaren Inte-
resses der Befreiung von vermeidenswerten Formen gravierend schlechten Lebens
– und insofern der vernünftige Ausdruck einer, wenngleich negativen, Idee des
guten Lebens aller Menschen.
(4) Auch zur Spannung der postkonventionellen Ortlosigkeit gibt es eine Ent-
sprechung im linken Flügel angewandter Ethik. Für postkonventionelle Moral-
94 Matthias Kettner

theorien ist die Frage, ob sie moralreflexiv angelegt sind, wesentlich. Denn ange-
sichts einer nahezu ausschließlich konventionell moralisch verfaßten Lebenswelt ist
von vornherein mit Blick auf die handelnden Personen davon auszugehen, dass
gewisse (persönlichkeits- und sozialpsychologische) Anwendungsbedingungen der
Theorie in der vorherrschenden Wirklichkeit nicht erfüllt sind. Eine nicht moralre-
flexiv angelegte postkonventionelle Moraltheorie (wie etwa die Kantische) ist dann
bezogen auf jene Bereiche ignorant, d. h. hält sich für zuständig, ist aber in
Wirklichkeit irrelevant, oder rigide, d. h. sie verhält sich bezogen auf jene Bereiche
gesinnungsethisch.
Zur im Vergleich zur herkömmlichen Ethik weitergehenden Reflexion innerhalb
der angewandten Ethik gehört auch, dass die angewandte Ethik, anders als der
philosophische Rechtfertigungsdiskurs über normative Grundtheorien, Anwen-
dungsbedingungen reflektieren muss, die durch die tatsächliche Verfassung be-
stimmter Praxisbereiche vorgegeben sind und sich der moralischen Legislation
entziehen, jedenfalls dann noch entziehen, wenn die angewandte Ethik die Bühne
des betreffenden Praxisbereiches betritt. Das erfordert dann für die angewandte
Ethik eine Reflexion auf – für normative Theorien ja unerlässliche – Idealisierun-
gen. Die in die Anwendung hinein verlängerte Arbeit normativer Moraltheorie ist
also keineswegs erledigt, wenn sie ein Verfahren angibt, mit dem bestimmt werden
kann, was die gültigen moralischen Sollensforderungen wären in einer möglichen
Welt von Vernunftwesen, die mit idealer Rationalität und vollkommen freiem
Willen vorgestellt werden, wie in der traditionellen rationalistischen Ethik. Sie
muss vielmehr Verfahren angeben, um gültige moralische Sollensforderungen auf-
zuweisen für Adressaten, die als konkrete Personen Handelnde in ganz bestimmten
Praxisbereichen der wirklichen Welt sind.
Oben wurde auf die besondere Schwierigkeit hingewiesen, eine immanent kriti-
sche Aktivität auf Ideen des guten Lebens, in denen sich wertrationale Ansprüche
bündeln, zu gründen, da solche Ansprüche heute immer fragmentierter, unver-
bindlicher, eingeschränkter, privater zu werden scheinen. Hinzu kommt das Prob-
lem, dass ein leider verbreitetes Missverständnis des begründungstheoretischen
Verhältnisses von Normen und Werten das ethische Vorurteil nährt, postkon-
ventionelles (d. h. über die auf Erhaltung des Bestehenden bezogenen moralischen
Überzeugungen hinausgehendes) moralisches Bewusstsein finde in wertrationalen
Ansprüchen keine Verankerung sondern nur in verallgemeinerbaren Normen.
Übersehen wird dabei, dass verallgemeinerbare Normen verallgemeinerbare Werte
zur Geltung bringen. In den beiden wichtigsten Bereichen angewandter Ethik
jedenfalls bleiben starke wertrationale und zugleich verallgemeinerbare Ansprüche,
an denen die immanente Kritik ansetzen kann, erhalten. Für die Bioethik ist dies
vor allem der wertrationale Anspruch auf Gesunderhaltung, Krankheitsprävention
und -heilung. Gesundheit ist ein universaler formaler Wert. Für die Wirtschafts-
ethik kann emanzipatorisch angewandte Ethik ebenfalls einen universalen formalen
Wert artikulieren: In vernünftigen Verhältnissen würde das Wirtschaftssystem die
(wie auch immer kulturell überformten) universal-humanen Lebensgrundlagen
sichern und überdies zu einer (wie auch immer kulturell und persönlich ausge-
richteten) erfüllten Lebensführung beitragen (vgl. Ulrich 1997, S. 209–234).
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 95

3. Ansätze einer kritischen Theorie der angewandten Ethik

Die letzte Entsprechung zwischen der Programmatik einer kritischen Theorie und
der Programmatik einer emanzipatorisch angewandten Ethik, die ich hier hervor-
heben möchte, liegt in der Inanspruchnahme von Formen immanenter Kritik,
besonders von Ideologiekritik. Da die angewandte Ethik in bestehende normative
Texturen interveniert, um die durch sie regulierten Praktiken in einem ausweisba-
ren Sinne von »besser« moralisch zu verbessern, erscheinen ihre »Diskurse« als
eine Macht in einem Terrain, in dem sich vielfältige Formen von Macht über-
kreuzen. Ethischer Interventionismus kann ebenso der Verhärtung des Bestehen-
den dienen wie der Emanzipation von vermeintlichen Sachzwängen und unnötig
repressiven moralischen Traditionen. Angewandte Ethik, die sich am Programm
einer kritischen Theorie orientieren will, muss daher die soziale Bedeutung (d. h.
die gedankliche Formation, die Interessen und Konsequenzen) von angewandter
Ethik, die soziale Bedeutung ihrer eigenen Aktivität, ideologiekritisch themati-
sieren.
Oben wurden acht Kriterien (K1–8) beschrieben, die Anhaltspunkte für die
ideologiekritische Deutung sozialer Bedeutungen im Rahmen einer kritischen
Theorie darstellen. Eine entfaltete kritische Theorie der Moral in der Gesellschaft
hätte zu erproben, wieweit sich die Entstehungsgeschichte der angewandten Ethik
auch als eine Auseinandersetzung mit moralischen Ideologemen erzählen lässt, in
deren Verlauf aber auch immer wieder neue moralische Ideologeme produziert
werden (z. B. die Ideologeme der »Patientenautonomie« und des »republikanischen
Wirtschaftsbürgers«). Angewandte Ethik muss sich selbstkritisch dem Verdacht
stellen, die Modernisierung des moralischen Engagements, die sie programmatisch
als Anwendung moralischer Reflexion betreibt, sei selbst nichts weiter als die
zeitgemäße Erscheinung von Ethik und Moral als Ideologie. Im Folgenden werde
ich einige Beispiele aus Bio- und Wirtschaftsethik geben, die wichtige Ansatzstellen
für die ideologiekritische Aktivität einer emanzipatorisch angewandten Ethik bie-
ten.
Eine folgenreiche Form der Konfundierungen von Prä- und Deskriptivität liegt
vor, wenn ein Zusammenhang, der normativ und gestaltbar ist, als ein »Sach-
zwang«, der kausal und unabänderlich ist, dargestellt wird. Ökonomischer Sach-
zwang ist eine für Wirtschaftsethik kritische Kategorie, weil sich am Verhältnis
eines wirtschaftsethischen Ansatzes zum ökonomischen Sachzwang der Platz be-
misst, den der Anspruch auf praktische Veränderungen in dem betreffenden Ansatz
haben kann. Herrscht kein Sachzwang, dürfen diese Ansprüche grandios, herrscht
nur Sachzwang, müssen sie resignativ ausfallen. Ökonomischer Sachzwang kann
zudem eine kritische Kategorie von wirtschaftsethischen Ansätzen sein, wo Sach-
zwangbehauptungen umstritten sind: wo umstritten ist, ob tatsächlich ein be-
stimmter Sachzwang in bestimmten Aktivitäten regiert oder fälschlich angenom-
men oder nur unaufrichtig behauptet wird. Ulrich (1997, S. 148) hat die Ein-
stellung, das »Gewinnprinzip« sei ein für das Wirtschaftssystem konstitutiver
Sachzwang, der die Moralisierbarkeit der Systemoperationen begrenzt, als den
Nerv ideologieunkritischer Wirtschaftsethik offenlegt. Ulrich will die – gewiss oft
96 Matthias Kettner

nur defensiv oder grundlos vorgebrachte, insofern zu Recht zu kritisierende –


Behauptung von der Unmöglichkeit moralischen Handelns unter den Sachzwängen
des Wettbewerbs ideologiekritisch entziffern als ein durchgängig normatives Prob-
lem, nämlich als Konflikt verschiedener normativer Geltungsansprüche (vgl. hierzu
Kettner 2001).
Konfundierungen von analytischen (= begrifflich geschlossenen) und empiri-
schen (= erfahrungsoffenen) Aussagen begegnen wir im Diskurs der angewandten
Ethik oft dort, wo durch gezielte semantische Erfindungen die Diskursivierungs-
chancen für moralische Problemwahrnehmungen verändert werden. Bioethische
Beispiele sind die Einführung der Unterscheidung von Embryonen und »Prä-
Embryonen« und die Einführung der Unterscheidung von Herztod und »Hirn-
tod«.
Plausibilität und Gewissheit werden oft konfundiert im sogenannten Argument
von der schiefen Bahn (»slippery slope«). Dass z. B. die neue niederländische Praxis
aktiver ärztlich assistierter Euthanasie zu einem sozialen Klima der Resignation für
alte und kranke Menschen führe, ist eine nicht unplausible Vermutung, die aber
von vielen Gegnern dieser Praxis schon für Gewissheit gehalten wird.
Schwerwiegenden Objektivierungsfehlern (= die Umdeutung eines sozialen in
ein angeblich natürliches Phänomen) begegnen wir innerhalb der Bioethik derzeit
vor allem im Zusammenhang einer Entwicklung, die man nicht unpassend als die
Genetifizierung des Menschenbildes bezeichnet hat. Durch die gewaltigen Fort-
schritte der molekulargenetischen Aufklärung nähern wir uns einem Punkt in der
Medizin, wo die lebensgeschichtliche Schicksalhaftigkeit individueller Krankheit
durchbrochen und durchsichtig gemacht werden kann. Das verändert zuinnerst
unsere überkommenen Begriffe von Krankheit, Gesundheit und der auf beide
bezogenen Eigenverantwortung der Einzelnen. Die schon absehbaren Folgen für
das Versicherungswesen, für Arbeitsverhältnisse und für die Planung des privaten
Lebens sind gravierend. Während die einen die Heraufkunft einer neuen Epoche
medizinischen Könnens feiern, befürchten andere eine Veränderung der mensch-
lichen Selbstinterpretation, die mit Formeln wie der vom »genetischen Determinis-
mus« und vom »gläsernen Menschen« erst noch unzureichend umschrieben sind.
Molekulargenetisch charakterisierte Information über Individuen wandert in die
Grundlagen von Diagnose, Prognose und Bewertung von Krankheitsrisiken ein.
Sie erhebt die utopische Vision einer individuelle Erkrankungen und Gesundheits-
risiken voraussagenden, »prädiktiven« medizinischen Diagnostik in den Rang des
Machbaren. Gentests erfassen direkt die krankheitsauslösenden Mutationen be-
stimmter Gene. Tests mit gentechnischen Methoden sind aber keineswegs auf
genetisch bedingte Erbleiden beschränkt. So werden z. B. in der vorgeburtlichen
Diagnostik gewisse, während der Schwangerschaft gelegentlich auftretende gefähr-
liche Infektionskrankheiten – z. B. Röteln – zunehmend unter Verwendung von
molekulargenetischen Methoden diagnostiziert. Von der Umstellung auf Gentests
erwarten Mediziner immer bessere Antworten auf die beiden Leitfragen medi-
zinischer Diagnostik, welche Krankheit vorliegt oder eintreten wird, und wie sie
im Einzelfall verlaufen wird. Krankheit und Gesundheit werden im Zuge dieser
Entwicklung zunehmend als Eigenschaften eines einzelnen Organismus betrachtet,
Kritische Theorie und die Modernisierung des moralischen Engagements 97

statt als komplexer, soziale und kulturelle Bestimmungen einschließender Prozess


der Anpassung. Gesundheit ist aber weder nur ein Genprodukt noch nur das
Ergebnis instinktiven Verhaltens, sondern »autonomer, wenngleich kulturell ge-
formter Reaktionen auf eine sozial geschaffene Realität. Sie bezeichnet die Fähig-
keit, sich auf ein wechselndes Milieu einzustellen, erwachsen und älter zu werden,
im Fall einer Verletzung oder Krankheit zu gesunden, zu leiden und in Frieden den
Tod zu erwarten. Daneben begreift Gesundheit auch die Zukunft mit ein, daher
gehören zu ihr auch die Angst sowie die innere Kraft, mit ihr zu leben« (Illich
1973, S. 178).
Falsche Überzeugungen, die das partikulare Interesse einer Teilgruppe als All-
gemeininteresse oder als Orientierung am Gemeinwohl ausgeben, tauchen in der
angewandten Ethik vorwiegend in ihren Versuchen auf, das normative Selbst-
verständnis von Professionen zu artikulieren. Während die normative Infrastruktur
vieler Praxisbereiche heute so porös geworden ist, dass auf die Prätension, sie seien
an allgemein geteilte Moralprinzipien angebunden, ohne sichtbaren Schaden und
Vertrauensverlust verzichtet werden kann, gibt es doch einige Praxisbereiche von
großer sozialer Bedeutung, für die eine allzugroße normative Unbestimmtheit
dysfunktional wäre: Medizin, Rechtssystem, verschiedene professionelle Bereiche
wie die der Ingenieure oder des Militärs. Denn charakteristisch für solche Bereiche
ist, dass dort andauernd bestimmte Arten von Handlungen mit gewichtigen mora-
lisierbaren Konsequenzen anfallen und dass die Öffentlichkeit bestimmte idea-
lisierte und idealtypische Erwartungen an die Personen hat, die in solchen Berei-
chen handeln. Es ist daher in solchen Praxisbereichen wichtig, moralische Kre-
ditwürdigkeit und moralische Verantwortung zu signalisieren. Hierzu trägt eine
unkritisch angewandte Ethik bei, wenn sie bloß partikularen Ethiken, bloß profes-
sionsgebundenen Codices, bloß lokalen moralischen Selbstkontrollpraktiken die
höhere Weihe des Allgemeinen verleiht. So kann z. B. ein bestimmter Berufskodex
wie der hippokratische Eid der Ärzteschaft in medizinethischer Beleuchtung so
sehr als eine Spezifikation der reinen Moral erscheinen, dass aus dem Blick gerät,
wie eine solche Kodifikation den Machtinteressen einer bestimmten Berufsgruppe
dient.
Gegenüber Versuchen, wie sie sich vor allem in der Unternehmensethik finden,
an kapitalistischen Produktions- und Konsumtionsverhältnissen einseitig nur deren
freiheitssteigernde Konsequenzen hervorzuheben und zu übergehen, dass den
»Verbrauchern« wegen massiver Werbung und anderen Formen der Manipulation
nur geringe Chancen bleiben, ihre Bedürfnisse vernünftig zu klären und zu ar-
tikulieren, ist die Vermutung angebracht, dass sie zur Aufrechterhaltung von
Machtarrangements beitragen, die sich nicht rechtfertigen lassen.
Verbreitete Gewohnheiten der Kindererziehung, der Ernährung, des Konsums,
des Arbeits- und Freizeitverhaltens, von deren moralischer Richtigkeit viele Men-
schen überzeugt sind, rufen die Frage wach, ob wir sie auch dann noch anerkennen
und gutheißen würden, wenn wir den Entstehungsursachen dieser Gewohnheiten
und der damit einhergehenden Richtigkeitsüberzeugungen auf den Grund gehen
würden.
98 Matthias Kettner

4. Schluss

Die Darstellung von Ansatzstellen für eine ideologiekritische Reflexion angewand-


ter Ethik innerhalb der angewandten Ethik selber, die ich im vorigen Abschnitt
gegeben habe, ist sehr unvollständig. Gleichwohl kann sie verdeutlichen, wie die
Agenda einer emanzipatorisch angewandten Ethik aussehen würde, welche die
Modernisierung des moralischen Engagements nicht mehr nur als Anpassung der
Moral einer Gesellschaft an die jeweils bestehenden Machtverhältnisse betreiben
würde.
Mein Vorschlag, angewandte Ethik als eine zivilgesellschaftliche Aktivität zu
begreifen, bedarf der Ergänzung um eine genauere Darstellung der Heterogenität
der Selbstverständnisse innerhalb der angewandten Ethik selber. In Deutschland
hat bekanntlich nicht nur Bioethik Konjunktur, sondern auch Anti-Bioethik.
Davon wird der Hauptpunkt, um den es mir hier ging, aber nicht berührt:
Wenn die Programmatik einer kritischen Theorie der Gesellschaft noch Sinn
macht, dann auch die einer kritischen Theorie der Moral in der Gesellschaft. Ich
habe eine Selbstähnlichkeit von kritischer Theorie und angewandter Ethik unter
fünf Aspekten beschrieben. Zwischen traditioneller Ethik und jener »emanzipativ
angewandten Ethik«, deren Profil ich mit dieser Beschreibung schärfen will, be-
steht ein ähnliches Spannungsverhältnis wie zwischen traditioneller und kritischer
Theorie.

Literatur

Apel, Karl-Otto (1976): Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen
der Ethik, in: ders.: Transformation der Philosophie, Bd. 2, Frankfurt a. M., S. 358–435
– (2000): First Things First. Der Begriff primordialer Mit-Verantwortung, in: Apel, Karl-
Otto/Kettner, Matthias (Hg.): Angewandte Ethik als Politikum, Frankfurt a. M., S. 21–50
– (2001): The Response of Discourse Ethics, Leuven
Baier, Kurt (1958): The Moral Point of View, Ithaca, New York 1958
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Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus
Thomas Sablowski

Im Zentrum des durch Marx begründeten Projekts kritischer Gesellschaftstheorie


stand stets die Untersuchung der Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise
und der auf ihr beruhenden bürgerlichen Gesellschaft. Gegenstand der Kritik
mussten all jene Theorien sein, die die kapitalistische Produktionsweise als das
Ende der Geschichte, als das Optimum der gesellschaftlichen Entwicklung dar-
stellen. Die Vertreter kritischer Gesellschaftstheorie sind nicht so bequem, die
unablässige Folge von Krisen, Kriegen und sozialen Katastrophen, die die Ent-
wicklung des Kapitalismus bis in die Gegenwart begleitet haben, als etwas ihm
bloß Äußerliches und Zufälliges zu akzeptieren. In emanzipatorischer Absicht ging
es ihnen immer darum nachzuweisen, dass Krisen ein immanentes Merkmal der auf
Ausbeutung und Herrschaft gegründeten kapitalistischen Produktionsweise sind.
Bezeichnet der Ausdruck Krise ursprünglich in der Medizin den Wendepunkt einer
Krankheit, an dem über Heilung oder Tod entschieden wird, so sind auch für die
kritische Theorie Krisen relativ offene Situationen, die einerseits eine emanzipatori-
sche politische Umwälzung ermöglichen, andererseits aber auch mit der Regenerie-
rung kapitalistischer Reproduktion enden können.
Die enorme Fähigkeit des Kapitalismus, sich durch Krisen und qualitative
Veränderungen der gesellschaftlichen Institutionen hindurch zu reproduzieren, hat
die kritische Gesellschaftstheorie immer wieder selbst in die Krise gestürzt und
dazu gezwungen, sich auf eine veränderte Realität einzulassen. Dadurch wurde die
mit der Popularisierung kritischer Gesellschaftstheorie und ihrer Verankerung in
der Arbeiterbewegung und anderen sozialen Bewegungen einhergehende dogmati-
sche Erstarrung aufgebrochen und ein enormer Reichtum an begrifflichen In-
strumenten und konkreten Analysen hervorgebracht. Entgegen allen Versuchen, sie
für tot zu erklären, erweist sich kritische Theorie immer wieder als höchst leben-
dig. Dies zeigt sich nicht zuletzt im krisentheoretischen Denken.
Im Folgenden möchte ich versuchen, die Vielfalt krisentheoretischer Ansätze,
die Verschiebungen in den Fragestellungen, die Fortschritte in der Reflexion über
die Tradition kritischer Gesellschaftstheorie und einige der offenen Probleme
hinsichtlich der aktuellen Entwicklung des Kapitalismus deutlich zu machen. Die
Darstellung bezieht sich zunächst schwerpunktmäßig auf akkumulationstheoreti-
sche Fragen. Obgleich die kapitalistische Entwicklung letztlich nicht auf ihre
ökonomische Dimension zu reduzieren ist, steht diese doch im Vordergrund. Dies
beruht auf der Überzeugung, dass soziale und politische Entwicklungen und
Krisen zumeist eine ökonomische Grundlage haben. Gleichzeitig möchte ich aber
gerade durch die Diskussion der ökonomischen Zusammenhänge auch deutlich
machen, dass es nicht die eine ökonomische »Kapitallogik« gibt, aus der die
historische Entwicklung gleichsam abgeleitet werden kann.
Die moderne krisentheoretische Diskussion hat immer wieder auf Argumente
102 Thomas Sablowski

Bezug genommen, die von Marx in seinen verschiedenen Entwürfen der »Kritik
der politischen Ökonomie« entwickelt wurden. Es liegt daher nahe, einen Über-
blick über die Problemstellungen und Aussagen kritischer Gesellschaftstheorie
bezüglich der Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus mit einem
Rekurs auf Marx zu beginnen und die konkurrierenden krisentheoretischen An-
sätze zu skizzieren, die seine Nachfolger entwickelten. In einem weiteren Schritt
werde ich die Überlegungen der als Kritische Theorie im engeren Sinne bekannt
gewordenen Frankfurter Schule zur Transformation der bürgerlichen Gesellschaft
und zum Konzept des »Staatskapitalismus« darstellen. In einem dritten Schritt
werde ich die Regulationstheorie als einen neueren Ansatz einer nichtlinearen
Theorie kapitalistischer Entwicklung vorstellen und auf aktuelle Diskussionen zur
jüngsten Strukturkrise des Kapitalismus eingehen.

1. Krisentheoretische Ansätze bei Marx und im Marxismus

Marx stand vor einer doppelten Problemstellung: Einerseits wollte er durch die
Darstellung der langfristigen Entwicklungstendenzen der kapitalistischen Produk-
tionsweise zeigen, dass sie an immanente Schranken stößt, dass sie sich historisch
überlebt und dass ihre Überwindung im Interesse der Arbeiterklasse liegt. An-
dererseits ging es ihm darum, die periodischen Krisen als notwendiges, immanentes
Moment dieser Produktionsweise zu begreifen. Dabei ging Marx zunächst auch
von einem engen Zusammenhang von ökonomischer Krise und Revolution aus.
Nach der Niederlage der Revolution von 1848 resümierte er in Die Klassenkämpfe
in Frankreich: »Eine neue Revolution ist nur möglich im Gefolge einer neuen
Krisis. Sie ist aber auch ebenso sicher wie diese.« (MEW 7, S. 98) Marx hat zwar
keine ausgearbeitete Krisentheorie hinterlassen, aber eine Reihe von krisentheo-
retischen Ansätzen und Argumenten, deren Kohärenz und innerer Zusammenhang
seinen Nachfolgern freilich erhebliche Probleme bereitete (vgl. Itoh 1976; Heinrich
1999, S. 311–370).

1.1 Die Möglichkeit der Krise und die Dynamik des Kapitals
Die allgemeine Möglichkeit der Krise begründet Marx bereits im ersten Abschnitt
seines Hauptwerks Das Kapital, der sich mit der einfachen Warenzirkulation
befaßt. Marx kritisiert dabei bürgerliche politische Ökonomen wie Say, die die
Möglichkeit der Krise leugnen, indem sie von der Existenz des Geldes abstrahieren
und den Warentausch auf einen reinen Produktaustausch reduzieren:

»Nichts kann alberner sein als das Dogma, die Warenzirkulation bedinge ein notwendiges
Gleichgewicht der Verkäufe und Käufe, weil jeder Verkauf Kauf und vice versa. […] Keiner
kann verkaufen, ohne dass ein andrer kauft. Aber keiner braucht unmittelbar zu kaufen, weil
er selbst verkauft hat. Die Zirkulation sprengt die zeitlichen, örtlichen und individuellen
Schranken des Produktenaustausches ebendadurch, dass sie die hier vorhandne unmittelbare
Identität zwischen dem Austausch des eignen und dem Eintausch des fremden Arbeits-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 103

produkts in den Gegensatz von Verkauf und Kauf spaltet. Dass die selbständig einander
gegenübertretenden Prozesse eine innere Einheit bilden, heißt ebenso sehr, dass ihre innere
Einheit sich in äußeren Gegensätzen bewegt. Geht die äußerliche Verselbständigung der
innerlich Unselbständigen, weil einander ergänzenden, bis zu einem gewissen Punkt fort, so
macht sich die Einheit gewaltsam geltend durch eine – Krise.« (MEW 23, S. 127 f.)

Wie gelangt Marx nun im weiteren Verlauf seiner Darstellung über den Nachweis
der bloßen Möglichkeit von Krisen auf der Ebene der einfachen Warenzirkulation
hinaus? Zunächst geht er von einem inhärent dynamischen Kapitalbegriff aus. Die
kapitalistische Produktion ist demnach durch eine Verkehrung von Mittel und
Zweck gekennzeichnet. Die Tauschwertorientierung dominiert gegenüber der Ge-
brauchswertorientierung. Unmittelbares Ziel der Produktion ist nicht die indivi-
duelle Konsumtion, sondern die Verwertung des eingesetzten Kapitals, d. h. die
Maximierung des Profits, die den Akteuren als handlungsleitendes Motiv durch die
Konkurrenz aufgeherrscht wird. Damit dieses Ziel auf Dauer realisiert werden
kann, ist die ständige Reinvestition von Gewinnen, die Akkumulation des Kapitals
notwendig. Das Kapital ist ein endloser Verwertungsprozess; keine erreichte Ver-
wertung kann »ausreichend sein (und damit die Grundlage für ein Gleichgewichts-
modell abgeben), da es überhaupt kein Maß dafür gibt, was eine ausreichende
Verwertung ist. Diesem Kapitalbegriff entspricht die Tendenz zur Steigerung so-
wohl des Grades der Verwertung (d. h. Steigerung der Profitrate bzw. auf der
Ebene des unmittelbaren Produktionsprozesses der Mehrwertrate) als auch der
Größe des zu verwertenden Kapitals (d. h. der Akkumulation des erzielten Profits
sei es als Investition in produktives oder in zinstragendes Kapital)« (Heinrich 1999,
S. 314; Hervh. i. O.).
Maßstab für den Erfolg oder Misserfolg der einzelnen Kapitale und Leitgröße
des Akkumulationsprozesses ist die allgemeine Profitrate, d. h. die gesellschaftlich
produzierte Profitsumme im Verhältnis zum gesellschaftlichen Gesamtkapital.
Wenn man von der Kreditgeldschöpfung und Kreditfinanzierung absieht, wird die
Höhe der für die Akkumulation maximal zur Verfügung stehenden Mittel durch
den produzierten Profit bestimmt. Bei einem Rückgang der Profitrate wird es
daher normalerweise auch zu einem Sinken der Akkumulationsrate kommen, und
dies bedeutet auch eine Verminderung des Wachstums von Produktion und Be-
schäftigung. Für die konkrete Höhe der Investitionen sind die Profiterwartungen
ausschlaggebend. Bei einer gravierenden Verschlechterung der Profiterwartungen
und einer entsprechenden Einschränkung der Investitionstätigkeit kann es zu
einem absoluten Rückgang von Produktion und Beschäftigung, d. h. zu einer
akuten Krise kommen1. Aber wodurch wird die Bewegung der Profitrate be-
stimmt? Unter welchen Bedingungen kommt es zu einer Krise? Und welche

1 Die genauere Analyse des Zusammenhangs zwischen Profitrate und Akkumulation wirft
eine Reihe von Fragen auf, die an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden können: Sind
vergangene, gegenwärtige oder zukünftig erwartete Profite für die Akkumulation maß-
geblich? Welche Rolle spielt die Profitmasse im Verhältnis zur Profitrate (d. h. Ausweitung
der Profitmasse bei beschleunigter Akkumulation trotz sinkender Profitrate)? Welchen
Einfluß hat das Kreditsystem? (Vgl. dazu Priewe 1988, S. 33 f., S. 70 ff.)
104 Thomas Sablowski

Aussagen können über die langfristigen Entwicklungstendenzen der kapitalisti-


schen Produktionsweise gemacht werden?
Bei Marx und in der an ihn anschließenden Diskussion lassen sich diesbezüglich
drei verschiedene krisentheoretische Ansätze identifizieren: A) Das Gesetz des
tendenziellen Falls der Profitrate leitet aus der mit der Entwicklung der Produktiv-
kraft der Arbeit einhergehenden Erhöhung der Wertzusammensetzung des Kapi-
tals ein Sinken der allgemeinen Profitrate ab. B) Die sogenannte Profit-Squeeze-
Theorie hebt auf den Zusammenhang von Kapitalakkumulation, Arbeitsmarkt-
entwicklung, Klassenkampf und Einkommensverteilung ab und leitet ein Sinken
der Profitrate aus dem Steigen der Löhne bei Arbeitskräfteknappheit infolge
beschleunigter Akkumulation ab. C) Die Unterkonsumtionstheorie und die Dispro-
portionalitätskrisentheorie stellen auf Probleme bei der Realisierung des produ-
zierten Mehrwerts ab, fokussieren also eher den Zirkulationsprozess. Bei den
beiden erstgenannten Theoremen steht nicht die Überproduktion von Waren,
sondern die Überproduktion bzw. Überakkumulation von Kapital im Zentrum.
Alle Ansätze sind sowohl zur Erklärung zyklischer Krisen als auch zur Bestim-
mung längerfristiger Entwicklungstendenzen herangezogen worden.

1.2 Steigende Wertzusammensetzung des Kapitals, relative Übervölkerung und


tendenzieller Fall der Profitrate
Für Marx’ Darstellung der langfristigen Entwicklungstendenzen der kapitalisti-
schen Produktionsweise ist die Annahme einer steigenden Wertzusammensetzung
des Kapitals zentral, die er mit der wachsenden Arbeitsproduktivität begründet.
Marx nimmt an, dass der vermehrte Einsatz von Maschinerie die dominierende
Form der Senkung der Produktionskosten und der Steigerung der Produktivkraft
der Arbeit ist. Die ständigen technischen und organisatorischen Veränderungen des
Produktionsprozesses rücken damit in das Zentrum der Marxschen Kapitaltheorie,
während sie in gleichgewichtsorientierten ökonomischen Theorien aus der Be-
trachtung mehr oder weniger ausgeschlossen werden. Maschinerie wird zum
Zwecke der Kostensenkung eingeführt, wenn die damit verbundenen Mehraus-
gaben an »konstantem Kapital«, d. h. in Arbeitsmittel und Arbeitsgegenstände
investiertem Kapital, geringer ausfallen als die Einsparung an »variablem Kapital«,
d. h. in die Entlohnung der Arbeitskräfte investiertem Kapital. Die Einsparung von
Arbeitskräften durch Einsatz von Maschinerie (in Form der unmittelbaren Frei-
setzung von Arbeitskräften oder in Form eines größeren Produktionsausstosses bei
gleichbleibendem Arbeitseinsatz) führt unmittelbar zu einem Anwachsen des kon-
stanten Kapitals im Verhältnis zum variablen Kapital, d. h. zu einer steigenden
Wertzusammensetzung des Kapitals.
Allerdings sind die widersprüchlichen indirekten Wirkungen zu beachten, die
sich aus der gesellschaftlichen Verallgemeinerung dieser Veränderungen der Pro-
duktionstechnik ergeben. Die neuen Produktionsmethoden, die ja eine Erhöhung
der Arbeitsproduktivität mit sich bringen, führen einerseits zu einer Verbilligung
der Lebensmittel, die für die Reproduktion der Arbeitskräfte notwendig sind, d. h.
zu einer Senkung des Werts der Arbeitskraft, die wiederum in einer steigenden
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 105

Wertzusammensetzung des Kapitals resultiert. Andererseits führen sie zu einer


Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals, d. h. zu einer sinkenden Wert-
zusammensetzung des Kapitals. Um nun die Tendenz einer langfristig steigenden
Wertzusammensetzung des Kapitals zu begründen, müsste gezeigt werden, dass die
mit der Steigerung der Arbeitsproduktivität einhergehende Verbilligung der Ele-
mente des konstanten Kapitals die anderen Momente – unmittelbare Vermehrung
des konstanten Kapitals relativ zum variablen Kapital, Senkung des Werts der
Arbeitskraft – nicht kompensieren kann. Diesen Beweis ist Marx letztlich schuldig
geblieben (vgl. MEW 23, S. 651 f.; MEW 26.3, S. 356ff.).
Eine von ihm nicht explizit angestellte, weitere Überlegung zeigt jedoch, dass
langfristig ein Anstieg der Wertzusammensetzung zumindest plausibel ist. Die
Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals könnte nur dann zu einem
Sinken der Wertzusammensetzung führen, wenn das Wachstum der Arbeitspro-
duktivität in der Produktion von Produktionsmitteln (Abteilung I) auf Dauer
höher wäre als in der Produktion von Konsumgütern (Abteilung II). Selbst dann
würde jedoch die Produktivitätssteigerung in Abteilung I indirekt zu einer Verbilli-
gung der Konsumgüter, d. h. zu einer Senkung des Werts der Arbeitskraft führen.
Die Beschleunigung der Produktivitätssteigerung in Abteilung I müsste also nicht
nur die zuvor genannten Effekte kompensieren, sondern auch den von ihr selbst
ausgelösten indirekten Effekt auf den Wert der Arbeitskraft. Dies ist zwar nicht
undenkbar, aber doch eher unwahrscheinlich (vgl. Heinrich 1999, S. 322).
Mit der steigenden Wertzusammensetzung des Kapitals begründet Marx die
Tendenz zur fortschreitenden Produktion einer »relativen Übervölkerung« oder
»industriellen Reservearmee«, d. h. einer gemessen an den Verwertungsbedürfnis-
sen des Kapitals überflüssigen Arbeiterschaft (vgl. MEW 23, S. 657ff.). Das Kon-
zept der relativen Übervölkerung ist gegen die von Malthus vertretene Bevölke-
rungstheorie gerichtet, der in einer zu hohen Fortpflanzungsrate der Arbeiterklasse
den Grund für Arbeitslosigkeit und Elend sah. Marx versucht zu zeigen, dass die
Kapitalakkumulation selbst zur Freisetzung von Arbeitern und zu wachsender
Arbeitslosigkeit führt. Dies unterstellt, dass die mit der wachsenden Wertzusam-
mensetzung des Kapitals verbundenen Freisetzungseffekte größer sind als die mit
dem Wachstum des Kapitals verbundenen Beschäftigungseffekte. Dies entspricht
zwar der Erfahrung der letzten Jahrzehnte in Europa, wo die Arbeitslosigkeit mit
jeder konjunkturellen Krise ein höheres Niveau erreicht hat. Theoretisch wird die
langfristige Zunahme der »relativen Übervölkerung« als allgemeine Tendenz des
Kapitalismus von Marx jedoch unzulänglich begründet. Plausibel ist allerdings,
dass eine »industrielle Reservearmee« in den konjunkturellen Zyklen immer wieder
hergestellt wird, da »Vollbeschäftigung« zu steigenden Löhnen führt, die die
Akkumulation bremsen und so einen Anreiz zur Einführung neuer, arbeitssparen-
der Produktionstechnologien darstellen. »Vollbeschäftigung« ist somit stets nur
eine vorübergehende Situation, in der Regel existiert ein mehr oder weniger großes
Arbeitslosenheer (vgl. Heinrich 1999, S. 323 f.).
Mit der dauerhaft steigenden Wertzusammensetzung des Kapitals begründet
Marx auch das »Gesetz des tendenziellen Falls der Profitrate« (vgl. MEW 25,
S. 221ff.), mit dem er zu zeigen versucht, dass Mittel und Zweck kapitalistischer
106 Thomas Sablowski

Produktion, die notwendige Produktivkraftentwicklung und die schrankenlose


Verwertung des Kapitals, in unauflöslichem Widerspruch zueinander stehen, und
dass die Kapitalakkumulation ihre eigenen immanenten Schranken produziert (vgl.
MEW 25, S. 221ff.). Die neuere Diskussion hat allerdings gezeigt, dass das Gesetz
des tendenziellen Falls der Profitrate unzulänglich begründet ist. Es müsste gezeigt
werden, dass die Wertzusammensetzung des Kapitals langfristig schneller steigt als
die Mehrwertrate oder, was auf dasselbe hinausläuft, dass das Gesamtkapital
schneller wächst als die Mehrwertmasse. Dies ist jedoch nicht möglich. Man kann
zwar die Bewegungsrichtung der einzelnen Größen angeben, die die Profitrate
bestimmen, aber nicht ihre relative Bewegungsgeschwindigkeit (vgl. dazu ausführ-
lich Heinrich 1999, S. 327ff.).
Eine andere Argumentation versucht die aus der Produktivitätssteigerung er-
wachsende Krisentendenz mit dem sich verschiebenden Verhältnis von »leben-
diger« und »vergegenständlichter« Arbeit [(m+v)/c] im Produktionsprozess zu
begründen. Die im Produktionsprozess verausgabte lebendige Arbeit bestimmt,
wie groß der Mehrwert maximal sein kann. Wäre der Wert der Arbeitskraft gleich
Null, so wäre der Mehrwert mit dem Wertprodukt identisch. In diesem Falle wäre
außerdem das konstante Kapital (die vergegenständlichte Arbeit) identisch mit dem
Gesamtkapital. Das Verhältnis von lebendiger zu vergegenständlichter Arbeit stellt
somit eine Obergrenze für die Profitrate dar. Da angenommen wird, dass sich mit
der Produktivkraftentwicklung die lebendige Arbeit im Verhältnis zur vergegen-
ständlichten vermindert, fällt auch die maximal mögliche Profitrate (vgl. MEW 25,
S. 223; Shaikh 1978, S. 28). Doch bedeutet der Fall der Obergrenze der Profitrate
auch den Fall der tatsächlichen Profitrate? Hier kommt es zu einem Denkfehler.
Der Fall der Profitrate wäre nur dann unvermeidlich, wenn die lebendige Arbeit
nicht nur abnimmt, sondern tatsächlich gegen Null tendiert. Ansonsten kann die
Profitrate sogar steigen, indem sie sich dem Grenzwert von unten annähert. Über
die Entwicklung der Wertrelation von lebendiger und vergegenständlichter Arbeit
lässt sich jedoch noch weniger eine Aussage machen als über die damit nicht zu
verwechselnde Wertzusammensetzung des Kapitals. Die Wertzusammensetzung
des Kapitals steigt auch bei gleichbleibendem Wert des konstanten Kapitals, wenn
der Wert der Arbeitskraft abnimmt. Auf das Verhältnis von lebendiger und ver-
gegenständlichter Arbeit hat dagegen die Entwicklung des Werts der Arbeitskraft
keinen Einfluss. In welchem Umfang die Vermehrung der Elemente des konstanten
Kapitals mit einer Steigerung des Werts des konstanten Kapitals einhergeht, lässt
sich nicht allgemein bestimmen (vgl. Heinrich 1999, S. 335).
Berücksichtigt man darüber hinaus Marx eigenes Argument, dass zusätzliche
Maschinerie nur dann eingeführt wird, wenn der Mehraufwand an konstantem
Kapital durch eine größere Einsparung an variablem Kapital kompensiert wird
(vgl. MEW 23, S. 414), so zeigt sich, dass die Profitrate bei der Einführung neuer
Technologien zum Zwecke der Produktivitätssteigerung nicht nur nicht fällt, son-
dern steigt, und zwar sowohl für das betreffende Einzelkapital als auch für das
gesellschaftliche Gesamtkapital (vgl. Okishio 1974; Heinrich 1999, S. 337ff.). Es
kann gleichwohl zu einem Fall der Profitrate kommen, wenn aufgrund von Klas-
senauseinandersetzungen die Reallöhne schneller steigen als die Arbeitsproduktivi-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 107

tät. Eine allgemeines Gesetz über die langfristige Entwicklungstendenz der Profit-
rate lässt sich jedoch auch unter Berücksichtigung dieser Faktoren nicht ableiten.

1.3 Unterkonsumtions- und Disproportionalitätskrisentheorien


Unterkonsumtions- und Disproportionalitätskrisentheorien beziehen sich auf die
Widersprüche zwischen Produktions- und Zirkulationssphäre und auf die Über-
produktion von Waren bzw. Probleme der Realisierung des produzierten Mehr-
werts als Krisenursache. Unterkonsumtionstheorien wurden bereits vor Marx von
Ökonomen wie Malthus und Sismondi vertreten. Sie dominierten auch in der
krisentheoretischen Diskussion im Marxismus bis etwa Mitte des 20. Jahrhunderts,
was sicherlich mit dem bis dahin sehr niedrigen Reallohn- und Konsumniveau und
weitverbreiteter Armut auch in den kapitalistischen Metropolen zusammenhing.
Das Grundmuster unterkonsumtionstheoretischer Argumentation verläuft etwa
folgendermaßen: Der Umfang des kapitalistischen Reproduktionsprozesses wird
durch den Umfang der zahlungsfähigen Nachfrage nach Waren bestimmt. Dabei
dient die Produktion von Produktionsmitteln (Abteilung I) letztlich der Produk-
tion von Konsumgütern (Abteilung II), so dass in letzter Instanz die Konsumnach-
frage ausschlaggebend ist. Die Lohnabhängigen, die die große Masse der Gesell-
schaft darstellen, können mit ihren Löhnen wegen der antagonistischen Produk-
tionsverhältnisse aber nur einen Teil des von ihnen geschaffenen Nettoprodukts
kaufen: Kehrseite der Mehrwertproduktion ist eine »Nachfragelücke«. Diese kann
durch den Konsum der Kapitalisten trotz allem Überfluss und Luxus nicht ge-
schlossen werden. Die Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise impliziert,
dass mit dem Wachstum der Produktivität die Produktionskapazität schneller
wächst als die Konsumnachfrage, so dass sich die Nachfragelücke tendenziell
vergrößert.
Der grundlegende Einwand gegen die Unterkonsumtionstheorie zielt darauf,
dass diese die Produktion von Produktionsmitteln einfach als eine Funktion der
Nachfrage nach Konsumgütern behandelt, so als wäre der Kapitalismus eine
Planwirtschaft mit einem vertikal integrierten Produktionsapparat. Die Kritik läuft
darauf hinaus, dass die »Nachfragelücke« im Prinzip durch eine vermehrte Investi-
tionsnachfrage der Kapitalisten geschlossen werden kann, so dass eine erweiterte
Reproduktion möglich ist. Obwohl Marx selbst an verschiedenen Stellen unterkon-
sumtionstheoretisch argumentierte (vgl. z. B. MEW 25, S. 254 f.), lieferte er mit den
»Reproduktionsschemata« im 1885 erschienenen zweiten Band des Kapital auch
die Grundlagen für die Kritik an der Unterkonsumtionstheorie (vgl. auch MEW
24, S. 409 f.).
Die Interpretation der Reproduktionsschemata löste in der sozialistischen Dis-
kussion am Ende des 19. Jahrhunderts heftige Kontroversen aus, wobei im Mittel-
punkt die Frage der langfristigen Entwicklungstendenzen und der Notwendigkeit
des Zusammenbruchs des Kapitalismus stand (vgl. Rosdolsky 1968, S. 524ff.; Hi-
ckel 1973). In Russland vertraten die »Narodniki« gestützt auf die Unterkonsum-
tionstheorie die Position, dass der Kapitalismus im zaristischen Russland wegen
des niedrigen Einkommensniveaus nicht entwicklungsfähig sei. Auch die Export-
108 Thomas Sablowski

märkte böten für das russische Kapital keinen Ausweg, da diese durch die weiter
entwickelte ausländische Konkurrenz weitgehend besetzt seien. Die sozialistische
Bewegung könne daher nicht auf ein wachsendes Proletariat zählen, sondern müsse
sich auf die bäuerlichen Dorfgemeinschaften stützen. Die Schrecken der kapi-
talistischen Industrialisierung könnten durch den direkten Übergang von der
feudalen Agrargesellschaft zum Sozialismus vermieden werden.
Die Kritiker der Narodniki, zu denen auch Lenin (vgl. LW 3) zählte, argu-
mentierten dagegen, dass eine erweiterte Reproduktion auch auf der Basis eines
niedrigen Einkommensniveaus möglich sei. Sie konnten dabei nicht nur empirisch
auf die rasche Ausbreitung von Warenbeziehungen und ein wachsendes Proletariat
verweisen, sondern sich auch auf die Marxschen Reproduktionsschemata beziehen,
die zeigten, dass ein ausgeglichenes Wachstum von Produktionskapazität und
effektiver Nachfrage prinzipiell denkbar ist. Naiven Versionen der Unterkonsum-
tionstheorie, die die Möglichkeit erweiterter Reproduktion verkannt hatten, schien
damit die Grundlage entzogen. Realisierungskrisen resultierten demnach eher aus
der mangelnden Proportionalität der verschiedenen Produktionszweige, die durch
die Anarchie der kapitalistischen Produktion, d. h. die Vielzahl der privaten, nicht
aufeinander abgestimmten Investitionsentscheidungen bedingt war.
In der deutschen Sozialdemokratie verlief die Debatte unter umgekehrten Vor-
zeichen. Revisionistische Theoretiker wie Eduard Bernstein (1899/1991) kritisier-
ten die weitverbreitete Vorstellung des unvermeidlichen Zusammenbruchs des
Kapitalismus. Aus Bernsteins Sicht war es nicht nur falsch, auf eine Revolution im
Zuge sich verschärfender Krisen zu hoffen, er diagnostizierte auch qualitative
Veränderungen des Kapitalismus, die die Strategie einer friedlichen, graduellen
Transformation zum Sozialismus nahe legten. Er lieferte damit eine theoretische
Grundlage für die reformistische Praxis der deutschen Sozialdemokratie. Bern-
steins Position wurde später unter anderem durch Rudolf Hilferding (1909/1973,
S. 326ff.) und Otto Bauer (1912/13) unterstützt, die die Ursache von Krisen
vorwiegend in der Anarchie des Marktes und den dadurch bedingten Dispro-
portionalitäten zwischen den verschiedenen Sektoren sahen. Krisen waren dem-
nach nur dadurch verursacht, dass nicht in das freie Spiel der Kräfte eingegriffen
wurde; der Kapitalismus würde jedoch nach Hilferdings Auffassung durch die
Konzentration und Zentralisation des Kapitals, die Monopolisierung selbst zu
einer Milderung der Anarchie der Produktion und der Krisen tendieren. Durch den
wachsenden Einfluss der Arbeiterbewegung wäre es möglich, diesen naturwüchsig
entstehenden »organisierten Kapitalismus« zu demokratisieren und mittels staat-
licher Planung eine gleichgewichtige erweiterte Reproduktion sicherzustellen.
Letztlich verschwimmt hier die Grenze zwischen »organisiertem Kapitalismus«
und Sozialismus (vgl. Hilferding 1927, Winkler 1974).
Rosa Luxemburg versuchte in ihrem 1913 erschienenen Buch Die Akkumulation
des Kapitals demgegenüber, die Unvermeidlichkeit des Untergangs des Kapita-
lismus durch eine Rehabilitierung der Unterkonsumtionstheorie zu verteidigen. Sie
stellte die These auf, dass eine erweiterte Reproduktion der kapitalistischen Pro-
duktionsweise nur in dem Maße möglich ist, in dem nichtkapitalistische Schichten
im In- und Ausland jene Nachfrage beisteuern, an der es dem Kapitalismus
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 109

inhärent mangelt. Mit der zunehmenden Durchkapitalisierung der Welt und der
Auflösung nichtkapitalistischer Sektoren müsse der Kapitalismus jedoch schließ-
lich zusammenbrechen. So interessant die von ihr aufgeworfene Problemstellung
des Verhältnisses von kapitalistischem und nichtkapitalistischem Sektor ist, so
unzulänglich ist ihr Verständnis der erweiterten Reproduktion. Gebannt von der
Vorstellung, dass die kapitalistische Produktion letztlich der Konsumtion dient,
konnte sie sich nicht vorstellen, dass es eine Produktion von Produktionsmitteln
zwecks Erweiterung der Produktion von Produktionsmitteln, also einen Austausch
innerhalb der Abteilung I gibt. Damit wird jedoch ihre ganze Zusammenbruchs-
begründung unhaltbar.
Henryk Grossmann, Mitarbeiter am Institut für Sozialforsching in Frankfurt,
lieferte in seinem 1929 erschienenen Buch Das Akkumulations- und Zusammen-
bruchsgesetz des kapitalistischen Systems die bis dahin umfassenste Kritik sowohl
der harmonistischen Interpretationen der Reproduktionsschemata als auch der auf
der Unterkonsumtionstheorie basierenden Begründung des notwendigen Zusam-
menbruchs des Kapitalismus (vgl. Grossmann 1929/1970). Gleichzeitig versuchte
er jedoch mit einer überakkumulationstheoretischen Argumentation, den unver-
meidlichen Zusammenbruch des Kapitalismus zu begründen. Anhand eines von
Otto Bauer entwickelten Reproduktionsschemas zeigte Grossmann, dass der – von
ihm als notwendig unterstellte – tendenzielle Fall der Profitrate bei steigender
Wertzusammensetzung des Kapitals zwar zunächst mit einer beschleunigten Akku-
mulation, d. h. einer steigenden Profitmasse einhergeht, dass es aber im weiteren
Verlauf des Akkumulationsprozesses zu einer absoluten Abnahme der Profitmasse
kommt, bis eine weitere Akkumulation unmöglich wird (ebd., S. 118ff.). Gross-
mann konzediert zwar, dass es Gegentendenzen zu dieser Entwicklung gibt, die auf
eine Änderung der von ihm gemachten Voraussetzungen (konstante Mehrwertrate,
kontinuierliches Anwachsen des konstanten Kapitals) hinauslaufen (ebd., S. 186ff.).
Seine Diskussion der Gegentendenzen kann jedoch nicht überzeugen. Hier gilt,
was oben schon bezüglich der »Gesetze« der Kapitalakkumulation angemerkt
wurde. Grossmanns methodischer Fehler besteht in einer unsachgemäßen Verwen-
dung der Reproduktionsschemata. Diese haben ihre Berechtigung, um zu zeigen,
dass kapitalistische Reproduktion überhaupt nur möglich ist, wenn bestimmte
sektorale Proportionalitätsbedingungen erfüllt sind. Der reale Verlauf des Akku-
mulationsprozesses kann jedoch weder vorausberechnet noch durch Reproduk-
tionsschemata theoretisch erfaßt werden.
Nach der großen Weltwirtschaftskrise der 1930er Jahre gab es immer wieder
Versuche, Unterkonsumtions- bzw. Überproduktionstheorien auszuarbeiten und
dabei gleichzeitig die gegen die früheren Ansätze vorgebrachten Einwände zu
berücksichtigen. Größere Bedeutung haben z. B. die Arbeiten von Paul Sweezy
und Paul Baran erreicht, die versuchten, aus den Problemen der Mehrwertrealisie-
rung eine säkulare Stagnationstendenz abzuleiten (vgl. Sweezy 1942/1970; Baran/
Sweezy 1967). Eine der elaboriertesten krisentheoretischen Reflexionen der jün-
geren Zeit mit überproduktionstheoretischer Orientierung stammt von Jan Priewe
(1988). Diese Ansätze können hier nicht weiter diskutiert werden. Stattdessen
möchte ich noch kurz einen systematisch wichtigen, dritten krisentheoretischen
110 Thomas Sablowski

Strang darstellen, der ebenfalls auf Überlegungen von Marx zurückgeht, jedoch erst
in den 1970er Jahren prominent wurde: die sogenannte Profit-Squeeze-Theorie, die
Krisen im Gegensatz zur Unterkonsumtionstheorie nicht mit »zu niedrigen«,
sondern mit »zu hohen« Löhnen in Verbindung bringt. Es ist kein Wunder, dass
die Profit-Squeeze-Theorie erst in dem Moment ausgearbeitet wurde, als die mit
starken Reallohnsteigerungen einhergehende »fordistische« Entwicklungsweise,
von der weiter unten noch die Rede sein wird, in die Krise geriet.

1.4 Die Profit-Squeeze-Theorie


Die Profit-Squeeze-Theorie sieht in dem mit der Akkumulation wechselnden
Umfang der »industriellen Reservearmee« und in der dadurch bedingten Entwick-
lung der Lohnquote die Grundlage zyklischer Krisen (vgl. Goodwin 1967; Glyn/
Sutcliffe 1974; Body/Crotty 1975). Sie schließt damit an die Marxsche Bemerkung,
steigende Löhne seien der »Sturmvogel einer Krise« (MEW 24, S. 409), und an
seine Darstellung des Zusammenhangs von Akkumulation und industrieller Reser-
vearmee im 23. Kapitel des ersten Bandes des Kapital (MEW 23, S. 645ff.) an, sowie
an entsprechende Passagen im dritten Band des Kapital, wo Marx die Über-
akkumulation von Kapital mit einer Verteuerung der Arbeitskraft begründet
(MEW 25, S. 262ff.). Das Grundmodell der Profit-Squeeze-Theorie sieht folgen-
dermaßen aus: Mit wachsender Akkumulation steigt die Nachfrage nach Arbeits-
kräften, und die Arbeitslosigkeit geht zurück, bis es zu Arbeitskräfteknappheit
kommt. Dadurch verbessert sich die Verhandlungsposition der Arbeiterklasse, der
Anteil der Löhne am Wertprodukt steigt. Sieht man von der Verbilligung der
Elemente des konstanten Kapitals durch Produktivitätssteigerungen ab, so be-
deutet eine steigende Lohnquote eine sinkende Profitrate. Die sinkende Profitrate
führt zu einem Rückgang der Investitionen, die Akkumulation erlahmt. Dadurch
steigt die Arbeitslosigkeit wieder, die Löhne sinken, die Profite erholen sich, so
dass die Bedingungen für einen erneuten Aufschwung geschaffen werden. Das
Modell liefert also eine endogene Erklärung für den oberen und den unteren
Wendepunkt eines Konjunkturzyklus.
Vordergründig ähnelt die Profit-Squeeze-Theorie der neoklassischen Erklärung
von »freiwilliger« Arbeitslosigkeit aus »zu hohen« Löhnen. In der neoklassischen
Theorie werden »zu hohe« Löhne allerdings durch vermeintlich exogene Faktoren,
insbesondere eine quasi-monopolistische Gewerkschaftsmacht, erklärt, während
die Profit-Squeeze-Theorie eine endogene Erklärung anbietet, in der die Löhne
von der Akkumulation abhängig sind. Insofern steigende Löhne aus der Sicht der
Profit-Squeeze-Theorie die Knappheit des Arbeitskräfteangebots widerspiegeln,
sind sie auch marktgemäß. In einer stärker auf den Klassenkampf orientierten,
»operaistischen« Version der Profit-Squeeze-Theorie treiben die Arbeiter den Ka-
pitalismus tatsächlich durch hohe Lohnforderungen in die Krise. Der Sachverhalt,
der von den neoklassischen Ökonomen beklagt wird, wird hier positiv gesehen.
Können Arbeiter die Krise auslösen, so ist dies aus einer revolutionären Per-
spektive ein hoffnungsvolles Zeichen.
Gegen die skizzierte einfache Version der Profit-Squeeze-Theorie können ver-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 111

schiedene Einwände vorgebracht werden, von denen hier nur die wichtigsten kurz
genannt werden sollen (vgl. Shaikh 1978, S. 35ff.; Priewe 1988, S. 30ff.). Erstens
müssten Produktivitätssteigerungen genauer berücksichtigt werden. Zu einer Ar-
beitskräfteknappheit kommt es nur dann, wenn das Wachstum größer ist als die
Produktivitätssteigerungen, und eine Profitklemme setzt voraus, dass die Löhne
stärker steigen als die Produktivität. Zudem müsste der Anstieg der Lohnquote
auch die Verbilligung der Elemente des konstanten Kapitals überkompensieren, die
ebenfalls aus einem Produktivitätsanstieg resultiert.
Zweitens werden Löhne zwar als Kostenfaktor wahrgenommen, bleiben als
Nachfragefaktor aber ausgeblendet. Überhaupt müssten auch Nachfrage- und
Realisationsprobleme berücksichtigt werden. Für die Bestimmung des oberen und
des unteren Wendepunktes des Konjunkturzyklus müsste gezeigt werden, dass der
Kosteneffekt steigender oder sinkender Löhne jeweils stärker ist als der gegen-
läufige Nachfrage- und Kapazitätsauslastungseffekt.
Drittens müsste auch die monetäre Dimension des Akkumulationsprozesses
berücksichtigt werden. Nominallohnsteigerungen können z. B. durch Preisstei-
gerungen zunichte gemacht werden. Wenn durch steigende Löhne auch der Kon-
sum steigt, wenn gemäß der Annahmen gleichzeitig weitere Produktivitätsstei-
gerungen ausgeschlossen sind und wegen des Arbeitskräftemangels Kapazitätsaus-
weitungen unmöglich sind, so muss es zu Preissteigerungen kommen. Ein Fall der
Profitrate würde nur dann einsetzen, wenn keine vollständige Überwälzung der
Lohnsteigerungen auf die Preise möglich wäre.
Die Lohnbewegung hängt nicht zuletzt vom konkreten Verlauf des Klassen-
kampfes, von der Strategie und Taktik der Gewerkschaften ab. Empirisch gehen
z. B. in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1970er Jahren Aufschwungphasen
nur mit einem geringen Beschäftigungswachstum einher (»jobless growth«) und
brechen lange, bevor Vollbeschäftigung erreicht wird oder bevor die Löhne stark
steigen, ab.
In weiterentwickelten Versionen des Profit-Squeeze-Ansatzes werden diese Ein-
wände zum Teil aufgenommen. So entwickeln z. B. Jörg Glombowski und Michael
Krüger (1984) ein Modell, das die Zykluserklärung eines modifizierten Profit-
Squeeze-Ansatzes mit der Annahme eines aufgrund des technischen Fortschritts
steigenden Kapitalkoeffizienten verbindet. Die elaborierteste Theorie des Kon-
junkturzyklus auf der Basis des Profit-Squeeze-Ansatzes hat vermutlich Makoto
Itoh entwickelt. Er berücksichtigt Preisbewegungen, die Rolle des fixen Kapitals
und der effektiven Nachfrage sowie monetäre und finanzielle Aspekte, die mit dem
Kreditsystem und der gegenläufigen Bewegung von Zinsrate und Profitrate zusam-
menhängen (vgl. Itoh 1980; Itoh 1988; Itoh/Lapavitsas 1999, S. 128ff.). Philip
Armstrong u. a. (1984) wenden den Ansatz auch auf die überzyklische Entwick-
lung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg an, wobei die These einer
Blockierung der »kathartischen« Funktion der »industriellen Reservearmee« zent-
ral ist.

Welches Fazit können wir aus der Diskussion der drei dargestellten krisentheo-
retischen Ansätze ziehen? Jeder der drei Ansätze hat eine Berechtigung, insofern er
112 Thomas Sablowski

die Aufmerksamkeit auf einen bestimmten Zusammenhang lenkt, der für die
Dynamik der kapitalistischen Produktionsweise wesentlich ist: Bei dem »Gesetz
des tendenziellen Falls der Profitrate« stehen die widersprüchlichen Auswirkungen
der Produktivitätssteigerungen auf die Wertzusammensetzung des Kapitals und die
Akkumulation im Zentrum. Die Unterkonsumtionstheorien lenken den Blick auf
Realisierungsprobleme und die effektive Nachfrage. Die Profit-Squeeze-Theorie
thematisiert den Zusammenhang von Akkumulation, Arbeitsmarkt- und Lohn-
entwicklung. Zugleich bleibt jeder dieser Ansätze unzulänglich, solange er einen
bestimmten Wirkungszusammenhang verabsolutiert und die anderen Aspekte ver-
nachlässigt. Keiner der drei Ansätze ermöglicht es, den Eintritt einer Krise mecha-
nisch vorauszuberechnen oder die Unvermeidlichkeit des Zusammenbruchs des
Kapitalismus zu beweisen. Zugleich liefern jedoch alle Ansätze Argumente dafür,
warum im Kapitalismus Krisen und Verwerfungen im gesellschaftlichen Reproduk-
tionsprozess eher die Regel als die Ausnahme sind. Alle drei Ansätze wurden auf
einem hohen Abstraktionsniveau formuliert. Zur Analyse konkreter Akkumula-
tionsverläufe und Krisen ist es notwendig, den Grad der Komplexität und Konkre-
tion der krisentheoretischen Argumentation erheblich zu steigern. Wir verlassen
damit die Ebene von Aussagen über die kapitalistische Produktionsweise in ihrem
»idealen Durchschnitt«, die der Gegenstand von Marx’ »Kritik der politischen
Ökonomie« war, und begeben uns auf die Ebene historisch-konkreter Prozesse, die
die Variabilität der kapitalistischen Verhältnisse in Raum und Zeit deutlich ma-
chen2.

2. Aufhebung von Krisen im Staatskapitalismus? Die Kritische Theorie


der Frankfurter Schule

Kreiste die marxistische krisentheoretische Diskussion bis zur großen Weltwirt-


schaftskrise der 1930er Jahre weitgehend um das Problem des Nachweises der
Unvermeidlichkeit von Krisen und des notwendigen Zusammenbruchs des Kapita-
lismus, so ging die Arbeit des Kreises um Max Horkheimer am Institut für
Sozialforschung in Frankfurt am Main in eine ganz andere Richtung. Gleicher-
maßen kritisch gegenüber den verschiedenen Formen bürgerlicher Herrschaft,
insbesondere gegenüber dem aufkommenden Faschismus, kritisch aber auch gegen-
über der Sowjetunion und der Entwicklung der Organisationen der Arbeiterbewe-
gung, versuchten die Vertreter der »Kritischen Theorie«, das Scheitern der gesell-
schaftlichen Emanzipationsbestrebungen zu begreifen. Durch philosophisch re-
flektierte, interdisziplinäre empirische Sozialforschung sollte das Verhältnis zwi-

2 Als Beispiel für eine solche konkrete Analyse, in der die verschiedenen krisentheo-
retischen Ansätze genutzt wurden, kann ein Projekt der Universität der Vereinten Na-
tionen (UNU) gelten, das heterodoxe Ökonomen verschiedener Richtungen zusammen-
führte, um die Entwicklung des Kapitalismus nach dem Zweiten Weltkrieg zu erklären
(vgl. Marglin/Schor 1990).
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 113

schen der Ökonomie, der psychischen Entwicklung der Individuen und den
Veränderungen im Bereich der Kultur analysiert werden (vgl. HGS 3, S. 32). Ins
Zentrum des Forschungsprogramms des Instituts für Sozialforschung rückte zu-
nächst der Autoritätsglaube als ein wesentliches Vermittlungsglied von Herrschaft
und Selbstunterwerfung (vgl. Horkheimer u. a. 1936). Die Erforschung der öko-
nomischen Entwicklung im engeren Sinne war in der Arbeit des Instituts ver-
gleichsweise randständig.
Vorliegende Diskussionsprotokolle aus dem Jahr 1936 über wert- und krisen-
theoretische Fragen zeigen, dass es unter den Mitarbeitern des Instituts durchaus
unterschiedliche Positionen gab (vgl. HGS 12, S. 405ff.). Den Protokollen lässt sich
nicht entnehmen, dass die Diskussionen hinsichtlich der Differenzierung zwischen
verschiedenen krisentheoretischen Ansätzen und ihrer Problematisierung sehr ins
Detail gegangen wären. Sie kreisen eher um die Frage, welcher Status den »Ge-
setzen« der kapitalistischen Produktionsweise und der Krisenanalyse im Rahmen
kritischer Gesellschaftstheorie überhaupt zukommt. So beginnt die Diskussion am
20. Mai 1936 mit der Frage, ob in der gegenwärtigen Krise der Fall der Profitrate
ein entscheidender Faktor sei. Friedrich Pollock vertrat die Position, dass die
Wirksamkeit des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate »sich zur Zeit in
keiner Weise verifizieren lasse« (ebd., S. 405). Julian Gumperz stimmte Pollock zu,
führte dies jedoch auf mangelnde begriffliche Vermittlungsglieder zwischen Theo-
rie und Empirie zurück. Während er in der Verifizierung dieses »Gesetzes« die
Aufgabe der marxistischen Ökonomen sah, wandte Horkheimer ein, dass sozial-
wissenschaftliche Gesetze prinzipiell nicht so verifiziert werden können wie natur-
wissenschaftliche Gesetze. Innerhalb der historischen Theorie könne ein Phäno-
men immer aus verschiedenen Ursachen erklärt werden, eine eindeutige Zuord-
nung der Tatsachen zu den zur Erklärung herangezogenen Ursachen sei nicht
möglich. Die Wahrheit sozialwissenschaftlicher Gesetze hänge daher auch von der
Aktivität und dem Willen der Theoretiker ab (ebd., S. 406).
Die Auffassung des Gesetzes des tendenziellen Falls der Profitrate bleibt im
Fortgang der Diskussion ambivalent: Einerseits wird seine Wirksamkeit unterstellt
und es wird als Zusammenfassung aller »Untergangstendenzen des Kapitalismus«
interpretiert, andererseits wird festgestellt, Marx habe die »direkte Ableitung des
Gesetzes im Detail« mehr versprochen als geleistet (ebd., S. 407 ff.). Interessant ist,
welche Aufgabe der Krisenanalyse zugewiesen wird. Dazu heißt es im Diskus-
sionsprotokoll: »Die liberale Theorie versucht, die Krise aus exogenen, ›zufälligen‹
Faktoren kausal abzuleiten. In der Marxschen Theorie wird die Krise als ein
Moment im Prozess der kapitalistischen Wirtschaft begriffen; nicht die Krise
bedarf der Erklärung, sie ist der kapitalistischen Produktionsweise inhärent. Zu
analysieren ist das relative Funktionieren dieser Produktionsweise« (ebd., S. 412).
Diese Verschiebung der Fragestellung sollte in den 1970er Jahren der Ausgangs-
punkt des in Frankreich entwickelten Regulationsansatzes werden – doch dazu
später. Wenn auch der Kreis um Horkheimer in akkumulations- und krisentheo-
retischen Fragen nicht gerade zu klaren Ergebnissen kam, so gelangten Hork-
heimer und Pollock gleichwohl zu der Einschätzung, dass mit Faschismus und
New Deal ein neues staatskapitalistisches Zeitalter heraufziehe, in dem das system-
114 Thomas Sablowski

sprengende Potential ökonomischer Krisen durch die Interventionen eines autori-


tären Staates weitgehend aufgehoben würde.

2.1 Das Konzept des Staatskapitalismus bei Horkheimer und Pollock


In seinen Bemerkungen zur Wirtschaftskrise von 1933 hatte Pollock noch prognos-
tiziert, dass man in Zukunft mit tendenziell schwerer werdenden Krisen rechnen
müsse (Pollock 1933, S. 332). Das wachsende Gewicht des fixen Kapitals und die
Monopolisierung führten dazu, dass die Reinigungsfunktion der Krisen, die in der
Widerherstellung der gestörten Proportionalität der kapitalistischen Produktion
bestehe, behindert werde. Mit der kapitalintensiven Massenproduktion wachse die
Gefahr dauernder Überproduktion und struktureller Arbeitslosigkeit. Gleichzeitig
verschärfe sich das Problem der Überkapazitäten durch den Hinzutritt neu in-
dustrialisierter Länder auf dem Weltmarkt (ebd., S. 330 f.). Der Konflikt zwischen
Produktivkräften und Produktionsverhältnissen sei heftiger geworden als je zuvor.
Alle Anzeichen deuteten jedoch darauf hin, dass eine Sprengung der sich aus den
Produktionsverhältnissen ergebenden Schranken »zunächst nicht zu erwarten« sei
(ebd., S. 338). Vielmehr habe der Kapitalismus durch Eingriffe in die Produktions-
verhältnisse »eine ungeahnte Widerstandskraft und Anpassungsfähigkeit« bewiesen
(S. 345). Mit dem Faschismus in Italien und Deutschland sowie dem Roosevelt-
schen New Deal sei »eine neue Stufe ›staatskapitalistischer‹ Eingriffe« zu be-
obachten (S. 347). Pollock diagnostizierte Tendenzen zur Herausbildung einer
»kapitalistischen Planwirtschaft«, offen sei aber, ob es dieser gelingen könne, das
Privateigentum als Grundlage des Systems auf Dauer zu sichern (S. 349). Der
Aufsatz endet mit einer pessimistischen Einschätzung der Widerstandsmöglich-
keiten der Arbeiterklasse.
In dem kurz nach Abschluss des Hitler-Stalin-Paktes in den Druck gegebenen
Aufsatz »Die Juden in Europa« konstatiert Horkheimer den irreversiblen Bankrott
des Liberalismus. Der Faschismus wird als zeitgemäße politische Form des »Spät-
kapitalismus« aufgefasst. Die Reichweite der totalitären Herrschaft vergleicht
Horkheimer mit dem Übergang zum Kapitalismus:
»Den Individuen wird dabei eine neue Zucht auferlegt, die an den Grund der Sozialcharaktere
rührt. Die Transformation des gedrückten Arbeitsuchenden aus dem 19. Jahrhundert in das
beflissene Mitglied faschistischer Organisationen gemahnt in ihrer historischen Tragweite an
die Umwandlung des mittelalterlichen Handwerksmeisters in den protestantischen Bürger
durch die Reformation oder des englischen Dorfarmen in den modernen Industriearbeiter.«
(Horkheimer 1939, S. 118)

Die Anpassung der Arbeiter an den Faschismus sei angesichts der gewaltsamen
Niederschlagung revolutionärer Bestrebungen und der »Entwicklung der Parteien
in weltumspannende Maschinen zur Vernichtung der Spontaneität« kein Zeichen
von Verblödung, sondern auch Ausdruck rationaler Fähigkeiten. Der Faschismus
habe dem Proletariat »vielleicht nicht weniger zu bieten als die Weimarer Republik,
die den Faschismus aufzog« (ebd., S. 121 f.).
Die selbstzerstörerische Dynamik der Marktwirtschaft sah Horkheimer in einer
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 115

planvollen, über Staatseingriffe vermittelten Herrschaft der industriellen Büro-


kratie aufgehoben.
»Die totalitäre Gesellschaft hat ökonomische Chancen auf lange Frist. […] Für den Fa-
schismus als Weltsystem wäre ökonomisch kein Ende abzusehen. Die Ausbeutung reprodu-
ziert sich nicht mehr planlos über den Markt, sondern in der bewussten Ausübung der
Herrschaft. […] Die Ökonomie hat keine selbständige Dynamik mehr. Sie verliert ihre Macht
an die ökonomisch Mächtigen.« (ebd., S. 122)

Letzere sind nicht mehr unbedingt die juristischen Eigentümer der Produktions-
mittel.
»Die herrschende Klasse hat sich gewandelt. Ihre Mitglieder sind nicht identisch mit den
Inhabern des kapitalistischen Eigentums. […] An die Stelle der juristischen Eigentümer tritt
die hohe industrielle Bürokratie. Es zeigt sich, dass die reale Verfügung, der physische Besitz
und nicht das nominelle Eigentum sozial entscheidend ist.« (ebd., S. 120)

Horkheimer betonte die Universalität der totalitären Tendenzen. Wie der Zweite
Weltkrieg auch enden möge, die Militarisierung führe die Welt weiter in autoritär-
kollektivistische Lebensformen hinein (ebd., S. 132). Die Hoffnung auf die Rück-
kehr des Liberalismus sei illusionär:
»Vielleicht werden nach langem Krieg für kurze Zeit in einzelnen Territorien die alten
ökonomischen Verhältnisse wiederhergestellt. Dann wiederholte sich die ökonomische Ent-
wicklung: der Faschismus ist nicht durch Zufall entstanden. Seit dem Versagen der Markt-
wirtschaft sind die Menschen ein für allemal vor die Wahl zwischen Freiheit und faschis-
tischer Diktatur gestellt.« (ebd., S. 133)

1941 bestimmte Pollock das idealtypische Modell des Staatskapitalismus in seinem


Aufsatz »State Capitalism: Its Possibilities and Limitations« genauer. An die Stelle
der koordinierenden Funktion des Marktes trete eine direkte staatliche Kontrolle
von Produktion und Distribution, durch die Vollbeschäftigung erreicht werde.
Unter der totalitären Form des Staatskapitalismus werde der Staat zu einem
Machtinstrument in den Händen der herrschenden Gruppe, die sich aus den
Topmanagern der Industrie und den leitenden Bürokraten des Staates einschließlich
des Militärs sowie der siegreichen Partei zusammensetze. Unter der demokrati-
schen Form des Staatskapitalismus übernehme der Staat die gleichen Kontrollfunk-
tionen, werde jedoch seinerseits durch die Bevölkerung kontrolliert.
Pollock präsentierte den Staatskapitalismus als eine dem liberalen Kapitalismus
überlegene Gesellschaftsform, die zwar weiterhin durch einen Klassenantagonis-
mus und die private Aneignung des gesellschaftlichen Produkts gekennzeichnet sei,
in der die ökonomischen Gesetze und Krisentendenzen des liberalen Kapitalismus
durch staatliche Planung aber aufgehoben seien und in der es keinerlei immanente
ökonomische Grenzen gäbe, die seine Reproduktion behindern könnten. Grenzen
könnten dem Staatskapitalismus allenfalls aus der natürlichen Ressourcenknapp-
heit, aus konfligierenden Interessen innerhalb der herrschenden Gruppen oder aus
dem zugrunde liegenden Klassenantagonismus erwachsen. Während unter der
demokratischen Form des Staatskapitalismus eine allgemeine Steigerung des Le-
bensstandards möglich sei, müsse dieser unter seiner totalitären Form künstlich
niedrig gehalten werden, da mit einer Ausweitung von Freizeit und Bildung auch
116 Thomas Sablowski

das Kritikpotential zunehmen würde, das die totalitäre Herrschaft gefährden


würde. Die Entwicklung der Produktivkräfte werde daher politisch beschränkt,
wobei insbesondere der Vernichtung gesellschaftlichen Reichtums durch Hoch-
rüstung eine zentrale Bedeutung zukomme. Angesichts der nach innen herrschafts-
stabilisierenden Rolle der äußeren »Bedrohung« sei der totalitäre Staatskapita-
lismus auch nur in einem System konkurrierender Nationalstaaten und nicht in
einem Weltstaat denkbar (Pollock 1941, S. 217–220). Gegen Ende seines Aufsatzes
legte Pollock nahe, dass die demokratische Form des Staatskapitalismus eventuell
eine Übergangsphase bis zur Abschaffung der Überreste des Kapitalismus sei, dass
so aber zumindest die Handicaps des Marktes durch Planung überwunden werden
könnten. Der Kampf für den demokratischen Staatskapitalismus erschien damit als
einzige praktikable Alternative zum totalitären Staatskapitalismus.
In Horkheimers Aufsatz »Autoritärer Staat«, der bewusst nur in geringer Auf-
lage in dem hektographierten Band Walter Benjamin zum Gedächtnis 1942 publi-
ziert wurde, wurde das Konzept des Staatskapitalismus aufgegriffen und nochmals
zugespitzt. Horkheimer zitiert einleitend Friedrich Engels in »Die Entwicklung
des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« gemachte Voraussagen über die
Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft, die sich bewahrheitet hätten (vgl.
MEW 19, S. 221 f., S. 228). Der Staat werde immer mehr zum wirklichen Gesamt-
kapitalisten. Die Sphäre der Zirkulation werde liquidiert, der Übergang vom
Monopolkapitalismus zum Staatskapitalismus, die Aneignung eines immer grö-
ßeren Teils des Produktionsapparats zunächst durch Aktiengesellschaften und
Trusts, dann durch den Staat sei das letzte, was die bürgerliche Gesellschaft zu
bieten habe. Horkheimer problematisierte jedoch die Erwartung eines revolutio-
nären Umschlags des auf die Spitze getriebenen Kapitalismus. Entweder rechnet
die Theorie »mit dem Zusammenbruch durch die ökonomische Krise, dann ist die
Fixierung durch den autoritären Staat ausgeschlossen, den Engels doch voraussieht.
Oder sie erwartet den Sieg des autoritären Staates, dann ist nicht mit dem Zusam-
menbruch durch die Krise zu rechnen, denn sie war stets durch die Marktwirt-
schaft definiert« (HGS 5, S. 294). Horkheimer zufolge ist das Letztere der Fall.
In seiner Charakterisierung des Staatskapitalismus, ein Begriff, den er synomym
mit dem des autoritären Staates verwendet, geht Horkheimer nicht über die
Beiträge von Pollock hinaus. Nur wird die Entwicklung in der Sowjetunion nun
explizit unter das Konzept subsumiert: Der »integrale Etatismus« oder Staats-
sozialismus sei lediglich die »konsequenteste Art des autoritären Staats, die aus
jeder Abhängigkeit vom privaten Kapital sich befreit hat« (HGS 5, S. 300). Die
faschistischen Länder bildeten eine Mischform, bei der der Mehrwert zwar unter
staatlicher Kontrolle gewonnen und verteilt werde, jedoch nach wie vor als Profit
in großem Umfang den Industriemagnaten und Grundbesitzern zufließe. Der
integrale Etatismus bedeute keinen Rückfall, sondern Steigerung der Kräfte, er
könne ohne Rassenhaß leben (ebd., S. 300 f.). Horkheimer wollte den autoritären
Staat freilich nicht als eine stabile Formation verstanden wissen, er betonte den
repressiven, ausbeuterischen und antagonistischen Charakter aller seiner Varianten,
wenngleich es für die Individuen entscheidend sein könne, ob Reformismus,
Bolschewismus oder Faschismus siege.
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 117

Obgleich Horkheimer hier – ähnlich wie Walter Benjamin in seinen Thesen


»Über den Begriff der Geschichte« – einerseits das mechanistische Fortschrittsden-
ken innerhalb des Marxismus scharf kritisierte (vgl. ebd., S. 307), argumentierte er
andererseits in Bezug auf das von ihm zwar nicht für die nahe Zukunft erwartete,
aber doch notwendige Ende des Staatskapitalismus ganz orthodox: Das »Gesetz
seines Zusammenbruchs« gründe »in der Hemmung der Produktivität durch die
Existenz der Bürokratien« (ebd., S. 309). Ebenso schillernd ist die hier deutlicher
als in anderen Texten artikulierte Kritik an den Organisationen der Arbeiterbewe-
gung. So spricht Horkheimer davon, Parteien und Gewerkschaften hätten »den
natürlichen Bedingungen ihrer eigenen Entwicklung zur Massenorganisation ge-
horcht« (ebd., S. 295), »die schmähliche Soziologie des Parteiwesens« – eine An-
spielung auf Robert Michels gleichnamiges Buch von 1911 – habe letztlich recht
behalten (ebd., S. 297). Unklar bleibt in Horkheimers weiterer Argumentation, ob
er davon ausgeht, dass in der Form der Massenorganisation selbst eine zwangs-
läufige Verkehrung der Emanzipationsansprüche in neue Formen von Herrschaft
angelegt ist, oder ob dies das Resultat kontingenter historischer Entwicklungen
war. In jedem Fall konnten nach seiner Ansicht »Versuche, wirkliche Freiheit
herzustellen […], die ihrem Wesen nach keine Bürokratie dulden«, nur »von den
Vereinzelten kommen« (S. 312). »Solange die Partei noch eine Gruppe, ihren
antiautoritären Zielen noch nicht entfremdet ist, solange die Solidarität noch nicht
durch Gehorsam ersetzt wird […], die Avantgarde ohne periodische Säuberungs-
aktionen zu handeln vermag« (ebd.), solange sei Hoffnung. Diese düstere Analyse
mit ihren überraschend voluntaristischen Momenten sollte Jahrzehnte später auf
starke Resonanz im antiautoritären Flügel der deutschen Studentenbewegung sto-
ßen (vgl. Dutschke/Krahl 1967; Kraushaar 1987).

2.2 Zur Kritik des Staatskapitalismuskonzepts


Horkheimers und Pollocks Thesen zum Staatskapitalismus waren innerhalb des
Instituts für Sozialforschung nicht unumstritten. Die Kritik richtete sich insbe-
sondere gegen die strategischen Implikationen von Pollocks Variante des Konzepts,
bei der die ökonomischen Widersprüche praktisch ausgeschaltet waren. Befürchtet
wurde eine Schwächung des Kampfes gegen den Nationalsozialismus, der aus
dieser Perspektive als gleichsam krisenfreie und mehr oder minder stabile Variante
des Kapitalismus erscheinen konnte.
Die entschiedenste Kritik aus dem Kreise des Instituts kam von Franz Neu-
mann, aus dessen Sicht das Konzept des Staatskapitalismus nicht nur politisch fatal,
sondern auch methodisch unzulässig und sachlich falsch war. Ohne Horkheimer
oder Pollock ausdrücklich anzugreifen, versuchte Neumann in seiner umfangrei-
chen empirischen Analyse des Nationalsozialismus zu zeigen, dass der Begriff des
Staatskapitalismus eine contradictio in adjecto ist (Neumann 1944/1984, S. 274).
Wenn der Staat zum einzigen Eigentümer der Produktionsmittel geworden war,
konnte man aus seiner Sicht nicht mehr von Kapitalismus sprechen, da ein Kapita-
lismus ohne Zirkulationssphäre, ohne Markt und ohne Preise nicht existieren
konnte. Auch war es methodisch unzulässig, ein Modell oder einen Idealtypus
118 Thomas Sablowski

gegen empirische Kritik zu immunisieren, indem man behauptete, die zukünftige


Entwicklung werde sich dem Modell annähern. Die wissenschaftliche Analyse
musste sich demzufolge auf reale Entwicklungen beschränken. Gerade die em-
pirische Analyse sollte aber zeigen, dass das Staatskapitalismuskonzept nicht ein-
mal für den Nationalsozialismus galt, der noch am ehesten als Grenzfall angesehen
werden konnte. Erst recht machte das Konzept dann zur Charakterisierung des
»New Deal« und der Entwicklungen in anderen Ländern keinen Sinn.
Neumann wählte für seine 1942 veröffentlichte und 1944 nochmals erweiterte
Analyse des Nationalsozialismus in Anlehnung an Hobbes den Titel Behemoth.
Hobbes hatte die beiden Ungeheuer der jüdischen Eschatologie, Behemoth und
Leviathan, in die politische Theorie überführt. In seinem Buch Behemoth oder das
lange Parlament hatte er den englischen Bürgerkrieg des 17. Jahrhunderts als eine
Phase des Chaos, der Gesetzlosigkeit und des Unstaats dargestellt, während er mit
dem Leviathan den Staat als ein Zwangssystem charakterisiert hatte, in dem
allerdings noch Reste der Herrschaft des Gesetzes und der individuellen Rechte
bewahrt sind. Aus Neumanns Sicht entsprach das nationalsozialistische Deutsch-
land eher dem Behemoth als dem Leviathan, d. h. es war im Grunde gar kein Staat,
da nach seiner Analyse weder eine Herrschaft des Gesetzes noch ein Gewalt-
monopol existierte. Der Staat löste sich vielmehr auf in einen Archipel von
Machtstellungen, die jeweils von den konkurrierenden Eliten der NSDAP, des
Militärs, der Industrie und – mit abnehmender Bedeutung – der Ministerialbüro-
kratie beherrscht wurden (ebd., S. 541ff.).
Sicherlich ist Neumanns Charakterisierung der Herrschenden insofern prob-
lematisch, als er nicht zwischen den aus den Produktionsverhältnissen erwach-
senden Klassenstellungen und den politisch-militärischen Gruppierungen unter-
scheidet. Seine Konzeption ist in dieser Hinsicht eher elite- als klassentheoretisch.
Gleichwohl charakterisierte Neumann den Nationalsozialismus in ökonomischer
Hinsicht als totalitären Monopolkapitalismus, in dem es zwar Elemente einer
Wirtschaftsplanung gab, in dem aber das Privateigentum an den Produktionsmit-
teln nach wie vor zentrale Bedeutung hatte. Der Markt und die Preise übten
weiterhin wichtige Funktionen aus, so dass nach Neumanns Ansicht von einem
qualitativen Bruch im Sinne von Pollocks Staatskapitalismuskonzept nicht die
Rede sein konnte.
Im Rückblick könnte man Horkheimer und Pollock zugute halten, dass sie ein
Gespür für die enorme Wandlungsfähigkeit des Kapitalismus hatten, die Antonio
Gramsci mit dem Begriff der »passiven Revolution« thematisiert. Aus heutiger
Sicht zielte das Konzept des Staatskapitalismus visionär auf eine neu entstehende
Entwicklungsweise des Kapitalismus, die ich in Anlehnung an Gramsci (1999,
S. 2063ff.) und den Regulationsansatz (vgl. Aglietta 1979, Lipietz 1998) als Fordis-
mus bezeichne. Unter dem Eindruck des Faschismus zeichneten Pollock und
Horkheimer freilich ein in vieler Hinsicht falsches Bild der heraufziehenden Epo-
che kapitalistischer Vergesellschaftung. Dies gilt insbesondere für ihre Vorstellung
einer mehr oder minder krisenfreien ökonomischen Reproduktion, der Pollocks
verkürztes Krisenverständnis zu Grunde lag. Pollock sah die Krisen hauptsächlich
in der Anarchie des Marktes und in Disproportionalitäten zwischen den Wirt-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 119

schaftssektoren angelegt. Demzufolge erscheinen die Ausweitung der staatlichen


Interventionen und der Übergang zur Wirtschaftsplanung ähnlich wie schon bei
den sozialdemokratischen Theoretikern des »organisierten Kapitalismus« als Mög-
lichkeit der Überwindung der ökonomischen Krisen auf kapitalistischer Basis.
Dabei wurden jedoch die im kapitalistischen Produktionsprozess wurzelnden Wi-
dersprüche unterschätzt. Auch bedeutete die monopolistische Regulation von Löh-
nen und Preisen, die Herausbildung des Interventionsstaates und die Durchsetzung
einer antizyklischen Wirtschaftspolitik keineswegs eine Abschaffung des Marktes
und der Krisen. Schließlich erwies sich der »integrale Etatismus« bzw. Staats-
sozialismus nicht als überlegene Variante des Staatskapitalismus, sondern als we-
niger produktive, dem »atlantischen« Fordismus hinterherhinkende Vergesell-
schaftungsform.
Trotz aller politischen und gesellschaftlichen Veränderungen, trotz der darge-
stellten Mängel der älteren Kritischen Theorie und ungeachtet der Differenzen
innerhalb des Instituts für Sozialforschung stießen die Überlegungen Horkheimers
und Pollocks zum Staatskapitalismus in Westdeutschland noch bis in die 1970er
Jahre auf eine starke Resonanz. Nicht nur führende Vertreter des Sozialistischen
Deutschen Studentenbundes orientierten sich am Konzept des »autoritären Staa-
tes«. Auch die Arbeiten von Claus Offe (1972) und Jürgen Habermas (1973) über
das »politische System« des »Spätkapitalismus« sind noch von der Vorstellung
geprägt, die ökonomischen Krisentendenzen der kapitalistischen Produktionsweise
seien durch umfassende Staatsinterventionen praktisch entschärft oder stillgestellt.
Und dies, obwohl sich in der Bundesrepublik wie in anderen Ländern schon in den
späten 1960er Jahren ein Ende des »Wirtschaftswunders« andeutete und es gleich-
zeitig zu einem bedeutenden Aufschwung der Klassenkämpfe kam. Die Zunahme
gesellschaftlicher Auseinandersetzungen in jenen Jahren wurde von Offe und
Habermas natürlich gesehen, doch entsprachen deren Artikulationsformen nicht
der bewusstseinsphilosophischen Vorstellung eines mit der ökonomischen Krise
zunehmenden Klassenbewusstseins, die die Folie ihrer Kritik bildete. Daher er-
schienen ökonomische Krisen in den systemtheoretisch gewendeten Kapitalismus-
konzeptionen von Offe und Habermas letztlich irrelevant. Übrig bleiben »Legiti-
mationsprobleme« des »politischen Systems«, die auf die normativen Grundlagen
von Sozialintegration und Gesellschaftskritik verweisen, auf die sich Habermas
Aufmerksamkeit seither richtete. Paradoxerweise verwarfen Offe und Habermas
die marxistische Krisentheorie genau in dem Moment, in dem sich eine Struk-
turkrise des Kapitalismus entwickelte, die in ihrem Ausmaß mit der Weltwirt-
schaftskrise der 1930er Jahre vergleichbar war. Es zeigt sich hier eine eigentümliche
Ungleichzeitigkeit von gesellschaftlicher Entwicklung und Theoriebildung. Waren
Horkheimer und Pollock Vorreiter der Fordismusanalyse, so hypostasierten Offe
und Habermas ihn, während er zerfiel.
Heute sind alle Varianten des vermeintlichen Staatskapitalismus Geschichte. Der
Charakter der gegenwärtigen Phase ebenso wie die Zukunftsaussichten kapitalis-
tischer Entwicklung sind zwar nach wie vor heftig umstritten. Nach dem in den
1970er Jahren einsetzenden Strukturbruch in den kapitalistischen Gesellschafts-
formationen, der langjährigen neoliberalen Offensive und dem Zusammenbruch
120 Thomas Sablowski

des Staatssozialismus dürfte jedoch Konsens darin bestehen, dass von einer linearen
Abfolge von Stadien kapitalistischer Entwicklung mit immer höherem Vergesell-
schaftungsniveau der Arbeit nicht ohne weiteres die Rede sein kann.

3. Die Erneuerung der Kapitalismusanalyse

Die Entwicklung der »Neuen Linken« und die Strukturkrise der kapitalistischen
Gesellschaftsformationen in den 1970er Jahren hat auch eine Erneuerung des
krisentheoretischen Denkens und eine Vielfalt an Analysen über die kapitalistische
Entwicklung hervorgebracht. Es ist hier nicht einmal ansatzweise möglich, die
vielen neuen Ansätze im Einzelnen zu skizzieren. Ich möchte stattdessen zunächst
noch einige Bemerkungen zu dem problematischen Verhältnis von Politik und
Ökonomie machen, um dann den »Regulationsansatz« als einen der neueren
Ansätze vorzustellen und deutlich zu machen, worin der Fortschritt gegenüber den
früheren Ansätzen kritischer Gesellschaftstheorie besteht. Abschließend möchte
ich auf einige offene Fragen der Analyse kapitalistischer Entwicklung hinweisen.

3.1 Das problematische Verhältnis von Ökonomie und Politik


Lange Zeit hatten sich die Anstrengungen der marxistischen Krisentheoretiker
darauf konzentriert, die Notwendigkeit von Krisen aus den immanenten Gesetzen
der kapitalistischen Produktionsweise zu begründen. Auf den politischen Impetus
dieses Vorhabens habe ich eingangs hingewiesen: Krisen galten als potentiell revo-
lutionäre Situationen, als notwendige Voraussetzung einer Beschleunigung der
Klassenkämpfe. Angesichts des revolutionären Attentismus der Sozialdemokratie,
der Erfahrung des Ersten Weltkriegs sowie der Entwicklung der russischen Revo-
lution und des Faschismus wurde dieser Zusammenhang von Ökonomie und
Politik im »westlichen Marxismus« (Anderson 1978) zunehmend problematisiert.
Die schon von Marx gemachte Erfahrung, dass Krisen auch reaktionäre Wendun-
gen nehmen können, führte den Kreis um Horkheimer dazu, eine Problemver-
schiebung vorzunehmen und das Autoritätsdispositiv zu untersuchen, das den
autoritären Charakter mit dem autoritären Staat zusammenspannt.
War die frühere marxistische krisentheoretische Debatte in ihrer Fixierung auf
den notwendigen Zusammenbruch des Kapitalismus ökonomistisch, so verfielen
die Theoretiker des »Staatskapitalismus« wie auch die des »organisierten Kapita-
lismus« allerdings in den entgegengesetzten Fehler des Politizismus. Unterschätz-
ten die einen die Entwicklungsmöglichkeiten des Kapitalismus, so überschätzten
sie die anderen. Die Vorstellung einer Aufhebung (in dem ambivalenten Sinn des
Wortes) der Krisentendenzen der kapitalistischen Produktionsweise durch staat-
liche Interventionen, die sich im Konzept des »organisierten Kapitalismus« bei
Hilferding ebenso findet wie im Konzept des »Staatskapitalismus« bei Pollock und
Horkheimer und im Konzept des »Spätkapitalismus« bei Offe und Habermas,
wurde Anfang der 1970er Jahre in der westdeutschen »Staatsableitungsdebatte«
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 121

einer grundlegenden Kritik unterzogen (vgl. Müller/Neusüss 1971, Blanke u. a.


1974, Hirsch 1974, zusammenfassend und kritisch dazu: Jessop 1982, Kapitel 3). Im
Rahmen eines breiter angelegten Programms der »Rekonstruktion« der Kritik der
politischen Ökonomie wurde hier versucht, die Form- und Funktionsbestim-
mungen des bürgerlichen Staates aus den Bestimmungen der kapitalistischen Wa-
renproduktion abzuleiten, wobei die Marxsche Darstellungsmethode des Über-
gangs vom Abstrakten zum Konkreten im Kapital als Modell galt. Ausgehend von
der besonderen Form des bürgerlichen Staates wurden seine Funktionen für die
Reproduktion des Kapitalismus problematisiert. Ziel war es, die inhärenten Gren-
zen des Staatsinterventionismus aufzuzeigen, die anderswo mit weniger rigorosem
theoretischen Aufwand etwa als »Finanzkrise des Staates« (O’Connor 1974) the-
matisiert wurden.
Das Programm der »Rekonstruktion« der Kritik der politischen Ökonomie und
der Formanalyse musste freilich methodologisch an Grenzen stoßen, wo es um die
Vermittlung der allgemeinen »Gesetze« der kapitalistischen Produktionsweise mit
der konkreten Bewegung der Kapitalakkumulation und des Klassenkampfs ging.
Letztere ließ sich eben nicht aus der »Kapitallogik« ableiten. Die Weiterentwick-
lung kritischer Gesellschaftstheorie setzt voraus, sich die immanenten Grenzen der
Marxschen Kapitaltheorie bewusst zu machen, die ja nach Marx eigenem Verständ-
nis eine Theorie der kapitalistischen Produktionsweise »in ihrem idealen Durch-
schnitt« (MEW 25, S. 839) sein sollte. Hierfür gibt es in der Geschichte des
Marxismus selbst wichtige Ansätze, zu erwähnen sind vor allem die Gefängnishefte
Antonio Gramscis (1990ff.) sowie die Arbeiten der »Althusser-Schule« (vgl. Alt-
husser 1974, Althusser/Balibar 1972, Poulantzas 1974), durch die der Weg frei
gemacht wurde für die Entwicklung eines an der Marxschen Theorie anknüpfenden
und zugleich für empirische Forschung offenen Begriffsinstrumentariums zur Ana-
lyse historisch-konkreter Gesellschaftsformationen, das die komplementären Feh-
ler des Ökonomismus und des Politizismus vermeidet.
Ein solches Begriffsinstrumentarium stellt m.E. der Regulationsansatz (vgl.
Aglietta 1979, Boyer 1986, Boyer/Saillard 1995, Lipietz 1998, Mazier u. a. 1999)
dar. Hier soll nicht behauptet werden, dass dieser bereits die zeitgemäße kritische
Gesellschaftstheorie ist3. Auch im Selbstverständnis vieler Vertreter des Regula-
tionsansatzes handelt es sich bei diesem eher um ein offenes Forschungsprogramm
als um eine fertige Theorie. Darüber hinaus gibt es auch andere Ansätze, die für die
weitere Ausarbeitung einer nichtlinearen Theorie kapitalistischer Entwicklung in-
teressante Gesichtspunkte beizutragen haben, wie z. B. der »Social structures of
accumulation«-Ansatz der US-amerikanischen »radicals« (vgl. Kotz u. a. 1994), die
»Amsterdamer Schule« der Internationalen Politischen Ökonomie (vgl. Van der

3 Eine andere Frage ist, ob es angesichts der Komplexität gesellschaftlicher Verhältnisse und
angesichts der Restriktionen, unter denen die Produktion kritischer Theorie stattfindet,
überhaupt ein sinnvolles Ziel sein kann, eine geschlossene Gesellschaftstheorie anzu-
streben. Aus meiner Sicht bleibt der holistische Anspruch bzw. der Bezug auf eine
Vorstellung von – wie auch immer komplex strukturierter und irreduzibler – Totalität
notwendiger, wenn auch praktisch schwer zu handhabender Bestandteil kritischer Theo-
riebildung.
122 Thomas Sablowski

Pijl 1998), der Weltsystemansatz (vgl. Arrighi 1994, Hopkins u. a. 1996) oder die
jüngsten Arbeiten von Robert Brenner (1998, 2000). Ich möchte unter Rückgriff
auf den Regulationsansatz lediglich skizzieren, wie krisentheoretische Ansätze für
eine historisch-konkrete Analyse der kapitalistischen Entwicklung fruchtbar ge-
macht werden können.

3.2 Der Regulationsansatz


Der Regulationsansatz wurde von französischen Ökonomen vor dem Hintergrund
der Strukturkrise der 1970er Jahre entwickelt, um die Abfolge von Prosperitäts-
phasen und Krisen in der kapitalistischen Entwicklung genauer zu begreifen. In
ihrer expliziten Frontstellung gegenüber dem neoklassischen Mainstream, aber
auch in einer eher impliziten Kritik gegenüber dem »kapitallogischen« Marxismus
nahmen die »Regulationisten« eine Umkehrung der traditionellen krisentheo-
retischen Problemstellung vor, die durchaus an die Frankfurter Schule erinnert,
wenn auch die Herangehensweise ganz anders ist: Wenn die kapitalistische Produk-
tionsweise grundsätzlich krisenhaft und strukturell instabil ist, wie hat sie dann so
lange überdauern können? Und wie konnte es zu jener Prosperitätskonstellation
kommen, die für die 1950er und 1960er Jahre so bestimmend war, dass man
rückblickend von einem »goldenen Zeitalter« des Kapitalismus sprechen kann?
Die regulationstheoretische Analyse der als Fordismus bezeichneten Entwick-
lungsweise zeigt, dass sich auf der Basis eines spezifischen Klassenkompromisses
zwischen Kapitalisten und Lohnabhängigen ein institutionelles Gefüge entwickelt
hatte, das ein paralleles Wachstum von Produktivität, Reallöhnen und Profiten
ermöglichte, so dass eine vergleichsweise regelmäßige Akkumulation möglich
wurde. Die Arbeiter akzeptierten die Hoheit der Kapitaleigner in der Arbeits-
organisation im Austausch gegen die Beteiligung am Produktivitätsfortschritt. Die
auf der Basis der tayloristischen Arbeitsorganisation erzielten Produktivitätszu-
wächse erlaubten steigende Reallöhne, ohne zugleich das Wachstum der Profite zu
stark zu restringieren. Die steigenden Reallöhne wiederum ermöglichten die Ent-
wicklung des Massenkonsums und verhinderten so die Wiederholung einer Rea-
lisierungskrise wie in den 1930er Jahren. Der Fordismus gewinnt seine Dynamik
also aus der Transformation der Lebensweise der Lohnempfänger, die in einem
qualitativ neuen Maß zum immanenten Moment der Kapitalakkumulation wird.
Die Institutionalisierung dieses »intensiven Akkumulationsregimes« verläuft über
die Anerkennung der Gewerkschaften seitens der Unternehmen, die Etablierung
von Tarifverhandlungen, den Ausbau der Sozialleistungen, die Ablösung der Geld-
ware Gold durch staatlich reguliertes Zentralbankgeld bzw. Kreditgeld und eine
ganze Reihe weiterer Mechanismen.
Allerdings zeigt die regulationstheoretische Analyse des Fordismus auch, dass
das intensive Akkumulationsregime seine eigenen, endogenen Krisentendenzen
hat. Zum einen werden die für den Kapitalismus des 19. Jahrhunderts typischen
scharfen konjunkturellen Krisen im Fordismus nur dadurch vermieden, dass die
für den kapitalistischen Verwertungsprozess unausweichlichen Fluktuationen und
Verschiebungen der Wertverhältnisse im Rahmen der monopolistischen Regulation
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 123

bereits antizipiert und in die Preise inkorporiert werden. Periodische Schübe der
Kapitalvernichtung werden durch »geplanten Verschleiß«, erhöhte Abschreibungen
und schleichende Inflation ersetzt.
Zum anderen stößt die tayloristische Transformation des Arbeitsprozesses an
Grenzen, deren Charakter in der regulationstheoretischen Diskussion freilich um-
stritten ist. Nach einer Lesart handelt es sich eher um »technologische« Grenzen,
d. h. die Produktivitätssteigerung qua Mechanisierung verursacht steigende Kosten,
die ab einem bestimmten Punkt zu einem übermäßigen Anstieg der Wertzusam-
mensetzung des Kapitals führen. Nach einer anderen Lesart handelt es sich eher
um »soziale« Grenzen des Taylorismus, d. h. die Arbeiter sind ab einem be-
stimmten Punkt nicht mehr gewillt, die zunehmende Intensivierung und Degradie-
rung der Arbeit hinzunehmen, was sich in steigendem Absentismus, in Sabotage-
akten, in sinkenden Produktivitätszuwächsen ausdrückt. Der Akzent liegt bei
dieser Interpretation eher auf dem unzureichenden Anstieg der Mehrwertrate als
auf der steigenden Wertzusammensetzung. In jedem Fall ist das Resultat eine
sinkende Profitrate, die sich seit der zweiten Hälfte der 1960er Jahre bemerkbar
macht und die schließlich zum Erlahmen der Akkumulation führt. Mit dem
Absinken der Produktivitätszuwächse geraten die fordistischen Mechanismen der
Einkommensbildung unter Druck, die Kapitalisten kündigen unter dem Druck der
Krise den Klassenkompromiss auf und suchen Zuflucht in einer Absenkung der
Löhne und Sozialleistungen sowie in der Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse.
Hier bietet sich der Neoliberalismus als Interpretation der Probleme und als
gesellschaftliches Umbauprogramm an.
Ich möchte die Beschreibung des Fordismus und seiner Krise an dieser Stelle
nicht weiter vertiefen, sondern zusammenfassen, worin ich den Fortschritt des
Regulationsansatzes gegenüber – im engeren Sinne ökonomischen bzw. ökonomi-
stischen – Krisen- und Zusammenbruchstheorien wie auch gegenüber der Kriti-
schen Theorie der Frankfurter Schule sehe. Der Regulationsansatz baut auf der
Marxschen Theorie der kapitalistischen Produktionsweise auf und entwickelt ein
Set von intermediären Begriffen, die es erlauben, historisch-konkrete Gesellschafts-
formationen in ihrer Akkumulations- und Krisendynamik zu untersuchen. Dabei
vermeidet der Regulationsansatz die Hypostasierung der »Kapitallogik« und faßt
stattdessen den Prozess der Reproduktion der widersprüchlichen sozialen Ver-
hältnisse als einen Prozess von sozialen Kämpfen auf, in dem sich Produktions-
und Konsumnormen, Regulationsweisen und Akkumulationsregime durch histori-
sche Kompromisse und die hegemoniale Produktion von Konsens gleichsam als
»historische Fundsachen« (Alain Lipietz) herausbilden.
Im Unterschied zu vielen Arbeiten des traditionellen Marxismus und zur älteren
Kritischen Theorie prognostiziert der Regulationsansatz weder den unvermeidli-
chen Zusammenbruch des Kapitalismus noch die Aufhebung von Krisentendenzen
in einem Staatskapitalismus. Während die Kritische Theorie durch gravierende
ökonomietheoretische Defizite gekennzeichnet war, ist der Regulationsansatz ur-
sprünglich im Kern ein makroökonomischer Ansatz. Er wies zwar bestimmte
staats- und hegemonietheoretische Defizite auf, doch hat sich gezeigt, dass der
Begriffsrahmen eben nicht ökonomistisch, sondern ausreichend offen und er-
124 Thomas Sablowski

weiterbar ist oder zumindest wichtige Bausteine für die Weiterentwicklung kri-
tischer Gesellschaftstheorie liefert (vgl. die Beiträge in Demirović u. a. 1992, Esser
u. a. 1994, Brand/Raza 2002).

3.3 Aktuelle Probleme der Analyse kapitalistischer Entwicklung


Ich möchte abschließend noch einige Probleme skizzieren, die sich im Hinblick auf
die Analyse der aktuellen Situation und der zukünftigen Entwicklung des Kapita-
lismus aus krisentheoretischer Sicht stellen. Auch hier kann natürlich kein An-
spruch auf Vollständigkeit bestehen.
Ob man die Grenzen des Taylorismus eher als »soziale« oder eher als »tech-
nologische« bestimmt, ist nicht zuletzt für die Einschätzung bezüglich der mögli-
chen Auswege aus der Krise des Fordismus relevant. Handelt es sich eher um
technologische Grenzen bzw. um ein übermäßiges Anwachsen des konstanten
Kapitals mit der Mechanisierung, so könnte auch der Ausweg aus der Krise ein
technologischer sein. So könnten die neuen Informations- und Kommunikations-
technologien zu einer deutlichen Verbilligung der Elemente des konstanten Kapi-
tals und damit zu einer sinkenden Wertzusammensetzung des Kapitals und zu einer
steigenden Profitrate führen. Die Auswirkungen der neuen I+K-Technologien sind
jedoch heftig umstritten, wie etwa die Diskussion über das sogenannte »Produk-
tivitätsparadoxon« (d. h. die nur mäßigen Produktivitätssteigerungen trotz hoher
IT-Investitionen) zeigt (vgl. Scherrer 2001).
Interpretiert man die Grenzen des Taylorismus eher als soziale oder politische,
so rücken die Frage der Arbeitsorganisation und das Verhältnis der Arbeiter zum
Arbeitsprozess ins Zentrum. Nicht nur aus regulationstheoretischer Perspektive
hatten sich die mit dem Taylorismus verbundene rigide Trennung von planender
und ausführender Arbeit, die immer weiter gehende Parzellierung der Tätigkeiten
und die Degradierung des Wissens der Produktionsarbeiter in Hemmnisse weiterer
Produktivitätssteigerungen verwandelt. Die Entwicklung der 1980er Jahre schien
den Verfechtern der »Humanisierung der Arbeit« und der »soziotechnischen«
Ansätze der Arbeitsorganisation Recht zu geben: dort, wo stärker auf die ausge-
handelte Einbindung der Arbeiter und die Vergrößerung ihrer Autonomiespiel-
räume im Arbeitsprozess gesetzt wurde, wie in Skandinavien, Deutschland oder
Japan, wurden die größeren Produktivitätsteigerungen erzielt. Länder wie die USA
oder Großbritannien dagegen, in denen eher die Flexibilisierung der Arbeits-
verhältnisse und die Senkung der Löhne verbunden mit einem Frontalangriff auf
die Gewerkschaften vorangetrieben wurde und die den Prinzipien des Taylorismus
stärker verhaftet blieben, drohten im Regimewettbewerb zurückzufallen.
Im Laufe der 1990er Jahre hat sich das Bild jedoch erneut umgekehrt. So hat der
lange Konjunkturaufschwung in den USA anscheinend im Vergleich zur EU nicht
nur höhere Wachstumsraten des Bruttoinlandsprodukts, sondern auch größere
Produktivitätssteigerungen mit sich gebracht, von der Situation in Japan, das seit
einem Jahrzehnt nicht aus der Stagnation und Deflation herausfindet, ganz zu
schweigen. Inzwischen wird das angelsächsische Modell wieder als Vorbild gehan-
delt, und auch dort, wo noch in den frühen 1990er Jahren Ansätze einer inno-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 125

vativen Arbeitsorganisation verfolgt wurden, werden inzwischen wieder eher neo-


tayloristische Wege beschritten (vgl. z. B. Gerst 1999, Springer 1999). Es ist weitge-
hend unklar, wie dieser Umschwung zu erklären ist.
Der Erkenntnisstand bezüglich der Frage, wie denn nun die Unternehmen die
Krise des Fordismus trotz Beibehaltung tayloristischer Prinzipien bisher gemeistert
haben, ist immer noch völlig unbefriedigend. Unterschiedliche Hypothesen bieten
sich hier an. Erstens ist denkbar, dass die Krise der tayloristischen Arbeitsorganisa-
tion überschätzt wurde. Möglicherweise handelte es sich eben nicht um absolute,
sondern relative Grenzen, die durch einen gegebenen Stand der Technologie und
der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse bedingt waren. Sicherlich hat die Frage der
»Effizienz« (neo-)tayloristischer Organisationsformen auch etwas mit der Bereit-
schaft zur Unterordnung der Arbeitskräfte angesichts des subjektiv und objektiv
verschärften Drucks durch die »industrielle Reservearmee« im globalen Maßstab
und angesichts der vermeintlichen politischen Alternativlosigkeit nach dem Ende
des »Realsozialismus« zu tun. Zweitens ist denkbar, dass die seit Mitte der 80er
Jahre feststellbare Erholung der Profitabilität des Kapitals weniger auf eine Erhö-
hung der Arbeitsproduktivität im engeren Sinne als auf andere Faktoren wie die
Ausdehnung der Maschinenlaufzeiten, die Verhinderung von Lohnzuwächsen4 und
die Steigerung der Umschlagsgeschwindigkeit des Kapitals zurückzuführen ist.
Drittens muss die Möglichkeit des Mehrwerttransfers entlang der Wertschöp-
fungsketten und die ungleiche Entwicklung zwischen Groß- und Kleinunter-
nehmen berücksichtigt werden. Es gibt Anzeichen dafür, dass die eher durch die
tayloristische Arbeitsorganisation geprägten Großunternehmen sich vor allem auf
Kosten von Kleinunternehmen saniert haben5.
Sieht man von der Entwicklung in den USA in den 1990er Jahren ab, so ist eine
Diskrepanz zwischen der Erholung der Profitabilität des Kapitals und der zurück-
bleibenden industriellen Kapitalakkumulation, die sich in niedrigen Wachstumsra-
ten der Anlageinvestitionen und des Sozialprodukts ausdrückt, festzustellen. Die
Akkumulationsschwäche hängt aus regulationstheoretischer Perspektive mit einer
Erschöpfung der fordistischen Konsumnorm zusammen. Dabei handelt es sich
nicht bloß um ein Problem mangelnder effektiver Konsumnachfrage, wie links-
keynesianische und unterkonsumtionstheoretische Interpretationen der gegenwär-
tigen Situation nahe legen. Die fordistische Periode nimmt in der kapitalistischen
Entwicklung vor allem deshalb eine Sonderstellung ein, weil sie durch eine histo-
risch einmalige Umgestaltung der Lebensweise der Lohnabhängigen gekennzeich-
net ist. Die Entwicklung des Massenkonsums löste nicht nur das Problem der
effektiven Nachfrage, sie ermöglichte auch eine durchgreifende Rationalisierung
der Reproduktion der Lohnabhängigen, d. h. eine Senkung des Werts der Arbeits-
kraft, eine Steigerung des relativen Mehrwerts trotz gleichzeitig steigender Real-

4 Die Lohnquote ist in den letzten beiden Jahrzehnten in den kapitalistischen Metropolen
erheblich gesunken, und die Reallöhne stagnieren weitgehend. Dies ist ohne Zweifel ein
zentrales Moment der Erholung der Profitabilität des Kapitals.
5 Nach einer Studie der Deutschen Bundesbank (2001) hat sich in den letzten Jahren vor
allem die finanzielle Situation der Kapitalgesellschaften verbessert, während die Situation
der Personengesellschaften und der Einzelunternehmen eher schlechter geworden ist.
126 Thomas Sablowski

löhne. Heute sind nicht nur die Reallöhne zu niedrig bzw. bleiben zu stark hinter
der Produktivitätsentwicklung zurück. Die Sättigung der Massenmärkte für die für
den Fordismus charakteristischen langlebigen Konsumgüter wie Autos und Haus-
haltsgeräte wirft zudem das Problem auf, wie eine postfordistische Konsumnorm
aussehen kann. Dabei geht es nicht nur um die massenhafte Verbreitung neuer
Waren, die ja durchaus zu beobachten ist (z. B. Handys, PCs etc.), sondern um eine
weitere Ökonomisierung der Reproduktion der Lohnabhängigen. Es gibt durchaus
noch Bereiche der Reproduktion wie etwa das Gesundheits- und Bildungswesen
und die weitgehend den Frauen aufgebürdeten Bereiche Erziehungs- und Pflege-
arbeit, deren kapitalistische Reorganisation bislang auf erhebliche Schwierigkeiten
stößt. Unklar ist auch, ob sie der Kapitalakkumulation noch einmal einen ver-
gleichbaren Schub geben könnte, wie dies die Entwicklung der fordistischen
Konsumnorm getan hat.
Die Akkumulationsschwäche im industriellen Sektor hat zwei wesentliche Kon-
sequenzen. Erstens kommt es zu einer zunehmenden Akkumulation des anlagesu-
chenden Kapitals im Finanzsektor. Die Globalisierung der Finanzmärkte und die
Entwicklung derivativer Finanzgeschäfte haben neue Anlagesphären eröffnet, die
das Akkumulationsproblem zunächst lösen und gleichzeitig in veränderter Form
erweitert reproduzieren. Wir erleben den Übergang von einem eher kredit- und
bankorientierten zu einem marktorientierten Finanzsystem, in dem »fiktives Kapi-
tal«, d. h. die Akkumulation von handelbaren Rechtsansprüchen auf Einkommen
aus zukünftigen Verwertungsprozessen, eine wachsende Bedeutung gewinnt. Die
beschleunigte Akkumulation im Finanzsektor ist nicht nur Folge der Akkumula-
tionsschwäche im industriellen Sektor, sie trägt ihrerseits zu deren Reproduktion
bei, denn die durch institutionelle Investoren vermittelten Renditeansprüche der
Geldvermögensbesitzer lasten trotz gestiegener Profitabilität in der Industrie zu-
nehmend wie ein Bleigewicht auf der industriellen Akkumulation (vgl. Chesnais
1994, Huffschmid 1999, Altvater/Mahnkopf 1999, Kap. 5, Sablowski/Rupp 2001,
Duménil/Lévy 2002).
Die Entwicklung in den USA während der 1990er Jahre hat allerdings auch die
Frage aufgeworfen, inwieweit es eventuell positive Rückkopplungseffekte zwi-
schen steigenden Wertpapierpreisen, die ja ein Ausdruck der beschleunigten Akku-
mulation fiktiven Kapitals sind, und der industriellen Akkumulation gibt. Michel
Aglietta und Robert Boyer haben die These vertreten, dass sich möglicherweise ein
finanzgetriebenes Akkumulationsregime herausbildet, in dem steigende Wertpa-
pierpreise selbst zu einer Quelle höherer Konsum- und Investitionsnachfrage und
damit vermehrter Akkumulation im industriellen Sektor werden (vgl. Aglietta
2000, Aglietta/Breton 2001, Boyer 2000). Ein solches Akkumulationsregime würde
allerdings angesichts der extrem ungleichen Verteilung des Wertpapierbesitzes nicht
nur zu einer Verschärfung der sozialen Ungleichheiten und zu einer vermehrten
finanziellen Instabilität führen – die aus der Wertpapierinflation resultierenden
Konsumeffekte sind im Vergleich zu anderen Komponenten der effektiven Nach-
frage empirisch auch eher als gering zu veranschlagen (vgl. Sablowski/Alnasseri
2001).
Die zweite wesentliche Konsequenz der Akkumulationsschwäche im indust-
Entwicklungstendenzen und Krisen des Kapitalismus 127

riellen Sektor ist die Bildung von Überkapazitäten, deren Bedeutung für die globale
Krisendynamik in jüngster Zeit vor allem von Brenner (1998, 2000) betont wurde.
Die globale kapitalistische Entwicklung der letzten Jahrzehnte ist dadurch gekenn-
zeichnet, dass ein höheres Wachstum in einer Region der Triade USA – Westeuropa
– Japan jeweils auf Kosten der anderen Regionen ging, wobei die Währungsrela-
tionen entscheidend für die Vermittlung der ungleichen Entwicklung waren. Im-
mer dann, wenn sich Krisenprozesse in einer Region zuzuspitzen drohten, wurde
versucht, geldpolitisch einen Ausgleich zu schaffen, ohne dass das Akkumulations-
problem auf globaler Ebene gelöst werden konnte.
Von den Verschiebungen der Kapitalmassen zwischen den Weltregionen haben
in den 1990er Jahren vor allem die USA profitiert. Die Entwicklung in den USA
kann als eine konsum- und verschuldungsgetriebene internationale Überexpansion
charakterisiert werden (vgl. Evans u. a. 2001; Brenner 2000). Die USA profitierten
dabei zum einen von der Weltgeldfunktion des Dollar, d. h. der Möglichkeit, sich in
eigener Währung verschulden zu können, ohne wie andere Länder das Risiko einer
mit der Abwertung der eigenen Währung verbundenen Überschuldung tragen zu
müssen. Dies ermöglicht es den USA, außergewöhnlich hohe Leistungsbilanzdefi-
zite in Kauf zu nehmen. Zum anderen profitierten die USA von den Krisen in
anderen Regionen, insbesondere in Japan und in den Schwellenländern, die zu
einem großen Kapitalzustrom führten, zur Steigerung der Wertpapierpreise bei-
trugen und die problemlose Finanzierung der wachsenden Leistungsbilanzdefizite
ermöglichten. Die Frage ist allerdings, ob dieser Entwicklungspfad auf Dauer
weiter beschritten werden kann. Es ist nicht sicher, dass die internationalen In-
vestoren bereit sind, die wachsenden Leistungsbilanzdefizite der USA weiter zu
finanzieren und eine unbegrenzte Verschuldung zu akzeptieren, zumal dem Dollar
mit dem Euro nun auch ein ernstzunehmender Konkurrent heranwächst. Ob der
Dollar Weltgeld bleibt, hängt natürlich auch vom weiteren Verlauf der europäi-
schen Integration ab. Es könnte durchaus sein, dass es im Zuge der EU-Erweite-
rung zu einer Überdehnung kommt, so dass der Euro weiter geschwächt wird.
Resümierend kann festgehalten werden, dass die gegenwärtige Situation eine
Reihe von offenen Fragen aufwirft. Hat der neoliberale Umbau der Gesellschaft
bereits ein neues, gefestigtes Akkumulationsregime hervorgebracht, oder ist die
gegenwärtige Situation eher durch Anpassungsprozesse gekennzeichnet, die selbst
wesentlich krisenhaft verlaufen? Und wie sind die längerfristigen Aussichten für
die kapitalistische Entwicklung? Kann die durch die US-Hegemonie gekennzeich-
nete Entwicklungsperiode des atlantischen Fordismus nochmals überboten wer-
den, oder steuert der Kapitalismus doch auf seinen Untergang zu, wie die Welt-
systemtheoretiker annehmen? Es kann hier nicht darum gehen, diese Fragen zu
beantworten, sondern lediglich darum, das Interesse an ihrer weiteren Bearbeitung
zu wecken. Kritische Theorie als Krisen- und Entwicklungstheorie des Kapita-
lismus ist jedenfalls aktueller denn je.
128 Thomas Sablowski

Literatur

Aglietta, Michel (1979): A Theory of Capitalist Regulation. The U. S. Experience, London


– (2000): Ein neues Akkumulationsregime. Die Regulationstheorie auf dem Prüfstand,
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Althusser, Louis (1974): Für Marx, Frankfurt a. M.
–/Balibar, Etienne (1972): Das Kapital lesen, Reinbek bei Hamburg
Altvater, Elmar/Mahnkopf, Birgit (1999): Grenzen der Globalisierung. 4., völlig überarbeitete
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Fred Pollock in Silicon Valley. Automatisierung und
Industriearbeit in der vernetzten Massenproduktion
Boy Lüthje

Einleitung

Die Analyse der fortgeschrittenen Formationen kapitalistischer Produktion und


Arbeitsteilung ist ein immer wiederkehrendes Grundthema kritischer Gesell-
schaftstheorie. Für die ältere Frankfurter Schule war dieser Zusammenhang schon
aufgrund ihrer programmatischen Anlehnung an die Marxsche Kritik der politi-
schen Ökonomie gegeben (vgl. Horkheimer 1937/1968, S. 182 f.); die empirisch
maßgebenden Forschungen bildeten hier die Arbeiten Henryk Grossmanns und
Friedrich Pollocks. In der Nachkriegsära, in der die Kritik der politischen Öko-
nomie nicht mehr der zentrale Bezugspunkt war, waren zunächst die in den 1950er
Jahren in den USA entstandenen Arbeiten Pollocks zur Automatisierung stil-
prägend, später, in den 1970er und frühen 1980er Jahren, die industriesoziologi-
schen Arbeiten des Instituts, die sich an der von Braverman und Sohn-Rethel
angeleiteten Wiederentdeckung des Marxschen Theorems der reellen Subsumtion
orientierten. Die verschiedenen theoretischen Konzepte widerspiegeln die vielfach
dargestellten wissenschaftlichen und politischen Debatten um die Kritische Theorie
(vgl. Demirovic 1999). In den theoretischen Thematisierungen drücken sich aber
auch bestimmte historische Vorstellungsweisen von der Entwicklung des Kapita-
lismus und den Perspektiven seiner Transformation aus, die über den engeren
Rahmen der Theorie hinausgehen und in mancher Hinsicht Elemente eines strate-
gisch-politischen common sense der Linken bilden.
Auf diesen ihren historisch-kritischen Gehalt bezogen wollen wir im Folgenden
einige zentrale Analysen aus dem Umkreis des Frankfurter Instituts für Sozialfor-
schung der Nachkriegsära zum Thema Automation und kapitalistische Produktion
rekapitulieren und sie auf ihre Bezüge zu den gegenwärtigen Umbrüchen in
zentralen Bereichen des kapitalistischen Industriesystems befragen, die mit Stich-
worten wie »Informatisierung«, »Vernetzung« und »Globalisierung« der Produk-
tion gehandelt werden. Es geht uns dabei weder um eine posthume Pauschalkritik
älterer Ansätze noch um deren Exhumierung für einen scheinradikalen Rekurs auf
frühere Theorietraditionen. Wir gehen davon aus, dass heutigen Verhältnissen
angemessene Kapitalismustheorien kaum noch auf elaborierte Ansätze aus dem
Umkreis der Kritischen Theorie zurückgreifen können, dass sich aber für eine
kritische Analyse des Formwandels kapitalistischer Produktion und seiner politi-
schen und sozialen Institutionalisierung »die alten Fragen nach der Totalität von
Gesellschaft, nach ihrem ökonomischen und sozialen Zusammenhang auf der
Makroebene neu stellen« (Schumm 1996, S. 50).
In diesem Sinne lautet unsere zentrale These, dass die für den heutigen Kapita-
lismus kennzeichnenden Formen »globalisierter« und »vernetzter« Produktion
132 Boy Lüthje

Regulationsmechanismen gerade für jenes Problem kapitalistischer Rationalisie-


rung beinhalten, welches in den Analysen der Nachkriegsära als zentrale Schranke
der technologischen und ökonomischen Entwicklung angesehen wurde, nämlich
die Verwertung des unter den fordistisch-tayloristischen Formen der Produktion
beständig wachsenden konstanten beziehungsweise fixen Kapitals und die daraus
erwachsenden Probleme bei der Erzeugung und Aneignung von Mehrwert. Auf
der anderen Seite heben die neueren Formen gesellschaftlicher Arbeitsteilung die
Strukturprobleme kapitalistischer Rationalisierung keineswegs auf. Sie schaffen
aber neue Verlaufsformen dieser Widersprüche, die sich in jenen Formen von
Unternehmensorganisation und Konkurrenz manifestieren, welche heute unter
dem Begriffsetikett »Netzwerke« firmieren. Die Analyse dieser Strukturen und
ihrer hochgradig politischen Regulationsformen sehen wir als ein zentrales Feld
kritischer Gesellschaftstheorie heute an. Die Verortung dieses Feldes im Kontext
historischer Kapitalismustheorien kann dazu beitragen, falsche Perzeptionen der
Krisendynamik des globalisierten Kapitalismus zu vermeiden und den Objektbe-
zug kritischer Kapitalismusanalyse zu präzisieren.
Im Folgenden wollen wir zunächst auf einige für die Epoche des Fordismus
zentrale Diagnosen im Umfeld des Instituts für Sozialforschung zur Entwicklung
der kapitalistischen Arbeitsorganisation zurückblicken und fragen, wie hier der
Zusammenhang zwischen der »Mikrowelt« der Rationalisierung im Industrie-
betrieb und der Gesellschaftsformation des fordistischen Kapitalismus insgesamt
konstruiert war. Diese Analysen sind zu kontrastieren mit den im Zeichen der so
genannten New Economy der 1990er Jahre entstandenen Formen vernetzter Mas-
senproduktion, zugleich ist nach einigen der damit verbundenen Herausforderun-
gen an eine kritische Theorie des Kapitalismus zu fragen. Zur empirischen Illustra-
tion greifen wir auch auf aktuelle, am Institut für Sozialforschung betriebene
Forschungen zum informationstechnischen Industriesektor und zur industriellen
Arbeit in den Zentren der »High-Tech«-Industrien, insbesondere dem kaliforni-
schen Silicon Valley, zurück. Unsere Darstellung erhebt dabei weder Anspruch auf
Vollständigkeit noch auf philologische Genauigkeit. Im Sinne der Intentionen des
vorliegenden Bandes geht es vielmehr um eine Zusammenfassung einiger theo-
riegeschichtlicher Problemlinien, die vielleicht helfen mag, das Feld der aktuellen
Debatte präziser zu markieren.

1. Friedrich Pollock: Automatisierung als Kernproblem des fordistischen


Kapitalismus

Die Strukturen der sich entwickelnden fordistischen Industrieproduktion wurden


am Institut für Sozialforschung der Nachkriegsjahre in den Studien Friedrich
Pollocks zur Automation breiter analysiert. Pollock berichtet über die in den
1950er Jahren in den USA entstandenen Debatten zu diesem Thema, in denen auch
breit auf die neue Technik der elektronischen Datenverarbeitung Bezug genommen
wurde. Der »elektronische Kalkulator« erschien als Herz einer zukünftigen »auto-
Fred Pollock in Silicon Valley 133

matischen Produktionsweise«, in der die menschlichen Funktionen im industriellen


Arbeitsprozess, jedenfalls in den klassischen Bereichen angelernter und qualifizier-
ter Industriearbeit, weitgehend »durch vorwiegend elektronische Geräte über-
nommen werden können« (1956, S. 7). Pollock referiert die damals in Deutschland
noch wenig bekannten theoretischen Grundlagentexte der Automatisierungsbewe-
gung wie Norbert Wieners Cybernetics or Control und Lewis Mumfords Technics
and Civilization. Gestützt auf zahllose Aufsätze aus US-Fachzeitschriften werden
die Auswirkungen dieser »zweiten industriellen Revolution« in allen Bereichen des
gesellschaftlichen Lebens beschrieben – von den Fließbandindustrien über den
Maschinenbau bis in die öffentliche Verwaltung, das Versicherungswesen und die
»Anweisung von Platzkarten und Frachtraum im Verkehrswesen« (ebd., S. 31).
Ausführlich beschäftigt sich Pollock mit der »Beurteilung der sozialen Wirkun-
gen der Automation«. Dabei erkennt er aus »technischer Sicht« kaum Grenzen der
Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft in der Produktion, wohl aber aus be-
triebs- und volkswirtschaftlicher. Pollock kritisiert die traditionelle neo-klassische
»Kompensationstheorie«, wonach die freigesetzten Arbeitskräfte infolge der durch
die Senkung der Produktionskosten eingeleiteten Wachstumsdynamik relativ rasch
wieder in den Wirtschaftsprozess aufgenommen würden (S. 47). Er hält sich zu-
nächst an Keynes, dem zufolge die technologische Arbeitslosigkeit nicht durch den
Marktautomatismus behoben werden kann, weil unregulierte Märkte aus sich
heraus meistens kein gesamtwirtschaftliches Gleichgewicht mit Vollbeschäftigung
erzeugen würden. Regulierung von Arbeitslosigkeit wird vor dem Hintergrund der
Erfahrungen der 1930er und 1940er Jahre als Handlungsimperativ für die be-
treffenden Regierungen gesehen, »wenn sie nicht das Leben der Gesellschaft
selbst« (S. 49) in Gefahr bringen wollen.
Pollock bezieht sich ausführlich auf Analysen aus dem US-Gewerkschafts-
verband American Federation of Labor – Congress of Industrial Organizations
(AFL-CIO) und der Automobilarbeitergewerkschaft United Automobile Workers
(UAW). Im Sinne der sozialdemokratisch geprägten Vorstellungen des UAW-
Präsidenten W. Reuther (vgl. Lichtenstein 1995) werden umfangreiche öffentliche
Maßnahmen zur Stabilisierung der gesamtwirtschaftlichen Nachfrage vorgeschla-
gen, die an den New Deal der 1930er Jahre erinnern: Umschulungen, staatliche
Arbeitsmarktprogramme, »Vergebung öffentlicher Arbeiten in großem Stil«
(S. 83 ff.) lauten die Stichworte. Pollock unterstreicht auch die von Reuther und
anderen US-Gewerkschaftsführern (vgl. Beirne 1969) geäußerte Befürchtung, dass
der gewerkschaftliche Arbeitskampf im Zeitalter der Automation seine Bedeutung
verlieren würde – ein weiteres Argument für eine verstärkte Einmischung der
Gewerkschaften in die Gestaltung der staatlichen Kompensationspolitik.
Auffällig ist allerdings die häufig unreflektierte Übernahme dieser Vorstellungen
und der ihnen unterliegenden Analysen. Der technischen Entwicklung wird eine
quasi unaufhaltsame Fortschrittsdynamik unterstellt, die allenfalls durch das Prob-
lem der mangelnden gesellschaftlichen Nachfrage gehemmt werden könnte. Die
entstehenden Veränderungen in der Klassenstruktur erscheinen mehr oder weniger
zwangsläufig. Pollock entwirft ein Szenario eines stark nach oben und unten
polarisierten »Gesamtarbeiters«, in dem das mittlere Segment qualifizierter Fach-
134 Boy Lüthje

arbeit kontinuierlich an Gewicht verliert oder gar weitgehend verschwindet. Er


gibt dieser Analyse, die in der deutschen industriesoziologischen Literatur später
unter dem Etikett »Polarisierungsthese« bekannt geworden ist (Kern/Schumann
1970), aber zumindest unterschwellig eine Wendung, die man aus heutiger Sicht als
eine Art Absterben des Proletariats interpretieren könnte. Während »in der voll-
entwickelten Automation von den im traditionellen Fließbandprozess notwendi-
gen menschlichen Arbeitskräften nur noch das Personal für die Einstellung, Beauf-
sichtigung und Instandhaltung der Maschinerie übrig geblieben ist«, so heißt es,
»wird im Gesamtprozess der Automation den Ingenieuren die wichtigste Rolle in
der Produktion zufallen« (S. 13).
Nicht in Frage gestellt werden in Pollocks Analyse allerdings die gesellschaft-
liche Form des technischen Fortschrittes und seine Zielrichtung, entsprechend der
von den angesprochenen US-Gewerkschaften immer wieder geäußerten Distanz
zur »Maschinenstürmerei« (vgl. S. 90). Von Analysen der modernen Technik als
Teil des ideologisch-kulturellen »Verblendungszusammenhanges« des fortgeschrit-
tenen Kapitalismus, wie von Marcuse, Adorno oder Horkheimer bekannt, scheint
Pollock weit entfernt. Es fehlt auch eine Untersuchung der sich im Zuge des
technischen Fortschritts verändernden Verwertungsbedingungen des Kapitals.
Ebenso wenig wird auf die noch kaum ein Jahrzehnt zurückliegenden Kämpfe der
neu entstandenen US-Industriegewerkschaften gegen den speed-up an den Fließ-
bändern, um die Kontrolle der betrieblichen Arbeitsbedingungen und für die
Einschränkung der Verfügungsgewalt des kapitalistischen Managements Bezug
genommen, deren soziale und politische Eindämmung durch den McCarthyismus
und die antikommunistischen Säuberungsaktionen innerhalb der Gewerkschaften
in direktem Zusammenhang mit der Stabilisierung bürokratisierter Verhandlungs-
strukturen und Apparate stand (Davis 1986). Die Gefahren der Automatisierung
kann Pollock nur in recht allgemeiner Form beschreiben – als Untergrabung einer
demokratischen Verfassung der Gesellschaft durch eine sich verselbständigende
Managerkaste, die sich »am Aufbau einer autoritären militärischen Hierarchie«
orientiert (S. 94).

2. Sohn-Rethel und das Problem der rellen Subsumtion

Reflektieren diese Diskussionen und deren Rezeption bei Pollock in vielfältiger


Weise die relative Schwächeposition der Gewerkschaften bzw. das Absterben
militanter Positionen innerhalb der Arbeiterbewegung in der Zeit nach dem Zwei-
ten Weltkrieg (für die USA Moody 1988), so drückt sich in den Rationalisierungs-
analysen des Instituts für Sozialforschung in den 1970er und frühen 1980er Jahren
jene Wiederentdeckung der Kritik kapitalistischer Herrschaft im Industriebetrieb
aus, wie sie von der Studentenbewegung und den militanten Gewerkschafts-
kämpfen jener Zeit ausgingen. Zum zentralen Bezugspunkt wurden hier die angel-
sächsische labor process-Debatte – besonders die sie begründende Studie Labor and
Monopoly Capital Harry Bravermans – und die Arbeiten Alfred Sohn-Rethels, der
Fred Pollock in Silicon Valley 135

bereits in den 1920er und 1930er Jahren in Beziehung zu prominenten Mitarbeitern


des Instituts gestanden hatte. Sohn-Rethels in den 1970er Jahren wieder heraus-
gegebene Schrift Geistige und körperliche Arbeit (hier zitiert nach der englischen
Ausgabe, 1978) wurde zu einem wichtigen Bezugspunkt für viele jüngere Frank-
furter Industriesoziologen, die in einer radikal kapitalismuskritischen Thematisie-
rung der Herrschaftsverhältnisse im modernen Industrieunternehmen einen zent-
ralen Bezugspunkt für eine Rekonstruktion kritischer Gesellschaftstheorie sahen
(Demirovic 1999).
Sohn-Rethels Arbeit hatte insofern eine besondere Bedeutung, als sie jene
Motive der Kritik des kapitalistischen Produktionsprozesses in den Mittelpunkt
stellte, wie sie für die radikalen Varianten des Marxismus in den USA, aber auch in
einigen europäischen Ländern mit starken Traditionen eines linken Syndikalismus
typisch, in den eher auf Fragen ökonomischer Krisen, staatlicher Macht und
imperialistischer Politik bezogenen marxistischen Traditionen in Deutschland aber
unterrepräsentiert sind (vgl. Braverman 1975). Anders als Pollock war Sohn-Rethel
stark »technikkritisch«, stellte also in grundlegender Weise Form und Inhalt des
technischen Fortschritts im Kapitalismus in Frage. Sein theoretisches Thema ist die
Veränderung kapitalistischer Vergesellschaftung (»gesellschaftlicher Synthesis«)
durch die zunehmende Formierung von Produktion, Technik und Wissenschaft
sowie der korrespondierenden Denkformen entlang kapitalistischer Wertgesetz-
lichkeit. Wie bei den angelsächsischen Autoren erscheint als zentrales historisch-
kritisches Motiv die Unterordnung des handwerklichen Facharbeiters traditionel-
len Typs unter die Herrschaft der »wissenschaftlichen Arbeitsorganisation« nach
den Prinzipien Frederick W. Taylors.
Die gesellschaftliche Synthesis moderner kapitalistischer Industriegesellschaften
ist bei Sohn-Rethel vom Widerspruch zweier ökonomischer Logiken beherrscht,
nämlich Zeit- und Marktökonomie, in der sich der Gegensatz zwischen der
Gesellschaftlichkeit der Arbeitsprozesse in ihrer stofflich-organisatorischen Struk-
tur (Gebrauchswert), und der privatkapitalistischen Aneignung von Profit (Tausch-
wert) manifestiert. In der modernen Industrieproduktion tritt dieser Widerspruch
hervor im enormen Anwachsen des technischen Produktionsapparates auf der
einen Seite und dem dauernden Zwang zur Ökonomisierung des Faktors Zeit auf
der anderen, die vor allem durch die tayloristische Arbeitsorganisation gewähr-
leistet werden soll. Das besondere Kennzeichen des modernen Monopolkapita-
lismus ist die fortschreitende Verdrängung des handwerklich qualifizierten Fach-
arbeiters durch weitgehend dequalifizierte Massenarbeit und, in einer darauf auf-
bauenden, von Sohn-Rethel in Anlehnung an Lenin auch als »drittes Stadium der
kapitalistischen Produktionsweise« bezeichneten Entwicklungsphase, die weitge-
hende Automatisierung der Produktion.
Den Ausgangspunkt der monopolkapitalistischen Fabrikorganisation erblickt
Sohn-Rethel in der veränderten Kostenökonomie des Produktionsprozesses. Aus-
gehend von Schriften J. M. Clarks und Eugen Schmalenbachs, einem der Begründer
der modernen Betriebswirtschaftslehre in Deutschland, sieht Sohn-Rethel die stei-
gende Kapitalintensität der wissenschaftlich organisierten Massenproduktion als
Triebfeder einer zunehmenden Dominanz der indirekten oder fixen Kostenele-
136 Boy Lüthje

mente über die variablen. Die Kalküle der Kapitalverwertung werden unter diesem
Vorzeichen dadurch beherrscht, dass die kapitalistischen Großunternehmen kaum
noch auf Konjunkturrückgänge und Markteinbrüche reagieren können, weil auch
die nachdrückliche Reduktion von Arbeitskräften und anderen variablen Kosten-
elementen nicht den Rückgang der Profitraten durch die Belastung durch fixe
Kapitalkosten kompensiert (Sohn-Rethel 1978, S. 144ff.). Diese auch in vielen
anderen – marxistischen und nicht-marxistischen – Analysen des modernen Kapi-
talismus geteilte Diagnose (vgl. Mandel 1974, Mattick 1976, Aglietta 1979 u.a.m.)
begründet bei Sohn-Rethel die Notwendigkeit einer permanenten Rationalisierung
des Produktionsprozesses unter den Vorzeichen einer rigiden Zeitökonomie.
Die sozial- und klassenstrukturellen Implikationen dieser Analyse entsprechen
in vieler Hinsicht der bei Pollock entwickelten »Polarisierungsthese«. Die Fließ-
produktion, die zum umfassenden Organisations- und Bewegungsprinzip kapi-
talistischer Produktion wird, führt ebenfalls zu einer breiten Dequalifizierung der
Masse der unmittelbaren Produktionsarbeiter und deren Abtrennung von den
Planungs- und Kontrollfunktionen, welche Angelegenheit einer relativ kleinen
Gruppe technischer Spezialisten sind. In der zunehmenden Formierung der wis-
senschaftlich-technischen Arbeit einschließlich ihrer Denkkategorien sieht Sohn-
Rethel allerdings auch ein potentiell systemsprengendes Element, denn die Auto-
matisierung würde erstmals in der Geschichte der Menscheit auch die Perspektive
auf eine Befreiung von der körperlichen Arbeit als solcher eröffnen. Im automati-
sierten Arbeitsprozess sei die Subjektivität der individuellen Arbeitskraft »durch
die Elektronik der Automatisierung ersetzt« (S. 175); in Gestalt des automatisierten
Produktionssystems trete dem Arbeiter sozusagen die perfektionierte zeitöko-
nomische Vergesellschaftung der Produktion gegenüber, die allerdings völlig den
Interessen des Kapitals unterworfen bleibe. Mit der Erkenntnis dieses Wider-
spruches entstehen letzthin die Voraussetzungen zu einer künftigen, auf einer
gebrauchswertorientierten Aneignung der Produktionsmittel basierenden Verge-
sellschaftung, wie von Marx seinerzeit in den Grundrissen postuliert.
Wie dieser revolutionäre Umschlag historisch vonstatten gehen soll, bleibt bei
Sohn-Rethel allerdings weitgehend im Dunkeln. Wichtiger sind an dieser Stelle
indes seine strategisch-historischen Vorstellungen von der Entwicklungsdynamik
des modernen Kapitalismus. Diese sind bei näherem Hinsehen denen Pollocks in
mancher Hinsicht ähnlich. Bei beiden erscheinen Rationalisierung und Automati-
sierung entlang dem Taylorschen Paradigma als ein unilinear voranschreitender
Prozess, dem in technischer Hinsicht kaum Grenzen gesetzt scheinen. Beiden
unterliegt die Vorstellung einer zunehmenden Entwertung der menschlichen Ar-
beitskraft und deren Entmachtung in der Produktion. Ähnlich wie Harry Braver-
man gehen beide zumindest implizit vom handwerklich qualifizierten Facharbeiter
»vor-fordistischen« Typs aus, die Geschichte der Rationalisierung wird wesentlich
als die einer fortschreitenden Verdrängung dieses Arbeitertyps interpretiert. Sys-
tematisch kaum berücksichtigt wird der Widerstand der betroffenen Arbeitskräfte
beziehungsweise der Organisationen und Institutionen ihrer Interessenvertretung
und ihr möglicher Einfluss auf die Gestaltung der Arbeitsorganisation. In beiden
Analysen lässt sich so jenes Defizit in der Analyse von Politik und Strategien der
Fred Pollock in Silicon Valley 137

Akteure des betrieblichen Interessengegensatzes feststellen, welches in der Tat für


viele Arbeiten der Frankfurter Industriesoziologie der 1960er und 1970er Jahre
(Schumm 1996, S. 44), aber auch für die Klassiker der kritischen Theorie insgesamt
kennzeichnend ist.
Dieses Defizit zeigt sich nicht zuletzt auch in der Analyse der politischen
Ökonomie der fordistischen Massenproduktion und ihrer Akteure. Bei Pollock
und erst recht bei Sohn-Rethel wird die Analyse der Rationalisierungsentwicklung
im einzelnen Unternehmen zum Ausgangspunkt relativ weitreichender theore-
tischer und politischer Schlussfolgerungen bezüglich der allgemeinen ökonomi-
schen und sozialen Entwicklungstendenzen des zeitgenössischen Kapitalismus. Die
für die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie entscheidende Frage, wie sich
die einzelunternehmerischen Rationalisierungs- und Automatisierungspolitiken in
gesamtökonomische Wachstums- und Krisenkonstellationen übersetzen und wie
diese im gesellschaftlichen Maßstab reguliert werden, wird meistens nicht gestellt.
Damit ist implizit auch die universelle Vorherrschaft tayloristischer Rationalisie-
rungspraktiken über alle wesentlichen Bereiche der industriellen Produktion unter-
stellt. Das auch für die Epoche des Fordismus festzustellende komplexe Nebenein-
ander von fordistischer Massenproduktion und spezialisierter, nicht nach diesem
Modell organisierter Industriebereiche wird nicht angesprochen.
Die in beiden Analysen festzustellende reduktionistische Verknüpfung von
einzelkapitalistischem Verwertungsprozess und gesamtgesellschaftlicher Regula-
tion beschränkt in entscheidender Weise die Analyse der ökonomischen und
sozialen Dynamik kapitalistischer Rationalisierung. Sowohl der eher technokra-
tisch-reformistischen Analyse Pollocks als auch der radikal kapitalismuskritischen
Position Sohn-Rethels unterliegt die Vorstellung von einem zunehmend monopoli-
sierten und vermachteten Kapitalismus, die in jeweils unterschiedlichen Variationen
die auf Bearle und Means zurückgehende These einer »managerialen Technokratie«
reflektiert. Der entscheidende ökonomische Akteur ist dabei jeweils die von
Schumpeter (1950) und später Chandler (1962) analysierte modern corporation, also
das vertikal integrierte Großunternehmen fordistischen Typs. Der Bezug der ge-
samtökonomischen Krisenanalyse auf diesen Modus einzelkapitalistischer Organi-
sation ist jeweils so fixiert, dass längerfristige historische Umbrüche im Produk-
tions- und Wachstumsmodell fortgeschrittener kapitalistischer Gesellschaften, wie
sie seit den 1920er Jahren etwa bereits von Theorien »langer Wellen« der kapi-
talistischen Entwicklung thematisiert wurden (Mandel 1974), ausgeschlossen er-
scheinen.

3. Von der Krise des Taylorismus zur »Netzwerkgesellschaft«

Vergleicht man die Analysen Pollocks und Sohn-Rethels mit der heutigen Situa-
tion, so könnte der Kontrast zwischen Prognose und Wirklichkeit kaum schärfer
erscheinen. Angesichts der enormen Entwicklung der Mikroelektronik und an-
derer neuer Technologien scheinen die Möglichkeiten der einst mit den ersten
138 Boy Lüthje

»elektronischen Kalkulatoren« begonnenen Automatisierung in der Tat fast gren-


zenlos. Zwar gibt es in den meisten Industrieländern seit den 1970er Jahren eine
mehr oder weniger dauerhaft hohe Arbeitslosigkeit, eine ernsthafte Gefährdung
der sozialen Stabilität ist hiervon meistenteils aber nicht ausgegangen. Die enorme
Rationalisierung der Produktion in den letzten zwei Jahrzehnten funktionierte
zunehmend auch ohne keynesianisches Krisenmanagement. Ebenso hat sich die
These einer zunehmenden Polarisierung des Gesamtarbeiters nicht bewahrheitet,
vielmehr wurden wesentliche Elemente der tayloristischen Arbeitsorganisation
sogar vom Kapital selbst in Frage gestellt. Entsprechend haben die zum Teil
dramatisch verschlechterten Reproduktionsbedingungen der Lohnarbeit keinen
Aufstand gegen die kapitalistische Form der »totalen Vergesellschaftung« erzeugt,
ausgebreitet haben sich hingegen neue, am Gedanken der Teamarbeit orientierte
Modelle der betrieblichen Sozialpartnerschaft, die viele traditionelle Machtposi-
tionen der Gewerkschaften untergruben (Moody 1997).
Dazwischen liegen nunmehr fast drei Jahrzehnte einer Restrukturierung des
fordistischen Produktionsmodells, die in der Weltmarktkrise Mitte der 1970er
Jahre ihren Ausgangspunkt hatte. Auf der betrieblichen Ebene stand im Mittel-
punkt dieser Entwicklung das Aufbrechen der starren tayloristischen Arbeits-
organisation, die für die deutsche Industriesoziologie in maßgeblicher Weise von
Kern und Schumann (1984) unter dem beziehungsreichen Titel »Das Ende der
Arbeitsteilung« analysiert wurde. Die »Krise des Taylorismus« ging einher mit dem
Aufschwung des so genannten Toyota-Modells, also des »japanischen« Konzeptes
der Betriebs- und Arbeitsorganisation, das zum Vorbild von schlanker Produktion
und Gruppenarbeit in aller Welt wurde (vgl. Womack u. a. 1990). Zwar lässt sich
heute in vielen Industrieländern wieder ein gewisses Zurück zu hierarchisch-
tayloristischen Kontrollformen konstatieren, das von den kurzfristigen Verwer-
tungszwängen des shareholder-value-Kapitalismus vorangetrieben wird (Schu-
mann 1997). Dennoch bleibt unter dem Strich, dass heute in fast allen Industrie-
bereichen – und auch unter den Vorzeichen harter neo-liberaler Regimes – in
deutlich stärkerem Maße auf kooperative Arbeitsformen gesetzt wird als zu Zeiten
Pollocks und Sohn-Rethels.
Mindestens ebenso tiefgreifend sind die Veränderungen der Arbeitsteilung auf
der Ebene der Unternehmensorganisation und zwischen den Betrieben und Unter-
nehmen. In den 1980er Jahren geschah dies zunächst durch den Übergang zu
Formen einer »flexiblen Spezialisierung« (Piore/Sabel 1984), für die hochspezia-
lisierte, oft von Kleinunternehmen dominierte Industriedistrikte wie die italieni-
sche Emiglia Romana, Baden-Württemberg oder das Silicon Valley der frühen
1980er Jahre standen. Der Vormarsch des Toyotismus in der Automobil- und
anderen klassischen Massenproduktionsindustrien setzte dann einen bis heute
anhaltenden Trend zum Outsourcing bei vertikal integrierten Großunternehmen in
Gang, in deren Verlauf die für den Fordismus beherrschenden Formen der Unter-
nehmensorganisation zunehmend untergraben wurden (z. B. Kenney/Florida
1993). Dieser Trend radikalisierte sich in den 1990er Jahren noch einmal durch die
Entstehung so genannter »fabrikloser« Unternehmen mit ausgedehnten Subkon-
traktierungsnetzen, für die Firmennamen wie Benetton, Nike oder Cisco stehen
Fred Pollock in Silicon Valley 139

(vgl. Bonacich u. a. 1994, Gereffi 1995, Borrus/Zysman 1997, neuerdings Chandler


2001).
Vor diesem Hintergrund hat sich in den Sozialwissenschaften inzwischen auf
breiter Front die These durchgesetzt, dass moderne Industrieproduktion immer
mehr in »Netzwerken« organisiert ist. Dieses Konzept findet fast allgemeine
Verwendung zur Kennzeichnung neuerer Formen vertikal desintegrierter Produk-
tion, die sowohl das »Toyota«- als auch das »Benetton-Modell« einschließen. Es
stützt sich stark auf das Theorem der flexiblen Spezialisierung und beansprucht in
Gestalt des von Manuel Castells (1996) formulierten Begriffes der network society
umfassenden sozialwissenschaftlichen Theoriestatus. Mit dem Aufschwung dieser
neuen Orthodoxie, auf deren verschiedene Unterströmungen und Schulen wir hier
nicht eingehen können, sind auch neue Epizentren der industriellen Entwicklung
in den Vordergrund des Interesses getreten. Die Modellunternehmen des Netz-
werkkapitalismus sind nicht mehr in den alten Metropolen des Fordismus oder
Toyotismus beheimatet, sondern typischerweise im Westen der USA, etwa in der
High-Tech Metropole Silicon Valley (Saxenian 1994) oder in den Leichtindustrie-
distrikten von Metropolen wie Los Angeles oder San Diego/Tijuana. Ihnen zur
Seite stehen die heutigen Drehscheiben der vernetzten Massenproduktion in Süd-
ostasien, vor allem die Stadtstaaten Singapur und Hongkong sowie Taiwan, die
besonders von den neueren Theoriekonzepten des asiatischen Kapitalismus und
der Asian business networks analysiert werden (Orru u. a. 1997, Yeung 1998,
kritisch Arrighi/Silver 1999).
Diesen Theorien unterliegt eine Art theoretisch-ideologischer Generalkonsens,
dessen disziplinübergreifende Elemente sich vielleicht wie folgt zusammenfassen
lassen (vgl. Castells 1996):

(a) Anknüpfend an Schumpeter (und im Gegensatz zu früheren Stagnationstheo-


rien marxistischer oder keynesianischer Provenienz) wird die Aussage ge-
macht, der Kapitalismus sei prinzipiell innovativ, heute ausgedrückt vor allem
im »technologischen Paradigma« der vernetzten Datentechnik des Internet-
Zeitalters.
(b) Kapitalistische Produktion organisiert sich in »Netzen« spezialisierter, mitei-
nander kooperierender Firmen, vertikale Desintegration und Spezialisierung
werden zum entscheidenden Wettbewerbsvorteil auf immer schnellebigeren
Märkten.
(c) Die Akteure des technischen Wandels sind nicht einzelne große Unternehmen,
sondern technological communities, also Netzwerke von innovativen Firmen
und Technikern, zumeist in regionalen Agglomerationen, aber auch in welt-
weiten Verbünden (Saxenian 1994).
(d) Der Trend zu einer verstärkten Arbeitsteilung impliziert eine Tendenz zu
kooperativen, vertrauensbasierten Beziehungen innerhalb dieser Netze, eine
Aussage, die sowohl bezüglich der Zusammenarbeit zwischen Unternehmen
und technological communities als auch bezüglich des Verhältnisses von Arbeit
und Kapital gemacht wird. Zur entscheidenden Frage in der internationalen
Standortkonkurrenz wird dabei, wie Lernprozesse effektiv und unter Ein-
140 Boy Lüthje

schluss aller relevanten lokalen Akteure in Unternehmen und Regionen orga-


nisiert werden.

Die harmonistischen Konsequenzen dieses »neo-schumpeterianischen Konsenses«


werden nur von vergleichsweise wenigen Theorieschulen in Frage gestellt. Hierzu
gehören zum Beispiel in der deutschen Industriesoziologie entstandene Konzepte
»systemischer Rationalisierung«, die systematisch nach den Ungleichheiten von
Produktions- und Beschäftigungsbedingungen bei der »Arbeit an der Kette« in den
modernen Zulieferpyramiden fragen (stellvertretend Sauer/Döhl 1994). Im angel-
sächsischen Raum sind dies häretisch argumentierende Industrieökonomen wie der
verstorbene Bennett Harrison (1994), Vertreter der vor allem in Berkeley und Los
Angeles angesiedelten kritischen US-Industriegeographie (Storper/Walker 1989)
sowie die Protagonisten des von Hopkins und Wallerstein (1986) stammenden
Konzeptes transnationaler Produktions- und Warenketten (Gereffi/Korzeniewicz
1994). Jenseits zum Teil erheblicher theoretischer Unterschiede ist diesen Ansätzen
gemeinsam, dass sie auch nach der Bedeutung der Industriearbeit und neuer
Formen der materiellen Produktion im Kontext der vernetzten Produktion fragen
– eine Problemdimension, die in den meisten sozialwissenschaftlichen Netzwerk-
theorien inzwischen fast völlig verloren zu gehen scheint.

4. Fragmentierung und Zentralisierung: Massenproduktion im Zeitalter


der New Economy

Das Netzwerkparadigma signalisiert den heute weitgehend vollzogenen Bruch mit


den in der Nachkriegsära vorherrschenden Mustern der Arbeits- und Unter-
nehmensorganisation, die einschlägigen Debatten der Gegenwart widerspiegeln
freilich manche Klischees der Automatisierungsdebatten der 1950er und 1960er
Jahre. Vor allem scheint sich heute wieder auf breiter Front die Vorstellung
durchzusetzen, dass Produktionsarbeit im Zeitalter der netzwerkbasierten Öko-
nomie ihre Bedeutung verliert. Das mit dem Theorem der »Netzwerkgesellschaft«
zusammenhängende Konzept der informational economy (Carnoy u. a. 1993) for-
muliert eine solche Hypothese ebenso wie kommunitaristische Theorien vom End
of Work (Rifkin 1993) oder deren Adaptionen bei prominenten Vertretern der
akademischen Linken (Aronowitz/DiFazio 1994). Während sich das Interesse der
arbeitstheoretischen Diskussion wie in den 1950er Jahren ganz auf die technischen
und wissenschaftlichen Spezialisten des modernen Produktionsbetriebes konzent-
riert (heute auch oft als symbolic analysts bezeichnet, Reich 1991), verschwinden
die von früheren Kritikern der fordistischen Automatisierung analysierten polit-
ökonomischen Schranken der Technologieentwicklung fast völlig aus dem Blick.
Kaum hinterfragt erklären neo-klassische Apologeten der mikroelektronischen
Revolution wie George Gilder (1988) physikalische Projektionen wie das soge-
nannte Mooresche Gesetz der Halbleitertechnik zu Bewegungsgesetzen des mo-
dernen Kapitalismus: Die Verdoppelung der Anzahl der Schaltkreise auf einem
Fred Pollock in Silicon Valley 141

Mikrochip im Rhythmus von 18 Monaten führe zu einer laufenden Vervielfachung


der technologischen Innovationsmöglichkeiten; die einst von Marx unterstellte
Stagnation des Profits im Zuge des technologischen Fortschrittes werde durch die
permanente Gründung innovativer Jungunternehmen sozusagen überholt, auch das
Wachstum von Arbeit und Beschäftigung erscheint grenzenlos.
Dass gegenüber solchen Aussagen schon in empirischer Hinsicht manche Zwei-
fel angebracht sind, zeigen die neueren sozialen und ökonomischen Entwicklungen
in den Kernregionen der so genannten New Economy. In den USA vollzog sich
gerade in deren Boomjahren auch ein Neuaufbau bedeutender Industriekapazitä-
ten, allerdings meistenteils zu Niedriglohnbedingungen und außerhalb der gewerk-
schaftlich organisierten traditionellen Industriezentren (Brenner 1998). Zu einer
massiven »Inwertsetzung« neuer Potentiale industrieller Arbeit kam es in jenen
newly industrializing countries wie Mexiko, Malaysia, Taiwan und nunmehr der
Volksrepublik China, die heute die wichtigsten Basen der netzwerkbasierten Mas-
senproduktion in der Elektronik- und anderen Industrien bilden (Moody 1997).
Zugleich zeigt sich, dass selbst die durchgreifende Flexibilisierung der Arbeit das
Problem nicht beseitigt hat, wie die Unternehmen auf Markteinbrüche reagieren.
Davon zeugte drastisch die im Jahre 2001 aufgetretene massive Rezession in der
High-Tech-Industrie, deren Hauptlasten in den genannten Regionen innerhalb und
außerhalb der USA zu spüren sind (New York Times 1. 9. 2001, Business Week
1. 10. 2001). Gerade im Kernbereich der High-Tech-Produktion scheinen nach wie
vor jene Strukturprobleme kapitalistischer Produktivkraftentwicklung zu bestehen,
die einst als die Triebkräfte der Subsumtion von Arbeit und Betriebsorganisation
unter das Diktat der kapitalistischen Marktökonomie erschienen.
Besorgte Stimmen im wirtschaftspolitischen Establishment fragen deshalb nicht
nur nach den Gefahren einer entfesselten shareholder-value-Ökonomie, sondern
auch nach den Schranken der heutigen Formen der Produktion und Technolo-
gieentwicklung. Mit Blick auf die Informationselektronik lautet etwa ein Kommen-
tar der Frankfurter Allgemeinen Zeitung:
»Angesichts der hohen Investitionen und der immer kürzer werdenden Zykluszeiten stellt
sich die Frage, wie lange die Hersteller von integrierten Schaltkreisen noch auf diese Weise
operieren können. […] Beim heutigen Preisniveau reduzieren sich die Gewinnmargen und
lassen den Chip-Herstellern immer weniger Spielraum, in neue Fabriken und die Entwick-
lung neuer Chips zu investieren. Schließlich muß man sich fragen, wer außer einigen
Anwendern in Wissenschaft und Filmindustrie künftig die superschnellen Chips mit 1000
Megahertz benötigt.« (16. 2. 1998)

Angesichts dieser fast altmarxistisch anmutenden Argumentation lassen sich die bei
Autoren wie Pollock oder später Sohn-Rethel formulierten Zweifel an der Ent-
wicklungsfähigkeit der kapitalistischen Automatisierung wohl fast umkehren, näm-
lich in Richtung der Frage, warum die Kapitalakkumulation in den betreffenden
Bereichen heute trotz einer Automatisierung ungekannten Ausmaßes bislang nicht
zusammengebrochen ist. Der entscheidende Punkt zur Beantwortung dieser Frage
ist jener von beiden Autoren vernachlässigte Zusammenhang zwischen einzel-
kapitalistischen Rationalisierungsstrategien und deren Übersetzung in gesamtwirt-
schaftliche Akkumulationsmodelle. Würde man sich die heutige IT-Industrie als
142 Boy Lüthje

eine von monopolistisch strukturierten und vertikal integrierten Großunternehmen


beherrschte Branche vorstellen (wie bis Ende der 1980er Jahre tatsächlich der Fall),
müsste die enorm rasche Entwicklung der Informationstechnik geradezu paradox
erscheinen. Entscheidend ist aber, dass im Kern dieses Industriesektors eine umfas-
sende Neuzusammensetzung der Branchen- und Produktionsstrukturen stattge-
funden hat, die neben der enormen Beschleunigung der Markt- und Technologie-
zyklen eine veränderte gesamwirtschaftliche Allokation der Akkumulationsres-
sourcen und damit auch eine Neuverteilung der ökonomischen Krisenpotentiale
ermöglicht hat.
Konkreter gesprochen stellt sich dies so dar, dass auf der einen Seite zwar eine
enorme Konzentration von Investitions- und Technologieressourcen in Kern-
sektoren wie etwa der Chip-Produktion zu verzeichnen ist; die damit verbundenen
Verwertungsprobleme werden aber zumindest teilweise durch neue Formen der
Spezialisierung der Unternehmen und der globalisierten, in weitläufigen Ver-
bünden von Subunternehmen organisierten Massenfertigung der Endprodukte ex-
ternalisiert. Das Stichwort hierfür lautet »vertikale Spezialisierung«. Gemeint ist
damit die zunehmende Konzentration der Entwicklung von Schlüsseltechnologien
und -komponenten in kleineren spezialisierten Unternehmen, dem Markenzeichen
der in Silicon Valley entstandenen »Innovationskultur«, und die damit verbundene
weitgehende Abtrennung der Entwicklung neuer Produkte und Systemtechniken
von deren Fertigung. Der vielfach beschriebenen Entstehung zahlloser start-up-
Unternehmen der Chip-, Computer- oder Netzwerktechnik steht das wenig wahr-
genommene Wachstum einer breiten Phalanx von namenlosen Firmen der Auf-
tragsfertigung gegenüber, die technologisch anspruchsvollste Produkte in hoch-
modernen Großbetrieben und weltweiten Produktionszusammenhängen herstellen
(Angel 1994, Sturgeon 1997 und 1999, Lüthje 2001).
Die Ursprünge dieses Produktionsmodells liegen in der Tat in den kleinbetrieb-
lichen Produktionsstrukturen des Silicon Valley der 1970er und frühen 1980er
Jahre, die ausführlich von Annalee Saxenian (1994) und anderen Vertretern des
Theorems der flexiblen Spezialisierung beschrieben wurden. Diese Strukturen
entwickelten sich seit den späten 1980er Jahren zu einem System global vernetzter
Massenproduktion, vorangetrieben vor allem durch die auch staatlich gestützten
Anstrengungen der US-amerikanischen Chip- und IT-Hersteller zur Modernisie-
rung ihrer Produktionsstrukturen im Konkurrenzkampf mit den Elektronikkon-
zernen Japans und Koreas. Parallel zur so genannten »PC-Revolution«, also dem
breiten Durchbruch dezentralisierter Konzepte der Datenverarbeitung, entwickel-
ten sich auch deren zumeist in den USA ansässige Protagonisten zu global tätigen
Unternehmen, deren besondere Fähigkeit darin liegt, die technologischen Entwick-
lungsnormen von Schlüsselkomponenten wie Mikroprozessoren oder PC-Be-
triebssystemen im weltweiten Maßstab zu kontrollieren. Die beiden Führungs-
unternehmen der PC-Industrie, Microsoft und Intel, wurden zum Namensgeber
eines mit dem Schlagwort Wintelism bezeichneten neuen Industriemodells (Borrus/
Zysman 1997), das aus der Sicht der 1990er Jahre auch als erfolgreiche Alternative
zum traditionellen Fordismus und vor allem zum Toyotismus japanischer Prägung
erscheint.
Fred Pollock in Silicon Valley 143

Der Zusammenhang von Technologieentwicklung und Kapitalkonzetration ist


damit nicht aufgehoben, erscheint aber in stark veränderter Gestalt. So stellt sich
die IT-Industrie heute immer mehr als eine Schichtung von relativ selbständigen
Branchensegmenten dar, die jeweils eine oder mehrere Schlüsselkomponenten von
Endprodukten wie PCs, Workstations, Netzwerkrechnern oder auch Mobiltele-
fonen oder andere elektronische Konsumgüter im globalen Maßstab herstellen. Ein
extremes Beispiel sind hier vielleicht Computerfestplatten, die von einer kleinen
Zahl hochspezialisierter Massenproduzenten hergestellt werden, deren größter, das
Unternehmen Seagate, gegen Ende der 1980er Jahre etwa 80.000 Menschen be-
schäftigte, darunter etwa 60.000 Montagearbeitskräfte in Ländern wie Malaysia
oder Thailand (Lüthje 2001). In fast allen Bereichen der IT-Industrie steht der
vertikalen Spezialisierung auf der Ebene der einzelnen Unternehmen eine globale
Konsolidierung und Zentralisierung von Produktion und Technologieentwicklung
in den jeweiligen Segmenten gegenüber. Dieses Phänomen einer fortgesetzten
»Fragmentierung und Zentralisierung« (Ernst/O’Connor 1992) von Märkten und
Produktionsstrukturen kann als das zentrale Kennzeichen post-fordistischer Pro-
duktions- und Unternehmensformen angesehen werden, die heute auch in vielen
anderen Industriebereichen anzutreffen sind.
Die Ökonomisierung des Faktors Zeit erfolgt dabei nicht nur durch die Ratio-
nalisierung des einzelbetrieblichen Produktionsprozesses, sondern vor allem über
die Beschleunigung des Umschlages von Zwischen- und Endprodukten »entlang
der Kette«, also zwischen den Unternehmen. Zur Erklärung dieser Zusammen-
hänge erweisen sich jene Analysen im zweiten Band des Marxschen Kapital als
außerordentlich aktuell, wonach die Beschleunigung des Kapitalumschlages ein
wesentliches Mittel zur Ausdehnung der Verwertungsperiode des Kapitals und
damit eine wichtige Gegentendenz zum tendenziellen Fall der Profitrate ist (vgl.
Marx 1885, S. 124–153). Im Falle der IT-Industrie hat dies inzwischen zur Entste-
hung einer neuen Generation von Großunternehmen der Auftragsfertigung ge-
führt, die den großen Markenunternehmen der Branche eine in allen Regionen des
Weltmarktes vertretene Produktionsinfrastruktur und ein Komplettmanagement
aller wichtigen Aspekte des Komponenteneinkaufs, der Produktionsplanung und
der Logistik anbieten. Die größten Nutzer dieser unter dem Etikett contract
manufacturing bekannten Produktionsform (Sturgeon 1997 und 1999) sind aller-
dings längst nicht mehr die fabriklosen »Gazellenunternehmen« der New Eco-
nomy, sondern multinationale Elektronikunternehmen wie Hewlett-Packard, Phi-
lips oder Siemens. Die Zentralen der transnationalen Kontraktfertigung sind über-
wiegend in der vermeintlichen Dienstleistungsregion Silicon Valley angesiedelt, die
größten Produktionsbetriebe entstehen aber in Industrieländern der ehemaligen
»Dritten« und »Zweiten« Welt, namentlich in Mexiko, Malaysia, der VR China,
Ungarn und Polen (Lüthje u. a. 2002).
144 Boy Lüthje

5. Polarisierung oder high-trust-Kapitalismus? Widersprüche »entlang


der Kette«

Welche Tendenzen einer Restrukturierung und sozialen Umschichtung der Pro-


duktionsarbeit lassen sich für die heutigen Formen vernetzter Massenproduktion
nun erkennen? Aus dem zuletzt Gesagten ergibt sich, dass von einer Marginalisie-
rung oder gar einem »Absterben« industrieller Arbeit kaum die Rede sein kann.
Wohl aber scheint sich eine umfassende Neuzusammensetzung der Arbeit zu
vollziehen, die sowohl das Verhältnis von materieller zu nicht-materieller Produk-
tionstätigkeit als auch die Rationalisierungsentwicklung innerhalb der verschie-
denen Segmente der materiellen Produktion und ihrem Verhältnis zueinander
betrifft. Zugleich lässt sich zeigen, dass auch unter den Vorzeichen einer weitge-
hend flexibilisierten, den Verwertungserfordernissen finanzmarktorientierter Ak-
kumulation angepassten Strukturierung der Produktionsketten keine durchgängige
Tendenz zur Dequalifizierung bzw. zur »Polarisierung« der Lohnarbeit vor-
herrscht. Zwar ist es richtig, dass die shareholder-value-Ökonomie der »Moder-
nisierung« der Arbeit im Sinne einer Reprofessionalisierung immer engere Grenzen
zieht (Schumann 1997); dennoch lassen sich gerade in den Zentren der außerhalb
des »fordistischen Sozialpaktes« operierenden Industriebranchen Tendenzen einer
zumindest partiellen Aufwertung der Produktionsarbeit erkennen (Lüthje 2001).
Damit scheinen sich theoretische Positionen zu bestätigen, die (entgegen der
Marxlektüre Sohn-Rethels, aber auch der historischen Projektionen Pollocks) von
einer grundsätzlich widersprüchlichen und komplexen Entwicklung des Qualifika-
tionsvermögens im Kapitalismus ausgehen und die konkreten Prozesse der De-
und Re-Qualifizierung der Arbeit aus dem Zusammenspiel spezifischer Strategien
und Konjunkturen der Kapitalverwertung, der internationalen Arbeitsteilung und
der technisch-stofflichen Möglichkeiten der Rationalisierung erklären (vgl. Hart-
mann 1985). Entscheidende Veränderungen spielen sich freilich heute in den Ketten
jener namenlosen Subunternehmen ab, die die globalen Produktionsinfrastrukturen
zentraler Industriebranchen tragen. Dies bedeutet nicht, dass die traditionellen
»Kernunternehmen« der Industrieproduktion im Rationalisierungsgeschehen be-
deutungslos würden. Wohl aber kann die Entwicklung der subcontractor- und
Zulieferindustrien nicht mehr nur aus einer von den Kernunternehmen »abge-
leiteten« Perspektive betrachtet werden, also als das low-end der Produktions-
pyramiden, sondern als relativ eigenständiges Feld der Entwicklung und Erpro-
bung neuer Rationalisierungsstrategien. Prozesse der Ab- und Aufwertung indu-
strieller Arbeit spielen sich dabei oft in sozial sehr unterschiedlich zusammenge-
setzten und räumlich weit entfernten Zusammenhängen ab.
Dieser Zusammenhang lässt sich wiederum exemplarisch am Beispiel Silicon
Valley nachvollziehen. Eine wenig bekannte Grundlage der Erfolgsstory dieser
Region ist nämlich, dass sie stets auch ein wichtiger Produktionsstandort war, an
dem neue Strategien der Produktion und des Einsatzes der Arbeitskraft erprobt
wurden (ausführlich Lüthje 2001). Bereits Ende der 1970er Jahre waren in den neu
entstandenen Betrieben der Halbleiterindustrie etwa gut 40.000 Produktionsar-
beitskräfte tätig. Die Produktion der Mikrochips erfolgte zu dieser Zeit weitgehend
Fred Pollock in Silicon Valley 145

in Handarbeit und unter ausgesprochen primitiven Bedingungen. Die Produktion


war hochgradig hierarchisiert und von einem kaum regulierten Regime der Vorar-
beiter in den Betrieben gekennzeichnet. Das Lohnniveau lag weit unter dem
vergleichbarer Traditionsbetriebe der US-Elektronikindustrie, Arbeits- und Ge-
sundheitsschutz waren in der mit zahlreichen toxischen Substanzen arbeitenden
Chip-Produktion Fremdworte. Die Arbeitskräfte der Industrie wurden fast aus-
schließlich aus lokalen Immigrantengruppen rekrutiert, zunächst vor allem von den
in der Region traditionell stark vertretenen Mexican-Americans und Filipinos,
später auch Vietnamesen und weiteren asiatischen Nationalitäten. Die Belegschafts-
strukturen waren (trotz oder gerade wegen der fehlenden Automatisierung) extrem
polarisiert: Während sich die hochbegehrten Ingenieure und Techniker jener team-
orientierten und hierarchielosen Arbeitsatmosphäre erfreuten, die für die »Inno-
vationskultur« Silicon Valleys sprichwörtlich ist, herrschten in der Produktion die
typischen Niedriglohnbedingungen metropolitaner Sweatshops (Hossfeld 1990).
Die führenden neuen Chiphersteller wie Intel, Fairchild oder National Semi-
conductor waren zugleich Pioniere der Internationalisierung der Produktion. Be-
reits in den 1960er Jahren begannen sie mit dem Aufbau umfangreicher Monta-
geoperationen in einigen der späteren »Tigerländer« Ostasiens, namentlich Hong-
kong und Singapur (Henderson 1989).
Dieses treffend mit dem Begriff »schmutziger Taylorismus« (Lipietz 1987) zu
bezeichnende Regime unterlag im Zuge der produktionstechnischen Modernisie-
rungoffensive in den 1980er Jahren massiven Veränderungen. Parallel zur Stabilisie-
rung und Ausdifferenzierung der vertikal spezialisierten Branchenstrukturen kam
es in den einzelnen Segmenten zu sehr unterschiedlichen Veränderungen des
Arbeitsprozesses. In der Herstellung von Mikrochips und anderen Basiskompo-
nenten lässt sich ein deutlicher, wenn auch durch das Fehlen tarifvertraglicher
Absicherungen begrenzter Trend zur Reprofessionalisierung der Produktionsarbeit
feststellen, der durchaus mit ähnlichen Entwicklungen etwa in der Automobil-
industrie zu vergleichen ist (Buss/Wittke 2000).
Parallel zu der bereits angesprochenen vertikalen »Dekonstruktion der Compu-
terindustrie« entwickelten sich aber auch neue Formen der Massenarbeit. Mit der
großbetrieblichen Kontraktfertigung entstand im Laufe der 1990er Jahre ein neues
Segment industrieller Produktion, welches klassische Strukturen fordistischer Mas-
senfertigung mit einer extremen Flexibilität des Arbeitseinsatzes, neuzeitlichem
Qualitätsmanagement und einer sich multikulturell gebenden »Betriebskultur«
vereint. Die Flexibilität des Arbeitseinsatzes wird dabei insbesondere durch die
massive Nutzung von Zeit- und Leiharbeit hergestellt, in manchen Großbetrieben
liegt deren Anteil an den Produktionsbeschäftigten bei 50 Prozent und mehr. Die
Löhne liegen zumeist nur gering über dem gesetzlichen Mindestlohn. Die Arbeits-
bedingungen eines modernen industriellen Großbetriebes machen die Beschäfti-
gung in der Kontraktfertigung aber zu einer Alternative zu den ansonsten von den
betreffenden Arbeitsmarktgruppen wahrgenommenen Niedriglohnjobs in Dienst-
leistungen und industriellen Sweatshops. Der quasi ungebrochene Zustrom von
Arbeitskräften aus diesem Bereich sorgte dafür, dass die Kontraktfertiger auch in
den Boomzeiten der 1990er Jahre kaum Lohnsteigerungen gewähren mussten
(Lüthje u. a. 2002).
146 Boy Lüthje

Die besondere Dynamik der vernetzten Massenproduktion äußert sich in der


rasch vorangetriebenen, regional konzentrierten Schaffung von zum Teil recht
qualifizierten industriellen Belegschaften, die überwiegend aus klassischen »Rand-
gruppen« des Arbeitsmarktes rekrutiert werden. Solche Prozesse lassen sich auch
an anderen Industriestandorten im Süden der USA feststellen und in Ländern wie
Mexiko, Malaysia, China oder Ungarn, den bevorzugten Niedriglohnstandorten
der IT-Fertigung. Hier sind in den letzten Jahren in raschem Tempo Produktions-
strukturen enormer Größenordnung entstanden, die bezüglich ihres technologi-
schen und arbeitsorganisatorischen Niveaus keinen Vergleich mit denen in ent-
wickelten Industrieländern zu scheuen brauchen (vgl. Lüthje 2002).
Trotz dieser umfassenden Inwertsetzung neuer Arbeitspotentiale zu niedrigen
oder sehr niedrigen Löhnen wäre es aber verfehlt, vertikal desintegrierte Massen-
produktion mit der globalen Verallgemeinerung eines neo-liberal geprägten Nied-
riglohnmodells gleichzusetzen. Dies zeigt sich ganz besonders dort, wo die neuen
Produktionsformen in etablierten industriellen Milieus der US-Ostküste, in Eu-
ropa oder neuerdings auch in Japan Fuß fassen – etwa indem Betriebe von vertikal
integrierten Traditionsherstellern der Elektronikindustrie wie Siemens oder IBM
abgestoßen und in Kontraktfertigungsstätten umgewandelt werden. In den meisten
dieser inzwischen recht zahlreichen Fälle wurden die hier vorherrschenden Ar-
beitsbedingungen und -praktiken (einschließlich der sie regelnden gewerkschaft-
lichen Tarifverträge) nicht radikal geändert, sondern – wenn auch teilweise zu
verschlechterten Bedingungen – weitergeführt. Auch die großindustriellen Akteure
der vernetzten Massenproduktion bedienen sich somit jener spezifischen Stärken
und Konkurrenzvorteile aus dem historischen Kontext des Fordismus stammender
Produktionsmodelle, die allerdings in oft gänzlich veränderter Form (etwa als
Prototypenproduktion oder »Führungsbetrieb« beim Aufbau neuer Standorte) in
die globalen Produktionsketten eingegliedert werden (Lüthje u. a. 2002).

6. Schluss

Der letzte Punkt führt zurück zur Ausgangsfrage dieses Beitrages, nämlich dem
Problem, wie in den alten und neuen Formen kapitalistischer Massenproduktion
der Zusammenhang zwischen einzelbetrieblicher Rationalisierung und der Makro-
ebene der ökonomischen, sozialen und politischen Vergesellschaftung konstruiert
ist. Der notwendigerweise sehr skizzenhafte Verweis auf die sich sehr rasch ent-
wickelnden Formen netzwerkbasierter Massenproduktion in einer Leitbranche des
zeitgenössischen Kapitalismus sollte illustrieren, warum manches zum vermeintli-
chen Grundbestand kritischer Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses
gehörende Theorem heute in empirischer Hinsicht kaum mehr haltbar ist. Hält
man indes an den Grundintentionen kritischer Gesellschaftstheorie fest, so lassen
sich aus dieser historischen Perspektive einige zentrale theoretische Problemstel-
lungen der Analyse des kapitalistischen Produktionsprozesses benennen.
Evident scheint, dass auch der post-fordistische Kapitalismus keinem durch
Fred Pollock in Silicon Valley 147

Technologie oder Ökonomie eindeutig definierten Paradigma der Arbeitsorganisa-


tion folgt. Vielmehr gilt, dass diese Paradigmen (oder, in regulationstheoretischer
Terminologie, die Produktions- und Taschnormen) selbst instabil und umkämpft
sind – eine Feststellung, die sich gerade für eine technologische Leitbranche wie die
Informationstechnik treffen lässt (Esser u. a. 1997). Insofern sind alle Verallge-
meinerungen bezüglich der historischen Tendenzen der Subsumtion des Arbeits-
vermögens und ihrer gesellschaftsstrukturierenden Wirkung mit Vorsicht zu genie-
ßen. Auch fehlen in den meisten Kernbranchen des post-fordistischen Kapitalismus
jene monopolistischen Akteure, die dem technischen Fortschritt eine längerfristig
stabile Richtung geben könnten. Die älteren Versionen kritischer Theorie unter-
liegenden Vorstellungen ökonomischer Monopolbildung waren schon in ihrer
Entstehungszeit nicht unproblematisch, heute taugen sie kaum noch zur Konstruk-
tion des Mikro-/Makrozusammenhanges kapitalistischer Produktion und Arbeits-
teilung. In theoretischer und methodischer Hinsicht heißt dies, dass sich aus der
Rationalisierungsentwicklung in einzelnen Unternehmen oder an einzelnen Stand-
orten noch weniger allgemein verbindliche Thesen bezüglich der Entwicklung der
kapitalistischen Automatisierung insgesamt ableiten lassen, als dies in der Epoche
des Fordismus der Fall war.
Vor diesem Hintergrund macht es auch wenig Sinn, traditionelle Kritikposi-
tionen, die in Analysen wie denen Pollocks oder Sohn-Rethels begründet wurden,
unter heutigen Verhältnissen wieder aufleben zu lassen. Manche linke Kritik an
shareholder-value-Kapitalismus, Neo-Liberalismus und Globalisierung reprodu-
ziert aber solche Versatzstücke aus Theoriedebatten der fordistischen Epoche –
häufig mangels eigener Analyse der konkreten Dynamiken und Prozesse. Ein
aktuelles Beispiel bietet das viel diskutierte Buch Empire von Antonio Negri und
Michael Hardt, das die Vision einer »totalen Polarisierung« der Lohnarbeit und der
Herrschaft einer managerialen Technokratie für den Kapitalismus des 21. Jahr-
hunderts wiederaufbereitet (Negri/Hardt 2000). Einen gewissen Werbeeffekt hat
der Rekurs auf die 1950er Jahre nicht zuletzt deshalb, weil auch manche Gurus der
High-Tech-Szene unter dem Eindruck der lahm gewordenen New Economy Vi-
sionen einer totalen Herrschaft entfesselter neuzeitlicher Automatisierungstechnik
entwickeln. Symptomatisch ist hierfür etwa eine in der Tech-Szene weithin be-
achtete Abhandlung von Bill Joy – Cheftechnologe von Sun Microsystems und in
dieser Eigenschaft einer der Architekten der »Internet-Revolution« des vergan-
genen Jahrzehnts – in der Zeitschrift Wired, der eine an Pollock erinnernde
Projektion einer »automatischen Produktionsweise« entwarf, die heute allerdings
auf der Fusion von Internet und Biotechnik basiert. Die politische Aussage dieser
Analyse entsprach den unter IT-Spezialisten heute typischerweise vorherrschenden
Ohnmachtsgefühlen bei der Vertretung ihrer sozialen Interessen – zusammenge-
fasst in dem beziehungsreichen Titel des Aufsatzes: Why the future doesn’t need us
… (Joy 2000).
Politisch wie auch theoretisch produktiver scheint es, die vielfältigen sozialen
und politischen Dynamiken und Widersprüche konkret zu untersuchen, die im
Kontext der neuen Formen vernetzter Produktion heute entstehen. In Silicon
Valley kann man in dieser Hinsicht lernen, dass es immer wieder die in den
148 Boy Lüthje

Produktionsketten »ganz unten« stehenden und aus den US-Gewerkschaften hi-


storisch ausgegrenzten Lohnarbeiter waren, von denen die wirksamsten Ansätze
und Strategien sozialer Organisierung entwickelt wurden. Gerade aus einer solchen
Perspektive erscheint die gewerkschaftliche Organisierung der in der IT-Kon-
traktfertigung und anderen Bereichen entstandenen Großbetriebe eine zentrale
Zukunftsaufgabe, der sich die US-Gewerkschaften aber trotz aller auf die neuen
Immigrantengruppen in Staaten wie Kalifornien abzielenden Reformrethorik im-
mer noch nicht praktisch gestellt haben (ausführlich Lüthje 2001).
Auch in theoretischer Perspektive eröffnet sich vor einem solchen Hintergrund
manche neue Fragestellung. Neben der in diesem Aufsatz angesprochenen kriti-
schen Analyse der politischen Ökonomie der vernetzten Massenproduktion
scheint ein genauerer Blick auf das Feld Produktionspolitik angesagt. Über die
Analyse der mit netzwerkförmigen Produktionsmodellen entstehenden Hierar-
chisierungen hinaus sind vor allem die widersprüchlichen sozialen, kulturellen und
politischen Dynamiken bei der Neuzusammensetzung von Produktionsbelegschaf-
ten und -regionen von Interesse, sowie deren Verhältnis zu Produktionsarbeit und
Arbeiterbewusstsein in älteren Produktionssegmenten. Dies beinhaltet aber mehr
als die Analyse gewerkschaftsfreier Arbeitsbeziehungen oder der Arbeitsmarkt-
diskriminierung von Immigranten. Es geht vielmehr darum, ein ganzheitliches Bild
von den Prozessen der »Inwertsetzung« der Arbeitskraft in all seinen sozialen,
kulturellen und ideologischen Aspekten zu gewinnen.
Solche Analysen sind seit den 1980er Jahren mit Bezug auf die Arbeiterinnen in
den neuen Weltmarktfabriken von Branchen wie der Elektronik-, der Textil- oder
der Schuhindustrie entstanden, zumeist im Kontext feministischer Theorieansätze.
Eine der bis heute originellsten Studien aus diesem Spektrum (Ong 1987) lehnt sich
an die Arbeiten Michel Foucaults an und entwickelt am Beispiel der Elektronik-
industrie Malaysias, wie Arbeitsdisziplin und »corporate culture« in den Fabriken
multinationaler Konzerne die dort beschäftigten, aus bäuerlichen Verhältnissen
stammenden jungen Frauen einerseits der Subsumtion unter das Kapital unter-
werfen, auf der anderen aber eine spezifische Neukonstitution dieser Subjekte als
»Instrumente des Kapitals« (S. 8) und als Persönlichkeiten mit einer modernen
kapitalistischen Produktionsverhältnissen angepassten Individualität bewirken. Das
in jüngster Zeit in der arbeitssoziologischen Diskussion entstandene Interesse am
theoretischen Erbe Michel Foucaults scheint auch einige interessante Perspektiven
zur Neuthematisierung des Verhältnisses von Zwang und Konsens in Systemen der
vernetzten Massenproduktion zu beinhalten – und zwar nicht nur hinsichtlich der
»Subjektivierung« von Leistungszwängen in modernen Konzepten partizipativer
Arbeitsgestaltung (vgl. Moldaschl/Voß 2002), sondern auch mit Blick auf die
»Inwertsetzung« neuer Potentiale industrieller Arbeit in globalisierten Produk-
tionsnetzen. Gefragt ist darüber hinaus auch, wie Macht und »Gouvernementali-
tät« (Lemke 1997) im Kontext vernetzter Produktionssysteme produziert und
reproduziert werden – und zwar nach »innen«, also am Arbeitsplatz, als auch nach
»außen«, nämlich zwischen den Betrieben und Unternehmen, die die Glieder
globaler Massenproduktionsketten bilden.
Fred Pollock in Silicon Valley 149

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Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat,
Demokratie und Herrschaft
Birgit Sauer

1. Begründungskontexte einer kritischen Staatstheorie am Beginn


des neuen Jahrtausends

In der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts konnte man in Westeuropa den Eindruck
einer »glücklichen Hochzeit« zwischen Kapitalismus und Demokratie gewinnen.
Herrschaft und Ungleichheit schienen minimiert, denn die keynesianischen Wohl-
fahrtsstaaten schufen Institutionen des sozialen Ausgleichs und der Teilhabe von
immer größeren Bevölkerungsschichten am sozialen Wohlstand. Die partizipatori-
sche »Revolution« der neuen sozialen Bewegungen trug zur Demokratisierung von
Gesellschaft und Staat bei, und »Citizenship« schien nun auch für zuvor als
unpolitisch perzipierte soziale Gruppen wie z. B. Frauen realisierbar.
Mit der Rede von der Globalisierung seit der zweiten Hälfte der 1990er Jahre
rückten die Schattenflecken der Beziehung zwischen Politik und Ökonomie wieder
deutlicher ins Blickfeld. Einst in die Peripherie gedrängte krude Formen von
Ausbeutung und Ungleichheit kehren in die Metropolen zurück: Massenarbeits-
losigkeit und öffentlich sichtbare Armut sind Ausdruck von Veränderungen der
nationalen Sozialstaatsprojekte. Deregulierung, Internationalisierung und Denatio-
nalisierung sind Herausforderungen des »hegemonialen (National-)Staates«, wenn-
gleich auch keineswegs sein Ende (Held 1995, S. 95; vgl. Poulantzas 2001, S. 60).
Diese aktuellen Formen der »Entstaatung« sind freilich nicht automatisch mit
größerer Gestaltungsfreiheit und Mitsprache der Bürger/innen verknüpft. Sie ge-
hen vielmehr mit Entsolidarisierung und Entdemokratisierung einher. Die Rede
von der Politikverdrossenheit und das eifrige Mühen um eine Aktivierung der
»Bürgergesellschaft« sind Versuche zur Neuorganisation von Politik. Aktuelle
demokratiepolitische Debatten sind ebenso wie rechts- bzw. nationalpopulistische
oder (direkt-)demokratische Mobilisierungen Suchbewegungen nach neuen politi-
schen Mustern der Transformation von Staat und Gesellschaft (vgl. Demirovic
2001, S. 159).
Diese Entwicklungen setzen eine Theoretisierung von Staatlichkeit unter demo-
kratiepolitischer Perspektive auf die wissenschaftliche Agenda. Das Konzept des
Staates war und ist umstritten (vgl. Held 1989, S. 11). Der Verzicht auf das Konzept
»Staat« seit den 1970er Jahren (vgl. Jürgens 1990, S. 21) und die Präferenz für das
empirisch anwendbare Paradigma »politisches System« führten zum Verlust einer
herrschaftskritischen Perspektive. Auch die politikwissenschaftliche »Staatsrenais-
sance« seit den späten 1980er Jahren vernachlässigt eine gesellschaftstheoretische
Sicht auf Herrschaft und Demokratie und rückt vielmehr Aspekte der Steuerung
und Effizienz ins Zentrum.
Angesichts rezenter Transformationen von Staatlichkeit und politikwissen-
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 153

schaftlicher Engführungen bedarf es eines kritischen Staatskonzepts – »kritisch«


deshalb, weil politische Ordnung Freiheit immer nur partiell und temporär her-
stellen kann (vgl. Neumann 1986c, S. 102). Aufgabe einer solchen kritischen Theo-
rie ist es, veränderungsbezogenes, emanzipatorisches Wissen zur Verfügung zu
stellen. Sie sollte die aktuellen Debatten um die Veränderungen von Staaten sy-
stematisch bündeln; sie sollte nicht empiristisch, aber doch die Empirie erklärend
sein und insbesondere einen utopischen Überschuss produzieren. Die Fragen, die
eine kritische Staats- und Demokratietheorie um- und antreiben, sind dann, wie
der moderne Staat Herrschaft ausübt und ob Demokratie in der Lage ist, den
staatlichen (und ökonomischen) Herrschaftsanspruch zu begrenzen und den Men-
schen zu einem selbstbestimmten Leben zu verhelfen.
Was ist nun »der« Staat im Kontext eines solchen kritischen Projekts? Wenn
Politik einen Raum der Debatte bezeichnet, so ist Staat ein Raum der Entscheidung
und der gesellschaftlichen Ordnung. Staat bezeichnet mithin mehr als die Summe
von Regierungsinstitutionen und gesetzlichen Normen, mehr als ein »Gehäuse der
Hörigkeit« (Max Weber). Der Staat umfasst jene Organisationen, Akteure, Ver-
fahren und Diskurse, die gesellschaftliche Ordnung institutionalisieren und legiti-
mieren, also hegemonial werden lassen. Ein kritisch-materialistisches Konzept fasst
den Staat als eine soziale Struktur und als eine Praxisform. Eine Staatstheorie
braucht also eine gesellschaftstheoretische Fundierung. Ein solches kritisch-mate-
rialistisches Konzept liefert die Menschen dem »Verstaatlichungsmechanismus«
nicht schlicht aus, sondern geht von der Überdeterminiertheit und der Ungleich-
zeitigkeit staatlicher Formen und Funktionen aus.
Auch Demokratie ist in gesellschaftstheoretischer Perspektive nicht schlicht als
mehrheitsbezogenes Verfahren der Elitenauswahl zu begreifen, sondern als ein
»Strukturprinzip« des modernen Staates, nämlich als das institutionalisierte Ergeb-
nis von sozialen Konflikten (vgl. Demirovic 1997, S. 19). Das gesellschaftliche
Ringen um politische Kompromisse birgt Chancen für die »Zähmung« von sowohl
ungerechten Markt- wie exkludierenden Staatsverhältnissen und mithin Freiheits-
gewinne für große gesellschaftliche Gruppen (vgl. Demirovic 2001, S. 159) – auch
wenn diese Kompromisse herrschaftlich geprägt sind. Einem kritischen Staats-
projekt geht es mithin um die Entwicklung eines Demokratiebegriffs, der die
Denk-Möglichkeit eröffnet, in kooperativen und konfliktorischen Alltagspraxen
Entscheidungen zu debattieren und zu realisieren. Eine Staatstheorie muss deshalb
Universalität konzeptualisieren, aber auch die Möglichkeit der Repräsentation von
Differenzen denkbar machen.
Dieses Projekt einer kritischen Staatstheorie kann auf ein Archiv von herr-
schaftskritischen Konzeptionen der Kritischen Theorie, neo-marxistischer, diskurs-
theoretischer und feministischer Staats- und Politikkonzepte zurückgreifen. Diese
Traditionslinien möchte ich im Folgenden skizzieren, um dann die Konturen einer
kritischen Staatstheorie im Kontext aktueller Veränderungen von Nationalstaaten
zu schärfen. Die folgende Auswahl von Staatskonzepten ist freilich selektiv, doch
ist die Auswahl so getroffen, dass die kritische Staatsdebatte als ein Prozess
kontroverser Präzisierung sichtbar wird. Die folgende Auswahl ist deshalb vor
allem so angelegt, dass die Synergien der unterschiedlichen Staatstheoretisierungen
154 Birgit Sauer

deutlich werden. Dieser Prozess lässt sich mit der Begriffskette Herrschaft und
Repressivität, Kompromiss und Kräftefeld, Diskurs, Praxis und Differenz dar-
stellen.

2. Staatstheorie als Herrschaftskritik: der Beitrag der frühen Kritischen


Theorie

Der Beitrag der frühen Kritischen Theorie zur Staatsdebatte wird als gering
veranschlagt, waren doch die empirischen Forschungen und theoretischen Über-
legungen zum Verhältnis von Gesellschaft und Individuum vor 1940 nicht sys-
tematisch mit einer kritischen Politiktheorie verknüpft (vgl. Habermas 1985, S. 555;
Söllner 1982, S. 317). Es war der Nationalsozialismus – und das Scheitern von
Gegenbewegungen –, der den gesellschaftstheoretischen Arbeiten eine Beschäfti-
gung mit dem Staat gleichsam aufnötigte und die Frage nach der grundsätzlichen
Neuartigkeit von Gesellschaft, Kapitalismus und totalitärem Staat für die kritische
Herrschaftsanalyse ins Zentrum rückte (vgl. Habermas 1985, S. 555 f.).
Theoretischer Ausgangspunkt der staatstheoretischen Überlegungen war eine
empathische Neu-Perspektivierung der marxistischen Theorie. Marx und Engels
hatten zwar keine kohärente Staatstheorie entworfen, doch in Abgrenzung zu
Hegels Opposition zwischen Staat und bürgerlicher Gesellschaft betonten beide die
Totalität sozialer Verhältnisse und die Entstehung des Staates aus den gesellschaft-
lichen Widersprüchen (vgl. Engels 1974, S. 191). Der bürgerliche Staat verkörpere
keine universelle sittliche Idee, sondern sei partikular und gebe als »Klassenstaat«
nur vor, ein Allgemeinwohl zu repräsentieren. In der imaginierten Trennung von
der Gesellschaft liege seine undemokratische, herrschaftliche Struktur begründet
(Marx 1981, S. 384 f.). Das Problem aber, wie der Zusammenhang zwischen Staat,
Gesellschaft und Ökonomie zu fassen sei, blieb in den Schriften von Marx und
Engels widersprüchlich gelöst (vgl. Held 1989, S. 36): Im Kommunistischen Mani-
fest bezeichnen sie den Staat als »Ausschuß« der herrschenden Klasse mit dem Ziel
der Ausbeutung der Lohnabhängigen (Marx/Engels 1970, S. 45; vgl. auch Engels
1974, S. 193; Knuttila/Kubik 2000, S. 101). An anderer Stelle bescheinigt Marx dem
Staat eine gewisse Autonomie gegenüber sozialen Verhältnissen; er sei das Ergebnis
von verwobenen Koalitionen und machtvollen Arrangements und könne daher
nicht eindeutige Unterdrückungsfunktionen wahrnehmen (Marx 1976, S. 306 ff.).
Die Theoretiker der Kritischen Theorie griffen zunächst den Gedanken auf, dass
der Staat mehr als eine rechtliche Ordnung sei und im Kontext einer Gesellschafts-
theorie konzipiert werden müsse. Der Staat galt als ein Moment gesellschaftlicher
Totalität, des strukturierten Zusammenhangs von ökonomischen Gesetzmäßig-
keiten und spezifischen Vergesellschaftungsprinzipien (vgl. Rudel 1981, S. 42). Aus
der herrschaftskritischen Perspektive folgte zudem eine prinzipielle Staatsskepsis:
Im Marxschen Sinne und gegen Hegel wurde der Staat als eine Herrschaftsform
betrachtet, die der Freiheit der Individuen im Wege steht (vgl. Held 1989, S. 31).
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 155

Angesichts der nationalsozialistischen Barbarei stellte sich freilich auch die Frage,
weshalb die Menschen sich dem Staat unterwarfen bzw. ihn akzeptierten.
Trotz dieser gemeinsamen Ausgangspunkte waren die Konzeptualisierungen des
Staates und mithin auch die Konturierung des Zusammenhangs von Staat, Gesell-
schaft und Ökonomie sowie der Totalität des staatlichen Zugriffs auf Gesellschaft
bei den frühen Vertretern der Kritischen Theorie unterschiedlich und wenig kon-
sistent. Ich werde im Folgenden zwei Hauptlinien herausarbeiten.

2.1 Der repressive Staat: Horkheimer, Pollock und Marcuse


Ausgangspunkt der ersten staatstheoretischen Überlegungen von Max Horkheimer
und Friedrich Pollock und Herbert Marcuse war eine Theorie des Kapitalismus,
die einen grundlegenden Wandel vom Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus
konstatierte. »Der Staat müsse sich«, so Marcuse (1998, S. 100), »direkt mit den
vorherrschenden ökonomischen Interessen identifizieren und alle Beziehungen
seiner Führung unterstellen«, da die »ökonomischen Kräfte zu direkten politischen
Kräften wurden«. Die zunehmende Vergesellschaftung über kapitalistische Pro-
duktionsverhältnisse habe zur Entwicklung eines »autoritären Staates« geführt
(Horkheimer 1987), und in dieser »totalitären Form des Staatskapitalismus« sei der
Staat »das Machtmittel einer neuen herrschenden Gruppe« aus Kapitalen, Büro-
kratie, Militär und nationalsozialistischer Partei (Pollock 1973, S. 4f.). Der NS-
Staat sei »nicht die Kehrseite, sondern die Vollendung des Konkurrenzindividua-
lismus«. In ihm verwirkliche sich die »Herrschaft der hypostasierten ökonomi-
schen, gesellschaftlichen und politischen Kräfte« (Marcuse 2001, S. 1).
Zwar lehnen alle drei grundsätzlich einen Determinierungszusammenhang zwi-
schen der ökonomischen Basis und der Staatsform ab, doch bleiben ihre Konzepte
in den Widersprüchen einer funktionalistischen Sichtweise befangen. Horkheimer
gründet seine These vom »autoritäre(n) Staatskapitalismus« (Horkheimer 1987) auf
die Marxsche Idee »naturgesellschaftlicher Bewegungsgesetze« des Kapitals. Diese
verlangten zur systemimmanenten Vermeidung des kapitalistischen Zusammen-
bruchs eine autoritäre Ordnung (vgl. Marramao 1982, S. 241). Seine Metapher vom
»Racket-System« (Horkheimer 1985), vom NS-Staat als ein mafiotisches Ensemble
von Gangsterstrukturen dominanter Cliquen (vgl. Stirk 2000, S. 146 f.), evoziert die
Vorstellung einer staatlichen Durchdringung aller Fasern der Gesellschaft. Dem
Racket als »archetypische(r) Form« von Herrschaft, als staatlichem Produzenten
von Unsicherheit und gleichzeitiger Gewährleister von Sicherheit (ebd., S. 147),
war kaum zu entkommen. So bestechend diese Vorstellung des Staates ist, so
totalitär ist doch der konstruierte Schutz- und Erpressungszusammenhang, der
Handlungsmöglichkeiten undenkbar macht.
Die totale Durchdringung von Ökonomie und Politik lasse den Staat notwen-
digerweise zu einer umfassenden Unterdrückungsmaschine – zu einer »totalitären
Knechtung« – degenerieren (Pollock 19 734, S. 25). Der NS-Staat sei eine repressive
»Maschine«, eine die gesamte Gesellschaft und die Ökonomie umfassende Totali-
tät, »die das Leben der Menschen überall und jederzeit erfaßt« (Marcuse 2001,
S. 1). Marcuse diagnostizierte eine totalitäre Verschmelzung von Herrschaft und
156 Birgit Sauer

Technik, die einen »undurchdringlichen Manipulationszusammenhang« ausbilde.


Diesen Zusammenhang kritisierte er später als »Eindimensionalisierung« des Den-
kens und Verhaltens (Marcuse 1970; vgl. auch Rudel 1981, S. 71).
Marcuse (2001, S. 1) vertrat die Ansicht, dass der NS-Staat »die Wesensmerk-
male des modernen Staates« beseitigt habe: Während der liberale bürgerliche Staat
seiner Macht vorgängige »angeborene soziale Rechte« anerkannt habe (Marcuse
1998, S. 903), sei im NS-Staat die Trennung zwischen Staat und Gesellschaft
»weitgehend aufgehoben« (Marcuse 2001, S. 1). Marcuse setzte somit die Trennung
und Trennbarkeit von Staat und Gesellschaft, von politischer und nichtpolitischer
Sphäre, die »nur ihren eigenen Gesetzen und Maßstäben unterworfen« sei (ebd.),
voraus. Damit bleibt die (selektive) »Gewährung« dieser Rechte als Konstruktions-
prinzip des bürgerlich-kapitalistischen Staates und mithin seine Verankerung in
sozialen (Macht-)Verhältnissen unterbeleuchtet. Die liberale Trennung von Gesell-
schaft, Ökonomie und Staat wird in der Kritischen Theorie fortgeschrieben, und
der Kollaps der Sphären erhält im Kontext einer wertgesetzlichen Logik eine
Dynamik der Unausweichlichkeit.
Die subjektiven Vermittlungsformen staatlich-struktureller Herrschaft, die han-
delnden Subjekte, die an sich zentral für die kulturkritische Perspektive der Kriti-
schen Theorie waren (vgl. Habermas 1985, S. 517ff. ), fanden keinen Eingang in das
Staatskonzept. Herrschaft wurde nur als Ergebnis staatlicher Illusions- und Ver-
schleierungsleistung entlarvt. Der atomisierende »Massenstaat« bedeute das Ende
der »fortschrittlichen Elemente des Individualismus« und das Ende der Freiheit
(Marcuse 2001, S. 2). Nur noch eine »kontrollierte und manipulierte Befreiung der
Individuen« sei zugelassen (Marcuse 1998, S. 93). Sexualitäts-, Freizeit- und Kunst-
politik leisteten ihren Beitrag zur Technik der »Gleichschaltung« der Menschen
(ebd., S. 108 f.). Die Frage, warum die Menschen sich dieser staatlichen Repression
unterwerfen, also der Mechanismus der Reproduktion des Staates durch die Bür-
ger/innen, wurde in der Politiktheorie nicht systematisch bearbeitet, eine Verknüp-
fung der Makro- mit der Mikroebene blieb Rudiment.
Marcuse führte dieses Denkbild der Unentrinnbarkeit der Staatstechnik später
in seiner Kritik am Wohlfahrtsstaat fort: »Bei all seiner Rationalität ist der Wohl-
fahrtsstaat jedoch ein Staat der Unfreiheit«, weil seine totale Verwaltung eine
systematische Beschränkung von Zeit, von individuellen Bedürfnissen, von Selbst-
bestimmung bedeutet (Marcuse 1970, S. 68 f.). »Herrschaft« werde im Wohlfahrts-
staat wie im kapitalistischen Unternehmen »in Verwaltung überführt«. Schlimmer
noch als im Nachtwächterstaat verschwinde im Sozialstaat die »reale Quelle der
Ausbeutung hinter der Fassade objektiver Rationalität« von »geschäftsführende(n)
und managerielle(n) Ausschüsse(n)«. Der »hochmoderne(n) technische(n) Appa-
rat« des Wohlfahrtsstaats richte sich »als getrennte Macht gegenüber den In-
dividuen« auf und verhülle die »Reproduktion von Ungleichheit und Versklavung«
(ebd., S. 52). Ergebnis sei die »Abnahme von Freiheit und Opposition«, denn
»Willfährigkeit« auch der Arbeiterschaft werde zu einer »rationalen technischen
Einstellung« (ebd., S. 68).
Diese Vorstellungen vom Mechanismus der kapitalistischen Krise, der Rationali-
sierung und Verschleierung von Herrschaft, eines Mechanismus der Entpolitisie-
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 157

rung und Unterwerfung der Bürger/innen läuft Gefahr, den Spielraum für Auto-
nomie und politisches Handeln zu verengen, ja die gesellschaftlichen Subjekte aus
dem Blick zu verlieren (vgl. auch Marramao 1982, S. 245). Auch die Vorstellung des
Übergangs vom Konkurrenzkapitalismus zum Monopolkapitalismus erweist sich
als unhistorisch und theoretisch zu kurz gegriffen, waren doch Markt bzw. kapi-
talistische Produktion nie eine unpolitische Ordnung, sondern »immer die Re-
sultante von bestimmten Machtverhältnissen zwischen verschiedenen Subjekten«
(ebd., S. 251; Hervh. i. O.). Die Transformation des Kapitalismus und des kapi-
talistischen Staates sind mithin nicht nur als Formen der weiteren Entfremdung
und Ausbeutung, sondern auch als Ergebnisse politischer Auseinandersetzungen
zu fassen.

2.2 Der Staat als politischer Kompromiss: Kirchheimer und Neumann


Der Staatskapitalismus-These widersprachen nun Franz Neumann und Otto
Kirchheimer auf der Basis einer Präzisierung des marxistischen Staatskonzepts.
Auch wenn Neumann und Kirchheimer keine konsistente Theorie des Verhältnis-
ses von Gesellschaft, Staat und Demokratie entwickelten, so brachten sie doch neue
staatstheoretische Impulse in die Kritische Theorie ein. Neumann wirft beispiels-
weise die Frage der »Umsetzung wirtschaftlicher Macht in soziale und damit in
politische Macht« auf, ohne sie allerdings umfassend zu beantworten (Neumann
1986a, S. 91). Kirchheimer kritisierte am Marxschen Denken die Mechanik, in der
Begrifflichkeit Sorels, die »Idee einer ›continuité technologique‹«, die soziale Ver-
änderung allein aus dem Entwicklungsprozess des Kapitalismus, d. h. aus »rational
errechenbaren Kräfteverhältnissen« heraus und nicht durch gesellschaftliche Grup-
pen bzw. Klassen erklärt (vgl. Kirchheimer 1981, S. 40ff.).
Der Staat ist, so Neumanns Ausgangspunkt, »aufs engste verbunden mit der
Gesellschaft, in deren Dienst er steht« (Neumann 1986a, S. 90); er ist »soziale
Macht«, die »ihre Wurzeln in wirtschaftlicher Macht« hat und »Herrschaft über
Menschen« bedeutet (ebd., S. 82, 95). Neumann lehnte aber die Zusammenbruchs-
theorie des Kapitalismus als »metaphysisch« ab und hob den Primat der Politik
gegenüber den ökonomischen Verhältnissen hervor: »Die Suprematie der Politik
über die Ökonomie war immer eine Tatsache«, auch wenn »in der Struktur der
demokratischen Staaten […] der Sachverhalt häufig aus Unkenntnis verdeckt« wird
(Neumann 1986b, S. 259). Die »fortschreitende Bürokratisierung« im Zuge der
Umwandlung der Konkurrenzwirtschaft in eine »wesentlich organisiertere Wirt-
schaft« (Neumann 1986a, S. 92) sei kein Indiz dafür, dass der Staat mehr Macht
bekomme. Der Staat sei vielmehr schon immer ein »starker Staat« gewesen. Nicht
nur der totalitäre, auch der liberale Staat habe immer in ökonomische und gesell-
schaftliche Verhältnisse eingegriffen – auch wenn er dieses Primat leugnete (vgl.
Neumann 1986b, S. 250, 255).
Auch der autoritäre Staat ist nicht das Zentrum der Macht, sondern nur die
»totalitäre Hülle« eines weiterhin nach Marktmechanismen funktionierenden Mo-
nopolkapitalismus. Allerdings, so die These Kirchheimers, zeichneten den Natio-
nalsozialismus neuartige Kompromisse zwischen Kapital, Partei und Staat aus. Der
158 Birgit Sauer

Übergang vom »Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus« am Beginn der Wei-


marer Republik habe ein neues Verhältnis von Staat und Ökonomie mit sich
gebracht. Die neuartige Kapitalismusform, in der die kapitalistischen Unterneh-
mungen den Staat zunehmend »beherrschten«, könne ihn dennoch nicht schlicht
instrumentalisieren, sondern sei zu einer Veränderung des politischen Kompro-
misses zwischen Ökonomie und Staat genötigt (vgl. Kirchheimer 1981, S. 153,
224).
Der neuartige Kompromiss habe sich im Aufbau neuer Staatsapparate nieder-
geschlagen, die »die Gruppeninteressen der Wirtschaft mit den Interessen anderer
anerkannter sozialer Gruppen in Einklang« bringen sollten (ebd., S. 228). Kirch-
heimer wendet sich somit gegen die Auffassung von Marcuse, dass sich im autori-
tären Staat »der Antagonismus zwischen Staat und Gesellschaft und damit die
Kompromißstruktur des Staates […] endgültig in der öffentlichen Verwaltung
aufgelöst« habe. Vielmehr bestehe der Widerspruch zwischen »politischer Form«
und ökonomischer Verwertung unverändert fort und müsse verhandelt werden
(ebd., S. 223). Allerdings haben sich »die Form und die Struktur des Kompro-
misses« grundlegend transformiert. Diese Veränderung impliziere das Ende der
liberalistischen Idee des Kompromisses als Vertrag zwischen Individuen und der
Regierung. Der neue Kompromiss vermittle vielmehr zwischen »konfligierende(n)
Machtgruppen« (ebd.), die »vom Staat als die einzigen rechtlichen Partner des
politischen Kompromisses anerkannt werden« (ebd., S. 245). Mit der Vorstellung
des Kompromisses war eine Handlungsdimension und eine Transformationsmög-
lichkeit im herrschaftlichen Staat denk- und konzipierbar. Freilich entwickelt der
Staat eine neue Form der Selektivität.
Auch die Vorstellung einer totalen Herrschaft des Staates ȟber alle privaten und
sozialen Beziehungen« und die »völlige Unterdrückung des menschlichen In-
dividuums« schien Kirchheimer »äußerst fragwürdig« (ebd., S. 93). Er kritisierte
Horkheimers Bild des »Rackets« und hob demgegenüber hervor, dass Staaten
immer fragmentiert seien und auf Kompromissen zwischen diesen fragmentierten
Gruppierungen basierten (vgl. Stirk 2000, S. 147). In dieser »Brüchigkeit des ›poli-
tischen Kompromisses‹« (Marramao 1982, S. 253) liege nicht nur die Fragilität des
NS-Staates, sondern die des kapitalistischen Staates überhaupt begründet. Kirch-
heimer betonte deshalb die Paradoxie des modernen demokratischen Staates, der
einerseits gleichsam »die Auflösung der traditionellen Staatssouveränität« beför-
dert, gleichzeitig aber der Machtkonzentration im Staat Vorschub leiste (vgl. auch
Söllner 1982, S. 298).
Neumann wie Kirchheimer ging es um die »politische Dialektik der Aufklä-
rung«, staatstheoretisch konkretisiert also darum, wie die rechtsstaatliche Organi-
sation des Gewaltapparats Freiheit und Angst verkörpert, wie der Rechtsstaat den
Leviathan nur verdeckt (ebd., S. 284): Das wesentliche Merkmal des Staates im
Zeitalter des »Gleichgewichts der Klassenkräfte« sei »die spezifische Transponie-
rung der Dinge vom Tatsächlichen ins Rechtsmechanische« (Kirchheimer 1981,
S. 37). Neumann (1986b, S. 248) kritisiert die liberale Rechtsstaatsidee als »Stereo-
typ« bzw. als »Ideologie«, »die die Suche nach dem Sitz politischer Macht unter-
bindet und die Position ihrer Inhaber festigt«. Macht könne aber nicht in Recht
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 159

»aufgelöst« werden, sondern sei immer soziale Macht (Neumann 1986a, S. 85).
Auch Demokratie ist nicht zuvörderst Rechtsstaat, sondern eine »Herrschaft, die
die Unterordnung sozialer Macht unter die politische involviert und die politische
Macht verantwortlich macht« (Neumann 1986b, S. 259).
Doch basiere staatliche Herrschaft nicht nur auf Gewalt und Privilegien, son-
dern auch auf »Überzeugung«: »Durch Überzeugung erzielt der Herrscher bei den
Beherrschten einen erheblichen Grad an Habitualisierung, so daß die Reaktionen
beinahe automatisch werden« (Neumann 1986a, S. 88). Demokratie zeichne sich
dadurch aus, dass Politik »erheblich ideologischer als in früheren Epochen« ist,
weil sie zentrale Aspekte des politischen Machtkampfs »verborgen« hält. Mächtige
gesellschaftliche Gruppen respektive Parteien müssen »ihre partikularen Interessen
als universelle darstellen«, um Massenunterstützung zu erhalten. Demokratie ist
also nur eine Form zur Erlangung von Unterstützung des Volkes, bei weitem aber
keine »Volksherrschaft«. Allerdings macht Neumann in diesem demokratischen
Verbergungsversuch durchaus Positives aus: »Die Notwendigkeit, soziale Gruppen
zu gewinnen […], zwingt zur Anpassung der verschiedenen Interessen« (ebd.,
S. 91). Dies ermöglicht auch weniger mächtigen Gruppen potenziell, ihre Inte-
ressen zu realisieren.

3. Fortschreibung und Erweiterung: Jürgen Habermas’ Dualismus von


Öffentlichkeit und Staat

Auch in Jürgen Habermas’ Theorie geht es nicht vornehmlich um die Kon-


zeptualisierung von Staatlichkeit, sondern vor allem um die Möglichkeit von
Demokratie und Subjektivität. Dieses Unterfangen ist nun freilich ohne einen
Begriff von gesellschaftlicher Ordnung nicht leistbar. Mit seiner Reformulierung
der Kritischen Theorie erhebt Habermas den Anspruch, deren werttheoretische
Aporie wie auch ihre marxistischen Funktionalismen zu überwinden. Das »kom-
plementäre Verhältnis von Ökonomie und Staatsapparat« soll nicht auf eine »tri-
viale Überbau-Basis-Vorstellung« zugeschnitten, Herrschaft und Verdinglichung
sollen nicht als bloße »Reflexe« auf wirtschaftliche Entwicklungen und staatliche
Repression konzeptualisiert werden (vgl. Habermas 1985, S. 504).
Seine modernisierungstheoretische Umarbeitung marxistisch-kritischer Gesell-
schaftstheorie setzt den Prozess der Systemdifferenzierung bzw. -entdifferenzie-
rung an die Stelle der Totalität des kapitalistischen Verwertungsprozesses (vgl. ebd.,
S. 548). Die liberalkapitalistische Moderne sei zunächst durch die Differenzierung
der drei gesellschaftlichen Subsysteme – des ökonomischen, des politisch-ad-
ministrativen und des soziokulturellen – gekennzeichnet (vgl. Habermas 1973,
S. 67). Die Entstehung der bürgerlichen Gesellschaft als »staatsfreie Sphäre« der
gesellschaftlichen Arbeit, des Warenverkehrs, der Familie und der Intimsphäre ließ
eine besonderte Sphäre der Staatsgewalt, den bürgerlichen Rechtsstaat, sowie eine
»politisch fungierende Öffentlichkeit« als Sphäre der »Selbstvermittlung der bür-
gerlichen Gesellschaft« entstehen (Habermas 1982, S. 31, 43, 46, 95). Die politische
160 Birgit Sauer

Öffentlichkeit, die zwischen Staat und Gesellschaft vermittle, sei im Gegensatz


zum Staat ein emanzipatorisches, herrschaftsfreies Feld. Während der Staat die
Sphäre der Entfremdung, des Zwangs, der Unfreiheit sei, bedeute Öffentlichkeit
eine Sphäre der Deliberation, Dynamik und Intersubjektivität. Im Unterschied zur
Partikularität der »Konkurrenz organisierter Privatinteressen« herrsche dort die
Generalität der Gesetze (ebd., S. 45, 215).
Der Übergang vom liberalen zum staatlich organisierten Kapitalismus ist nach
Habermas durch einen »interventionistischen Staat«, also durch die Repolitisierung
der Produktionsverhältnisse gekennzeichnet (Habermas 1973, S. 70). Da der spät-
kapitalistische Staat direkt in den Reproduktionsprozess eingebunden ist, kann er
weder bloßes »Vollzugsorgan« der ökonomischen Gesetze noch ein »planmäßig
handelnde(r) Agent der vereinigten Monopolkapitalisten« sein (ebd., S. 87). Spät-
kapitalistische ökonomische Krisen sind mithin nicht naturwüchsig, sondern im-
mer schon politisch reguliert (ebd., S. 129); sie führen deshalb nicht automatisch zu
Legitimationskrisen des Staates. Der Staat sei vielmehr in der Lage, den Reproduk-
tionsprozess rechtzeitig zu verändern; beispielsweise könne der Sozialstaat die
Arbeitswelt »pazifieren«, Klassenherrschaft anonymisieren und unsichtbar machen
(ebd., S. 36; ders. 1985, S. 515 f.).
Der »Strukturwandel der Öffentlichkeit« seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert
gründet in diesem Prozess der fortschreitenden Vergesellschaftung des Staates und
der Verstaatlichung bzw. Entdemokratisierung der Gesellschaft (vgl. Habermas
1982, S. 173). Die Ausdehnung der Ökonomie und die Interventionen des »kolo-
nialisierenden« Sozialstaats gefährden die Trennung von Staat und Gesellschaft und
mithin die politische Öffentlichkeit als herrschaftsfreie Sphäre der Deliberation
(vgl. ebd., S. 172–218). Auch dort setzen sich strategische und gewinnbezogene
Handlungsorientierungen durch (Habermas 1973, S. 37), die den im öffentlichen
Räsonnement ermittelten »Konsens« durch einen staatlich durchgesetzten »Kom-
promiß« ersetzen. Solchen Gesetzen, auch wenn sie sich auf eine »Allgemeinheit«
beziehen, fehlt die Generalität, sie sind gesetzgewordene Partikularismen (ebd.,
S. 153; ders. 1982, S. 215). Die Systemdynamik verlange, dass der Staat ungleiche
Marktmechanismen durch materielle Entschädigungen, aber auch durch Staats-
bürger/innenrechte und »formaldemokratische Einrichtungen und Prozeduren«
legitimieren müsse. Aus den genuinen Institutionen einer bürgerlichen Öffentlich-
keit – Parlamente, Parteien, Verbände und Massenmedien – werden »Institutionen
der staatsbezogen agierenden gesellschaftlichen Mächte« (Habermas 1982,
S. 234ff.). Der formaldemokratische Legitimationskorridor müsse dafür sorgen,
dass politische Entscheidungen »unabhängig von bestimmten Motiven der Staats-
bürger gefällt werden können« (Habermas 1973, S. 55). Demokratie degeneriert so
zur Abschirmung der politischen Elite, und die Bürger/innen bekommen »den
Status von Passivbürgern mit Recht auf Akklamationsverweigerung« zugewiesen
(ebd.).
Habermas gelingt es damit, staatliche Herrschaft in allen gesellschaftlichen
Teilsystemen anzusiedeln und Gesellschaft als differenziertes und komplexes Ge-
bilde zu begreifen. Das staatliche System erlangt dadurch Autonomie gegenüber
der ökonomischen Dynamik. Im Bemühen, einer wertgesetzlichen Logik zu ent-
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 161

kommen, führt Habermas mit der struktur-funktionalistische Idee der System-


differenzierung allerdings eine Mechanik fort, die der konstitutiven, hervorbrin-
genden Verwobenheit der beiden Sphären nicht gerecht wird. Ihre gegenseitige
Durchdringung wird dann als »Kolonisierung« begriffen, als unrechtmäßige Ent-
differenzierung, nicht aber als notwendiger Modus ihrer jeweiligen Reproduktion
(vgl. Held 1989, S. 22). Dass die Entgegensetzung von Öffentlichkeit und Staat der
Empirie nicht stand hält, wurde am Beispiel der geschlechtsspezifischen Selektivität
und Herrschaftsförmigkeit von Öffentlichkeit belegt (vgl. u. a. Lang 1994). Öffent-
lichkeit ist vielmehr Teil eines »komplexen Dispositivs staatlicher Herrschaft«
(Demirovic 1997, S. 177). Auch Rechte als Formen der Regulation gehen ebenso
wenig wie partikulare Interessen sozialen Auseinandersetzungen und politischen
Kompromissen voraus, sondern werden in sozialen Auseinandersetzungen erst
ausgebildet (vgl. ebd., S. 39 f.).
Mit der Vorstellung der Kolonisierung der Lebenswelt durch Verrechtlichung
entwirft Habermas eine »negative« Staatssicht; er greift also auf das repressive
Staatskonzept der frühen Kritischen Theorie zurück. Die Dimension des Kompro-
misses, in dem dominante Gruppen – die »politisch Mächtigen« – gezwungen sind,
ihren Wertekonsens als allgemeinen Konsens darzustellen ( Held 1989, S. 88), der
dadurch aber durchaus emanzipatorische Formen annehmen kann, greift Haber-
mas nicht auf.

4. Materialistische Grundlegungen neo-marxistischer Staatsdebatten

Die neo-marxistische Staatstheorie, die zu Beginn der 1970er Jahre nicht zuletzt als
Reaktion auf die erweiterte Sozialstaatstätigkeit im deutschsprachigen Raum einen
Aufschwung erfuhr, bewegte sich zwischen den Polen »Repressivität« und »Kom-
promisshaftigkeit« des Staates. Ihr gemeinsamer Ausgangspunkt war, dass der Staat
eine grundlegende Voraussetzung für die Reproduktionsfähigkeit des Kapitalismus
sei (vgl. Hirsch/Jessop 2001, S. 9). Seine besonderte Institutionalisierung sei nötig,
um den Widerspruch zwischen gesellschaftlicher Produktion und der privaten
Aneignung des Mehrprodukts auszubalancieren (für viele: Altvater 1972; Offe
1972; Hirsch 1974). Wie Habermas gehen Neo-Marxisten davon aus, dass Staats-
und Akkumulationsverhältnisse im Spätkapitalismus »verlötet« seien. Der Staat sei
nicht nur »Überbauerscheinung«, sondern Teil des Kapitalverhältnisses. Die »Ver-
staatung« der Gesellschaft sei deshalb eine »unausweichliche Folge« (Agnoli 1995,
S. 24, 45, 711). Die umstrittene Frage aber blieb die Konkretisierung des Zusam-
menhangs zwischen politischer Form und sozialen bzw. ökonomischen Verhält-
nissen.
162 Birgit Sauer

4.1 Instrument und Funktion des Kapitals oder soziales Verhältnis?


Die Transformation der Demokratie
Die Staatstheoretisierungen der späten 1960er und frühen 1970er Jahre waren von
einer Skepsis gegenüber den selektiven Leistungen des Sozialstaats und den ex-
kludierenden Formen der parlamentarischen Demokratie geleitet. Diese Konzepte
fassten den Staat in instrumentalistischer Sicht als Mittel der herrschenden Klasse
und den repressiven Arm des Bürgertums. Die funktionalistische Perspektive hob
hervor, dass der Staat zwar nicht nur »Agent« des Kapitals ist (Agnoli 1995, S. 48),
als »ideeller Gesamtkapitalist« aber die Funktion habe, die widersprüchlichen
Einzelinteressen der fragmentierten Kapitalisten zu bündeln (Agnoli 1975, S. 13f;
ders. 1995, S. 50) und zugleich andere gesellschaftliche Gruppen zu fragmentieren
und zu desorganisieren (vgl. Poulantzas 1978, S. 130ff.). Diese »Staatsableitungs-
debatte« bestimmte nun die politische Form »Staat« aus der Logik der Kapital-
akkumulation. Es gebe eine Strukturadäquanz, ein »Komplementärverhältnis« zwi-
schen kapitalistischer Produktionsweise und kapitalistischem Staat (Offe 1972,
S. 65). Der »Staat als Zwangssystem« und der »Zwangscharakter« der kapitalisti-
schen Arbeit seien homolog (Agnoli 1995, S. 23; Hervh. i. O.).
Claus Offe (1972, S. 72 f.) ging davon aus, dass die »Struktur-Analogie« in den
»Binnenstrukturen«, in den »Routinen« des Staates zu finden seien: Das politische
Institutionensystem weise »eine eigene klassenspezifische Selektivität« auf, die mit
den »Interessen des Verwertungsprozesses korrespondiert« (ebd., S. 74). Die Selek-
tionsmechanismen fungierten wie ein »Filtersystem«, als die »systematische Re-
striktion eines Möglichkeitsraums« (ebd., S. 74–79). Die »doppelte Selektivität«
(ebd., S. 90) des Klassenstaates artikuliere zum einen die bornierten Einzelinte-
ressen des Kapitals als ein »Gesamtinteresse des Kapitals«; zum anderen stelle der
Staat dieses kapitalistische Gesamtinteresse als gesellschaftliches Gesamtinteresse
dar und setze es durch (ebd., S. 76 f.). Das partizipatorische Prozedere sei die
politische Form, mit der der Staat sein Klasseninteresse »dementieren« könne
(ebd., S. 91). Ähnlich wie bei Habermas erscheinen Institutionen der parlamen-
tarischen Demokratie als Formen der Abschirmung des Kapitals vor den Interessen
der Bürger/innen bzw. der Sicherung von diffuser Massenloyalität. Auch der
Sozialstaat diene der Reproduktion von Ausbeutungsverhältnissen und verbreite
eine »Illusion« über den Klassencharakter des Staates (vgl. Müller/Neusüß 1970).
Die Staatsableitungsdiskussion bedeutete ein Fortschreiten gegenüber instru-
mentalistischen Konzeptualisierungen (vgl. Demirovic 1987, S. 9). Auch gegenüber
der politikwissenschaftlichen Vernachlässigung der Kategorie Staat nahmen neo-
marxistische Konzepte die politische Form ernst und arbeiteten ihre spezifisch
politische Leistung der Gesellschaftsstrukturierung heraus. Freilich hypostasierten
sie den Staat zu einer bloß funktionalen Instanz des Kapitals (vgl. Vobruba 1983,
S. 26). Dies hatte zur Folge, dass politische Subjekte negiert und politische Hand-
lungsmöglichkeiten gegen den Sog kapitalistischer Ausbeutung und staatlicher
Herrschaft undenkbar werden. Offe (1972, S. 100 f.) beispielsweise leitete sozialen
und politischen Wandel allein aus der krisengenerierenden »gegenläufige(n) Selek-
tivität« des kapitalistischen Staates – nämlich Allgemeinheit zu propagieren und
zugleich partikulare Klasseninteressen zu realisieren – ab.
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 163

Diese Zuspitzungen führten zu produktiven Kontroversen innerhalb des neo-


marxistischen Diskursfeldes, vor allem zur Integration von Handlungsperspekti-
ven. Nicos Poulantzas und Johannes Agnoli kritisierten die »Mythen« marxis-
tischer Staatsanalysen (Poulantzas 2001, S. 50, 59) und deren »intellektuellen
Zwang« (Agnoli 1995, S. 22). Poulantzas rückt die relative Autonomie des Staates
gegenüber gesellschaftlichen Verhältnissen ins Zentrum. Die Staatsmacht sei die
»Verdichtung eines Kräfteverhältnisses« der gesellschaftlichen Klassen (Poulantzas
1978, S. 119; vgl. auch Hirsch/Jessop 2001, S. 13). Verdichtung bedeutet nicht das
schiere »Eindampfen« sozialer Verhältnisse; vielmehr ist damit die Vorstellung
verbunden, dass der Staat »Kreuzungspunkt für verschiedene Dynamiken, Inter-
essen, Ziele« ist (Demirovic 2001, S. 155). Der staatliche Verdichtungsprozess
beruht also auf instabilen und umkämpften gesellschaftlichen Kompromissen, und
diese machen den Staat zu einer von den ökonomischen Verhältnissen relativ
autonomen Instanz. Er wird nicht mehr als der »ungeheure Machtblock« (Agnoli
1995, S. 27), nicht mehr als »steuerndes Zentrum der Gesellschaft« (Demirovic
1987, S. 49), sondern dezentriert konzipiert. Er sei die in permanenter Veränderung
begriffene Institutionalisierungsform der bürgerlichen Gesellschaft.
Die Vorstellung kapitalistischer Totalität wird relativiert und der »widersprüch-
liche Charakter« von Gesellschaft und Staat betont (Agnoli 1995, S. 29). Die
Veränderungen des kapitalistischen Akkumulationsprozesses nach dem Zweiten
Weltkrieg bedingten eine Transformation des bürgerlichen Staates – und zwar nicht
in Richtung eines kruden Gewaltstaats (vgl. Agnoli 1968, S. 44; ders. 1975, S. 15).
Im Gegenteil: Die »friedlich-manipulative Integration« großer Bevölkerungskreise
brauche parlamentarisch-rechtsstaatliche »Vermittlung« (Agnoli 1968, S. 63;
Hervh. B. S.). Diese rechtsstaatlich-demokratische Disziplinierung habe freilich die
»politische Entfremdung« der Bürger/innen zur Folge (Agnoli 1995, S. 38). Der
Rechtsstaat garantiere nicht die Freiheit der Individuen, Demokratie werde zum
»Reservat mehr oder minder geschlossener Gruppen« (Agnoli 1968, S. 43) und
degradiere die »Massen« zum bloßen »Material der politischen Willensbildung«
(ebd., S. 70). Diese »Involution« der Demokratie, ihre »irreversible Rückentwick-
lung« durch Verrechtlichung und Verstaatung (Agnoli 1995, S. 66), verwandle das
Parlament in eine autoritäre Einrichtung (Agnoli 1968, S. 80).
Trotz der entfremdenden Verstaatung komme es darauf an, die Kanäle der
Vermittlung zwischen Ausbeutung, Zwang und Herrschaft deutlich zu machen
(Agnoli 1995, S. 74). Auch wenn Staat und Demokratie auf die Verwandlung des
»Klassenbewußtseins« in »Staatsbürgerbewußtsein«, auf die »Verstaatlichung des
Bewußtseins« zur Herstellung von Legitimitätsglauben bzw. eines konservativen
»Herrschaftsconsensus« zielen (Agnoli 1968, S. 47 f.), sei dies nicht als totalitärer
Vermittlungszusammenhang zu verstehen: »Der Entscheidungsspielraum gehört zu
den notwendigen Teilen eines consensus-Systems« (ebd., S. 83; Hervh. B. S.). Darin
liegt auch die Chance des Widerspruchs und das Potenzial der »gesellschaftlichen
Negation« (Agnoli 1995, S. 81). Deshalb sei der Staat nicht »gänzlich ungeeignet«
für eine fortschrittliche Politik (ebd., S. 146).
164 Birgit Sauer

4.2 Hegemonie und strategisches Verhältnis: neo-gramscianische Staatskonzepte

Neo-marxistische Staatstheoretiker der späten 1980er und 1990er Jahre erweitern


auf der Suche nach einem dynamischen Konzept des Staates den strukturalistischen
Ansatz unter Rekurs auf Antonio Gramsci um eine handlungstheoretische Dimen-
sion. Die Macht der herrschenden Klassen liege nicht darin, den Staat als manipula-
tives Unterdrückungsinstrument zu nutzen, sondern darin, Institutionen zu schaf-
fen, die die Auffassung verbreiten, dass die existierende Herrschaftsform die einzig
richtige sei (vgl. Jessop 1990). Der Staat besteht mithin nicht nur aus einem
repressiven Apparat, der società politica, sondern auch aus einem hegemonialen
Apparat wie Schulen, Medien und Kirchen. Diese società civile ist das strategische
Feld zur Herstellung von Hegemonie, d. h. der Transformation jener Weltsicht der
herrschenden Klassen in einen alternativlosen »common sense« (Gramsci 1991,
S. 783). Staat im »integralen« Verständnis umfasst »politische Gesellschaft« und
»Zivilgesellschaft«, ist also »Hegemonie, gepanzert mit Zwang« (ebd.). Zivilgesell-
schaft ist nicht eine Sphäre zwischen Gesellschaft und Staat, sondern der »äußere
Verteidigungsring« des Staates im engeren Sinne (Demirovic 1997, S. 150). Staat-
liche Herrschaft durch Hegemonie ist das Ergebnis einer Kompromissbildung, die
die Bedürfnisse der Gesellschaft aufgreifen muss, diese aber zugleich auch kon-
struiert.
Bob Jessop (1990) greift in seiner Synthese von materialistischer und system-
theoretischer Staatssicht auf die Konzepte von Gramsci und Poulantzas zurück
und definiert den Staat als eine komplexe Dialektik von Strukturen und Strategien
unterschiedlicher Akteure mit differierenden Interessen und Machtressourcen (vgl.
ebd., S. 129). Da keine soziale Totalität mehr möglich ist, sondern Gesellschaft aus
einer Vielzahl von kontingenten sozialen Verhältnissen besteht, die sich erst durch
Artikulationen zu hegemonialen Strukturen verfestigen, benötigt gesellschaftliche
Kontinuität Koordinierung. In diesem Koordinierungsprozess entstehen staatliche
Institutionen als hegemoniale Lösungen (vgl. Jessop 1990, S. 289). Staatliche Herr-
schaft wird also in bestimmten Kräftekonstellationen aktiviert, aber nicht durch die
Interessen einer spezifischen sozialen Gruppierung, beispielsweise »des« Kapitals
(Jessop 1994, S. 46). »Den« Staat als konsistenten Akteur gibt es also nicht (vgl.
Jessop 2000), er besitzt lediglich eine »strategische Selektivität« in Bezug auf
gesellschaftliche Auseinandersetzungen. Damit wird die Notwendigkeit permanen-
ter staatlicher Reproduktion konzipiert, und molekulare Prozesse von Staatlichkeit
geraten in den Blick.
Auch das Anliegen der Regulationstheorie ist es, makroökonomische Entwick-
lungen mit mikropolitischen und -soziologischen Perspektiven zu verbinden, ohne
eine unmittelbare Determiniertheit der politischen Regulierung zu unterstellen
(vgl. als Überblick Hirsch/Roth 1986). Die Ökonomie ist der Politik »weder
theoretisch noch historisch vorausgesetzt« (Hirsch 1992, S. 208), doch sind staat-
liche Institutionen nicht kontingent, sondern gründen in vorherigen Institutionali-
sierungen: Sie unterliegen dem »Zwang der Form« (ebd., S. 217). Der ökonomische
Reproduktionsprozess, die Akkumulationsweise, steht in einem Artikulations-
verhältnis zur Regulationsweise, einem Komplex von Institutionen wie Verbände,
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 165

Gewerkschaften, Parlamente, Verwaltungen, Bildungseinrichtungen und Familien


(vgl. ebd., S. 221).
Die Regulationstheorie hebt die Handlungsdimension, die Widersprüchlichkeit
und das Veränderungspotenzial politischer Regulierung und Institutionalisierung
hervor: Staatliche Regulation entsteht in soziopolitischen Auseinandersetzungen,
sie ist deren institutionalisierter Kompromiss. In diesen konfliktorischen Prozessen
können nicht-staatliche Akteure, beispielsweise soziale Bewegungen, durchaus zu
Subjekten der Regulation werden. Die widersprüchliche Sphäre der Zivilgesell-
schaft ist »Teil des Staates bzw. seine Reproduktionsbedingung«, aber auch »das
Feld, auf dem demokratische Prozesse und emanzipative Bewegungen überhaupt
erst entstehen können« (Hirsch 1992, S. 223 f.).
Jane Jenson (1989) integriert schließlich diskurstheoretische Überlegungen in
den Regulationsansatz. Das »Universum des politischen Diskurses« ist jener Be-
reich, in dem Individuen und Gruppen über die legitime Sicht der Welt streiten und
ihre Interessen, Identitäten und Unterschiede ausbilden. Jeder Regulationsweise
entspricht ein spezifisches »soziales Paradigma«, gleichsam die hegemoniale Sicht
sozialer Gegebenheiten und politischer Identitäten. Hegemoniale Paradigmen ent-
stehen in der »Zivilgesellschaft«, werden in Staatsdiskursen reproduziert und von
Menschen gelebt. Damit wird der Zusammenhang zwischen ökonomischen bzw.
sozialen Verhältnissen und dem staatlichem Institutionengefüge als individueller
Aneignungsprozess und -praxis denkmöglich.

5. Transformation der Tradition. Staatstheorien der Postmoderne

5.1 Der Staat als Diskurs und Praxis. Mikrophysik staatlicher Macht
Einen weiteren Strang kritischer Staatstheorie bilden symbolisch-diskursive An-
sätze in der Tradition Michel Foucaults. Foucault fragt nicht, wer den Staat zu
welchem Ende entwirft, er verweigert sich einer instrumentalistischen Sicht ebenso
wie einer funktionalistischen und entwickelt gleichsam eine »Staatsphobie« (Fou-
cault 2000, S. 69). Seine Fokussierung auf die Mikrophysik der Macht ist mit einer
bewussten Abgrenzung von solchen Traditionslinien verbunden, die Macht nur
oder vornehmlich im Staatsapparat verankert sehen (vgl. Foucault 1983, S. 113).
Seit dem 18. Jahrhundert hätten sich Machtbeziehungen vervielfältigt und seien in
unterschiedlichen Formen allgegenwärtig: Macht als eine »komplexe(n) strategi-
sche(n) Situation« ist »überall« (ebd., S. 114). Die Herausbildung des modernen
Staates ist also mit neuen Loci der Macht jenseits des staatlichen Apparats ver-
bunden: »Die Macht kommt von unten« (ebd., S. 115). Die vielfältigen machtvollen
Kräfteverhältnisse verketten sich zu »Systemen«, sie »kristallisieren« sich in den
Staatsapparaten, »verkörpern« sich in »gesellschaftlichen Hegemonien« (ebd.,
S. 113 f.) und festigen sich schließlich zu »Gesamtdispositiven« (vgl. Bublitz 1999,
S. 23).
Im Unterschied zu neo-marxistischen Theoretikern begreift Foucault den Staat
166 Birgit Sauer

nicht als eine »besonderte Form«, sondern als eine spezifische Machtform, die die
Subjekte individualisiert und Gemeinschaften totalisiert (Lemke 1997, S. 152). Der
Staatsapparat ist nurmehr die »Kodifizierungsinstanz« der »mikrophysikalischen
Machtverhältnisse«; er fixiert die »Machtarrangements, denen er sein Entstehen
verdankt, ohne sie selbst zu konstituieren« (ebd., S. 121 f.). Der Staat agiert in
einem Netz sozialer Machtverhältnisse, die ihm vorausgehen, ihn stützen und ihm
gleichsam seine Omnipotenz verleihen. Er durchdringt die Alltagspraktiken und
die Mikro-Machtverhältnisse (Foucault 1978, S. 39). Macht beruht aber nicht auf
der allgemeinen Matrix einer »globalen Zweiteilung« in »Herrscher und Be-
herrschte« (Foucault 1983, S. 116), sie ist demgegenüber relational und entsteht in
einem Feld strategischer Auseinandersetzungen zwischen Menschen und Gruppen,
in denen Herrscher und Beherrschte erst entstehen. Diskurse sind nun Praktiken,
die ein »Formationssystem« von Macht und Herrschaft entstehen lassen (Foucault
1998, S. 11; ders. 1990, S. 156). Ihre »machtvolle Wirkung« bzw. »institutionelle«
Funktion besteht darin, dass sie Phänomene auf eine ganz bestimmte Weise erfahr-
bar, d. h. »wahr« machen und damit soziale Wirklichkeit schaffen (vgl. Bublitz
1999, S. 23). Staatliche Institutionen können als »Diskursgesellschaften« verstanden
werden. Sie haben die Aufgabe, »Diskurse aufzubewahren oder zu produzieren«,
um sie »nach bestimmten Regeln zu verteilen« (Foucault 1998, S. 27). Der Staats-
diskurs interpretiert also nicht den (vorgängigen) Staat, sondern bringt ihn hervor.
Foucault ver-wirft schließlich den Staatsbegriff und ent-wirft das Konzept der
»Gouvernementalität« als Konnex von (Selbst-)Regieren (gouverner) und Denken
(mentalité). Dieses Konzept bringe die Tatsache des »bewegliche(n) Zuschnitt(s)
einer ständigen Verstaatlichung« der Subjektkonstitution – also den Staat als Praxis
– weit treffender zum Ausdruck (Foucault 2000, S. 69; vgl. Lemke 1997, S. 151).
Foucault begreift den Staat nicht nur als eine den Individuen äußerliche in-
stitutionelle Struktur, sondern als eine Macht, die in den Köpfen und Körpern der
Menschen sitzt. Der moderne liberale Rechtsstaat unterwirft und diszipliniert die
Subjekte also nicht, sondern wählt die adäquate Selbstführung als neue Form der
Subjektkonstitution. Der Staat lässt sich einerseits als Disziplinierungs-, Norma-
lisierungs- und Machtapparat begreifen. Andererseits ist der repressiv-disziplinie-
rende Staat auch als produktiv-ermöglichender fassbar. Ganz ähnlich konzeptuali-
siert Louis Althussers Konzept der »Anrufung« die staatliche Subjektkonstitution
(Althusser 1969, S. 157, 172).
Subjektkonstitution und Staatsreproduktion sind »von Widersprüchen durch-
kreuzt und von Zäsuren durchschnitten« (Marramao 1982, S. 269). Dies macht die
Widersprüchlichkeit des Staates aus, ermöglicht aber auch den Widerspruch der
Staatssubjekte. Die Foucaultsche Sicht bietet mithin Ansatzpunkte für eine anti-
essentialistische und handlungsbezogene Perspektivierung von Staatlichkeit. Das
Defizit dieses diskursiven Staatskonzepts ist aber, dass Foucault das Verhältnis
zwischen Staat, Makro- und Mikromächten als äußerliches konstruiert (vgl. Lemke
1997, S. 122). Die Frage, wie es zu hegemonialen Herrschaftsstrukturen im Staat
kommt, warum Staatsdiskurse Herrschaft produzieren und reproduzieren, kann
nicht befriedigend beantwortet werden, da gesellschaftliche Verhältnisse und Kon-
flikte in ihrer Differenziertheit nicht in die Machtbegrifflichkeit einbezogen sind.
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 167

5.2 »Die Entstehung des Staats aus den Geschlechterverhältnissen«.


Beiträge feministischer Staatskonzepte

Die feministische Staatsdebatte entzündete sich in den späten 1970er Jahren im


Kontext und in scharfer Auseinandersetzung mit marxistischen Theorien (vgl.
Hartmann 1981). Geschlecht wurde vor der Folie marxistischer Theoriebildung als
soziales Verhältnis und nicht als Rolle oder askriptives Merkmal konzipiert. Die
These vom »Staat in einer patriarchalen Gesellschaft« parallelisierte den marxisti-
schen Instrumentalismus mit patriarchalen Geschlechterverhältnissen: Der Staat sei
»bemannt«, und die Staats»männer« nutzten staatliche Institutionen zur Unter-
drückung und Ausbeutung von Frauen. Eine weitere Argumentation knüpfte an
die funktionalistische Staatsableitung an und bezeichnete den Staat als »patriar-
chalen Staat«, dessen Funktion die Aufrechterhaltung kapitalistischer Produktions-
und ungleicher Geschlechterverhältnisse sei. Die »dual system analysis« vertrat die
These, der Staat müsse zwischen kapitalistischen und patriarchalen Interessen
vermitteln und diese auf Kosten von Frauen durchsetzen (vgl. Eisenstein 1979). Die
geschlechtsspezifische Arbeitsteilung sei die Ursache patriarchaler Unterdrückung.
In der patriarchal-kapitalistischen Familie würden beide Herrschaftsstrukturen
perpetuiert, sowohl die persönliche Abhängigkeit der Ehefrau vom Ehemann als
auch die unselbständige weibliche Reservearmee an Arbeitskräften (vgl. z. B. McIn-
tosh 1978).
Catherine MacKinnon (1989), die das Verstummen des marxistischen Feminis-
mus am Ende der 1980er Jahre mit der Feststellung kommentierte, der Feminismus
habe keine Staatstheorie, geht in ihren rechtswissenschaftlich orientierten Arbeiten
von einer Parallelität männlicher und staatlicher Herrschaft aus: »Male Power is
systemic. Coercive, legitimized, and epistemic, it is the regime.« (MacKinnon 1989,
S. 170) Ihr Hauptkritikpunkt am marxistischen Feminismus war die Degradierung
des Geschlechterverhältnisses zum Nebenwiderspruch. Die feministische Theorie
war in der Folge darum bemüht, »Geschlecht« als eine die Gesellschaft und den
Staat strukturierende Kategorie zu konturieren und die Vielfalt von Differenz-
strukturen und sozialen Antagonismen zu einem systematischen Faktor in den
Konzeptualisierungen von Staat und Demokratie zu machen. Waren die demokra-
tietheoretischen Überlegungen unter den Stichworten »Gleichheit und/oder Diffe-
renz« vielfach von politisch-institutionellen Erwägungen abgehoben, so sind die
Diskussionen um ein antipatriarchales Staatskonzept seit dem Beginn der 1990er
Jahre als Versuche zu begreifen, das institutionelle Schwergewicht staatlicher In-
stitutionen zu ergründen und mit differenz- und demokratietheoretischen Er-
wägungen zu unterfüttern.
Eva Kreisky (1994) war im deutschsprachigen Raum eine der ersten, die eine
staatstheoretische feministische Debatte auf den Weg brachte. Ihr Konzept des
»politischen Männerbundes«, das Maskulinismus als »Standardform« des Politi-
schen und den Staat als historisch sedimentierte Männlichkeit fasst, wurde im
Laufe der vergangenen Dekade erweitert und präzisiert (vgl. Sauer 2001). Der
Beitrag der feministischen Staatsdebatte zu einem kritischen Konzept von Staat-
lichkeit liegt ohne Zweifel in der Präzisierung des Zusammenhangs von gesell-
168 Birgit Sauer

schaftlichen Herrschaftsformen und staatlichen Strukturen. Herrschaft wurde nicht


allein in einem strukturierenden Mechanismus von Klassenverhältnissen lokalisiert,
sondern als Ergebnis der Pluralität von sozialen Differenzen und Konflikten
begriffen. Der Versuch, einen nicht-essentialistischen Begriff von Geschlecht zu
entwerfen, schuf auch Bewusstheit darüber, dass der Staat kein monolithisches
Gebilde ist. Insbesondere die wissenschaftlichen Auseinandersetzungen mit »dem«
patriarchalen Wohlfahrtsstaat (vgl. Kulawik 1999) ließen von einem instrumentali-
stischen und funktionalistischen Staatskonzept in der jüngeren feministischen
Staatsdebatte Abstand nehmen.
Der Succus feministischer Staatsdebatten lässt sich wie folgt formulieren: Zwi-
schen Staat und männlicher Herrschaft gibt es zwar Homologien, nicht aber einen
einzigen Mechanismus, der den maskulinistischen Charakter des Staates ausmacht
(vgl. Brown 1992, S. 14). Die Reproduktionsmechanismen von »versachlichter
Männlichkeit«, die Prozesse der Hegemonialisierung von Männlichkeit und die
Abwertung von Weiblichkeit, sind Prozesse der Entstehung von Staatlichkeit. »Die
Entstehung des Staates aus den Geschlechterverhältnissen« ist mithin staatstheo-
retisches Programm (vgl. Sauer 2001): Staatlichkeit entsteht aus Geschlechterver-
hältnissen, und Zweigeschlechtlichkeit wird in unterschiedlichen Staatsarenen pro-
duziert. Staat und Geschlecht sind sich gegenseitig konstituierende diskursive
Praxen. Anders ausgedrückt: Geschlechterkonflikte entstehen erst »durch Risse
und Spaltungen im Machtblock« (in Bezug auf Klassenkonflikte Demirovic 1987,
S. 84), sie werden im strategischen staatlichen Feld generiert bzw. politisiert. Staat-
lichkeit zeichnet sich durch die Macht aus, Phänomene zu ent- und zu verge-
schlechtlichen – und zwar in explizit geschlechtlicher oder in geschlechtsneutraler
Weise.
So wie es keine konsistente kapitalistische Logik in der Staatsform gibt, so gibt
es auch keine patriarchale oder männliche Logik, die sich im Staat materialisiert:
Der Staat ist vielmehr ein Kampf zwischen Männern und Frauen, gegen Frauen,
mit Frauen, ein Kampf um geschlechterselektiven Aus-, aber auch Einschluss. Die
Rede von »den« Frauen oder von »den« Männern und die Repräsentation »ihrer«
Interessen im Staat ist dann nicht mehr möglich. Der Staat ist also kein einheitlicher
Akteur, der die Interessen der »Männerklasse« durchsetzt, sondern er besitzt eine
maskulinistische strategische Selektivität, die durch feministische Bewegungen po-
tenziell transformiert werden kann. So ist auch die Perspektive der Transformation
des »Geschlechts des Staates« denkbar.

6. Gesellschaft – Herrschaft – Differenz: das Projekt einer


kritischen Staats- und Demokratietheorie im Kontext
neo-liberaler Restrukturierung

Im Horizont ökonomischer Globalisierung wird derzeit ein neues Konzept von


Staatlichkeit entworfen, das den Bedürfnissen kapitalistischer Akkumulation, den
neuen Gesellschaftsstrukturen und den geforderten flexiblen Identitäten ange-
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 169

messen ist. Die Staatsverhältnisse der Nachkriegszeit, das Verhältnis zwischen


Staat, Gesellschaft und Ökonomie werden redimensioniert (vgl. Hirsch/Jessop
2001, S. 8). Die Rede von der zunehmenden Funktionslosigkeit des Staates gegen-
über der Ökonomie ist Teil dieses hegemonialen Projekts und eine Strategie der
diskursiven Verfestigung eines neuen Denk- und Handlungsmusters. Als gegen-
hegemonialen Diskurs bedarf es deshalb einer materialistischen Staatssicht, die die
komplexen Zusammenhänge von Staat, Gesellschaft, Ökonomie, von gesellschaft-
lichen Gruppen und Individuen in dieser »politischen Revolution« (Brodie 1994,
S. 55) herausarbeitet. Ein kritisches Staatskonzept muss freilich anerkennen, dass es
keine allgemeine und umfassende Theorie »des« Staates mehr geben kann, sondern
nur Ausschnitte über institutionelle und strategische Charakteristika von Staaten in
je historischen, institutionell-pfadabhängigen und kulturell-spezifischen Situatio-
nen.
Um den komplexen gegenseitigen Konstitutionsprozess von Staatlichkeit, ge-
sellschaftlichen Widersprüchen und Transformationen plausibel zu machen, bedarf
es eines institutionell »gehärteten« diskurstheoretischen Staatskonzepts (vgl. Sauer
2001). Die Aspekte eines solchen kritischen Staatskonzepts sollen abschließend an
den aktuellen Transformationen von Staatlichkeit in neun Dimensionen exemplifi-
ziert werden: Erstens ist der Staat ein soziales Verhältnis. Er greift nicht nur von
außen in ökonomische, gesellschaftliche bzw. private Beziehungen regulierend
(oder deregulierend) ein, sondern er ist unmittelbarer Aspekt dieser Beziehungen
(vgl. Demirovic 2001, S. 152). Globalisierung und Neoliberalismus als naturwüch-
sig-ökonomische Entwicklungen zu interpretieren, verkennt also den »Primat des
Staates« (Neumann).
Zweitens dürfen die Arten und Weisen, wie sich soziale Verhältnisse und Aus-
einandersetzungen im Staat, in politischer Deliberation und Entscheidung nieder-
schlagen, nicht als ein mechanischer »Einschreibungsprozess« (so z. B. Held 1989,
S. 47) begriffen werden. Die Vorstellung vom strategischen Feld bzw. Knotenpunkt
(Esser 1985, S. 978) und vom flexiblen Terrain der Institutionalisierung und Ent-
institutionalisierung von sozialen Verhältnissen bzw. Auseinandersetzungen bricht
eine funktionalistische Statik auf und betont die Widersprüchlichkeit der Staates.
Damit geraten historisch-spezifische Formen der Kompromiss- und Konsens-
bildung in den Blick, die den Staat nicht nur repressiv, sondern auch produktiv
erscheinen lassen (vgl. Demirovic 1997, S. 150). Umgekehrt besitzt der Staat eine
Organisations- und »Kohäsionsfunktion« in Bezug auf gesellschaftliche Wider-
sprüche (Demirovic 2001, S. 155).
Dem Verflechtungsparadigma von Staat, Ökonomie und Gesellschaft ist drittens
also nicht zu unterstellen, dass der Sphäre des Politischen keine Autonomie
zugestanden würde. Der Staat ist weder bloßes Instrument zur Disziplinierung und
Kontrolle der beherrschten Gesellschaftsgruppen, noch kann er die Interessen der
herrschenden Gruppen einfach durchsetzen. Seine Qualität als Kräftefeld macht
ihn zu einem Akteur, der eigene »Interessen« entwerfen und realisieren kann. So ist
beispielsweise das »Geschlecht« des Staates nicht allein aufgrund der »Bemannt-
heit« staatlicher Institutionen zu bestimmen; vielmehr ist es historisch variabel,
weil die Dauerhaftigkeit des modernen Staates gerade auf der systematischen
170 Birgit Sauer

Leugnung des Geschlechts und der ambivalenten Integration von Frauen beruht.
Auch der »postfordistische Staat« ist kein simples Instrument des Kapitals, »son-
dern ein umkämpftes Terrain« (Hirsch/Jessop 2001, S. 8). In den Prozessen welt-
weiter neo-liberaler Restrukturierung werden Staaten nicht zu bloßen Funktionen
des ökonomischen Prozesses. Im Gegenteil: Staaten besitzen eine je spezifische
Fähigkeit zur Anpassung an das neue globale Setting, und sie besitzen die Kapazi-
tät, in den ökonomischen Internationalisierungsprozess einzugreifen – oder darauf
zu verzichten. Der Staat »erodiert« also nicht, sondern der Staatsapparat vollzieht
einen Wandel seiner Architektur. So geht der Umbau nationaler Staatsarchitekturen
mit dem »Wiedererstehen« von Staatlichkeit auf transnationaler Ebene, z. B. im
Gewand von »global governance«, einher. Neoliberalismus bedeutet eine Rekon-
figuration der Grenzziehung zwischen öffentlicher und privater Sphäre: Der Markt
expandiert, öffentlich-staatliche Räume schrumpfen und werden zur Unkenntlich-
keit privatisiert, während die Familie »entgrenzt«, d. h. zu mehr öffentlichen
Pflichten verpflichtet wird.
Viertens ist ein Ergebnis dieser Diskussion, dass der Staat als Ordnungs- und
Gewaltsystem keine eigene Macht besitzt, sondern eine besondere Form ist, »die
die gesellschaftliche Macht annimmt« (Demirovic 2001, S. 155; Hervh. B. S.). Er
pluralisiert sich vielmehr in eine Vielzahl möglicherweise gegenläufiger Herr-
schaftstechnologien (vgl. Demirovic 1997, S. 151). Staatliche Herrschaft ist somit
keine starre Struktur, sondern ein austariertes Verhältnis, das in sozialen Ausei-
nandersetzungen reproduziert, aber auch verändert wird (vgl. ebd., S. 58). Staats-
verhältnisse sind gleichsam durch gesellschaftliche Widersprüche »überdetermi-
niert«. Die Widersprüche im staatlichen Kräftefeld bieten widerständige Anknüp-
fungspunkte für emanzipatorische Politik, sie stecken aber zugleich deren Grenzen
ab.
Im neo-gramscianischen Kontext bezeichnet der Staat fünftens den (Selbst-)
Entwurf der Zivilgesellschaft zur politischen Ordnung bzw. zu politischer Füh-
rung. Diese Ordnungsform ist schließlich darum bemüht, sich zu »normalisieren«,
also hegemonial zu werden (vgl. Gramsci 1991, S. 783). Der Staat ist somit »ein
Faktor in der Dynamik der ständigen Selbsttransformation der bürgerlichen Ge-
sellschaft«, und die repräsentative Demokratie bietet eine staatliche Form, in der
sich Gesellschaften »auf formell geregelte Weise selbst immer von neuem trans-
formier(en)« können (Demirovic 2001, S. 154ff.). Staatsbürgerliche Rechte bei-
spielsweise konnten in diesem Transformationsprozess von sozialen Bewegungen
eingeklagt und erstritten werden. Demokratisierung ist somit ein gesellschaftlicher
Prozess, der in der Zivilgesellschaft entsteht, aber stets in Auseinandersetzung mit
staatlichen Ordnungsmustern vorangetrieben werden muss.
Moderne Gesellschaften sind insbesondere durch eine ständige Grenzneuzie-
hung zwischen den gesellschaftlichen Sphären charakterisiert, und moderne Staat-
lichkeit ist ein zentraler Ordnungsfaktor dieser Grenzziehung, er ist »die Bedin-
gung jeder Unterscheidung zwischen öffentlich und privat« (Althusser 1969, S. 129;
Hervh. B. S.). Die Zivilgesellschaft ist dann keine »vermittelnde Instanz zwischen
Gesellschaft und Staat« (Demirovic 1999, S. 20), Staat und Zivilgesellschaft sind
also keine dichotomen Strukturen, wie im Habermasschen Ansatz, vielmehr for-
Den Staat ver/handeln. Zum Zusammenhang von Staat, Demokratie und Herrschaft 171

mieren sich Hegemonial- und Herrschaftsverhältnisse als Kompromisse in der


Zivilgesellschaft und bilden sich in (staatlichen) Strukturen ab bzw. aus. Auch im
derzeitigen »Zwang« zur Veränderung des Staates und nationaler Demokratien
liegen Handlungschancen, die »neue demokratische Kräfte freisetzen« (Demirovic
1997, S. 56). Der Bruch in den politischen Repräsentationsformen zerstört freilich
traditionelle Orte und Formen von demokratischer Politik. Im nationalen wie
internationalen »Verhandlungsstaat« verlieren demokratisch legitimierte Institu-
tionen ihr Monopol auf politische Problemdefinition, auf das Agenda-Setting und
auf Problemlösungsstrategien an korporatistische Netzwerke zwischen staatlicher
Administration, Industrie und Gewerkschaften und Wissenschaft.
Sechstens lässt sich der Staat als eine Sphäre von Ideen, Interpretationen und
hegemonialen Diskursen fassen. Staatlichkeit entsteht in einem Geflecht ganz
unterschiedlicher diskursiver Arenen: dem legalen, dem administrativen bzw. büro-
kratischen, dem therapeutischen, dem prärogativen sowie dem kapitalistischen
Diskurs (vgl. Fraser 1994, S. 268 f.; Brown 1992, S. 14; 17ff.). Diese Diskurse
können die Form von Expertendiskursen der Politik, der Wissenschaft und der
Wirtschaft annehmen, aber auch die Form einer Politisierung »von unten«, eines
anti-hegemonialen Projekts. Auch der aktuelle neo-liberale Diskurs oder EU-
Diskurse eröffnen mithin transformatorische Möglichkeiten in dem Maße, wie die
Notwendigkeit zu Kompromissen (z. B. auf der Ebene von Nationalstaaten) eine
Politisierung »von unten« eröffnet.
Diese Gegenthesen zu liberalen und kontraktualistischen Ideen von Staatlichkeit
basieren siebtens auf einer Theorie der Gesellschaft, die soziale Differenzen –
Klassen-, aber auch Geschlechterverhältnisse und ethnisierte Differenzen – als
strukturierende Widersprüche anerkennt und nicht universalistisch planiert. Es war
ja gerade eine »Selbstmystifikation des Staates«, dass es das Allgemeine repräsen-
tiere und eine universalistische Steuerungsinstanz sei, die universelle Werte und
Normen durchsetze (Demirovic 2001, S. 154).
Der Staat muss achtens »in der Gesellschaft gelebt werden« (Demirovic 1987,
S. 150), sonst ist er nicht. Er muss »Bestandteil der alltäglichen Lebensweise« von
Frauen und Männern werden, »damit er Herrschaft verkörpern und ausarbeiten
kann« (ebd.). Die Aufgabe der hegemonialen Staatsapparate besteht darin, in
»kollektiven Praktiken« gesellschaftlichen Konsens herzustellen und zu sichern
(Demirovic 1997, S. 149), damit die Bürger/innen an die Notwendigkeit und
Rechtmäßigkeit des Staates »glauben«, sie herstellen und reproduzieren. Auch in
diesen widersprüchlichen Reproduktionspraxen wird Widersprechen und Trans-
formation denk- und umsetzbar.
Neuntens müssen Subjektivierungsprozesse im staatlichen Kräftefeld angesiedelt
werden. Politische Identitäten sind weder bloße Reflexe gesellschaftlicher noch
staatlicher Strukturen, sondern sie bilden wechselseitige Konstituierungsverhält-
nisse. Subjekte sind keine vorstaatlichen »Aliens«, sondern sie entstehen in Staats-
diskursen und -praxen. Staatlichkeit ist als Prozess der individuellen Inkorporie-
rung herrschaftlich-hegemonialer Lebens- und Denkweise, als soziale Praxis zu
beschreiben und nicht nur als repressive Unterdrückungsmaschine. Er ist eine
vergeschlechtlichte, ethnisierte Klassen-Bürger/innen erzeugende Formation, frei-
172 Birgit Sauer

lich auch eine den Einzelnen entfremdende Institution. Ließen die Kritische Theo-
rie sowie neo-marxistische Ansätze eine Leerstelle bei der Konzeptualisierung des
Zusammenhangs von Subjektivität und Staat, so lässt sich diese mit dem Foucault-
schen Konzept der Gouvernementalität füllen.
Fazit: Die »Kulturalisierung« von Staat in diskursbezogenen Ansätzen ermög-
licht eine Mobilisierung des sedimentierten »Gehäuses der Hörigkeit«. Auf diese
methodologische Weise kann das starre Verhältnis zwischen Staat und Gesellschaft
gleichsam zum Tanzen gebracht und seine Qualität als soziales Kräftefeld sichtbar
gemacht werden. Der Staat ist dann sowohl eine filternde und strukturierte Struk-
tur, er ist aber auch eine strukturierende und produktive Struktur, ein Feld, das
Identitäten, Interessen und Institutionen hervorbringt. In einem solchen Konzept
von Staatlichkeit ist schließlich die Vorstellung von demokratischer Staatlichkeit
enthalten, die als kritischen Fluchtpunkt die »autonome Vergesellschaftung der
Individuen« (Demirovic 1997, S. 19) im Blick hat. Dass sich auf staatlichem Terrain
emanzipatorische Handlungskorridore öffnen, ist möglich, aber nicht garantiert.
Auch in den globalen Restrukturierungsprozessen ist eine »Paradoxierung« von
Demokratie feststellbar: Das vieldiskutierte Mehr an Demokratie durch die In-
tegration der »Zivilgesellschaft« scheint Entscheidungslosigkeit zu demokratisieren
– die Zivilgesellschaft debattiert und deliberiert, aber entschieden wird an anderen
Orten.

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Leblose Lebendigkeit. Zur Bedeutung von Organisation,
Wissen und Norm im Konzept der verwalteten Welt
Michael Bruch

Wenn von Verwaltung die Rede ist, wird damit vor allem der Staat in Verbindung
gebracht. Der Begriff der verwalteten Welt kann deshalb leicht den Eindruck
erwecken, die Welt sei vollständig vom Staat durchdrungen. Diese Sichtweise ist,
denkt man an den Umfang staatlicher Regulierung in den wohlfahrtsstaatlich
geprägten Ländern des Westens und nicht zuletzt an die vormals realsozialistischen
Staaten, sicherlich nicht unbegründet. Was hierbei jedoch leicht übersehen wird ist,
dass die Gegenwart in einem bisher nicht gekannten Ausmaß durch Organisa-
tionen gekennzeichnet ist. Mehr oder weniger alle Lebensbereiche, in denen wir
uns bewegen, vom Gesundheits-, Erziehungs-, Bildungs- und Wissenschaftssystem
über das politische und ökonomische System bis hin zu Teilen der Freizeit, sind
organisationsförmig strukturiert. Mit der Wende zum 20. Jahrhundert hat die
Bedeutung von Organisationen nicht nur aufgrund ihrer Quantität, sondern im
Zuge der ökonomischen und politischen Globalisierung auch in qualitativer Hin-
sicht in Gestalt multinationaler Unternehmungen sowie supranationaler Institu-
tionen (wie der UNO, der Weltbank, dem IWF, der Nato, etc.) erheblich zuge-
nommen. Die genannten Organisationen verfügen aufgrund des dort hochgradig
konzentrierten Kapitals bzw. politischer Entscheidungskompetenzen über Macht-
ressourcen, die sie in die Lage versetzen, im globalen Maßstab die Lebens- und
Arbeitsbedingungen der Menschen nachhaltig zu beeinflussen.
Ohne explizit auf Organisation verwiesen zu haben, sahen Horkheimer und
Adorno die Entwicklungstendenzen hin zu den gegenwärtigen gesellschaftlichen
Verhältnissen bereits in der Krise des liberalen Konkurrenzkapitalismus an der
Wende zum 20. Jahrhundert angelegt. Im Gegensatz zur Einschätzung seitens der
sozialistischen Theoretiker, für die der Monopolkapitalismus Ausdruck eine den
kapitalistischen Produktionsverhältnissen innewohnenden systemtranszendieren-
den Dynamik repräsentierte, interpretierten Horkheimer und Adorno diesen ge-
sellschaftlichen Formwandel als eine Entwicklung, die zu einer Verhärtung und
Ausdehnung der bestehenden Herrschaftsverhältnisse führt. In den politischen und
ökonomischen Verhältnissen in den totalitären Regimes in Deutschland und der
Sowjetunion sowie den formaldemokratisch verfassten USA sehen sie trotz aller
Differenzen jene Strukturen im Entstehen, die zur Ausbildung einer verwalteten
Welt tendieren.
Heben die Analysen des Nationalsozialismus in nicht unproblematischer Weise
den Staat als zentralen Träger der Herrschaftsverhältnisse hervor, so lassen sich
über den Bezug auf die Interpretation der US-amerikanischen Verhältnisse, wie sie
Horkheimer in seinem Racket-Theorem dargelegt hat, Ansätze eines Verständnis-
ses moderner Herrschaft als dezentrale, organisational abgestützte Struktur heraus-
arbeiten. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, nicht zuletzt für den hier
Leblose Lebendigkeit 177

gebrauchten Organisationsbegriff, die Rolle und Funktion, die Horkheimer und


Adorno den Denk- und Wissensformen für die Gestalt der modernen Gesellschaft
zuschreiben. Denn diese werden nicht auf ein Überbauphänomen reduziert, son-
dern ihnen wird als inhärenten Bestandteilen der gesellschaftlichen Praxis der
Naturaneignung eine bedeutsame Rolle bezüglich der Dynamik und der Tenden-
zen des historischen Entwicklungsprozesses zugeschrieben. Wissen wird dabei
nicht als Widerspiegelung, sondern vielmehr als produktive gesellschaftliche Ord-
nungskraft begriffen.
Die für die moderne bürgerliche Gesellschaft charakteristischen Denk- und
Wissensformen begründen disziplinierende Ordnungskonzepte, die nicht allein –
wie in den Foucaultschen Arbeiten gedacht – auf die Subjekte und die Bevölkerung
beschränkt sind. In der Perspektive der rationalitätstheoretischen Arbeiten Hork-
heimers und Adornos ist vielmehr davon auszugehen, dass jene Ordnungskonzepte
von Beginn an auf Lebendigkeit insgesamt bezogen sind, womit hier Ansätze eines
erweiterten Konzepts von Bio-Politik auszumachen sind. Der Ordnungsmacht des
Wissens kommt zudem insofern eine bedeutsame Rolle zu, als damit ein Herr-
schaftsbegriff verbunden ist, der sich nicht allein an Repressionsvorstellungen
orientiert, sondern Herrschaft als Produktionsprozess von Konformität begreift.
Konformismus wird in diesem Zusammenhang nicht als verordnete Uniformität
verstanden, sondern als Produktion von Wahrheits-Normen, so dass unter Bezug
auf Foucaults Überlegungen die »verwaltete Welt« als Normalisierungsgesellschaft
reformuliert werden kann. Diese Sichtweise ermöglicht schließlich eine Interpreta-
tion des Globalisierungsprozesses, die ökonomistische Engführungen vermeidet.

1.

Mit der Wende zum 20. Jahrhundert schien sich in den fortgeschrittenen industri-
ell-kapitalistischen Zentren das zu bestätigen, was Karl Marx in seiner nur ca. 40
Jahre zuvor veröffentlichten Kritik der politischen Ökonomie prognostiziert hatte:
der Zerfall des liberalen Konkurrenz- und seine Ablösung durch den Monopolka-
pitalismus (für Deutschland s. Wehler 1995, S. 633 u. Conert 1998, S. 188). Diese
Entwicklung resultiert für Marx aus einer den kapitalistischen Produktionsver-
hältnissen immanenten Gesetzmäßigkeit, die zu ihrer Selbstaufhebung tendiert.
»Das Kapitalmonopol wird zur Fessel der Produktionsweise, die mit und unter
ihm aufgeblüht ist. Die Zentralisation der Produktionsmittel und die Vergesell-
schaftung der Arbeit erreichen einen Punkt, wo sie unverträglich werden mit ihrer
kapitalistischen Hülle. Sie wird gesprengt. Die Stunde des kapitalistischen Pri-
vateigentums schlägt. Die Expropriateurs werden expropriiert« (Marx 1979,
S. 791).
Mit dem Monopolkapitalismus, so erschien es zumindest den wichtigen Theo-
retikern der sozialistischen Bewegung der Jahrhundertwende, sei bereits ein gesell-
schaftlicher Zustand erreicht, in dem die Gesetze der kapitalistischen Produktions-
weise weitgehend außer Kraft gesetzt seien. Zentral war dabei die Annahme, dass
178 Michael Bruch

der Organisationsgrad der Produktion mit dem Vergesellschaftungsgrad zusam-


menfalle. So sei der »organisierte Kapitalismus«, wie Rudolf Hilferding den Mono-
polkapitalismus bezeichnet, durch die Vergesellschaftung nicht nur des Arbeits-
prozesses im Großbetrieb, sondern ganzer Industriezweige und der Vereinheitli-
chung der vergesellschafteten Industriezweige untereinander gekennzeichnet. »Da-
mit wächst zugleich die bewußte Ordnung und Lenkung der Wirtschaft, die die
immanente Anarchie des Kapitalismus der freien Konkurrenz auf kapitalistischer
Basis zu überwinden strebt« (Hilferding 1924, S. 2). In die gleiche Richtung
argumentiert Wladimir I. Lenin in seiner Imperialismustheorie, in der er den
fortgeschrittenen Kapitalismus in seiner imperialistischen Gestalt als Ȇbergangs-
kapitalismus« oder »sterbenden Kapitalismus« (Lenin 1979, S. 144, s. auch Lenin
1961, S. 369) charakterisiert.
Beide Interpretationen beruhen auf der für die Marxsche Theorie zentralen
Einsicht, dass die kapitalistischen Produktionsverhältnisse als Herrschaftsverhält-
nisse zu begreifen seien. Die Struktur der Produktionsprozesse wie die der Öko-
nomie insgesamt ist deshalb nicht als technische, sondern als politische zu rekon-
struieren. Was Hilferding und Lenin und vor ihnen schon Marx und Engels im
Auge hatten, wenn sie von Verwaltung oder Organisation sprachen, ist die Aufhe-
bung des Politischen im Sinne der Aufhebung der Herrschaftsverhältnisse oder, wie
es Marx und Engels im Kommunistischen Manifest formulieren, dass die Ver-
wandlung des Staates in eine bloße Verwaltung der Produktion nichts anderes
besage als den Wegfall des Klassengegensatzes (Marx/Engels 1983, S. 491, s. auch
Engels 1973, S. 241 u. 262)
Die Fokussierung der Analyse auf den Klassencharakter vernachlässigt jedoch,
dass die kapitalistische Produktionsweise daneben durch eine historisch besondere
Rationalität der gesellschaftlichen Naturaneignung charakterisiert ist. Dabei mögen
zwar beide Aspekte aufeinander verweisen, können jedoch nicht in eins gesetzt
werden. Der positive Bezug auf Verwaltung bzw. Organisation ist jedoch gerade
durch die Vorstellung geleitet, dem Kapitalismus wohne neben seinen Herrschafts-
aspekten eine gleichsam neutrale, technische Rationalität der Naturaneignung inne,
die, befreit von der Klassenherrschaft, eine freie und emanzipative Form gesell-
schaftlicher Produktion ermögliche. Die Konsequenzen dieser Interpretation sind
ablesbar an der historischen Entwicklung, die Russland nach der Revolution nahm
und die von Joseph Roth scharfsinnig folgendermaßen auf den Punkt gebracht
wurde: »Es wird Ihnen nicht klar, daß Rußland dank dem Bolschewismus nicht
etwa einen neuen Okzident vorbereitet, sondern daß der Bolschewismus der Weg
ist der okzidentalen ekelhaften Zivilisation nach Rußland. Keine neue Welt wird
vorbereitet, sondern unsere ekelhafte alte kommt nach dem Osten« (Roth 1983,
S. 231, s. auch Horkheimer 1985k, 376).
Neben den Entwicklungen in der Sowjetunion beeinflusste auch der National-
sozialismus in Deutschland die theoretische Orientierung der Kritischen Theorie
nachhaltig. Die ökonomische Krisensituation zwischen 1929 und 1933 führte
gerade nicht zu einer Aufhebung der kapitalistisch basierten Herrschaftsverhält-
nisse, sondern im Gegenteil zu einer verschärften, gewaltgestützten Herrschafts-
form. Insbesondere warf der Faschismus die Frage auf, welcher theoretische und
Leblose Lebendigkeit 179

empirische Stellenwert der kapitalistisch verfassten Ökonomie für die Struktur und
Entwicklung der modernen Gesellschaft beizumessen sei. Zentral für die weitere
theoretische Entwicklung der Kritischen Theorie war in diesem Zusammenhang
Friedrich Pollocks Analyse des Nationalsozialismus, in der er zu dem Ergebnis
kam, dass die dem Kapitalismus innewohnende Entwicklungsdynamik nicht, wie
Hilferding und Lenin annahmen, zu dessen Aufhebung, sondern zu dessen Verfes-
tigung in Gestalt des totalitären bzw. demokratischen Staatskapitalismus führe.
Sowohl in seiner totalitären als auch in seiner demokratischen (US-amerikanischen)
Variante unterscheidet sich der Staatskapitalismus vom Privatkapitalismus in drei
Punkten: (1) Nicht mehr der Markt, sondern ein System direkter Kontrolle koordi-
niert Produktion und Distribution, womit die kapitalistischen Wirtschaftsgesetze
außer Kraft gesetzt werden. (2) Die Kontrolle von Produktion und Distribution
wird dem Staat übertragen. (3) Der Staat ist im totalitären Staatskapitalismus das
Machtmittel einer »neuen herrschenden Gruppe, die aus der Verschmelzung der
mächtigsten Kapitale, der obersten Ränge in der Leitung von Industrie und Ge-
schäft, der oberen Schichten der staatlichen Bürokratie (einschließlich des Militärs)
und der Bürokratie der herrschenden Partei entstanden ist« (Pollock 1984, S. 82 f.).
Diese neue herrschende Gruppe teile sich nun die Gewalt, die vormals der Staat
monopolisiert hatte. In seiner demokratischen Variante übernehme der Staat im
Staatskapitalismus die gleichen Funktionen mit dem Unterschied, dass hier der
Staat durch das Volk kontrolliert werde und Einrichtungen der Kontrolle der
Bürokratie gegeben seien.
Die Beseitigung der Zirkulationssphäre, in der sich die Individuen über das
Medium des Tauschs als formal-rechtlich gleiche ›Partner‹ gegenübertreten, be-
zeichnet für die bürgerliche Gesellschaft insofern eine bedeutsame Veränderung, als
»in der Sphäre der Vermittlung Begriffe wie Gleichheit und Freiheit ihre objektive
gesellschaftliche Basis finden und nun historisch obsolet werden« (Demirovic 1999,
S. 86). Das Primat der Politik über die Ökonomie (s. dazu auch van Reijen/Bransen
1997, S. 457), wie es sich im Nationalsozialismus in ausgeprägter Form zeige,
bezeichnet für Horkheimer jedoch keine singuläre, auf Deutschland begrenzte
Entwicklung, sondern vielmehr stellt er das Symbol dessen dar, »[…] was einmal
kommen müßte, nämlich eine völlig verwaltete, rationalisierte, von einer Stelle aus
geleitete und gelenkte Gesellschaft […]« (Horkheimer 1985i, S. 328 f. u. Hork-
heimer 1997).

2.

Die auf der Grundlage der Interpretation der totalitären Regimes von Stalinismus
und Nationalsozialismus vorgenommenen Verallgemeinerungen hinsichtlich der
gesellschaftlichen Entwicklungstendenzen beinhalten Widersprüche in der Herr-
schaftstheorie von Horkheimer und Adorno, die sich bis hin zum Theorem der
»verwalteten Welt« verfolgen lassen. Dabei handelt es sich um die Orientierung an
absolutistisch-zentralistischen Herrschaftsmodellen bei gleichzeitiger Hervorhe-
180 Michael Bruch

bung der Bedeutung einer dezentralen, organisationsgestützten Struktur von


Herrschaft.
Ist im obigen Zitat die Rede von einer zentralistisch gesteuerten, die Individuen
in Regie nehmenden Gesellschaft, so misst Horkheimer im Autoritären Staat den
großen gesellschaftlichen Organisationen eine zentrale Bedeutung für die gegen-
wärtige Herrschaftsstruktur bei. Parteien und Gewerkschaften fördern ihm zufolge
»eine Idee der Vergesellschaftung, die von der Verstaatlichung, Nationalisierung,
Sozialisierung im Staatskapitalismus kaum verschieden war« (Horkheimer 1997,
S. 295). Die Differenz zwischen den Gesellschaftssystemen erweist sich hinsichtlich
des grundlegenden Modus der Herrschaftsausübung nur als die Verkleidung des
Gleichen.
»Wenn überhaupt die Phantasie sich vom Boden der Tatsachen entfernt, setzt sie an Stelle der
vorhandenen staatlichen Apparaturen die Bürokratie von Partei und Gewerkschaft, an Stelle
des Profitprinzips die Jahrespläne der Funktionäre. Noch die Utopie war von Maßregeln
erfüllt. […] In den restlichen Demokratien befinden sich die Leiter der großen Arbeiter-
organisationen heute schon in einem ähnlichen Verhältnis zu ihren Mitgliedern wie im
integralen Etatismus die Exekutive zur Gesamtgesellschaft: sie halten die Masse, die sie
versorgen, in strenger Zucht, schließen sie gegen unkontrollierten Zuzug hermetisch ab,
dulden Spontaneität bloß als Ergebnis ihrer eigenen Macht.« (Horkheimer 1997, S. 295 f.)

Hinsichtlich der hier angesprochenen Bedeutung von Organisation für das Ver-
ständnis moderner Herrschaft kann weiter an das Horkheimersche Racket-Theo-
rem angeknüpft werden. Für Horkheimer stellt das Racket zunächst keine histo-
risch besondere, sondern eine allgemeine Form sozialer Ungleichheit dar, die
allerdings historischen Modifikationen hinsichtlich des Wechsels der Machtres-
sourcen unterliegt. In seiner Geschichte löst sich das Racket von einer auf natür-
lichen und persönlichen Potenzen beruhenden Macht und wird zur Fähigkeit der
Besetzung gesellschaftlicher Schlüsselpositionen. »Die Scheidung zwischen oben
und unten, Herrschaft und Beherrschten beruht auf der Organisation jeder einzel-
nen Machtgruppe in sich selbst und gegen die, welche weiter unten stehen«
(Horkheimer 1985a, S. 287). Horkheimer benennt hier mit Organisation einen
Mechanismus sozialer Asymmetrisierung, der weder historisch noch theoretisch
genauer bestimmt wird. Wenn man Organisation nun nicht als allgemeines Prinzip
einer auf Herrschaft gerichteten Gruppenbildung, sondern als Bestandteil einer
historisch besonderen Gesellschaftsformation begreift, dann eröffnet dies die Mög-
lichkeit, die im Racket-Theorem angelegten Überlegungen zur Struktur moderner
Gesellschaft und der ihr eigenen Form von Herrschaft systematisch mit den
wissens- bzw. rationalitätstheoretischen Analysen der Kritischen Theorie zu ver-
binden.
Das Racket wird von Horkheimer als eine abgrenzbare, mit einer inneren
Ordnung versehene, Personen selektiv in- bzw. exkludierende Einheit charak-
terisiert, die als Herrschaftsinstrument fungiert. Wie sich anhand einer historisch
und gesellschaftstheoretisch orientierten Organisationsforschung zeigen lässt, han-
delt es sich hierbei um drei, die moderne Organisationsform konstituierende
Dimensionen, nämlich die der Ordnung, des Gebildes und der Vergemeinschaf-
tung. Die Rekonstruktion der Genese von Organisation entlang dieser Dimen-
Leblose Lebendigkeit 181

sionen impliziert eine doppelte Perspektive insofern, als die einzelnen Dimen-
sionen Konstellationen von Denk- und Handlungspraxen repräsentieren, die kon-
stitutiv nicht nur für Organisation, sondern zugleich für die moderne Gesellschaft
insgesamt sind. Anders formuliert: Die Genealogie der Organisation setzt nicht die
Existenz einer historischen Gesellschaftsformation voraus, sondern sie rekon-
struiert beide als wechselseitiges Bedingungsverhältnis. Organisation darf vor die-
sem Hintergrund nicht in einem technisch-verdinglichten Sinn als Apparat von
Herrschaftsausübung missverstanden werden. Sie ist nicht Subjekt, sondern im
Gegenteil gehört es zu ihren Merkmalen, dass ihr ein Subjektcharakter zuge-
schrieben wird. Als materieller Ausdruck von Wissens- und Handlungspraxen
stellt Organisation ein gesellschaftliches Verhältnis (Bruch 2000) dar, das den
Beziehungen zwischen den Menschen und zur inneren wie äußeren Natur eine
historisch eigene Prägung verleiht. Die angesprochenen Organisationsdimensionen
lassen sich folgendermaßen umreißen (ausführlich s. dazu Türk/Lemke/Bruch
2002).

Die Ordnungsdimension
Mit der Erosion jener statischen, Natur und Gesellschaft gleichermaßen umfassen-
den Ordnungsvorstellung, die nach Zygmunt Bauman (2000) die für die Moderne
charakteristische »Sorge um die Ordnung« begründet, entsteht ein Ordnungskon-
zept, als dessen Zentrum sich eine rationalistisch-vernunftbasierte Wissensform
etabliert. Wie schon die frühen Staatsutopien von Thomas Morus, Tommaso
Campanella und Francis Bacon (1983) dokumentieren, verbinden sich in dem
Vernunftgedanken von Beginn an Emanzipationsbestrebungen mit sozialtechno-
kratischen und disziplinierenden Vorstellungen einer zweckgerichteten Rationali-
tät, deren Bedeutung für die Entwicklung der modernen okzidentalen Gesellschaft
von Max Weber (1984, S. 9–27) mittels des Begriffs der formalen Rationalität und
von Horkheimer in seiner Kritik der instrumentellen Vernunft (1985h) heraus-
gearbeitet werden. Getragen vor allem vom aufstrebenden Bürgertum, verbinden
sich mit dieser Ordnungsvorstellung Produktivitäts- und Effektivitätserwartungen,
die ihrerseits die Notwendigkeit der Disziplinierung sowohl der äußeren als auch
der inneren Natur unterstellen. Legitimität gewinnt diese Unterwerfung über die
Trennung von Person und Verfahren, so dass Personen nur noch in Gestalt von
Trägern eines apersönlichen Regelwerks erscheinen.

Die Gebildedimension
Die Ordnungskonzepte bedürfen zu ihrer Umsetzung Räume, auf die sie projiziert
werden können. Parallel zu den beschriebenen Ordnungsvorstellungen lässt sich
ein ökonomischer und politisch-rechtlicher Differenzierungsprozess beobachten,
aus dem eigenständige Einheiten hervorgehen, zu deren bedeutendsten neben dem
(National-) Staat und der modernen kapitalistischen Unternehmung, das bürger-
liche Individuum gehört. Die Gebildekonstruktion erschöpft sich nicht darin, Ort
der Ordnung zu sein, sondern zugleich repräsentiert sie eine zurechnungsfähige
182 Michael Bruch

Einheit (zumeist in Form der juristischen Person), der Handlungskompetenz,


Verantwortung, Eigentumsrecht, Produktivität und Akkumulationsfähigkeit zuge-
schrieben werden kann.
Die kapitalistisch verfasste Ökonomie basiert, wie Marx in seiner Analyse
gezeigt hat, auf solchermaßen gefassten Gebilden, zunächst in Form der Handels-
gesellschaften und der Verlage, die die umfassenden Produktionszusammenhänge
zerschneiden und darüber die Erträge externer Arbeitsprozesse auf sich beziehen
und sich aneignen. Mit der Industrialisierung bedient sich das Kapital der Gebilde-
konstruktion in Form der Fabrik zur räumlichen Einschließung der lebendigen
Arbeit. Erst so war die Bedingung gegeben, diese systematisch den Ordnungs- und
Rationalitätskonzepten zu unterwerfen. Parallel dazu kann ein politisch-rechtlicher
Prozess des Auseinandertretens von Amt und Person und auf dieser Grundlage die
Entwicklung der Figur der juristischen Person beobachtet werden (Coleman 1986).
Diese Konstruktion ermöglichte erst die personenunabhängige Akkumulation von
Reichtum und Macht. Die für die heutige Gesellschaft typische Form der an-
onymisierten Akkumulation von Kapital beruht auf eben jener Gebildekonstruk-
tion, die mittels ihrer Einheitsfiktion und Selektionsmodi die Internalisierung bzw.
Externalisierung von Ressourcen, Kosten und Erträgen erlaubt.

Die Vergemeinschaftungsdimension
Die Gebildekonstruktion erlaubt nicht nur die selektive Zurechnung von Hand-
lungen und ökonomischen Wertgrößen, sondern sie stellt Mechanismen der sozia-
len Inklusion bzw. Exklusion bereit. Als »sozialer Körper« produziert Organisa-
tion personenbezogene Grenzen von Zugehörigkeit und Fremdheit. Die Zugehö-
rigkeit, Bedingung jeglicher Partizipation, ist an Anforderungen an das Individuum
gebunden, das seine Zugehörigkeit erst zu erweisen hat.
Die herrschaftsförmige Einbindung der Individuen beschränkt sich nicht, wie
dies Repressionsvorstellungen nahe legen, auf die Errichtung eines ihnen äußer-
lichen Zwangskorsetts. Vielmehr verlangt sie die Berechenbarkeit der Persönlich-
keit und

»[…] absolut bündige Garantien der künftigen Zuverlässigkeit. Das Individuum muß sich
aller Macht begeben, die Brücken hinter sich abbrechen. Als der echte Leviathan fordert das
Racket den rückhaltlosen Gesellschaftsvertrag. Eine Reihe gleitender Übergänge führt von
dem Opfer der eigenen Mutter, das der zukünftige Zauberer seinem Racket bringen muß, bis
zur Dissertation an den Universitäten, durch die der Adept beweist, das sein Denken, Fühlen
und Sprechen unwiderruflich die Form des akademischen Rackets angenommen hat.« (Hork-
heimer 1985a, S. 288 f.)

Bezieht man Organisation in dem hier skizzierten Sinn auf die gesellschaftlichen
Herrschaftsverhältnisse, die Horkheimer und Adorno mit ihrer Rede von der
»verwalteten Welt« im Auge haben, so kann die Beziehung von Individuen und
Macht anders begriffen werden als es totalitär-zentralistische Vorstellungen von
Herrschaft vorgeben, die trotz gegenteiliger Formulierungen die Arbeiten der
Kritischen Theorie durchziehen.
Leblose Lebendigkeit 183

3.

Wie diese Rekonstruktion gezeigt hat, ist Organisation Produkt einer Rekonfigura-
tion der gesellschaftlichen und darin inbegriffen der Herrschaftsverhältnisse, wes-
halb, genauer formuliert, eigentlich vom Organisationsverhältnis gesprochen wer-
den muss (s. Bruch 2000). In diesem Prozess, in dem bestehende gesellschaftliche
Dispositive und Institutionen durch und in sozialen Kämpfen modifiziert oder
verworfen werden, kommt den – und damit kommen wir zu der für das Projekt
der Kritischen Theorie zentralen Perspektive – Denk- bzw. Wissensformen als
Praxisform eine bedeutsame Rolle zu.
Die Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse anhand der Denk- und Wissens-
formen begreift Wissen weder als reinen ideologischen Reflex der historischen
Produktionsweise, noch beschränkt sie die Bedeutung des Wissens auf dessen
Funktion als Produktivkraft im engeren Sinn. Wissen wird vielmehr als Element
der praktischen, gesellschaftlichen Naturaneignung, mithin also als Bestandteil der
Produktionsverhältnisse verstanden. Die Kritik der instrumentellen Vernunft
(Horkheimer 1985h), vor allem aber die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/
Adorno 1997) sind in diesem Sinn nicht als Abkehr von einer kritisch mate-
rialistischen Gesellschaftstheorie und Hinwendung zu einer Anthropologie der
Herrschaft zu begreifen, sondern im Gegenteil als Versuch einer Weiterentwick-
lung der politisch-ökonomischen Gesellschaftstheorie, in der den diskursiven Pra-
xen eine bedeutsame Rolle bei der Konstruktion von Wirklichkeit zugeschrieben
wird. Diese Denkweise ist konsequenzenreich insofern, als sie das Verhältnis von
Sein und Bewusstsein neu bestimmt sowie dem Verständnis und der Beziehung von
Politik und Ökonomie gerade unter herrschaftstheoretischer Perspektive eine ver-
änderte Bedeutung verleiht.
Trotz dieser in ihren Arbeiten angelegten Infragestellung herrschender Denk-
und Unterscheidungsmuster bleibt die Kritische Theorie, wie insbesondere die
Debatte um das Primat von Politik oder Ökonomie im Rahmen der Faschismus-
analysen am Institut für Sozialforschung zeigt (s. Dubiel/Söllner 1984), der Tren-
nung von Politik bzw. Staat und Ökonomie weitgehend verhaftet. Dies drückt sich
zum einen in der Entpolitisierung der Ökonomie aus, die – wie die durchgehende
Verwendung der Maschinenmetapher zeigt (Horkheimer 1985c, S. 140, Adorno
1985) – zunehmend als technologisch getriebener und vermittelter Herrschafts-
prozess begriffen wird (s. dazu auch Gangl 1987, S. 202). Zum anderen findet sich
ein Verständnis der Ausweitung bzw. Totalisierung von Herrschaft als eine Ver-
schiebung des Verhältnisses von Politik und Ökonomie zugunsten ersterer, wobei
Politik als Apparat unmittelbarer Herrschaftsausübung beschrieben wird.
Parallel zu einem solchermaßen gefassten Politikverständnis findet man bei
Horkheimer – wie etwa in dem Anfang 1945 an Adorno adressierten Memo-
randum – Überlegungen, die auf die zentrale Bedeutung der Wissensdimension für
die Funktionsweise moderner Herrschaft verweisen.
»Meinem Büro gegenüber ist ein Haus von ungefähr 22 Stockwerken. Dies trägt die Haus-
nummer 432 auf einem steinernen Ornament über dem Dach. Die Schrift ist zwar überlebens-
groß, aber kein Mensch kann sie von der Straße aus wahrnehmen. Sie ist auch gar nicht dafür
184 Michael Bruch

da, daß sie jemand wahrnimmt. Wahrscheinlich hat dem Erbauer die personifizierte Verwal-
tung vorgeschwebt, die gelegentlich auf riesenhaften Schwingen über den Städten schwebt.
Für sie sind die Nummern an den Dachspitzen der Wolkenkratzer bestimmt. Es ist schon
zwanzig oder dreißig Jahre her, daß dieser Block erbaut wurde, sonst stünde wohl noch unter
der Zahl: ›Space for 2176 employees and 1512 office desks, a greater number ist dangerous
and unlawful.« (Horkheimer 1985d, S. 307)

Herrschaft wird hier nicht mehr über den Bezug auf das Kapital- und Klassen-
verhältnis gedacht. Demgemäss basiert sie nicht auf der asymmetrischen Verfügung
über die Produktionsmittel, sondern vielmehr auf der Verfügung über ein identifi-
zierendes und ordnendes Wissen. Dieses Wissen bedarf, um wirksam zu werden,
der Manifestierung in gesellschaftlichen Strukturen bzw. verfestigten Verhältnissen.
Es stellt sich also die Frage, mittels welcher gesellschaftlichen Form jene ordnenden
und identifizierenden Konzepte umgesetzt werden. Bezieht man sich bei der
Beantwortung dieser Frage auf die Arbeiten Foucaults, so stößt man auf eine Reihe
unterschiedlicher gesellschaftlicher Einrichtungen, deren strukturelle Gemeinsam-
keit ihre Organisationsförmigkeit ist (s. Foucault 1981, insbes. S. 292).
Politik und Ökonomie können unter dieser Perspektive zwar hinsichtlich ihrer
je eigenen Orientierungslogiken unterschieden werden. Der Modus der Herr-
schaftsausübung bzw. ihre jeweilige Struktur unterscheiden sich jedoch nicht von-
einander. So zeigt der Entstehungsprozess der modernen bürgerlichen Gesellschaft,
dass die Formung jenes ordnenden, identifizierenden und, wie Foucault sagen
würde, disziplinierenden Wissens zu einer politischen Technologie, die sich in
Gestalt des Organisationsverhältnisses materialisiert, nicht nur für die moderne
Form staatlicher Herrschaft, sondern gleichermaßen für die kapitalistische Produk-
tionsweise konstitutiv ist.
Die kapitalistisch verfasste Ökonomie basiert auf einer neuartigen herrschafts-
förmigen Strukturierung des gesellschaftlichen Produktionsprozesses. Tritt Orga-
nisation, wie schon beschrieben, in der Frühphase des Kapitalismus in Form der
Handelsgesellschaften und Verlage vor allem in ihrer juristisch abgestützten Ge-
bildedimension als Zuschreibungs- und Aneignungseinheit auf, so gewinnt sie in
der weiteren Entwicklung hin zur Ausbildung des Industriekapitalismus als zent-
rale Ordnungs- und Disziplinierungsinstanz an Bedeutung. Manufaktur und Fa-
brik sind, wie Marglin (1977) in seiner historischen Studie gezeigt hat, nicht
Resultat des Einsatzes maschineller Großtechnologie, sondern vielmehr dem Zent-
ralisierungs-, Kontroll- und Disziplinierungsbedürfnis des Kapitals geschuldet.
Erst die Schaffung abgegrenzter Räume und die Konzentration der Lohnab-
hängigen in ihnen schuf, wie Marx (1970) es anhand seines Theorems der formellen
und reellen Subsumtion expliziert hat, die Möglichkeit, die Ordnungskonzepte auf
den Produktionsprozess zu projizieren und damit jene Kasernendisziplin zu etab-
lieren, die typisch für den kapitalistischen Produktionsprozess werden sollte.
Die Orientierung der Fabrikdisziplin am Vorbild militärisch-absolutistischer
Ordnungskonzepte verdeutlicht, dass – zumindest unter herrschaftstheoretischer
Perspektive – die für die moderne Gesellschaft typische Ausdifferenzierung einer
ökonomischen und politisch-staatlichen Sphäre nicht bedeutet, dass diese einer je
eigenen oder gar getrennten Rationalität folgen. So zeigt eine historische Per-
Leblose Lebendigkeit 185

spektive, dass etwa die betriebliche Entwicklung seit dem späten 19. Jahrhundert
durch die Übernahme bürokratischer Modelle (Kocka 1969 u. 1970) durch die
Unternehmungen gekennzeichnet ist und sich zugleich eine an ökonomischen
Vorbildern orientierte Restrukturierung der politisch-staatlichen Sphäre nachzeich-
nen lässt, wie wir sie ja augenblicklich in besonders ausgeprägter Form finden.
Welche zentrale Bedeutung dabei dem Wissen als Machtfaktor zukommt, lässt sich
an den Konzepten Taylors (1911/1977) ablesen, dessen Leistung ja gerade darin
bestand, erkannt zu haben, dass das Wissen der unmittelbaren Produzent/innen
einer nachhaltigen Kontrolle des Produktionsprozesses durch das Kapital ent-
gegensteht. Die Entwicklungen, die mit Taylor in Gang gesetzt wurden, doku-
mentieren, dass die Generierung neuartigen Wissens als Machtwissen, die wir etwa
im Zusammenhang mit der Entfaltung des modernen Staates in Form von Verwal-
tungs-, Ermittlungs- und Inquisitionswissen beobachten können, nur eine Seite der
Beziehung von Wissen und Macht darstellt. Die andere, wenn man will negative,
Seite ist die der Enteignung und einseitigen Aneignung einerseits und die sys-
tematische Entwertung von Wissen andererseits.
Die Bedeutung von Wissen und Wissenschaft für die Ausübung von Herrschaft
ist zwar keine Erfindung des 19. Jahrhunderts, allerdings verändert sich ihre
Bedeutung insofern, als von jenem Zeitpunkt an Wissen institutionell mit Macht
ausgestattet wird.

»Innerhalb der Teilung von Handarbeit und intellektueller Arbeit hat das 19. Jahrhundert
etwas Neues gebracht, das darin besteht, daß das Wissen, ausgestattet mit einer bestimmten
Quantität Macht, in der Gesellschaft funktionieren muß. Eben dadurch, daß es Wissen ist,
verfügt es über Macht, und es sind nicht der gute Wille der Macht oder ihre Neugierde, die
sich dem Wissen öffnen.« (Foucault 2001, S. 48 f.)

Diese explizite, institutionell verankerte Verbindung von Wissen und Macht wird
vermittels der Organisationsform hergestellt, und zwar in zweifacher Weise: Die
von den Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen vorgenommene Messung,
Kalkulierung und Beglaubigung des Wissens entspricht der Überzeugung, dass
Wissen berechtigt ist, Macht auszuüben. Zugleich verwandelt sich der, wie Fou-
cault es ausdrückt, »›freischwebende‹ Gelehrte« in einen Angestellten der ver-
schiedenen Bildungs- und Wissenschaftsorganisationen, »dessen Wissen sogleich
durch die Macht beglaubigt wird, die er ausübt« (Foucault 2001, S. 49).
Organisation spielt, um das bisher Gesagte zusammenzufassen, in Bezug auf das
gesellschaftliche Verhältnis von Wissen und Macht eine doppelte, selbstverstär-
kende Rolle. Zum einen werden vermittels Organisation (abgeschlossene) Räume
geschaffen, in denen das Wissen wirksam werden kann. Zum anderen ist es die
Organisierung, die erst die wissensbasierte Macht zu einem Herrschaftsverhältnis,
d. h. zu verfestigten Machtstrukturen gerinnen lässt.
Die Verwendung des Verwaltungsbegriffs zur Charakterisierung der gegenwär-
tigen Herrschaftsverhältnisse stellt sich vor diesem Hintergrund als inadäquat dar,
da er die für Horkheimer und Adorno wesentlichen Tendenzen der gesellschaft-
lichen Entwicklung verdeckt statt sie freizulegen. Verdeckt wird mit dem Verwal-
tungsbegriff nämlich gerade die Tatsache, dass die Umsetzung der Ordnungs- und
186 Michael Bruch

Disziplinierungskonzepte gerade nicht über eine zentrale Steuerungsinstanz er-


folgt, sondern die Macht in den Konzepten selbst besteht, die ihrerseits Ausdruck
sowie Ergebnis sozialer Kämpfe sind und ihre strukturierende Wirkung in den
unterschiedlichen Lebensbereichen entfalten.
Die zentrale Bedeutung von Organisation für die moderne Form von Herrschaft
darf deshalb auch nicht, wie so häufig anzutreffen, in einem verdinglichten Sinn als
Herrschaft einer Apparatur begriffen werden, die den Menschen von außen über-
gestülpt würde. Ihre Materialität gewinnt und entfaltet Organisation vielmehr als
Permanenz einer bestimmten Praxis- bzw. Handlungsform. In diesem Sinn ist
Organisation als hegemoniales gesellschaftliches Dispositiv zu begreifen, dessen
Bekämpfung auf das verweist, was Foucault als Wahrheitspolitik (Foucault 1978,
S. 75ff.) bezeichnet hat.

4.

Die für Horkheimer und Adorno wohl bedeutsamste Konsequenz der »ver-
walteten Welt« besteht in dem, was sie als die Krise des Individuums bezeichnet
haben. »Am Ende steht, wenn keine Katastrophen alles Leben vernichten, eine
völlig verwaltete, automatisierte, großartig funktionierende Gesellschaft, in der das
einzelne Individuum zwar ohne materielle Sorgen leben kann, aber keine Bedeu-
tung mehr besitzt« (Horkheimer 1985b, S. 347). Diese als Verlustgeschichte ge-
fasste Prognose steht in einem auffälligen Gegensatz zu ihrer rationalitätskritisch
angeleiteten Gesellschaftstheorie, in der die Autoren gerade entgegen einem vor-
herrschenden Trend das bürgerliche Individuum nicht als Ergebnis eines Befrei-
ungsprozesses, sondern eines herrschaftsförmigen Konstitutionsprozesses rekon-
struieren.
Der Bildungsprozess moderner Subjektivität wird von Adorno und Horkheimer
in der Dialektik der Aufklärung, und darin besteht m.E. die zentrale Bedeutung
ihrer Analyse, in einen systematischen Zusammenhang mit der Rekonstruktion der
Genese jener Wissensformen gestellt, die konstitutiv für das der okzidentalen
Moderne eigene Verständnis von Lebendigkeit sind. Gekennzeichnet sind diese
Wissensformen durch eine Erkenntnispraxis, die der Logik von Manipulation und
Herrschaft folgt. »Die Aufklärung verhält sich zu den Dingen wie der Diktator zu
den Menschen. Er kennt sie, insofern er sie manipulieren kann. Der Mann der
Wissenschaft kennt die Dinge, insofern er sie machen kann. Dadurch wird ihr An
sich Für ihn. In der Verwandlung enthüllt sich das Wesen der Dinge immer als je
dasselbe, als Substrat von Herrschaft« (Horkheimer/Adorno 1997, S. 31).
Lebendigkeit1 erscheint vor diesem Hintergrund nicht nur als Quelle jeglichen

1 Bei dem hier verwendeten Begriff der Lebendigkeit handelt es sich noch nicht um einen
theoretisch ausgearbeiteten. Es kommt mir zunächst nur darauf an zu verdeutlichen, dass
ein systematischer Zusammenhang zwischen den historischen Formen sowohl des Be-
griffs von sowie den Umgangsweisen mit menschlicher und außermenschlicher Le-
bendigkeit herzustellen ist (s. dazu auch Agamben 2002).
Leblose Lebendigkeit 187

materiellen Reichtums, sondern als ungebändigte wird sie zur Bedrohung. Nicht
zufällig entwickelt sich in der frühen Neuzeit mit der Disziplinierung ein gesell-
schaftliches Dispositiv, das gleichermaßen auf die innere wie äußere Natur ange-
wendet wurde. »Der Mensch wurde in seinem Wollen und seiner Äußerung
diszipliniert. Er suchte die Selbstbeherrschung als höchstes Ziel zu erreichen. Und
er disziplinierte sogar die Natur in den kunstvoll beschnittenen Hecken und
Bäumen der barocken Schloßparkanlagen und Gärten« (Oestreich 1969, S. 193, s.
dazu auch Bauman 1996, S. 43 ff.). Disziplinierung soll nicht nur die erfolgreiche
Beherrschung der außermenschlichen Natur gewährleisten, sondern sie stellt zu-
gleich jenes Verfahren dar, das erst die Lebendigkeit des Subjekts in produktive,
lebendige Arbeit transformieren soll. Diese doppelte Bewegung von Ent- und
Ermächtigung der Lebendigkeit ist es, die die Form gesellschaftlicher Naturan-
eignung der Moderne prägt.
Die Arbeiten Foucaults, die sich gerade durch die Herausarbeitung jenes Dop-
pelcharakters der Disziplin auszeichnen, beschränken sich in ihrer Perspektive
jedoch auf die Subjekte und die Bevölkerung. Diese Perspektive gälte es m.E.
folgendermaßen auf Lebendigkeit zu erweitern: Die Disziplin zielt auf die Steige-
rung der Kräfte der Lebendigkeit zur Erhöhung ihrer ökonomischen Nützlichkeit,
bei gleichzeitiger Schwächung ihrer Kräfte, um sie fügsam zu machen. Die Dis-
ziplin operiert über die Spaltung der Macht der Lebendigkeit in Fähigkeit und
Tauglichkeit auf der einen Seite und der Polung der daraus erwachsenden Möglich-
keiten und Energien in ein Verhältnis der Unterwerfung auf der anderen Seite (s.
dazu Foucault 1981, S. 177).
Die Fokussierung der Horkheimerschen und Adornoschen Analyse auf die
historisch besondere Konfiguration von Lebendigkeit beinhaltet nicht nur das
unausgearbeitete Konzept dessen, was bei Foucault (1993) Bio-Politik genannt
wird, sondern sie bildet zugleich den Bezugspunkt für die Bestimmung der sub-
jektbezogenen Qualität der »verwalteten Welt«. Diese Qualität kommt darin zum
Ausdruck, dass gerade jenes Merkmal, das gemäß der vorherrschenden Selbst-
beschreibung der modernen bürgerlichen Gesellschaft den Menschen erst zum
Individuum macht, nämlich das freie, selbstbestimmte Handeln, keine Bedeutung
mehr besitzt. Eingefügt in das gesellschaftliche Getriebe, werde das Individuum
herabgesetzt zum bloßen Funktionsträger, so dass, überspitzt formuliert, gesagt
werden könnte, »dass es eigentlich Leben im dem Sinn, der mit dem Wort Leben
für uns alle mitschwingt, nicht mehr gäbe« (Horkheimer 1985c, S. 123). Diese
Tendenz ist einem doppelten Mechanismus geschuldet: Mit der zunehmenden
Reglementierung und Regulierung des gesellschaftlichen Lebens oder, wie Hork-
heimer und Adorno es auch ausdrücken, dem Anwachsen der Vergesellschaftung,
korrespondiert ein psychologischer Anpassungsprozess bzw. eine Rekonstruktion
der Subjektivität. Diese besteht darin, dass die Menschen dazu tendieren, »[…] von
sich aus nochmals alle jene Prozesse der Verwaltung in sich selber zu wiederholen,
die ihnen von außen angetan werden. Jeder Einzelne wird gewissermaßen zum
Verwaltungsfunktionär seiner selbst …« (Horkheimer 1985c, S. 124). Mit dieser
Einschätzung bezeichnen Horkheimer und Adorno schon in den 1940er Jahren
eine Form von Subjektivität, die, folgt man den aktuellen Debatten zum »Arbeits-
188 Michael Bruch

kraftunternehmer« (vgl. Voß/Pongratz 1998, Bröckling 2000), doch eigentlich erst


ein Produkt des »Post-Fordismus« oder »Neoliberalismus« sein soll. Der Einwand,
wir hätten es hier mit zwei unterschiedlichen Formen der Subjektivität zu tun, da
sie zum einen am Verwaltungsmodell und zum anderen am liberalistischen Unter-
nehmermodell orientiert seien, scheint mir nicht wirklich stichhaltig. Zwar mag die
Verwendung des Verwaltungsbegriffs den Eindruck erwecken, hier sei ein durch
starre Kontrolle gekennzeichnetes Selbstverhältnis gemeint, das nicht dem flexiblen
Subjektivitätsprofil des Neoliberalismus entspräche. Für Horkheimer und Adorno
ist es aber gerade die spezifische Verbindung zwischen den vermeintlich sich
widersprechenden Qualitäten von Starrheit und Flexibilität, die als Merkmal der
Subjektivität des verwalteten Menschen zu gelten hat. Flexibilität steht hier für eine
veränderte Form von Selbstdisziplinierung, die analog zu dem Wandel von Politik-
und Steuerungsmodellen (von Gouvernement zu Governance) die Bedeutung
selbstregulatorischer Fähigkeiten hervorhebt, die die Subjekte in die Lage versetzen
soll, ihre Verwertbarkeit trotz sich wandelnder Produktionsprozesse und Anforde-
rungsprofile zu erhalten und zu steigern. Als Starrheit erweist sich diese Flexibili-
tät, da sie Spontaneität nur als instrumentelles Vermögen zur Optimierung der
eigenen Anpassungsfähigkeit kennt und zulässt. Selbstreflexivität wird in Selbst-
verobjektierung transformiert, wobei die Subjekte dazu angehalten sind, jenen für
die Disziplinargesellschaft charakteristischen ordnenden und identifizierenden
Blick auf sich selber zu werfen. Gefragt ist dabei die Überprüfung ihrer Realitäts-
tüchtigkeit und die Überführung von Differenzerfahrung in einen Aspekt des
Selbst-Managements. Die einstmals religiös motivierten und auf Transzendenz
gerichteten Selbst-Technologien kennen, wie die umfängliche Ratgeberliteratur
(›Selbstmanagement. Machen Sie aus sich die ICH-AG‹, ›Life-Leadership. Sinnvol-
les Selbstmanagement für ein Leben in Balance‹, ›Image-Design. Die hohe Kunst
der Selbstdarstellung‹, ›Die Entscheidung liegt bei dir. Wege aus der alltäglichen
Unzufriedenheit‹, ›Selbstdisziplin. Handeln statt aufschieben‹, ›JA zum Stress.
Höchstleistungen bringen und im inneren Gleichgewicht bleiben‹) und die Vielfalt
an diesbezüglichen Kursangeboten (›Selbstdarstellung, Körpersprache im Beruf‹
und ›Glück ist erlernbar‹) dokumentiert, in ihrer säkularisierten Form als Ziel nur
noch die Immanenz.
Deutlicher noch zeigen die Arbeiten von Horkheimer und Adorno zur Kultur-
industrie, dass der Wandel der Subjektivität eingebettet ist in einen Formwandel
von Herrschaft, der zumindest in den kapitalistischen Zentren die direkte Gewalt-
anwendung als Mittel der Unterwerfung zunehmend ersetzt durch den subtilen
Zwang zur Konformität.
Die Anfänge dieses Prozesses lassen sich auf den Beginn des 19. Jahrhunderts
zurückverfolgen und implizieren eine Veränderung des Verhältnisses von Recht
und Machtausübung. Wie Foucault ausgeführt hat, tritt in der bürgerlichen Gesell-
schaft die Gewohnheit als Komplement des Vertrages für die auf, die nicht durch
Besitz miteinander verbunden sind (Foucault 2001, S. 52). Beispielhaft dafür ist der
Erziehungsdiskurs an der Wende zum 19. Jahrhundert, der, wie etwa die Reform-
vorschläge Johannes B. Basedows zeigen, die Erziehung zur Gewohnheit bzw.
eines spezifischen Habitus ins Zentrum stellt (s. ausführlich dazu Türk/Lemke/
Leblose Lebendigkeit 189

Bruch 2002, S. 126ff.). Es geht um die Erzeugung eines die Individuen charak-
terisierenden Verhaltens, um – man denke zurück an die Merkmale des Racket –
die Ausbildung von Gewohnheiten, die die Individuen als Angehörige einer sozia-
len Gruppe oder Gemeinschaft bestimmen. Es geht um die Produktion von Norm
und deren Internalisierung bzw. Einschreibung in die Subjektstruktur. Zwar blei-
ben Einsperrung und Gewalt weiterhin Praxen der Herrschaftsausübung, jedoch
verlieren sie an Bedeutung zugunsten einer Ausrichtung der Subjekte an der Norm.
Herrschaft als Zwang zur Konformität ist es, was Horkheimer und Adorno
exemplarisch anhand der Kulturindustrie vorführen. Ihre Qualität besteht, wie sie
es unter Bezugnahme auf Tocqueville formulieren, darin, dass der Souverän nun
nicht mehr sagt: » […] du sollst denken wie ich oder sterben. Er sagt: es steht dir
frei, nicht zu denken wie ich, dein Leben, deine Güter, alles soll dir bleiben, aber
von diesem Tage an bist du ein Fremdling unter uns« (Horkheimer/Adorno 1997,
S. 158).
Die Veränderung des Verhältnisses von Recht und Machtausübung drückt sich
aus in der veränderten Bedeutung von Gesetz und juristischen Institutionen. Weder
wird das Gesetz aufgelöst, noch verschwinden die Institutionen der Justiz. Das
Gesetz wirkt vielmehr zunehmend als Norm, und die Justiz wird eingereiht in ein
Setting von Bildungs- Wissenschafts-, Gesundheits- und massenmedialen Organi-
sationen, die über die Generierung von Normen regulierend und integrierend
wirken, so dass wir es nicht mit einer »verwalteten Welt«, sondern mit einer
»Normalisierungsgesellschaft« (Foucault 1983, S. 172) zu tun haben.
Über die Norm wird ein Maß produziert, über das individualisiert und identifi-
ziert werden kann und das zugleich die Vergleichbarkeit erlaubt. Dabei wirkt die
Norm nicht nur differenzierend, sondern sie stellt zugleich das Prinzip der Einheit
der Individualisierung dar. Obgleich die Norm Schwellen der Abweichung impli-
ziert, kennt sie kein Äußeres, sondern nur graduelle Abweichungen von ihr.
Das Korrelat des Drucks zur Konfirmierung der Normen ist der Diskurs von
Freiheit und Individualität, der um so mehr zur Ideologie wird, je mehr an die
Stelle der Idee der Gleichheit die der Standardisierung tritt, bzw. Freiheit sich in die
Freiheit zum Immergleichen transformiert.
»Die Art, in der ein junges Mädchen das obligatorische date annimmt und absolviert, der
Tonfall am Telephon und in der vertrautesten Situation, die Wahl der Worte im Gespräch, ja
das ganze nach den Ordnungsbegriffen der heruntergekommenen Tiefenpsychologie aufge-
teilte Innenleben bezeugen den Versuch, sich selbst zum erfolgsadäquaten Apparat zu ma-
chen, der bis in die Triebregungen hinein dem von der Kulturindustrie präsentierten Modell
entspricht. Die intimsten Reaktionen der Menschen sind ihnen selbst gegenüber so voll-
kommen verdinglicht, daß die Idee des ihnen Eigentümlichen nur in äußerster Abstraktheit
noch fortbesteht: personality bedeutet ihnen kaum mehr etwas anderes als blendend weiße
Zähne und Freiheit von Achselschweiß und Emotionen.« (Horkheimer/Adorno 1997,
S. 195 f.)
190 Michael Bruch

5.

Die Macht der Norm beschränkt sich in ihrer Wirkung nicht auf die Individuen
(s. dazu auch Fromm 1983, Adorno 1973). In der Konstitution eines normativen
Raumes wirkt sie gleichermaßen auf die gesellschaftlichen Institutionen. Sie produ-
ziert homogenisierende Effekte, die, wie Foucault in Überwachen und Strafen
gezeigt hat, in der institutionellen Isomorphie von Schule, Fabrik, Spital und
Gefängnis bzw., wie oben ausgeführt, in der Organisationsform zum Ausdruck
kommt. Es lässt sich beobachten, dass diese homogenisierenden Effekte nicht auf
die westlichen Länder begrenzt sind, sondern eine globale Wirkung entfalten, so
dass davon auszugehen ist, dass sich der Globalisierungsprozess nicht allein auf die
Entfaltung der Produktivkraftentwicklung (Horkheimer 1970, S. 83 u. 1985j,
S. 354) und die expansive Dynamik der kapitalistisch verfassten Ökonomie zurück-
führen lässt.
Wie Stuart Hall gezeigt hat, ist ›der Westen‹ nicht als geographisches, sondern als
historisches Konstrukt und Konzept zu begreifen. Dabei sind vor allem zwei
Aspekte wichtig. Zum einen liefert ›der Westen‹ als normatives Konzept einen
Maßstab der Vergleichbarkeit, an dem die verschiedenen Gesellschaften gemessen
und bewertet werden können, und zum anderen produziert es, indem es die Denk-
und Sprechweisen in spezifischer Weise konfiguriert, Wissen (Hall 1994, S. 138 f.).
Wie Hall weiter ausführt, entwickelte sich dieses Konzept zum organisierenden
Faktor eines Systems globaler Machtbeziehungen. Es stellt sich nun die Frage,
welche Gründe dafür verantwortlich gemacht werden können. Dazu lässt sich an
die kulturtheoretisch orientierten Arbeiten des Neoinstitutionalismus anknüpfen.
Während etwa Immanuel Wallerstein (1989) den zur Gestalt des Universalismus
geformten Denk- und Wissensformen nur eine die Kapitallogik flankierende Funk-
tion zuschreibt, kommen die Neoinstitutionalisten zu dem Ergebnis, dass die
Hegemonie der westlichen Kultur und ihre expansive Dynamik zurückzuführen ist
auf die Formierung der modernen, okzidentalen Denk- und Wissensformen als
Institution, d. h. als verfestigte, unhinterfragte Regeln, die die zentralen gesell-
schaftlichen Akteure wie den Staat, das Individuum und Organisationen kon-
stituieren (Boli-Bennett 1980, Meyer 1980). Institutionen werden von ihnen be-
griffen
»[…]as cultural accounts under whose authority action occurs and social units claim their
standing. The term account here takes on a double meaning. Institutions are descriptions of
reality, explanations of what is and what is not, what can be and what cannot. They are
accounts of how social world works, and they make it possible to find order in a world that is
disorderly. At the same time, in the Western rationalizing process, institutions are structured
accounting systems that show how social units and their actions accumulate value (in
monetary, scientific, moral, historical, and other forms) and generate progress and justice on
an ongoing basis.« (Meyer/Boli/Thomas 1994, S. 24 f.)

Solchermaßen als hegemoniales Wissenssystem verfestigt, entfalten die »cultural


accounts« eine Dynamik, die ursächlich für den globalen Isomorphismus der
gesellschaftlichen Strukturen verantwortlich gemacht werden kann. Die Institu-
tionen der westlichen Dominanzkultur fungieren dabei im Sinne Meads (1973) als
Leblose Lebendigkeit 191

»verallgemeinerter Anderer«, der die gesellschaftlichen und individuellen Akteure


mit reflexiven Beschreibungen ihrer angemessenen Rollen versieht (Türk 1997).
»The degree of uniformity of institutional structures point to a strategy for
analysis: One must see these institutions in all of the diversity not only as built up
out of human experience in particular local settings, but also as devolving form a
dominant universalistic historical culture (Meyer/Boli/Thomas 1994, S. 23)«.
Wesentlich für die expansive Dynamik dieses Prozesses ist der dem westlichen
Wissenssystem innewohnende Universalismus, der von den Autoren seinerseits als
säkularisierte Weiterentwicklung des Totalitätsanspruchs der christlichen Religio-
nen gedeutet wird. Die »Missionsarbeit« der global operierenden Eliten orientiert
sich nun nicht mehr am christlichen Erlösungsgedanken, sondern dieser ist ersetzt
durch den Glauben,
»[…] that salvation lies in rationalized structures grounded in scientific and technical know-
lege – states, schools, firms, voluntary associations, and the like. The new religious elites are
the professionals, researchers, scientists, and intellectuals who write secularized and un-
conditionally universalistic versions of the salvation story, along with managers, legislators,
and policymakers who believe the story fervently and pursue it relentlessly. This belief is
worldwide and structures the organization of social life almost everywhere.« (Meyer/Boli/
Thomas 1997, S. 174)

Die Adaption der westlich geprägten Institutionen ist dabei nicht nur Resultat
»äußeren« Drucks und Zwangs durch die global orientierten und operierenden
supranationalen Organisationen wie Weltbank, Internationaler Währungsfond,
UNO etc. Den Eliten der Peripherie eröffnet die Übernahme der westlichen
Institutionen aufgrund ihrer Legitimitätseffekte die Möglichkeit, über die Ent-
kopplung der materiellen Prozesse von der institutionellen Form erstere nach
außen abzusichern.
»It is easier to create a cabinet ministry with appropriate policies for education or for the
protection of women than build schools and organize social services implementing these
policies. It is easier to plan economic development than to generate capital or technical and
labor skills that can make development happen. Hence, the logic of copying external defined
identities promotes profound decoupling. Any rationalized ›actor‹, whether an individual,
organisation, or nation-state, reveals much decoupling between formal models and observable
practices.« (Meyer/Boli/Thomas 1997, S. 154 f.)

Die Formierung der westlich geprägten Wissens- und Handlungspraxen zu univer-


salistischen Normen trägt dazu bei, ihren historischen und politischen Charakter
zu desymbolisieren, womit sie sich tendenziell gegen jegliche Form der Kritik
immunisieren. Zentral ist dabei die den Normen innewohnende Macht, das politi-
sche Feld selbst abzustecken bzw. mit dem Politischen selbst identisch zu werden,
womit eine Immanenz produziert wird, die, wenn überhaupt, Wahrheitspolitik nur
in den vorgegebenen Grenzen erlaubt. Ablesbar ist dies nicht zuletzt an den
sogenannten Nichtregierungsorganisationen, die schon allein durch die Annahme
der Organisationsform jene Normen exekutieren, die sie zumindest teilweise im
Namen einer alternativen, emanzipativen Praxis vorgeben bekämpfen zu wollen.
Die Doppelstruktur von institutioneller und materieller Ebene ermöglicht zu-
dem die materiellen Disparitäten durch die formale Homogenisierung der In-
192 Michael Bruch

stitutionen zu verdecken. Wie Marx schon mit seiner Kritik der politischen Öko-
nomie hat verdeutlichen wollen, hat die mit der bürgerlichen Revolution entstan-
dene formale Gleichheit der Menschen nur dazu beigetragen, die Ungleichheit
ihrer materiellen Lebensbedingungen auf ein neues Fundament zu stellen. Die
Entwicklungen seither haben nicht, wie Horkheimer und Adorno fälschlich ange-
nommen haben, zur materiellen Gleichheit der Menschen beim gleichzeitigen
Verlust ihrer Individualität geführt (Horkheimer 1985b, S. 347, 1985c, S. 340).
Worin sich ihre Prognosen der »verwalten Welt« jedoch weitgehend bewahrheitet
haben, ist die Tendenz zur Ausbildung einer Welt, die schon im Wissen keine
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Weber, Max (1984): Die Protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, in: ders.: Die
protestantische Ethik I. Eine Aufsatzsammlung, hg. v. J. Winckelmann, Gütersloh
Wehler, Hans-Ulrich (1995): Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Dritter Band. Von der ›Deut-
schen Doppelrevolution‹ bis zum Beginn des Ersten Weltkriegs 1849–1914, München
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit
Michael Vester

Eine der wichtigsten Fragestellungen, aus denen die Frankfurter Schule entstand
und der sie lange ihre Arbeit widmete, galt einem spezifischen Problem des
»falschen Bewusstseins«. Ende der 1920er Jahre schien sich für viele linke Intel-
lektuelle die Prognose des Marxismus zu erfüllen, dass die Mehrheit der früheren
kleinbürgerlichen Klassen in die Lohnabhängigkeit und in die Erfahrung von
Wirtschaftskrisen abgestiegen war. Warum aber führte diese »Proletarisierung«
nicht zu der erwarteten Rebellion gegen die Ursache des Übels, den Kapitalismus,
oder mindestens zu Wahlerfolgen der Linken? Warum handelten stattdessen große
Teile der Arbeiter und Angestellten gegen ihre »wohlverstandenen Interessen«,
indem sie die Partei Hitlers, die im Bündnis mit dem Kapital stand, wählten?
Die Erklärung der 1917 in Russland zur Macht gelangten Kommunisten, dass
die Arbeiter im Westen durch eine »falsche« parteipolitische Führung der Sozial-
demokratie oder durch die bürgerliche Propaganda ihren wahren Interessen ent-
fremdet worden waren, reichte vielen kritischen Intellektuellen nicht aus, zumal sie
sich selbst zunehmend vom aufsteigenden Stalinismus enttäuscht sahen. Dass
schließlich in Deutschland und Italien so viele Angehörige der unteren Klassen der
faschistischen Massendemagogie folgten, musste auch Gründe in der seelischen
Verfassung der Menschen, in ihrem Bedürfnis nach autoritären Führern haben.
Wer seinen »rationalen Interessen« so zuwider handelte, konnte nur als »irratio-
nal« gelten. Als Erklärung für diese Irrationalität bot sich die Theorie Sigmund
Freuds an. Linke Freudianer und linke Marxisten wie Wilhelm Reich (1933)
versuchten, die »Schere« zwischen den wohlverstandenen Interessen und der em-
pirischen Option für den Faschismus aus der kindlichen Charakterformierung,
insbesondere der »analen« Ordnungsdressur und aus der »sado-masochistischen«
Autoritätskonstellation in den Familien, zu erklären.
Wie aber waren diese autoritären Erziehungsmuster mit der Zugehörigkeit zu
bestimmten sozialen Klassen verbunden? Erich Fromm, neben Wilhelm Reich
Pionier dieser neuen Forschungsrichtung, näherte sich in seinen frühen Studien
dem Problem von zwei Seiten, von der frühkindlichen Entwicklungen und von den
Alltagsideologien her. Einerseits glaubte er, in der analen Ordnungserziehung die
Grundlage des kapitalistischen Sparzwangs, der Triebunterdrückung und damit
auch der Entfremdung von den wahren Interessen zu entdecken (Fromm 1970).
Andererseits leitete er die erste empirische Untersuchung, die den Zusammenhang
autoritärer Einstellungen mit der Zugehörigkeit zu bestimmten berufsstatistisch
unterscheidbaren Gruppen klären wollte (Fromm 1983 [1929]). Die Ergebnisse
waren verwirrend. Autoritäre Einstellungen wurden bei einem nicht unerheblichen
Anteil der »Arbeiter und Angestellten am Vorabend des Dritten Reiches« – so der
Titel der späteren Veröffentlichung – gefunden.
Wie war dieser Befund zu interpretieren? Es entstand der Eindruck, dass
196 Michael Vester

autoritäre Mentalitäten über ›alle‹ sozialen Schichten oder Klassen verbreitet wa-
ren. Viele Marxisten sahen ihre Vermutung widerlegt, dass demokratische Ein-
stellungen unten und autoritäre Einstellungen oben in der Gesellschaft zu verorten
seien. War dann der Unterschied von demokratischen und autoritären politischen
Lagern gar kein Klassenunterschied, sondern ein Unterschied zwischen aufge-
klärten und unaufgeklärten, gebildeten und ungebildeten Menschen?
Von hier wäre es nur noch ein kleiner Schritt bis zu der Hypothese der
konservativen »Soziologie der Demokratie« von Seymour Martin Lipset (1962)
gewesen, die nach dem Zweiten Weltkrieg den vermuteten Autoritarismus der
Arbeitermassen und ihre Neigung zu totalitären Parteien der Rechten und der
Linken aus ihrem Mangel an Bildung zu erklären suchte und damit die Gebildeten
zur einzigen legitimen und aufgeklärten Elite der Gesellschaft erklärte. Demnach
wäre der Unterschied zwischen autoritären und demokratischen Grundeinstellun-
gen nur ein Ausdruck des Unterschieds von »Eliten« und »Massen«, dem allein
durch Bildung bzw. durch Emporhebung der Milieus der körperlichen Arbeit in
die Milieus der geistigen Arbeit und in ihre gewaltfreie Gesittung abzuhelfen
wäre.
Obwohl diese – nicht nur von Lipset vertretene – Hypothese und die in ihr
enthaltene Apotheose der Intellektuellen (Bourdieu 1982, S. 677) von Anfang an
eine große Suggestivkraft für die Intellektuellen und auch für viele Anhänger der
Autoritarismusforschung der Frankfurter Schule besaß, darf nicht vergessen wer-
den, dass die ›offizielle‹ Frankfurter Schule diese Frage bis zuletzt, d. h. bis zu der
abschließenden, methodologisch weiterweisenden Untersuchung von Michaela von
Freyhold (1971), offenhielt. Diese Offenhalten bedeutet zweierlei. Zum einen
wurden im weiteren Verlauf der Autoritarismusforschung bedeutende Erkenntnis-
fortschritte erarbeitet. Zugleich blieb diese weitere Forschung im Rahmen eines
theoretischen und methodologischen Paradigmas, das einer Klärung dieser Frage
im Weg stand. Damit konnte auch das konservative Vorurteil nicht ausgeräumt
werden, dass der Gegensatz von demokratischem und autoritärem Verhalten auf
den Gegensatz zwischen »Elite« und »Masse« zurückzuführen sei.

1. Auf Suche nach einer neuen Klassentheorie

Ein Bruch mit der konventionellen Klassenanalyse wurde erst durch die englischen
»kulturellen Materialisten« und durch Pierre Bourdieu möglich, die den Zusam-
menhang von Klassenzugehörigkeit und Mentalitätsform wieder analysierbar
machten. Auf ihren Ansätzen aufbauend, lässt sich zeigen, dass auch der Unter-
schied zwischen demokratischen und autoritätsgebundenen Grundeinstellungen
nicht nur aus dem Gegensatz von »rational« und »irrational« erklärt werden kann,
sondern durchaus mit bestimmten Klassenlagen und -erfahrungen verbunden ist.
Die Lösung des Problems, die in diesem Aufsatz entwickelt wird, erscheint im
Resultat überraschend einfach. Der Autoritarismus kann nicht in der Klassenstruk-
tur verortet werden, wenn diese auf vertikale und ökonomische Dimensionen
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 197

verkürzt wird. Beziehen wir aber auch die horizontale und die alltagskulturelle
Dimension ein, so wird erkennbar, dass die autoritären Potentiale vor allem in den
Klassenkulturen am rechten Pol des sozialen Raums reproduziert werden. Theo-
retisch und methodologisch waren aber erhebliche Schwierigkeiten zu überwinden,
um zu diesem dialektischen Klassenkonzept zu gelangen.
Die Schwierigkeiten lagen vor allem in den intellektuellen Konventionen, deren
Hartnäckigkeit Pierre Bourdieu damit erklärt, dass die Intellektuellen ihre eigene
Klassenstellung selten reflektieren. Aufgrund dieser theoretischen und methodolo-
gischen Konventionen haben, so meine These, auch die Untersuchung von Erich
Fromm und die späteren Studien des Instituts für Sozialforschung den Zusammen-
hang von Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit nicht auffinden können. Sie
fanden entweder autoritäre Dispositonen in ›allen‹ sozialen Schichten (Fromm
1983) oder sie gestanden ein, dass die Stichproben ihrer Befragungen einen ›middle
class bias‹ hatten, d. h. nicht genügend Fälle aus den unteren und den weniger
gebildeten Schichten enthielten (Adorno u. a. 1950, von Freyhold 1971). Zusam-
menfassend forderte Michaela von Freyhold (1971, S. 177, 252) mit Bezug auf eine
neuere Studie: »Aussagen über sozialstatistische Merkmale einzelner Typen können
lediglich hypothetischen Charakter beanspruchen, da die Auswahl der Befragten
nicht unter dem Gesichtspunkt der Repräsentanz erfolgte. […] Eine repräsentative
Untersuchung, in der man neben der A-Skala eine kürzere Variante des Intensiv-
Interviews verwenden könnte, wäre notwendig, um die soziale Herkunft der
einzelnen Syndrome zu ermitteln […]«.
Die theoretischen Ursachen dieser Erkenntnisblockade liegen, so scheint mir, in
dem herkömmlichen Verständnis der Klassenstruktur, das die Analyse auf die
vertikale und die ökonomische Dimension der Ungleichheit verengt. In blinder
Gewohnheit werden soziale Ungleichheiten auf Unterschiede der Berufs- und
Bildungsstatistik und auf das vertikale Herrschaftsgefälle der Gesellschaft redu-
ziert.
Dieser Reduktionismus mag, wie Bourdieu hervorhebt, damit zusammenhän-
gen, dass gerade kritische Intellektuelle sich gern als klassenlose Aufklärer ver-
stehen und daher Reflexionen darüber für überflüssig halten, ob ihr eigenes Gesell-
schaftsbild durch eine intellektuelle Perspektive von oben verzerrt sei. Aus dieser
Sicht stellen sich die Unterschiede der Kultur häufig nur als die Differenz zwischen
»höherer Bildung« und »Unbildung« dar. Der Sinn der Volksklassen für das
praktisch Nützliche wird als Materialismus abgewertet, ihre bildhafte Sprache als
Mangel an Elaboration, ihr Sinn für das Körperliche als Affinität zur Gewalt.
Durch diese vertikalisierenden Schemata der Bewertung und Abwertung geraten
die kulturellen und horizontalen Klassenunterschiede, die mit der Art der Lebens-
führung, des Geschmacks und der Alltagspraxis zu tun haben, aus dem Blick.
Horizontale Differenzierungen innerhalb der Volksklassen, etwa zwischen den
Milieus der körperlichen Arbeit und der Facharbeit werden nicht erkannt oder
abgewertet. So wird am Bildungsstreben der Facharbeiter gern das Schulmäßige,
Fleißige, Angepaßte oder gar »Kleinbürgerliche« herausgehoben, das das grandiose
Selbstbild des charismatischen Intellektuellen umso mehr leuchten lässt. Oder die
kulturellen Unterschiede werden gesehen, aber durch Ästhetisierung abgewehrt,
198 Michael Vester

indem sie geschmäcklerisch beschrieben werden, ohne Blick auf das Leiden an
sozialer Ungerechtigkeit.
Für die Klassenperspektive der Intellektuellen wie auch für die Defizite der
herkömmlichen Klassentheorie ist in den 1960er Jahren, in denen die Frankfurter
Schule eine besondere Ausstrahlung gewann, bei einer Minderheit der kritischen
Intellektuellen ein zunehmendes Bewusstsein entstanden. Der Impuls kam aus dem
Umfeld des Frankfurter Instituts, dessen Studierende und jüngere Mitarbeiter in
den frühen 1960er Jahren häufig dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund
(SDS) und der nichtkommunistischen Linken anhingen (vgl. Demirovic 1999). Die
Nähe des Instituts motivierte seinerseits die sozialistischen Studenten in Frankfurt,
die Defizite der alten Orthodoxien nicht nur politisch, sondern auch theoretisch
aufzuarbeiten. Hierzu gehörte nicht zuletzt die Wiederaneignung der durch Fa-
schismus, Stalinismus und Kalten Krieg verdrängten Theorien früherer und neuerer
Dissidenten des Marxismus, die mit den alten autoritären und ökonomistischen
Orthodoxien gebrochen hatten.
Im Vordergrund dieser Versuche, theoretische Verengungen rückgängig zu ma-
chen, standen zunächst historische Autoren wie Rosa Luxemburg, Karl Korsch,
Wilhelm Reich und die frühe Frankfurter Schule, die ja – etwa in Autorität und
Familie (Fromm u. a. 1936) – ein breites Spektrum von ökonomischen, sozial-
historischen, sozialpsychologischen sowie kultur- und familiensoziologischen Per-
spektiven und Autoren repräsentierte. Die intensive Wiederaneignung dieser ver-
schütteten Traditionen, zu der auch die ersten Raubdrucke der vergessenen Bücher
beitrugen, war das Projekt von antiautoritären Sozialisten wie Monika Seifert-
Mitscherlich, Günter Amendt und Reimut Reiche, die die neuen Denkrichtungen
und neuen Bewegungen für eine antiautoritäre Erziehung und Kultur begründeten.
Als Motiv nannten sie alle ausdrücklich und unter Berufung auf die Frankfurter
Autoritarismusforschung, dass diese neue Erziehung und Kultur dazu beitragen
sollte, eine Wiederkehr des Faschismus zu verhindern.
Gleichzeitig entwickelte sich ein reger Austausch mit den linken Dissidenten in
Osteuropa sowie auch der frühen neuen Linken in Frankreich, Italien, England
und den USA. Diese vielfältigen Impulse haben Forschungen zu vielen Fragen
angeregt. Für die Fragestellung von Klasse und Kultur haben vor allem zwei
miteinander verbundene Einflüsse Gewicht erlangt. Ein starker Bezugspunkt
wurde der internationale Ouvrierismus, der sich auf den Sozialismus der Arbeiter-
räte und der Arbeiterintelligenz berief und für den in Frankfurt Monika Seifert-
Mitscherlich und in Göttingen Peter von Oertzen (vgl. von Oertzen 1976 [1963])
stand. Damit mussten aber auch die soziologischen Ansätze, die in den Arbeitern
nur die bewusstlosen, passiven und intellektuell führungsbedürftigen Opfer sehen
wollte, in Frage gestellt werden. Hier haben die Forschungen der englischen New
Left und später Pierre Bourdieus Bedeutung erlangt. (Allerdings war dieser Ou-
vrierismus nur eine von mehreren Strömungen, da in Frankfurt auch ein fruchtba-
rer Nährboden für leninistische Parteikonzepte, wie sie Georg Lukács (1923)
vertrat, und für Bewegungen der Marginalisierten, wie sie Herbert Marcuse (1967
[1964]) vertrat, bestand.)
Aus der New Left erlangten die Arbeiten zum Zusammenhang von Klassen und
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 199

Kultur eine besondere Wirkung, vermittelt durch die ouvrieristische Zeitschrift


Arbeitshefte, die Peter von Oertzen herausgab, und die Zeitschrift des SDS, die
neue kritik, in der u. a. Thomas Leithäuser, Manfred Liebel, Hans-Peter Riesche
und ich uns besonders für diese Diskussion einsetzten. So bewegten wir Gerhard
Brandt, Assistent und später Professor am Frankfurter Institut, dazu, die Theorien
der englischen New Left vorzustellen (Brandt 1961), und trugen auch selbst zu
dieser ersten Rezeption bei. Doch erst die nach 1965 entstehenden Studentenbe-
wegungen gaben diesen neuen, ›antiautoritären‹ Kulturtheorien eine breite Reso-
nanz in der linken und wissenschaftlichen Öffentlichkeit. Die neuen Theorien von
Williams und Thompson wurden nicht nur in Westdeutschland (vgl. Vester 1970,
1976; Thompson 1980a,b), sondern auch in einer Nische kritischer Kulturwissen-
schaft in Ostdeutschland (Mühlberg 1978/1978/1985) breit weitervermittelt. Die
Gruppe um Axel Honneth trug wesentlich zur Rezeption der Birminghamer
Cultural Studies bei (u. a. mit Clarke/Hall 1979).
Die hannoverschen Forschungen sind seit 1967 wesentlich durch die von Erich
Gerlach und Peter von Oertzen getragene Rezeption der englischen Klassen-
kulturforschung angeregt worden. In ihnen ging es zunächst um die Aufarbeitung
der neuartigen Forschungsansätze zur Geschichte und Transformation von Klas-
senkulturen, die Raymond Williams (1963), Edward Thompson (1963), Richard
Hoggart (1964) sowie Stuart Hall, John Clarke und andere (1979 [1975]) vorgelegt
hatten. Diese regte eine Reihe historischer Fallstudien und Dissertationsveröffent-
lichungen an. Aber es fehlte ein Vorbild und elaboriertes Konzept, mit desen Hilfe
die komplexen Dimensionen der englischen Ansätze in ein Konzept der gesamtge-
sellschaftlichen Klassen- und Kulturanalyse hätten integriert werden können. Im
Gespräch mit den Autoren von Ästhetik und Kommunikation verwies uns Thomp-
son 1976 auf die theoretische Leistung von Bourdieus Habituskonzept (»Bourdieu
does what I should have done«). 1979 legte Bourdieu, mit La distinction, die erste
gesamtgesellschaftliche Analyse der Klassenkulturen einer hochentwickelten Ge-
sellschaft vor. Sie öffnete den Horizont für die Entwicklung eines Gesamtkon-
zeptes der Dimensionen des Habitus und des sozialen Raums, das von 1988 an
durch eine Reihe von Forschungsprojekten über den Wandel der Klassenkulturen
und der sozialen Gesamtstruktur in Deutschland vorangebracht wurde (Vester, von
Oertzen, Geiling u. a. 1993/2001).

2. Der Bruch mit dem idealistischen Klassen- und Kulturkonzept

Der entscheidende Impuls des Ansatzes Bourdieus und des verwandten Ansatzes
von Williams und seinen Kollegen lag in dem Bruch mit dem idealistischen
Konzept von Kultur, welches die sozialen Bewusstseinsformen allein aus der
Perspektive der Hochkultur, wie sie sich in theoretischen Diskursen, in Ideologien
und in der Ästhetik ausdrückten, betrachtete. Bourdieu und Williams stellten dem
eine »materialistische« Wendung entgegen, indem sie den geisteswissenschaftlichen
Kulturbegriff durch den ethnologischen Kulturbegriff ersetzten, für den das Sym-
200 Michael Vester

bolische noch mit der Struktur sozialer Beziehungen und der Geschmack noch mit
dem Schmecken zu tun hat. Die westdeutschen Diskussionen, die darüber in den
1970er Jahren in der Berliner Zeitschrift Ästhetik und Kommunikation geführt
wurden, brachten dies auf die Formel »Was dem Bürger sein Goethe, ist dem
Arbeiter seine Solidarität«, und diese wurde, über einen programmatischen Aufsatz
(Vester 1976), auch zur Parole.
Das neue Paradigma definierte Klasse nicht nach ökonomischen Interessen oder
statistischen Standards, sondern als einen »whole way of life« (Williams), als
Alltagskultur mit eigenen Prinzipien der Lebensweise, des Geschmacks und der
Alltagsmoral. Bekannt wurde diese Sichtweise zuerst durch die historische Unter-
suchung Culture and Society, in der Williams die Kulturen des Bürgertums und der
Arbeiterklasse einander gegenübergestellte (Williams 1963). Für uns Jüngere, die
bis dahin über die Forschungen Adornos und des Instituts für Sozialforschung zur
Analyse von Typen und Syndromen der Persönlichkeit gekommen waren, füllte
dies die entscheidende Lücke.
Denn die Frankfurter Ansätze legten ihr Augenmerk besonders auf die beiden
äußeren Pole der Persönlichkeitsstruktur: einerseits auf die individuelle psychische
Tiefendynamik und andererseits auf die Legitimationen, wie sie sich in den faschis-
tischen Ideologien und in den Alltagsstereotypen faschistoider Persönlichkeiten
der Analyse anboten. Für diese beiden Bereiche waren und sind die Konzepte der
Frankfurter Schule besonders entwickelt, die sich methodologisch auf die klinische
Diagnostik der Psychoanalyse und die qualitative Inhaltsanalyse bzw. Ideologiekri-
tik stützen. Die »ethnologische« Ebene war dagegen nicht eigenständig und kon-
zeptionell durchgearbeitet. Adorno war dieser zwischen den beiden Polen liegende
Bereich der gesellschaftlichen Normen und der von Gruppenzusammenhängen
ausgeübten sozialen Kontrolle als ein Hindernis der individuellen Autonomie und
Reflexion tief suspekt. Die Möglichkeit emanzipatorischer Milieukulturen stand
ihm nicht vor Augen. Wir sahen dagegen in der von Williams begründeten neuen
Forschungsrichtung eine neue Perspektive, mit der weitergearbeitet werden
konnte, ohne dass es nötig war, die Leistungen der Frankfurter Schule auf den
anderen beiden Ebenen abzuwerten.
Mit der Möglichkeit, aus sozio-kulturellen Deutungs- und Handlungsmustern
Habitustypen zu bestimmen, waren jedoch nicht alle Probleme gelöst. Ein ab-
schreckendes Beispiel war seit den 1980er Jahren die zunehmende Produktion von
Typologien der Lebensstile, die eine bunte Vielfalt ausdrückten, ohne zu fragen, ob
und wie diese Milieus miteinander eine Konfiguration von gesellschaftlichen Bezie-
hungen bildeten. Die (»horizontalen«) Differenzierungstheorien hatten demgegen-
über noch angegeben, wie die verschiedenen Berufsgruppen durch Funktions- oder
Arbeitsteilungen zusammenhingen. Die (»vertikalen«) Konflikttheorien hatten the-
matisiert, wie die Erwerbsgruppen durch Herrschaftsbeziehungen, Konflikte und
Aushandlungsweisen aufeinander verwiesen waren. Sollte nun auf die Darstellung
gesamtgesellschaftlicher Zusammenhänge ganz verzichtet werden?
Bourdieu entwickelte hierfür ganz unprätentiös, aus der praktischen Methodo-
logie des sozialen Raums heraus, eine Lösung, die geeignet ist, auch die Theorie der
sozialen Klassen zu revolutionieren. Seine Landkarte des sozialen Raums (Bour-
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 201

dieu 1982, S. 212 f.) ist zum einen verblüffend einfach, insofern sie die vertikale
Dimension der Herrschaft und die horizontale der Funktionsteilung nicht gegen-
einander ausspielt, sondern, als Grundachsen des sozialen Raums, miteinander
kombiniert. Sie ist zum anderen hochkomplex, weil Bourdieu – in unserer Inter-
pretation – diesen sozialen Raum nicht als geschlossenes System statischer Fest-
legungen oder Schubladen, sondern als offenes, bewegtes und differenziertes Kräf-
tefeld mit sehr verschiedenen Handlungsebenen auffaßt.
Das Achsenkonzept lässt sich weiterdenken (vgl. Vester u. a. 2001). Die beiden
Grundachsen entsprechen einem zentralen Theorem von Marx, dem Widerspruch
zwischen den Produktivkräften und den Produktionsverhältnissen. Dieses Theo-
rem lässt sich auch auf die nichtökonomischen Bereiche der Gesellschaft aus-
weiten.
Die horizontale Achse entspricht dabei der Dynamik, durch die sich in der
bürgerlichen Gesellschaft eine zunehmende Arbeitsteilung, Spezialisierung und
intellektuelle Kompetenz herausgebildet hat, in der schon Durkheim (1988
[1893/1902]) das Streben nach Individualität und Emanzipation angelegt sah, also
durchaus nicht nur Konformismus, wie ihm dies Adorno unterstellte. Parallel zur
beruflichen Differenzierung bilden die Milieus in einem aktiven, also nicht aus dem
Ökonomischen direkt ableitbaren Prozess auch eine kulturelle Differenzierung
heraus, in der die nichtautoritären Werte, die Selbst- und Mitbestimmung, Fach-
kompetenz und kulturelles Kapital an Gewicht gewinnen. Clarke, Hall u. a. (1979)
sehen hier die Jugendkulturen, die sich mit der Stammkultur ihrer Eltern und mit
der hegemonialen Kultur der Gesellschaft auseinandersetzen, als treibendes Mo-
ment. Dabei wird aber, so betonen die Autoren, die Klassenkultur der Eltern-
generation nicht aufgegeben, sondern modifiziert. Die neuen Lebensstil- und
Habitusformen wären demnach kein Bruch mit der alten Klassenkultur, sondern
eine Modernisierung im Rahmen ihrer Grundwerte. Die Klassenkulturen ver-
schwinden nicht, sondern fächern sich nach Art von Familienstammbäumen weiter
auf. – Insgesamt lässt sich nachweisen, dass zum linken Pol hin die autoritären
Dispositionen immer mehr abnehmen, allerdings nicht als ein automatischer Effekt
von Bildung, sondern durch die Kämpfe um mehr Selbst- und Mitbestimmung.
Auch die vertikale Achse, die das Verhältnis zwischen Herrschenden und Be-
herrschten ausdrückt, kann dynamisch verstanden werden. Die Akteure stehen sich
hier nicht nur in statischen Konstellationen von Mächtigen und Ohnmächtigen
gegenüber, sondern kämpfen auch um Einfluss, Macht und Chancen, in den
Formen der individuellen Konkurrenz, der sozialen Bewegungen und der verband-
lichen, betrieblichen, politischen und kulturellen Gegenmächte. In diesen Kämpfen
können, wie Durkheim (1988) ausführt, die beherrschten Milieus ihre Kräfte
vermöge ihrer auf der ersten Achse wachsenden intellektuellen und kulturellen
Kompetenzen mehren, d. h. einen wachsenden Druck für mehr Teilhabe, Selbst-
bestimmung und demokratische Mitwirkung aufbauen. Hiergegen ist › so sehen
wir heute wieder, als Gegenbewegung eine rechtspopulistische Mobilisierung der
autoritären Potentiale am rechten Rand der mittleren und unteren Milieus mög-
lich.
Schon aus dieser knappen Beschreibung der beiden Grunddimensionen ist
202 Michael Vester

ersichtlich, dass der soziale Raum sich zusätzlich in zwei weiteren Dimensionen
aufspannt. Zum einen ist das soziale Handeln nicht aus einer einzigen Ebene, etwa
der ökonomischen, ableitbar, sondern es differenziert sich in verschiedene Hand-
lungsebenen mit je eigenen, »relativ autonomen« (Bourdieu) Feldlogiken. In den
Feldern des Privatlebens, des Ökonomischen, des Kulturellen, des Politischen
gelten bis zu einem gewissen Grade jeweils eigene »Spielregeln« (Bourdieu). In der
vierten Dimension, der Zeit, geht es um die Praxis der Akteure zwischen Wandel
und Beharrung. Wie Bourdieu (1983) in Anlehnung an die Relativitätstheorie
ausführt, nehmen die Akteure dabei auch verschiedene Aggregatzustände an, die
ihren jeweiligen Ressourcen und Strategien wie auch den Felddynamiken entspre-
chen.
Bourdieu versteht die soziale Welt nicht als »System«, sondern als Kräftefeld,
mit statischen Momenten (wie verfestigten Spielregeln und akkumulierten Macht-
positionen) und mit dynamischen Momenten (den Kämpfen in den Regeln und
Positionen und auch um die Regeln und Positionen). Damit faßt er auch die beiden
theoretischen Momente in ein dialektisches Konzept zusammen, die in den Struk-
turtheorien (die die Regeln und Positionsgefüge verabsolutieren) und den phäno-
menologischen Theorien (die die Konstruktion durch die Akteure verabsolutieren)
auseinanderfallen.
Durch das Konzept des Feldes ergibt sich eine weitere, bisher weniger beachtete
enge Korrespondenz zu den englischen Theorien, insbesondere zu Thompson, der
seinerseits eine der größten gesamtgesellschaftlichen Transformationen, die eng-
lische industrielle Revolution, als Prozess eines differenzierten »field of force« neu
analysiert und damit auch Friedrich Engels‹ These von der Verelendung als Trieb-
kraft der Revolution außer Kraft gesetzt hat (Thompson 1963, 1980b). So, wie
Bourdieu für die Kulturtheorie von Williams besondere Hochachtung hatte, so
erkannte er in Thompson nicht nur den historischen Empiriker, sondern, mit
seinem »Konzept des Feldes«, auch den Initiator einer theoretischen Revolution.

3. Die Dimensionen des Habitus

Diese Fragen einer gesamtgesellschaftlichen Theorie, die an anderer Stelle aus-


führlicher erörtert sind (Vester u. a. 2001, Vester 2002), sollen hier nicht weiter
verfolgt werden. Für unser Thema bedeutsam ist einstweilen, dass die Milieus
mehrdimensional verortet werden können, so dass die räumlichen Konfigurationen
und Beziehungskonstellationen sichtbar werden, insbesondere die schon durch die
Achsen angezeigten Beziehungen der Herrschaft und der Arbeits- und Funktions-
teilung. Diese Teilungen können, wie wir sehen werden, nach den verschiedenen
Handlungsebenen analysiert und dargestellt werden, als Teilung nach Berufs-
gruppen und nach Habitustypen (Abb. 1), als Teilung nach historischen Traditions-
linien (Abb. 2), als Teilung nach Habitustypen allein (Abb. 3) und als Teilung in
gesellschaftspolitische oder ideologische Lager (Abb. 4).
Der Umstand, dass es mehrere Raumbilder der sozialen Milieus gibt, die gleich-
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 203

sam wie Landkarten aus Pergamentpapier übereinandergelegt werden können,


macht schon deutlich, dass der Habitus, wie die Gesellschaft, von verschiedenen
Handlungsebenen durchzogen ist, die nicht bruchlos ineinander übergehen. Zwar
hat, wie wir sehen werden, die horizontale Achse eine Bedeutung für das Autorita-
rismusproblem, insofern wir die autoritären Dispositionen »eher« rechts und die
demokratischen Dispositionen »eher« links im sozialen Raum finden können. Aber
dieses »eher« zeigt schon an, dass wir aus einer Berufsgruppe nicht unvermittelt
und mechanisch auf einen bestimmten Habitus der alltäglichen Lebensführung und
von diesem nicht auf eine bestimmte politische Ideologie schließen können. Wenn
wir in bestimmten Zonen des sozialen Raums autoritäre Dispositionen auffinden
können, bedeutet dies noch nicht, dass diese Dispositionen sich von sich aus oder
zwangsläufig in eine neue faschistische Gefahr übersetzen müssen. Dies können
wir nur dann einschätzen, wenn wir die Dynamiken der verschiedenen Felder
sowohl analytisch getrennt wie auch in ihrem Zusammenhang untersuchen.
Damit wird mit der Gewohnheit bürgerlicher wie auch marxistischer Theorien
gebrochen, Habitus und soziales Handeln aus den sog. »rationalen Interessen« zu
erklären, die die Akteure aufgrund ihrer ökonomischen Position im sozialen Raum
haben oder haben sollten. Die Akteure erwerben ihren Habitus ja bereits in den
Familien und der Jugendkultur, bevor sie in Berufspositionen eintreten. Sie errei-
chen diese Positionen erst vermöge bestimmter, im Habitus angelegter und durch
die Ressourcen der Herkunftsgruppe gestützter, Strategien des Fortkommens, der
Sozialkontakte und des Bildungserwerbs. Es lässt sich empirisch belegen, dass diese
Strategien aufgrund eines gewissen Realismus in der Regel, wenn auch nicht immer,
zu den ihnen entsprechenden Lebenszielen führen. Wenn wirtschaftlicher Struk-
turwandel sie unerreichbar macht, führen sog. »Umstellungsstrategien« (Bourdieu)
oft zu Ersatzzielen in der Nähe und mit ähnlichen Erfordernissen an Bildungs-
kapital, etwa wenn ein ungelernter Landarbeiter Hilfsarbeiter, eine Bauerntochter
Erzieherin oder ein Großgrundbesitzer Unternehmer oder Rechtsanwalt wird. Die
meisten sozialen Wanderungen erweisen sich nicht als Auf- oder Abstieg, sondern
als horizontale Wanderungen in Richtung des linken Pols im sozialen Raum. Wenn
diese Bewegungen aber, etwa in Wirtschaftskrisen, in sozialen Abstieg oder unter-
privilegierte Lagen führen, wird nicht der Habitus der Unterprivilegierten über-
nommen, sondern (»vornehm geht die Welt zugrunde«) am eigenen Habitus
festgehalten.
Die Zugehörigkeit zum Klassenmilieu und seiner Kultur begründet also, für die
Mehrheit und im Regelfall, eine logische und empirische Priorität der Milieus und
eine Beharrungskraft der Habitusmuster, die gerade durch ihre Bereitschaft zu
gewissen Flexibilitäten und Umstellungen ihre Zähigkeit erwirbt.
Die Beharrungskraft der Milieus wird zudem oft auf den anderen Hand-
lungsebenen abgestützt. Dazu gehört nicht nur die frühe Verfestigung psychischer
Strukturen, wie sie die Psychoanalyse diagnostiziert. Soziologen wie Theodor
Geiger (1932, 1949) haben auch auf die historische Ungleichzeitigkeiten hinge-
wiesen, die sich aus die historische Beharrungskraft bestimmter Berufs- und Le-
benswelten ergaben. Auch wenn das Beispiel, das Geiger vor Augen hatte, die
kleinbäuerliche Betriebsstruktur und Mentalität, heute fast ganz verschwunden ist,
204 Michael Vester

leben ähnliche hierarchisch-patriarchalische Strukturen in bestimmten traditionel-


len Wirtschafssektoren im rechten Teil des sozialen Raums noch weiter, die auf
geringe Berufsqualifikation und auf hohe Unterordnungsbereitschaft setzen. Für
autoritäre Dispositionen gibt es also immer noch einen strukturellen Ort in kon-
servativ-traditionellen Betrieben, Vereinen und Gemeinden, auch wenn dieser nach
und nach an Boden verliert.
Ist damit aber bereits ein autoritäres politisches Potential gegeben? Adorno
(1950, S. 744–783, 1973, S. 303–359) war sich dessen bewusst, dass jeder Typus nur
als ein komplexes »Syndrom« beschrieben werden kann, als ein aus vielen, nach
einer bestimmten Logik zusammenhängenden einzelnen Zügen bestehendes Ge-
samtbild. In seiner theoretischen Konzeptionalisierung hat er das Syndrom-Kon-
zept deutlich von jenen Typenbildungen abgegrenzt, die einen Typus nur nach
einem einzigen Merkmal oder Zug festlegen wollen. Es wäre demnach auch nicht
zwingend, die von ihm selbst ermittelten Züge der Autoritätsgebundenheit und der
analen Triebdisziplinierung allein, ohne den Kontext zu anderen Zügen, für hand-
lungsleitend zu erklären. Dies bestätigen seine Typologien, in denen der autoritäre
Zug sich verschieden kombiniert – und daher auch in einem breiten Spektrum
unterschiedlicher autoritärer Typen und auch in bestimmten demokratischen Ty-
pen wiederzufinden ist. In der jüngeren Frankfurter Schule ist, unter Adornos
Anleitung, noch einmal deutlich herausgearbeitet worden, dass der Zug der analen
Ordnungsliebe, der oft bei Autoritären auftritt, deutlich unterschieden werden
muss von dem sadomasochistischen Zug, der die Unterwerfung unter Autoritäten
mit der Aggressionsabfuhr auf Sündenböcke verbindet (von Freyhold 1971, Jae-
risch 1975).
Ursula Jaerisch (1975) hat hervorgehoben, dass der Zug der analen Selbst-
disziplinierung durchaus auch in nicht-autoritären Habitus eine Rolle spielen kann,
etwa als Grundlage der Tugenden der Arbeitsdisziplin und des sparsamen Wirt-
schaftens, die für die Überlebensstrategien der traditionellen Arbeiterklasse not-
wendig waren. Auch wir fanden dies bestätigt (Vester u. a. 2001). In den traditionel-
len Arbeitermilieus verbindet sich der anale Zug mit demokratischen Werten, in
den kleinbürgerlichen Milieus mit autoritären Werten. Doch können diese Dis-
positionen weltanschaulich verschieden eingebunden sein. Der autoritäre Zug kann
in eine faschistische Ideologie eingebunden sein, aber auch in einen politischen
oder konfessionellen Konservatismus oder in autoritäre linke Ideologien. Hitler
konnte bei seinem größten Wahlerfolg, im September 1932, nicht alle Autoritären,
sondern vornehmlich jene 37% Stimmen gewinnen, die früher konservativ und
deutschnational gewählt hatten. Andere autoritäre Potentiale wurden offensichtlich
von den autoritären Teilen des katholischen Zentrums, der Sozialdemokratie und
der Kommunisten gebunden.
Adorno standen diese verschiedenen Ebenen der Persönlichkeitsstruktur vor
Augen. Ihm war klar, dass die tiefenpsychischen Dimensionen in bestimmte Sche-
mata der Alltagsmoral übersetzt werden, in Einstellungen zum Verhältnis der
Geschlechter, zur Gewalt, zu den Minderheiten, zur Toleranz und zum Gehorsam
usw., und in bestimmte Schemata der gesellschaftspolitischen Ideologie, d. h. zur
Staats- Wirtschaftsordnung, zur Religion, zum Krieg usw. In der Authoritarian
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 205

Personality (Adorno u. a. 1950) wurden auch alle diese Dimensionen mit qualita-
tiven und quantitativen Verfahren untersucht.
Die Wirkungsgeschichte dieses Buches ist demgegenüber durch eine Verengung
auf ein Untersuchungsinstrument gekennzeichnet, das den Autoritarismus als eine
einzige Dimension zu messen vorgibt. Dieses, die sog. F(aschismus)- oder A(utori-
tarismus)-Skala, war zwar aus umfangreicheren Skalen zu den antisemitischen,
ethnozentrischen und politisch-ideologischen Vorurteilsstrukturen entwickelt wor-
den, die viele Dimensionen abbildeten (Adorno u. a. 1950, S. 57–279). Aber es
wurde dann auf eine einzige Dimension, das »Messen impliziter antidemokra-
tischer Tendenzen« (ebd., S. 222) durch eine Skala von schließlich etwa elf State-
ments reduziert. Für unterschiedlich positive oder negative Bewertungen der State-
ments wurden Punkte vergeben, die dann das Maß des Autoritarismus abgeben
sollten. Die Skala wurde sogar über statistische Tests und qualitative Befragungen
erfolgreich validiert. Dieser Umstand hat zu einem naiven Glauben geführt, mit der
Skala überall gültige Messungen autoritärer Potentiale durchführen zu können. Ich
habe dies selbst mit Erschrecken festgestellt, als ich 1961 im Auftrag des Frank-
furter Instituts in New York die Dissertationen durchgesehen habe, die seit 1950
die F-Skala benutzt hatten.
Das Problem der Skala war nicht nur die Reduktion auf eine einzige Mess-
dimension, sondern auch der Umstand, dass die Überprüfung der Gültigkeit über
Stichproben von Befragten stattfand, die die Milieus von College-Studierenden und
Angehörigen der Mittelklasse bevorzugten. Heterogenere Stichproben, die auch
Arbeitermilieus – die Wertedimensionen anders kombinieren – einbezogen hätten,
hätten voraussichtlich die Grenzen der Skala gezeigt.
Es bleibt notwendig, die verschiedenen Dimensionen des Habitus und ebenso
die erwähnten drei hauptsächlichen Handlungsebenen des Habitus analytisch
streng zu unterscheiden: die Tiefendynamik des Charakters mit den psycho-
analytischen Methoden, die Muster der alltäglichen Lebensführung mit kultur-
soziologisch-ethnologischen Methoden und die ideologisch-weltanschaulichen
Muster mit den Methoden der ideologiekritische Inhaltsanalyse und der politischen
Soziologie.
Empirisch ergeben sich Verhaltensmuster nicht aus ersten Ursachen und einer
einzigen Dimension, sondern aus dem Zusammenwirken aller sozialen Instanzen
und Kontexte in den sozialen Beziehungsfeldern, die einmal vorhandene Dis-
positionen auch abwandeln. Daraus ergibt sich, dass die Habitustypen nicht wie
Schubkästen auf einen abgeteilten Platz im Regal der Milieutypen festgelegt sind.
Ihre Einzelfälle konzentrieren sich zwar um bestimmte Schwerpunkte im sozialen
Raum, streuen aber in geringerer Verdichtung auch um diese herum. So folgt aus
einer autoritären psychischen Disposition häufig, aber nicht immer eine durch-
gehend autoritäre Lebensführung und aus dieser wiederum nicht zwingend die
Übernahme faschistischer Ideologien, auch wenn sehr wohl eine Gravitation in
diese Richtung wirksam ist. Die Abweichungen von dieser Gravitation sind aller-
dings in der Regel nicht zufällig, sondern hängen nicht zuletzt von der Gravitation
in den andern Handlungsfeldern ab. Ein psychisch autoritätshöriger Mensch kann
in ein tolerantes Milieu-Umfeld geraten und wird dann dessen Ansprüchen ent-
206 Michael Vester

gegenkommen. Ein Mensch, der in einem autoritätsfixierten Milieu-Umfeld lebt,


kann wiederum, je nach den auf dem Lebensweg entstehenden Verbindungen, zu
den autoritären Fraktionen der verschiedensten ideologischen Lager finden, des
Lagers der politischen Apathie wie auch der Lager des religiösen oder politischen
Konservatismus, der Linken oder des rechten Populismus.
Adorno hat die Unterscheidung der drei Habitusebenen nicht immer kon-
sequent beachtet. Dazu, wie die Züge und Ebenen des Habitus theoretisch und
methodologisch geordnet werden sollten, gibt es nur wenige Klärungen, oft auch
Vermischungen und teilweise unglückliche Missverständnisse, wenn die ausschließ-
liche Geltung einer der verschiedenen Habitusebenen behauptet wird. Als ein
solches können auch die Kontroversen mit Erich Fromm und Karen Horney
verstanden werden (Adorno 1955, 1962). Die Untersuchungen Fromms haben sich
stärker der Ebene der Habitusmuster der alltäglichen Lebensführung genähert.
Dies zeigen seine Texte und auch die seiner Mitarbeiter, etwa von Ernst Schachtel
(1983 [1929]), der bereits früh Formen des Geschmacks und Stils bestimmten
Typen zuordnete, also in die Richtung Bourdieus ging. Dieser Strang wurde kaum
weiterverfolgt, nachdem Adorno Fromm in seinen leitenden Aufgaben im Institut
ersetzt hatte.
Obwohl es sich – aus heutiger Sicht – um zwei gleichermaßen wichtige Ebenen
des Habitus handelte, wurde in dem Konkurrenzkampf der beiden Männer deren
Ausschließlichkeit zum Thema. Adorno betonte, dass die Charakterstruktur nur
durch die tiefenpsychischen Mechanismen und die traumatische Entstehungsge-
schichte zu erklären sei und warf Fromm eine Revision der Psychoanalyse vor. Bei
Fromm und Horney ging es aber um ebenfalls wichtige Muster der späteren
Sozialisationsphasen. Gerade diese später erworbenen Muster sind es, die eine
deutlichere Zuordnung zu sozialen Milieus oder Klassenfraktionen ermöglichen.
Die Weiterentwicklung der typenbildenden Persönlichkeitsanalyse, die so frucht-
bar begonnen hatte, war nicht möglich. Als Bourdieu (1979) schließlich in diese
Richtung ging, hatte die verbliebene Frankfurter Schule das Thema bereits aufgege-
ben. Bourdieus Theorie wurde eher als ›deterministisch‹ abgewehrt und nicht für
neue Impulse genutzt (vgl. Honneth 1984, Eder 1989).

4. Die Methodologie der Milieuanalyse

Eine Weiterentwicklung der Theorie und Methodologie des Klassenhabitus, die die
diskutierte Kritik berücksichtigt, wurde in einer von der Volkswagen-Stiftung
geförderten Untersuchung begonnen, mit der wir von 1987 bis 1992 die Habitus-
typologie und die sozialstrukturelle Topik der westdeutschen Gesellschaft er-
forscht haben (vgl. Vester, von Oertzen, Geiling u. a. 2001 [1993]). Dazu war
methodologisch vor allem zweierlei notwendig: erstens die Rückkehr zu einem
mehrdimensionalen Konzept des Syndroms, das auch in einer standardisierten
repräsentativen Befragung anwendbar war; zweitens das Konzept eines nicht nur
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 207

vertikalen, sondern mehrdimensionalen sozialen Raums, mit dem die Widersprü-


che bisheriger Analysen zu lösen waren.
Zum ersten Punkt gehörte die Entscheidung, in der statistischen Analyse standa-
disierter Befragungen überhaupt nicht mehr mit Skalen zu arbeiten, sondern mit
mehrdimensionalen Cluster- und Faktorenanalysen. Diese Verfahren waren schon
zur Zeit der Authoritarian Personality möglich, wie Hofstätter (1962, S. 408) in
einer Kritik an der Eindimensionalität der A-Skala betont. Aber sie wurden von
Adorno und seinen Mitarbeitern aus unbekannten Gründen nicht verwendet.
Allerdings ist die Verwendung eines mehrdimensionalen Habitus-Indikators erheb-
lich aufwendiger. Zum einen erforderte die Vielfalt der Züge der Syndrome eine
Operationalisierung mit 44 Items, einer etwa vierfach höheren Zahl als bei einer
Skala. Zum anderen erforderte die Auswertung einen erheblich höheren Auswer-
tungsaufwand.
Zwar wurde dieser durch die Einführung der kostengünstigeren Mikroelek-
tronik in der 1980er Jahren erleichtert. Aber die Auswertung war nicht nur eine
primär rechnerische Operation, wie bei Skalen, sondern ein hermeneutischer Aus-
wertungsprozess, der ebenso durch die Vielzahl der Variablen der Einstellungen
und der Sozialstatistik bedingt war wie durch die Notwendigkeit, die Gültigkeit
eines jeden von den Rechnern vorgeschlagenen Typus mittels qualitativer For-
schungen zu den Habitustypen und mittels theoretischer Kriterien zu überprüfen.
Eine besondere Schwierigkeit war weiterhin, aus Habitus und sozialstatistischen
Verortungen ein Milieu-Syndrom zu bilden, das, wie die Milieubeschreibungen
(Vögele/Bremer/Vester 2002, S. 275–409; Vester u. a. 2001, S. 503–541) und im
Schlussteil dieses Aufsatzes zeigen, nicht nur Einstellungen (wie in den Unter-
suchungen der Frankfurter Schule), sondern auch äußere Lebensverhältnisse zu-
ordnet.
Schließlich war, da Bourdieu seine Methodologie nicht ausgearbeitet hat, zu-
nächst auch unklar, wie die Milieus nach der horizontalen, der vertikalen und der
zeitlichen Achse im sozialen Raum zu verorten waren. Auch dies war nicht
rechnerisch, sondern nur hermeneutisch möglich, d. h. durch eine langwierige
Tiefenanalyse und Interpretation jedes Typus und vor allem auch der feinen
Unterschiede zu den anderen Milieutypen. Hierzu mussten wir zum einen nach
Abschluss des ersten Projektes die qualitativen Erhebungen wieder aufnehmen und
dazu auch neue Untersuchungsinstrumente für die typenbildende Habitusanalyse
entwickeln, insbesondere die »mehrstufige Gruppenwerkstatt«, eine Weiterent-
wicklung des zuerst in Frankfurt verwendeten Gruppendiskussionsverfahrens
(Bremer 1999, 2001; Teiwes-Kügler 2001; Vögele/Bremer/Vester 2002). Zum an-
deren mussten wir neue multivariate Rechnungen durchführen, um die – besonders
durch die geschlechtliche Arbeitsteilung strukturierte – Binnenstruktur der Milieus
herauszufinden (Vester/Gardemin 2002) und um durch Subclusterung die ur-
sprünglich neun Milieus in insgesamt zwanzig in sich homogenere Milieus aufzu-
gliedern (Wiebke in: Vögele/Bremer/Vester 2002). In diesem Prozess wurden
Inkonsistenzen unserer ursprünglichen Raumkonzepte sichtbar, die erst durch eine
durchgreifende Neudefinition der vier Achsen des sozialen Raumes und der von
ihnen ausgedrückten gesellschaftstheoretischen Konzepte möglich wurden (Vester
1998; Vester u. a. 2001).
208 Michael Vester

Abschließend mussten die komplizierten Raumbilder und Syndrombeschrei-


bungen so überarbeitet werden, dass sie auch von Nichtexperten unmissverständ-
lich verarbeitet werden können, die sie inzwischen in größerem Umfang in der
kirchlichen und der gewerkschaftlichen Bildungsarbeit verwenden.

5. Der Wandel der Milieustrukturen

In dem Mehrebenen-Ansatz des Forschungsprojekts kam es darauf an, determinis-


tische Ableitungen der Veränderungen des Habitus aus den ökonomischen Struk-
turen zu vermeiden. Daher wurden die Veränderungen auf den verschiedenen
Feldebenen – im Habitus, in der Erwerbsstruktur und in den sozialen Bewegungen
– zunächst getrennt untersucht, in drei Projektteilen, die erst später in einer
integrierten Analyse zusammengeführt wurden. Die Verfahren und Ergebnisse der
Untersuchung, die andernorts ausführlich dargestellt sind (Vester u. a. 2001, Vögele
u. a. 2002), werden hier nur kurz zusammengefaßt, um die Makrostrukturen des
sozialen Raums und darin den Ort der autoritären Dispositionen zu verdeutli-
chen.
In der Habitusanalyse kehrten wir Bourdieus Reihenfolge der Analyseschritte
um. Bourdieu begann mit den Berufsgruppen und fragte dann, welche Attribute
und Praktiken des Lebensstils sie bevorzugten. Durch deren Interpretation ge-
langte er schließlich zu den Habitustypen. Wir begannen dagegen mit den Ein-
stellungsmustern des Habitus, gestützt auf nichtstandardisierte lebensgeschicht-
liche Interviews. Befragt wurde eine große Stichprobe von Angehörigen der neuen
sozialen Milieus und ihrer Elterngeneration in drei ausgewählten Regionen. Durch
intensive hermeneutische Interpretationsverfahren gelangten wir zu den Habitus-
Syndromen der Einzelfälle. Die Fallprofile, die eine ähnliche Syndromstruktur
hatten, konnten zu fünf Typen zusammengefaßt werden. Erst als diese Habitus-
typen gefunden waren, wurde gefragt, welche Berufe, Ausbildungen, soziale Bezie-
hungsmuster, ideologische Einstellungen usw. für sie ›typisch‹ waren.
Ein Vergleich der Habitustypen der Eltern- und Kindergeneration bestätigte
schließlich zweierlei. Zum einen vertrat die jüngere Generation in verstärktem
Maße insbesondere die Werte der Selbstverwirklichung, der demokratischen Mit-
bestimmung, der Gleichstellung von Frauen und Ausländern und ökologisch-
pazifistische Ziele. Zum anderen bedeutete dieser Wandel aber keinen vollkomme-
nen Bruch mit den fünf Herkunftskulturen aus den oberen, mittleren und unteren
sozialen Milieus. Damit wurde die These von Clarke, Hall u. a. (1979), dass die
jüngeren Milieus die Habitusmuster ihrer Klassenherkunft nicht aufgeben, sondern
für neue Umstände abwandeln, auch für Westdeutschland bestätigt (Vester u. a.
2001, S. 215–218, 311–369).
Parallel wurden der Wandel auf den beiden anderen Feldebenen, von denen ein
Einfluss auf die Veränderung von Milieus und Mentalitäten vermutet wurde,
untersucht.
Zum einen ging es um die Veränderungen der Erwerbsstruktur. Mit den Daten
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 209

der amtlichen Statistik seit 1950 wurden nicht nur die Verschiebungen zum Dienst-
leistungssektor hin analysiert, sondern auch, für insgesamt 163 Berufsgruppen, die
Zunahme kulturellen Kapitals und der Entscheidungs- und Verantwortungskom-
petenzen. Durch ein spezifische Verfahren der Einordnung in den sozialen Raum
(nach Geiger 1932 und Bourdieu 1982) wurden die Bewegungen im sozialen
Raums nachgezeichnet. Insgesamt hatte sich allein bis 1987 der Anteil der sog.
»neuen Berufe«, die deutlich mehr Fachqualifikation, Eigenverantwortung und
horizontale Vernetzung erforderten, von etwa 5% auf mehr als 22% erhöht. Damit
konnten wir die These einer beschleunigten Linksdrift auf allen Stufen des Raums
der Berufspositionen bestätigen (Vester u. a. 2001, S. 373–426).
Zum anderen ging es um die Rolle der neuen sozialen Bewegungen bei der
Herausbildung neuer Habitusmuster in der Jugendkultur. Über drei regionale
Längsschnittuntersuchungen wurde belegt, wie durch soziale und politische
Kämpfe, durch neue Abgrenzungen und Koalitionsbildungen die im ersten Pro-
jektteil gefundenen neuen Varianten der Milieus und ihrer Weltdeutung entstanden
waren. Diese zeigten zunächst Züge eines ›fundamentalistischen‹, absoluten
Bruchs, aber seit den 1980er Jahren einen zunehmenden Realismus im Sinne einer
Variante der Herkunftskulturen (Vester u. a. 2001, S. 253–310).
Von entscheidender Bedeutung war es, anschließend die drei Einzelstränge der
Untersuchung in eine integrierte Analyse zu überführen, um sie aufeinander und
auf die gesamtgesellschaftlichen Veränderungsprozesse beziehen zu können.
Hierzu wurde 1991 in Westdeutschland eine umfangreiche und repräsentative
standardisierte Befragung nach dem erweiterten Ansatz Bourdieus durchgeführt
(Vester u. a. 2001, S. 222–244). (Die bleibende Aktualität der Ergebnisse wurde
durch eine teilweise ähnliche Befragung im Jahre 2000 (s. Vester 2001) bestätigt.)
Für jede befragte Person wurden alle Feldebenen, einschließlich der Habitustypen
und der Berufs- und Bildungsmobilität über drei Generationen, erfragt. In einem
statistischen und hermeneutischen Auswertungsprozess konnten nun für die ge-
samte Gesellschaft die typologischen Strukturen, die Beziehungen zwischen den
Feldern und die Dynamiken im sozialen Raum näher bestimmt werden.
Insgesamt wurde eine parallele Linksdrift auf allen drei Feldebenen, in der
Erwerbsstruktur, im Habitus und im politisches Verhalten, bestätigt. Aber diese
Entwicklungen waren auseinander nicht direkt ableitbar. Die neuen Milieus ge-
hörten zwar überwiegend den »neuen Berufen« zu. Aber diese Aussage ließ sich
nicht umkehren. Von den Angehörigen der »neuen Berufe« gehörte nur etwa die
Hälfte den neuen Milieus zu; die übrigen verteilten sich über Milieus, die weniger
›progressiv‹ waren. Der berufliche Wandel war also eine notwendige Begleiter-
scheinung, aber keine hinreichende Ursache des Habituswandels. Ausschlaggebend
für den Habituswandel war vielmehr, dass die Befragten auch an den sozialen oder
politischen Generationenkonflikten teilgenommen hatten (Vester u. a. 2001, S. 23–
118).
Aus den differenzierten Ergebnissen sind hier vier räumliche bzw. zeitliche
Gesamtbilder ausgewählt, die aus jeweils anderer Perspektive und in vereinfachter
Form die gefundenen Strukturen des sozialen Raums veranschaulichen.
Die erste Perspektive (Abb. 1) besteht darin, die Milieus nach den Berufszuge-
210 Michael Vester

Abb. 1 Verortung der Milieus in Bourdieus Raum der beruflichen Positionen


Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 211

hörigkeiten ihrer Mitglieder in den sozialen Raum Bourdieus einzuordnen. Die


elliptischen Linien umrunden jeweils die Feldzonen, in denen die Mehrheit des
Milieus ihre Berufspositionen hat. Für jedes Milieu zeigt sich eine gewisse Streu-
ung, aber auch ein Schwerpunkt.
Damit deutet sich eine räumliche Struktur an. Drei Milieus teilen sich den
oberen sozialen Raum. Ein Milieu ist auf den untersten Teil des sozialen Raums
beschränkt. Zwischen dem Oben und Unten bilden fünf Milieus ein horizontal
stark differenziertes Feld. Dieses reicht von dem schrumpfenden kleinbürgerlichen
Arbeitnehmermilieu in der rechten Hälfte bis zu den wachsenden modereren
Arbeitnehmermilieus links von der Mitte.
Die Abbildung bestätigt eine relative Homologie zwischen Berufs- und Habi-
tusposition. Die räumliche Verteilung weist darauf hin, dass die Milieus ein Gefüge
aufeinander angewiesener Spezialisierungen bilden, das nicht allein auf der öko-
nomischen Arbeitsteilung beruht. Der Raum ist parallel nach Habitustypen geteilt.
Aber jeder Habitustypus ist nicht auf eine bestimmte Berufsgruppe beschränkt,
sondern übergreift mehrere Berufsgruppen, die sich allerdings in einer Raumzone
mit ähnlicher Ausstattung an kulturellem und ökonomischem Kapital konzent-
rieren. Offensichtlich ist die Gesellschaft in Gruppen gegliedert, die sich nach ihrer
»ganzen Lebensweise« und nicht nur beruflich unterscheiden.
In der zweiten Abbildung haben wir die Milieus, die an anderer Stelle ausführ-
lich portraitiert sind (Vester u. a. 2001, S. 503–525), nach historischen Traditions-
linien gruppiert. Die Abbildung zeigt eine räumlich-zeitliche Gliederung in nur
wenige große Traditionslinien. Die meisten von ihnen haben sich nach Art von
Familienstammbäumen seit 1982 weiter in sich differenziert, wobei die jüngeren
Zweige jeweils modernisierte Abwandlungen der älteren Zweige sind. Das gleiche
Gesamtmuster lässt sich auch an den Daten und Landkarten anderer Gesell-
schaften, beispielsweise Großbritanniens, Frankreichs und Italiens, zeigen (Vester
u. a. 2001, S. 34–36, 50–54).
Die Daten für die Bundesrepublik belegen eine deutliche, wenn auch langsame
horizontale Drift. In den konservativen Traditionslinien nehmen die älteren autori-
tären Milieus (in Abb. 2 kursiv hervorgehoben) zugunsten jüngerer Milieus ab, die
den Autoritarismus durch mehr Toleranz und moderne Lebensstile abmildern. In
den demokratischeren Traditionslinien vertreten die wachsenden jüngeren Teil-
milieus immer deutlicher radikaldemokratische und emanzipatorische Ziele.
Dies lässt sich besonders am Beispiel der ›respektablen Volks- und Arbeit-
nehmermilieus‹ veranschaulichen, die wir schon als Mitte der ersten Abbildung
kennen. Wir finden hier, markiert durch kräftige Umrahmung, zwei ›Familien-
stammbäume‹. Die Tradionslinie der Facharbeit (Nr. 2.1, der Kern der früheren
Arbeiterbewegungen) besteht aus drei Generationsgruppen. Diese sind das geal-
terte und schwindende »Traditionelle Arbeitermilieu«, die große, aber stagnierende
mittlere Generation des »Leistungsorientierten Arbeitnehmermilieus« und die
rasch wachsende jüngere Generation des »Modernen Arbeitnehmermilieus«, das
die emanzipatorischen und radikaldemokratischen Werte besonders verkörpert.
Die Traditionslinie der ständisch-kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus (Nr. 2.2)
zeigt einen ähnlichen, aber weniger radikalen Generationenwechsel.
212 Michael Vester

Die vertikalen Milieustufen und ihre horizon- Differenzierung der Traditionslinien nach Untergrup-
tale Differenzierung nach Traditionslinien pen (–) bzw. Generationen (a,b,c) in Westdeutschland
(1982 bis 2000)
1. Obere Milieus (um 25 %)
1.1. Traditionslinie von Macht und Konservativ-technokratisches Milieu (ca. 9 % – ca.
Besitz: Milieus der wirtschaftlichen 10 %)
und hoheitlichen Funktionseliten – Großbürgerliches Konservatives Milieu (ca. 5 %)
(um 10 %) – Kleinbürgerliches Konservatives Milieu (ca. 4 %)
1.2. Traditionslinie der Akademischen Liberal-intellektuelles Milieu (ca. 9 % – ca. 10 %), mit
Intelligenz: Milieus der humanisti- zwei Teilgruppen:
schen u. dienstleistenden Funktions- – Progressive Bildungshumanisten (ca. 5 %)
eliten (um 10 %) – Moderne Dienstleistungselite (ca. 4 %)
1.3. Kulturelle Avantgarde einschließlich – Alternatives Milieu (ca. 5 % –0 %)
Neues Kleinbürgertum (um 5 %) – Postmodernes Milieu (0%- ca. 6 %)
2. »Respektable« Volks- und Arbeit-
nehmermilieus (um 66 %)
2.1. Traditionslinie der Facharbeit und (a) Traditionelles Arbeitermilieu (ca. 10 % – ca. 4 %)
der praktischen Intelligenz (b) Leistungsorientiertes Arbeitnehmermilieu (ca.
(um 30 %) 20 % – ca. 18 %)
(c) Modernes Arbeitnehmermilieu (0 % – ca. 8 %)
2.2. Ständisch-kleinbürgerliche (a) Kleinbürgerliches Arbeitnehmermilieu (ca. 28 % –
Traditionslinie ca. 14 %)
(zwischen 28 % und 22 %) (b) Modernes (klein)bürgerliches Milieu (0 % – ca.
8 %)
2.3. Avantgarde der Jugendkultur * Hedonistisches Milieu (ca. 10 % – ca. 12 %)
(um 12 %)
3. Traditionslinie(n) der unterprivile- Traditionsloses Arbeitnehmermilieu, mit drei Teil-
gierten Volks- und Arbeitnehmer- gruppen:
milieus – Statusorientierte (ca. 3 %)
(um 12 %) – Resignierte (ca. 6 %)
– Unangepaßte (ca. 2 %)
Zur Beachtung: Die Prozentzahlen in der linken Spalte geben die Bandbreite der Milieugrößen an. Die
Prozentzahlen in der rechten Spalte geben an, wie sich die Milieugrößen von 1982 bis 2000 verändert
haben.
Die Zuordnung der westdeutschen Milieus ist, auch mittels der repräsentativen Befragung von 1991, näher
untersucht (Vester u. a. 1993/2001). Die Prozentsätze stützen sich auf Daten des Sinus-Instituts (SPD 1984,
Becker u. a. 1992, Flaig u. a. 1993, Spiegel 1996).

Abb. 2 Traditionslinien sozialer Milieus in Westdeutschland 1982–2000

Die Milieus mit einem unverändert autoritärem Habitus sind insgesamt ge-
schrumpft, aber keineswegs verschwunden. Sie umfassen oben das kleinbürgerlich-
konservative Milieu, in der Mitte das kleinbürgerliche Arbeitnehmermilieu und
unten die statusorientierten Traditionslosen Arbeitnehmer. Mit zusammen 25%
bilden sie noch ein starkes Potential, aus dem eine konservative oder auch eine
rechtspopulistische Politik schöpfen kann.
Die folgende Abbildung (Abb. 3) übersetzt die Daten der Milieus in eine
stilisierte Landkarte, die nicht nach Berufspositionen, sondern nach Habitustypen
gegliedert ist. Die Verortung erfolgte nach den impliziten Distinktionsprinzipien,
nach denen die Milieus sich voneinander abgrenzen. Die drei oberen Milieus,
zusammen etwa 26%, unterscheiden sich von den gewöhnlichen Volksmilieus
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 213

LIBI KONT
PO
MO Die Milieus
MOA
MOBÜ der alltäglichen Lebensführung
im sozialen Raum
H Westdeutschlands 2000*
E KLB
D LEO
avant-
eigen- hierarchie-
gardistisch verantwortlich gebunden autoritär
Differenzierungsachse
TRA
TLO PO LIBI KONT
MO Konservativ-
Post- Liberal-
Habitus der moder- intellektuelles technokratisches
Distinktion nes Milieu ca. 10% Milieu ca. 10%
Milieu
ca. 6%

MOA MOBÜ Modernes


Habitus der Modernes bürgerliches
Herrschaftsachse

Arrivierten Arbeitnehmer- Milieu


Milieu ca. 8%
ca. 8%
HED LEO
Hedonis- Leistungs-
tisches KLB
Habitus der Milieu
orientiertes
Strebenden Arbeitnehmer- Klein-
Milieu bürgerliches
ca. 12% Arbeitnehmer-
ca. 18% Milieu
TRA-
ditio-
nelles ca. 14%
Arbeiter-
milieu ca. 4%
Abb. 3 Die Milieus der all- Habitus der
Notwendigkeit TLO Traditionslose Arbeitnehmermilieus
täglichen Lebensführung im Unangepaßte Resignierte Statusorientierte
ca. 2% ca. 6% ca. 3%
sozialen Raum Westdeutsch-
land 2000 agis.uni-hannover.de

durch den besonderen Wert, den sie auf höhere Bildung, Kultur und geschmack-
liche Kennerschaft legen. Unter dieser ›Trennlinie der Distinktion‹ finden wir die
›respektablen‹ Volksmilieus, mit etwa 64%. Für sie sind gute Facharbeit oder ein
sicherer sozialer Status die Grundlage der Selbstachtung. Unter ihnen sehen wir die
unterprivilegierten Milieus mit geringer Ausbildungs- und Berufsqualifikation. Ihr
Habitus ist auf eine Lage der Unsicherheit und Ohnmacht abgestimmt, weniger auf
stetiges Streben als auf spontane Nutzung von Gelegenheiten und auf die Anleh-
nung an Mächtigere. Daher werden sie von den anderen Milieus nicht sehr ge-
achtet. Sie liegen unter der unsichtbaren ›Trennlinie des Respektabilität‹.
Die Unterscheidung von demokratisch-emanzipatorischen und von autoritär-
konventionellen Milieus zeigt sich nicht in den vertikalen, sondern in den hori-
zontalen Teilungen der Gesellschaft. In der horizontalen Dimension können wir
eine dreifache Unterteilung erkennen – und eine entsprechende Bewegung des
Auseinanderdriftens von autoritären und nichtautoritären Milieus.
Die horizontalen Unterschiede liegen in den Einstellungen zur Autorität, zu den
Rechten von Minderheiten und zur sozialen Hierarchie. Rechts grenzen sich die
214 Michael Vester

kleinbürgerlichen und die konservativsten Gruppen ab. Dabei zeigt sich eine
deutliche Verbindung von habituellen und sozialstrukturellen Entwicklungen. Die
autoritäre Statusorientierung und aggressive Einstellungen gegenüber Minderheiten
konzentrieren sich vor allem bei Teilmilieus, die die Erfahrung machen, dass ihre
vergleichsweise niedrigen und veralteten Bildungs- und Berufsabschlüsse nicht
ausreichen, um mit der Modernisierung der Wirtschaft und der Lebensstile mitzu-
halten. Vor allem sie sind die »Modernisierungsverlierer«. Sie setzen diese Erfah-
rung, so wie in der Autoritarismusforschung der Frankfurter Schule beschrieben,
in Ressentiments gegen sozial Schwächere um.
Links von ihnen finden wir die Milieus, für die gute fachliche Arbeit die
Grundlage des Selbstvertrauens, des Selbstbewusstseins und auch demokratischer
Toleranz ist. Am linken Rand sehen wir eine hedonistische Avantgarde der Jugend-
kultur. Sie grenzt sich mit idealistischen Ansprüchen vom abwägenden Realismus
der horizontalen Mitte ab.
Die Methode, direkt von den Habitustypen auszugehen, hat es uns ermöglicht,
die Differenzierung der Volksmilieus in drei Traditionslinien, gegliedert in mindes-
tens neun Teilmilieus, herauszuarbeiten (ebd., S. 510–525, 532–541), während
Bourdieu (1982, S. 585–619) die Volksklassen eher kurz und zusammenfassend
charakterisierte und sich auf die feineren Unterteilungen der oberen und der
kleinbürgerlichen Milieus konzentrierte. Durch eine Feinclusterung haben wir
insgesamt die Unterteilung der Gesamtheit der Milieus in zwanzig nach Mentalität
und äußerer Lage homogenere Teilmilieus gefunden (Wiebke, in: Vögele/Bremer/
Vester 2002, S. 275–409). Dabei konnten auch die Habitus- und Datenprofile der in
der Typologie ausgewiesenen streng autoritären Teilmilieus erarbeitet werden
(ebd., S. 304–309, 359–364, 404–409).
Die Darstellung unserer Befunde von 1991 hat nutzen können, dass das Heidel-
berger Marktforschungsinstitut ›Sinus‹ seine repräsentativen Erhebungen der Rah-
mengrößen der Milieus von 1982 bis zum Jahre 2000 durchgeführt hat. Dadurch,
und auch durch eine andere Befragung im Jahre 2000 (Korte/Weidenfeld 2001,
Vester 2001), konnten wir unsere Daten mit denen aus den Jahren 1982 und 2000 in
Beziehung setzen. Dabei wird ebenso die Langsamkeit wie die Nachhaltigkeit der
Größenverschiebungen zugunsten toleranterer und weniger autoritärer Milieus
deutlich.

6. Autoritäre und demokratische Lager in der Politik

Die vierte Landkarte (Abb. 4) führt uns zu der Frage, wie sich die Konflikte der
Ökonomie und des Alltagslebens im politischen Feld umsetzen. Unsere bisherige
Argumentation hat die Frage nach dem Fortbestand sozialer Klassen salomonisch
beantwortet: sie bestehen im Alltagsleben weiter (aber nicht als gesamtgesellschaft-
liche Kampflager), und sie wandeln sich mittelfristig (aber ohne den Rahmen der
Herkunftskultur zu verlassen). Die Frage nach dem politischen Ausdruck der
Klassenverhältnisse ist aber damit nicht beantwortet, sondern nur auf die Analyse
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 215

des politischen Felds, in dem um die Art der gesamtgesellschaftlichen Ordnung und
der sozialen Gerechtigkeit gekämpft wird, verschoben.
Der Umfang der vorpolitischen Probleme sozialer Gerechtigkeit, nach deren
politischer Umsetzung gefragt werden soll, wird meist unterschätzt. Die Caritas-
Studie (Hübinger 1996) hat deutlich gemacht, dass die rund 10 %, die sich in der
Not- und Ausgrenzungssituation von dauerhafter Arbeitslosigkeit und Armut
befinden, nur die Spitze des Eisbergs sind. Seit dem 1980er Jahren ist für weitere
25–30 % der Wohlstand »prekär« geworden; sie können periodisch unter die
Sozialhilfegrenze sinken. Abermals weitere 20–25 % leben in Situationen der
Knappheit.
Aus diesen Zahlen wird erklärlich, warum nach Umfragen der Anteil derer, die
über die Politiker »verdrossen« sind, weil diese für die kleinen Leute zu wenig tun,
seit 1990 unveränderlich um 60 % liegt (Vester u. a. 2001; Korte/Weidenfeld 2001).
Dem liegen verschiedene, jeweils gut dokumentierte Schieflagen sozialer Gerech-
tigkeit zugrunde. Zur Exklusion der Armen und Dauerarbeitslosen und zur Preka-
rität der Ungesicherten kommen noch zwei andere Problemlagen hinzu. Zum
einen mussten durch die Strukturkrise Millionen von Arbeitnehmern den Wechsel
in weniger gesicherte Arbeitsverhältnisse bzw. eine Stagnation ihrer Einkommen
hinnehmen. Zum anderen werden immer noch Frauen und Ausländer sowie viele
Jüngere und Ältere durch vergleichsweise schlechtere Einkommen diskriminiert.
Darüber, wie diese Unzufriedenheit politisch umgesetzt wird, kursieren zwei
verschiedene Trenddiagnosen.
Im Dezember 2000 berichtete Die Zeit über eine Studie, die vor allem die
autoritäre und ausländerfeindliche Verarbeitung der sozialen Unsicherheiten be-
tont. Dies signalisierte schon der Titel: »Starke Hand gesucht. Eine Studie der
Friedrich-Ebert-Stiftung belegt: Autoritäre Einstellungen und Angst vor den
Fremden steckt auch in den Köpfen der bürgerlichen Mitte«. Die Studie, so hieß es,
»untermauert die Annahme, dass in der Bundesrepublik nach wie vor eine stark
autoritäre Mentalität zu Hause ist – im Osten wie im Westen, in Unter-, Mittel-
und Oberschichten« (Hofmann 2000).
Eine entgegengesetzte Diagnose bietet das von Ulrich Beck und Anthony
Giddens gemeinte »neue Politikmodell« (Giddens 1997). Es geht davon aus, dass
durch den Wohlfahrtsstaat und den Wertewandel die mit der früheren Arbeiter-
bewegung verbundenen Modelle materieller Verteilungsrechtigkeit überholt seien.
Der Trend gehe zu einem von den neuen Dienstleistungsschichten getragenen
zivilgesellschaftlichen Modell mit universalistischen Zielen »jenseits von links und
rechts«.
Beide Thesen ließen sich über typenbildende statistische Cluster- und Faktoren-
analysen unserer repräsentativen Befragungsdaten überprüfen. Wir fanden insge-
samt sechs gesellschaftpolitische »Lager«, die jeweils verschiedenen Vorstellungen
der sozialen Gerechtigkeit und der gesellschaftpolitischen Ordnung anhingen (Ves-
ter u. a. 2001, S. 444–472). Die Lager waren, wie erwartet, nicht deckungsgleich mit
der Teilung der Gesellschaft in Milieus. Vielmehr verteilten sie sich jeweils vertikal
bzw. diagonal über verschiedene Milieus (Abb. 4). Es handelte sich also, wie es die
kritische Milieuforschung schon länger weiß (Lepsius 1973 [1966], vgl. Clarke/Hall
216 Michael Vester

1979 [1975]), um Koalitonen verschiedener Milieufraktionen über die Milieu-


grenzen hinweg. Auf der Basis der gleichen Alltagsethik unterteilen sich die
Milieus nach verschiedenen weltanschaulichen, religiösen oder politischen Lagern,
die meist eine lange historische Tradition haben.
Hinzu kommt, dass vor allem die großen Parteien, als Volksparteien, ihre
Anhänger jeweils aus mehreren Lagern schöpfen müssen, wenn auch mit gewissen
Schwerpunkten. So kann z. B. die CDU/CSU die Arbeitnehmer aus den kon-
servativeren Milieus und Lagern mobilisieren, aber, über den modernen CDU-
Flügel, auch einen Teil der moderneren Arbeitnehmer. Spiegelbildlich kann die
SPD vor allem Arbeitnehmer aus moderneren Milieus und Lagern mobilisieren,
aber, über den rechten SPD-Flügel, auch einen Teil der konservativen Arbeit-
nehmer. Hier liegen auch die Soll-Bruchstellen der Parteienlandschaft. Die neue
Dynamik der Lager wird deutlich, wenn wir sie in die Landkarte der Milieus
eintragen. Die Verortungen drücken den Spagat aus, den die politischen Parteien
bewältigen müssen, wenn sie ihre Klientele aus den verschiedenen Milieus und
Lagern mobilisieren und repräsentieren wollen.
Die Lager bilden sich durchaus auf einer Achse zwischen rechts und links ab,
zwischen mehr autoritären oder konservativ-demokratischen und mehr reformde-
mokratischen Dispositionen.
Unter den reformdemokratischen Lagern fanden wir auch das Lager des »neuen
Politikmodells« von Beck und Giddens. Für dieses Lager, die Radikaldemokraten,
stehen tatsächlich die Ziele der Bürgergesellschaft und Ökologie, der Emanzipation
nach Geschlecht und Ethnie usw. im Vordergrund. Entgegen den Erwartungen war
das Lager jedoch nicht auf dem Weg zur Mehrheit, sondern auf 11 % beschränkt
und, wie die Abbildung ausweist, das einzige Lager mit geringer Anhängerschaft
unterhalb der oberen und aufsteigenden Milieus. Der Grund liegt offensichtlich in
einer elitistischen Ideologie, die die eigene höhere Position mit einer puritanischen
Arbeitsethik rechtfertigt, die den Volksmilieus abgesprochen wird. Kein anderes
Lager zeigte solche Nähe zu der unpopulären neoliberalen Politik.
Interessanterweise gibt es ein anderes Lager, das diese radikaldemokratischen
Werte ebenfalls vertritt, aber zugleich mit einer anderen, sozialen Komponente
verbindet, nämlich der Integration nicht nur der Frauen, Ausländer usw., sondern
auch der Arbeitnehmermilieus und der sozial Benachteiligten. Dieses Lager der
Sozialintegrativen (um 13 %) stützt sich weitgehend auf die moderne Reformintel-
ligenz, die nicht nur oben, sondern auch auf den anderen Rängen der Gesellschaft
Zulauf hat. Damit ist es einem anderen Lager sehr nahe, den Skeptisch Distan-
zierten (um 18 %), die vor allem aus den Volksmilieus der Facharbeit kommen und
ein Modell der Solidarität auf Gegenseitigkeit vertreten. Wer zu Produktivität und
Sozialstaat beiträgt (und wer unverschuldet in Not ist), soll auch an Wohlfahrt und
Wirtschaftswachstum teilhaben. – Beide Lager sind in ihren Vorstellungen von
Solidarität von der Politik stark enttäuscht.
Am rechten Pol sehen wir eine noch relativ starke Integrationskraft kon-
servativer Politik. Die konservativen Lager umfassen zusammen noch immerhin
32%. Aber sie erodieren nach zwei Seiten hin, zu den Modernisierungsgewinnern
mit ihren neuen Lebensstilen und zu den autoritären Modernisierungsverlierern.
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 217

Die gesellschaftspolitischen Lager


der Bundesrepublik Deutschland

Radikaldemokratisches Lager (ca. 11%) Traditionell-Konservatisves Lager (ca. 14%)

Sozialintegratives Lager (ca. 13%) Gemäßigt-Konservatives Lager (ca. 18%)

Abb. 4 Die gesellschaftpo- Skeptisch-Distanziertes Lager (ca. 18%) Enttäuscht-Autoritäres lager (ca. 27%)
litischen Lager im Raum der
Milieus agis.uni-hannover.de

Zu den konservativen Lagern gehören zum einen die Gemäßigt Konservativen


(ca. 18%), die ihren Schwerpunkt in den kleinbürgerlichen Arbeitnehmermilieus
haben und ein hierarchisch strukturiertes Solidaritätsmodell bevorzugen. Das Mo-
dell folgt dem Patron-Klient-Muster, in dem Loyalität durch paternalistische Für-
sorge vergolten wird. Allerdings hat sich ein Drittel dieses Lagers moderneren und
toleranteren Lebensstilen zugewandt. Damit übt es Druck aus auf das Lager der
Traditionell-Konservativen (um 14 %), das in der Rolle des ›Patrons‹ ist. Das Lager
verlangt zwar besonderen Respekt vor höherem Status, aber es will auch dafür
sorgen, dass keine soziale Gruppe aus ihrem System gestufter Rechte herausfällt.
Dies ist allerdings bereits geschehen. Unsere Befragung verwies auf ein nicht
geringes autoritäres Potential am rechten und unteren Rand der sozialen Land-
karte. Hier bilden ältere und teilweise jüngere Milieus mit wenig Bildungskapital
und unsicheren Zukunftsperspektiven das Lager der Enttäuscht Autoritären, mit
beklemmenden 27%. Es vereint diejenigen Verlierer der ökonomischen Moder-
218 Michael Vester

nisierung, die ihre Enttäuschung nach autoritärem Muster verarbeiten. Sie sehen
sich von der übrigen Gesellschaft ausgegrenzt und kompensieren dies mit Ressenti-
ments gegen Ausländer, alles Moderne und die Politiker, die ihre Fürsorgepflichten
vernachlässigen. Sie wollen gegen die Risiken des Strukturwandels durch eine
protektionistische Wirtschaftspolitik und eine restriktive Zuwanderungspolitik ge-
schützt werden. Aus Realismus wählen sie traditionell meist CDU/CSU und SPD.
Regionalwahlen zeigen aber, dass – wie in anderen Ländern Europas – rechts-
populistische Parteien hier ihre fast 20 % Proteststimmen gewinnen können.
Insgesamt zeigt sich zwar, dass die in der Zeit beschworenen autoritären Men-
talitäten noch stark sind und sich auch tatsächlich über die Unter-, Mittel- und
Oberschichten verbreiten. Aber dies heißt nicht, dass die bedrohlichen autoritären
Potentiale ›überall‹ sind, wie suggeriert wird. Vielmehr wird in den demokratischer
orientierten Lagern, bei den Sozialintegrativen und den Skeptisch-Distanzierten,
die soziale Enttäuschung überwiegend im Rahmen eines relativ stabilen demo-
kratisch-toleranten Habitus verarbeitet. Die autoritären Verarbeitungsformen kon-
zentrieren sich in bestimmten, abgegrenzten Milieus des rechten und unteren
sozialen Raums. Auch hier bilden sie kein frei flottierendes Potential, das beliebig
von rechten Demagogen mobilisiert werden kann. Vielmehr sind sie mehrheitlich
noch von den großen Volksparteien gebunden. Aber diese Bindung ist nicht mehr
sicher, vor allem solange die Politik die Modernisierungsverlierer vernachlässigt.
Insgesamt mag dieses Panorama ideologischer Lager als sehr heterogen er-
scheinen, jedenfalls im Vergleich mit der herkömmlichen Teilung in ein Oben und
Unten oder ein Rechts und Links. Bedeutet dies, dass die auseinanderstrebenden
Interessen nur noch durch eine autoritäre Politik zusammengehalten werden kön-
nen, so wie dies Ralf Dahrendorf für das 21. Jahrhundert befürchtet? Oder kann
eine neue Integrationsformel gefunden werden, die das Modell des demokratischen
Wohlfahrtsstaats erneuert?
Diese zweite Möglichkeit ist nicht ohne Chancen. Die Lager bilden durchaus
eine übersichtliche Konfiguration, in der die vertikalen Kräfte von oben und unten
und die horizontalen Kräfte von rechts und links zusammenwirken. Den vertikalen
Kräfteverhältnissen entspricht das Umfrageergebnis, dass immer noch mehr als
80% das Modell des Wohlfahrtsstaates wollen, auch wenn sie seine Erneuerung
durch mehr Mitbestimmung von unten wünschen. Doch kann dieses Ziel ver-
schieden umgesetzt werden, durch konservative Koalitionen im rechten Teil des
sozialen Raums oder durch reformerische Mitte-Links-Koalitionen.
Ein Vergleich der sozialpolitischen Ordnungsmodelle der sechs Lager (Abb. 5)
zeigt, dass es dafür mögliche gemeinsame Nenner gibt. Die Modelle der Solidarität
überwiegen mit 49 %. Für sie gehören Solidarität und individuelle Verantwortung
zusammen und dürfen nicht gegeneinander ausgespielt werden, wie es die extremen
Modelle des Protektionismus und des Neoliberalismus verlangen. Zusätzlich könn-
ten die 27% des protektionistischen Lagers durch eine Politik sozialer Mindest-
garantien ins Boot geholt und den Rechtspopulisten abspenstig gemacht werden.
Ein solcher historischer Kompromiss wäre sowohl unter sozialdemokratischem
wie unter konservativem Vorzeichen möglich und mehrheitsfähig.
Er würde aber auch noch erhebliche Konflikte zu regeln haben, die das Gesund-
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 219

Elitemodelle (ca. 25 %)
(1) Radikaldemokratisches Lager (RAD): progressiv-liberales Elitemodell ca. 11 %
(2) Traditionell-konservatives Lager (TKO): konservatives Fürsorgemodell ca. 14%
Solidaritätsmodelle (ca. 49 %)
(3) Gemäßigt-konservatives Lager (GKO): konservatives Solidaritätsmodell ca. 18 %
(4) Sozialintegratives Lager (SOZ): progressiv-solidarisches Modell ca. 13 %
(5) Skeptisch-Distanziertes Lager (SKED): Modell der Gegenseitigkeit ca. 18 %
Protektionistische Modelle (ca. 27 %)
(6) Enttäuscht-Autoritäres Lager (EA): populistisches Anspruchsmodell ca. 27 %
Repräsentativbefragung »Gesellschaftlich-politische Milieus in Westdeutschland« 1991: n = 2.684; deutsch-
sprachige Wohnbevölkerung ab 14 Jahren in Privathaushalten; Cluster- und Faktorenanalyse (M. Vester
u. a., Soziale Milieus im gesellschaftlichen Strukturwandel, Frankfurt a. M. 2001, Kapitel 12)

Abb. 5 Gesellschaftspolitische Lager und soziale Ordnungsmodelle in der Bundesrepublik

heits- und Sozialsystem, den prekären Sektor des Arbeitsmarkt und die immer
noch ungleichen Bildungschancen betreffen. Dabei besteht, jedenfalls einstweilen
in Deutschland, eine andere Gefahr, die eines modernen ›antiseptischen Autorita-
rismus‹. Vor allem neoliberale Eliten vertreten einen Autoritarismus, der, wie Anja
Weiß (2001) nachgewiesen hat, offene ethnozentrische oder autoritär-aggressive
Konnotationen peinlichst vermeidet und zugleich ein sozialdarwinistisches Aus-
leseprinzip verwendet, das soziale Unterschiede ›politisch korrekt‹, mit Unter-
schieden der Leistung und der Bildung, begründet.
Es ist auch ein anderes, konservativ-autoritäres, Szenario möglich. Mit etwa
27% sind die autoritären Potentiale heute zwar zu klein für rechtsextreme Allein-
regierungen, aber doch groß genug, um, mit dem Rückenwind der langen Wirt-
schaftskrise, in nicht wenigen Ländern an die 20% Rechtspopulisten in die Parla-
mente zu bringen. Sie bilden damit die mögliche oder, nicht allein in Italien, schon
tatsächliche Basis von Mitte-Rechts-Regierungen, die autoritäre Politiken teils mit
protektionistischen und teils mit neoliberalen Elementen kombinieren.
Allerdings sind diese Entwicklungen nicht zwangsläufig. Rechtspopulistische
Mobilisierungen haben nur dann Erfolgschancen, wenn zuvor die Volksparteien
die Bindekraft, mit der sie die nachfaschistischen Gesellschaften integriert hatten,
eingebüßt haben. In diesem Falle können größere Wählergruppen von den Christ-
demokraten nach rechts und von den Sozialdemokraten zu den Nichtwählern
wandern. Dies ist nie ein automatischer Prozess gewesen. Die großen Volksparteien
haben dafür selber die Verantwortung, wenn sie mit einer neoliberalen Wirtschafts-
politik die ›kleinen Leute‹ verprellen oder durch tatsächliche oder vermeintliche
Vorteilsnahme ›der Politiker‹ das Vertrauen verspielen.
220 Michael Vester

7. Die Gesellschaft als Zwangszusammenhang oder als Feld


widerstreitender Kräfte: Die schwierigen Lernprozesse
der Sozialwissenschaften

Die diskutierten Alternativen der Entwicklung machen deutlich, dass es darauf


ankommt, ob die Gesellschaft nach einem dualistischen Modell des Oben und
Unten oder Rechts und Links oder nach einem Paradigma der Felddynamiken
verstanden und untersucht wird. Die Frankfurter Schule stand hier in einem
inneren Widerstreit, den sie nicht lösen konnte. Zum einen sah ihre Autorita-
rismusforschung die Vieldimensionalität der psychischen Strukturen und der Ty-
pologien demokratischer und autoritätsgebundener Persönlichkeiten. Zum anderen
wirkte, wie in der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1947 [1944])
vorformuliert, in der Theorie wie in der Methodologie eine Tendenz, den re-
pressiven, manipulativen und autoritären Mächten eine blinde Zwangsläufigkeit
zuzuschreiben.
Mit Blick darauf ist dieser Aufsatz aber nicht nur Kritik, sondern auch eine
Hommage an die Frankfurter Schule. Von Erich Fromm bis zu Theodor Adorno
hat sie eine einzigartige Pionierleistung zum Verständnis des Zusammenhangs von
gesellschaftlicher und individueller Verfassung erbracht. Als erste wissenschaftliche
Richtung hat sie die Mentalitäten großer Segmente der Bevölkerung mit neuen
typenbildenden Methoden empirisch erforscht. Mit ihren Typologien konnte sie
die dauerhaften Grundhaltungen zur Gesellschaft und zur Demokratie erforschen
und damit die gängige Meinungsforschung in den Schatten stellen, die nur ober-
flächliche und kurzlebige Einstellungen zu Einzelfragen »messen« kann. Die Ty-
penbildung war nur durch eine neuartige qualitative Methodologie möglich, die die
Persönlichkeit als »Syndrom« begriff, als mehrdimensionales Gesamtbild, das eine
– etwa durch die Psychoanalyse erklärbare – innere Strukturlogik hatte.
In Werken wie der Authoritarian Personality wurde vor einer isolierten Anwen-
dung ihrer Ergebnisse gewarnt und darauf hingewiesen, dass die autoritären Poten-
tiale nicht automatisch zur Geltung kommen, sondern dass es dazu einer be-
stimmten, von ihr auch untersuchten (Löwenthal/Guterman 1969 [1949]), demago-
gischen Mobilisierung bedarf. Auch auf andere Kontextbedingungen ist immer
wieder hingewiesen worden, auch wenn diese nicht wissenschaftlich ausgearbeitet
wurden. Wenn die vereinfachte »Autorismus-Skala« außerhalb der Frankfurter
Schule als ›objektives Messinstrument‹ des Autoritarismus Karriere machte, dann
ist dies der Verpflanzung eines einzelnen Werkzeugs in einen anderen methodolo-
gischen Kontext geschuldet, mit seiner Illusion, einen komplexen Sachverhalt
einfach eindimensional »messen« zu können, ohne eine Theorie des Syndroms,
ohne eine vertiefende qualitative Forschung und ohne eine Kontextanalyse.
Im Rahmen ihres Paradigmas war die Frankfurter Schule durchaus entwick-
lungsoffen. Nicht zuletzt in ihrem eigenen Umkreis hat es immer wieder kritische
Reflexionen, Nachanalysen und Weiterentwicklungen gegeben, von dem metho-
denkritischen Sammelband von Richard Christie und Marie Jahoda (1954) bis zu
den Arbeiten von Michaela von Freyhold (1971) und Ursula Jaerisch (1975). Mit
dem Gruppendiskussionsverfahren (Pollock 1955, Mangold 1960) wurde zudem
Autoritarismus und Klassenzugehörigkeit 221

eine neue Methodik vorgestellt, mit der die autoritären Schemata auch für größere
Stichproben untersucht werden konnten.
Diese Entwicklung ist, wie dargelegt, an die Grenzen von zwei zentralen
intellektuellen Konventionen und Denkmustern gestoßen. Zum einen hat das
vertikalistische Klassenschema den Blick auf die horizontale Teilung der sozialen
Klassen in mehr autoritätsgebundene und mehr emanzipatorische ›Klassenfraktio-
nen‹, wie Bourdieu sie nannte, verstellt. Zum anderen hat das Elite-Masse-Schema
verhindert, zwischen der Ebene der individuellen Psyche und der Ebene der
Ideologien die Ebene der praktischen Alltagskultur hinreichend in den Blick zu
nehmen.
Dabei wurden gerade diejenigen – in Konkurrenz zur Frankfurter Schule ste-
henden – Forschungsrichtungen, die auf diesen vernachlässigten Feldern der De-
mokratieforschung ihrerseits einzigartige Leistungen erbrachten, unzureichend be-
achtet. Dies traf insbesondere die seit den 1940er Jahren von den Gruppen um Paul
F. Lazarsfeld und Joseph T. Klapper über große empirische Projekte und theo-
retische Arbeit emtwickelte neue Kommunikationssoziologie, die deutlich machte,
dass die von oben kommenden Medienbotschaften nicht unerheblich durch die
Kommunikationfelder der Gruppen und Milieus wie durch die Rezeptionsmuster
der Individuen gefiltert und relativiert werden (vgl. Katz/Lazarsfeld 1955, Klapper
1960). Émile Durkheim, der Begründer des Milieukonzepts und damit der ethnolo-
gischen Sicht auf die Klassenverhältnisse (Durkheim 1988 [1893]), wurde, trotz
seiner emanzipatorischen Ansätze, als Apologet der Entindividualisierung durch
gesellschaftliche Zwänge angesehen. Unbeachtet blieb auch die von Lepsius (1973
[1966]) entwickelte und für die Klassentheorie wesentliche Neuerung, politische
Parteien nicht mehr auf ökonomische Interessen zu reduzieren, sondern als kom-
plexe historische Lagerkoalitionen bzw. »sozialmoralische Milieus« anzusehen.
Auch zu der international diskutierten neuen englischen Kulturtheorie entwickelte
sich, von individuellen Ausnahmen abgesehen, keine Beziehung.
Innerhalb der Frankfurter Schule gab es durchaus einen Pluralismus verschiede-
ner Forschungsbereiche und -ansätze. Dominant in der Autoritarismusforschung
war gleichwohl die Sichtweise, aus der Gruppen und Milieus entweder als Ver-
körperung des Konformismus oder als so fragmentiert erschienen, dass die In-
dividuen noch wehrloser den Manipulationen der Mächtigen und der Medien
ausgesetzt seien. Doch erst wenn die soziale Welt, wie die menschliche Psyche, als
Feld widerstreitender Kräfte verstanden wird, sind, in einem bestimmbaren Spiel-
raum, verschiedene Szenarien oder, wie es heißt, ›Pfade‹ der Entwicklung möglich.
Von den 1970er Jahren an wurde der Generationenwechsel der Frankfurter
Schule zur Chance, die vergangenen Abschließungen von konkurrierenden Dis-
kursen zu durchbrechen und die Arbeit an den Ausgangsfragen der kritischen
Theorie wieder aufzunehmen. Auch wenn nach außen die Nachfolge der Frank-
furter Schule wie die babylonische Sprachverwirrung anmutet, in der das Scheitern
des grandiosen Turmbauprojektes offenbar wurde, haben ihre Impulse an ver-
schiedensten Stellen wichtige Weiter- und Neuentwicklungen angeregt. Dies war
vor allem dann möglich, wenn die kritische Theorie sich nicht auf die Pflege des
Erbes verengte, sondern ohne Furcht vor Identitätsverlust die Wechselwirkung mit
222 Michael Vester

anderen Diskursen suchte. Hierzu war es erforderlich, die eigenen Voraussetzun-


gen zu reflektieren: Wissenschaftliches Denken kann sich selbst blockieren, wenn
es seine Herkunftskultur und deren Position im sozialen Raum wie auch die
konkurrenzförmige Organisation der Wissenschaft verleugnet.

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Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus, Rassismus
und Reaktionen auf Einwanderung
Lena Inowlocki

1. Was ist der Fall?

Eine Vielfalt von Forschungsansätzen untersucht Vorurteilsstrukturen in sozial-


psychologischer, diskursanalytischer und interaktionstheoretischer Hinsicht. Es ist
nicht nur von theoretischem Interesse, dass Gruppen von Menschen für fremd,
minderwertig, perfide und bedrohlich gehalten werden. Das kann sich darauf
auswirken, wie Menschen in einer Gesellschaft begegnet wird und ob sie Gefahr
laufen, verfolgt zu werden. Die Würde, Unversehrtheit und Freiheit Einzelner oder
von Gruppen der Bevölkerung hängt davon ab, dass Vorurteile nicht mobilisiert
werden; Aufklärung trägt dazu bei, stößt aber an Grenzen. Nicht einmal die seit
vielen Jahrzehnten währende gesellschaftliche Konfrontation und Auseinander-
setzung mit dem massiven Zivilisationsbruch durch Nationalsozialismus und Ho-
locaust hat dazu geführt, dass das Bedrohungspotential von Antisemitismus und
Rassismus erschöpft wäre. Zwar ist es einerseits zu einer Diskreditierung und
Bewusstwerdung von Vorurteilsstrukturen gekommen, andererseits aber auch zu
deren Stabilisierung, als Abwehrphänomen und reaktiv als Element nationaler
Identifikation.
Die Untersuchungen der Kritischen Theorie zu den gesellschaftlichen und
sozialpsychologischen Mechanismen von Antisemitismus und Rassismus werden
gegenwärtig in einigen Forschungsansätzen aufgegriffen und weiter entwickelt.
Vielfach gelten sie aber auch als »Klassiker«, die im Regal stehen bleiben. Dazu
trägt möglicherweise eine Rezeption bei, die auf der einen Seite die empirischen
Untersuchungen zur »Autoritären Persönlichkeit« der sozialpsychologischen For-
schung zuordnet und auf der anderen Seite die Dialektik der Aufklärung der
Philosophie und soziologischen Theorie. Beide Arbeiten sind aber während des
amerikanischen Exils entstanden, auch in Bezug aufeinander. In der Zusammen-
arbeit von Max Horkheimer und Theodor W. Adorno an den »Philosophischen
Fragmenten«, die 1947 als Dialektik der Aufklärung veröffentlicht wurden, sowie
in dem interdisziplinären Forschungsprojekt zur Authoritarian Personality, an dem
sich Adorno beteiligte, wurden Antisemitismus und Autoritarismus in theore-
tischer und empirischer Hinsicht erforscht. Gerade aus diesen Arbeits- und For-
schungserfahrungen entwickelten sich, wie ich zeigen möchte, zentrale Perspekti-
ven einer gesellschaftskritischen Theoriebildung nicht nur transzendenter, sondern
auch immanenter Kritik gesellschaftlicher Lebensbedingungen.
Im Folgenden beziehe ich mich auf einige Aspekte der Berkeley-Studie zur
»Authoritarian Personality« sowie auf Adornos Analysen von Propaganda-Reden,
die mir für eine Analyse von Vorurteilsstrukturen und deren Propagierung in der
Gegenwart als besonders relevant erscheinen. Bei vielen Unterschieden zeichnen
226 Lena Inowlocki

sich auch Parallelen zur neueren qualitativ-interpretativen Sozialforschung ab, die


sich auf andere Wissenschaftstraditionen gründet. Eine Übereinkunft sehe ich
darin, dass für die Kritik gesellschaftlicher Lebensbedingungen, institutioneller
Fremdbestimmung und sozialer Stigmatisierung einem Subjektbegriff Schlüssel-
funktion zukommt, der Handeln nicht nur als Initiative, Planung und Entschei-
dung definiert, sondern dazu auch die Anstrengungen zählt, prekäre und schwer
bestimmbare Lebensverhältnisse zu gestalten und in Erleidensprozessen gegenzu-
steuern. Eine weitere Übereinkunft liegt, so meine ich, darin begründet, dass
gerade die Rekonstruktion von Einzelfällen gesellschaftliche und politische Dimen-
sionen als strukturelle Bedingungen von Handeln und Erleiden aufzeigen kann.
Aus dieser Sichtweise heraus spreche ich auch von »kritischer Theoriebildung«, um
gerade die Aspekte Kritischer Theorie zu akzentuieren, die in der qualitativ-
interpretativen Sozialforschung stärkere Beachtung verdienten, um sich mit ihnen
auseinander zu setzen. Es geht hier, mit anderen Worten, um roots und insbe-
sondere um routes, also eine Klärung der Vorgehensweisen subjektgerichteter,
gesellschaftskritischer Forschung.
Gerade das Verhältnis zwischen Fallrekonstruktion und einer theoretischen
Bestimmung dessen, was in gesellschaftlicher Hinsicht der Fall ist, gehört zu den
soziologischen Grundfragen, die das Wirklichkeitsverständnis und auch das pro-
fessionelle Selbstverständnis von Forschern betreffen und dazu führen können,
dass der jeweils anderen Fraktion streitig gemacht wird, angemessene und sinnvolle
Aussagen und Erklärungen abzugeben. Die Fraktionslinien verlaufen zwar noch
teilweise zwischen Verfechtern quantitativer und qualitativer Vorgehensweisen der
Forschung, es ist aber schon erwiesen, dass beide Arten von Vorgehensweisen auf
produktive Weise in Untersuchungen integriert sein können. Strittig bleibt den-
noch die Bedeutung des Einzelfalls. Aus der Sicht vieler Forscher ist er eine
quantité négligéable: er dient der Illustration, aber nicht der Theoriebildung.
Dazu möchte ich diskutieren, inwiefern der Analyse des Einzelfalls ein erkennt-
nistheoretisches Potential zukommen kann, das auf subjektive und kollektive
Wirkungsweisen von Vorurteilsstrukturen, auf deren strukturelle Bedingungen
hinweist, und mich auch darauf beziehen, wie es sich mit der Analyse von
Einzelfällen in der Forschung der Kritischen Theorie zu Vorurteilsstrukturen und
zu Propaganda verhält.
Schließlich werde ich wenigstens einige Fragen dazu stellen, inwiefern sich die
Analysen zu Antisemitismus und Rassismus auf die Untersuchung von Reaktionen
auf Einwanderung übertragen lassen.
Beginnen möchte ich mit einem Beispiel dafür, dass das Erklärungspotential
eines Einzelfalles nicht ausgeschöpft wird, wenn dieser nur zur Illustration dienen
soll und zentrale gesellschaftliche und politische Dimensionen, die sich aus diesem
Fall erschließen, nicht thematisiert werden.
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 227

2. Ein Beispiel: der Einzelfall, der nur Illustration sein soll

Bei diesem Beispiel beziehe ich mich auf die 14. Jugendstudie der Deutschen Shell
(2002), in der es um das Politikverständnis Jugendlicher geht. Dazu gehören
Fragen, die sich auf demokratische oder aber autoritäre Einstellungen und auf
Haltungen gegenüber Fremden beziehen. Es wird eine Typenbildung vorgestellt,
die aus »Idealisten«, »Unauffälligen«, »Machern« und »Materialisten« besteht.
Unter Bezug auf Herbert Marcuse wird darauf verwiesen, dass rechtsextreme
Jugendliche als diejenigen, die sich rücksichtslos für den eigenen materiellen Nut-
zen und Machtvorteil durchsetzten, potentiell unter den »Materialisten« zu veror-
ten seien. Als aktuell interessanter Typus wird der des »Machers« diskutiert.
Nach den Ergebnissen der repräsentativen Befragung werden fünf ausführliche
Porträts »engagierter Jugendlicher« vorgestellt; es ist nicht ersichtlich, ob sie
Beispiele für »Idealisten« oder »Macher« sein sollen. Dazu zählen eine Green-
peace-Aktivistin, ein Junger Liberaler, eine Attac-Aktivistin, ein Organisator des
Störtebeker-Netzes und ein Aktivist gegen Internet-Zensur. Der vierte in dieser
Reihe »engagiert sich für eine nationale Wende«, sein Porträt ist mit einem Inter-
viewzitat betitelt: »Wenn man eine Überzeugung hat, ist das die Hauptsache«. In
der zweiseitigen Zusammenfassung erfahren wir über Robert R.: Nach dem »Mit-
schwimmen in der rechten Szene«, während der »üblichen Alkohol-Exzesse«,
»wurde er straffällig und schließlich wegen Körperverletzung für 12 Monate in der JVA
Neubrandenburg inhaftiert. In dieser Zeit wurde er intensiv von der »›Hilfsgemeinschaft
nationaler Gefangener‹« (HNG) betreut, für die er heute ebenfalls tätig ist. Mit deren Hilfe
beschloss er, seine politischen Ziele nicht mehr in Schlägereien zu artikulieren, sondern »›in
geordneten Bahnen‹« politisch aktiv zu sein.« (2002, S. 332)

Ferner lesen wir:


»Politik bedeutet für ihn in erster Linie, seine Meinung vertreten zu können. ›Wir haben
Meinungsfreiheit und dass wir das auch sagen dürfen, was wir wollen. Uns nicht verstecken
müssen.‹ Sein ideales politisches System ist das des ›Dritten Reiches‹.« (2002, S. 333)

In der Zusammenfassung und dem nachfolgenden achtzehnseitigen Interview steht


vieles, dass Aufschluss über rechtsextreme Überzeugungen geben kann sowie
darüber, wie sie vertreten werden. Es gibt auch Anhaltspunkte dafür, wie diese
Überzeugungen für einen Jugendlichen wie Robert R. zum Schwerpunkt seiner
Selbstthematisierung werden konnten, zum übergreifenden biographischen Thema.
Allerdings wird dies nicht herausgearbeitet, das Interview dient ebenso wie die
anderen dazu, die Vielfalt politischer Aktivitäten Jugendlicher, insbesondere im
Internet, zu zeigen. Es wird nicht einmal erklärt und kommentiert, worauf sich
Robert R. bezieht. So erscheint die HNG als eine Art sozialarbeiterischer Verein,
der im öffentlichen Interesse eine Resozialisierungsaufgabe erfüllt, indem inhaf-
tierte Gewalttäter betreut werden und versucht wird, sie »auf die richtige Bahn zu
kriegen« (340). Kein Kommentar weist darauf hin, dass die »Hilfsgemeinschaft für
nationale politische Gefangene und deren Angehörige e. V.« eine neonazistische
Vereinigung ist, die seit ihrer Gründung 1979 viele inhaftierte Jugendliche rekru-
tiert hat.
228 Lena Inowlocki

Hier interessiert insbesondere, wie es zu verstehen ist, dass die unkommentierte


Selbstdarstellung des rechtsextremen Aktivisten Robert R. und seiner Ȇber-
zeugung« als eines von fünf Porträts »engagierter Jugendlicher« in die Shell-Studie
aufgenommen wurde. Inwiefern werden hierdurch Leser der Shell-Studie infor-
miert? Was bedeutet es für die öffentliche und die wissenschaftliche Diskussion zu
politischen Einstellungen und zum politischem Engagement Jugendlicher?
Informativ an dem relativ ausführlich wiedergegebenen Interview ist der lebens-
geschichtliche Zusammenhang der Elemente rechtsextremer Ideologie, der in Um-
fragen nicht auftaucht. So wird deutlich, um einige Aspekte zu nennen, dass Robert
R. propagandistische Aktivitäten im Internet und im Rahmen der HNG als Arbeit
ansieht; diese Arbeit gehört für ihn neben seiner Ausbildung zum Koch auf
strukturierende Weise zum Tagesablauf, gleichzeitig fasst er sie als Pflichterfüllung
auf. Er begreift die politische Mobilisierung von Schülern, vor allem an Haupt-
schulen, als wichtiges Betätigungsfeld. Zwar bedauert er, dass seine Eltern ihn dazu
gedrängt haben, statt des Realschulabschlusses eine Ausbildung zu machen, er
nimmt aber immer noch die autoritäre Perspektive ein, wenn er von sich selbst
sagt, er sei ein schwieriges Kind gewesen. Bereits als Kind hat er sich – in der DDR
– für NS-Militärführer interessiert; möglich wäre, dass dieses Interesse von seinen
Großeltern initiiert wurde. Hinzu kommen weitere ideologische Elemente, die
argumentativ begründet werden, beispielsweise eine stark eingeschränkte Gleich-
berechtigung für Frauen, da nur Männer autoritäre Führung übernehmen könnten;
einen zu hohen politischen Einfluss »der Juden«, eine verklausulierte Leugnung des
Holocaust (»Gruppen, die im Nationalsozialismus als verfolgt galten«); eine –
ebenfalls verklausuliert formulierte – prinzipielle Andersartigkeit »der Ausländer«;
die Erwartung des Zusammenbruchs des »amerikanischen Weltsystems«, der deka-
denten deutschen Konsumgesellschaft und der Etablierung einer rechten Herr-
schaft (mit der persönlichen Erwartung, nach einer »nationalen Wende« Bürger-
meister zu werden).
Die lebensgeschichtlichen Zusammenhänge und die Argumentationen werden
jedoch in der Shell-Studie nicht diskutiert, es wird auf dieses Interview überhaupt
nicht eingegangen und auch nicht auf den Rechtsextremismus Jugendlicher als
Gruppen- und Massenphänomen. Es findet sich in der Studie insgesamt nur eine
kurze Erklärung, die »extremistische Politorientierungen als männliche Problem-
bewältigungsstrategie« ausweist und auf andere Untersuchungen Bezug nimmt, die
»bestätigen, dass extremistische Orientierungen auf den subjektiven Eindruck von
Jugendlichen verweisen, die Kontrolle über die Gestaltung wichtiger Lebens-
bereiche verloren zu haben und in die soziale Isolation zu geraten«; besonders
junge Männer aus den neuen Bundesländern »sind anfällig für rechtsgerichtete
Aggressionen gegen Schwächere« (2002, S. 42).
Dass rechtsextreme Jugendliche Schwächere anfallen, weil sie selbst »anfällig«
sind, stellt eine missverstandene subjektbezogene Perspektive da, aus der heraus
gerade nicht erklärt wird, was der Fall ist. Die Leerstelle eines kritischen Sub-
jektbegriffs in dieser soziologischen Herangehensweise wird durch ein scheinbares
»Verstehen« aufgefüllt, das einem alltagstheoretischen Verständnis nahe kommt.
Wie sind sie zu Tätern geworden? Erst die fallrekonstruktive Analyse kann sowohl
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 229

ihr Handeln als auch dessen Bedingtheit und Verstrickungen klären und damit, auf
welche Weise sie zu Exponenten gesellschaftlicher Konfliktfelder werden konnten;
welches, mit anderen Worten, die biographischen, gruppen- und familienspezifi-
schen, gesellschaftlichen und politischen Bedingungen, dann die Prozesse und
Mechanismen ihrer Gruppenzugehörigkeit sind, die ihre Täterschaft ermöglichen.
Ansetzen sollte dies daran, was sie thematisieren, wie sie sich äußern und selbst
präsentieren.
In der Darstellung von Robert R. wird ausgespart, was er getan hat und nur
erwähnt, dass er straffällig und inhaftiert wurde. Auch was er sagt, spielt keine
Rolle. Dass er die Zeit des Nationalsozialismus für die beste hält, die es je in
Deutschland gegeben hat, Demokratie ablehnt und das Recht auf freie Meinungs-
äußerung instrumentell auffasst, um Propaganda zu verbreiten, hindert nicht, sein
»politisches Engagement« wie das der anderen Jugendlichen zu werten. Vielleicht
soll diesem Interview einer Extremismus-Theorie folgend der Stellenwert zu-
kommen, »rechtsextremes« Engagement zu repräsentieren, gegenüber den »links-
extremen« Positionen einer Attac- bzw. einer Greenpeace-Aktivistin? In jedem Fall
wird nicht thematisiert, was rechtsextremes Engagement auf grundsätzliche Weise
charakterisiert und unterscheidet.1
Der Verzicht auf Thematisierung und Problematisierung hat zur Folge, dass
rechtsextreme Äußerungen als unspezifisch erscheinen. In einer missverständlichen
Pluralität »politischer Einstellungen« geht es dann scheinbar nur darum, dass
Jugendliche überhaupt eine »Überzeugung« haben, als wäre das bereits eine demo-
kratische Errungenschaft. Insofern erscheint die kommentarlose und unkritische
Wiedergabe der Äußerung von Robert R., »Wenn man eine Überzeugung hat, ist
das die Hauptsache«, als programmatisch.
Der Verzicht auf die Interpretation eines Einzelfalls beinhaltet mit der Entschei-
dung über die Vorgehensweisen empirischer Forschung auch, ob überhaupt und
inwiefern gesellschaftliche und politische Dimensionen und Zusammenhänge er-
kennbar werden. Gerade Einzelfallanalysen und ein kritischer Subjektbegriff kön-
nen soziale Prozesse und allgemeine Strukturen von Handlung und Interaktionen
erschließen. An einigen Aspekten der Untersuchungen der Kritischen Theorie und
an Beispielen neuerer Forschung möchte ich dies zeigen, nach einer kurzen Dar-
stellung einiger Grundüberlegungen Kritischer Theorie zu Vorurteilsstrukturen.

1 Die kritische Unterscheidung wäre auch deshalb wichtig, weil es in der medialen Dar-
stellung von Rechtsextremen neuerdings zu einer Veralltäglichung kommt, indem ganz
nebenbei und unkommentiert proponentenseitige Schilderungen als Lokalkolorit über-
nommen werden. Beispielsweise wird in einem Magazin-Beitrag über Jugendliche ohne
eigenen festen Wohnsitz ein Junge zitiert, der erklärt, dass er nur bei Bekannten über-
nachte, die »sauber« seien: »Holger ist Nazi, und alle Nazis sind sauber«, sagt André. »Da
gibt’s ein richtiges Wohnzimmer mit Sitzgarnitur, gehäkelter Tischdecke und Bildern an
den Wänden« (chrismon. Das evangelische Magazin, 12/2002, S. 41). Ohne darauf in
irgendeiner Weise Bezug zu nehmen, fährt der Bericht dann fort. So werden Rechts-
extreme zu einem scheinbar ganz selbstverständlichen Bestandteil unserer komplexen,
kontrastreichen (und, wie in diesem Magazin-Beitrag, trotz allem werteorientierten)
Moderne.
230 Lena Inowlocki

3. Vorurteilsstrukturen in der Kritischen Theorie

Warum handeln Menschen gegen ihre eigenen Interessen, warum unterwerfen sie
sich selbst und andere repressiver Vergesellschaftung, die ihnen ihre Freiheit und
ihre Möglichkeiten des Glücksempfindens nimmt? Die vielfältigen persönlichen,
ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Unterdrückungszusammen-
hänge, denen die Subjekte unterliegen, sind komplex und teilweise schwierig zu
erkennen.
In der Perspektive der Kritischen Theorie sind die Subjekte sich selbst ent-
fremdet, ihre Wahrnehmung und Selbsterkenntnis wird durch Fremdbestimmung
dominiert. Im Antisemitismus äußert sich die fatale Illusion, Macht zu besitzen,
scheinbar die Ursachen ihrer Unterdrückung zu erkennen, deren Urheber personi-
fizieren und ausschalten zu können. Indem Subjekte antisemitische Vorurteile
reproduzieren, sich von Juden verfolgt wähnen, als einem Gegner, den sie »durch-
schauen« können, eröffnet sich ihnen darüber ein Code, mit dem sich die Welt
erklären lässt. Im Besitz dieses untergründigen und hintergründigen »Wissens«,
wähnen sie sich gleichzeitig als Teilhaber an einer machtvollen Gemeinschaft der
Antisemiten. Abhängig davon, wie in politischen und gesellschaftlichen Macht-
verhältnissen Antisemitismus funktionalisiert wird, kann die antisemitische Hal-
tung auch zu realem Machtgewinn führen. Der eigentliche Unterdrückungszusam-
menhang gesellschaftlicher Herrschafts- und Ausgrenzungspraktiken wird dabei
weiter verdeckt, die ihrer Individualität und Subjektivität beraubten Subjekte
werden gerade an die Strukturen gebunden, die sie fortwährend demütigen, sie
ihrer Lebensmöglichkeiten und Glücksempfindungen berauben. Die gesellschaft-
lich Ohnmächtigen werden als Konsumenten einer Kulturindustrie eingebunden,
in ihrer narzisstischen Bedürftigkeit ausgebeutet und manipuliert; in der affirma-
tiven Formulierung »es denken doch alle so« privatisiert sich das öffentliche
Bewusstsein in eine »Alltagsreligion«, die »aus Meinungen ein gegen Aufklärung
resistent gewordenes System macht«, das sich gegen den kritischen Gedanken
sperrt (Claussen 1995, S. 22).
Die Beraubung von Lebensmöglichkeiten, als eine »strukturelle Verhärtung des
Subjekts« (Adorno/Horkheimer 1975 [1952]), ist bereits im Wesen der bürger-
lichen Ordnung begründet, ebenso wie die Disposition zu Autoritarismus und
Antisemitismus. Dazu kommt, wie Rensmann2 (2001, S. 12) ausführt, dass die
»fortschreitenden sozialen Bedingungen von Isolation, Unterwerfung, Anpas-
sungsdruck und Entsagung« in einer zunehmenden Schwächung von unabhän-
gigem Bewusstsein und Gewissen münden. Nicht nur bei Faschisten und Anti-

2 In seiner kürzlich erschienenen Studie zur empirischen Forschung und den theoretischen
Überlegungen der Kritischen Theorie zum Antisemitismus untersucht Lars Rensmann
(2001) deren Erklärungspotential und Aktualität, auch hinsichtlich einer politischen
Theorie und einer Psychologie zum gegenwärtigen Antisemitismus in der Bundesrepu-
blik.
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 231

semiten, sondern bei allen Gesellschaftsmitgliedern dominierten autoritär-aggres-


sive Charakterdispositionen und stereopathische Mentalitäten, da sie als entschei-
dungsfähige Individuen geschwächt seien. In der Form von »Lebensneid« (Lö-
wenthal 1982) gegen die wirklich oder vermeintlich Genussfähigen verdichteten
sich autoritäre Persönlichkeitsstrukturen in einer antisemitischer Paranoia, »die die
aggressiv entstellten Bedürfnisse wie auch die sozialen Ängste und Ohnmachts-
erfahrungen der Menschen aufgreife: Judenphobie verspreche ein ›erlaubtes‹
Schwelgen in verleugneten Bemächtigungs-, Bestrafungs- und Zerstörungsgelüsten
gegenüber denjenigen, denen lustvolles Dasein nicht verwehrt scheint« (Rensmann
2001, S. 12).
Die zentrale These betrifft dabei die Entstehung der strukturellen Disposition
zu Autoritarismus und zu Antisemitismus aus dem gesellschaftlichen »›Fortschritt
barbarischer Beziehungslosigkeit‹« (Rensmann 2001, S. 11), also direkt aus der
Dialektik der Vergesellschaftung, das heißt, der fortschreitenden Beherrschung und
erbrachten Anpassung heraus. Antisemitismus entsteht also nicht als Nebenpro-
dukt der Moderne, er entwickelt sich mit dem Autoritarismus, der die Moderne
charakterisiert.
Als psychosoziale Disposition dient der Antisemitismus als »personifizierende
Erklärung der undurchschauten kapitalistischen Moderne«; zugleich »repräsentie-
ren Juden auch die universalistischen Ideen von Freiheit, Gleichheit und Emanzi-
pation, die die bürgerliche Gesellschaft versprochen, jedoch nicht verwirklicht hat«
und verweisen »auf die verdrängten und entstellten Spuren der Erinnerung, an das
von der Herrschaft Versäumte, an Glück ohne Macht, Wohlstand ohne Arbeit,
Heimat ohne Grenzstein« wie es Max Horkheimer und Theodor W. Adorno in der
Dialektik der Aufklärung schreiben.
Dieser Erklärungsansatz der Kritischen Theorie beinhaltet den ausdrücklichen
Verzicht darauf, den NS-Antisemitismus aus einer deutschen Besonderheit heraus
zu erklären. Als Ursachen galten Horkheimer und Adorno die allgemeine Ent-
wicklung der Moderne, deren Repressivität und ideologische Manipulation, wie sie
es zuvor in den Studien über Autorität und Familie (1936) dargelegt hatten.
Angesichts des Ausmaßes der Verfolgung der Juden in Deutschland kamen Adorno
und Horkheimer zu dem Schluss, dass Antisemitismus das zentrale Phänomen sei,
um totalitäre staatliche Machtkonzentration und Gesellschaft überhaupt zu ver-
stehen. In den »Philosophischen Fragmenten«, der Dialektik der Aufklärung,
fassten sie abschließend ihre Erkenntnisse zu den »Elementen des Antisemitismus«
als »Grenzen der Aufklärung« in sechs Thesen zusammen; bei der Veröffentlichung
im Jahre 1947 kam eine siebte These hinzu.
Nach der Rückkehr in die Bundesrepublik analysierten Adorno und Hor-
kheimer einen »sekundären Antisemitismus«. Der beinhaltet die Elemente des
modernen Antisemitismus, nimmt sie jedoch in einer spezifisch ›deutschen‹ Form
auf: »hervorgegangen aus dem deutschen Vernichtungsantisemitismus, verknüpft
mit der deutschen Vergesellschaftung nach Auschwitz«. Die ›sekundäre‹ Form
besteht in den sozialpsychologischen Dispositionen der »Erinnerungsabwehr«
(Horkheimer/Adorno 1985 [1959]) gegenüber dem Holocaust: »Demnach kann die
aggressive Psychodynamik einer Verweigerung, sich mit Auschwitz und deutscher
232 Lena Inowlocki

Täterschaft zu konfrontieren, in Ressentiments gegenüber Juden umschlagen, die


die Erinnerung an den Völkermord repräsentieren« (Rensmann 2001, S. 16).3
Ich beschränke mich hier ohne weitere Vertiefung auf diese kurze Darstellung
zur Kontextualisierung der empirischen Forschung der Kritischen Theorie, die ich
im Folgenden beschreiben möchte.

4. Die empirische Erforschung antisemitischer und antidemokratischer


Ideologie-Empfänglichkeit

Die Arbeit am großen Forschungsprojekt zur Vorurteilsbereitschaft von Ange-


hörigen der US-amerikanischen Mittelschicht wurde 1943 aufgenommen. In der
detaillierten Rekonstruktion von Rolf Wiggershaus (1988, S. 390ff.) wird deutlich,
inwiefern es gerade die bestimmten Bedingungen des US-amerikanischen Exils
waren, in denen es überhaupt zu einer empirischen Forschung kam. Als Weg-
bereiter der Förderung eines Forschungsvorhabens zum Verhältnis von Demokra-
tie, Rassismus und Antisemitismus sieht Wiggershaus die Untersuchung von Gun-
nar Myrdal, dem 1937 von der Carnegie Corporation großzügige Forschungsmittel
gegeben wurden, um das sogenannte »Negro Problem« zu untersuchen, als ein
»American Dilemma«, das Demokratie und Freiheit einschränkte. Zeitgeschicht-
lich kam hinzu, dass nach den Pogromen der »Reichskristallnacht« im Jahre 1938
die Flucht deutscher Juden einsetzte, ihnen aber bis auf eine kleine Zahl wegen der
restriktiven Visa-Bestimmungen die Einreise in die USA verwehrt blieb. Diese
Bestimmungen wurden von Regierungsseite paradoxerweise mit Befürchtungen
begründet, dass der schon spürbare Antisemitismus in den USA durch eine große
Anzahl jüdischer Flüchtlinge sich noch steigern und dies wiederum ungünstige
Auswirkungen auf die Kriegsbemühungen der Alliierten haben würde.
In dieser Situation bemühte sich vor allem der ebenfalls aus Frankfurt a. M. –
über London – emigrierte Sozialökonom Franz Neumann, Autor von Behemoth:
The Structure and Practice of National Socialism (1942), für das Institute of Social
Research mehrere Jahre lang nachdrücklich um eine Förderung des Antisemi-
tismus-Forschungsprojekts. Er erkannte schon früh, »that anti-Semitism will be-
come much more powerful than ever before because it will be fused with a
definitely Fascist movement« (Neumann an Horkheimer, 20.12.41, zitiert nach
Wiggershaus 1988, S. 393 f.). Im März 1943 wurde schließlich eine Mitfinanzierung
durch das American Jewish Committee zugesagt. Ein Hauptteil der Forschung,
zum »totalitarian type and its political functions«, wurde in New York unter
Leitung von Friedrich Pollock durchgeführt, unter Mitarbeit von Leo Löwenthal
u. a.; der andere Hauptteil, »psychological research«, in Kalifornien unter Leitung
von Max Horkheimer und der Mitarbeit von u. a. Theodor W. Adorno. Beider

3 In einer merkwürdigen Verkehrung kann gerade die Besonderheit, den Holocaust verur-
sacht zu haben, in einen nationalen Mythos umgedeutet werden; vgl. hierzu Apitzsch
(2000).
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 233

gemeinsame Theorie-Arbeit an den »Philosophischen Fragmenten«, der späteren


Dialektik der Aufklärung, war nun mit dem empirischen Antisemitismus-For-
schungsprojekt verschränkt.
Zuvor war Horkheimer lange skeptisch und zurückhaltend gegenüber Neu-
manns Bemühungen gewesen. Er zweifelte an der Förderungsbereitschaft des AJC
und war auch ambivalent gegenüber dem Forschungsthema, wie Wiggershaus
darlegt:
»Das Selbstbild einer in splendid isolation lebenden Gruppe von Theoretikern, von Fremden
über den Kulturen, die ihre Verbindung zum Judentum lediglich in der Verwandtschaft
gewisser Denkmotive sahen, würde bei einer eingehenden Beschäftigung mit Antisemitismus
und Judentum schwerlich aufrechtzuerhalten sein. Es würde einem nüchternen weichen
müssen: dem Eingeständnis der Zugehörigkeit zur jüdischen Minorität, der ihre jüdischen
Identitäten ungeachtet interner Differenzen und ohne Rücksicht auf die unterschiedlichen
Grade der Assimilationsbereitschaft von außen aufgezwungen wurde. So war es vielleicht das
schließliche Zustandekommen des Forschungs-Auftrags des AJC, was bewirkte, dass der
Antisemitismus wirklich zum ausdrücklichen Forschungsgegenstand wurde.« (Wiggershaus
1988, S. 397)
Eine skeptische Haltung nahmen Horkheimer und Adorno auch gegenüber psy-
chologischen Erklärungsansätzen und Forschungsmethoden ein, wie es in einem
Brief von Horkheimer an Herbert Marcuse vom 17. 7. 1943 deutlich wird:
»The tendencies in people which make them susceptible to propaganda for terror are
themselves the result of terror, physical and spiritual, actual and potential oppression. If we
could succeed in describing the patterns, according to which domination operates even in the
remotest domains of the mind, we would have done a worth while job. But to achieve this
one must study a great deal of the silly psychological literature and if you could see my notes,
even those which I have sent to Pollock on the progress of our studies here you would
probably think I have gone crazy myself. But I can assure you that I am not losing my mind
over all these psychological and anthropological hypotheses which must be examined if one
wants to arrive at a theory on the level of present-day knowledge.« (Horkheimer GS Bd. 17,
S. 464)
Im weiteren Verlauf des Forschungsprojekts unter dem Titel einer »Psychologie
des Antisemitismus« knüpfte Horkheimer dann aber an eine Fragebogen-Unter-
suchung von Studentinnen an der Universität Berkeley, in Verbindung mit dem
projektiven Thematic-Apperception-Test große Hoffnungen, um den wissenschaft-
lichen Beweis zu liefern, dass Antisemitismus ein Symptom tiefer Feindseligkeit
gegenüber der Demokratie sei, um dadurch vor allem Pädagogen und Lehrer
aufzurütteln (Horkheimer an Pollock, 25. 3. 1944, nach Wiggershaus 1988,
S. 402 f.).
Von der Berkeley-Untersuchung, die 1950 unter dem Titel The Authoritarian
Personality veröffentlicht wurde, sind bis heute nur die Beiträge von Adorno auf
Deutsch veröffentlicht worden, als Studien zum autoritären Charakter (Adorno
1973; im Folgenden zitiert nach 1995). Die Beiträge der anderen Forscher, der aus
Wien emigrierten Psychoanalytikerin Else Frenkel-Brunswik, der psychoanalytisch
orientierten Sozialpsychologen Daniel J. Levinson und R. Nevitt Sanford und
weiterer Mitarbeiter sind aber für einen Gesamteindruck dieses Projekts, das von
Adorno ausdrücklich als Gruppenforschungsprojekt erlebt und verstanden wurde,
234 Lena Inowlocki

sehr wichtig, weil sie den Gang und die Entwicklung der Untersuchung deutlich
machen – dies auch gerade deshalb, weil das Gesamtmanuskript wegen Adornos
Abreise nach Frankfurt a. M. nicht mehr redigiert wurde. So zeigen sich sowohl die
Stärken als auch die Schwächen dieses Unternehmens, dessen Aufgabe darin be-
stand, die potentielle Empfänglichkeit für faschistische, antisemitische und all-
gemein anti-demokratische Meinungen bei Angehörigen der weißen Mittelschicht
herauszufinden, die in den USA geboren (und nicht-jüdisch) waren. Die in-
dividuelle Charakterstruktur oder personality wird dabei keineswegs als etwas
Gegebenes, Fixiertes verstanden, sondern entwickelt sich vielmehr »unter dem
Druck der Umweltbedingungen und kann niemals vom gesellschaftlichen Ganzen
isoliert werden«, wie es in der Einleitung heißt (1995, S. 7). Angehörige ver-
schiedener Ausbildungs- und Berufsgruppen wurden mit Fragebögen befragt,
anschließend wurden diejenigen interviewt, die sich durch ausgeprägte oder auch
(relativ) abwesende antisemitische Vorstellungen charakterisierten. An Freuds Psy-
choanalyse orientierte Kategorien der Persönlichkeitsentwicklung dienten als In-
terpretationsfolie für die Interviews, um eine Theorie der Vorurteilshaftigkeit und
der Autoritätsgebundenheit auszuarbeiten. Im Verlauf des Forschungsprojekts ver-
schob sich der spezifische Schwerpunkt hinsichtlich antisemitischer Vorurteile, wie
Adorno erklärt: »Das führte schließlich dazu, daß wir unsere Hauptaufgabe nicht
darin sahen, den Antisemitismus als sozialpsychologisches Phänomen per se zu
analysieren, sondern vielmehr darin, die Beziehungen minoritätenfeindlicher Vor-
urteile zu umfassenderen ideologischen und charakterologischen Konfigurationen
zu untersuchen« (1995, S. 108).
Explizit wird diese Neufokussierung der Fragestellung in der Analyse zweier
Einzelfälle durch R. Nevitt Sanford ausgearbeitet. »Mack« und »Larry«, zwei
College-Studenten, die zunächst einige Ähnlichkeiten aufweisen, in ihrem Wahl-
verhalten (Republikaner) und in bestimmten politischen und gesellschaftlichen
Einschätzungen (sie sind gegen das »New Deal«), unterscheiden sich dann aber
darin, dass Mack Vorurteile gegen Juden sowie gegen andere Bevölkerungsgruppen
äußert, Larry sich jedoch ausdrücklich gegen jede Form der Diskriminierung
ausspricht und sich das auch darin zeigt, wie er über Angehörige von Minderheiten
redet. Sanford arbeitet heraus, dass Macks politische Einstellungen im Unterschied
zu denen Larrys zwar konservativ erscheinen, genaugenommen aber pseudo-
konservativ sind. Sein Eintreten für einen rugged individualism, »which apparently
expresses the liberal concept of free competition among independent and daring
entrepreneurs, actually refers more often to the uncontrolled and arbitrary politics
of the strongest powers in business – those huge combines which as a matter of
historical necessity have lowered the number of independent entrepreneurs«
(Adorno u. a. 1950, S. 50). Im Pseudo-Konservatismus, wie er sich bei Mack zeige,
gebe es eine grundlegende Bereitschaft, einen totalitären politischen Umsturz zu
befürworten.
Der Befund, dass Mack über die Juden ganz ähnlich wie über andere Minoritä-
ten und politische Gruppen spricht, denen er ablehnend bis feindselig gegenüber-
steht, führt Sanford zu dem Schluss, »that we are faced here not with a particular
set of political convictions and a particular set of opinions about a specific ethnic
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 235

group but with a way of thinking about groups and group relations generally«
(ebd., S. 51).
Um solche tiefliegenden antidemokratischen Einstellungen analysieren zu kön-
nen, wurde nach den Diagnose-Kriterien der Antisemitismus (A-S) und Ethnozen-
trismus (E)-Skalen anschließend eine Skala zum Politisch-Ökonomischen Kon-
servatismus (PEC) entwickelt. Dies bildete insgesamt die Grundlage für das Ana-
lyse-Instrument der Faschismus (F)-Skala, zur Messung impliziter antidemokra-
tischer Züge. Die F-Skala wurde nach Adornos Rückkehr nach Frankfurt
weiterentwickelt, als eine der ersten empirischen Forschungen am neugegründeten
Institut für Sozialforschung unter Horkheimers Leitung (hierzu ausführlich Demi-
rovic 1999, Kap. 3 und 4).
Die Entwicklung der Skalen wurde nach meinem Eindruck überhaupt erst aus
den beiden Einzelfall-Studien zu Mack und Larry möglich. Dies wird aus den
einzelnen Beiträgen der Authoritarian Personality deutlich, die gleichzeitig auch ein
Dokument der Zusammenarbeit und der gemeinsamen Diskussionen in der For-
schergruppe sind. Beispielsweise wurde eine verkürzte Form der Antisemitismus-
Skala auch darüber validiert, dass sie den beiden College-Studenten vorgelegen
hatte, und im Verhältnis zu deren Fallstudien interpretiert wurde (Sanford 1950,
S. 89–92). Dass Fallstudien die interpretative Grundlage der Umfrage-Entwicklung
bildeten, wird allerdings aus den auf deutsch veröffentlichten Auszügen der Stu-
dien zum autoritären Charakter nicht ersichtlich. Es fehlen nicht nur die ent-
sprechenden Beiträge Sanfords, sondern auch die Beispiele, die sich auf die Fall-
studien beziehen (vgl. Anm. 21 zur Schlussbemerkung, 1995, S. 1014). Vielleicht
geht es zu weit zu sagen, dass diese »Aussparung« die Rezeptionsgeschichte der
Authoritarian Personality in Deutschland prägte. Auf jeden Fall erschließt sich
durch die Berücksichtigung der zentralen Rolle der beiden Fallstudien aber eine
Perspektive, die der gemeinsamen Zusammenarbeit in der Forschergruppe und
ihrer interpretativen Forschungspraxis die Bedeutung gibt, die ihr zukommt. Der
Eindruck eines »einsamen Theoretikers«, der viele der nachfolgenden Genera-
tionen von Studierenden davon abgehalten haben kann, Arbeiten von Adorno zu
lesen, könnte auch dadurch verändert werden, dass gerade auf seine Forschungs-
praxis aufmerksam gemacht würde.
Die empirische Forschung, auf die sich Horkheimer und Adorno zunächst als
Kompromiss eingelassen hatten, um ihre Arbeit an den »Philosophischen Frag-
menten« fortführen zu können, entwickelte eine eigene schöpferische Dynamik.
Adorno äußerte sich viele Jahre später positiv über die damalige Zusammenarbeit
in Forschungsprojekten, die gerade im amerikanischen Exil möglich war: »The
spirit of enlightenment also in relation to cultural problems, in the American
intellectual climate a matter of course, had the greatest attraction for me.«5

4 »Abschnitt F des englischen Kapitels, das sich mit den Reaktionen zweier in klinischen
Interviews Befragter auf die F-Skala befasst, wurde hier ausgespart.«
5 »Scientific Experiences of a European Scholar in America«, in: Perspectives in American
History, Harvard University, Vol. II, 1968; auf deutsch in Adorno, GS Bd. 10/2, S. 702–38;
hier zitiert nach Hohendahl (1995, S. 42)
236 Lena Inowlocki

Auf der einen Seite haben die Arbeiten der kritischen Theoretiker im amerikani-
schen Exil eine nachhaltige Wirkung auf die US-amerikanische Sozialforschung,
Sozialtheorie und Kulturanalyse ausgeübt, auf der anderen Seite beeinflussten die
damaligen Forschungssituationen und -kooperationen auch die spätere Arbeit von
Adorno und Horkheimer:
»Confronting and analyzing racial prejudice, especially anti-Semitism, remained a crucial task
for Adorno after he returned home. When he addressed this question in Germany, he
frequently drew on the authoritarian personality project as a model of theory-oriented
empirical research coming out of a specifically American cultural and intellectual climate.«
(Hohendahl 1995, S. 42)
Peter Uwe Hohendahl zitiert dazu weiter aus Adornos Aufsatz:
»This kind of cooperation in a democratic spirit that does not get bogged down in formal
political procedures and extends into all details of planning and execution, I found to be not
only extremely enjoyable but also the most fruitful thing that I became acquainted with in
America, in contrast to the academic tradition in Europe.«6
Diese Haltung Adornos entwickelte sich erst in den 1950er und 1960er Jahren,
nach seiner Rückkehr, und teilweise gerade kontrastiv dazu, wie er trotz der
positiven Forschungserfahrung in den USA seine Zeit dort erlebt hatte.
Hier bleibt festzuhalten, dass der Forschungs- und Interpretationsprozess der
Exilzeit, gerade auch durch die Zusammenarbeit mit gesellschaftskritischen Psy-
choanalytikern, für die Entwicklung der Kritischen Theorie eine bedeutende Rolle
spielte. Für die Rückkehrer nach Frankfurt kam trotz ihrer Bemühungen um
empirische und interdisziplinäre Forschung ein solcher langfristiger Arbeitszusam-
menhang am neu gegründeten Institut für Sozialforschung nicht mehr zustande.
Dies könnte auch damit zusammenhängen, dass bereits am »Gruppenexperiment«,
der ersten, weit beachteten sozialpsychologisch-empirischen Forschung zu Autori-
tarismus, Antisemitismus und anti-demokratischen Einstellungen, keine Psycho-
analytiker beteiligt waren (für die detaillierte Schilderung der Forschungssituation
am IfS Anfang der 50er Jahre vgl. Demirovic 1999, S. 339ff). Der Beitrag einer
gesellschaftskritischen Psychoanalyse wurde später institutionell »ausgelagert«,
durch die Gründung des universitären »Instituts für Psychoanalyse« unter Leitung
von Alexander Mitscherlich. Es gab aber weiterhin gemeinsame Arbeitszusammen-
hänge, in denen kritische Theorie weiter entwickelt wurde; Jürgen Habermas
bezieht sich darauf in Erkenntnis und Interesse (1968). Auch gegenwärtig werden
psychoanalytische und soziologische Perspektiven auf offene Weise zu Fallinter-
pretationen und thematischen Diskussionen eingebracht und weiter entwickelt.7
Im Folgenden möchte ich – wenn auch nur kurz – auf ein weiteres Teilprojekt
zu den destruktiven Tendenzen in der zivilisierten Gesellschaft eingehen, und zwar
auf Adornos brillante und exemplarische Analysen von Redeauftritten und Radio-
sendungen antisemitischer Agitatoren. Die Analysen wurden mit den emigrierten

6 Siehe Anm. 4.
7 Beipielsweise in einem »Forum«, das am Sigmund-Freud-Institut im Anschluss an den
11.09.01 initiitiert wurde, um Fragestellungen zu Gewalt, zu Öffentlichkeit, zu Anti-
semitismus, Rassismus und Autoritarismus zu besprechen.
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 237

Psychoanalytikern Ernst Simmel, Otto Fenichel und Geza Róheim diskutiert und
1946 veröffentlicht in dem von Ernst Simmel herausgegebenen Band Anti-Semi-
tism. A Social Disease (1993 auf Deutsch erschienen).

5. Zur Aktualität der Rhetorik- und Argumentationsanalysen Adornos

Adornos kurzer Aufsatz »Antisemitismus und faschistische Propaganda« (dt. zu-


erst 1993, hier zit. nach 2002), geht auf seinen Beitrag auf dem Symposion zurück,
das 1944 in San Francisco unter der Leitung des aus Wien geflüchteten Psycho-
analytikers Ernst Simmel veranstaltet wurde. Adorno bezieht sich sowohl auf die
gemeinsame Arbeit mit Max Horkheimer an den »Philosophischen Fragmenten«
als auch auf seine eigene damals laufende Forschung zur Authoritarian Personality
im Rahmen des ISR (Institute of Social Research) Forschungsprojekts »Studies in
Prejudice«. In einer ausführlichen Arbeit hatte Adorno dafür die Rundfunkreden
eines Agitators aus dem Jahre 1935 analysiert.8 Darauf sowie auf weiteren Analy-
sen basierte sein Vortrag in San Francisco, in dem er auf die psychologische
Technik eingeht, die antidemokratische und antisemitische Reden charakterisiert.
Das von ihm untersuchte Material ziele darauf ab, Menschen »gefangen zu neh-
men, indem es auf ihren unbewussten Mechanismen spielt« (2002, S. 148; Hervh.
i. O.). Die psychologische Analyse der Reden basiert auf einer sehr genauen
Beobachtung der wirkungsvollen rhetorischen Phänomene. So spricht Adorno von
einer »redundanten Beschreibung« (S. 150) der politischen Zielvorstellungen in der
Rede, die aber für sich genommen als Ziele verschwommen bleiben. Durch die
Redundanz der Andeutungen, also das Anhäufen vager Begriffe und wiederholtes
Appellieren an diese »Ziele« wird der Eindruck erzeugt, als würden die Sprech-
handlungen bereits die Realisierung der Zielvorstellungen beinhalten. Insofern
fungiert die Propaganda als »eine Art Wunscherfüllung« (ebd.). Als weiteren
Mechanismus zeigt Adorno auf, dass die »Lust am Schnüffeln« »angefacht und
befriedigt« wird (ebd.). Die von ihm analysierten Radio-Propagandisten entrüsten
sich dabei vor allem über angebliche sexuelle und grausame Exzesse ihrer imagi-
nären Gegner. (Entsprechend funktionieren auch andere, aktuelle Skandalisierun-
gen, beispielsweise von Drogen, Prostitution und Kriminalität in Verbindung mit
»Ausländern«.)
Im Unterschied zu Deutschland in den 30er und 40er Jahren konnten sich
Agitatoren in den USA nicht offen zu antidemokratischen Zielen bekennen. Inso-
fern ergibt sich eine Vergleichbarkeit zu populistischer und rechtsextremer Rheto-
rik, in der gegenwärtig ebenfalls ominöse Andeutungen und vage Umschreibungen
im Unterschied zu expliziter Agitation vorherrschen. Gleichzeitig sind erstere aber
auch charakteristisch für die agitatorische Rede, da nach wie vor gilt, wie Adorno

8 »The psychological technique of Martin Luther Thomas’ Radio Addresses«, 1943; aus
dem Nachlass publiziert, engl. in GS Bd. 9.2 (1975), dt. 1995, in dem Band Studien zum
autoritären Charakter.
238 Lena Inowlocki

schreibt, dass »jedes klar umrissene Programm nur eine Einschränkung« für die
agitatorische »Dynamik« darstellen würde: »Der totalitären Herrschaft ist es we-
sentlich, dass es keinerlei Garantien gibt, dass der skrupellosen Willkür keine
Grenze gesetzt wird« (S. 151). Auf die Gegenwart bezogen würde ich dies so
formulieren, dass die explizite oder implizite Bezugnahme rechtsextremer oder
populistischer Politiker auf die historisch geschehene grenzen- und skrupellose
Willkür ihnen einen Machtzuwachs verschafft. Implizit kann dies beispielsweise
über das Hervorheben scheinbar positiver Aspekte der NS-Herrschaft gehen, wenn
suggeriert wird, »damals« habe es eine gemeinschaftliche Anstrengung gegeben,
weniger Kriminalität, eine »bessere Arbeitsmarktpolitik«; gleichzeitig legitimiert
dies zumindest im Rückblick totalitäre Herrschaft.
Weiterhin sind Überlegungen interessant, wie in Politik und Medienöffentlich-
keit ganz allgemein mit rhetorischen Mitteln an der Erzeugung einer »Dynamik«
gearbeitet wird; inwiefern »Dynamik« grundsätzlich zu politischer Rede und
öffentlicher Darstellung gehört und ob besondere Formen der Erzeugung von
Dynamik eher zu einer demokratischen Öffentlichkeit beitragen als andere.
Adorno geht in der Folge auf mehrere Aspekte faschistischer Propaganda ein,
die gerade unter dem Gesichtspunkt beeindrucken, dass deren konstruktioni-
stischer Charakter und damit deren Modernität herausgearbeitet wird. Im Gegen-
satz zu der damaligen Massenpsychologie hebt er die Elemente bewusster Manipu-
lation hervor: »Zynische Nüchternheit ist für die faschistische Mentalität wahr-
scheinlich eher charakteristisch als psychologische Berauschung«. Das Ich spiele in
der faschistischen Irrationalität eine viel zu große Rolle, als dass eine Interpretation
angeblicher Ekstase »als einer bloßen Manifestation des Unbewussten zulässig
wäre«, denn: »An der faschistischen Hysterie ist immer etwas Stilisiertes, Arran-
giertes, Unechtes«, auf das sich die kritische Aufmerksamkeit richten solle
(S. 152).
Diese Sichtweise eröffnet Fragestellungen danach, wie an dem Zustand »gear-
beitet« und das produziert wird, was als eine »natürliche« massenhafte Begeiste-
rung und Erregung gelten soll. Dies ist exemplarisch für eine theoretisch-em-
pirische Vorgehensweise der Untersuchung, in der Phänomene als in einem be-
stimmten gesellschaftlichen Kontext konstituierte analysiert werden. Hier deutet
sich eine zunächst unerwartete Übereinstimmung mit phänomenologischen und
pragmatistischen Forschungstraditionen an. Substantiieren lässt sich diese Konver-
genz durch die Vorgehensweise Adornos, wenn er ein Phänomen sozusagen struk-
turell beschreibt, das heißt, es im Hinblick auf dessen Mechanismen und Prozesse
untersucht. Nach diesen kurzen Bemerkungen zur Aktualität der Analysen möchte
ich im Folgenden näher betrachten, wie Adorno dabei vorgegangen ist.

6. »Anschmiegen« an den Gegenstand

In der qualitativ-interpretativen Sozialforschung gibt es unterschiedliche Fragestel-


lungen und Vorgehensweisen der Untersuchung. Durch Vertreter verschiedener
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 239

»Schulen« werden insbesondere Unterscheidungen akzentuiert. Ich finde es gerade


interessant, mögliche Parallelen und Konvergenzen zu betrachten.9 Für die Fallin-
terpretation möchte ich mich hier auf die Vorgehensweise von Adorno beziehen,
die von Ulrich Oevermann als ein »Anschmiegen« an den Gegenstand bezeichnet
wurde.
Zur Begründung einer materialen soziologischen Strukturanalyse argumentiert
Oevermann, indem er auf Adornos methodologisches Selbstverständnis rekurriert,
»worunter vor allem zu verstehen wäre, dass Theorieentwicklung und Erkenntnis-
fortschritt in der Soziologie nur über konkrete Analysen zu sichern sind, die die
Sache selbst zum Sprechen bringen, indem sie sich an sie anschmiegen und durch
dieses unvoreingenommene, radikale Sicheinlassen auf die jeweilige Besonderheit
des Gegenstandes hindurch zum zugleich klärenden wie kritisch überwindenden,
allgemeinen Begreifen der gesellschaftlichen Wirklichkeit gelangen« (1983, S. 234).
Dieses Programm einer dialektischen Sozialforschung habe Adorno aber nur in der
Musiksoziologie exemplarisch durchgeführt, dessen methodologische Begründun-
gen zudem nicht systematisch ausgearbeitet.
Letzteres ist sicherlich der Fall. Es finden sich aber eine Reihe von Beobachtun-
gen in Adornos Arbeiten, an denen sich seine Praxis der Dechiffrierung, die er in
der Musiksoziologie entwickelt hat, nachvollziehen lässt – und zwar auch in seiner
Analyse faschistischer Propagandaredner. In einer Anmerkung, in der er sich auf
seine Buchrezensionen zu Jazz bezieht, kommt er, sozusagen über eine strukturelle
Beschreibung eines »Jitterbug«-Tänzers, zur Entdeckung des Propaganda-Rituals:
»Dass das Ich den Identifikationsmechanismus von sich aus andrehen und sich buchstäblich
selber hypnotisieren muss, weil es anders nicht mehr bei der Stange bleibt. Daher der Gestus
des jitterbugs, der sich benimmt, als mache er willentlich einen Idealtypus des jitterbugs
nach.« (2002, S. 157, Anm. 6)
Die Propaganda-Muster entfalten sich dementsprechend »standardisiert«:
»Der potentielle faschistische Gefolgsmann verlangt diese rigide Wiederholung, genau wie der
Jitterbug das Standardmuster der populären Lieder fordert und in Rage gerät, wenn die
Spielregeln nicht strikt eingehalten werden. Die mechanische Anwendung dieser Muster ist
eines der Kernstücke des Rituals.« (S. 157)
Die »Stereotypie« faschistischer Propaganda, die sich »auf etwa dreißig Formeln
reduzieren« lasse, erkläre sich teilweise durch den Rekurs auf gemeinsame Quellen
wie Hitlers »Mein Kampf« sowie auf einen gemeinsamen organisatorischen Zu-
sammenhang der Agitatoren an der Westküste, aber eben vor allem über das
Standardmuster des Rituals.
Diese Analyse beeindruckt mich durch ihre Genauigkeit und Aktualität. Der
Bezug auf Originalquellen, die Auswirkung des organisatorischen Zusammenhangs
sowie insbesondere das, was Adorno als die Kernelemente rhetorischer Agitation
bezeichnet, in ihrer unmittelbaren Reflexivität, ihrer Wirkung auf die Über-

9 Eine Soziologin, die auch auf Grund ihrer Vertrautheit mit unterschiedlichen Ansätzen
deren produktive Gemeinsamkeiten herausarbeitete, war Christa Hoffmann-Riem (1994).
Für eine Konvergenz von Forschungstraditionen, gegenüber einer Zurechnung zu »Schu-
len«, vgl. auch Apitzsch und Inowlocki (2000).
240 Lena Inowlocki

zeugung und auch weitere Involvierung des Sprechers und der Zuhörer, kenn-
zeichnet auch vergleichbare Agitation und Mobilisierung in der Gegenwart. In
meiner Untersuchung zum Rechtsextremismus Jugendlicher habe ich herausge-
funden, dass sie im Prozess ihres Mitgliedwerdens und der Intensivierung ihrer
Gruppenzugehörigkeit sich selbst und sich gegenseitig immer weiter in ihre Über-
zeugungen »hineinreden«.10 Dabei beziehen sie sich auf NS-Originalquellen, auf
relativierende und legitimierende Darstellungen der NS-Zeit und des Krieges und
auf die Leugnung des Holocaust. Insbesondere der Leugnung des Holocaust – bei
gleichzeitiger Andeutung einiger Anführer, wozu man imstande sei – kommt für
eine antisemitische Welterklärung die konditionelle Relevanz zu, die Eröffnung der
Handlungsmöglichkeit, alles behaupten und damit auch scheinbar sich selber
machtvoll über andere erheben zu können.
Für die Vorgehensweise der Untersuchung, die auf offenen Einzel- und Grup-
peninterviews und ethnographischen Beobachtungen beruht, haben mich unter-
schiedliche Forschungstraditionen inspiriert: die durch Fritz Schütze entwickelte
Biographieanalyse; ethnomethodologische Sichtweisen auf »Gruppenmitglied-
schaft« von Harvey Sacks, Harold Garfinkel, Edward Rose; die durch Anselm L.
Strauss entwickelten Kategorien sozialer Weltbezüge; der symbolische Interak-
tionismus von Howard S. Becker. Nachträglich würde ich gerne Adornos Pro-
paganda-Analysen hinzu nehmen, da sie so genau charakterisieren, was rechts-
extreme Agitation ausmacht: so die Vergleichbarkeit von Propagierung mit »Re-
klame« – wie ich sie insbesondere im Fall von »Armin« fand, der für sich eine
glänzende Zukunft als Propaganda-Redner in der Nachfolge von Goebbels voraus-
sah und sich in eine illusionäre Führerrolle hinein steigerte, während er selbst
durch einen Ex-Wehrmachtsoffizier rekrutiert wurde, der sich zur Aufrechterhal-
tung seiner eigenen Lebenslüge eines »positiven Nationalsozialismus« aller Regis-
ter der Propaganda-Rede bediente, um Jüngere an sich zu binden; sowie, um nur
ein weiteres Beispiel zu nennen, die Analyse der Destruktivität des antisemitischem
Verfolgungswahns, der als allgemeine Zerstörungswut auch auf den eigenen Unter-
gang hinausläuft, wie es für einige der Jugendlichen der Fall war.
Wie kann aber Kritische Theorie in einem Atemzug mit den anderen Forschungs-
traditionen genannt werden? Dagegen sind viele Einwände denkbar. So kann die

10 Wie Jugendliche in rechtsextremen Zusammenhängen reden, wird kaum untersucht; zu-


meist wird es als ein bloßes Nachplappern von Parolen abgetan. Tatsächlich entfaltet sich
aber die gesellschaftliche und die politische Relevanz des Rechtsextremismus Jugendlicher
über ihre Rede, in den wirkungsvollen antisemitischen und rassistischen »Erklärungen«,
die sie abgeben und in die sie von Gruppenführern, darunter vielen der älteren Ge-
nerationen eingeführt werden. Über die Wirksamkeit ihrer Rede wird auch erkennbar, wie
es dazu kommen kann, dass sie den Zirkel zwischen Gewalttätigkeit und Selbstzer-
störung, in dem sie sich zunehmend in die Ausweglosigkeit hinein bewegen, in einer
illusionären Selbsttäuschung für ihren Weg zur Macht halten können: beispielsweise über
Umkategorisierungen, sich »zu der Einsicht« »zu entschließen«, dass die Geschichte sich
ganz anders abgespielt habe – als könnte man sich voluntaristisch zu einer Einsicht
»entschließen«; vgl. Sich in die Geschichte hineinreden. Biographische Fallanalysen rechts-
extremer Gruppenzugehörigkeit (Inowlocki 2000).
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 241

Ethnomethodologie in ihrer gesellschaftstheoretischen Indifferenz als Gegensatz


zur Kritischen Theorie gesehen werden (vgl. Ritsert 1983, S. 227 f.).
Interessant ist aber, dass es auch Konvergenzen gibt; die ethnographisch genaue
Beschreibung Adornos, die in der Entdeckung des imitatorischen Verhaltens als
eines ritualisierten Musters gipfelt, entspricht auf frappierende Weise der einige
Jahre später veröffentlichten Analyse Becoming a marihuana user von Howard S.
Becker (1963). Becker stellt darin fest, dass es bestimmte Abläufe der Zugehörig-
keit zur »Gruppe« der Marihuana-Raucher gibt: Durch ein Nachahmen der Hand-
lungen bereits »Eingeweihter« tun die Neulinge so, als gehörten sie bereits zu den
gewohnheitsmäßigen Konsumenten; auf diese Weise können sie überhaupt erst
erkennen, was den »Genuss« (»pleasure«) ausmacht, der dann zum Motiv und auch
zur Begründung ihres weiteren Konsumierens wird. Sie drehen, in Adornos Wor-
ten, »den Identifikationsmechanismus von sich aus« an. Howard Becker war der
Einblick in diesen Mechanismus möglich, weil er sich berufsmäßig in der »Szene«
aufhielt und darin auskannte – als Jazzmusiker … (vielleicht hätte Adorno dem
Jazz noch eine Chance gegeben, wenn er Becker getroffen hätte).
An der materialen Analyse des Identifikationsmechanismus zeigt sich eine Kon-
vergenz unterschiedlicher Forschungstraditionen, die sich zunächst mit dem imma-
nenten Sinnverstehen erklären lässt, das sozusagen in der »Sache« selbst begründet
liegt, der man sich im Forschungsprozess aussetzt. Unterschiedliche Forschungs-
traditionen des Sinnverstehens wurden bereits bei Habermas (1988/1981) aufge-
zeigt. In neueren Auseinandersetzungen mit der Kritischen Theorie wird darauf
hingewiesen, dass sich Erkenntnisinteresse situiert und reflexiv zum Forschungs-
gegenstand verhält und sich nicht darauf richten kann, alles umfassende Erklärun-
gen zu finden.11
Der Testfall kritischer Theoriebildung liegt, so würde ich argumentieren, insbe-
sondere in Bezug auf Fremdenhass und Antisemitismus in der Forschungspraxis.
In dieser erweist sich, inwiefern Vorurteilsstrukturen wissenschaftlich reproduziert
oder aber aufgezeigt werden und ob Täterschaft funktionalistisch erklärt oder aber
in der Rekonstruktion des Handlungsablaufs immer wieder problematisiert wird.
Es zeigt sich schon darin, ob überhaupt rassistische und antisemitische Motive
thematisiert werden und ein struktureller rechtsextremer Bezug auf die NS-Herr-
schaft wahrgenommen wird. Auch dann, wenn von einer ›neuen Rechten‹ ein
solcher Bezug explizit in Abrede gestellt wird, bleiben diejenigen Elemente wirk-
sam, die scheinbar modernisierungsfähig sind, in Wirklichkeit aber von genau der

11 Als eine Voraussetzung für situierte und kontextreflexive Analysen hat, wie Kathy Davis
(2002) ausführt, feministische Forschung die persönlichen, normativen und intellektuellen
biographischen Rekonstruktionen der Forschenden zu denen der Erzählenden in Bezie-
hung gesetzt und auch ihre Unterschiedlichkeiten in die Analyse mit einbezogen; insofern
kann gerade kritisch-reflexive Forschung auch gesellschaftskritisch sein. – Zu anderen
Weiterentwicklungen kritischer Theorie kommt es in der Auseinandersetzung mit An-
sätzen der Cultural Studies. So stellt René Gabriels (2002) zur These der grenzenlosen
kulturindustriellen Manipulierbarkeit heraus, dass es sich gerade in einer globaler Per-
spektive zeigen kann, dass durch populäre Kultur auf eigensinnige Weise auch Kritik an
der Kulturindustrie zum Ausdruck gebracht wird.
242 Lena Inowlocki

Elite- und Massenbildung, eben dem Autoritarismus und der Irrationalität zehren
und auch von der realen Destruktivität des NS-Regimes. Wenig thematisiert,
vielmehr oft direkt bestritten wird auch die Bedeutung von Familienmilieus, in
denen es auf direkte oder indirekte Weise zu legitimierenden Darstellungen der
NS-Zeit kommen kann. Dabei geht es um materiale Erinnerungsspuren, die eine
Auseinandersetzung erfordern, indem sich die am Nationalsozialismus Beteiligten
und die nachfolgenden Generationen damit beschäftigen. Eine Vermeidung von
Eingeständnis, Verzweiflung und Scham und deren reaktive Abwehr tauchen dann
auch immer wieder in Politik, Medienöffentlichkeit und Gesellschaft auf.12

7. Gesellschaftskritische Sozialforschung zu Reaktionen


auf Einwanderung

Bereits in den 1940er Jahren wurden in der Berkeley-Studie Vorurteilsstrukturen so


aufgefasst, dass sie mit einer Realität des Hassobjekts oder auch nur mit dessen
realer Anwesenheit nichts zu tun hatten. Demgegenüber ist ambivalent, wie feind-
liche Reaktionen auf Einwanderung gegenwärtig untersucht werden: zumeist wer-
den diese doch so aufgefasst, dass sie durch »Erfahrungen« mit Einwanderern
verursacht worden seien. So kommt es zur sozialwissenschaftlichen Reproduktion
eines hegemonialen Fremdheitsdiskurses, in dem Einwanderung wie selbstver-
ständlich als problematisch und konfliktverursachend gilt. Diesem Diskurs wird
auch nicht widersprochen, wenn festgestellt wird, dass trotz der geringen Zahl von
Ausländern in den neuen Bundesländern Umfragen immer wieder ergeben, dass zu
viele da wären.13
Hier möchte ich die Frage einer kritischen Theoriebildung zu Einwanderung
darauf richten, wie Herkunft thematisiert wird. Ich habe den Eindruck, dass in der
Forschungspraxis oftmals scheinbare Selbstverständlichkeiten reproduziert wer-
den, wenn es um eine Herkunft geht, die Vorurteile hervorruft. Die Forschung
richtet sich dann in vielen Fällen auf soziale Probleme und Konflikte, in die
Angehörige dieser Gruppen involviert sind. Der Mechanismus ist bekannt: durch
die Identifizierung mit Konflikten und Problemen verstärkt sich noch einmal das,
was man wie selbstverständlich über diese Gruppen weiß. Wie kann die Reproduk-

12 Dass es sich um Wirkungszusammenhänge von Familien und Generationen handelt, wird


daran ersichtlich, dass in rechtsextremen Gruppen, Organisationen und Parteien Ältere
für Tradierung und Rekrutierung sorgen, die den Jugendlichen als Garanten »authenti-
scher« Erfahrung gelten und die Funktion »biographischer Sachwalter« für sie erfüllen,
während sie über die »Gefolgschaft« der Jugendlichen ihre eigene Involvierung weiter
mythisieren.
13 Dagegen stellen Umfragen, die so konzipiert sind, dass sie zeigen können, dass mit
vermehrten Interaktionsmöglichkeiten mit Ausländern an Schule, Arbeitsplatz und im
Bekanntenkreis Vorurteile abnehmen, einen ersten Schritt dar, um die Bedingungen von
Interaktionen (im Schulunterricht, am Arbeitsplatz) genauer untersuchen zu können, die
zu einem Abbau von Vorurteilen führen (vgl. Wagner/van Dick/Endrikat 2002).
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 243

tion von Vorurteilen vermieden werden? Dazu könnte eine Sozialforschung bei-
tragen, in der die Prozesse der eigenen Auseinandersetzung mit Herkunft unter-
sucht werden – und zwar für alle Gruppen in der Bevölkerung, Mehrheiten und
Minderheiten. Es würden dann nicht mehr nur oder vor allem über Andere
Aussagen getroffen, und es könnten strukturelle Ähnlichkeiten der Prozesse der
Auseinandersetzung mit Herkunft deutlich werden sowie die spezifischen Be-
sonderheiten der Auseinandersetzung Einzelner in ihrer jeweiligen Mehrheits- und
Minderheitssituation, die auch deren Schichtzugehörigkeit und Geschlecht bein-
haltet.14 Wenn es zu einer gesellschaftlichen Anerkennung von Differenz kommen
soll und zu einer Universalisierung von Perspektivenübernahme und Reziprozität
über partikulare Gruppen hinaus, so könnten Erkenntnisse solcher Forschung
etwas dazu beitragen.
Abschließend möchte ich kurz auf die Überlegungen zur Analyse von Einzel-
fällen und zum Subjektbegriff zurück kommen. Zum Verhältnis des Individuums
zur Gesellschaft schreibt Adorno in Minima Moralia:
»In der individualistischen Gesellschaft jedoch verwirklicht nicht nur das Allgemeine sich
durchs Zusammenspiel der Einzelnen hindurch, sondern die Gesellschaft ist wesentlich
Substanz des Individuums. Darum vermag die gesellschaftliche Analyse aber auch der in-
dividuellen Erfahrung unvergleichlich viel mehr zu entnehmen, als Hegel konzedierte, wäh-
rend umgekehrt die großen historischen Kategorien nach all dem, was mittlerweile mit ihnen
angestiftet ward, vorm Verdacht des Betrugs nicht mehr sicher sind.« (1951, S. 12)

Das Individuum, obschon durch Vergesellschaftung »ausgehöhlt«, habe an der


Gewalt des Protests, an »Fülle, Differenziertheit, Kraft« gewonnen: »Im Zeitalter
des Zerfalls trägt das Individuum von sich und dem, was ihm widerfährt, nochmals
zu einer Erkenntnis bei, die von ihm bloß verdeckt war, solange es als herrschende
Kategorie ungebrochen positiv sich auslegte« (S. 12 f.).15
In die Tradition ungebrochen positiver Auslegung gehört ein Bias soziologischer

14 An dieser Stelle kann ich nur darauf hinweisen, dass der Traditionsbegriff von Walter
Benjamin (2000) und von Theodor W. Adorno (1973) für eine Untersuchung der Ausein-
andersetzung mit Herkunft wichtig ist. Auf Paradoxien einer solchen Auseinandersetzung
im Bewusstheitskontext der Shoah bin ich in einem anderem Zusammenhang eingegangen
(Inowlocki 2000a).
15 Vgl. hierzu Hohendahl (1995,8): »(T)he poststructuralist approach focuses on Adorno’s
critique of traditional logic, especially identity logic and its extension into the concept of
the subject. This reading wants to subvert what Marxist theory had, by and large, taken
for granted and ascribed to the writings of Adorno: namely, a stable concept of sub-
jectivity and agency (as opposed to the state of fragmentation and passivity found in
advanced capitalism, for instance). The poststructuralist reading would emphasize Ad-
orno’s critique of subjecitivity, a critique that does not merely focus (as does Lukács) on
fragmentation under monopoly capitalism but rather calls the entire Western tradition –
the very constitution of subjectivity and identity in Greek culture – into question.
The potential danger of this approach is its one-sided insistence on the subversion of the
subject, since Adorno, unlike structuralist Marxists such as Louis Althusser, did not treat
the subject as a moment of pure ideology. Negative dialectics does not cancel the subject;
rather, the text unfolds the dialectical tension between the principle of domination and the
resistance to the social system.«
244 Lena Inowlocki

Theorie, die Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit von Individuen zu über-


schätzen und dagegen die Bedingtheit von Handeln und insbesondere Erleidens-
prozesse zu wenig zu beachten; dies gilt auch für interpretative Ansätze wie den
Symbolischen Interaktionismus.16 In vielfacher Hinsicht können Individuen in der
Autonomie ihrer Entscheidungen und in ihrer Handlungsfähigkeit eingeschränkt
sein; Erleidensprozesse bilden daher einen wichtigen Teil gesellschaftlicher Erfah-
rung.17 Erst durch die Aufmerksamkeit für diese Beeinträchtigungen können ge-
sellschaftliche Bedingungen und Entwicklungen, die Lebensmöglichkeiten behin-
dern, erkannt werden: strukturelle Benachteiligung ebenso wie institutionelle Ab-
läufe und kollektive Prozesse, die Leiden verursachen. Die Rekonstruktion von
Einzelfällen in der offenen Interpretation einer – auch interdisziplinär – arbei-
tenden Forschungsgruppe18 richtet sich auf Handlungsmöglichkeiten, auf institu-
tionelle Abläufe und Prozesse, die sich auch jenseits der bewussten Wahrnehmung
der Akteure vollziehen, auf ambivalente Handlungssituationen und auf Paradoxien,
die sich durch Handeln nicht auflösen lassen; auf das Wissen und die Emotionen, in
den Begriffen von Anselm L. Strauss, die sich in den Anstrengungen, in der Arbeit
und in der Kreativität von Individuen zeigen.
Für Gespräche und Hinweise danke ich Alex Demirovic, Carl H. Buchner, Fritz Schütze,
Ursula Apitzsch, Martin Löw-Beer, Kathy Davis, Regina Kreide, René Gabriels, Felicia
Herrschaft und den Studierenden meines Seminars zur Jugendsoziologie, die mit mir über die
Shell-Studie diskutiert haben.

Literatur

Adorno, Theodor W./Frenkel-Brunswick, Else/Levinson, Daniel J./Sanford, R. Nevitt (1950):


The Authoritarian Personality, New York/Evanston/London
Adorno, Theodor W. (1951): Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben,
Frankfurt a. M.
– (1973): Über Tradition, in: ders., Ohne Leitbild. Parva Aesthetica, Frankfurt a. M.
– (1995): Studien zum autoritären Charakter, Frankfurt a. M.
– (2002 [1993]): Antisemitismus und faschistische Propaganda, in: Simmel, Ernst (Hg.):
Antisemitismus, Frankfurt a. M.
Apitzsch, Ursula/Inowlocki, Lena (2000): ›Biographical analysis: A ’German‹ school?’, in:
Chamberlayne, Prue/Bornat, Joanna/Wengraf, Tom (Hg.): The Turn to Biographical Me-
thods in Social Science: Comparative issues and examples, London/New York
Apitzsch, Ursula (2000): Ein deutsches Gewissen. Oder: wie Martin Walser mißverstanden
wurde, in: Fechler, Bernd/Kößler, Gottfried/Liebertz-Groß, Till (Hg.): »Erziehung nach
Auschwitz« in der multikulturellen Gesellschaft, Weinheim/München
Becker, Howard S. (1963): Becoming a Marihuana User, in: Outsiders: Studies in the
Sociology of Deviance, New York
Benjamin, Walter (2000): Berliner Kindheit um neunzehnhundert, Frankfurt a. M.
Claussen, Detlev (1995): Die Banalisierung des Bösen. Über Auschwitz, Alltagsreligion und

16 Vgl. Schütze 1987.


17 Siehe hierzu Riemann/Schütze 1991; Schütze 1984; Schütze 1992; Honneth 1994.
18 Beispielsweise einer »Forschungswerkstatt« (Reim/Riemann, 1997).
Kritische Theoriebildung zu Antisemitismus 245

Gesellschaftstheorie, in: Werz, Michael (Hg.): Antisemitismus und Gesellschaft. Frankfurt


a. M.
Davis, Kathy (2002): Biography as Critical Methodology. Vortrag in der Integrative Focussed
Session: »Who is the «we» in the «how do we know»?« ISA World Congress of Sociology,
Brisbane
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Überlegungen zum Projekt einer kritischen
Geschlechterforschung
Andrea D. Bührmann

Eine der zentralen Problemstellungen, wenn nicht gar die zentrale Problemstellung
des Projektes der Kritischen Theorie (vgl. Dubiel 1978, Wiggershaus 1987) ist eine
radikale Kritik der Gegenwart in Bezug auf das Verhältnis von Macht und Ratio-
nalität. Im Zentrum steht die Frage nach den Individualisierungschancen und
-risiken in modernen Gesellschaften und ihrer historischen Genese.
Vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs und des Faschismus wandelt sich
der zunächst eher optimistische Grundton der Kritischen Theorie zu einer eher
resignativen bzw. pessimistischen Haltung. Diese Wandlung manifestiert sich über-
deutlich in der Dialektik der Aufklärung (1944), der wohl bedeutendsten Ver-
öffentlichung der Kritischen Theorie (vgl. etwa Schmid Noerr 1997, S. 423; Stre-
cker 2001, S. 308). Für Max Horkheimer und Theodor W. Adorno strahlt die
»vollends aufgeklärte Erde« nun »im Zeichen triumphalen Unheils« (Horkheimer/
Adorno 1944, S. 25). Und die Autoren notieren in ihrer Vorrede, dass es ihnen in
ihrem als Verfallsgeschichte angelegten geschichtsphilosophischen Deutungsver-
such der abendländischen Zivilisationsgeschichte um nicht weniger als die Antwort
auf die Frage gehe, »warum die Menschheit, anstatt in einen wahrhaft mensch-
lichen Zustand einzutreten, in eine neue Art von Barbarei versinkt« (ebd., S. 16).

1. Die ›Urgeschichte der Subjektivität‹ in der Dialektik der Aufklärung:


die Geburt des bürgerlichen Individuums

Die formal locker verbundenen Textteile der Dialektik der Aufklärung sind argu-
mentativ streng auf einander bezogen: Über die Analyse unterschiedlicher sozialer
Phänomene rekonstruieren Horkheimer und Adorno aus dem mythisch verar-
beiteten Kampf gegen die Naturkräfte die Geburt des bürgerlichen Individuums.
Diese wiederum verbinden sie mit ihnen bedrohlich erscheinenden Entwicklungen
zur Mitte des 20. Jahrhunderts. Dabei postulieren Horkheimer und Adorno struk-
turelle Gemeinsamkeiten zwischen antiken warenproduzierenden und modernen
kapitalistischen Gesellschaften und verfolgen auf dem Hintergrund einer ›Ur-
geschichte der Subjektivität‹ die Frage nach den Ursachen totalitärer Herrschaft.
Einschränkend bemerken sie anlässlich der Neuauflage der Dialektik der Aufklä-
rung 1969 allerdings: »Nicht an allem, was in dem Buch gesagt ist, halten wir
unverändert fest. Das wäre unvereinbar mit einer Theorie, welche der Wahrheit
248 Andrea D. Bührmann

einen Zeitkern zuspricht, anstatt sie als Unveränderliches der geschichtlichen Be-
wegung entgegen zu setzen« (Horkheimer/Adorno 1969, S. 13).
Horkheimer und Adorno kommen zu dem Schluss, dass der Nationalsozia-
lismus auf den fundamentalen Grundzügen der abendländischen Zivilisation ba-
siert: In ihm kehre die elementar rächende, unversöhnte Natur zurück. Das Ver-
hältnis des Menschen zur Natur entziffern sie in diesem Zusammenhang als ein
Herrschaftsverhältnis. Um ihre Furcht vor einer chaotisch erscheinenden Natur zu
bewältigen, setzten sich die Menschen mit den Instrumenten der Aufklärung als
deren Herrscher ein. Der Mythos diene insofern der Selbsterhaltung. Dabei be-
trachten Horkheimer und Adorno Aufklärung und Mythos gerade nicht als unver-
einbare Gegensätze, sondern als dialektisch miteinander vermittelte Qualitäten.
Denn »schon der Mythos ist Aufklärung, und: Aufklärung schlägt in Mythologie
zurück« (Horkheimer/Adorno 1944, S. 21). Jener fundamentalen Vernunftskepsis
von Horkheimer und Adorno, die allerdings zuletzt von Jan Weyand (2001) in
Frage gestellt worden ist, setzt Habermas, so kommentieren Christian Schneider,
Cornelia Stillke und Bernd Leineweber (2000, S. 149) »ein ebenso hemmungsloses
Vertrauen in den Universalismus der Grundwerte der Aufklärung entgegen, das
sich in systematischer Hinsicht durch die zur Tatsache gewordene Zerstörung der
Vernunft offensichtlich nicht beirren ließ.« (Zur Aktualität dieser Fragestellung vgl.
Söffner/Miller 1996.)
Wie aber wird in der Dialektik der Aufklärung die Geburt des bürgerlichen
Individuums aus dem mythisch verarbeiteten Kampf gegen die Naturkräfte re-
konstruiert?
Zur Bearbeitung dieser Problemstellung beziehen sich Horkheimer und Adorno
vor allen Dingen auf die marxistische Gesellschaftstheorie, die sie allerdings durch
eine Integration psychologischer Theoriekonzepte – insbesondere aber der Freud-
schen Psychoanalyse – entscheidend erweitern und damit modifizieren. Zwar
bildet die Freudsche Zivilisationstheorie auch den Kern der Zivilisationstheorie,
wie sie Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung entwickeln.
Jedoch verschieben sie den Akzent auf das gesellschaftliche Herrschaftsprinzip, das
sich im Freudschen Realitätsprinzip verberge.
Horkheimer und Adorno begreifen das moderne Subjekt als Ergebnis eines
historischen Prozesses, der schon in der Antike beginnt. Dabei sind für sie Men-
schen nicht schon immer Subjekte:
»Furchtbares hat die Menschheit sich antun müssen, bis das Selbst, der identische, zweckge-
richtete, männliche Charakter des Menschen geschaffen war, und etwas davon wird noch in
jeder Kindheit wiederholt. Die Anstrengung, das Ich zusammenzuhalten, haftet dem Ich auf
allen Stufen an, und stets war die Lockung, es zu verlieren, mit der blinden Entschlossenheit
zu seiner Erhaltung gepaart.« (Horkheimer/Adorno 1944, S. 56)
Dieses Subjekt steht nun für Horkheimer und Adorno immer vor der Bedrohung
und Versuchung des Rückfalls in bloße Natur, der es doch gerade durch Disziplin
und Selbstverleugnung zu entgehen versucht.
»In der Klassengesellschaft schloß die Feindschaft des Selbst gegens Opfer ein Opfer des
Selbst ein, weil sie mit der Verleugnung der Natur und über andere Menschen bezahlt war um
der Herrschaft über die außermenschliche Natur und über andere Menschen willen […]. Die
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 249

Geschichte der Zivilisation ist die Geschichte der Introversion des Opfers. Mit anderen
Worten: die Geschichte der Entsagung.« (ebd., S. 51)
Für Adorno und Horkheimer ist schon die ›Urgeschichte der Subjektivität‹ nicht
nur als Opferlogik per se, sondern darüber hinaus als ihre Radikalisierung bis hin
zur völligen Irrationalität angelegt. Denn das Subjekt selbst werde bis zur Vernich-
tung geopfert. Der Prozess der fortschreitenden Rationalisierung zerstöre die
neuzeitliche Gestalt der Subjektivität.
Subjektivität ist also für Adorno und Horkheimer in ihren zentralen Zügen
historisch-gesellschaftlich bestimmt und Produkt einer bis in die Frühgeschichte
zurück reichenden Entwicklung, die im bürgerlichen Individuum kulminiert. Diese
bürgerliche Individualität gilt ihnen allerdings nur als Aufscheinen der von der
Aufklärung versprochenen Realisierung des Ideals gelingender autonomer Sub-
jektivität. Gleichzeitig wird sie als normatives Modell von Subjektivität überhaupt
stilisiert. Aus diesem Grunde auch interpretieren Adorno und Horkheimer die
gesellschaftlichen und sozialpsychologischen Entwicklungen bis hin zu histori-
schen Formen von Subjektivität als durch die Kulturindustrie indizierte Deforma-
tionen.
Den Ausgangspunkt ihrer Überlegungen zur ›Urgeschichte der Subjektivität‹
bildet Homers Odyssee. Dabei betrachten Horkheimer und Adorno die Odysse als
»ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung« (Horkheimer/Adorno
1944, S. 58) sowie als »Grundtext der europäischen Zivilisation« (ebd., S. 69), d. h.
also als ein Dokument, anhand dessen sich die Strukturen moderner Subjektivität
rekonstruieren lassen. Menschen werden – laut Horkheimer und Adorno – zu
Subjekten, indem sie Herr ihrer selbst werden, d. h. ein Herrschaftsverhältnis über
sich selbst errichten. Sie können Herr über sich selbst werden, falls sie lernen, ihre
Triebe und Gefühle – insbesondere aber ihren Sexualtrieb zum Objekt ihrer
Beherrschung zu machen und sie so zu sublimieren. »Vor den Göttern besteht nur,
wer sich ohne Rest unterwirft. Das Erwachen des Subjekts wird erkauft durch die
Anerkennung der Macht als des Prinzips aller Beziehungen« (ebd., S. 31).
Dies wird für die beiden Autoren an der Geschichte über die Fahrt des Grund-
besitzers und Herrn Odysseus und seinen Gefährten vorbei am Gesang der Sirene
deutlich. Odysseus und seine Gefährten müssen nämlich dem »unwiderstehlichen
Versprechen von Lust« (ebd., S. 56) des Sirenengesangs widerstehen, indem sie sich
entweder, wie Odysseus, fesseln, oder, wie seine Gefährten, die Ohren mit Wachs
verstopfen lassen. Denn, so notieren Horkheimer und Adorno (ebd., S. 57) in
Bezug auf die Gefährten des Odysseus: »Wer bestehen will, darf nicht auf die
Lockung des Unwiderbringlichen hören, und er vermag es nur, indem er sie nicht
zu hören vermag. Dafür hat die Gesellschaft stets gesorgt. Frisch und konzentriert
müssen die Arbeitenden nach vorwärts blicken und liegenlassen, was zur Seite
liegt. Den Trieb, der zur Ablenkung drängt, müssen sie verbissen in zusätzlicher
Anstrengung sublimieren.«
In Bezug auf Odysseus, den Horkheimer und Adorno – anders als seine
Gefährten – als »Urbild eben des bürgerlichen Individuums« (ebd., S. 67) be-
greifen, führen sie aus, dass er sich um so stärker fesseln läßt, desto größer die
Lockung der Sirenen geworden sei, »so wie nachmals die Bürger auch sich selber
250 Andrea D. Bührmann

das Glück um so hartnäckiger verweigerten, je näher es ihnen mit dem Anwachsen


der eigenen Macht rückte« (ebd., S. 57). Odysseus kann also in dieser Perspektive
die äußere Natur nur in dem Maße kontrollieren und so zum autonomen Subjekt
werden, in dem er lernt, seine innere Natur zu beherrschen und gleichzeitig seine
Gefährten veranlassen kann, sein Leben zu reproduzieren. Damit wird die Unter-
drückung des eigenen Trieblebens zum Preis, den er für die Emanzipation von den
Naturzwängen zu bezahlen hat. Dies führt dazu, dass die Herrschenden nurmehr
das Dasein noch als ›Substrat‹ erfahren und so zu einem ›kommandierenden Selbst‹
erstarren. Demgegenüber erfahren die Beherrschten »das Naturding bloß als sich
entziehenden Gegenstand der Begierde« (ebd., S. 58).
Die aufgeklärte Moral des bürgerlichen Individuums folgt nach Ansicht von
Horkheimer und Adorno schließlich derselben Logik. Denn auch hier lasse sich
zeigen, dass eine Verlagerung der Herrschaft über die Natur in das eigene Selbst
das Ende einer Entwicklung markiere, in der schließlich der ursprüngliche Zweck
der Naturbeherrschung umschlage in die alleinige Beherrschung des eigenen Selbst.
Damit behaupten Horkheimer und Adorno also die Gleichzeitigkeit der Kon-
stituierung des Selbst und seiner Vernichtung bzw. Opferung.
»In dem Augenblick, in dem der Mensch das Bewußtsein seiner selbst als Natur sich
abschneidet, werden alle die Zwecke, für die er sich am Leben erhält, der gesellschaftliche
Fortschritt, die Steigerung aller materiellen und geistigen Kräfte, ja Bewußtsein selber,
nichtig, und die Inthronisierung des Mittels als Zweck, die im späten Kapitalismus den
Charakter des offenen Wahnsinns annimmt, ist schon die Urgeschichte der Subjektivität
wahrnehmbar. Die Herrschaft des Menschen über sich selbst, die sein Selbst begründet, ist
virtuell allemal die Vernichtung des Subjekts, in dessen Dienst sie geschieht, denn die
beherrschte, unterdrückte und durch Selbsterhaltung aufgelöste Substanz ist gar nichts an-
deres als das Lebendige, als dessen Funktion die Leistungen der Selbsterhaltung einzig sich
bestimmen, eigentlich gerade das, was erhalten werden soll.« (ebd., S. 78)

Horkheimer und Adorno zielen nun darauf, aus dieser Logik auszubrechen, die
ihrer Meinung nach unverzichtbar für die Selbsterhaltung bis in die Gegenwart
andauert. Sie plädieren für eine aufhebende Lösung der Widersprüche statt einer
regressiven Aufhebung der Widersprüche im Sinne einer Reduktion der Einzelnen
auf bloß abhängige Momente der totalitären Gesellschaft das Wort zu reden, die
demnach allenfalls noch eine kulturindustriell erzeugte ›Pseudoindividualität‹ besä-
ßen. Der Einzelne schrumpfe nämlich im Sinne einer »Pseudoindividualität« (ebd.,
S. 182) »zum Knotenpunkt konventioneller Reaktionen und Funktionsweisen zu-
sammen, die sachlich von ihm erwartet werden« (ebd., S. 51). Dabei disqualifizie-
ren sie die gegenwärtigen Denk- und Lebensformen und – darauf machen etwa
Artur Bogner (1989) und Martin Kohli (1988) aufmerksam – hypostasieren den
frühkapitalistischen Unternehmer zum »Paradigma des ›Individuums‹« (Bogner
1989, S. 76). Damit reifizieren sie allerdings auch die »großbürgerliche Verachtung
der Massenindividualisierung« (Schroer 2001, S. 80), die sie doch so heftig kriti-
sieren.
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 251

2. Einwände gegen die ›Urgeschichte der Subjektivität‹

Bei näherer Betrachtung zeigen sich zwei Dinge. Erstens beantworten Horkheimer
und Adorno die Frage, wie Subjektivität entsteht, auf dem Hintergrund der
Freudschen Psychoanalyse. Diese kritisieren sie zwar: Zum einen wenden sie sich
dagegen, dass in den psychoanalytischen Begriffen Geschichte »zu einer endofami-
liären Konfliktgeschichte« (Rantis 2001, S. 44) zusammenschrumpfe. Dagegen be-
tonen sie die Bedeutung gesellschaftlicher Macht- und Herrschaftsverhältnisse für
die Konstituierung von Subjektivität. Zum anderen kritisieren Horkheimer und
Adorno, dass Sigmund Freud das Subjekt als Anfang der Geschichte unterstelle,
nicht als historisch Gewordenes. Zwar beschreibe Freud die verhängnisvollen
Mechanismen des Prozesses der Kulturentwicklung, jedoch ziehe er aus diesem
Prozess gerade nicht die notwendigen Konsequenzen für eine Kritik am gesell-
schaftlichen Prinzip der Herrschaft. In ihrer Reformulierung der Freudschen Zivi-
lisationsgeschichte in der Dialektik der Aufklärung tritt »an die Stelle des Trieb-
verzichts […] das Opfer des Selbst, an die Stelle der Introjektion › der Verin-
nerlichung der gehemmten Aggression, die Introversion der Opfers, die aber die
Bedeutung von Verinnerlichung hat […], und an die Stelle der Versagung die
Entsagung« (Rantis 2001, S. 85). Jedoch übernehmen Horkheimer und Adorno den
Gedanken Freuds, dass der kulturelle Fortschritt der Menschheit nur um den Preis
der individuellen Triebunterdrückung, insbesondere aber die Unterdrückung des
Sexualtriebes, zu erlangen sei. Sie unterstellen, dass die Beherrschung der Triebe
bzw. ihre adäquate Sublimierung angesichts des Zwangs zur Selbsterhaltung wie
zur Naturbeherrschung unhintergehbar ist und kommen zu dem Schluss: »Der
Fluch des unaufhaltsamen Fortschritts ist die unaufhaltsame Regression« (Hork-
heimer/Adorno 1944, S. 59). Ausgehend davon können die Überlegungen von
Horkheimer und Adorno als eine Reformulierung der psychoanalytischen Ent-
wicklungslehre in Gestalt der Theorie des Ödipus-Komplexes (vgl. Freud 1930)
angesehen werden. Damit aber historisieren und kontextualisieren Horkheimer
und Adorno zwar das von Freud postulierte Triebgeschehen. Gleichzeitig jedoch
ontologisieren sie die Vorstellung, dass die Verdrängung des Sexualtriebes not-
wendiger Bestandteil im Prozess der Konstituierung von Subjektivität sei.
Zweitens wird deutlich, dass Horkheimer und Adorno (1944, S. 78) in ihrer
›Urgeschichte der Subjektivität‹ die Geburt des modernen Subjekts als Geburt des
männlichen Subjekts rekonstruieren. Während der Mann sich über die Installierung
eines Herrschaftsverhältnisses über sich selbst individuieren kann – wohlgemerkt
allerdings derjenige nur, der sich für Odysseus Weise der Subjektivierung ent-
scheiden kann – wird der Frau »als Repräsentantin der Natur« (ebd., S. 95) genau
jene Möglichkeit abgesprochen. So notieren Horkheimer und Adorno (ebd.,
S. 135):
»Der Mann als Herrscher versagt der Frau die Ehre, sie zu individuieren. Die Einzelne ist
gesellschaftlich Beispiel der Gattung, Vertreterin ihres Geschlechts und darum, als von der
männlichen Logik ganz Erfaßte, steht sie für Natur, das Substratum nie endender Subsumtion
in der Idee, nie endender Unterwerfung in der Wirklichkeit. Das Weib als vorgebliches
Naturwesen ist Produkt der Geschichte, die es denaturiert.«
252 Andrea D. Bührmann

Horkheimer und Adorno konstatieren also, dass der Frau eine autonome Sub-
jektivierung versagt wird, ja sie wird immer in Abhängigkeit zum implizit männ-
lichen Subjekt gedacht, gerade weil der ›Mann als Herrscher‹ ihr die ›Ehre versagt‹,
die Frau zu individuieren. Das bedeutet auch, dass sich die Frau laut Horkheimer
und Adorno nicht selbst individuieren kann. Andrea Maihofer (1995, S. 113)
konstatiert in diesem Kontext: »Den Frauen wird Horkheimer und Adorno zu-
folge dagegen die Entwicklung eines eigenen Verhältnisses zu sich selbst als Subjekt
verweigert und die ›männliche‹ Form des Subjekts gleichsam von ›außen‹ als
Selbstverhältnis aufgezwungen.« Zugleich aber wird die Frau als Verkörperung des
Sexuellen in der Dialektik der Aufklärung als potenzielle Bedrohung der patriar-
chalen Ordnung und der männlichen Subjektivierung beschrieben (vgl. Horkhei-
mer/Adorno 1944, S. 56). In der Gestalt der Sirene bedrohe die Frau zwar die
männliche Subjektivierung, aber nur insoweit, wie der Mann nicht fähig sei, sich
selbst zu beherrschen. In der bürgerlichen Gesellschaft aber wird die Frau für
Horkheimer und Adorno schließlich zum Rätselbild von Unwiderstehlichkeit und
Ohnmacht. So spiegele sie »der Herrschaft die eitle Lüge wieder, die anstelle der
Versöhnung der Natur die eitle Lüge setzt« (ebd., S. 95). Und Horkheimer und
Adorno fahren fort: »Die Ehe ist der mittlere Weg der Gesellschaft, damit sich
abzufinden: die Frau bleibt die Ohnmächtige, indem ihr Macht nur vermittelt
durch den Mann zufällt« (ebd., S. 95 f.). Dabei verstehen Horkheimer und Adorno
die Prostituierte wie die Gattin als »Komplemente der weiblichen Selbstentfrem-
dung in der patriarchalen Welt: die Ehefrau verrät Lust an die feste Ordnung von
Leben und Besitz, während die Dirne, was die Besitzrechte der Gattin unbesetzt
lassen, als deren geheime Bundesgenossin nochmals dem Besitzverhältnis unter-
stellt und Lust verkauft« (ebd., S. 97).
Diese Rekonstruktion der Herausbildung moderner Subjektivität in der Dialek-
tik der Aufklärung ist im Rahmen der Frauen- und Geschlechterforschung vielfach
als Reproduktion traditioneller Weiblichkeitsentwürfe kritisiert worden (vgl. etwa
Benjamin 1982, Beer 1988, 1990, Kulke 1989, Rumpf 1990, Scheich 1988, Schultz
1992)

3. Die produktive Aneignung der ›Urgeschichte der Subjektivität‹ im


Rahmen der kritischen Frauenforschung

Während etwa Ursula Beer (1990, S. 78) noch die Frage verneint, ob sich mit
Adorno »das Materialismus-Postulat in eine begrifflich-analytische Form bringen
läßt und zur Verortung des Geschlechterverhältnisses in seiner objektiv-gesell-
schaftlichen Verankerung beiträgt«, insistieren in der deutschsprachigen Diskus-
sion vor allen Dingen Regina Becker-Schmidt und Gudrun-Axeli Knapp auf der
Anschlussfähigkeit der Kritischen Theorie, genauer zu den Autoren der Dialektik
der Aufklärung, für eine kritische, feministische Forschung. Becker-Schmidt und
Knapp plädieren dafür, die Erkenntnispotenziale der Kritischen Theorie für eine
Analyse der Geschlechterdifferenz und der gesellschaftlichen Organisation des
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 253

Geschlechterverhältnisses trotz deren androzentristischer Verkürzungen und Aus-


blendungen produktiv zu nutzen.
Becker-Schmidt (1992, S. 65) konzediert zwar, dass Adorno und Horkheimer
»trotz patriarchatskritischer Aspekte das Geschlechterverhältnis als Strukturzu-
sammenhang übersehen« hätten und dass sie »trotz ihrer Erkenntnisse über den
Zusammenhang von Naturbeherrschung und männlicher Individuation doch tradi-
tionellen androzentrischen Denkmustern« folgten (vgl. auch Becker-Schmidt
2000a, S. 56). So verführen Horkheimer und Adorno in ihren Untersuchungen zur
Gewaltförmigkeit der Vergesellschaftungsprozesse bezogen auf den weiblichen
Charakter identifizierend und naturalisierend. Dies hätte zur Konsequenz, dass sie
»die doppelte Vergesellschaftung von Frauen« übersähen und dass sie das »Frauen-
bild auf ein Hausfrauenklischee« reduzierten, » das dem gesellschaftlichen Erfah-
rungswert von häuslicher Arbeit nicht gerecht werde« (Becker-Schmidt 1991,
S. 390). Aber Becker-Schmidt insistiert auch auf der Produktivität zentraler Kate-
gorien und Denkbewegungen der Kritischen Theorie für eine Theorie des Ge-
schlechterverhältnisses. Zugleich verweist sie auf Kontinuitäten zwischen Kri-
tischer Theorie und der Erforschung des Geschlechterverhältnisses. Denn, so
bemerkt Becker-Schmidt (1992, S. 65), »viele erkenntnistheoretische und methodo-
logische Forderungen der Frankfurter Schule sind auch Ansprüche einer kritischen
Frauenforschung geworden«. An dieser Stelle benennt sie im Rekurs auf Seyla
Benhabib folgende Motive, in denen sich Kritische Theorie und kritische Frauen-
forschung träfen:

»1. die Zielsetzung, alle sozialen Phänomene als historische zu begreifen; 2. die Notwendig-
keit, Herrschaftsbedingungen und Mechanismen der Machtdurchsetzung aufzudecken; 3. den
Anspruch, das gesellschaftliche Ganze als einen aus strukturellen Gründen widersprüchlichen
Zusammenhang zu begreifen; 4. die Perspektive, Wissenschaft als Anleitung zu einer emanzi-
patorischen Praxis betreiben zu wollen.« (ebd., S. 66)

Darüber hinaus erscheinen Becker-Schmidt (ebd.) aber noch zwei weitere Motive
wichtig: »die wechselseitige Bezogenheit von kritischer Subjekt- und Gesellschafts-
theorie sowie – und damit auf engste zusammenhängend – die Vertretung des
Rechts auf Besonderung in der Interdependenz von Individuum und Allgemein-
heit«.
In einem früheren Aufsatz rekurriert Becker-Schmidt (vgl. 1991) auf Adornos
Begriff der Totalität, mit dem dieser die gesellschaftliche Organisation von Produk-
tion und Reproduktion als Ganzes erfasse und versuche, innere und äußere Verge-
sellschaftung der Subjekte als in dieser Totalität strukturell vermittelte und ver-
mittelnde zu verstehen. In diesem Kontext fordert Becker-Schmidt (vgl. 1991,
S. 392) schließlich, Geschlecht als soziale Strukturkategorie zu begreifen. Auf diese
Weise will sie die Defizite im Projekt der Kritischen Theorie mit empirisch-
historischen Forschungsbefunden füllen, um so die Leerstellen und Abstraktionen
in Bezug auf die Kategorie Geschlecht zu überwinden. Dabei fordert sie »die
Konnexionen im Geschlechterverhältnis zu denen zwischen gesellschaftlichen Sek-
toren in Beziehung zu setzen« (Becker-Schmidt 2000a, S. 56).
Auch Knapp plädiert für eine kritische Frauenforschung in der Tradition der
254 Andrea D. Bührmann

Kritischen Theorie. Sie kritisiert ausgehend vom ideologiekritischen Verfahren im


dialektischen Denken der Kritischen Theorie das von Ilona Ostner und Elisabeth
Beck-Gernsheim formulierte Konzept des weibliches Arbeitsvermögens (vgl.
Beck-Gernsheim 1978) sowie das von Marie Mies entwickelte Konzept des weib-
lichen Gegenstandsbezugs (vgl. Mies 1980). Diese Konzepte essentialisierten Weib-
lichkeitsstereotypen, substantialisierten so bestimmte Sichtweisen auf Frauen und
produzierten so letztlich Ideologie (vgl. dazu Knapp 1988). Aufgabe einer kriti-
schen Frauenforschung sei es demgegenüber in einer ›Doppelorientiertung‹ sowohl
›soziale Identitätszwänge‹ als auch ›Motive der Nichtübereinstimmung‹ in den
Blick zu nehmen. Denn, so Knapp (1989, S. 268) weiter:
»Frauenforschung und feministische Selbstreflexion darf sich nicht damit bescheiden, das zu
registrieren, was (allzu) manifest ist. Die bloße Abbildung des Status quo – sei es in der
Theorie oder in empirischen Untersuchungen – läuft stets Gefahr, Frauen auf das fest-
zunageln, was ihnen historisch zugestanden wurde […]. Aus politischen und theoretischen
Erwägungen heraus« gehe es deshalb, »darum, ›Kräfte und Gegenkräfte‹ […] im Blick zu
halten und ihrem Verhältnis nachzuspüren – historisch-gesellschaftlich wie in den Sub-
jekten.«
In diesem Spannungsfeld spreche sich die Wahrheit einer Gesellschaft aus. Im
Bezug auf diese Wahrheit erweise sich» denn auch «der Realitätsgehalt feminis-
tischer Politik». Es geht also nicht nur darum, im Rahmen einer Historisierung die
objektivierten gesellschaftlichen Herrschaftszusammenhänge zu untersuchen und
so die Organisation des Geschlechterverhältnisses, seine Veränderungen und Un-
gleichzeitigkeiten zu erforschen, sondern gleichzeitig auch darum, im Rahmen
einer Kontextualisierung die strukturelle Einbindung von Männern und Frauen in
jedem einzelnen sozialen Feld zu konkretisieren und in ihren subjektiven Dimen-
sionen auszuloten.
Ausgehend von diesen theoretischen Reflexionen, aber auch im Rekurs auf ihre
eigenen empirischen Forschungsbemühungen entwickeln Becker-Schmidt und
Knapp im Rahmen eines weitgehend gemeinsamen Forschungsprozesses das Theo-
rem der doppelten und widersprüchlichen Vergesellschaftung von Frauen. Dieses
Theorem skizzieren Becker-Schmidt und Knapp (1995a, S. 11 f.) folgendermaßen:
»Frauen sind in zweifacher Hinsicht vergesellschaftet – sie sind Hauptakteurinnen der
privaten Reproduktion und partizipieren an den marktvermittelten gesellschaftlichen Sphä-
ren. Dieses doppelte gesellschaftliche Engagement bringt ihnen jedoch keine Vorteile ein,
sondern im Gegenteil strukturelle Benachteiligungen gegenüber Männern. Da geschlechtliche
Hierarchisierungen alle sozialen Bereiche durchziehen, erfahren Frauen sowohl im privaten
wie im öffentlichen Bereich Diskriminierungen – ihre Existenzmöglichkeiten sind insgesamt
im Durchschnitt eingeschränkter als die der Männer. […] Frauen sind als Berufstätige und als
Hauptverantwortliche im privaten Bereich doppelt, aber auch grundsätzlich anders verge-
sellschaftet als Männer. Ihnen wird eine andere Planung ihrer Biographien, die Verknüpfung
gegenläufiger Zielvorstellungen und das Ausbalancieren widersprüchlicher Verhaltensanfor-
derungen im Wechsel zwischen privater Lebenswelt und Berufssphäre abverlangt. Sie sind
überdies Grenzgängerinnen zwischen kulturellen Sphären, die – wenn auch in bereichsspezi-
fisch unterschiedlichen Ausprägungen – männlich dominiert oder weiblich konnotiert sind.«
Auf das von Becker-Schmidt und Knapp formulierte methodologische, theoreti-
sche und empirischem Forschungsprogramm und seine Implikationen beziehen
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 255

sich viele Sozialwissenschaftlerinnen positiv. Ja, es avanciert spätestens Anfang der


1990er Jahre zu einer der zentralen Forschungskonzeptionen in der deutsch-
sprachigen Frauen- und Geschlechterforschung (vgl. etwa Müller/Schmidt-Wald-
herr 1993, S. 1f.). In den vom Theorem der doppelten und widersprüchlichen
Vergesellschaftung inspirierten Arbeiten kristallisieren sich insbesondere zwei For-
schungsschwerpunkte heraus: Erstens geht es um eine differenzierte Betrachtung
der sozialen Strukturkategorie Frau im Zusammenhang mit anderen Dimensionen
sozialer Ungleichheit, wie etwa Klasse und Ethnie. Zugleich werden die Folgen der
Globalisierung und speziell das Verhältnis zwischen Geschlecht, Ethnizität und
Globalisierung diskutiert. Zu nennen sind hier neben Beiträgen von Becker-
Schmidt und Knapp beispielsweise die Studien von Beer (1990), Gottschall (1995,
2000), Krüger (1995), Lenz (1995), Lenz/Germer (1996) und Wetterer (1992). Diese
Studien zielen auf den gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang und darin insbe-
sondere auf das Verhältnis der Geschlechter im Zusammenhang auch anderer
Herrschafts- und Ungleichheitsstrukturen (vgl. Gerhard 1991). Damit ist eine
wichtige Erweiterung des Theorems von der doppelten und widersprüchlichen
Vergesellschaftung angesprochen. Ilse Lenz (vgl. 1995) plädiert nämlich für eine
Erweiterung des Theorems der doppelten und widersprüchlichen Vergesellschaf-
tung mit Blick auf die Komplexität des Zusammenhangs zwischen weltweiten
gesellschaftlichen Entwicklungen, den Ungleichzeitigkeiten verschiedener Gesell-
schaftsordnungen und der Konsequenzen dieser hierarchischen Verflechtungen für
Frauenbewegungen.
Zweitens geht es um die Analyse der Vermittlungen der gesellschaftlichen
Macht- und Herrschaftsbeziehungen mit den inneren Dynamiken der Subjekte.
Soziale Verhältnisse werden dabei nicht einfach als determinierende Faktoren
betrachtet, dem Menschen ohne Widerstandspotenziale unterworfen seien. In An-
lehnung an die Freudsche Psychoanalyse, für die Subjektivität sich im Konflikt mit
inneren und äußeren Verhältnissen sowie zwischen inneren Impulsen des Subjekts
entwickelt, wird Subjektivität im Konflikt mit sich selbst sowie mit den wider-
sprüchlichen sozialen Bedingungen erforscht. Diese Forschungsperspektive redu-
ziert den Zusammenhang zwischen Gesellschaft und Subjekt gerade nicht auf
subjektive Anpassungsprozesse an herrschaftsförmige Verhältnisse, sondern öffnet
den Blick für Identitätszwänge, die in gesellschaftlichen Verhältnissen begründet
sind, aber auch für Widerstandspotenziale der Subjekte. In diesem Zusammenhang
kritisieren insbesondere Becker-Schmidt und Knapp zwar immer wieder psycho-
analytische Forschungskonzeptionen und plädieren für ihre feministische Revision.
Dabei wird die Vorrangstellung des Vaters und die ödipale Konfliktkonstellation
durch die Hervorhebung der Mutter-Tochter- bzw. Mutter-Sohn-Beziehung in den
präödipalen Phasen kritisiert, die der Triangulierung vorausgehen. Zugleich gilt die
weibliche Entwicklung nicht mehr mit der Latenzperiode als beendet. Schließlich
findet die Dynamik der Adoleszenz Einzug in die Erforschung weiblicher Ent-
wicklung, wobei die Triebtheorie von Freudschen Einseitigkeiten bereinigt wird.
Gleichzeitig jedoch beziehen sich die Vertreterinnen der kritischen Theorie, insbe-
sondere aber Becker-Schmidt und Knapp immer wieder positiv auf psychoanalyti-
sche Kategorien und Denkbewegungen (vgl. etwa Becker-Schmidt 1989, 1992,
1995; Becker-Schmidt/Knapp 1995a, 2000; Knapp 1995).
256 Andrea D. Bührmann

So loten etwa Becker-Schmidt et al. (1982, 1983) die subjektiven Erfahrungs-


dimensionen von weiblicher Arbeit zwischen Familie und Fabrik aus. Diese Erfah-
rungen beschreiben die Forscherinnen mit der psychoanalytischen Kategorie Am-
bivalenz, wenden diese allerdings sozialpsychologisch und kommen zu dem
Schluss, dass die formulierten Ambivalenzen als Ausdruck einer gesellschaftlichen
Realität zu verstehen sind, die Frauen widersprüchliche Anforderungen aufzwingt.
In späteren Arbeiten fragt Becker-Schmidt (1995) – zwar in kritischer Abgrenzung
von traditionellen psychoanalytischen Konzepten und im Rekurs auf feministische
Reformulierungen der Psychoanalyse, gleichwohl jedoch im Rückgriff auf psycho-
analytische Denkbewegungen und Kategorien –, wie Entwicklungen geschlechts-
spezifisch verlaufen und welche biographischen Orientierungen sie zur Folge
haben. Dabei steht das Schicksal von homo- und heterosexuellen Identifikationen
im Mittelpunkt, die auf dem Begehren nach sozialer Anerkennung und Geltung
basieren. Nach Ansicht von Becker-Schmidt (1995, S. 242) muss es darum gehen,
»eine Triebtheorie der Wißbegierede, der Neugierde und des Geltungsdrangs zu
entwickeln, eine Triebtheorie, die ebenso wie die der sexuellen oder narzißtischen
Libido unbewußte Dynamiken und Ambivalenzen berücksichtigt.« Und auch
Knapp (1995, S. 188) betont in ihrem Beitrag »Unterschiede machen: Zur Sozial-
psychologie der Hierarchisierung im Geschlechterverhältnis«, dass das »verge-
schlechtlichte Subjekt« nicht alleine aus »sexuierten Wahrnehmungs-, Zuschrei-
bungs- und Interaktionsroutinen« hervorgehe. Ebenso wenig gehe es in diesen
Routinen auf, »wie – im Gegensatz zu stromlinienförmig ausgerichteten Kon-
zepten geschlechtstypischer Sozialisation – vor allem die Psychoanalyse« deutlich
gemacht habe.
In der Einleitung zu ihrem Sammelband Das Geschlechterverhältnis als Gegen-
stand der Sozialwissenschaften (1995) bestimmen Becker-Schmidt und Knapp
schließlich unterschiedliche Dimensionen, die im Begriff ›Geschlecht‹ auftauchen.
Dabei wollen sie eine ›Orientierungshilfe‹ bieten, indem sie die Frage beleuchten,
auf welche Problemstellungen die einzelnen Elemente des Begriffs ›Geschlecht‹
verweisen. In diesem Kontext konstatieren Becker-Schmidt und Knapp in Bezug
auf den Begriff der Geschlechtsidentität, dass »sexuelle und soziale Identität im
Prozeß der Individuation nicht zu trennen« seien, sie hätten »jedoch durchaus
unterschiedliche Triebfedern: gleich- und gegengeschlechtliche libidinöse Objekt-
wahlen und mimetische Identifikationen« (Becker-Schmidt/Knapp 1995a, S. 17).
Und Becker-Schmidt und Knapp (ebd.) fahren fort:
»Der Begriff Geschlechtsidentität kann darum bezogen sein auf sexuelle Orientierungen in
der Objektwahl und im Selbstbild (homosexuell, transsexuell, heterosexuell). Die Beschäfti-
gung mit der Vielfalt von Ausprägungen sexuellen Begehrens hat in wichtigen Strömungen
des Feminismus (Sozialer Konstruktivismus, Ethnomethodologie, Poststrukturalismus) zu
einer kritischen Auseinandersetzung mit der gesellschaftlichen Normierung von Sexualität
und der Festlegung auf eindeutige Geschlechtsidentitäten geführt: die phallokratische He-
terosexualität wurde als Zwangsheterosexualität in Frage gestellt und die Stereotypisierung
von Weiblichkeit und Männlichkeit problematisiert.«

Die Autorinnen stellen die eindeutige Festlegung von Geschlechtsidentitäten in


Frage, jedoch scheint es so, als problematisieren sie den Umstand, dass gerade
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 257

Sexualität bzw. der Sexualtrieb für die Geschlechtsidentität eine zentrale Bedeutung
zugeschrieben wird, selbst nicht. Vielmehr erhält sie – anders in den Ausführungen
zu den Dimensionen Geschlechterdifferenz, Gender, Genus-Gruppe, Geschlech-
terbeziehungen und Geschlechterverhältnisse – einen vorgeschichtlichen, überzeit-
lichen Beiklang. Wenn aber die jeweilige Organisation des Triebapparates kulturell
bedingt ist, ergibt sich gleichwohl die Forderung, die Prozesshaftigkeit und damit
auch ihre historisch-konkreten und möglichen Variationen der Herausbildung von
Subjektivität systematisch zu thematisieren und begrifflich zu reflektieren, so dass
es möglich ist, jene Zentralität von Sexualität für die Organisation des Trieb-
apparates zu hinterfragen. Diese Forderung erscheint mir mit Blick auf das histo-
risch-konkrete Transformationsgeschehen von Subjektivierungsweisen zentral.

4. ›Kurskorrekturen‹: kritische und/oder poststrukturalistische


Frauen- und Geschlechterforschung?

Die erwähnte Forderung verweist zunächst auf Studien zur sozialen Konstruktion
der Zweigeschlechtlichkeit und deren Reifizierung. Einige Autorinnen wie etwa
Regine Gildemeister und Angelika Wetterer (1992), aber auch Cornelia Ott (1998)
beziehen sich positiv auf die kritische Frauenforschung, da sie den prozessuralen
Charakter von Vergeschlechtlichung in den Mittelpunkt rücke, Brüche bzw. Wi-
dersprüche sichtbar mache und so eine Reifizierung des Weiblichen hintergehe.
Gegen Konzeptionen, die die Kategorie Geschlecht ausschließlich als Phänomen
sozialer Konstruktion begreifen, plädieren sie für eine Rückbindung der Erfor-
schung des Geschlechterverhältnisses an gesamtgesellschaftliche Analysen. Zu-
gleich wird kritisiert, dass viele Studien zur sozialen Konstruktion von Geschlecht
innerpsychische Dynamiken in der Konstitution geschlechtlicher Subjektivität
weitgehend ausblenden.
Damit ist eine Kontroverse zwischen Forscherinnen, die sich dem Denken
Horkheimers und Adornos verpflichtet fühlen, und Forscherinnen, die sich auf
poststrukturalistische Theorietraditionen beziehen, angesprochen, obgleich auch
hier zumindest Affinitäten in Bezug auf eine Kritik an vereinheitlichenden ontolo-
gisierenden Identitätskonzepten aufzufinden sind. Im Mittelpunkt steht dabei,
ausgehend von der Überlegung, dualistische Geschlechtervorstellungen bzw. -ord-
nungen implizierten normative bzw. normalisierende Wirkungen, die Frage: Wie
kann die Kategorie Geschlecht als soziale bzw. kulturelle Konstruktion begriffen
werden, ohne zugleich davon zu abstrahieren, dass eben diese Kategorie als struk-
turierendes Merkmal des gesellschaftlichen Zusammenlebens wirkt? Im Verlauf der
Auseinandersetzung werden ethnomethodologische, sozialkonstruktivistische und
dekonstruktivistische bzw. poststrukturalistische Forschungsansätze kontrovers
diskutiert. Die Debatte selbst entzündet sich in der deutschsprachigen Frauen-
bzw. Geschlechterforschung vor allem an Judith Butlers 1990 veröffentlichten
Studie Gender Trouble. Feminism and the Subversion and Identity (Das Unbe-
hagen der Geschlechter, 1991a).
258 Andrea D. Bührmann

Ausgehend von der Infragestellung eines ›mimetischen Verhältnisses‹ zwischen


geschlechtlicher Identität und Körpergeschlecht entwickelt Butler die These, dass
die Klassifizierungen von und die Differenzierungen zwischen biologischem und
sozialem Geschlecht keine Beschreibungen der Realität darstellen. Vielmehr wür-
den biologisches und soziales Geschlecht über spezifische diskursive Praktiken
konstituiert. Butler argumentiert, dass Geschlechterdifferenz und damit ge-
schlechtliche Identität eine »Fiktion« (Butler 1991b, S. 65), d. h. eine Kopie ohne
Original, sei. Betont Butler an dieser Stelle noch die Fiktionalität des Körpers, so
stellt sie 1993 in Entgegnung auf den Vorwurf der Entkörperung in ihrer Studie
Bodies that matter (Körper von Gewicht, 1995) fest, dass es sich beim biologischen
Geschlecht um eine Fiktion handele, in deren Notwendigkeit Menschen lebten und
ohne die das Leben selbst undenkbar sei. Sie bestreitet also nicht die Materialität
des Körpers. Vielmehr, so Butler (ebd., S. 41), gehe es ihr darum, die »normativen
Bedingungen zu klären, unter denen die Materialität des Körpers gestaltet und
gebildet wird, und insbesondere, wie sie durch differentielle Kategorien des Ge-
schlechts gebildet wird«. In diesem Kontext versteht Butler Materie als »etwas zu
Materie Gewordenes«, das ihrer Ansicht nach »mit Bezug auf die produktiven und
eben auch materialisierenden Effekte von regulierender Macht im Foucaultschen
Sinne gedacht werden« (ebd., S. 31) müsse.
In ihren Analysen zur Materialität der Geschlechtskörper beschreibt Butler
Materialität allerdings nicht als etwas historisch Gewordenes. Damit ist auf eine
grundsätzliche Kritik an Butlers Vorgehensweise verwiesen, die im Rahmen der
deutschsprachigen Forschung vielfach formuliert worden ist (vgl. für eine Über-
sicht der Kontroverse Knapp 2000, Maihofer 1995). Insbesondere Vertreterinnen
einer kritischen Frauenforschung monieren, dass Butler von den historischen
Bedingungen der Bezeichnungspraxen abstrahiere. Butler ontologisiere ›Macht‹,
›Diskurs‹ und ›Kultur‹ zu Instanzen, die sie weder kontextualisiere noch his-
torisiere. Da ihre Analyse nicht die Ebene des Diskurses verlasse, komme es zu
einer Reduktion gesellschaftlicher Prozesse, anstatt das Zusammenspiel von Hand-
lung und Struktur, Individuum und Gesellschaft zu analysieren. Dies habe zur
Konsequenz, dass der komplexe, widersprüchliche Charakter der Geschlechterver-
hältnisse und deren historischen Transformationen ausschließlich aus einer dis-
kursiven Eigengesetzlichkeit begriffen werden könne. Damit aber bleibe unreflek-
tiert, dass das Geschlechterverhältnis in seinen spezifischen Organisationsformen
nicht nur etwas diskursiv Hervorgebrachtes, sondern auch etwas innerhalb von
sozialen Macht- und Herrschaftsverhältnissen Gewordenes sei: die Konstruktionen
der Geschlechterdifferenzen würden nicht auf die Konstellationen von Geschlech-
terverhältnissen bezogen, so dass es letztlich zur Vernachlässigung, wenn nicht
Ausblendung gesellschaftstheoretischer Dimensionen komme. Die zentrale Frage
für die Kritikerinnen der Thesen von Butler lautet also: Können Identitätskonzepte
durch dekonstruierende Verfahren entmächtigt werden, wenn deren sozio-kultu-
relle Konstituierung und Verfestigungen in gesellschaftlichen Strukturzusammen-
hängen nicht die gleiche Aufmerksamkeit erfahren wie deren Genese als Wissens-
form?
Die zunächst bisweilen erregt geführte Kontroverse um Butlers Thesen mündet
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 259

Ende der 1990er Jahre in weniger aufgeregte Versuche, die produktiven Impulse
ihrer Thesen und auch anderer poststrukturalistischer Forschungskonzepte mit
gesellschaftstheoretisch orientierten Forschungskonzeptionen zu verknüpfen. In
diesem Kontext scheint mir eine ›Rückbesinnung‹ auf die Arbeiten von Michel
Foucault besonders fruchtbar, auf den sich ja auch Butler explizit bezieht.

5. Foucault und die ›Urgeschichte der Subjektivität‹

Auch Foucault versteht – wie Horkheimer und Adorno – seine Forschungsbemü-


hungen im Rahmen seiner ›kritischen Ontologie der Gegenwart‹ als eine Kritik der
Gegenwart in Bezug auf das Verhältnis von Macht und Rationalität. Und auch im
Zentrum seiner Studien steht die Frage nach den Individualisierungschancen und
-risiken in modernen Gesellschaften und ihrer historischen Genese. Foucault hat
diese Übereinstimmung hervorgehoben. So rechnet Foucault sich selbst zur Tradi-
tion der aufklärerischen Philosophie: »Diese Form der Philosophie hat von Hegel
bis zur Frankfurter Schule […] eine Form der Reflexion begründet, in der ich zur
arbeiten versucht habe« (Foucault 1984, S. 11).
Allerdings grenzt er sich dezidiert vom Projekt der Kritischen Theorie ab,
insofern er den kritischen Impuls der Kritischen Theorie radikalisiert. Ausgehend
davon, dass für Foucault Macht – anders als für Horkheimer und Adorno (vgl.
Dews 1989) nicht nur repressiv, sondern auch produktiv funktioniert, geht es
Foucault darum, Vorstellungen eines ›eigentlichen‹, ›wahren‹, ›authentischen‹ We-
sens von Subjektivität zu zerstören:

»Die Menschen haben nie aufgehört, sich selbst zu erzeugen, d. h. den Entwurf ihrer
Subjektivität ständig zu verlagern, sich in einer unendlichen und vielfältigen Reihe ver-
schiedener Subjektivitäten zu konstituieren, die niemals ein Ende haben wird und uns niemals
etwa gegenüberstellen wird, was ›der Mensch‹ wäre.« (Foucault 1981, S. 67)

Diese Zerstörung essentialistischer Vorstellungen von Subjektivität bezeichnet


Foucault als die entscheidende Differenz seiner Forschungsbemühungen zum Pro-
jekt der Kritischen Theorie. Seiner Ansicht nach nämlich glauben die Vertreter der
Kritischen Theorie, dass

»die ›Erzeugung des Menschen durch den Menschen‹ wesentlich in der Notwendigkeit
bestehe, all das zu befreien, was in dem an die Rationalität gebundenen repressiven bzw. an
die Klassengesellschaft gebundenen Ausbeutungssystem von dem Menschen und seinem
fundamentalen Wesen bloß abseitig erlebt worden ist.« (ebd., S. 66)

Foucault sieht das Problem gerade nicht darin, eine verlorene Form von Sub-
jektivität, also im Sinne der kritischen Theorie die bürgerlicher Individualität,
wieder zu erlangen und diese zu befreien. Vielmehr betrachtet er diese Vorstellung
von Subjektivität, insbesondere aber die psychoanalytischen Vorstellungen Freud-
scher und auch Lacanscher Prägung als außerordentlich problematisch. So konsta-
tiert er:
260 Andrea D. Bührmann

»Der Mensch, von dem man uns spricht und zu dessen Befreiung man uns einlädt, ist bereits
in sich das Resultat einer Unterwerfung, die viel tiefer ist als er. Eine ›Seele‹ wohnt in ihm und
schafft ihm eine Existenz, die selber ein Stück der Herrschaft ist, welche die Macht über den
Körper ausübt. Die Seele: Effekt und Instrument einer politischen Anatomie.« (Foucault
1976, S. 42)

An anderer Stelle notiert er, wie Thomas Schäfer (vgl. 1995, S. 176) meint, direkt
gegen das Denken von Horkheimer und Adorno in der Dialektik der Aufklärung
gewendet: »Die schöne Totalität des Individuums wird von unserer Gesellschafts-
ordnung nicht verstümmelt, unterdrückt, entstellt; vielmehr wird das Individuum
darin dank einer Taktik der Kräfte und der Körper sorgfältig fabriziert« (Foucault
1976, S. 278 f.). Und Foucault fährt unmittelbar fort: »Wir sind weit weniger
Griechen als wir glauben« (ebd., S. 279).
In dieser Perspektive können zumindest der erste und der zweite Band seiner
Studien zur Histoire de la sexualité (Sexualität und Wahrheit, 1976, 1984) auch als
kritische Antwort auf die Dialektik der Aufklärung dechiffriert werden. Im zwei-
ten Band dieser Studien (vgl. Foucault 1989) erforscht Foucault unter anderem die
Selbsttechniken griechischer adliger Männer und kommt – anders als Horkheimer
und Adorno in ihrer Interpretation der Odyssee – zu dem Ergebnis, es gehe in
Bezug auf das Begehren um seine Ausübung in gesundem Maße, nicht um das
Entsagen der Lust. Im ersten Band (vgl. Foucault 1977) betont Foucault, dass das
bürgerliche Individuum über diskursive und nicht diskursive Praktiken, in dem so
genannten Sexualitätsdispositiv, erst hervorgebracht werde. Die damit verbundene
Subjektivierungsweise mit ihrer Aufwertung des Körpers diene als Moment einer
Selbststilisierung der bürgerlichen Klassen und damit zugleich zur Abgrenzung
gegenüber Adel und Proletariat. Foucault (ebd., S. 153) konstatiert, »daß die
Sexualität in ihrem historischen Ursprung bürgerlich ist und daß sie in ihren
sukzessiven Verschiebungen und Übertragungen zu spezifischen Klasseneffekten
führt«. Zwar reiche die Genealogie des Sexualitätsdispositivs bis zu den christli-
chen Pastoralpraktiken des Mittelalters zurück, aber – und das scheint mir wichtig
– es erlange erst zum Ende des 19. Jahrhunderts in der abendländischen Kultur eine
immer zentralere Bedeutung. Erst zu diesem Zeitpunkt entsteht laut Foucault über
diskursive Praktiken die Vorstellung von der eigentlich sexuellen Natur des Men-
schen. Diese Vorstellung werde dann im Sexualitätsdispositiv über vier Strategien
durchgesetzt, indem nämlich der kindliche Sex pädagogisiert, Ehepaare in ihrem
Fortpflanzungsverhalten sozialisiert, der weibliche Körper hysterisiert und die
perverse Lust psychiatrisiert werden (vgl. Foucault 1977, S. 126 f.).
Die materialreichen historischen Studien Foucaults machen deutlich, dass das
bürgerliche Individuum als eine mögliche historisch-konkrete Subjektivierungs-
weise zu begreifen ist. Damit fungiert es nicht mehr als das Ideal, das es einmal
gegeben hat, und das wieder zu befreien ist, wie Adorno und Horkheimer po-
stulieren. Das Unbewußte, die Seele mit ihren Trieben, entziffert Foucault nicht
wie in der Dialektik der Aufklärung als anthropologische Konstante. Vielmehr
werde diese Seele erst mit der Konstituierung des modernen Subjekts in Gestalt des
bürgerlichen Individuums hervorgebracht.
Foucault kritisiert also Horkheimer und Adorno nicht wie Habermas für ihren
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 261

Pessimismus, sondern für ihren Optimismus, zu wissen, wie Subjekte ›eigentlich‹


sein sollen bzw. wollen. Dabei wendet er sich – wie insbesondere Adorno in
einigen Aphorismen der Minima Moralia (1980) – auf schärfste gegen die Psycho-
analyse als therapeutische Methode. Darüber hinaus stimmt Foucault mit Hork-
heimer und Adorno darin überein, dass sich bürgerliche Individuen selbst späte-
stens ab der Mitte des 20. Jahrhunderts als ›Begehrens-Subjekt‹ begreifen, um sich
gegen den Adel und proletarische Schichten abzugrenzen. Deshalb macht es auch
Sinn, ihre inneren psychischen Dynamiken psychoanalytisch oder besser, ausge-
hend von Konzepten einer von der Frauen- und Geschlechterforschung revidierten
Sozialpsychologie zu beschreiben. Dieser heuristische Nutzen gilt jedoch – wie
gesagt – nur für historische Zeiträume, in denen das Sexualitätsdispositiv und damit
verbunden das bürgerliche Individuum als ›Begehrens-Subjekt‹ gesellschaftlich
hegemonial ist.
Foucault öffnet damit den Forschungshorizont für Fragen nach dem Trans-
formationsgeschehen von Subjektivität und relativiert zugleich den normativen
Status bürgerlicher Individualität. Mit ihm ist nicht nur zu fragen, wie Menschen
Subjektivität im Sinne bürgerlicher Individualität erlangen können und ob über-
haupt. Vielmehr ist nun auch zu fragen, wer, wie, weshalb welche Subjektivität
erlangen kann und wie sich jene Weisen der Subjektivierung historisch-konkret
transformieren. Foucault geht diesen Fragen nach, indem er diejenigen diskursiven
und nicht diskursiven Praktiken erforscht, über die eine bestimmte historisch-
konkrete Subjektivierungsweise hervorgebracht wird. Dieses Analyseverfahren läßt
sich als dispositivanalytisches Verfahren rekonstruieren. Allerdings abstrahiert
Foucault in seinen Dispositivanalysen, in denen die Archäologie und Genealogie
moderner Subjektivierungsweisen im Zentrum stehen, von den gesellschaftlichen
Macht- und Herrschaftsbeziehung und deren subjektiven Vermittlungen in den
Praxen der Individuen. Zudem bildet die Kategorie Geschlecht eine systematische
Leerstelle in seinen Analysen (vgl. dazu Bührmann 2002).

6. Historisierung und Kontextualisierung moderner


Subjektivierungsweisen

Nichtsdestotrotz denke ich, dass sich Foucaults Analysen fruchtbar mit dem
Forschungsprogramm einer kritischen Frauenforschung verknüpfen lassen.
Auf der einen Seite radikalisiert Foucaults Frage nach den Transformierungsge-
schehen moderner Subjektivierungsweisen die Frage der kritischen Frauenfor-
schung nach den subjektiven Vermittlungen gesellschaftlicher Macht- und Herr-
schaftsverhältnisse in den Individuen, insofern er den Blick auf die inneren Dyna-
miken selbst historisiert. Anstatt nämlich zu postulieren, die Konstituierung von
Subjektivität sei zentral mit Sexualität verbunden, geht es Foucault gerade darum
zu klären, wie Sexualität für die Konstituierung von Subjektivität zentral werden
konnte. Damit aber wird es möglich, nach den historisch-konkreten Weisen der
Subjektivierung, ihren Transformationen und den damit verbundenen Ungleich-
262 Andrea D. Bührmann

zeitigkeiten, Widersprüchen und Brüchen zu fragen und so ihre Relevanz für die
Konstituierung der Geschlechterverhältnisse zu erforschen. Mit Blick auf eine
solche Historisierung erscheint es mir sinnvoll, den Begriff Geschlechtsidentität
nur noch in Bezug auf die gesellschaftlich hegemoniale Weise von Subjektivierung
im 20. Jahrhundert zu sprechen, in der Sexualität eine zentrale Rolle einnimmt. Als
übergeordneten Begriff für die Dimension von Geschlecht schlage ich den Begriff
geschlechtliche Identität vor. Dieser Begriff soll auf die historische Gewordenheit
und gesellschaftliche Veränderbarkeit menschlicher Subjektivierungsweisen ver-
weisen.
Auf der anderen Seite kann ausgehend von der Forschungsergebnissen der
kritischen Frauenbewegung erforscht werden, über welche spezifischen geschlecht-
lichen Subjektivierungsweisen Menschen unterschiedliche und widersprüchliche
Formen der Vergesellschaftung erfahren, die bis in ihre Persönlichkeitsstrukturen
hineinreichen. Eine solche Beleuchtung der widersprüchlichen und konflikthaften
männlichen und weiblichen Subjektivierungsweisen – ausgehend von der Kategorie
Geschlecht als Strukturkategorie – ermöglicht es dann, diejenigen Verabsolutierun-
gen, die Foucault in seinen unterschiedlichen Studien zur (Trans-)Formierung
moderner Subjektivierungsweisen gerade durch die Ausblendung der Kategorie
Geschlecht unterlaufen, produktiv zu überwinden. Dabei hat sich im übrigen ein
Rekurs auf die Psychoanalyse und ihrer Revisionen durch die Frauen- bzw.
Geschlechterforschung für den historischen Zeitraum als außerordentlich fruchtbar
erwiesen, in dem geschlechtliche Identität als Geschlechtsidentität hegemonial
erscheint (vgl. dazu Bührmann 2000).
Es stellt sich mit Blick auf diese Überlegungen also nicht nur die Frage nach den
Widerstandspotenzialen in den Individuen, sondern auch nach den historisch-
konkreten Transformierungen geschlechtlicher Identität und deren Konsequenzen
in den Individuen sowie den Möglichkeiten und Grenzen von Taktiken bzw.
Strategien zur Reformulierung geschlechtlicher Identitäten und ihrer Konsequen-
zen im Hinblick auf die gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse.
Indem aber die Erkenntnisse der kritischen Frauenforschung mit den Frage-
perspektiven einer gesellschaftstheoretisch fundierten Dispositivanalyse verbunden
werden, können nun jene Kämpfe um geschlechtliche Identität in ihren unter-
schiedlichen Dimensionen ausgelotet werden.
Ich denke, dass die Frauen- bzw. Geschlechterforschung ausgehend von diesen
Überlegungen einer doppelten Herausforderung gegenübersteht: Zum einen geht
es um eine radikale historisierende und kontextualisierende ›Dekonstruktion‹ ihrer
Konzepte, Theorien und Ansätze, die ihre eigenen Prämissen kritisch hinterfragt.
Zum anderen geht es mit Blick auf das Geschlechterverhältnis und seine Organisa-
tionsformen um eine historisierende und kontextualisierende ›Rekonstruktion‹ der
gesellschaftlichen Macht- und Herrschaftsverhältnisse und ihrer subjektiven Ver-
mittlungen in den Individuen, um deren Widerstandspozentiale sichtbar zu ma-
chen.
Überlegungen zum Projekt einer kritischen Geschlechterforschung 263

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264 Andrea D. Bührmann

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Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus
und Postfordismus
Thilo Naumann

Die Analyse von Sozialcharakteren ist seit den frühesten Jahren des Frankfurter
Instituts für Sozialforschung (IfS) Arbeitsprogramm der Kritischen Theorie. Sie
beruht wesentlich auf der Entwicklung einer analytischen Sozialpsychologie, die
sich dem Problem widmet, wie die Menschen innerhalb historisch-spezifischer
Herrschaftsverhältnisse bis in ihre Leiblichkeit hinein als Subjekte im Doppelsinn
des Wortes, unterworfen und autonom, konstituiert werden, welche sozialisatori-
schen Beschädigungen sie dabei davontragen und wie diese Beschädigungen zur
Reproduktion der Herrschaftsverhältnisse indienstgenommen werden. Die er-
kenntnisleitende Frage lässt sich mit Judith Butler, hier in bemerkenswerter Nähe
zur Kritischen Theorie, folgendermaßen formulieren: Wie wird die Subjektbildung
als Begehren nach Existenz an eine lebbare Gesellschaftlichkeit gekoppelt – »wie
wird aus der Unterwerfung des Begehrens ein Begehren der Unterwerfung«?
(Butler 2001, S. 23). Für das Arbeitsprogramm kritischer Theorie ergeben sich aus
dieser Fragestellung folgende Konsequenzen. Sie muss zunächst der Eigenlogik
gesellschaftlicher und subjektiver Verhältnisse Rechnung tragen. Sie muss überdies
sowohl objektivistische Verkürzungen vermeiden, weil sonst Leid und Wünsche
der Subjekte dem analytischen Blick entgleiten, als auch subjektivistische Verkür-
zungen, die allein den Subjekten die Kosten leidvoller Vergesellschaftungsbe-
dingungen aufbürden. Dementsprechend muss kritische Theorie eine interdiszipli-
näre Zusammenarbeit von Subjekt- und Gesellschaftstheorie einrichten. Schließlich
können Subjekt- und Gesellschaftstheorie infolge der Historizität ihrer Erkennt-
nisgegenstände, infolge der historischen Transformation subjektiver und gesell-
schaftlicher Verhältnisse, »nicht länger an ihren Inhalten festhalten, als die histori-
sche Praxis, in der diese Inhalte analytisch geworden sind, in ihrer Grundstruktur
fortbesteht« (Görlich 1984, S. 124).
Vor diesem Hintergrund richtet sich das Erkenntnisinteresse des vorliegenden
Textes darauf, einerseits die Ansätze, Kontroversen und Entwicklungslinien der
Sozialcharakteranalysen Kritischer Theorie nachzuzeichnen, und andererseits die
historischen Kontinuitäten und Brüche der Subjektkonstitution zu markieren. In
diesem Sinne werden zunächst die Ansätze Erich Fromms, Herbert Marcuses und
Theodor W. Adornos vorgestellt, die sich mit der Verbreitung des »autoritären
Charakters« innerhalb der durchkapitalisierten, durchstaatlichten und konformisti-
schen Verhältnisse spätkapitalistischer bzw. fordistischer Gesellschaften ausei-
nandersetzen. Anschließend werden die Entwürfe Jürgen Habermas’ und Alfred
Lorenzers als Theorien der fordistischen Krise gelesen, in der das psychosoziale
Arrangement des »autoritären Charakters« zerbricht und narzisstische Charaktere
in den Vordergrund rücken, die sich durch einen privatistischen Rückzug, aber
auch durch erweiterte Reflexionspotentiale auszeichnen. Schließlich wird der Ver-
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 267

such unternommen, Konturen eines postfordistischen Sozialcharakters sichtbar zu


machen. Angesichts von pluralisierten und fragmentierten postfordistischen Ge-
sellschaften, angesichts von Vielfalt, Kontingenz und globalisierter Durchsetzung
kapitalistischer Rationalität soll der theoretische Rahmen erweitert werden, um im
Rekurs auf die Erkenntnisse psychoanalytischer Sozialforschung, feministischer
Psychoanalyse und poststrukturalistischer Ansätze zu zeigen, wie sich die nar-
zisstische Problematik verschärft, neue Autoritarismen auf den Plan treten, zu-
gleich aber ein Raum für neue schöpferische Praktiken geöffnet wird.
Die Psychoanalyse Sigmund Freuds und der Historische Materialismus Karl
Marx’ bilden den Referenzrahmen Kritischer Theorie, den paradigmatischen An-
gelpunkt der interdisziplinären Kooperation von Subjekt- und Gesellschaftstheo-
rie. Marx begreift den Menschen als zutiefst gesellschaftliches Wesen, das unwei-
gerlich nur in gemeinschaftlicher Aneignung und Bearbeitung der äußeren Natur
sein Überleben sicherstellt und aus diesen Produktionsverhältnissen bestimmte
ideologische Bewusstseinsformen entfaltet. In der 6. Feuerbachthese verdichtet
Marx diese Überlegung in der Formulierung: »Das menschliche Wesen ist kein dem
einzelnen Individuum innewohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es
das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse« (Marx 1988, S. 6). Marx nimmt
hier eine Objektivierung des Subjektbegriffs vor, die sich gegen idealistische Vor-
stellungen eines autonomen transzendentalen Subjekts wendet, die Marx aber, so
Terry Eagleton, »im Namen des Subjekts« vorträgt (Eagleton 1994, S. 212). Er
unterstellt menschliche Sinne und Fähigkeiten, die innerhalb einer historisch-
spezifischen Produktionsweise mehr oder minder zur Entfaltung gebracht werden.
Somit vermag Marx die kapitalistische Produktionsweise einer emphatischen Kritik
zu unterziehen: Die warenförmige Reproduktion der Gesellschaft erzeugt die
Ausbeutung der Arbeiterklasse durch die private Aneignung des gesellschaftlich
produzierten Surplusprodukts, sie zerstört zunehmend die kreativen, etwa hand-
werklichen Fertigkeiten, sie lässt Gewalt und Herrschaft der Durchsetzung kapi-
talistischer Verhältnisse in verdinglichten Verkehrsformen des Warentauschs ver-
schwinden und entfremdet die Menschen schließlich ebenso von ihren Sinnen und
Fähigkeiten wie von ihren materiellen Lebensgrundlagen. Demgegenüber gründet
Marx seine Emanzipationshoffnung darauf, dass die Arbeiter infolge der unge-
heuren kapitalistischen Produktivkraftentwicklung ein kollektives Bewusstsein ih-
rer universalen Macht als Produzenten des gesellschaftlichen Reichtums entwi-
ckeln, das letztlich die revolutionäre Überwindung der entfremdeten Produktions-
verhältnisse befördert, um somit eine allseitige Entfaltung der besagten Sinne und
Fähigkeiten in Gang zu setzen.
In diese scharfe Kritik sind jedoch ungelöste Widersprüche eingeschrieben. Zum
einen der Widerspruch zwischen der ökonomistischen Annahme der Determinie-
rung der Ideologie durch die ökonomische Basis und der Erkenntnis, dass die
Geschichte unweigerlich eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, deren Ausgang
als offen gelten muss. Zum anderen die widersprüchliche Annahme von zwar
entfremdeten und doch potentiell befreienden menschlichen Wesenskräften. Was
Marx damit insgesamt entgleitet, auch weil ihm noch keine angemessene Psycho-
logie zur Verfügung stand, sind die psychischen Beschädigungen unter elenden und
268 Thilo Naumann

gewaltvollen Lebensbedingungen, die nicht zuletzt die Identifikation eben mit den
herrschenden Kräften disponieren. So zielten etwa die Kämpfe der Arbeiterbewe-
gung häufig weniger auf die Überwindung kapitalistischer Vergesellschaftung,
sondern vielmehr auf die Ausweitung bürgerlich-kapitalistischer Privilegien auf die
männliche Arbeiterschaft (Heeg 1994, S. 116).
Die Psychoanalyse vermag nun genau diese subjekttheoretische Leerstelle der
Marxschen Theorie zu füllen. Freud ist mit Marx zunächst weitgehend einig, dass
die Menschen ihr materielles Überleben gemeinschaftlich organisieren müssen.
Doch während Marx die Entwicklung der menschlichen Gesellschaft von ihren
Produktionsverhältnissen her versteht, vermutet Freud, dass die Kulturentwick-
lung von der Dynamik zweier Triebe, des Lebens- und des Todestriebes abhängt.
Diese Triebe sind, wie Freud in seiner großen kulturtheoretischen Arbeit Das
Unbehagen in der Kultur ausführt, in ihrer ursprünglichen Form nicht kulturfähig,
sondern müssen in den Dienst der Kulturentwicklung gestellt werden, um mit
ihren aggressiven Anteilen die Natur zu unterwerfen und mit ihren libidinösen
Anteilen kulturelle Gemeinschaften herzustellen (Freud 1990, S. 123). Diese »Sub-
limierung« der Triebe muss dann von allen zu bildenden Subjekten aufs neue
geleistet werden, sie sind mithin gezwungen, Triebverzicht zu leisten, Aggression
gegen sich selbst zu richten, um mit der Verinnerlichung der herrschenden Normen
im Über-Ich ein Mitglied der kulturellen Gemeinschaft zu werden. Freud zeigt
also, dass Sinnlichkeit und Bewusstsein, Begehren und Gesetz untrennbar mitein-
ander verwoben sind, und er zeigt, dass verdrängte Wünsche im Unbewussten
unter der Logik des Primärvorgangs auf schmerzvolle und gesellschaftlich kon-
forme Weise fortwirken. Kritisch zu bemerken ist jedoch das »szientistische Selbst-
missverständnis« der Psychoanalyse als bloße Naturwissenschaft (Habermas 1968,
S. 300ff.). Dieses kommt insbesondere in der Triebtheorie zum Ausdruck, die die
Verquickung von Sozialität und Leiblichkeit bloß in biologistischen Begriffen zu
fassen vermag. Auf diese Weise produziert Freud den Widerspruch, einerseits die
bürgerliche Subjektivität mit ihren ödipal verfassten, lustfeindlichen und autori-
tären Tendenzen als biologische Notwendigkeiten zu missdeuten, andererseits aber
das Leiden dieser Subjektivität in der klinischen Praxis lindern zu wollen, indem
die konflikthaften Lebensgeschichten rekonstruiert und einem glücklicheren Aus-
gang zugeführt werden.
Insgesamt dekonstruieren Marx und Freud die bürgerliche Vorstellung eines
selbstbewusst handelnden Subjekts. Marx arbeitet heraus, wie die Zwänge der
kapitalistischen Produktionsweise »hinter den Rücken der Akteure« deren Hand-
lungsfähigkeit einschränken. Freud hingegen zeigt, wie die unbewussten Konflikte
zwischen Wunsch und Tabu die Selbstverfügung der Subjekte brechen. Die Kritik
an den Entwürfen von Marx und Freud verweist auf eine durchaus ähnliche
Widersprüchlichkeit. Marx verstrickt sich in den Widerspruch zwischen öko-
nomischer Geschichtslogik und der Betonung der Bedeutung der historischen
sozialen Kämpfe für die Entwicklung der Produktionsweise. Bei Freud bleibt der
Widerspruch zwischen dem Triebbiologismus und der historisch-konkreten Kon-
flikthaftigkeit von Lebensgeschichten weitgehend unbearbeitet. Gleichwohl er-
geben sich gerade aus der Analogie und Wechselseitigkeit der Kritik bedeutsame
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 269

Anschlusspotentiale, die eine interdisziplinäre Kooperation nahe legen. Zunächst


bearbeiten beide letztlich einen gemeinsamen Erkenntnisgegenstand, nämlich die
kapitalistisch vergesellschafteten Menschen. Überdies liegt beiden Entwürfen ein
ähnliches Erkenntnisinteresse zugrunde, das die menschliche Praxis der Menschen
auf das ihnen zugefügte Leid hin überprüft, wie die kritischen Begriffe der Ware
und des Symptoms bezeugen. Eine Kooperation könnte, wie es Helmut Dahmer
treffend formuliert, gesellschaftstheoretisch die vermittels der Vergesellschaftung
äußerer Natur organisierten Verhältnisse zwischen den Menschen erfassen, die die
institutionellen und symbolischen Voraussetzung der Subjektivität bilden, und sie
könnte psychoanalytisch die vermittels der Vergesellschaftung innerer Natur pro-
duzierten subjektiven Verhältnisse benennen, die die Subjekte wiederum in die
Bearbeitung gesellschaftlicher Verhältnisse einbringen (Dahmer 1984, S. 139)

1. Spätkapitalistischer Sozialcharakter – die Kritische Theorie

1.1. Erich Fromm


Die interdisziplinäre Kooperation von Historischem Materialismus und Psycho-
analyse soll im IfS angesichts des heraufziehenden Faschismus in den späten 1920er
und frühen 1930er Jahren die psychische Verankerung von Herrschaft begrifflich
fassbar machen. In den Studien »Autorität und Familie« sowie »Arbeiter und
Angestellte am Vorabend des Faschismus« wird herausdestilliert, wie die Menschen
schon in der patriarchalischen Familie autoritativ zugerichtet werden, in sadomaso-
chistische Abhängigkeit geraten und somit anfällig sind für faschistische Pro-
paganda. Programmatische Grundlage ist Erich Fromms Aufsatz Ȇber Methode
und Aufgabe einer Analytischen Sozialpsychologie« (Fromm 1980a). In Rekurs auf
die Freudsche Triebtheorie entwickelt Fromm die These, dass kapitalistische Ge-
sellschaften, neben der ökonomischen, politischen und ideologischen Struktur,
auch durch eine »libidinöse Struktur« gekennzeichnet sind, die gleichsam den
»Kitt« der Gesellschaften bildet (ebd., S. 54). Die Familie fungiert dabei als »Sozia-
lisationsagentur der Gesellschaft«, die die Triebstruktur der Menschen im Sinne der
Reproduktion herrschender Verhältnisse formt (ebd., S. 42). Allerdings beginnt
Fromm die Triebtheorie in der Folgezeit als Hemmnis der sozialpsychologischen
Erkenntnis zu begreifen, weil sie das Bild eines Menschen transportiere, der andere
nur zum Zwecke seiner Triebbefriedigung zu instrumentalisieren trachtet. Über
den Konflikt unterschiedlicher Lesarten der Triebtheorie bricht Fromm dann mit
dem IfS und arbeitet in Die Furcht vor der Freiheit (Fromm 1990) an einer
umfassenden Revision der Psychoanalyse. Er entfaltet eine Charaktertheorie, die
das Subjekt als Produkt der herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse sichtbar
machen soll. Dementsprechend behält die Familie als Sozialisationsagentur ihren
theoretisch exponierten Platz, jedoch nunmehr ohne triebtheoretische Grundlage,
sondern vielmehr als Vermittlungsinstanz herrschender Verhaltensanforderungen.
Konsequent tritt dann auch der Begriff des »Sozialcharakters« an die Stelle der
270 Thilo Naumann

»libidinösen Struktur« und bezeichnet die gemeinsamen Haltungen und Ideale der
Subjekte innerhalb einer historisch-spezifischen Gesellschaft (ebd., S. 200). Damit
aber geht Fromm auch die Annahme eines inkommensurablen Anteils der Trieb-
natur als Kraft der Befreiung verloren, und er muss, um den kritischen Stachel der
Theorie zu bewahren, die menschliche Natur gleichsam normativ-ethisch rekon-
struieren. Abgekoppelt von den bloß »physiologischen« Dimensionen des Hungers
und der Sexualität unterstellt Fromm spezifisch-menschliche Entwicklungspoten-
tiale, die je nach gesellschaftlichen Voraussetzungen in progressive oder regressive
Richtungen ausschlagen: Bezogenheit durch Liebe oder Narzissmus, Transzendenz
durch Kreativität oder Destruktivität, Verwurzelung durch Brüderlichkeit oder
Inzest, Identitätserleben durch Individualität oder Konformität sowie Orientierung
durch Vernunft oder Irrationalität (ders. 1981, S. 36ff.). Mithilfe dieser Kategorien
versucht Fromm dann den sadomasochistischen, bzw. autoritären Charakter als
narzisstisch, destruktiv, inzestuös, konformistisch und irrational zu kritisieren und
ihm gleichwohl die existenziell angelegte Potentialität »reifer Charaktere« ent-
gegenzustellen (ders. 1980b, S. 47ff.). Problematisch an diesem Entwurf Fromms ist
nun vor allem, dass er die Natur des Menschen von seiner Körperlichkeit abtrennt,
Sinnlichkeit und Sexualität als widerspruchsfrei voraussetzt und mithin die Ein-
sicht Freuds preisgibt, dass Sinnlichkeit und Bewusstsein in der Subjektbildung
eine untrennbare Legierung bilden (Görlich 1980, S. 356). Er löst die Dialektik von
menschlicher Natur und Gesellschaft nach der gesellschaftlichen Seite hin auf und
handelt sich damit den Vorwurf vor allem Herbert Marcuses und Theodor W.
Adornos ein, er reduziere Subjektivität auf eine Funktionsgröße gesellschaftlicher
Verhältnisse.

1.2. Herbert Marcuse


Die Kontroverse zwischen Fromm und Marcuse um die Lesart der Psychoanalyse
wurde in der Zeitschrift Dissent geradezu polemisch ausgetragen. Marcuse erblickt
eben in der Triebtheorie das kritische Potential der Psychoanalyse, weil sie in
mystifizierten Begriffen die Vergesellschaftung menschlicher Natur, die leibliche
Verankerung von Herrschaft, die Niederschlagung lustvoller Ansprüche und letzt-
lich auch die Möglichkeit, diesen wieder zu ihrem Recht zu verhelfen, zum
Ausdruck bringe. Er versucht, die Triebtheorie und mithin den kritischen Stachel
der Psychoanalyse durch eine gesellschaftstheoretische Wendung zu retten. In
Triebstruktur und Gesellschaft widerspricht Marcuse Freud in dessen Annahme
einer unweigerlichen Triebunterdrückung, und differenziert stattdessen zwischen
einer »notwendigen« und einer »zusätzlichen Unterdrückung« im Dienste der
Herrschaft (Marcuse 1987, S. 40). Die notwendige Unterdrückung bringt dabei die
individuelle Mühsal der gesellschaftlichen Reproduktion gemäß der historisch
entwickelten Produktivkräfte zum Ausdruck. Die zusätzliche Unterdrückung hin-
gegen bürdet subordinanten Subjekten im Zeichen der Herrschaft eine, gesamtge-
sellschaftlich betrachtet, irrationale Mehrarbeit und Einschränkung von Lust auf
(ebd., S. 129). Die zusätzliche Unterdrückung in den durchkapitalisierten und
durchstaatlichten Gesellschaften des Spätkapitalismus unterzieht Marcuse dann in
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 271

Der eindimensionale Mensch einer scharfen Analyse (1970). Angesichts einer fort-
schreitenden kulturindustriellen Kommerzialisierung der Haushalte und der Frei-
zeit konstatiert Marcuse eine warenförmige Zurichtung der Subjekte, die bis in ihre
Triebstruktur hineinreicht. Es komme zu einer libidinösen und aggressiven Bin-
dung an die Warenform, weil diese einerseits zur letzten verfügbaren und gleich-
zeitig kapitalisierten Lustquelle avanciert und weil andererseits diese Lust nur im
Zwang zum Verkauf der Arbeitskraft in entfremdeter Lohnarbeit erheischt werden
kann (ebd., S. 92ff.). Infolge dieser Totalisierung des Tauschprinzips innerhalb der
»eindimensionalen Gesellschaft« vermag Marcuse keine bestimmte Gruppe als
befreiende Kraft zu identifizieren. Stattdessen rückt er die Subjektivität selbst in
den emanzipatorischen Blickpunkt, weil er die Triebe als eigentümlich inkomm-
mensurabel begreift. Besonders dem Eros traut Marcuse zu, gegen die herrschende
instrumentelle Vernunft eine Haltung der »Großen Weigerung«, eine »Neue Sen-
sibilität« und eine »libidinöse Moral« in Anschlag zu bringen, um die Erotisierung
aller Lebensbereiche vorzunehmen (ders. 1984, S. 250). Dieser emphatische Über-
schwang, immer auch als Zeichen der Solidarität mit den Protestbewegungen der
1960er Jahre intendiert, birgt indes einen theoretisch und politisch bedeutsamen
Widerspruch. Es ist der Widerspruch zwischen der sozialpsychologischen An-
nahme einer bis in die Triebstruktur hineinreichenden Totalität des Tauschprinzips
und der triebtheoretischen Annahme besonders des Eros als positive Kraft der
Befreiung (Görlich 1980, S. 359).

1.3. Theodor W. Adorno


Adorno teilt Marcuses Einschätzung durchaus, dass der Spätkapitalismus eine
Epoche bildet, die dazu neigt, »totalitär zu sein, selbst wo sie keine totalitären
Staaten hervorgebracht hat« (Marcuse 1987, S. 7). Doch gerade deshalb weigert er
sich, Marcuses erotischem Enthusiasmus zu folgen. Vielmehr geht er mit Max
Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno 1947) davon
aus, dass sich die Menschen von den Zwängen innerer und äußerer Natur befreien,
indem sie sich als selbsttätige Subjekte konstituieren und sich die Natur mit ihren
wachsenden instrumentellen Fähigkeiten unterwerfen, dass diese neue Freiheit
jedoch in Form von Herrschaft auf die Subjekte zurückfällt, weil sie nur mehr zu
einem instrumentalistischen Umgang mit sich, mit anderen Subjekten und ihrer
Welt fähig sind. Terry Eagleton bringt diesen Zusammenhang auf folgende präg-
nante Worte:

»Das Subjekt, das seine innere Natur im Namen seiner Unabhängigkeit unterdrückt, würgt
eben die Spontaneität ab, die sein Bruch mit der Natur angeblich freigesetzt hat – so dass das
Ergebnis der anstrengenden Mühsal der Individuation in einer Unterminierung des Ich von
innen heraus besteht, bei der das Selbst nach und nach in leere mechanische Konformität
verfällt.« (1994, S. 358)

Die Subjekte sind mithin durch einen inneren Hiatus gezeichnet, der sich zwischen
den gesellschaftlichen Normierungen der Subjektivität und dem Bereich des He-
terogenen, des Spontanen, dem Bereich des Nichtidentischen also, auftut. Be-
272 Thilo Naumann

sonders dramatisch fällt dieser Hiatus im Spätkapitalismus aus, weil die Gesell-
schaft nun beherrscht ist vom Warentausch, vom Geld als sich unendlich ver-
mehrendem Signifikanten, als allgemeinem Äquivalent. Die spätkapitalistische Ge-
sellschaft macht somit »Ungleichnamiges komparabel, indem sie es auf abstrakte
Größen reduziert« (Horkheimer/Adorno 1947, S. 18). Zugleich raubt sie den
bürgerlichen Vätern mit der Entstehung großer kapitalistischer Monopole und mit
der Durchstaatlichung der Gesellschaft ihre soziale Gestaltungsfähigkeit und ihre
relativ rationale Autorität. Sind somit die letzten Bastionen bürgerlicher, familialer
und ödipaler Resistenz zerschlagen, kommt es zur Ausbreitung des »autoritären
Charakters«, den Adorno u. a. in den umfassenden Studien zum autoritären Cha-
rakter untersucht haben (Adorno1973). Entscheidend ist, dass die Kinder weiterhin
unter repressiven Erziehungsmaßnahmen leiden, ohne jedoch ihr schwaches Ich,
Ich-ideal und Über-Ich an einer mächtigen väterlichen Identifikationsfigur restitu-
ieren zu können. Daraus resultiert dann die Identifikation mit den depersonali-
sierten herrschenden Mächten sowie das hervorstechendste Merkmal des autori-
tären Charakters, nämlich dessen Konformismus. Dieser ruft bei abweichenden
Wünschen unweigerlich Scham- und Schuldgefühle hervor, während die Aggres-
sion infolge der unbefriedigt bleibenden Wünsche an ideologisch benannten Non-
konformen ausagiert wird (ebd., S. 322ff.). Insgesamt versucht der autoritäre Cha-
rakter seine Ohnmacht in einer durchkapitalisierten und durchstaatlichten Welt
durch die folgsame Teilhabe am konformistischen Warentausch sowie an den
staatlichen Repräsentationsritualen in magische Omnipotenz zu verwandeln (vgl.
Horn 1969, S. 68 f.). Adorno schreibt:
»Individuum und Gesellschaft werden eines, indem die Gesellschaft in die Menschen unter-
halb ihrer Individuation einbricht und diese verhindert. Dass aber diese Einheit keine höhere
Gestalt der Subjekte sei, sondern sie auf ein archaisches Stadium zurückwirft, zeigt sich an der
barbarischen Repression, die dabei ausgeübt wird. Die heraufdämmernde Identität ist nicht
Versöhnung des Allgemeinen und Besonderen, sondern das Allgemeine als Absolutes, in dem
das Besondere verschwindet.« (Adorno 1980, S. 183)
Allein in der Kunst erblickt Adorno noch einen Ort, der die Idee einer Versöhnung
von Allgemeinem und Besonderem bewahrt, der das Nichtidentische zum Aus-
druck zu verbringen vermag. Es bedürfte freilich schon eines totalen Bruchs mit
dem omnipräsenten Tauschprinzip, um die Potentialität eines über seine Sinne frei
verfügenden Subjekts zu verwirklichen (vgl. Demirovic 1994, S. 89).

1.4. Resümee
Trotz ihrer unterschiedlichen Konzepte, die Naturseite der Subjektbildung zu
fassen, sind sich Fromm, Marcuse und Adorno in ihren zeitdiagnostischen Betrach-
tungen des Spätkapitalismus weitgehend einig. In der kindlichen Entwicklung wird
durch repressive Maßnahmen ein bloß schwaches Ich ausgebildet, das zudem ohne
stabiles personales Identifikationsobjekt bleibt. Es entsteht mithin ein »sadomaso-
chistischer«, bzw. »autoritärer Charakter«, der die erlittenen Beschädigungen
durch konformistische Identifikation mit den anonymisierten Mächten kompen-
siert, denen er sich bedingungslos unterwirft, während die Versagung lustvoller
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 273

Ansprüche an den ideologisch Ausgeschlossenen aggressiv ausagiert wird. In den


Worten von Hans-Dieter König lässt sich hinzufügen, dass im Zuge der kultur-
industriellen Durchdringung des Alltags Triebdurchbrüche gegen die repressiven
Über-Ich-Gebote gewährt werden, die mit den unweigerlichen Schuldgefühlen die
umso entschlossenere Unterwerfung unter Arbeits- und Disziplinierungszwänge
hervorrufen (König 1993, S. 144). Problematisch ist nun an diesen scharfen Analy-
sen, dass sie insbesondere die Widersprüchlichkeit der spätkapitalistischen Gesell-
schaft nicht erschöpfend fassen können. Zwar greifen sie mit der Durchkapitalisie-
rung eine entscheidende Tendenz jener Gesellschaftsformation auf, die heute als
»Fordismus« bezeichnet wird, doch die Tendenz allein wird der ökonomischen,
politischen und ideologischen Widersprüchlichkeit nicht gerecht. Schon die Durch-
kapitalisierung selbst brachte neben ihren Effekten der Ausbeutung und waren-
förmigen Vereinzelung der Menschen eine partielle Befreiung von bornierten per-
sonalen Abhängigkeiten mit sich. Überdies verfügte der fordistische Sicherheits-
staat nicht nur die Überwachung, Disziplinierung und Kontrolle der Subjekte,
sondern gewährleistete ein Mindestmaß sozialer Sicherheit. Und schließlich wurde
der Fordismus ideologisch ebenso von autoritärem Konformismus wie von In-
dividualismus und Egalitarismus zusammengehalten (Hirsch 1990, S. 102 f.). Die
Annahme einer warenförmigen Totalität im Spätkapitalismus impliziert demgegen-
über einen gleichsam teleologischen gesellschaftlichen Fortgang und reduziert jedes
Handeln auf Variationen der grundlegend warenförmigen Konstituiertheit der
Subjekte (Demirovic 1994, S. 87). Auf diese Weise können letztlich die gesellschaft-
lichen und subjektiven Gegentendenzen, die immer auch aus den vielfältigen
psychischen Verarbeitungsweisen der besagten Widersprüche resultieren, nicht
angemessen gewürdigt werden.

2. Sozialcharakter in der fordistischen Krise – Jürgen Habermas und


Alfred Lorenzer

Der Fordismus geriet in die Krise, als der fordistische Zusammenhang von Massen-
produktion und Massenkonsum im nationalstaatlichen Rahmen auseinanderbrach
(Demirovic 1996, S. 93) und das Kapital auf der Basis neuer Informations- und
Datenverarbeitungstechnologien versuchte, unterschiedliche Standortvorteile ratio-
nalisierend im Rahmen einer internationalisierten Arbeitsteilung zu nutzen (Hirsch
1995, S. 84). Damit aber kam es zur massenhaften Freisetzung von Lohnab-
hängigen und letztlich zur politischen Krise, weil sich die wohlfahrtsstaatliche
Vollbeschäftigungs- und Verteilungspolitik infolge der rapide steigenden Kosten
der Massenarbeitsarbeitslosigkeit nicht länger durchhalten ließ (ders. 1990,
S. 104 f.), während der Staat zugleich seine finanziellen Mittel zunehmend auf die
Förderung neuer konkurrenzfähiger Technologien konzentrierte (Demirovic 1996,
S. 94). Nicht zuletzt geriet der Fordismus auch ideologisch in die Krise. Zum einen
formulierten die neuen sozialen Bewegungen ihre Kritik an konsumistischer Ver-
einzelung, an etatistischer und patriarchalischer Bevormundung sowie an schran-
274 Thilo Naumann

kenloser Ausbeutung und Zerstörung der menschlichen Lebensgrundlagen. Zum


anderen zielte die Kritik der neuen Rechten auf die Aufhebung der Vereinzelung
im Schoße der Nation und letztlich auf eine optimierte sexistische und rassistische
Regulierung des Arbeitsmarktes (ebd., S. 99 f.).
Angesichts dieser krisenhaften Transformationsprozesse versucht seit den
1960er Jahren eine nächste Generation der Kritischen Theorie, die theoretischen
Grundlagen der Sozialcharakteranalyse zu reformulieren. Hier sind vor allem
Jürgen Habermas und Alfred Lorenzer zu nennen, auch weil hier der Konflikt
zwischen Fromm, Marcuse und Adorno, zwischen einer kulturistischen und einer
triebtheoretischen Lesart von Subjektivität, gleichsam in seine nächste Runde
geht.

2.1. Jürgen Habermas


Habermas unterscheidet grundsätzlich zwischen den Bereichen der zweckrational
organisierten Arbeit und der Interaktion als kommunikativem Handeln. In seinem
Werk Theorie kommunikativen Handelns (1981) wird besonders der Aspekt der
Interaktion für die Subjektbildung hervorgehoben, den er durch die Verknüpfung
verschiedener theoretischer Entwürfe, vom Symbolischen Interaktionismus, über
Kognitionspsychologie und psychoanalytische Ich-Psychologie bis hin zu einer
Analyse spätkapitalistischer Gesellschaften, seinem emanzipatorischen Erkenntnis-
interesse gemäß, zu fassen versucht. An anderer Stelle schreibt er: »Die psycho-
logischen und die soziologischen Grundbegriffe können ineinander greifen, weil
die in ihnen entworfenen Perspektiven des autonomen Ich und der emanzipierten
Gesellschaft sich wechselseitig fordern« (Habermas 1976, S. 64). Aus dem Sym-
bolischen Interaktionismus übernimmt Habermas die Erkenntnis, dass sich aus der
Interaktion innerhalb verschiedenster Rollenerwartungen eine kommunikative
Kompetenz bildet, die sich durch Sprachverfügung, Empathie, Rollendistanz und
Ambiguitätstoleranz auszeichnet. Er erweitert dieses Konzept dann durch seinen
Diskursbegriff, der sich freilich von dem Foucaults, der Diskurse als kapillar
wirksames Vehikel der Macht zur Disziplinierung von Subjekten begreift, radikal
unterscheidet. Für Habermas ist ein Diskurs eine Metakommunikation, die in
stockenden, widersprüchlichen Sprechsituationen die zugrundegelegten Hand-
lungsnormen selbst thematisiert (ders. 1981, S. 343). Zugleich komme im Diskurs
die universelle Gültigkeit egalitärer Normen zum Ausdruck, weil Kommunikation
immer um Verständigung sich bemüht und weil diese Verständigung durch Un-
gleichheitsverhältnisse beschränkt wird. Der Begriff des »herrschaftsfreien Dis-
kurses« avanciert für Habermas somit zu einem Maßstab, mit dem sich die
Einschränkung einer »idealen Sprechsituation« kritisieren lässt. Die ontogentische
Entfaltung der kommunikativen Kompetenz versucht Habermas dann durch den
Rekurs auf die Kognitionspsychologie Kohlbergs und die Entwicklungspsycho-
logie Eriksons aufzuzeigen. Er zeichnet nach, wie die kognitive Entwicklung der
Menschen sich potentiell von einer präkonventionellen über eine konventielle bis
hin zu einer postkonventionellen Stufe moralischen Urteilsvermögens vollzieht, die
durch Prinzipien der Freiheit, Gerechtigkeit und Gleichwertigkeit ausgezeichnet
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 275

ist. Mit dem entwicklungspsychologischen Konzept Eriksons glaubt Habermas


nachweisen zu können, dass die kognitive Entwicklung an psychische Prozesse
und Entwicklungskrisen gekoppelt ist. So schreite die psychische Entwicklung von
einer natürlichen Identität des Kleinkindes über die ödipale Krise, die Gene-
rationen- und Geschlechterrollen installiere, voran zu einer kindlichen Rolleniden-
tität bis hin zur Adoleszenzkrise, die dann eine berufsbezogene Rollenidentität
oder auch eine reife, flexible und prinzipiengeleitete Ich-Identität disponiere.
Schließlich untersucht Habermas besonders in seinem Text Legitimationsprobleme
im Spätkapitalismus (1973) die historische Möglichkeit und Notwendigkeit kom-
munikativer Kompetenz. Zunächst attestiert er dem kapitalistischen Staat die Ten-
denz, die Gesellschaft infolge der ihm innewohnenden zweckrationalen Sach-
zwangslogik immer weiter zu durchstaatlichen, die dysfunktionalen Folgen dieser
»Kolonisierung der Lebenswelt« durch materielle Wohlfahrt aufzufangen, die
Menschen zunehmend politisch zu passivieren und schließlich die weiterhin herr-
schende Ungleichheit durch die Leistungsideologie zu legitimieren. Zugleich aber
schwänden die materiellen Ressourcen zur wohlfahrtsstaatlichen Integration, über-
dies werde die Glaubwürdigkeit der Leistungsideologie angesichts steigender Mas-
senarbeitslosigkeit und der Entkoppelung von Bildung und Marktchancen erschüt-
tert, wodurch letztlich Reflexionsprozesse über die ideologischen Grundlagen
spätkapitalistischer Gesellschaften befördert würden. In diesem Kontext glaubt
Habermas an eine Ausweitung kommunikativer Kompetenzen, die die Rationali-
tätsreserven der »unvollendeten Moderne« zu erschließen erlauben. Dieser Ent-
wurf Habermas’ hat nun neben immer breiterer Zustimmung auch berechtigte
Kritik evoziert. So wird Habermas ein zumindest impliziter Ethnozentrismus und
Sexismus vorgeworfen, insofern die als universal gesetzten Normen als die eines
weißen, westlichen Mittelklassemannes identifiziert werden können. Überdies,
darauf weist Nancy Fraser hin, verdeckt die Entgegensetzung von Arbeit und
Interaktion nicht zuletzt die geschlechtshierarchische Arbeitsteilung westlicher
Gesellschaften, in denen auch die Familie als Stätte von Arbeit und Ausbeutung zu
analysieren wäre (Fraser 1994, S. 182 f.). Des weiteren betont Slavoj Žižek, dass
Habermas die der Dialektik der Aufklärung immanente gesellschaftliche und sub-
jektive Irrationalität unterbelichtet und stattdessen »totalitäre politische Regime
oder die so genannte Entfremdung des modernen Lebens« als Ausdruck einer
inkonsequenten Realisierung moderner Rationalitätspotentiale betrachtet (Žižek
2001, S. 479). Schließlich erscheint Habermas’ Entwurf in seinem Fokus auf sym-
bolische Verständigungsprozesse als zu juridisch und legalistisch und vermag die
sozialisatorische Bedeutung der materialen Arbeit und der Sinnlichkeit der Sub-
jekte ebenso wenig zu erfassen wie »das Gewicht der konkreten, konfliktbehafte-
ten und von Interessen durchsetzten Lebensgeschichten« (Eagleton 1994,
S. 420 f.).

2.2. Alfred Lorenzer


Alfred Lorenzer versucht nun das Problem der Sprache auf eine klar unter-
scheidbare Weise in sein Konzept der Vergesellschaftung menschlicher Natur zu
276 Thilo Naumann

integrieren. Er entwickelt seine materialistische Sozialisationstheorie als analytische


Grundlage einer kritischen Theorie des Subjekts nicht zuletzt in kritischer Ausei-
nandersetzung mit der strukturalistischen Psychoanalyse Lacans. Er schreibt:

»Dass die individuelle Struktur gesellschaftlich hergestellt wird, lässt sich aus der Gesell-
schaftstheorie, die aus der Kritik der politischen Ökonomie hervorgeht, zwingend ableiten.
Zu zeigen ist aber
– wie diese Herstellung vorangeht,
– wie sie über physiologische Prozesse läuft und gleichwohl alle Handlungs- und Denk-
muster umfasst,
– wie die vermittelnden Sozialisationsagenturen, nämlich die konkreten zwischenmensch-
lichen Verhältnisse, in die Persönlichkeitsstruktur eingehen,
– wie die zwischenmenschlichen Verhältnisse auf gesellschaftliche Verhältnisse zurückgehen,
– und wie die Herstellung individueller Struktur allemal zugleich eine beschädigende Her-
stellung ist.« (Lorenzer 1977, S. 168)

Psychoanalyse muss demnach als Sozialwissenschaft konzeptualisiert werden, die


gleichwohl die psychoanalytischen Erkenntnisse subjektiver Eigenlogik bewahrt.
Dementsprechend greift Lorenzer zwar den Triebbegriff auf, betont aber in seinem
Werk Das Konzil der Buchhalter. Die Zerstörung der Sinnlichkeit, dass der Trieb
immer schon gesellschaftliches Produkt ist. »Er ist Resultat einer Dialektik von
Natur und Gesellschaft, hervorgebracht in unzähligen Schritten eines ›wirklichen‹
Interagierens, das sich in ›bestimmten Interaktionsformen‹ niederschlägt« (Loren-
zer 1981, S. 288). Schon intrauterin und erst recht postnatal entstehen aus den
Interaktionen zwischen dem Kind und seinen primären Bezugspersonen zunächst
»unbewusste Interaktionsformen« als szenisch somatisiertes Bedürfnis. Sodann
ergeben sich aus dem Umgang mit sinnlichen Gesten, Bildern und Gegenständen
»sinnlich-symbolische Interaktionsformen«, die den Fundus aller weiteren Fanta-
sietätigkeit bilden und mit denen das Kind eine erste symbolische Verfügung über
seine Welt gewinnt (ebd., S. 161). Der nächste wichtige Entwicklungsschritt ergibt
sich etwa im zweiten Lebensjahr durch die Spracheinführung, wenn die Verknüp-
fung der vorsprachlichen Erlebnisfiguren mit Sprachfiguren »sprachsymbolische
Interaktionsformen« hervorbringt, mit denen das Kind kognitiv und fühlend Pro-
behandeln kann, und die ihm eine zunehmende Handlungs- und Glücksfähigkeit
eröffnen (ebd., S. 91). Auf diese Weise entsteht ein Wechselspiel von Interak-
tionserfahrung und Interaktionserwartung, das ein immer differenzierteres Gefüge
von Interaktionsformen erzeugt. Allerdings betont Lorenzer, dass diese Hand-
lungsfähigkeit mehrfach gebrochen ist. Zunächst vermag die Sprache als »Objekti-
vation menschlicher Praxis« (ebd., S. 23) den sinnlichen Reichtum der vorsprachli-
chen Sozialisation nicht vollständig einzuholen, vielmehr richtet sie mit den ver-
fügbaren Sprachsymbolen, den Signifikanten, die Wahrnehmungs-, Deutungs- und
Handlungsmuster der Subjekte und mithin auch die Signifikate, die Interaktions-
formen also, ideologisch zu (ebd., S. 93). Dieser Prozess verläuft weiterhin wider-
sprüchlich, weil sich die Sozialisation unweigerlich in Interaktion mit klassen-,
kultur- oder geschlechtsspezifisch sozialisierten Bezugspersonen vollzieht, die über
bloß gesellschaftlich und biographisch gebrochene Sprachspiele verfügen (ebd.).
Überdies können schon gestiftete sprachsymbolische Interaktionsformen in realen
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 277

angstbesetzten Situationen desymbolisiert werden, sie zerfallen dann in wieder


sprachlos gewordene Interaktionsformen, die zu einem unbewussten »Verhaltens-
klischee« verkommen, »und die von den Emotionen abgetrennten, dem subjektiven
Erleben entfremdeten Sprachfiguren«, die nur mehr als »Sprachschablone« fun-
gieren (ebd., S. 110). Dies wird am Beispiel des »kleinen Hans« aus Freuds kli-
nischer Praxis deutlich, der seine Angst vor dem Vater auf Pferde verschiebt,
wodurch er einerseits das Verhaltensklischee der reflexhaften Flucht vor Pferden
entwickelt und andererseits das Wort Vater im Sinne einer Sprachschablone von
seinen gewaltvollen Aspekten entleert (vgl. Horn 1972, S. 225 f.). Diese Inter-
aktionsformen geraten dann im Unbewussten unter die Logik des Primärvorgangs,
der keine Geschichte und Widersprüche kennt, und die vormalig libidinösen
Ansprüche dann an gesellschaftlich zugelassene Ersatzbefriedigungen knüpft, wie
etwa »in der Charakterbildung, wo Verschwendungssucht in Sparsamkeit, Sponta-
neität in Ordnungsrituale verkehrt werden« (Lorenzer 1981, S. 112). Damit aber
büßen die Subjekte einen Teil ihrer Selbstverfügung ein, sie müssen jene Aspekte
der Realität, die die tabuisierten Wünsche zu aktualisieren vermögen, verleugnen
oder umdeuten, und sind gezwungen, die Wünsche selbst in eigentümlich ver-
stellter Form immer wieder zu reinszenieren. Schließlich kann dieser beschädi-
gende Prozess noch verschärft werden, wenn die Subjekte in die postinfantile
Sozialisation durch transfamiliale Institutionen eintreten.
»Sie verläuft in einem Doppelzugriff aufs Individuum
a) über gruppen- oder kollektivspezifische Organisationen von Lebenspraxis, d. h. Inter-
aktionen
b) über ein gruppen- oder kollektivspezifisches Bewusstsein, über Sprachfiguren also, die in
mehr oder weniger klarer Übereinstimmung mit dem allgemeinen sprachlichen Denk- und
Handlungssystem die besondere ›Ideologie‹ des jeweiligen kulturellen Systems […] ausma-
chen. Es sind dies Vergesellschaftungen, die den Einzelnen in seiner Persönlichkeitsstruktur
›auffädeln‹ zu einer ›Gemeinschaft‹ mit gemeinsamem, alltagspraktisch bedeutsamem Be-
wusstsein.
Diese Gemeinschaftsbildung aber kann unterschiedlich am Individuum ansetzen:
– entweder an entwickelten symbolischen Interaktionsformen und einer Subjektivität stiften-
den Einheit von Sinnlichkeit und Bewusstsein
– oder an Symptomen in der schlechten Einheit von Ersatzbefriedigung und Schablone.«
(ebd., S. 116)

Mit Hilfe dieses begrifflichen Instrumentariums versucht Lorenzer, in Zusammen-


arbeit mit Klaus Horn, die Transformation des Sozialcharakters in der fordistischen
Krise herauszuarbeiten. Das psychosoziale Arrangement des autoritären Charak-
ters zerbricht, also die Kompensation der Ich-Schwäche durch die Identifikation
mit den herrschenden Mächten, weil einerseits die staatlichen und korporatisti-
schen Verteilungs- und Integrationsspielräume enger werden, und weil andererseits
die repressiven Erziehungsmethoden unter immer stärkeren Legitimierungsdruck
geraten. Die Menschen werden somit auf sich, auf ihre Ich-Schwäche und ihre
Ohnmachtgefühle zurückgeworfen und treten einen privatistischen Rückzug an.
Sie leiden unter einer Ich-Einschränkung, d. h. sie reduzieren im Dienste der
Abwehr ihre Teilhabe an der zu konflikthaften Außenwelt auf das zur materiellen
Reproduktion notwendige Maß und fügen ansonsten »ganz willkürlich abstrakte
278 Thilo Naumann

Realitätsausschnitte« zu irgendwelchen Ganzheiten zusammen, »die nur einen


psychisch vorteilhaften Sinn machen müssen« (Horn 1990, S. 165). Auf diese Weise
erstarren die Menschen zunehmend in politischer Apathie, kümmern sich um die
Verwaltung zugeteilter Rituale und kompensieren ihre Ängste in einem narzissti-
schen Kleinhandel, der sich bestens vermarkten lässt (ebd., S. 97). Es entstehen
nicht zuletzt im kulturindustriellen Konsum »ästhetische Symptome«, die schon
im Kaufakt kompensatorische Omnipotenzphantasien bestätigen, weil die Welt als
frei verfügbare Warenwelt erscheint, und die überdies infolge ihres psychologi-
schen Gebrauchswerts ein sinnlich-reiches und kommunikatives Lebens sugge-
rieren, ohne dabei Ängste vor weiteren narzisstischen Kränkungen zu schüren
(Lorenzer 1981, S. 170 f.). Zugleich aber, auch darauf weisen Lorenzer und Horn
hin, birgt dieser tendenziell narzisstische Sozialcharakter mit seinen Verschmel-
zungs- und Größenphantasien die Gefahr der Anschlussfähigkeit an autoritative
Politiken – vor allem wenn die warenförmigen narzisstischen Gratifikationen
bedroht sind (Horn 1990, S. 167). Demgegenüber setzen Lorenzer und Horn ihre
emanzipatorische Hoffnung in die innerhalb einer immer widersprüchlicheren
Gesellschaft unweigerlich zunehmenden »fruchtbaren Irritationen«, die in kollekti-
ven Verständigungsprozessen die Reformulierung und Rekonstruktion der sub-
jektiven und gesellschaftlichen Verhältnisse in Gang setzen können (Lorenzer 1981,
S. 130 f.).

3. Ein postfordistischer Sozialcharakter?

Habermas und Lorenzer konnten ihre Emanzipationshoffnungen noch auf die in


der fordistischen Krise aufscheinenden Rationalitätsreserven einer Gesellschaft
gründen, in der die Subjekte Alltagserfahrungen in Familien, Betrieben, Parteien,
Gewerkschaften und in der Freizeit weitgehend teilten, und in der die Wider-
sprüche zwischen Selbstbestimmung und Egalität einerseits und der Existenz
konkreter Ungleichheitsverhältnisse andererseits immer augenfälliger wurden. Es
konnte mithin darum gehen, die Gesellschaft auf die kollektive Einlösung ihrer
Versprechen zu verpflichten. Doch angesichts einer zunehmend pluralisierten und
fragmentierten Gesellschaft, angesichts von wachsenden Kontingenzen und Un-
gleichzeitigkeiten, angesichts der Vervielfältigung sozialer Ungleichheiten und kul-
tureller Differenzen ist es immer schwieriger, einen einheitlichen postfordistischen
Sozialcharakter zu identifizieren oder gar ein einheitliches emanzipatorisches Pro-
jekt zu formulieren. Um nun diesem postfordistischen In- und Nebeneinander
verschiedener, überkommener und neu entstehender Subjektivitäten gerecht zu
werden und gleichzeitig herrschende sozialisatorische Tendenzen identifizieren zu
können, ist es sinnvoll, verschiedene Ansätze aufeinander zu beziehen, die sich
kritisch mit dem Verhältnis von Subjektivität und Gesellschaft befassen. Dazu zählt
zunächst die psychoanalytische Sozialforschung, die in kulturellen Texten unbe-
wusste Lebensentwürfe und gesellschaftliche Widersprüche aufspüren will – hier
sind u. a. die Studien von Karola Brede, Hans-Dieter König und Siegfried Zepf zu
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 279

nennen. Darüber hinaus sollen aber auch Ansätze befragt werden, die stärker die
Vielfalt, Brüchigkeit und relative Offenheit postfordistischer Subjektivierung be-
tonen, wie die feministische Psychoanalyse etwa Jessica Benjamins oder Christa
Rohde-Dachsers, und eine an Lacan orientierte Psychoanalyse, wie sie von Judith
Butler und Slavoj Žižek betrieben wird. Zuvor aber gilt es, sich mit einer kritischen
Gesellschaftstheorie, die ökonomistische Verkürzungen vermeidet, jenen post-
fordistischen Verhältnissen kritisch zu nähern, die der Subjektbildung vorausge-
setzt sind.
Ansätze einer solchen Gesellschaftstheorie liegen mit der Regulationstheorie
vor. Sie konzeptualisiert das Verhältnis von Ökonomie, Politik und Ideologie als
Zusammenspiel von »Akkumulationsregime« und »Regulationsweise«. Akkumula-
tionsregime bezeichnet die historisch-konkreten Produktions- und Konsumtions-
weisen einer Gesellschaft, die Verhältnisse warenförmiger und nicht-warenförmi-
ger (Re-)Produktion und mithin die strukturellen Zwänge kapitalistischer Verge-
sellschaftung (Hirsch 1992, S. 205). Weil aber diese Zwänge sich erst durch das
alltägliche Handeln der Subjekte materialisieren, das sich immer schon aus ver-
schiedenen, auch transökonomischen Motiven und Deutungen speist, ist die gesell-
schaftliche Entwicklung zugleich von einer Regulationsweise bestimmt, von einer
institutionell-diskursiven »Vermittlung struktureller Zwänge mit den Handlungs-
kompetenzen sozialer Akteure« (Görg 1994, S. 107). Diskurse können dabei als
institutionelle Sprechweisen innerhalb des Staates und der Zivilgesellschaft ver-
standen werden.
»Es handelt sich um einen offenen Prozess der Bedeutungserzeugung, -zirkulation, -trans-
formation und -verschiebung. Die Bedeutungen werden in diskursiven Auseinandersetzun-
gen in der unendlichen Zahl alltäglicher Kommunikationen gebildet und miteinander zu
kompakten semiologischen Formen verknüpft, die für die sozialen Akteure einen unhinter-
gehbaren Sinnhorizont der von ihnen gelebten jeweiligen Gegenwart, Vergangenheit und
Zukunft konstituieren.« (Demirovic 1996, S. 100)
Innerhalb der institutionell-diskursiven Praxis entsteht dann Hegemonie als Ein-
heit von Wissen, Praxis und Leidenschaft (Gramsci 1995, S. 1465 f.), als Verallge-
meinerung einer hegemonialen Lebensweise und der Subordination anderer Le-
bensweisen. Dem Staat kommt dabei die Funktion zu, ein »nationales Interesse«
über die Widersprüche und Kämpfe der Gesellschaft hinweg im Sinne ihrer waren-
förmigen Reproduktion zu formulieren (Hirsch 1995, S. 57). Er erfüllt diese Auf-
gabe, indem er zivilgesellschaftliche Diskurse aufgreift, dethematisiert, marginali-
siert oder formt und indem er die Individuen als einzelne Staatsbürger und
Marktteilnehmer anruft, um sie dann als Angehörige einer Nation, einer Kultur
und eines Geschlechts zu vergemeinschaften (ebd., S. 15). Daraus folgt aber zu-
gleich, dass sämtliche Institutionen und Diskurse von vielfältigen Widersprüchen
gezeichnet sind, etwa zwischen Kapital und Lohnarbeit oder zwischen der Pro-
klamation von Freiheit und Gleichheit einerseits und individualistischen, sexisti-
schen und rassistischen Ausschlüssen andererseits. Die Subjekte schließlich sind in
diesem Kontext gleichsam Schnittpunkt vielfältiger Diskurse und mithin Resultate
der Hegemonie, doch die psychischen Verarbeitungsweisen ihrer widersprüchli-
chen und kontingenten Situierungen sind damit nicht unweigerlich determiniert,
sondern bleiben relativ offen (Hirsch 1990, S. 132).
280 Thilo Naumann

In Rekurs auf regulationstheoretische Erkenntnisse lassen sich nun folgende


Konturen der postfordistischen Verhältnisse zeichnen. Ökonomisch ist der Post-
fordismus insbesondere durch die gezielte Nutzung unterschiedlicher Standorte
durch das Kapital geprägt. Dabei ermöglichen neue Informations- und Kom-
munikationstechnologien ebenso eine hohe Flexibilität der Produktion wie eine
Diversifikation des Konsums. Zugleich ist die Gesellschaft zunehmend gespalten in
Kernbelegschaftsangehörige, in prekär Beschäftigte als Leih- und Zeitarbeiter oder
als Klein- und Scheinselbständige, in jene, die sich in häufig illegalisierten bad jobs
verdingen müssen und in die von struktureller Massenarbeitslosigkeit Betroffenen
(ders. 1995, S. 124). Politisch zeichnet sich die Durchsetzung »nationaler Wettbe-
werbsstaaten« ab, die durch Aushöhlung kostspieliger sozialer Sicherheitsstandards
sowie durch konsequente Standortpolitik in Form von Innovationsförderung,
Infrastrukturförderung und Steuervorteilen für Unternehmer in Konkurrenz zu
anderen Wettbewerbsstaaten treten (ebd., S. 116). Den wachsenden sozialen Spal-
tungen begegnet der Staat zunächst mit einer vereinzelnden Anrufung der In-
dividuen als konkurrierenden Arbeitskraftunternehmern, indem er tarifrechtliche
Sicherheit auflösen hilft und die selektiven Diskriminierungen des Sozialstaats
ausweitet (ebd., S. 156). Des weiteren schürt der Staat nationalistische Diskurse, die
nicht allein die sich vertiefenden Ungleichheiten kompensieren helfen, sondern
überdies einen nationalen oder kulturellen »Gentrification-deal« installieren. Die
desintegrativen und dysfunktionalen Bewegungen werden hingegen repressiv von
den aufgerüsteten sicherheitsstaatlichen Apparaten überwacht und bearbeitet (ebd.,
S. 172). Das historisch Neue dieser politischen Konstellation lässt sich mit Slavoj
Žižek als »Post-Politik« bezeichnen. Es ist eine Politik, die in einer toleranten
Geste des symbolischen Einschlusses aller Differenzen nur das Machbare, das
Nicht-Ideologische betreiben will (Žižek 2001, S. 273). Die Folge jedoch ist, dass
einerseits Marginalisierte sich nicht als symptomatische Vertreter des Allgemeinen
präsentieren können, als »Teil ohne An-Teil« (ebd., S. 276), sondern bestenfalls als
objektivierte Einzelfälle mit spezifischen Defiziten in den Blick der »juristisch-
administrativen-therapeutischen Staatsapparate« geraten (Fraser 1994, S. 240), und
dass andererseits, unter der Maßgabe eines allumfassenden Einschlusses, ein kon-
tingentes Anderes »(sei es in puncto Rasse, Geschlecht, Religion …)« als be-
drohliche »absolute Andersheit« konstruiert werden muss, um das einschließende,
tolerante Selbstverständnis der Post-Politik zu imprägnieren (Žižek 2001, S. 278).
Damit schließlich lässt sich die ideologische Praxis im Postfordismus als flexible
Verknüpfung individualistischer, sexistischer und rassistischer Diskurse beschrei-
ben. Der Individualismus beruht auf der hegemonialen Vorstellung toleranter,
flexibler und begehrender Subjekte. Die Subjekte verwirklichen diese Vorstellung
dann einerseits im diversifizierten Konsum, der Symbole der Sinnlichkeit und der
Differenz und mithin Bilder eines befriedigenden Lebens bereitstellt, und anderer-
seits in ihrer erzwungenen Bereitschaft, sich den Flexibilitätsanforderungen und
Mobilitätszwängen der postfordistischen Produktion einzufügen. Diejenigen, die
nicht über die notwendigen ökonomischen oder kulturellen Kapitalien für vielfälti-
gen Konsum und gutbezahlte Jobs verfügen, können demgegenüber als defizitär
gemaßregelt werden (vgl. Naumann 2000, S. 142). Der Sexismus ist weniger von
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 281

der Rede überlegener Männlichkeit geprägt, sondern zunehmend von der Verknüp-
fung des Individualismus mit der Rede geschlechtlicher Differenzen. Auf diese
Weise kommt es zu einer flexiblen Vernutzung von Weiblichkeit, wenn Frauen
flexibel aus der Konkurrenz um gutbezahlte Arbeitsplätze zurück in Familien- und
Hausarbeit gedrängt werden, wenn es im Widerspruch zwischen Individualisie-
rungs- und Weiblichkeitsnorm überwiegend für Frauen zur Doppelbelastung von
Familie und Beruf kommt, wenn weiblich codierte Fähigkeiten wie Kooperation in
den kommunikativen Unternehmenskulturen ebenso wie in Pflegeberufen kapi-
talisiert werden, oder wenn Symbole sexueller Differenz den Konsum der in-
dividualistischen Subjekte mit einem beträchtlichen Mehrwert ausstatten (ebd.,
S. 168). Auch der Rassismus schließlich ist nicht länger von der Rede überlegener
Rassen dominiert, sondern eher von der Rede mehr oder minder kompatibler und
zu respektierender kultureller Differenzen. Dieser »postmoderne Rassismus« (Ži-
žek 2001, S. 274) eröffnet einerseits die Möglichkeit der multikulturalistischen
Verwertung bestimmter Dienstleistungen und Symbole der »Authentizität«, »Hy-
bridität«, »Sexualität« oder »Exotik«, und andererseits dient er der Konstruktion
und Rassifizierung »gefährlicher Gruppen«, die in der imaginären Bedrohung der
vermeinten Toleranz, der »Inneren Sicherheit« oder der »nationalen Identität« die
Gemeinschaft von individualistischen und neorassistischen Subjekten erst kon-
stituieren (Naumann 2000, S. 156). Insgesamt kann demnach von der Hegemonie
einer individualistischen, postmodernen Subjektivität ausgegangen werden, die
situativ auch sexistische und rassistische Diskurse mobilisiert (Terkessidis 1998,
S. 229). Diese Subjektivitätsvorstellung ist nun freilich auf höchst prekäre und
beschädigende Weise gekoppelt an sozialisatorische Prozesse, an ihre psychische
Materialisierung.

3.1. Infantile Sozialisation


In einer historischen Situation, in der die Gesellschaft immer weiter gespalten und
von ökonomischen und administrativen »Sachzwängen« beherrscht wird und in
der das psychosoziale Arrangement des autoritären Charakters zerbrochen ist,
werden die Subjekte zunehmend auf sich und ihre Ohnmacht zurückgeworfen und
treten den besagten privatistischen Rückzug an. Die Familie gerät dabei, gerade
weil die Ablösung traditionaler Zwänge zu einer Pluralität mehr oder minder
selbstgewählter Familienformen führt, zu einem letzten, intimisierten Refugium,
das Glück und Sinn verbürgen soll, und in dem die Eltern ihre Größenphantasien
sowie ihre Harmonie- und Sicherheitsbedürfnisse ausagieren können. Die Kinder
wiederum werden einerseits nur entlang der elterlichen Arbeitsrhythmen und
Regenerationsbedürfnisse beachtet, und andererseits fungieren sie geradezu als
Sinnstifter eines ansonsten sinnentleerten Alltags – ihr Alltag ist mithin von
extremen Entwertungs- und Mittelpunktserfahrungen geprägt (Ottomeyer 1989,
S. 81 f.). Angesichts eines Feldes, das gekennzeichnet ist von Spuren antiautoritärer
Erziehung, die einen tatsächlich emanzipatorischen, gesellschaftlich geöffneten
Umgang mit Kindern intendierte, trotziger Rückkehr zu überkommenen restrikti-
ven Erziehungsmaßnahmen und einem verbreiteten mehr oder minder hilflosen
282 Thilo Naumann

Laisser-faire, kann in Rekurs auf Siegfried Zepfs Studie Lust und Narzissmus
festgehalten werden, dass die Eltern zur Instrumentalisierung der Kinder im Sinne
ihrer narzisstischen Bedürftigkeit neigen. Einerseits nähren sie ihre Größenphan-
tasien, indem sie sich überfürsorglich als Spender alles Guten für das Kind imagi-
nieren oder aber die Selbstbestimmungsstrebungen des Kindes gewaltvoll brechen.
Andererseits schreiben sie dem Kind eine Allmacht zu, indem sie sich den Wün-
schen des Kindes vorauseilend unterwerfen oder indem sie das Kind in der
Erwartung bloß verwalten, es besäße jene Macht, die den Eltern so schmerzlich
fehlt. Den auf diese Weise narzisstisch instrumentalisierten Kindern fehlt es dann
an wechselseitig befriedigenden Interaktionen mit konturierten Bezugspersonen
und ihre eigenen Beziehungen sind narzisstisch disponiert: entweder müssen an-
dere Subjekte unterworfen und manipuliert werden, um die Größenphantasien zu
bestätigen und die Abhängigkeit zu leugnen, oder das Wohlbefinden ist an die
Verschmelzung mit vermeintlich Mächtigeren gekoppelt, um das schwache Ich zu
restituieren. Die Begegnung mit Subjekten, die sich diesen narzisstischen Zwecken
entziehen, löst hingegen existenzielle Ängste aus (Zepf 1997, S. 84ff.).
Eklatant ist in diesem Kontext besonders die Konstruktion von Zweigeschlecht-
lichkeit, die das früh einsozialisierte Exempel für die Akzeptanz aller weiteren
Ungleichheitserfahrungen bildet (Rommelspacher 1995, S. 151). Über diesen Vor-
gang gibt nun insbesondere die feministische Psychoanalyse Auskunft. In der
Realität postfordistischer Familien bekommen es die Kinder zumeist mit einer im
Rahmen flexibilisierter, doch fortbestehender geschlechtshierarchischer Arbeits-
teilung anwesenden Mutter und einem physisch oder psychisch abwesenden Vater
zu tun. Die Mutter wird gleichzeitig als mächtig und als abhängig wahrgenommen,
ist sie es doch, die im Alltag Zuwendung oder Verbote vermittelt und zugleich bei
den Kindern verharren zu müssen scheint. Der Vater hingegen, der aus freien
Stücken zu kommen und zu gehen scheint, gerät zum machtvollen Repräsentanten
kindlicher Autonomiebestrebungen (Benjamin 1990, S. 149). Dabei werden die
Kinder unter der Maßgabe phallizistischer Signifikanten als Jungen und Mädchen
konstruiert, doch sowohl Jungen als auch Mädchen erfahren ebenso ein Mindest-
maß an Geborgenheit wie die Möglichkeit wachsender Unabhängigkeit und er-
leben die Handlungen der Bezugspersonen immer auch als Ausdruck ihrer eigenen
Omnipotenz. Erst wenn die Kinder in die »Wiederannäherungskrise« (Margret
Mahler) des 2. und 3. Lebensjahres geraten, wenn sie ihrer Abhängigkeit gewahr
werden und diese kränkende Erfahrung zu leugnen versuchen, kommt es zu einer
ersten Verhärtung einer Geschlechtsidentität (ebd., S. 99 f.). Denn zur gleichen Zeit
etwa erfolgt auch die Spracheinführung, die die frühkindlichen Erfahrungen nach-
träglich in die heterosexuelle Matrix einführt (Rohde-Dachser 1992, S. 225). Weil
aber Geborgenheit und Abhängigkeit weiblich codiert sind, während Autonomie
männlich codiert ist, kann das Mädchen zwar Nähe und Bindung zulassen, doch
die phallizistisch symbolisierte Autonomie ist für es nicht unmittelbar verfügbar
(Benjamin 1990, S. 165). Der Junge hingegen entwickelt die Tendenz einer Auto-
nomie im Zeichen männlicher Herrschaft, muss aber die Wünsche nach Nähe und
Bindung als weiblich codiert zunehmend abwehren – sie kehren dann bloß als
Idealisierung von Weiblichkeit als Ort der Nähe und als deren Verachtung als Ort
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 283

der Abhängigkeit wieder (ebd., S. 157). Während präödipal durchaus noch ein
spielerischer Umgang auch mit gegengeschlechtlichen Identifikationen möglich ist,
werden diese Geschlechteridentitäten dann in der ödipalen Phase rigide verhärtet,
wenn die Kinder gezwungen und kognitiv in der Lage sind, ihr Begehren als
genitalisiertes endgültig im Rahmen der Zweigeschlechtlichkeit zu platzieren (Ben-
jamin 1993, S. 75). Allerdings zeugt die damit verfügte polarisierte heterosexuelle
Anziehung eben nicht von einer anthropologischen Konstante, sondern von den
Beschädigungen, die der weibliche Verlust selbstbestimmten Begehrens und die
männliche Subsumtion lustvoller Interaktionen unter die Erfordernisse der Herr-
schaft bedeuten, sowie von dem Wunsch, wenigstens in den kulturellen Formen
Glück zu erheischen, oder, mit Butler gesprochen, von der Melancholie, von der
verleugneten Trauer, die die konstitutive Verwerfung homosexuellen Begehrens in
den Subjekten hinterlässt (Butler 2001, S. 127).

3.2. Zeichenreguliertes Verhalten und ästhetische Symptombildung


Fatal an den narzisstischen Beschädigungen ist, dass andere Menschen nur mehr
nach ihrem narzisstischen Nutzen taxiert werde, dass die gesamte psychische
Struktur dem allgemeinen Diktat der Unlustvermeidung subsumiert wird. Siegfried
Zepf macht in seinen »Bemerkungen zur gesellschaftlichen Bedeutung und Funk-
tion zeichenregulierten Verhaltens« deutlich, dass diese Instrumentalität und In-
differenz zwar nicht die Einführung vielfältiger Sprachsymbole verhindert, doch
hängen diese nur als Etiketten über einer ansonsten undifferenzierten individuellen
Praxis (Zepf 1993, S. 82).

»Nicht mehr die eigene Lebensgeschichte, sondern die Sprache bestimmt, wie mit einer
Situation umzugehen ist und was in ihr zu empfinden ist. Da die sprachlich vorgeschriebenen
Emotionen aber nicht vorhanden sind, lernt das Individuum mit dem Spracherwerb lediglich,
welche Gefühlworte in welchen Situationen zu gebrauchen sind.« (ebd., S. 84)

Auf diese Weise entsteht ein »zeichenreguliertes Verhalten« (ebd., S. 83), das eine
eigentümliche narzisstische Gefühllosigkeit und Leere nach sich zieht und zur
Bereitschaft der Subjekte beiträgt, hegemoniale Diskurse bruchlos zu reproduzie-
ren, wenn diese nur narzisstische Kränkungen vermeiden helfen. An dieser Stelle
sind nun besonders die postmodernen Entwürfe eines vielseitig begehrenden,
flexiblen Subjekts bedeutsam, weil sie eben die narzisstische Leere zu kompen-
sieren erlauben. In diesem Kontext spricht Žižek von extrem narzisstischen Sub-
jekten, die einem Genuss-Befehl des Über-Ich unterliegen und Schuldgefühle beim
Scheitern der Genussfähigkeit entwickeln (Žižek 2001, S. 511 f.). Zur Vermeidung
der Schuldgefühle entfalten sie einen gleichsam perversen Zug, der vorgibt, Lust
immer schon bezeichnen zu können, um damit sowohl die Angst vor zu großer
Nähe als auch die narzisstische Leere zu verleugnen (ebd., S. 404). Dieser Zusam-
menhang lässt sich gut am Beispiel der ästhetischen Symptombildung veranschau-
lichen, die zunehmend auch die Arbeitswelt erfasst. Besonders in jenen Unter-
nehmen, die mit lebensweltlichem Arbeitsplatzdesign, mit einer auf Kommunika-
tivität und Kooperation gründenden betrieblichen Sinn- und Ideologieproduktion
284 Thilo Naumann

eine familiale Unternehmenskultur schaffen, können die Subjekte zunächst ihre


existenziellen, narzisstischen Ängste angesichts der freilich fortbestehenden
Zwänge und Hierarchien durch die Mobilisierung von Größenphantasien, die die
korporative Teilhabe am Glanz der Unternehmensfamilie imaginieren, verleugnen
(vgl. Brede 1995, S. 234). Überdies erzeugen die sinnlichen und kommunikativen
Symbole und Rituale der Unternehmenskultur die Vorstellung einer »dionysischen
Subjektivität« (Neuberger/Kompa 1993, S. 260). Diese Vorstellung kann insofern
als ästhetische Symptombildung verstanden werden, als im Kontext der profit-
orientierten, zweckrationalen Betriebsinteressen die besagten Symbole zu Sprach-
schablonen verkommen, die einen sinnlichen und interaktiven Reichtum bloß
suggerieren, während sich hinterrücks instrumentalistische Verhaltensklischees
noch in den Kommunikationsritualen des Betriebes durchsetzen. Die Subjekte
werden dadurch im Schein sinnlich-reicher Beziehungen von narzisstischen Ängs-
ten entlastet, und der Betrieb kann die Subjektivität intensiv kapitalisieren (ebd.,
S. 213ff.). Kurzum, im Bereich der betrieblichen Arbeit kommt es zunehmend,
wieder mit Žižek gesprochen, zu einer Allianz zwischen dem »›Kobold der Perver-
sität‹ und einer externen Körperschaft« (Žižek 2001, S. 514). Im Bereich der
Freizeit hat schon Lorenzer das Phänomen der ästhetischen Symptombildung
untersucht (1981), ihre aktuelle Verbreitung zeigen diverse Ergebnisse psycho-
analytischer Sozialforschung, wie sie etwa König, Hanns A. Hartmann und Rolf
Haubl zur Werbung (König 1992; Hartmann/Haubl 1992), Hartmann zum Ex-
tremsport (Hartmann 1996) oder Haubl zu Impulskäufen in Shopping Malls
(Haubl 1996) durchgeführt haben. Die zugrunde liegende Logik lässt sich folgen-
dermaßen charakterisieren: Die Subjekte, prädisponiert durch das zeichenregulierte
Verhalten und die Insuffizienz, angstfrei intersubjektive Beziehungen eingehen zu
können, bedienen sich der kulturindustriell bereitgestellten und zunehmend diver-
sifizierten Symbole der Sinnlichkeit, der Interaktivität, der Homosexualität, der
glamourösen Differenz, dethematisieren die mitunter widerständigen sozialen Be-
wegungen, denen die Symbole entspringen, rekontextualisieren sie hegemonial in
einem individualistischen Akt, der Größenphantasien zu speisen vermag, und
schaffen sich gleichzeitig eine Erregung in Sicherheit, ohne die Angst vor der
intersubjektiven Insuffizienz spüren zu müssen. Die narzisstische Leere dieser
häufig hoch sexualisierten ästhetischen Symptome zeigt sich freilich in den zahl-
reichen Erkenntnissen zu konkreten Sexualitätspraktiken, gerade weil Sexualität,
wie Lorenzer sagt, »der Zentralpunkt [ist], an dem sich das Kommunizieren und
das Interagieren mit der Umwelt bündeln« (Lorenzer 1980, S. 325). So konstatiert
Žižek ebenso wie Zepf eine Unterwerfung des Sex narzisstischer Subjekte unter die
utilitaristische Logik des Äquivalententauschs (Žižek 2001, S. 499; Zepf 1997,
S. 130). Žižek führt weiter aus, dass sich das »Vorspiel« in Form von Fitness und
Erfolg immer weiter verlängert, während sich sexuell interesselose Langeweile
ausbreitet, die nur durch vertraglichen Schmerz, etwa sadomasochistische Prakti-
ken, durchbrochen wird (Žižek 2001, S. 511 f.); und schließlich scheint in der
Wissenschaft Einigkeit darüber zu bestehen, dass sich neben der Entsexualisierung
heterosexueller Sexualität die »Sexualökonomie des Patriarchats« (Žizek) in neuen
und alten Formen sexualisierter Gewalt ausbreitet (ebd., S. 519; Schmidt 1995,
S. 10 f., Hagemann-White 1995, S. 149).
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 285

3.3. Neuer Autoritarismus


Die Diskussion der ästhetischen Symptombildung zeigt, dass die post-politische
Beredsamkeit freier und gleicher Subjekte mit ihrem reflexiven, einschließenden
Selbstverständnis in ihren öffentlichen Beziehungen von »einigen Extremformen
streng regulierter Beherrschung und Unterwerfung« etwa in sexuellen Beziehungen
gekontert wird (Žižek 2001, S. 476). Zeigt sich hier schon eine Aggression, die
ebenso aus den narzisstischen Beschädigungen resultiert wie sie unaussprechbar
bleibt, da sie das kommunikative Selbstbild bedroht, kann im Hinblick auf die
unmittelbar gesellschaftlichen Bedeutungen dieser narzisstischen Subjekte von ei-
nem »neuen Autoritarismus« gesprochen werden, wie ihn Karola Brede in ihrer
Untersuchung Wagnisse der Anpassung im Arbeitsalltag aufspürt (Brede 1995,
S. 236 ff.). Er ist dadurch gekennzeichnet, dass gerade die Subjekte, die sich als
kommunikativ, selbstgestaltend und reflexiv imaginieren, die unweigerlichen Er-
fahrungen von Hierarchie und Zwang verleugnen und damit die Gefühle von
»Bedrohung, Erniedrigung und Vernichtung« vermeiden, indem sie in einer nar-
zisstischen Besetzung ein Größenselbst mobilisieren, das eine scheinbare Gleich-
heit mit den Autoritäten herstellt (ebd., S. 238 f.). Die verpönte Aggression zeigt
sich dann nur mehr als »›Kontaktproblem‹, das zu Vereinsamung führt«, oder als
»Willensstärke, Härte bis hin zu Brutalität« etwa in der Exekution betrieblicher
Instrumentalität (ebd.). Gefährlich ist nun an diesem neuen Autoritären, dass er auf
einer unbewussten Ebene gleichsam zum Adressaten extremistischer, etwa neo-
rassistischer Gewalt wird – diese bildet das »irrationale« Supplement der post-
politischen Gesellschaft und wird als das ihr absolut Andere konstruiert (Žižek
2001, S. 278). Brede arbeitet nun in psychoanalytisch und soziologisch interpretier-
ten Fallstudien die untergründige Komplizenschaft zwischen neuen Autoritären
und extremistischen Gewalttätern heraus. Sie schreibt zusammenfassend:
»Meiner gewagten Hypothese zufolge ist der Adressat der neue Autoritäre, dessen Aggres-
sion massiver, aber nur begrenzt wirksamer psychischer Kontrolle unterliegt. Selbst die
knappen Fallskizzen dürften ein Licht darauf werfen, dass die psychischen Konflikte und
Mechanismen, die unter der Schicht großer Eloquenz sichtbar werden, dem Aufbieten von
narzisstischer Libido gegen eigene Angst und Aggression gelten. Der Provokateur bzw.
Rechtsextremist spürt die Lähmung auf, die die verdrängten Aggressionen des neuen Autori-
tären nach sich zieht. Er übernimmt die sadistische Rolle dessen, der […] einen archaischen
Bestrafungswunsch erfüllt, indem er seinen Adressaten damit attackiert, nicht zur Sache zu
kommen, Worthülsen zu produzieren, unglaubwürdig zu sein, sich zu stilisieren. Der neue
Autoritäre provoziert im Rechtsextremisten den Wunsch, die von ihm als unauthentische
Fassade niederzureißen – ohne allerdings dahinter die ›wahre‹ Autorität zu finden; was er
findet, ist Verstehen, Belehren, Erziehung als Gestus.« (Brede 1995, S. 249)

Aufgrund dieser sozialisatorischen Entsprechung zwischen neuen Autoritären und


Rechtsextremisten, aufgrund eines liberalen, geradezu antirassistischen Selbstver-
ständnisses der postfordistischen Gesellschaft, in die gleichzeitig rassistische und
sexistische Exklusionspraktiken konstitutiv eingeschrieben sind, und schließlich
infolge der oben beschriebenen ökonomischen, politischen und ideologischen
Transformationsprozesse steht zu befürchten, dass sich im Postfordismus neoras-
sistische Subjektpositionen ausbreiten.
286 Thilo Naumann

3.4. Fruchtbare Irritationen

Die Situierung der Subjekte innerhalb der postfordistischen Verhältnisse ist höchst
widersprüchlich und kontingent, sie bergen mithin nicht allein die aufgezeigten
heteronomen, sondern auch emanzipatorische Perspektiven. Denn neben die fort-
bestehenden Widersprüche zwischen Lohnarbeit und Kapital, zwischen der pro-
klamierten Freiheit und Gleichheit und der individualistischen, sexistischen und
rassistischen Ungleichstellung, treten im Postfordismus historisch neue Wider-
sprüche. So ist schon die infantile Sozialisation nicht nur von narzisstischer Instru-
mentalität im Zeichen heterosexueller Paarbeziehungen und privatistischer Klein-
familien geprägt, sondern ebenso ein Ort, an dem gerade infolge der Diversifizie-
rung von Lebensweisen ein sinnlicher Reichtum, Empathie und Kommunikation
gestiftet wird. Im Bereich der betrieblichen Arbeit wird Subjektivität zwar zu-
nehmend intensiv kapitalisiert, doch dieser Subjektbedarf eröffnet neue Interven-
tionsmacht und erlaubt die Signifikation der außerbetrieblichen Produktion der
Subjektivität sowie der ungleichen Verteilung jener ökonomischen, kulturellen und
psychischen Kapitalien, die der Subjektvernutzung zu Grunde liegen. Und im
Bereich der Freizeit zeigt sich der Widerspruch zwischen der Entwendung und
hegemonialen Verwertung von Symbolen der Differenz, des Protests, der Freiheit
und Sinnlichkeit und deren gleichzeitiger Popularisierung mit durchaus trans-
gressiven Lesarten, die diese Symbole auf ihre intersubjektiven und politischen
Implikationen verpflichten wollen. Aus diesen Widersprüchen können sich frucht-
bare Irritationen ergeben, die die emanzipatorische Bezeichnung subjektiver und
gesellschaftlicher Verhältnisse befördern (Lorenzer 1981, S. 130 f.). Auf einer all-
gemeinen gesellschaftlichen Ebene heißt das etwa, die globalisierte Kapitalverwer-
tung als Handlungsrahmen der vervielfältigten Lebensweisen im Postfordismus zu
repolitisieren und ebenso der Entpolitisierung der Politik, die die politischen und
sozioökonomischen Konflikte zunehmend in einen »Kulturkampf um die Aner-
kennung marginaler Identitäten« übersetzt, entgegenzutreten (Žižek 2001,
S. 302 f.). Für die Subjekte folgt daraus zunächst, bestimmte kohärente Identitäts-
behauptungen, etwa rigide Geschlechterrepräsentationen oder »nationale Identi-
täten« zurückzuweisen, ohne jener Rede flexibler, vielfältig begehrender Identi-
täten Glauben zu schenken, die die Subjekte in den postfordistischen Produktions-
und Konsumtionszusammenhang einzupassen erlaubt. Gefordert ist mithin ein
»Akt«, der die symbolische Ordnung überschreitet (ebd., S. 523), eine »Bereit-
schaft, nicht zu sein«, um die Komplizenschaft mit den hegemonialen Diskurse, die
gesellschaftliche Ausbeutung des Verlangens zu sein, durch eine dramatische Spra-
che des Verlusts und neuer Schöpfungen aufzukündigen (Butler 2001, S. 95,
S. 122 f., S. 141), gefordert ist, mit Peter Brückner gesprochen, »die dialektische
Spannung von Friede und Militanz« zu wahren (Brückner 1984, S. 8). Zurück-
gewendet auf die sozialisatorischen Beschädigungen der postfordistischen Subjekte
gilt es schließlich, deren narzisstische Bedürftigkeit ernst zu nehmen. Eine emanzi-
patorische Bearbeitung des Narzissmus wendet sich gegen den narzisstischen
Instrumentalismus unter dem Diktat der Unlustvermeidung und begründet eine
»libidinöse Moral«, die jedem Subjekt die Verwirklichung seiner/ihrer Wünsche
Sozialcharakter zwischen Spätkapitalismus und Postfordismus 287

zugesteht (Marcuse 1987, S. 225) und damit »Subjektbeziehungen« eröffnet, die


sich durch Angstlosigkeit, Freiheit, Offenheit und Eindeutigkeit der wechselsei-
tigen Zuwendung auszeichnen (Holzkamp 1979, S. 14). Wird dieses Verhältnis von
Narzissmus und Lust ernstgenommen, kommt es zur »Produktion einer in kon-
tinuierlicher Weise ihren Bezug zur Welt selbstbereichernden Subjektivität« (Guat-
tari, zit. nach Bourriaud 1995, S. 63), die darauf zielt, »nicht nur die eigenen,
sondern die gesellschaftlichen Bedingungen, unter denen alle Menschen leben, zu
verbessern« (Zepf 1995, S. 9), kurzum: auf »eine stärker wechselseitige und egali-
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Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus
zur Postmoderne
Jost Müller

1. Kurzer Rückblick auf Marx

Der Ideologiebegriff kritischer Gesellschaftstheorie geht unbestreitbar – und unbe-


stritten – auf die Marxsche Theorie zurück. Tatsächlich ist bei Karl Marx aber keine
systematische Darlegung einer Ideologietheorie zu finden. Seine Bemerkungen zur
Problematik von Ideologie und besonderen, d. h. juristischen, politischen, religiö-
sen, künstlerischen oder philosophischen Ideologien sind – je nach gegebenem
Anlass formuliert – über zahlreiche Textstellen seiner Schriften und über Jahr-
zehnte hin verstreut. In der gemeinsam mit Friedrich Engels verfassten Deutschen
Ideologie von 1845/46 erhält das Wort Ideologie mehrere Bedeutungen; dem
voluminösen Fragment können formelle, funktionelle und strukturelle Bestimmun-
gen von Ideologie und besonderen Ideologien entnommen werden. Zweimal heben
Marx und Engels bereits im ersten Abschnitt über Ludwig Feuerbachs Materia-
lismus an, die Produktion von Bewusstsein, von Ideen und Vorstellungen als
Ideologie aus dem materiellen Lebensprozess zu erklären.
Der erste Ansatz nimmt Ideologie in ihrer unmittelbaren Verflechtung mit der
materiellen Tätigkeit und dem materiellen Verkehr der Menschen und fasst sie als
»Sprache des wirklichen Lebens« auf, in der allerdings die sozialen Verhältnisse
eine Verkehrung erfahren haben. Die These lautet hier: Ideologien und die ihnen
entsprechenden Bewusstseinsformen haben keine Geschichte. Ideen und Vorstel-
lungen, seien es moralische, rechtliche oder sonstige, sind »notwendige Sublimate«
des wirklichen Lebensprozesses. Als ideologischer Überbau entwickeln sie sich
nicht selbständig, sondern folgen der Entwicklung der ökonomischen Basis, den
Veränderungen der materiellen Produktion und des materiellen Verkehrs, die die
»wirklich tätigen Menschen« herbeiführen. Ausdrücke wie »ideologische Reflexe
und Echos« oder »Nebelbildungen im Gehirn« dienen in diesem Kontext wie auch
das Bild der »Camera obscura« einer metaphorischen Veranschaulichung der for-
mellen Heteronomie von Ideologie und ihrer funktionellen Verkehrung, d. h. der
Verkennung gesellschaftlicher Realität (Marx/Engels 1969, S. 26 f.). Doch diese
Verkennung bleibt, so weit ich sehe, bei Marx immer, auch in dem Abschnitt »Der
Fetischcharakter der Ware und sein Geheimnis« im 1. Kapitel des Kapital, auf das
zurückzukommen sein wird, metaphorisch bezeichnet: »mystisch«, »phantasmago-
risch«, »Zauber und Spuk« (Marx 1962, S. 86, 90). Es existiert in seinen Texten
keine über diese metaphorischen Umschreibungen hinausgehende Ausarbeitung
der Form- und Funktionsbestimmung von Ideologie (zu Marxens Metaphorik vgl.
Haug 1984, S. 22ff.; Link 1996).
Der zweite Ansatz erklärt Ideologie aus der gesellschaftlichen Arbeitsteilung
und vor allem aus der Trennung von materieller und geistiger Arbeit. Hat die
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 291

gesellschaftliche Arbeitsteilung, die Trennung von Gesellschaft und Staat, von Stadt
und Land usw. eine in Klassen gespaltene Gesellschaft hervorgebracht, dann, so
lautet die These hier, äußert sich die Teilung der geistigen und materiellen Arbeit
auch in der herrschenden Klasse selbst. Sie bringt die soziale Kategorie von
Denkern dieser Klasse hervor, die als die »aktiven konzeptiven Ideologen« die
moralischen, rechtlichen, politischen, ästhetischen oder religiösen »Illusionen«
über diese Klasse selbst, über ihre Herrschaft, den Staat etc. produzieren, während
sich die anderen Angehörigen der Klasse zu diesen illusionären Vorstellungen und
Ideen »mehr passiv und rezeptiv verhalten« (Marx/Engels 1969, S. 46 f.). Anlässlich
seiner Analyse des Scheiterns der Revolution von 1848 und der Errichtung der
bürgerlichen Diktatur in Frankreich hat Marx – unübertroffen in der Schrift Der
achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte von 1852 – diesen Ansatz konkretisiert
und erweitert, indem er nun die politischen und ideologischen Repräsentanten
verschiedener gesellschaftlicher Klassen und ihrer Fraktionen, vor allem aber auch
die Brüche in den Repräsentationsbeziehungen für eine bestimme Konjunktur der
Klassenkämpfe und die konkrete Situation gesellschaftlicher Krise zu bestimmen
sucht (vgl. Marx 1960). Der zweite Ansatz betont also gerade die relative struk-
turelle Autonomie des ideologischen Überbaus gegenüber der ökonomischen Ba-
sis, der Ideologien gegenüber den ökonomischen Interessenslagen der Klassen in
den sozialen Kämpfen.

2. Verdinglichung und Zerfall der Ideologien

Rezeptionsgeschichtlich einschneidende Wirkung hatte zu Beginn der 1920er Jahre


der Versuch von Georg Lukács, Marxens Thesen über Ideologie zu reformulieren.
Vor dem Hintergrund der gescheiterten proletarischen Revolution in Deutschland,
Österreich und Italien sowie – für ihn als Volkskommissar für Unterrichtswesen
während der ungarischen Räterepublik von 1919 besonders relevant – der Nieder-
lage der Revolutionäre in Ungarn erhob Lukács Anspruch auf Wiederherstellung
der Marxschen Theorie als Theorie der sozialen Revolution, die im Marxismus der
II. Internationale vor dem Ersten Weltkrieg, insbesondere im Ökonomismus bei
Karl Kautsky und im Revisionismus bei Eduard Bernstein, dem Verfall preis-
gegeben worden sei. Er sah diesen Verfall als einen ideologischen, der vor allem in
der Ignoranz der Parteitheoretiker gegenüber der Hegelschen Dialektik begründet
liege. Die Kritische Theorie im engeren Sinn dann, also die Theorie jenes Kreises
um Max Horkheimer, der sich zu Beginn der 1930er Jahre am Frankfurter Institut
für Sozialforschung und dann im US-amerikanischen Exil konstituierte, knüpfte an
das Konzept von Lukács an. In der Aufnahme des Verdinglichungstheorems, allen
voran bei Theodor W. Adorno, ist die Wirkung der Lukács-Rezeption, wie sie in
Kreisen der linken Intellektuellen zur Zeit der Weimarer Republik verbreitet war,
mit Händen zu greifen.
292 Jost Müller

2.1. Verdinglichtes Bewusstsein und Rationalität bei Lukács

In seinem Buch Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische


Dialektik von 1923 hält Lukács an dem vor allem von Engels in seinen sogenannten
Altersbriefen entwickelten Begriff des notwendig falschen Bewusstseins (vgl. En-
gels 1967, 1968) wie auch am Modell von ökonomischer Basis und ideologischem
Überbau fest und denkt an eine Formbestimmung von Ideologie durch das Offen-
legen der gesellschaftlichen Strukturbeziehungen. Insbesondere in der Studie »Die
Verdinglichung und das Bewusstsein des Proletariats« nimmt er die formelle
Bestimmung von Ideologie vor, indem er aus dem Warencharakter der Produkte
innerhalb der kapitalistischen Produktionsweise eine »Universalkategorie des ge-
samten gesellschaftlichen Seins« macht (Lukács 1968, S. 260).
Marx hatte im Kapital als eine Art Exkurs zur logischen Entfaltung der Wert-
form, von der Ware zum Geld, ein Unterkapitel eingeschoben, um den »Feti-
schismus, der den Arbeitsprodukten anklebt« (Marx 1962, S. 87), zu erläutern und
um der Frage nachzugehen, warum sich in der warenproduzierenden Gesellschaft
die Ware, nicht aber die zu ihrer Produktion aufgewandte Arbeitskraft als Quelle
des Werts darstellt. Er begründet diese Verkehrung aus der spezifischen Art und
Weise der tauschvermittelten Vergesellschaftung: Die privaten, arbeitsteilig operie-
renden Warenproduzenten begegnen sich erst im Austausch ihrer Waren gesell-
schaftlich, daher nehmen sie den gesellschaftlichen Charakter ihrer konkreten
Arbeiten erst in der Tauschbeziehung wahr, dann also, wenn von dem spezifischen
Charakter ihrer Arbeiten bereits abstrahiert ist und wenn die »sinnlich verschiedne
Gebrauchsgegenständlichkeit« ihrer Produkte und deren »gesellschaftlich gleiche
Wertgegenständlichkeit« bereits getrennt sind, um das Ungleiche vergleichbar zu
machen. Die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen, so Marxens These,
nähmen hier die »phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen an«
(Marx 1962, S. 86; vgl. Lukács 1968, S. 260).
Verdinglichung bei Marx bezieht sich auf ökonomisches, tauschvermitteltes
Handeln und vor allem auf das Bewusstsein der Vulgärökonomen als der kon-
zeptiven Ideologen der herrschenden Klasse, dann – davon ausgehend – auf alle
gesellschaftliche Klassen. Auch die Erweiterung vom Warenfetisch über den Geld-
zum Kapitalfetisch bleibt in diesem Rahmen, wonach die Vulgärökonomie eine
»mehr oder minder doktrinäre Übersetzung der Alltagsvorstellungen der wirkli-
chen Produktionsagenten ist und eine gewisse verständige Ordnung unter sie
bringt«, eine »Religion des Alltagslebens«, wie es an gleicher Stelle polemisch heißt
(Marx 1964, S. 838 f.). Als »verständige Ordnung« sind an sie mithin gewisse
Rationalitätskriterien ideologiekritisch anzulegen. Wertform und Verdinglichung
sind nicht identisch, aber erstere bedingt letztere als ihre undurchschaute Funk-
tionsweise.
Bei Lukács nun wird aus der ökonomischen Alltagsideologie und ihrer vulgär-
ökonomischen Systematisierung und Rationalisierung ein universelles theoretisches
Paradigma zur Bildung von strukturellen Homologien, das alle soziale Phänomene
nach diesem einzigen Modus der Verdinglichung interpretierbar macht. Lukács
baut die Verdinglichung zu einem allgemeinen Erklärungsschema kapitalistischer
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 293

Vergesellschaftung aus. Jede Vergegenständlichung menschlichen Handelns wird in


der entwickelten kapitalistischen Gesellschaft für ihn zum Moment der Verdingli-
chung. Er spricht sogar von ihr als dem »Grundphänomen der ganzen bürgerlichen
Gesellschaft« oder auch von dem »Urphänomen der Verdinglichung«, zu dem
bürgerliche Wissenschaft, gemeint sind vor allem Georg Simmel und Max Weber
(vgl. Dannemann 1987), nicht vorzudringen vermöge, weil sie nicht zum Problem
ihrer Konstitution in der Wertform der Waren übergehe (Lukács 1968, S. 269f,
274). Dennoch entlehnt Lukács bei Weber das Konzept der Rationalisierung, das
dieser im Rahmen seiner Analyse des westlichen Rationalismus entwickelt hatte,
wie auch das der Kalkulierbarkeit als des Prinzips ökonomischer Rationalität im
kapitalistischen Betrieb (vgl. Beiersdörfer 1986). Warenform, Rationalisierung und
Kalkulierbarkeit sind für Lukács die zentralen Topoi, um gesellschaftliche Arbeits-
teilung und gesellschaftliche Institutionen zu analysieren, um in Fabrik, Büro-
kratie, Staat und Alltagsleben, dann in Wissenschaft und Philosophie immer den
gleichen Nachweis zu führen: Rationalisierung der einzelnen isolierten Elemente
und Teilbereiche bei fundamentaler Irrationalität des Ganzen.
Allein das Proletariat könne das verdinglichte Bewusstsein theoretisch und
praktisch überwinden. Es löst, so Lukács’ These, die starre erkenntnistheoretische
Verdoppelung in Subjekt und Objekt auf, die eine der wesentlichen Antinomien
bürgerlichen Denkens darstelle. Die Arbeiterklasse vollbringe in praxi, von der
kommunistischen Partei nach dem Prinzip der formvermittelten gesellschaftlichen
Totalität einmal zur »Selbsterkenntnis des Arbeiters als Ware« geführt, zugleich
eine strukturelle Veränderung am Objekt ihrer Erkenntnis selbst (Lukács 1968,
S. 353). Das Klassenbewusstsein als zugerechnetes, nicht als empirisches Bewusst-
sein der Arbeiterklasse wird nach Lukács zur rationalen »Selbsterkenntnis der
kapitalistischen Gesellschaft« (Lukács 1968, S. 404). Durch die Unterscheidung von
bloßer Rationalisierung im Kapitalismus und Rationalität des historischen Materia-
lismus hatte Lukács die kritische Theorie neu orientiert: mit dem Verdinglichungs-
theorem war das Verhältnis von Rationalität und Ideologie als zentrale Problematik
kritischer Gesellschaftstheorie etabliert.

2.2. Instrumentelle Vernunft und gesellschaftliche Anomie in der


Kritischen Theorie
Im Unterschied zu Lukács ist in der Kritischen Theorie die Rationalität der eigenen
Theoriebildung als rationale Selbsterkenntnis der Gesellschaft nicht länger an die
Arbeiterklasse gebunden, die geschichtsphilosophisch das »identische Subjekt-
Objekt des gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses« (Lukács 1968, S. 394) reprä-
sentiert, sondern sie hatte sich allein in der Immanenz der Wissenschaftskritik, vor
allem in der Kritik an Positivismus, Anthropologie und Ursprungsphilosophie als
den methodischen Grundlagen von Wissenschaft zu erweisen. Kritische Theorie
der Gesellschaft ist nach einer Formulierung Horkheimers von 1937 gerade da-
durch definiert, dass sie über »keine Instanz für sich als das mit ihr selbst ver-
knüpfte Interesse an der Aufhebung der Klassengesellschaft« verfüge (Horkheimer
1988b, S. 216). Ideologiekritik der Wissenschaft meint Kritik der klassenmäßigen
294 Jost Müller

»Verengung ihrer Rationalität« (Horkheimer 1988a, S. 42, 44). Im Übergang vom


Konkurrenz- zum Monopolkapitalismus schließlich vollziehe sich die »Selbstauf-
hebung« des Liberalismus (Marcuse 1979a, S. 12) als der dominanten politischen
Ideologie des Bürgertums im 19. Jahrhundert. Dies schließe einen grundlegenden
Funktionswandel der Ideologie ein, der sich darin zeige, wie Herbert Marcuse im
Blick auf die faschistische »Naturalisierung« von Ökonomie und Massenelend
festhält, dass »die illusionierende Funktion der Ideologie in eine desillusionierende
umschlägt; an die Stelle der Verklärung und Verdeckung tritt die offene Brutalität«
(Marcuse 1979a, S. 29).
Der Begriff der instrumentellen Vernunft, wie ihn dann Horkheimer 1947 in
Eclipse of Reason (Zur instrumentellen Vernunft, 1967) entwirft, signalisiert eine
historische Veränderung im Spätkapitalismus, durch die jede greifbare Möglichkeit
sozialer Emanzipation übergangen ist. Wo die »Unterjochung der Natur innerhalb
und außerhalb des Menschen ohne ein sinnvolles Motiv vonstatten geht« (Hork-
heimer 1991, S. 106), gibt es nur noch eine residuale Ahnung von der Versöhnung
unter den Menschen wie mit der Natur (zum Naturbegriff vgl. zuletzt Schweppen-
häuser 2001). Die instrumentelle Vernunft, das allein auf den Zweck der Beherr-
schung gerichtete Bewusstsein, verdeckt sie nicht nur, lässt sie nicht nur verkennen,
sondern hat sie liquidiert. Emanzipation nach Maßgabe dieser Vernunft verwandelt
sich in ihr Gegenteil, sodass mit letzter Konsequenz alle verlässlichen Rationalitäts-
kalküle menschlichen Handelns zerstörbar sind, wie der Antisemitismus und die
faschistische »Logik des Terrors« (Löwenthal 1982, S. 169) es anzeigen und die NS-
Vernichtungspraxis es exekutiert hat. Angesichts der gewaltsamen »Pseuodomor-
phose der Klassengesellschaft an die klassenlose«, so Adorno 1942 in seinen
»Reflexionen zur Klassentheorie«, finde selbst die Kategorie der Verdinglichung
am restlos verdinglichten, entmenschlichten Menschen ihre Grenze (Adorno
1972b, S. 391).
Aber schon wo, wie im Spätkapitalismus generell, die gesellschaftlichen Struk-
turen und in ihrer Folge die anthropologischen Dispositionen menschlichen Zu-
sammenlebens sich derart verändert hätten, dass zwischen Geist und Wirklichkeit,
zwischen Machtausübung und ihrer Apologie, zwischen Rationalität und Irratio-
nalität, mithin zwischen Wahrem und Unwahrem nicht mehr zu unterscheiden sei,
versage schließlich auch Ideologiekritik. Denn solche Kritik, die Konfrontation der
Ideologie mit ihrer eigenen Wahrheit, von Geistigem mit seiner Verwirklichung,
bedürfe des rationalen Elements, an dem sie sich zur Widerlegung des falschen
Bewusstseins halten könne. Begriffe wie »gesellschaftlicher Verblendungszusam-
menhang« und »Kulturindustrie« aus der Dialektik der Aufklärung von 1944 (vgl.
Horkheimer/Adorno 1987,S. 65, 144ff.) oder auch der Begriff der »technologische
Rationalität« bei Marcuse, der 1965 in seiner Studie One-Dimensional Man (Der
eindimensionale Mensch. Studien zur Ideologie der fortgeschrittenen Industrie-
gesellschaft, 1967) diese Richtung fortgesetzt hat (vgl. Marcuse 1979b; Marcuse
1989, S. 159ff.), stehen für eine Verallgemeinerung und Verwirklichung von Ideo-
logie, die auch die bei Marx und Lukács entwickelten Ansätze zur Ideologietheorie
nicht unberührt lassen können. Wenn nämlich der Anspruch auf Wahrheit zuguns-
ten des blanken Machterhalts aufgegeben ist, werde auch das rationale Element, das
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 295

im traditionellen Begriff der Ideologie noch auffindbar gewesen sei, endgültig


zerstört.
Die Ideologien zerfallen in Machtkalküle, Manipulationstechniken und Pseudo-
ideologien wie Astrologie und Popularpsychologie; deren Aufgabe allein darin
bestehe, die Subjekte in ihr reibungsloses Fungieren einzuüben und ihnen dieses als
annehmbare Perspektive ihres Lebens vorzuspiegeln (vgl. Adorno 1972a). Im
diagnostizierten Zerfall der Ideologien hebt sich Verdinglichung selbst auf, oder
wie Adorno über die Ideologie sagt, »der eigenen Gestalt nach geht sie in Terror
über« (Adorno 1972c, S. 477). Ein weiteres Moment dieser Zerfallsthese verdeut-
licht Marcuse in One-Dimensional Man, wenn er darauf hinweist, dass in Folge der
technologischen Entwicklung im Kapitalismus Technik nicht mehr durch die ge-
sellschaftliche Produktionsweise bestimmt sei, sondern selbst zur »umfassenden
Form der materiellen Produktion« werde. Technik im 20. Jahrhundert umschreibe
eine »ganze Kultur« und entwerfe eine »geschichtliche Totalität« (Marcuse 1989,
S. 169). Schließlich werde der Begriff der technischen Vernunft selbst zur Ideologie,
wo anstelle der herrschaftlichen Verwendung technischer Instrumente die Technik
ein »geschichtlich-gesellschaftliches Projekt« der Herrschaft geworden ist (Mar-
cuse 1984a, S. 97). Die Analyse der Wertform als Strukturbeziehung gesellschaft-
licher Totalität bei Lukács ist durch die historische Formbestimmung von Gewalt
und Technik als der Verwirklichung von Herrschaft über die Menschen wie über
die Natur ersetzt.
Wenn aber dergestalt zwischen Ideologie und terroristischer Gewalt kein Unter-
schied mehr bestünde, dann befände sich die gesellschaftliche Ordnung – gerade in
Folge ihrer sozialen Integrationsfähigkeit – im Zustand der Anomie; politische
Klassenherrschaft geht über in die Herrschaft der Rackets (vgl. Lindemann 2000).
Fällt zudem der Unterschied zwischen Ideologie und Technik weg, dann erübrigte
sich jede gesellschaftlich definierte Differenzierung innerhalb der Arbeitsteilung,
wie sie im Modell von Basis und Überbau vorausgesetzt war. In beiden Thesen
offenbart sich schließlich das aporetische Moment der Kritischen Theorie, als
materialistische Gesellschaftstheorie nicht mehr möglich zu sein. Daher kann
Adorno in der Negativen Dialektik von 1966 hervorheben, dass sich unter den
Bedingungen universaler Vergesellschaftung keine begründete Kausalität zwischen
Ökonomie, Politik und Ideologie mehr aufweisen lasse, weil alles so unvermittelt
ineinander greife, dass eine Kritik der Ideologien, die sie auf ökonomische und
soziale Verhältnisse zurückbeziehe und deren Entstehung dort begründet sehen
wolle, letztlich scheitern müsse (vgl. Adorno 1970, S. 265). Verweist Adorno hier
auf eine grundlegende Insuffizienz des Marxschen Basis-Überbau-Modells, so
nimmt er zugleich die ungelöste gesellschaftstheoretische Problematik, als deren
topische Metaphorisierung das Modell fungiert, nicht mehr hinlänglich zur
Kenntnis.
Die Charakterisierung der formellen Heteronomie anhand vermeintlich real
gewordener universeller Verdinglichung zieht letztlich alle funktionellen und
strukturellen Bestimmungen von Ideologie und besonderen Ideologien ein. Deren
strukturelle Autonomie ist in Abrede gestellt und somit jeder Begriff von Gesell-
schaft als das Ganze von sozialer Differenz und sozialem Konflikt. Wo Lukács sich
296 Jost Müller

mit strukturellen Homologien behalf, ebnet die Kritik der instrumentellen Ver-
nunft bzw. der technologischen Rationalität die Topik des Basis-Überbau-Modells
ein und setzt an die Stelle der Verkennungsfunktion von Ideologie ein gewaltsam
anomisches Potenzial von Vergesellschaftung. Dennoch, die letzte Volte gegen den
ins Totale zielenden Prozess der Vergesellschaftung ist der Verzicht auf dessen
theoretische Sanktion: ein theoretischer Bruch mit jener Art von Gesellschafts-
theorie nach dem subsumtionslogischen Modell historisch-gesellschaftlicher Totali-
tät, wie Lukács es an der Warenform herausgestellt hatte und Adorno es nun im
Konzept des »mikrologischen Blicks« (Adorno 1970, S 400) auf das Vereinzelte
zurückweist.

3. Hegemonie und Staat

Der aporetische Charakter des Gesellschaftstheorie bei Lukács und dann vor allem
in der Kritischen Theorie machte zweifellos einen zweiten Gang durch die Ge-
schichte kritisch-materialistischer Theoriebildung über Ideologie erforderlich, um
die teils parallel zur Entfaltung des Verdinglichungsparadigmas und zum Konzept
der instrumentellen Vernunft entworfenen Ansätze zu untersuchen (zu weiteren
Ansätzen vgl. Eagleton 1993; Žižek 1994). Die Hegemonietheorie bei Antonio
Gramsci und die Ideologietheorie im Kreis um Louis Althusser seien hier deshalb
hervorgehoben, weil sie dazu beitragen können, die Aporie kritischer Gesell-
schaftstheorie zu vermeiden. In der gegenwärtigen Theoriebildung spielen sie denn
auch eine herausragende Rolle. Beide Ansätze kritisieren die Konzeption von
Ideologie als falschem Bewusstsein und beinhalten die These von der Materialität
der Ideologie. Ist diese These etwa bei Karl Korsch in Marxismus und Philosophie
von 1923 bereits vorweggenommen, dort aber eher kryptisch formuliert, mehr
postuliert als ausgearbeitet (vgl. Korsch 1993, S. 348ff.), so wird sie bei Gramsci
und Althusser staatstheoretisch präzisiert.

3.1. Hegemonietheorie bei Gramsci


Der Begriff der Hegemonie bei Gramsci ist vor allem auf die strukturelle Bestim-
mung der besonderen Ideologien zu beziehen, ihre historisch veränderliche Ge-
stalt. In seinen Quaderni del carcere unternimmt Gramsci mehrfach den Versuch,
das Marxsche Basis-Überbau-Modell neu zu formulieren, und er löst es damit
tatsächlich auf. Zunächst unterscheidet er zwischen der ›società civile‹ und der
›società politica‹, zwischen den eher privat organisierten Institutionen der zivilen
Gesellschaft und den eher öffentlich organisierten Institutionen der politischen
Gesellschaft, also jenen im engeren Sinn am Staat als Repressionsapparat und
Gesetzesmaschinerie orientierten politischen Formen. Beide Begriffe sind insofern
wichtig, als sie es erlauben sollen, den Typus von Klassenherrschaft in den west-
lichen kapitalistischen Gesellschaften im Unterschied zu den Bedingungen in
Russland vor der Revolution von 1917 zu fassen. War in Russland die ›società
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 297

politica‹ das zentrale Element von Herrschaft, so bildete im Westen die ›società
civile‹ deren Grundlage (vgl. Anderson 1979, S. 34ff.).
Für Letztere kann Hegemonie nicht einfach politische Führung bedeuten, son-
dern meint einen politisch-ethischen und kulturellen Führungsanspruch der herr-
schenden Klasse. Er muss über den herrschaftssichernden Einsatz repressiver
Mittel wie über die Durchsetzung partikularer ökonomischer Interessen hinaus-
gehen, sodass konsensuelle Verknüpfungen innerhalb der ›società civile‹ zwischen
dem Herrschaftsprojekt und verschiedenen sozialen Klassen oder Klassenfraktio-
nen hergestellt werden können. Gelingt es ein solches Herrschaftsprojekt zu
stabilisieren und zu kontinuieren, dann spricht Gramsci von einem ›blocco storico‹,
einem historischen Block, in dem verschiedene soziale Klassenkräfte dauerhaft
zusammengefügt sind. Der historische Block repräsentiert die Einheit und Kohä-
renz von Basis und Überbau im Marxschen Sinn, von ökonomischen Bedingungen
und gesellschaftlichen Institutionen sowie den Zusammenschluss von ›società ci-
vile‹ und ›società politica,‹ den ›stato integrale‹ (zu Gramscis erweitertem Staats-
begriff vgl. Buci-Glucksmann 1981, S. 86ff.; Priester 1981, S. 32ff., 76ff.).
Im Rahmen dieser Hegemonie-Konzeption kommt Ideologie nach Gramsci eine
zementierende und vereinheitlichende Funktion zu, wenn unter dem Ideologiebe-
griff nicht ein mehr oder weniger rationales System von zu verwirklichenden Ideen
oder ein Komplex von Illusionen, sondern weiter eine »concezione del mondo«
(Gramsci 1975, S. 1380) verstanden wird. Obgleich Gramsci keine festgelegte
Terminologie entwickelt, lässt sich dennoch sagen, dass Ideologie in diesem umfas-
senden Sinn über eine Reihe von gesellschaftlichen Institutionen und durch die
Intellektuellen als Funktionäre ihrer Verbreitung die Verbindung von Philosophie,
Wissenschaft, Religion und Alltagsverstand, von Wissen, Glauben und Fühlen
organisiert. Die Übersetzung des Begriffs ›concezione del mondo‹, wie übrigens die
anderer Begriffe bei Gramsci auch, wirft in der deutschen Sprache gewisse Schwie-
rigkeiten auf, denn er ist weder mit ›Weltanschauung‹ noch auch mit ›Weltauf-
fassung‹ präzise wiedergegeben. Beide Wörter betonen den kontemplativen bzw.
rezeptiven Aspekt von Bewusstseinsformen, den Gramsci aber nicht meinen kann.
Bei ihm konstituiert die Konzeption der Welt als Ideologie vielmehr das praktische
Verhältnis der Menschen zu Natur und Gesellschaft; sie ist Weltaneignung in einem
eminenten Sinn. Daher manifestiert sie sich zugleich »in der Kunst, im Recht, in
der ökonomischen Aktivität, in allen individuellen und kollektiven Lebensäuße-
rungen« (Gramsci 1994, S. 1380; Gramsci 1983, S. 77). Wenn das Herrschafts-
projekt diese Art Ideologie einbegreift, dann verfügt es über die Konstruktion von
Wirklichkeit, über das, was Marx das wirkliche Leben genannt hat. Der ideo-
logische Kampf um die hegemoniale Strategie ist in Gramscis Augen nicht zuletzt
ein »Kampf um die Objektivität« (Gramsci 1994, S. 1412) und erst in der Durch-
setzung der Strategie ist der Zusammenhalt von Gesellschaft und damit auch der
Prozess der Vergesellschaftung bis hinein in die Lebensgewohnheiten ihrer Mit-
glieder überhaupt gewährleistet (vgl. Demirovič 1989).
298 Jost Müller

3.2. Ideologische Staatsapparate bei Althusser

Vor allem in dem fragmentarisch gebliebenen Text »Idéologie et appareils idéo-


logiques d’Etat« von 1969 entwickelt Althusser eine Konzeption, die funktionelle
und strukturelle Bestimmungen von Ideologie und besonderen Ideologien ver-
bindet, wobei die metaphorische Topik von Basis und Überbau als unzulänglich
verworfen ist (vgl. Althusser 1977, S. 113ff.). Althusser argumentiert vom Stand-
punkt der Reproduktion der Produktionsverhältnisse aus, und der genannte Text
ist nur Bestandteil bzw. Zusammenfassung eines umfangreicheren Manuskripts, das
erstmals 1995 posthum unter dem Titel Sur la reproduction erschienen ist (vgl.
Althusser 1995). In Anlehnung an Gramscis erweiterten Staatsbegriff wird Ideo-
logie innerhalb sogenannter ideologischer Staatsapparate verortet, die von Familie,
Schule und Universität über Kirchen, Gewerkschaften, Verbänden und politischen
Parteien bis hin zu den Massenmedien und dem Literatur-, Kunst- oder Sport-
betrieb reichen und die sich jeweils aus einem Ensemble von Institutionen zusam-
mensetzten (vgl. Althusser 1977, S. 119 f.).
Innerhalb dieser Apparate werden die Individuen als Subjekte angerufen, sodass
sie gewissen Ritualen folgen und bestimmte Praxisformen haben, durch die jene
Subjekte sich wechselseitig wiedererkennen sowie freiwillig und ganz von alleine
funktionieren. Althusser charakterisiert die Funktion der Ideologie durch die
Wirkung eines zentrierenden universalen Subjekts, je nach Region der Ideologie
etwa von Gesetz, Gott, Nation, Wissen oder ähnlichem, das die allgemeine Evidenz
behauptet. In diesem großen Subjekt erkennen sich die zentrierten einzelnen
Subjekte wieder, indem sie die empirische Evidenz ihrer eigenen Existenz wie ihrer
Identität behaupten (vgl. Pêcheux 1984). Dieser ideologische Mechanismus der
Anrufung soll die Funktionsweise jeder besonderen, regionalisierten Ideologie
illustrieren und damit verdeutlichen, dass in der Spiegelstruktur der Wieder-
erkennung zugleich die Subjekte ihre Unterwerfung anerkennen wie auch die
»absolute Garantie« ihrer Existenz erhalten (vgl. Althusser 1977, S. 148). Er schafft
die imaginäre Transparenz der Welt für die durch eine Ideologie angerufenen
Subjekte: Eingelassen in die ideologischen Staatsapparate vollziehen die Individuen
die Anerkennung der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhält-
nisse, dabei aber verkennen sie diese sozialen Verhältnisse zugleich als ihre realen
Existenzbedingungen. Sie leben die Ideologie, ihr imaginäres Verhältnis zu ihren
realen Existenzbedingungen, und verleugnen sie zugleich.
In der sich im Imaginären vollziehenden Wiedererkennung/Anerkennung/Ver-
kennung regeln die Ideologien nach Althusser das gesellschaftliche Zusammen-
leben, weshalb etwa Étienne Balibar darauf verweist, Althusser habe im Bruch mit
der Dialektik von Sein und Bewusstsein die formelle Bestimmung der Ideologie im
Unbewussten entdeckt (vgl. Balibar 1994, S. 66ff.; Althusser 1968,S. 183). Ideologie
ist wie Ökonomie und Politik bei Althusser definiert als eine »Instanz« (Althusser
1968, S. 182) der Produktionsweisen innerhalb des komplexen Ganzen einer jeden
historischen Gesellschaftsformation. Dabei gilt es die Ungleichzeitigkeiten und
Unstimmigkeiten wie das Zusammenwirken von Ökonomie, Politik und Ideologie,
die differenten Zeitmodi und funktionalen Effekte der Instanzen zu berück-
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 299

sichtigen. Diese sind in dem Modell der »strukturalen Kausalität« als »Vorhanden-
sein der Struktur in ihren Wirkungen« (Althusser/Balibar 1972, S. 254) gedacht,
d. h. als Präsenz in ihren Wirkungen bei Abwesenheit ihrer als Ursache. Nicht
Determination einer Struktur durch eine andere wie im Basis-Überbau-Modell,
sondern Überdetermination der Instanzen ist in diesem Sinn der Schlüsselbegriff
von Althussers Totalitätskonzeption. Unter dieser Voraussetzung steht bei Alt-
husser nicht die Analyse einer bestimmten Struktur der Ideologie im Mittelpunkt
des Interesses, sondern die Analyse ideologischer Effekte.

4. Postmoderne als ideologische Konjunktur

Der ideologietheoretische Streit um die Postmoderne geht letztlich darum, ob die


Entdifferenzierung von Kultur als der Effekt eines ideologischen Postmodernismus
oder nicht vielmehr im Sinn von Lukács, allerdings auf globaler und nicht mehr auf
nationaler Ebene, als Resultat eines »Durchkapitalisierungsprozesses der ganzen
Gesellschaft« (Lukács 1968, S. 268) anzusehen sei. Die Postmoderne, darauf machte
Fredric Jameson schon 1984 in »Postmodernism, or The Cultural Logic of Late
Capitalism« aufmerksam, bedeutet eine »ungeheure Expansion der Kultur in alle
Lebensbereiche« (Jameson 1986, S. 93). Der Auflösung der Kultur als autonomer
Sphäre, wie sie früher schon in Kritischer Theorie (vgl. Marcuse 1984b) und
Cultural Studies (vgl. Williams 1972) diagnostiziert war, korrespondiert die entdif-
ferenzierende Ausweitung des Kulturbegriffs, der eines der zentralen ideologischen
Motive der Identifikation des Bürgertums bezeichnete (vgl. Müller 1995). Das
Spezifikum des Postmodernismus scheint dabei zu sein, dass die Differenzen
zwischen Tiefenstruktur und Oberfläche, Bild und Realität, Kopie und Original,
Teil und Totalität, Signifikat und Signifikant, letztlich zwischen Wahrheit und
Politik (vgl. Grossberg 2000, S. 156) nicht mehr nur in Frage gestellt, sondern
nivelliert sind, mehr noch, eskamotiert werden. Unter der Bezeichnung ›Kultur‹
firmiert heute alles, kapitalistische Verwertung ebenso wie die Staatsgewalt der
Metropolen, wie auch noch jede kollektive oder individuelle Handlungsweise.

4.1. Kulturelle Verdinglichungen und Postmodernismus


Jamesons Analyse des Postmodernismus kann für die Wiederaufnahme des Ver-
dinglichungstheorems stehen. Sie ist insofern symptomatisch für die kritische
Gesellschaftstheorie, als sie im Laufe der 80er Jahre von der Analyse des Spät-
kapitalismus im Sinn der Kritischen Theorie übergeht zur Analyse der Post-
moderne als einer neuen Phase kapitalistischer Entwicklung, als neuer Form der
kapitalistischen Produktionsweise, die durch die Globalisierung der Kapitalverwer-
tung und die informationstechnologische Revolution gekennzeichnet wird (vgl.
Jameson 1991, S. 297ff.). Die Modifikation, die Jameson vor diesem Hintergrund
am Verdinglichungstheorem vornimmt, besteht im Bruch mit dem subsumtions-
logischen Status der Kommodifizierung von Kulturgütern. Kulturelle Verdingli-
300 Jost Müller

chung fußt nach Jameson auf der sich immer wieder herstellenden, sogar ver-
steifenden Trennung von Produktion und Konsumtion, die eine hochkulturelle
Monumentalisierung ästhetischer Werke bewirke und einen populistischen Anti-
intellektualismus befördere (vgl. Jameson 1991, S. 315ff.).
Horkheimer und Adorno gingen davon aus, dass die kulturellen Praktiken in
der Massenkultur industrialisiert sind, dass sich die Organisation von Fabrik und
Büro einerseits und der von Freizeit und Kultur andererseits angleiche, kurz:
»Amusement ist die Verlängerung der Arbeit unterm Spätkapitalismus« (Hork-
heimer/Adorno 1987, S. 162). Kulturelle Verdinglichung in der Postmoderne je-
doch vollzieht sich nicht mehr in erster Linie dadurch, dass kulturelle Produkte zur
Ware werden oder im Bereich der Kulturmedien wie Illustrierte, Film, Rundfunk
oder Fernsehen als Waren produziert werden, sondern indem kulturelle Praktiken
selbst zunehmend bestimmend im informationstechnologisch gestützten Produk-
tionsprozess und nicht zuletzt im Medium Internet wirksam sind. Auf diese
Veränderung im Verhältnis von Warenproduktion und Kultur bezieht sich schließ-
lich auch der Begriff der »immateriellen Arbeit« bei Michael Hardt und Antonio
Negri (vgl. Hardt/Negri 2001, S. 300 ff.). Mit Rücksicht auf deren »Soziologie der
immateriellen Arbeit« in Empire muss die Kulturindustriethese der Kritischen
Theorie als veraltet angesehen oder doch zumindest erheblich modifiziert werden.
Unter der Dominanz des postmodernen Kapitalismus sind die Massen immer
weniger in einem industriellen Aggregat zusammengefasst, sondern die Postmo-
derne formiert die vereinzelten Individuen, indem sie als Subjekte auffordert, ihre
Kreativität, ihr Wissen und ihre Affekte dem neuen vernetzten, horizontal in-
tegrierten Produktions- und Distributionsprozess zur Verfügung zu stellen. In
dieser Hinsicht kehrt sich das Verhältnis um: die immaterielle Arbeit erscheint nun
als Verlängerung des Amusements, einer kulturellen Aktivität allerdings, die selbst
auf der Grundlage ihrer Industrialisierung im Spätkapitalismus funktioniert. Wenn
man so will, entspricht dies einer zweiten Stufe der Vergesellschaftung, auf der die
kulturindustriell fabrizierte stilistische, habituelle und affektive Besonderheit des
Selbst, wie sie sich im Starkult, in der biographischen Literatur oder im Schema
charismatischen Managements darstellt, also alles das, was Horkheimer und
Adorno als »Pseudoindividualität« (Horkheimer/Adorno 1987, S. 181) bezeichnet
haben, in die Produktion von Waren re-investiert wird.
Im Anschluss an diese Thesen zur Postmodernisierung wäre nicht mehr von
Verdinglichung im Singular zu sprechen, sondern von den verschiedenen Logiken
der Verdinglichungen: der institutionellen Verdinglichung der sozialen Bewegun-
gen zum Bestandteil des herrschenden Pluralismus im politischen Bereich etwa und
der technologischen Verdinglichung der Sprache in ihrer Computer gestützten
Kodifizierung, der kommunikativen Verdinglichung von Kreativität nach Maßgabe
ökonomischer Effektivität und Rentabilität, der psychischen Verdinglichung der
Subjekte in der affektiven Selbstkontrolle im Alltag etc. Der Postmodernismus ist
im Sinn der ideologischen Hegemonie bei Gramsci jene Konzeption von Welt, in
der diese unterschiedlichen Logiken eben nicht homologisiert, sondern bei Auf-
rechterhaltung ihrer Unterschiede artikuliert werden. Der Terminus ›Kultur‹ selbst
steht für diese Artikulation; er oszilliert zwischen Relativismus oder Holismus,
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 301

zwischen lokalem Partikularismus oder universellem Globalismus und suggeriert


damit eine schier grenzenlose Fähigkeit zur Variabilität, eine schwindelerregende
Potenzialität an Rezeptions-, Absorptions- und Differenzierungsvermögen inner-
halb der bestehenden Gesellschaft. Dieses Oszillieren mag aber auch erklären,
weshalb bei aller Rhetorik der Differenz Probleme von individueller und kollekti-
ver Identitätsbildung, von Subjektivation und Identifikation in der Postmoderne
eine so herausragende Rolle spielen (vgl. Zima 2000).

4.2. Postmoderne Kämpfe um Identität in den Cultural Studies


Im Rahmen der neueren Cultural Studies wird denn auch die These von der
Entdifferenzierung der Kultur als ideologischer Postmodernismus verworfen. Stu-
art Hall etwa greift das Oszillieren zwischen Vereinheitlichung und Differen-
zierung auf, um innerhalb dieser Bewegung die Positionen von Opposition und
Widerstand zu markieren. Hall folgt dem Muster, nach dem sich die neuen sozialen
Bewegungen, insbesondere die neue Frauenbewegung, als Opposition gegen spät-
kapitalistische Formen der Vergesellschaftung konstituiert hatten. Er geht davon
aus, dass gegen die globalisierte Postmoderne, vor allem gegen die globale Massen-
kultur und ihre homogenisierenden Tendenzen, immer wieder neue Subjekte des
Widerstands aufkommen, die durch spezifische kulturelle Identitäten charakte-
risiert sind. Diese Identitäten verweisen nach Hall aber nicht auf einen gemein-
samen Ursprung oder auf ein ihnen zugrunde liegendes einheitliches Wesen. Im
Blick auf die Geschichte von Kolonisation und Migration sind sie vielmehr – nach
dem Modell der Diaspora – an einen gemeinsamen gegenwärtigen Ort gebunden,
an dem sich unterschiedliche Geschichten, Kulturen und diskursive Ordnungen
kreuzen und so neue symbolische und materielle Kombinationen der Identität
derer entstehen lassen, die es dorthin verschlagen hat. Hall bezeichnet diese Kom-
binationen als »Kulturen der Hybridität« (Hall 1994, S. 218).
Nach einer paradoxen Formulierung handelt es sich um dezentrierte, zerstreute
und fragmentierte Identitäten, die durch die soziale und politische »Positionie-
rung« der Marginalisierten hervorgerufen sind und mehr die »instabilen Identifika-
tionspunkte« einer widerständischen Gegengeschichte als ein neues historisches
Subjekt abgeben (vgl. Hall 1994, S. 30, 180). Was Hall hier beschreibt, ist aber viel
allgemeiner als Form postmoderner Subjektivation zu benennen. Und diese Beob-
achtung spricht nicht dafür, dass die identitären Konzeptionen von Kultur histo-
risch überwunden sind. Die Parallele zur Frauenbewegung, aber letztlich auch zur
traditionellen Arbeiterbewegung, wird vor allem da deutlich, wo Hall eine neue
Geschichtsschreibung fordert, die dem Umstand gerecht werden soll, dass im 20.
Jahrhundert die »tiefste kulturelle Revolution durch den Einzug der Marginali-
sierten in die Repräsentation ausgelöst wurde – in der Kunst, der Malerei, der
Literatur, überall in den modernen Künsten, in der Politik und im sozialen Leben
im allgemeinen« (Hall 1994, S. 59). Zweifellos ist in dieser Perspektive das Subjekt
der Geschichte restituiert; mithin eine der grundlegenden Aporien von »Identitäts-
politik« (Hall 1994, S. 30) reformuliert, man denke etwa an die Debatten um eine
proletarische Kultur, eine weibliche Ästhetik und dergleichen mehr.
302 Jost Müller

In der Kontroverse um die »Identitätspolitik« innerhalb der Cultural Studies hat


Lawrence Grossberg den entscheidenden Einspruch gegen die »gegenwärtige Feier
fragmentierter, hybrider Subjekte« (Grossberg 2000, S. 190) vorgetragen. Für
Grossberg ist Identitätspolitik die falsche Antwort auf die Frage nach dem Verlust
der politischen Handlungsfähigkeit oppositioneller Kräfte unter den Bedingungen
der Postmoderne. Grossberg radikalisiert in gewisser Hinsicht das Konzept der
Örtlichkeit von Identitäten bei Hall, oder genauer gesagt, er stellt es in den
Rahmen der 1980 von Gilles Deleuze und Félix Guattari in Mille plateaux (Tau-
send Plateaus, 1992) entwickelten Theorie der minoritären Kämpfe. Er schlägt eine
Strategie der »Organisation von Plätzen und Räumen« vor und begreift sie als
Intervention in den »Kampf um das affektive Leben« (Grossberg 2000, S. 191, 218).
Ausgehend von dieser Bestimmung plädiert er für eine neue Orientierung auf das
Alltagsleben, auf die Konstruktion von alltäglichen Räumen, in denen, um wie-
derum eine paradoxe Formulierung aufzugreifen, Zugehörigkeit oder Gemein-
schaft ohne Identität gelebt werden könne (vgl. Grossberg 2000, S. 225 f.). Identi-
tätspolitik reproduziere dagegen das Muster der ideologischen Kämpfe, das in den
1980er Jahren durch die konservative Strategie der »Repolitisierung und Reideolo-
gisierung all der sozialen Verhältnisse und kulturellen Praktiken des Alltagslebens«,
bei gleichzeitiger Depolitisierung der Wünsche und Forderungen der Beherrschten
und Marginalisierten, wirksam zerbrochen wurde. Die konservative Hegemonie
bestand nach Grossbergs Analyse vor allem darin, dass es den Konservativen
gelang, eine »affektive Struktur« herzustellen und sie als organisierte Form von
Apathie, Pessimismus und Zynismus zu etablieren (Grossberg 2000, S. 179, 192).

4.3. Zynismus als Form und Funktion des Ideologischen


Auf das Problem des Zynismus als Moment der Identitätsbildung in der Post-
moderne ist auch aus anderer theoretischer Perspektive immer wieder hingewiesen
worden. Schon im Februar 1982 anlässlich des vom »Projekt Ideologietheorie«
organisierten International Seminar on Problems of Research on Ideology an der
Freien Universität Berlin hat der marxistische Diskursanalytiker Michel Pêcheux,
der dem Kreis um Althusser angehörte, auf das »grausame Spiel« von Neolibe-
ralismus und Neokonservatismus mit dem Thema der Freiheit als ideologische
Transformation in der Postmoderne hingewiesen. Der postmoderne Kapitalismus,
so seine These, »befreie« die Individuen von den über Generationen hervor-
gebrachten Lebensbedingungen, bringe sie von ihren Sicherheiten und ihren Ver-
teidigungsmöglichkeiten ab, indem er – ohne historisches Gedächtnis – ihr Dasein
»auf seine augenblicklichen bio-psychologischen Grundlagen« reduziere. Die ideo-
logischen Artikulationen der neoliberalen Ablehnung von Sozialstaatlichkeit und
der neokonservativen »,Überwindung der politischen Illusionen’ in Richtung auf
eine zynisch biologische ›Wahrheit‹ der Geschichte« produziere eine permanente
Pendelbewegung zwischen den Affekten des Hasses auf den Staat und der Liebe zu
ihm, zwischen der libertären populistischen Staatsverwerfung – dem berüchtigten
Thema vermeintlicher Politik- und Staatsverdrossenheit der Mehrheit – und dem
autoritären Etatismus als Garantiemacht der eigenen bio-psychologischen Existenz
(vgl. Pêcheux 1983, S. 384).
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 303

Der konservativ-liberale Zynismus bedeutet demnach nicht nur eine grund-


legende Entsolidarisierung, er führt nicht zum Manchester-Kapitalismus zurück,
sondern er propagiert eine Entsozialisierung von Gesellschaft zugunsten autori-
tärer, staatlich organisierter Vergemeinschaftung. Der postmoderne globalisierte
Kapitalismus ist von der Verbreitung der Nationalismen, Rassismen und Ethnizis-
men begleitet, deren Zusammenwirken Balibar im Begriff »fiktiver Ethnizität« zu
bestimmen sucht, indem er sie als »ideologische Infrastruktur« jener Praxisformen
charakterisiert, die »für jedes Individuum tagtäglich dessen Abhängigkeit im Ver-
hältnis zu anderen Individuen und zu den ›materiellen Existenzbedingungen‹
begründen« (Balibar 1993, S. 130 f.).
Der Zynismus lässt sich auch in den Wirkungen der philosophischen Diskurse
zeigen. So hat etwa Jean-François Lyotard 1979 in La condition postmoderne (Das
postmoderne Wissen, 1986) den Niedergang der »großen Erzählung«, der verein-
heitlichenden und legitimierenden Macht von philosophischer Spekulation und
aufklärerischer Emanzipation diagnostiziert (vgl. Lyotard 1986, S. 112 f.) und war
bereits unwillkürlich an der Konstruktion einer anderen großen Erzählung be-
teiligt, die das zynische Spiel von Neokonservatismus und Neoliberalismus mehr
verklärt als verdeutlicht hat. Die Themen dieser Narration sind bekannt; sie setzen
sich aus Versatzstücken vergangener ideologischer Kämpfe zusammen: aus dem
konservativen Thema des Posthistoire, dem liberalen Thema vom Ende der Ideo-
logien und dem frühsozialistischen Thema der Selbstverwirklichung. Die aktuali-
sierende Verknüpfung dieser Themen hatte unter den Bedingungen ökonomischer
Prosperität und informationstechnologischer Revolution in den 1980er Jahren
einen besonderen ideologischen Effekt, der sich in Anlehnung an Slavoj Žižek als
soziale Verallgemeinerung von Zynismus bezeichnen lässt (vgl. Žižek 1989,
S. 28 ff.).
Die postmoderne Kultur präsentiert ein nüchternes, gegenüber doktrinären
Versuchungen und Sehnsüchten resistentes Subjekt, das sogar noch der eigenen
Selbstvergewisserung ledig sein soll, ein Subjekt also ohne Illusionen oder besser
ein mit allen Wassern der Desillusionierung gewaschenes Subjekt, das sich als nicht
ideologisches Wesen par excellence darstellt. Lyotard hat diesen Ausgang der
Postmoderne in der Produktion zynischer Subjektivität bereits benannt. In Le
Différend von 1983 (Der Widerstreit, 1987) nimmt er die These von der »In-
kommensurabilität zwischen Wirklichkeiten und Ideen« auf und stellt, vergleichbar
der Diagnose vom Zerfall der Ideologien in der Kritischen Theorie, einen Zerfall
der Kultur unter dem ökonomischen Zeitregime des Kapitals fest. Die Heraus-
bildung eines »ideellen Vermögens«, sich um jenes Inkommensurable zu beküm-
mern, es auch nur zu denken, geschweige es als intellektuelle Herausforderung
aufzufassen, gehe zunehmend verloren. Kultur, so seine These, werde zum bloßen
»Umschlag von Informationen« (Lyotard 1989, S. 298), der diesem kapitalistischen
Zeitregime gehorche. Dieser Prozess ist in den Augen Lyotards historisch irrever-
sibel.
Der Widerstand gegen die Vorherrschaft des Kapitals, der sich – wie nicht selten
etwa im Prozess der Dekolonisation – auf eine traditionsgebundene, gar mythische
Legitimation berufe, falle hinter die kantische Idee einer weltbürgerlichen Ge-
304 Jost Müller

schichte zurück: »Die voller Stolz geführten Unabhängigkeitskämpfe münden in


junge reaktionäre Staaten« (Lyotard 1989, S. 299). Doch auch auf den kantischen
unendlichen Progress zur Freiheit mag Lyotard sich nicht verlassen. Die Freiheit
als regulative Idee ist durch den reformistischen Evolutionismus diskreditiert:
»Prinzipiell kann der Reformismus niemanden zufrieden stellen« (Lyotard 1989,
S. 297). Ist deshalb jeder Kampf um Unabhängigkeit vergeblich? Hätte es nicht
doch andere Ausgänge, andere Möglichkeiten in diesen Kämpfen gegeben? Lyotard
verkürzt den historischen Prozess der sozialen Kämpfe auf sein Resultat, auf die
Niederlage, und hypostasiert sie zur absoluten Regel. Was Lyotard selbst schließ-
lich vor der Konsequenz des Zynismus rettet, ist seine messianische Idee vom
»Vorkommnis«, das keiner Geschichtsnarration einzugliedern sei und dem öko-
nomischen Zeitregime widerstreite. Von diesem »Vorkommnis« gelte es Zeugnis
abzulegen (vgl. Lyotard 1989, S. 299).

5. Subjektivation und Identifikation

In seiner an der Theorie von Jacques Lacan orientierten psychoanalytischen Re-


konstruktion der Ideologietheorie hat Žižek auf die »pathologische, paranoide
Konstruktion« (Žižek 1989, S. 48) im herrschenden Zynismus hingewiesen. Unter
expliziter Berufung auf die Analysen des Antisemitismus in der Kritischen Theorie
hält auch Žižek in The Sublime Object of Ideology von 1989 fest, dass dem
Zynismus mit den Mitteln der traditionellen Ideologiekritik nicht beizukommen
sei. Auf theoretischer Ebene jedoch versteht Žižek die eigene psychoanalytische
Ideologietheorie als Replik auf Althussers Ansatz der Subjektivation durch Identi-
fikation. Auf vergleichbare Weise hat Judith Butler, angelehnt an die Machtanalytik
bei Michel Foucault, in The Psychic Life of Power. Theories in Subjection von 1997
(Psyche der Macht. Das Subjekt der Unterwerfung, 2001) Althussers Ideologie-
theorie aufgenommen. Verweisen damit beide Ansätze auf die Aktualität von
Althussers Thesen über Ideologie und ideologischer Anrufung, so besteht der
Unterschied vor allem darin, dass Žižek auf die psychische, Butler dagegen auf die
ethische Konstitution von Subjektivität rekurriert.

5.1. Das psychische Subjekt nach Žižek


Das Problem der Verkennung der realen Existenzbedingungen, wie es seit Marx
formuliert werde, verfehlt nach Žižek das entscheidende Moment zynischer Sub-
jektivation. Der Marxsche Begriff des Fetischismus sei daher durch den bei Sig-
mund Freud zu ersetzen (vgl. Žižek 1989, S. 49). Das zynische Subjekt produziere
negierende Verschiebungen, die seine eigene Konstitution um einen spezifischen
Mangel, um die Unmöglichkeit, die eigenen Wünsche, das eigene Begehren zu
realisieren, verhüllen sollen. Es kennt den Unterschied zwischen der partikularen
Freiheit des Privateigentums und dem universellen Freiheitspostulat der histori-
schen Aufklärung. Der ideologiekritische Nachweis, dass Letzteres auf Ersterem
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 305

beruhe, wird es also kaum erschüttern, weil es das universelle Freiheitspostulat als
das probate Mittel zur Realisierung der partikularen Freiheit annimmt, das Recht
als den sauberen Weg zur Aufrechterhaltung von Ungerechtigkeit anerkennt, die
Wahrheit als die effektivere Form von Lüge ansieht, die Moral als die höhere Form
von Lasterhaftigkeit und Verworfenheit schätzt (vgl. Žižek 1989, S. 29 f.). Das
zynische Subjekt selbst vollzieht eine Distanzierung von ideologischer Maskerade
und Realität.
Nach Žižek ist die zynische Haltung nur wirksam außer Kraft zu setzen, wenn
die Ideologietheorie die paranoide Konstruktion des Zynismus im Subjekt selbst
offen legt. Die Funktion von Ideologie könne nicht länger, und so deutet er die
Marxsche Metaphorik der Mystifikation und der Phantasmagorie wie auch Alt-
hussers Theorie der ideologischen Staatsapparate und der Anrufung, als ein Ange-
bot zur Flucht vor der sozialen Realität aufgefasst werden. Sie müsse vielmehr
darin gesehen werden, eine Realität sozialer Beziehungen zur Verfügung zu stellen,
die der Flucht vor den traumatischen Konsequenzen der sozialer Realität dient
(vgl. Žižek 1989, S. 45). Das zynische Subjekt als allwissender Realist ist durch
alltägliche Erfahrungen ebenso wenig zu widerlegen wie durch rationale Argu-
mentation. Im Zynismus verwirklicht sich das postmoderne Subjekt selbst, indem
es sich in einer post-ideologischen Welt imaginiert. Jeden Appell an soziale Solida-
rität kontert der neokonservative Zyniker mit dem Verdacht, er diene nur dazu eine
neue Elite zu etablieren. Er unterstellt seinen Gegnern immer nur den eigenen
Zynismus; er sieht in einer alternativen Handlungsweise immer nur die camouf-
lierte Logik des eigenen Verhaltens am Werk.
Die postmoderne Subjektivität ist der Reflex auf das Wissen, dass die eigene
Identität, wie es bei Žižek 1999 in The Ticklish Subject. The Absent Centre of
Political Ontology (Die Tücke des Subjekts, 2001) heißt, von den identifizierenden
Praktiken innerhalb einer Machtstruktur abhängt, von einer »Reihe digitalisierter
informatorischer Akte« im Gesundheits- und Ausbildungssystem, in den Sozial-
und Finanzverwaltungen sowie den Polizeibehörden, von einer staatlichen An-
sammlung von Daten also, auf die das Subjekt keinen Zugriff mehr hat, die es aber
entscheidend affizieren. Hierin sieht Žižek den »spezifisch protoparanoiden Mo-
dus der Subjektivierung« (Žižek 2001, S. 355 f.) begründet, der die Postmodernisie-
rung kennzeichnet.
Mit Althusser begreift Žižek Ideologiekritik als Kritik der Praxisformen und
Rituale, doch distanziert er sich von dessen Konzept der durch die ideologischen
Staatsapparate determinierten Subjektivation. Unter Verweis auf die Figurenkon-
struktion in den Romanfragmenten Das Schloss und Der Process von Franz Kafka
insistiert er auf einem den Prozeduren der sozialen Subjektivation vorausgehenden
psychischen Subjekt. Sicherlich bewegen sich die Figuren in Kafkas Erzählungen
an der Grenze, wo Machtapparate und Phantasmagorien aneinander stoßen. In der
psychologischen Interpretation allerdings ist genau diese Spannung, die durch die
Naht der surrealen Erzähltechnik aufrechterhalten wird, zugunsten der Phantas-
men aufgelöst. Für Žižek entspricht das kafkaeske Subjekt dann auch dem Modus
einer »Anrufung ohne Identifikation/Subjektivation« (Žižek 1989, S. 44). Denn ein
solches Subjekt verstehe die Anrufungen der mysteriösen Bürokratien, bei Kafka
306 Jost Müller

eben des Herrschaftsapparats im Schloss oder des Justizapparates, überhaupt nicht


mehr; darin wiederum ähnelt es dem postmodernen Subjekt des Cyberspace und
seinem paranoiden Zynismus der Affektpanzerung (vgl. Žižek 2001, S. 356).

5.2. Das ethische Subjekt nach Butler


Butler unterstellt im Unterschied zu Žižek, Althussers Ideologietheorie beinhalte
eine »unausgesprochene Lehre vom Gewissen« (Butler 2001, S. 103), und sucht
dann die Auffassung zu stützen, Anrufung bei Althusser beziehe sich in erster
Linie auf die Konstitution eines moralischen Subjekts. Ausgestattet mit einem
vorgängigen Schuldgefühl und einem Gewissen als »Möglichkeitsbedingung der
Subjektbildung« (Butler 2001, S. 108) unterwerfe sich das Individuum den Pro-
zeduren der Subjektivation, um sich von Schuld zu entlasten. Für Butler ist die
»Reproduktion gesellschaftlicher Beziehungen« vor allem »Reproduktion der Sub-
jektivation«, wie sie durch Sprache und Gewissensbildung stattfinde (vgl. Butler
2001, S. 111), nicht aber Reproduktion der kapitalistischen Produktionsverhält-
nisse. Sie spaltet die staats- und gesellschaftstheoretischen Aussagen von Althussers
Ideologiebegriff ab und ersetzt sie durch die eigene Theorie der sprachlichen
Performativität, nicht zuletzt der diskursiven Produktion von Geschlechteriden-
titäten (vgl. Butler 1995).
Um dies zu bewerkstelligen, hebt Butler in ihrer feministischen Relektüre von
Althussers Text einen bestimmten Nebensatz hervor und richtet so den Ansatz
gesellschaftlicher Reproduktion neu aus. Der Nebensatz lautet im französischen
Text: »pour s’acquitter consciencieusement de leur tâche« (Althusser 1995, S. 274),
also auf Deutsch: entweder »um sich der ihnen gestellten Aufgabe gewissenhaft zu
entledigen« oder »um die ihnen gestellte Aufgabe gewissenhaft zu erledigen«. Der
Kontext dieses Nebensatzes ist im weiteren Sinn die Reproduktion der Arbeits-
kraft, nämlich die physische Reproduktion oder das Lohnverhältnis, dann die
Reproduktion der technischen Qualifikation, d. h. der speziellen berufsmäßigen
Ausbildung zu bestimmten technischen Fertigkeiten, so dann die Reproduktion
der Fähigkeiten in ihren ideologischen Dimensionen, die Einübung in die »Regeln
der Moral« und des »staatsbürgerlichen und beruflichen Bewusstseins« (Althusser
1977, S. 112).
Der engere Kontext des zitierten Nebensatzes aber bezieht sich auf die Schule
als Ort der Vermittlung von Fertigkeiten und Fähigkeiten, die in Formen stattfinde,
in der zugleich die »Unterwerfung unter die herrschende Ideologie«, also die
Beherrschung der Praxis dieser Ideologie sicher gestellt ist. Das Resultat der
schulischen Ausbildung ist demnach das alle Individuen als Träger gesellschaft-
licher Funktionen, seien es unmittelbare Produzenten oder Kapitaleigner, Berufs-
ideologen oder Funktionäre des staatlichen Repressionsapparats, von der herr-
schenden Ideologie durchdrungen sein müssen, »um sich der ihnen gestellten
Aufgabe gewissenhaft zu entledigen«. Hier geht es also keineswegs, wie Butler
meint, um protestantische Entledigung von Schuld »als Zurschaustellen oder Be-
weis der Schuldlosigkeit« (Butler 2001, S. 111) durch Arbeit, sondern um den
sinnvollen Einsatz der eigenen Arbeitskraft. Für die Individuen geht es darum, »die
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 307

ihnen gestellte Aufgabe gewissenhaft zu erledigen«, wobei die Sinnhaltigkeit des


jeweiligen Tuns durch die auszuführenden Praxisformen als Formen der herr-
schenden Ideologie bestimmt ist.
Für Butler ist das Gewissen die vorsubjektive Instanz, an die sich die Anrufung
richtet; für Althusser ist das Gewissen ein alltagsideologisches Moment, an das die
Schule und andere ideologische Staatsapparate anknüpfen. Dies ist auch da deut-
lich, wo Althusser auf die dominante Rolle der Schule als ideologischer Staats-
apparat im Kapitalismus zu sprechen kommt. Allein die Schule, verstanden als
Ausbildungssystem, so hebt Althusser im Unterschied zu anderen ideologischen
Staatsapparaten hervor, verfüge über die »obligatorische Zuhörerschaft der Ge-
samtheit der Kinder der kapitalistischen Gesellschaftsformation« und könne daher
die »kontrastierenden Tugenden« je nach Ausbildungsstufe vermitteln: »Beschei-
denheit, Resignation, Unterwerfung einerseits, Zynismus, Verachtung, Hochmut,
Sicherheit, Größe, ja Schönrederei und Geschicklichkeit«, also durchaus ein-
schließlich der Geschlechteridentitäten. Es gehört zu den konstitutiven Bedingun-
gen von Schule, dass sie als ideologisch »neutrales Milieu« erscheint, in dem die
Lehrerschaft das »Gewissen« und die »Freiheit« der ihnen Anvertrauten achtet und
ihrerseits die ihr gestellte Aufgabe, die Kinder »zur Freiheit, zur Moralität und zur
Verantwortlichkeit von Erwachsenen« hinzuführen, »mit äußerster Gewissenhaf-
tigkeit« erledigt (Althusser 1977, S. 129). In diesem Kontext wird klar, da das Kind
in seiner »Freiheit« und in seinem »Gewissen« anzuerkennen ist, dass das »Ge-
wissen«, das die pädagogische Arbeit traktiert, die Konstitution eines moralischen
Subjekts bereits voraussetzt. Wenn die Eltern die ihnen gestellte Aufgabe ebenfalls
gewissenhaft erledigen, dann kann die Reproduktion der gesellschaftlichen Ver-
hältnisse reibungslos funktionieren, so könnte man meinen und genau so stellt es
die pädagogische Ideologie dar.

5.3. Entidentifizierung und Ideologiekritik


Butlers Interesse am Scheitern der Anrufung nähert sich dem entscheidenden
ideologietheoretischen Problem der diskursiven Reproduktion/Transformation
von Anrufungen in der dem Ansatz bei Žižek entgegengesetzten Richtung. Wenn
sie das Gewissen als überschüssiges Moment der Subjektivation ansieht, bewegt
sich ihre Argumentation ganz im Horizont der Moralphilosophie, während Žižek
im Horizont der Psychologie verbleibt. Butlers Ansatz steuert auf eine neue Ethik
zu, auf eine »Neuverortung von Gewissen und Anrufung« (Butler 2001, S. 123), in
der sich das Subjekt der Identifikation mit der herrschenden Moral und allen
diskursiven Modifikationen von eindeutiger Subjektivation entzieht. Žižek dagegen
scheint davon auszugehen, dass sich weder das gewissenhafte noch das zynische
Subjekt, das seine Wünsche, sein Begehren der Flucht in die Realität preisgibt, auf
Dauer wird halten können. Althusser selbst spricht, um das Scheitern der Anru-
fung anzudeuten, in seinem Text von der »manchmal knarrenden ›Harmonie‹«
(Althusser 1977, S. 124) zwischen dem repressiven Staatsapparat und den ideo-
logischen Staatsapparaten sowie von den »schlechten Subjekten« (Althusser 1977,
S. 148), die das Eingreifen der repressiven Abteilungen des Staats provozierten.
308 Jost Müller

In diskursanalytischer Erweiterung des ideologietheoretischen Ansatzes von


Althusser hatte bereits Pêcheux einen anderen Weg eingeschlagen, um das Scheitern
der Anrufung neu zu fassen. Er fügte den beiden symmetrischen Modi der Identi-
fikation ›guter Subjekte‹ und der Gegenidentifikation ›schlechter Subjekte‹ einen
dritten hinzu und prägte hierfür den Begriff der »Entidentifizierung« (Pêcheux
1984a, S. 64). Entidentifizierung bedeutet nicht Entsubjektivierung. Gemeint sind
vielmehr die zahlreichen Fehlleistungen innerhalb eines ideologischen Systems als
eines Systems von »verschiedenen Modalitäten der Materialität« (Althusser 1977,
S. 139), die Sprünge und Brüche in den Ritualen, die zu Stockungen in den
Handlungen der Subjekte führen. Die so in den Blick genommenen ideologischen
Brüche liegen nicht in der Unterscheidung von Ideologischem und Nicht-Ideo-
logischem oder von Ideologien und »protoideologischem Material« (Haug 1993,
S. 51) begründet. Für Pêcheux handelt es sich bei der Entidentifizierung um einen
genuin ideologischen Effekt, um einen Effekt, der anzeigt, dass das bei Althusser
angedeutete gewaltvolle Drama von Identifikation und Gegenidentifikation nicht
hinreicht, um ideologische Transformationsprozesse zu bestimmen. Denn das ideo-
logische Material besitzt keine vorgegebene Eindeutigkeit, sondern ist selbst in den
»Kampf um den Sinn der Wörter, Ausdrücke und Äußerungen« (Pêcheux 1988;
S. 12) einbezogen. Dieser Kampf verschiebt permanent das Terrain der ideo-
logischen Anrufungen, sodass die unterschiedlichen regionalen oder besonderen
Ideologien immer wieder neu diskursiv gegeneinander gestellt oder zusammenge-
fügt und hierarchisiert werden. Ideologie ist nach diesem Verständnis nicht einfach
eine die Handlungen und das Bewusstsein der Subjekte regulierende Befestigung
von Herrschaft, sondern ein »paradoxer Raum«, in dem sich sinnvolles Tun und
Subjektivation, Herrschaft und Widerstand gegen sie stets neu lokalisieren und
diskursiv formieren (Pêcheux 1983, S. 385).
Der Hinweis auf die diskursive Omnipräsenz von Ideologie, wie sie sich jeweils
sozial konfliktär und umkämpft an der Konstitution von Objektivität und Sub-
jektivität zeigt, ermöglicht es die positive – wie bei Lukács – und auch die negative
– wie in der Kritischen Theorie – Fixierung auf ein historisches Subjekt tatsächlich
aufzugeben. Da es den Standpunkt absoluter Transparenz der historisch-gesell-
schaftlichen Wirklichkeit für die Akteure in dieser Wirklichkeit niemals geben
kann, ist die ideologische Dimension von Vergesellschaftung weder das beherr-
schende Moment nur einer einzigen sozialen Logik, etwa der Verdinglichung, das
anhand von Homologien durchschaubar gemacht werden könnte, noch ein allen
besonderen Dingen und speziellen Sozialverhältnissen äußerlicher Prozess, der sie
assimilierte und dadurch ähnlich machte. Kritik der Ideologien bedeutet vielmehr
eine Strategie zu erfinden, die so an die Effekte der Entidentifizierung anknüpft,
dass sie einen Prozess der ideologischen Entregionalisierung initiiert, um mit der
ideologischen Hegemonie zu brechen, die vor allem darin besteht, den verschie-
denen sozialen Praktiken und Aussagen einen bestimmten Ort zuzuweisen, sie in
bestimmte Regionen zu gliedern und so unterzuordnen (vgl. Pêcheux 1984b,
S. 65 f.). Mit Pêcheux kann diese Praxis der Entregionalisierung heißen, gegen den
herrschenden Zynismus im postmodernen Kapitalismus die Anrufung »Zu rebel-
lieren und zu denken wagen« vernehmbar zu machen, damit also weder einer
Theorie und Kritik der Ideologie. Vom Spätkapitalismus zur Postmoderne 309

vorgängigen Standpunktlogik zu verfallen, noch sich einer mehr oder weniger


fixierbaren Identität auszuliefern.
Wenn Žižek gegen die zynische Anrufung »Du darfst!« wie gegen dessen
Pendant, das moralische Verbot, nur Lacans Parole »Lass nicht von deinem Begeh-
ren ab!« (Žižek 2001, S. 548) ausgibt und Butler gegen fixierte Geschlechter-
identitäten allein für einen ethisch begründeten Verzicht auf kohärente Identitäts-
positionen (vgl. Butler 2001, S. 140) plädiert, dann kann mit Pêcheux darüber
hinaus eine bewegliche antihegemoniale Ideologiekritik der Politik ins Auge gefasst
werden, die all jene politischen Formen in Zweifel zieht, die innerhalb der Grenzen
einer Partizipation durch Repräsentation verbleiben. Dem affektiven Leben wie
auch der unsicheren, weil entregionalisierten theoretischen Figur, dem Wagnis zu
Rebellion und Denken, wäre, ohne sich letztendlich auf sie zu verlassen, neuer
Raum zu schenken. Denn beides könnte immerhin erlauben, dem Zirkel post-
moderner Subjektivation zu entraten und die Überwindung von zynischer Aktivi-
tät und apathischer Passivität zu denken. Auf die historische Möglichkeit zu deren
praktischer Überwindung hätten Theorie und Kritik der Ideologie heute aufmerk-
sam zu machen.

Literatur

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Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel
der gebildeten Klasse
Christine Resch und Heinz Steinert

»Kulturindustrie« ist ein Begriff, der als Überschrift eines Kapitels in Horkheimer/
Adornos Dialektik der Aufklärung (1944/47) bekannt wurde: Kulturindustrie –
Aufklärung als Massenbetrug. Die Sache – intellektuelle Produktion nach Impera-
tiven der Warenförmigkeit – war von beiden Autoren schon in früheren Arbeiten
analysiert worden: Wagners Musikdramen (Adorno 1933a, 1939/1952), Jazz-Musik
(Adorno 1933, 1937), Fanatismus in der bürgerlichen Politik (Horkheimer, 1936),
Hindemiths »Neo-Klassizismus« (Adorno 1922ff., 1932). Das Wort setzte sich erst
jetzt, im US-Exil, durch. (Die US-Erfahrung bestätigte also nur, was die beiden
schon aus Europa und seiner Entwicklung zum Faschismus kannten.) Kultur-
industrie wurde ab diesem Zeitpunkt als ein »Markenbegriff« der Kritischen
Theorie gehandhabt, aber nicht mehr weiter begrifflich bearbeitet und entwickelt.
Darauf wird zurückzukommen sein.
Nach Adornos Tod wurde der Begriff vor allem verabschiedet, revidiert und
schließlich von kritisch zu affirmativ gewendet: Heute haben besonders Betriebs-
wirte ein gutes Verhältnis zu ihm, die Kulturmanagement als interessantes Arbeits-
feld etabliert haben. Auch die Apologeten der »Wissensökonomie« (z. B. Lash/
Urry 1994) können ihm viel abgewinnen.
Es ist also heute nötig, den Begriff in seiner kritischen Fassung erst wiederzuge-
winnen. Wir tun das im ersten und zweiten Abschnitt »Was Kulturindustrie nicht
ist« und »Falsche Alternativen«: ein Durchgang durch die Revisionen und angebli-
chen Verbesserungen, die dem Begriff angetan werden (vgl. dazu auch Claussen
1990). Im dritten Abschnitt »Was Kulturindustrie ist« werden zentrale Bestim-
mungsstücke von Kulturindustrie identifiziert. Dabei entwickelt sich zugleich eine
angemessene Aktualisierung: »erweiterte Kulturindustrie«. Sie wird im letzten
Abschnitt an Beispielen dargestellt.

1. Was Kulturindustrie nicht ist

1.1. Kulturindustrie ist nicht nur eine Medientheorie


Es ist ein verbreitetes Missverständnis: »Kulturindustrie«, das seien »die Medien«.
Darunter werden üblicherweise TV, Kino, Magazine, Pop-Musik, in letzter Zeit
auch Computer und Internet und ähnliches zusammengefasst. Schon dieser Medi-
enbegriff muss erstens erweitert werden: Die Festivalisierung der Innenstädte
gehört ebenso dazu wie die Museen, die sich von wissenschaftlichen Samm-
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 313

lereinrichtungen in Ausstellungshallen und ein Massenmedium verändert haben.


Vorlesung, Vortrag und Dichterlesung haben eine lange Tradition. Mit Gewinn
kann die Straße als Medium analysiert werden: für politische und künstlerische
Aktivitäten (Demo, Theater, Musik, Malerei auf Bürgersteigen). Die Straße ist auch
ein Forum für Selbstdarstellung: Skater, Einrad-Fahrer führen ihre Künste vor,
Straßencafés und -feste sind soziale Veranstaltungen, in denen es nicht zuletzt um
Sehen und Gesehenwerden geht. Kulturindustrie umfasst aber zweitens mehr als
die Medien. Mit Kulturindustrie haben wir es bei jeder veröffentlichten kulturellen
Äußerung zu tun, selbstverständlich auch in Wissenschaft, Politik und Beratung,
Design, Planung und Konstruktion.
Die ersten Beispiele, die in dem Kulturindustrie-Kapitel der Dialektik der
Aufklärung verwendet werden, sind die »neuen Monumentalbauten« der »staaten-
umspannenden Konzerne«, die »düsteren Wohn- und Geschäftshäuser der trostlo-
sen Städte«, die »Betonzentren« und die »neuen Bungalows am Stadtrand«, die
»hygienischen Kleinwohnungen« für die Individuen und die »Wohnzellen« in
ihren »wohlorganisierten Komplexen«. Architektur ist Kulturindustrie (vgl. Resch
2002; Resch/Steinert 2003; Steinert 2000). Stadtrandwohnblocks und Satelliten-
städte mit den dazugehörigen autogerechten Zentren, Bürostädte mit ihren Wol-
kenkratzern, Einkaufszentren, Museums- und Gefängnisneubauten, U-Bahnen,
weltweit standardisierte Flughäfen und Autobahnen definieren, was ein Mensch ist
und was ihm zusteht. Gleich am Beginn des Kulturindustrie-Textes werden die
beiden Seiten dieser materiellen Definition dessen, was ein Mensch ist und was ihm
gebührt, vorgeführt: Architektur ist die Darstellung von Herrschaft in den Zentren
der Verwaltung und in der Organisation des Lebens der Verwalteten.
Autos und Bomben kommen vor, die wie der Film das Ganze so lange zusam-
menhalten, »bis ihr nivellierendes Element am Unrecht selbst, dem es diente, seine
Kraft erweist« (S. 145). Das Telephon wird erwähnt, das, im Gegensatz zum Radio,
die Teilnehmer noch Subjekt spielen ließ. Kulturindustrie ist tatsächlich ein ziem-
lich weitreichender Begriff und Sachverhalt. Sie ist Teil des Kitts der Gesellschaft,
reproduziert Herrschaft, ist eine Dimension von Vergesellschaftung und mit-
nichten eine Medientheorie.

1.2. Kulturindustrie ist nicht der Gegensatz zu ewiger Kunst


Kunst, bürgerliche Kunst, ist im Herrschaftszusammenhang entstanden und hat
sich in ihm entwickelt: bürgerlich vor allem als (Selbst-) Darstellung des bürger-
lichen Individuums und seiner Konstitutionsprobleme, seiner Requisiten (Familie,
Natur) und seiner Politik (Revolution, Befreiung, Republik, Tragik und schuld-
hafte Verstrickung), aber natürlich auch seiner Sinnsuche (nicht zuletzt mit Hilfe
von Kunst/Religion) und seiner (gehobenen) Unterhaltung. Kunst ist so eine Form
der Darstellung von bürgerlicher Herrschaft – und ihr Widerspruch. Nach ihren
eigenen Gesetzen, indem sie alle Möglichkeiten des Gestaltens mit ihrem jeweiligen
Material (Instrumenten, Tönen, Strukturen; Farben, Linien, Genres; Sprache und
Formen, usw.) durcharbeiten will, widersetzt sie sich der reinen Vernutzung. Nicht
jedes Gemälde macht sich gleich gut als Dekor in der Schalterhalle, nicht jede
314 Christine Resch und Heinz Steinert

Musik als Abschluss einer Versammlung. In der Parole »l’art pour l’art« selbst-
bewusst geworden, erzeugt der Eigensinn von Kunst eine eigene Welt, eine Gegen-
welt, eine Ahnung des anderen, des Möglichen. In Kulturindustrie wird dieser
Bereich von Befreiung eingezogen, wird Kultur restlos funktionalisiert.
Das geschieht Kultur aber nicht von außen, sondern es setzt sich eine der
Gesetzmäßigkeiten, von denen sie bestimmt wird, durch: Produktion nach den
Imperativen der Warenförmigkeit. Die Institutionen der Kunst, der Ausstellungs-
oder Konzertbetrieb, das Verlagswesen oder die Wissenschaft, organisieren sich
entsprechend. Der einzelne Künstler steckt in derselben Dialektik: Er wehrt sich
gegen den Zugriff, will aber von seiner Kunst leben, braucht daher ein Publikum
und einen Verkauf. Er wehrt sich dagegen, gibt dem Druck aber auch nach. Er
macht Erfindungen in der Auseinandersetzung mit Aufträgen, Zensur und Markt,
kann sich aber nicht ganz entziehen, will das auch nicht unbedingt. Manche
arbeiten diesen Rahmenbedingungen ohne Widerstand zu, produzieren in ihnen,
was gut ankommt.
Kunst geschieht im Rahmen der kulturindustriellen Gegebenheiten und in mehr
oder weniger widerständiger Auseinandersetzung mit ihnen. Schönberg steht für
eine Form der Reaktion auf Kulturindustrie, die man als letzten Versuch, sich
dagegen aufzubäumen, einordnen kann. Es ist ein Versuch, Autonomie gegen die
kulturindustriellen Regeln von Verkäuflichkeit und marktförmiger Aufmerksam-
keit zu behaupten. Schönbergs Haltung ist mit »öffentlicher Einsamkeit« be-
schrieben worden, eine Form der Kunstproduktion, die sich ostentativ vom Publi-
kum abwendet (Steinert 1989). Bei der insgesamt verwirrenden Verwendung von
»Moderne« und »Postmoderne« ist das zugleich auch eine Klärung dieser Begriffe:
»Die Moderne«, die Adorno interessiert, ist die »öffentliche Einsamkeit«. Und hier
besteht die Übereinstimmung zur Kunst: Es ist diese Haltung, die auch seiner
Theorieproduktion zugrunde liegt.
In der Theorie der Kulturindustrie wird kritisiert, dass dieses Modell von
künstlerischer Produktion zu Ende geht. Adorno rettet nicht die Kunst, er hält an
einer bestimmten widerständigen intellektuellen Haltung fest (ausführlich dazu:
Demirovic 1999). In Adornos Verständnis liegt damit ein Ende der Kunst nahe. Mit
einem Rückzug von Theorie und einer Flucht ins Ästhetische, wie Rüdiger Bubner
(1989) argumentiert, hat das nichts zu tun.

1.3. Kritik der Kulturindustrie ist nicht die Ablehnung von Unterhaltung
Die Kritik an Kulturindustrie ist auch keine am Amüsement, sondern (unter
anderem) daran, dass sie Unterhaltung nicht konsequent genug betreibt.
Dass es nicht Kunst ist, die kritisch, während Populärkultur und die dazuge-
hörige Unterhaltung affirmativ sei, lässt sich mit einer Reihe von Textpassagen
veranschaulichen. Absurdität, glücklichen Unsinn und die körperliche Kunst im
Zirkus verwendet Adorno als Beispiele für das »Bessere«, das Kulturindustrie
bietet. Konsequente Unterhaltung bestehe in einem entspannten »sich Überlassen
an bunte Assoziationen und glücklichen Unsinn«. Diese Unterhaltung der Unter-
haltung wegen, den »wahren Luxus«, wenn man so will, zerstöre Kulturindustrie
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 315

aber fortwährend, indem sie allen Produkten »das Surrogat eines zusammen-
hängenden Sinns« beigibt, der freilich nur dazu diene, das Auftreten der Stars zu
rechtfertigen. Darauf bezieht sich Adornos Kritik am Amüsement: Es ist schlechte
Unterhaltung.
Dass Adorno nicht der Verfechter einer elitären vergeistigten Hochkultur ist,
zeigt auch seine Anmerkung zum Zirkus. Die körperliche Könnerschaft von
Reitern, Akrobaten und Clowns verteidige körperliche gegen geistige Kunst. Das
aber heißt, sie ist Einspruch der »unteren Klassen« gegen das Privileg der Bildung.
Was dagegen sehr wohl kritisiert wird, wir haben es schon angedeutet, ist
populistische Vereinnahmung. Das ist schon im Untertitel »Aufklärung als Mas-
senbetrug« festgehalten. Die Rezipienten werden nicht als Individuen gedacht,
sondern in großen Kategorien zusammengefasst. Der kulturindustrielle Zugriff auf
die Konsumenten entspricht dem von Verwaltung: einer Kategorisierung der Rezi-
pienten nach Merkmalen der Benutz- und Kontrollierbarkeit. Es geht, wie es
Adorno und Horkheimer ausdrücken, um »lückenlose Quantifizierung«:

»Emphatische Differenzierungen wie die von A- und B-Filmen oder von Geschichten in
Magazinen verschiedener Preislagen gehen nicht sowohl aus der Sache hervor, als daß sie der
Klassifikation, Organisation und Erfassung der Konsumenten dienen. Für alle ist etwas
vorgesehen, damit keiner ausweichen kann, die Unterschiede werden eingeschliffen und
propagiert.« (Horkheimer/Adorno 1944/47, S. 147)

Die Rezipienten werden kulturindustriell zu Massen gemacht und dann betrogen:


um relevante Erfahrungen und um gute Unterhaltung, die freilich immerzu ver-
sprochen wird. Die Pointe an diesem Massenbegriff ist freilich, dass er zugleich
verwendet wird, um die kritiklose Reproduktion von Klassengesellschaft zu be-
schreiben. Unterschiede in den Produkten werden kulturindustriell eingeschliffen,
zugleich werden aber soziale Unterschiede propagiert. Kulturindustrie ist eine
klassentheoretische Kritik an Populismus.

1.4. Kulturindustrie ist nicht die Beschimpfung der verachteten


»Massen von Rezipienten«
Mit »Warenförmigkeit« wird die Kulturindustrialisierung von Kunst kritisiert,
somit die Intellektuellen, die zugunsten der Verkäuflichkeit ihrer Produkte ihre
Autonomie (freiwillig) aufgeben. Die Theorie der Kulturindustrie ist keine Pub-
likums-, sondern eine Intellektuellenbeschimpfung.
Wenn man die einschlägigen Aussagen über die Vorstellungen von Rezeption
und Manipulation im Kulturindustrie-Kapitel sammelt, wird sofort deutlich, dass
im Text von einem umfassenden Vorgang der Vergesellschaftung die Rede ist, nicht
von isolierten Wirkungen bestimmter Sendungen, Genres, Einzelinhalte. Es wird
hier von den Menschen im Kapitalismus gehandelt, die als Arbeitskräfte und
Konsumenten benützt und verwaltet werden. In diesem Kontext sind sie auch
»Freizeitler« und mit Einrichtungen und Inhalten der zur Bildung und Unter-
haltung produzierten »Kultur« befasst. Umgekehrt bedrängt sie die Kulturindust-
rie mit ihren Produkten, die verkauft sein wollen. Dabei gibt es ein klares Ent-
316 Christine Resch und Heinz Steinert

sprechungsverhältnis: Die Kulturindustrie produziert absetzbare Waren und genau


die werden von den Leuten nachgefragt. Ursache und Wirkung lassen sich hier
nicht zuordnen, vielmehr gehen Angebot wie Nachfrage auf den Zustand einer
Gesellschaftsformation mit dem Grundmechanismus »Warenförmigkeit« zurück.
Die Zuschauer sind nicht passive und bewusstlose Opfer, sie sind in diesem Spiel
keine hilf- und ahnungslosen Schachfiguren. Zumindest wissen sie über Kultur-
industrie Bescheid. Es bleibt ihnen nur wenig Möglichkeit, nach dieser Einsicht zu
handeln. Also spielen sie ironisch und halb im Ernst mit:

»Daß der Unterschied der Chrysler- von der General-Motors-Serie im Grunde illusionär ist,
weiß schon jedes Kind, das sich für den Unterschied begeistert.« (Horkheimer/Adorno
1944/47, S. 148)
»Der Fortschritt der Verdummung darf hinter dem gleichzeitigen Fortschritt der Intelligenz
nicht zurückbleiben.« (ebd., S. 171)
» … die zwanghafte Mimesis der Konsumenten an die zugleich durchschauten Kulturwaren.«
(ebd., S. 196)
» … daß die Reduktion des Kunstwerks auf die empirische Vernunft bereit ist, in jedem
Augenblick in den offenen Wahnsinn umzuschlagen, den die Fans, indem sie dem Lone
Ranger Hosen und seinem Pferd Sattelzeug schicken, einstweilen halb noch spielen.« (ebd.,
S. 302)

Das ist kein starker und heldenhafter Widerstand, der hier angesprochen wird, aber
immerhin bewusste Selbstüberwindung, die sich nichts vormacht, Wissen um den
Zwang, dem man unterliegt, und um die Widerstände, die man in sich niederhalten
muss, schließlich ein Mitmachen nur halb im Ernst. Von einem souveränen In-
dividuum kann hier nicht die Rede sein, aber auch nicht von einem »auf das
Stadium der Lurche« reduzierten Manipulationsprodukt. (Zu den verschiedenen
Facetten, wie die Rezipienten in der Kulturindustrie-Theorie vorkommen, vgl.
Steinert 1998, S. 150–156.)
Und unabhängig von der Einschätzung der (damals) gegenwärtigen Möglich-
keiten von Widerstand (Adorno hielt sie für gering) ist das theoretische Grund-
modell wichtig, in dem die der Herrschaft Ausgesetzten an ihrer eigenen Beherr-
schung mitarbeiten müssen – und das daher auch grundsätzlich verweigern kön-
nen. Auch wenn er den Untergang des Individuums betrauert, Adornos Theorie
kennt das Subjekt, das in der Perspektive der Medien und ihrer Betreiber als
»Publikum« verdinglicht und besonders gründlich ausgespart bleibt.

1.5. Kulturindustrie ist nicht die Produktionsform der Wissensökonomie


Kulturindustrie ist mehr als eine Produktionsform bestimmter – eben kultureller –
Inhalte. Die selbstverständliche betriebswirtschaftliche Rede von »der Kultur-
industrie« (mit Artikel) und »den Kulturindustrien« (im Plural) meint heute ein-
fach Management und Finanzierung von Theater, Film, Museum, Werbung und
Sport im TV. Und das ist nur eines der Missverständnisse, die die Diskussionen in
Wissenschaft und Feuilleton über die Kulturindustrie-Theorie bestimmen. Die
Kritik (»Sie nennen sich selbst Industrien …«, heißt es in der Dialektik der
Aufklärung) an der gesellschaftlichen Wissensproduktion wird umdefiniert und
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 317

affirmativ: »Die Kulturindustrie« wird zum Apparat, mit dem Propaganda für die
»Wissensgesellschaft« gemacht wird.
(Dass Kulturindustrie dazu beitrage, eine »kritisch räsonierende Öffentlichkeit«
herzustellen, wie Erd (1989) argumentiert, ist eine frühere, wissenschaftliche Ver-
sion dieses affirmativen Verständnisses.)

2. Falsche Alternativen

Aus den »falschen Vorwürfen« ergeben sich die Theorien, die als Alternativen
angeboten werden. Die verschiedenen alternativen Theorien haben eine Gemein-
samkeit: Sie eignen sich für Intellektuellenselbstdarstellung. Kulturindustrie wird
zum Apparat, mit dem sich die »gebildete Klasse« darstellt, Öffentlichkeitsarbeit
betreibt und um gesellschaftliche Hegemonie kämpft (zum Zusammenhang von
Kulturindustrie und Hegemonie vgl. Demirovic 2002). An einigen wenigen Bei-
spielen wollen wir das diskutieren.

Löwenthal/Marcuse, aber kein Kracauer


Leo Löwenthal (1980) und auch Herbert Marcuse gelten als Vertreter der Kriti-
schen Theorie, die gezeigt hätten, dass Kultur nicht notwendig repressiv sein
müsse. Marcuses Eindimensionaler Mensch (1967) wird als »fortgeschrittene« Kul-
turindustrie-Theorie rezipiert, in der er »die Kulturindustriethese nicht nur zu-
spitzte, sondern zugleich in der populären Massenkunst eine Protestkultur ve-
rortete und vorwegnahm, was heute seitens der Verteidiger einer subversiven
Popkultur gegen die Kulturindustrie angeführt wird« (Behrens 2000, S. 51). Lö-
wenthal wird sein »offenes Modell« zugute gehalten, das »keine eindeutig be-
stimmbaren Systemgrenzen und keine eindeutig empirisch verifizierbare Grenze
zwischen Populärkultur und Kunst« kenne (Kausch 1988, S. 238; vgl. zu dieser
Position auch: Göttlich 1996).
Ohne die Errungenschaften dieser Autoren hier im einzelnen würdigen und die
Kritik an ihren Theorien ausführen zu können, bleibt doch anzumerken, dass es
Marcuse ist, der die Kunst in einem ziemlich eindimensionalen, undialektischen
Begriff »rettet«. In seinem späten Aufsatz über »Die Permanenz der Kunst« (1977)
macht er sich zum Verfechter einer wahren, autonomen Kunst, die als »authenti-
sche Form des Widerspruchs gegen die Totalität der Gesellschaft« notwendig
»elitär« wird. Hier wird auch explizit dazugesagt, dass es sich um einen »Rückzug
in eine Dimension« handelt, »in der das Bestehende nur in der Einbildungskraft
verwandelt und überschritten wird«. Und es fällt schon auf, dass die Kultur-
industrialisierung von Kunst vollkommen ausgespart bleibt. Das kritische Potential
der Kunst lässt sich nur noch in einer normativen Ästhetik behaupten. Und das ist
es genau, was in »Die Permanenz der Kunst« geschieht. Es ist eine elaborierte
Darstellung der bürgerlichen Kunstnormen, aber keine Analyse des seinerzeitigen
gesellschaftlichen Status von Kunst. Dass der Verblendungszusammenhang in Der
318 Christine Resch und Heinz Steinert

eindimensionale Mensch monolithischer gedacht wird als in der Dialektik der


Aufklärung, drückt sich schon im Titel aus. Auch wenn man die Reflexionen über
»repressive Toleranz« (1965) und die Herrschaftsanalyse, die in Triebstruktur und
Gesellschaft (1957) vorgenommen wird, einbezieht, in der die kulturindustrielle
Vergesellschaftungsform Gegenstand der Überlegungen ist, gibt es keinen Anlass,
Marcuse gegen Adorno/Horkheimer auszuspielen oder gar als überlegen darzu-
stellen. Vielmehr sind es einzelne kulturindustrielle Phänomene, die hier detailliert
untersucht werden. Das gilt auch für die Arbeiten von Löwenthal. Da muss man
keine künstliche Konkurrenz aufbauen.
Dass Siegfried Kracauer nicht als Alternative vorgeschlagen wird, macht darauf
aufmerksam, dass eine Theorie nur dann zum Gegenentwurf werden kann, wenn
jugendliche Popkultur positiv bewertet wird. Mit der theoretischen Konzeption
hat das nicht viel zu tun. Vielmehr ist es ein Bezug auf nur einen Gegenstand.
Kracauers Buch Jacques Offenbach und das Paris seiner Zeit (1937) stellt
dagegen tatsächlich eine Erweiterung der Kulturindustrie-Theorie dar. Ihm gelingt
es zu zeigen, dass der (vergebliche) Kampf um Autonomie nicht die einzige Form
ist, Kulturindustrie zu umgehen. Mit Spott und Ironie unterläuft und reflektiert
Offenbach die kulturindustriellen Mechanismen, derer er sich zugleich bedient.
Von Kracauer wird damit eine subversive Strategie in der Kulturindustrie be-
schrieben. Auch konzipiert er die Bedeutung von Spott und Hohn für die Demora-
lisierung der Herrschenden und die Entstehung einer »revolutionären Situation«.
Adorno hat diese Strategie (und Kracauers Buch) nicht geschätzt. Mit diesem
Denkmodell kann aber Kulturindustrie selbst dialektisch konzipiert werden. Re-
flexivität in der Kulturindustrie ist gegenwärtig die einzig verfügbare kritische
Haltung zu ihr. (Diese Strategie lässt sich an vielen Beispielen analysieren. Wir
haben es am ausführlichsten für Jazz und Improvisation und für Ironie als Strategie
des Surrealismus getan; vgl. Steinert 1992; 1997.)

Benjamin/Cultural Studies
Walter Benjamin (und Bertold Brecht, gelegentlich auch Umberto Eco) seien
möglichen Subversionspotentialen der Rezipienten gegenüber viel aufgeschlos-
sener. Im Kontext der Cultural Studies sei ausführlich gezeigt worden, wie wider-
ständig das Publikum ist, dass von Manipulation also keine Rede sein könne. Dass
Günther Anders (1956) fast vergessen ist, verwundert wenig. Seine Kritik des
Fernsehens ist den gegenwärtigen Medientheoretikern wohl auch zu pessimistisch.
Benjamins Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reprodu-
zierbarkeit« (1936) wird als kritische (Gegen-) Theorie zur Theorie der Kultur-
industrie hochgehalten. Benjamin argumentiert darin, dass mit der technischen
Reproduzierbarkeit der Künste der Verlust der Aura verbunden sei (langfristig war
das ein Irrtum, wie in Resch 2000, gezeigt) und dass damit Möglichkeiten zu einer
kritischen Aneignung entstehen. Das wird am Beispiel des Films entwickelt: die
technische Apparatur bringe die Zuschauer in eine distanzierte Haltung und in die
Position des kritischen Begutachters. Das auratische Kunstwerk dagegen, mit
seinem Ursprung im religiösen Ritual, erzeuge Unterwerfung. Benjamins zentrale
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 319

These impliziert einen Fortschritt der Produktivkraft und eine dazugehörige fort-
schrittliche Rezeptionspraxis.
Diese Theorie wird verwendet, um zu entkräften, dass Kulturindustrie die
Massen manipuliere. Noch radikaler wird dieses Missverständnis in den gegenwär-
tigen Cultural Studies forciert und zugleich widerlegt. In den letzten Jahren sind
erhebliche wissenschaftspolitische Anstrengungen unternommen worden, Cultural
Studies in Deutschland zu etablieren. Das Erstaunliche dabei ist, dass die stereo-
typen Rezeptionen der Kulturindustrie-Theorie trotz der Nähe zu den Primärtex-
ten mit importiert werden. In beinahe jedem Reader, der die Tradition der Cultural
Studies vorstellt, findet sich eine stereotype Abgrenzung von der Kritischen Theo-
rie. Die Frankfurter Kunst- und Kulturtheorie sei elitär. Hier werde ein manipu-
liertes Publikum unterstellt, das sich den herrschenden Verhältnissen bereitwillig
einfügt.
Den Cultural Studies gilt längst als empirisch belegt, was Benjamin noch als
Möglichkeit konzipiert, die in den Produkten eine Entsprechung haben müsse.
Man kann es sogar noch schärfer formulieren: Die Cultural Studies kennen in-
zwischen nur noch kritische Aneignungen von Künsten und Widerständigkeit der
verschiedener Rezipientengruppierungen. Untersucht werden Freizeitphänomene,
die nicht mehr gesellschaftstheoretisch reflektiert werden. Dass und wie sich
zugleich Thatcherismus, ein autoritärer Populismus, etablieren konnte, wird in
anderen Studien (Hall 1988) erforscht. Die verschiedenen Ergebnisse stehen unver-
bunden nebeneinander. Eine Fraktion der Cultural Studies hat die herrschaftlichen
Aspekte aus ihren Studien verbannt. Deshalb kommt ihnen Adorno so pessimis-
tisch vor.
In einer ausführlichen Beschäftigung mit diesen Rezeptionsstudien konnte aller-
dings gezeigt werden, dass das »widerständige Publikum« die Forscher selbst sind:
Sie durchschauen die herrschende Ideologie, sind aber in keiner gesellschaftlichen
Position, um ihre Weltsicht verbindlich zu machen. Die Pointe ist dann freilich,
dass gerade die Protagonisten der Cultural Studies (in der zweiten und dritten
Generation) ihre eigene Lebensweise und damit Intellektualität verallgemeinern
(vgl. dazu Resch 1999, S. 94–129). Der Bezug auf die »Gründungsväter« der
Cultural Studies bleibt dagegen abstrakt.
Richard Hoggart (1957), Raymond Williams (1958) und Edward P. Thompson
(1963), die den ökonomischen Determinismus kritisiert, Arbeiterbewegung als
Lernprozess reflektiert, die Erfahrungen der Arbeiterklasse in eine marxistische
Kulturtheorie einbezogen haben, sind um ihre materialistische Grundorientierung
verkürzt worden. Inzwischen ist alles Kultur, die gesellschaftstheoretische Dimen-
sion fehlt in den Studien. Dazu kommt, dass die Aneignung der Cultural Studies in
Deutschland erst begonnen hat, als in den angelsächsischen Ländern daraus ein
kulturindustrielles Label für den Buchvertrieb geworden war, unter dem entspre-
chend Vielfältiges versammelt wird. Es ist der verspätete Versuch, Soziologie als
Kulturwissenschaft zu konstituieren (Winter 2001).
320 Christine Resch und Heinz Steinert

Baudrillard und Theorie als kulturindustrielles Ereignis

»Postmoderne«: das ist der Abschied von Gesellschaftstheorie, der Abschied von
der »großen Erzählung«, wie sie Marx und der Kritischen Theorie zugeschrieben
wird. Jochen Venus (2001) stellt dar, dass postmoderne »Denkstile« deshalb so
überzeugend seien, weil sich ein kulturelles Selbstverständnis von den Theorien des
»Industriezeitalters« nicht mehr auf den Begriff gebracht erfahre.
Nichts ist mehr wie es war. Baudrillards Theorien über die verschiedenartigen
Gegenstände haben eines gemeinsam: Sie seien, so Venus, durch die Metaphorik
eines »welthistorischen Umschlags« vermittelt. Die gegenwärtigen Medien ver-
fügten über keine außermediale Realität mehr, seien reine Simulation. Ihre Macht,
so die Annahme, sei total geworden, Rückschlüsse auf andere gesellschaftliche
Macht- und Herrschaftsverhältnisse seien nicht mehr möglich, Ideologiekritik sei
obsolet geworden. Die These vom »kulturhistorischen Bruch« hat einen Steige-
rungsmechanismus eingebaut: Absolut Neues muss permanent verkündet werden.
»Postmoderne Medientheorie« hat damit selbst den Status eines Kultur-(In-
dustrie)-Ereignisses, bedient sich gekonnt der kulturindustriellen Mechanismen.
Die wissenschaftlich und medial forcierte Hochkonjunktur ist zwar inzwischen
wieder abgeflaut, aber die Denkmodelle von Baudrillard werden doch dann be-
müht, wenn über einen Krieg philosophiert wird, der sich unserer Erfahrung
entzieht (Golf) – mit der Schlussfolgerung, dass er deshalb auch nicht stattgefunden
habe – oder, wenn Denkverbote die Bearbeitung eines Ereignisses strukturieren,
wie bei den Anschlägen auf World Trade Center und Pentagon.
Baudrillards Äußerungen zu den Attentaten vom 11. September sind ein aktuel-
les Beispiel für Postmoderne als »negative Hermeneutik« (Schurz 1995) – Theo-
rien, deren Kern Nicht-Verstehen ist. In einem Spiegel-Interview (3/2002) wird
über das »absolute Ereignis« gesagt, dass »keine Ideologie«, »kein Kampf für die
Sache« und »auch nicht der islamische Fundamentalismus« es erklären können.
Terrorismus sei wie ein Virus, Bin Laden gewinne eine »übernatürliche Dimen-
sion«, der Einsatz gegen ihn sei »fast schon metaphysisch«. Der »immanente
Irrsinn der Globalisierung« bringt »Wahnsinnige« und eine »universelle Allergie
gegen eine endgültige Ordnung« hervor. (Dem Interviewer, Romain Leick, ist das
offenbar noch zu konkret. Er fragt: »Warum können Sie nicht einfach akzeptieren,
dass die Zerstörung des World Trade Center die willkürliche, irrationale Tat einiger
verblendeter Fanatiker war?«)
Gesellschaftliche Konflikte zu naturalisieren und sie zu entpolitisieren, sie als
Sachzwang, Krankheit, Wahnsinn, Metaphysik darzustellen, gehört zu den elabo-
rierten Herrschaftstechniken. Es gibt ein herrschendes Interesse, Nicht-Verstehen
zu kultivieren. Die kulturindustriellen Imperative für das Nachdenken über den 11.
September verlangten Zurückhaltung, der Kreis des überhaupt Sagbaren wurde
ungewöhnlich eng gezogen. Tabus und Klischees prägten die intellektuellen State-
ments zum Thema (Laster/Steinert 2002).
Baudrillard gelingt es, die ewig wiederholten Gemeinplätze noch als provokante
Ideen zu verkaufen. Deshalb passt seine Position zu gut zu diesem kulturin-
dustriellen Ereignis.
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 321

Bourdieu und die Einschaltquoten-Konkurrenz

Pierre Bourdieu hat mit seinem Buch über die »feinen Unterschiede« (1979) ein
Gegenprogramm zur Kritischen Theorie ausgearbeitet. Er untersucht den sozialen
Status, der mit den Vorlieben für bestimmte Künste verbunden ist und spart eine
Interpretation der Inhalte von Kultur vollkommen aus. Bei entsprechender Kennt-
nis der Szene kann man aus diesen Vorlieben recht genaue Auskunft über den
sozialen Ort einer Person ableiten.
Das ist schon der Kern dessen, was Bourdieus hoch gelobte Theorie der sozialen
Verteilung von kulturellen Vorlieben und Geschmäckern ausmacht: Kompetente
Gesellschaftsmitglieder wissen darüber Bescheid, mit welchen kulturellen Signalen
man welche soziale Zugehörigkeit markiert und benützen sie entsprechend – aktiv
wie passiv. Was damit in keiner Weise erklärt wird, ist der Inhalt der jeweiligen
Zuordnung: Warum ist der Gartenzwerg unterschichtig und Marcel Duchamp
oberschichtig? Warum konnte man seinerzeit die von Mozart geprägten Mütter mit
Mulligans »News from Blueport« in tiefe Bestürzung treiben, von den Rolling
Stones und »I Can’t Get No Satisfaction« gar nicht zu reden? Warum rührt
manchen Parkers kaputter »Lover man« an die Seele, während andere hauptsäch-
lich hören, dass hier ein Betrunkener im Cold Turkey alle möglichen musikalischen
Fehler macht? Warum gibt es Glaubenskriege zwischen Musikstilen und ihren
Anhängern und Kritikern? Mit Bourdieu und dem ganzen erheblichen Aufwand an
Theorie und Empirie, den er in Die feinen Unterschiede betrieben hat, kommt man
schon in diesen Fragen nicht weiter, die noch ganz nahe an der Problematik liegen,
die er explizit behandelt. Völlig unmöglich ist es, mit Bourdieus Instrumentarium
ein einzelnes Kunstereignis inhaltlich zu analysieren oder etwas über eine mögliche
kritische Funktion von Kunst zu sagen (vgl. zu dieser Kritik und als Gegenbeispiel
Steinert 2002).
Obwohl das eher ein Gegenprogramm zu Adorno ist, stellt Oliver Fahle (2000)
Bourdieu als jemanden vor, der »scheinbar antiquiert« (im Vergleich zu den
Forschungen im Kontext der Cultural Studies) Fernsehen – analog zur Kritischen
Theorie – als »homogenisierten Raum« beschreibe. Fahle legt den Akzent auf
Gemeinsamkeiten der »Franzosen-Theoretiker« mit der Kritischen Theorie. Sie
konkretisierten erst, wie wahr Adornos Theorie der Kulturindustrie sei, aber auch,
dass die Thesen nur auf das Fernsehen zutreffen, nicht aber etwa auf den Autoren-
film. Hier müsse genauer differenziert werden. Die Verharmlosung von Kultur-
industrie zur Medientheorie, die erst von Bourdieu/Virilio/Baudrillard differen-
ziert ausgearbeitet worden sei, ist das Ergebnis dieses komplizierten Vergleichs.
Diese These ist aus verschiedenen Gründen nicht haltbar. Sie ist es vor allem
deshalb nicht, weil Bourdieu nicht die kulturindustrielle Logik von Fernsehen
analysiert. Im Gegenteil.
Pierre Bourdieus Sur la télévision (1996) ist ein evidentes Beispiel dafür, wie sehr
Intellektuelle um Einschaltquoten konkurrieren. Der Gegenstand des ersten im
Fernsehen gehaltenen Vortrags ist eine Klage über die Einschaltquote und die
damit verbundene »unsichtbare Zensur«, wie Bourdieu es nennt. Einschaltquoten
seien nur mit bestimmten Inhalten und Formen, in denen sie präsentiert werden, zu
322 Christine Resch und Heinz Steinert

erreichen, lautet das Kredo. Ausführliche Argumente von Intellektuellen hätten da


keinen Platz, behauptet einer, der gerade einen solchen Vortrag hält. Das alles
geschieht innerhalb der Logik der Einschaltquote, wie programmatisch mitgeteilt
wird: »Jedermann« solle ihn, Bourdieu, verstehen können, dies habe ihn »in mehr
als einem Fall zu Vereinfachungen und approximativen Ausführungen gezwungen«
(S. 11). Von der Sache her sei das nicht zu rechtfertigen, sagt er selbst (S. 113).
Bourdieu kritisiert nicht die Logik der Einschaltquote, er konkurriert um diese in
ihr.

Jürgen Habermas und die Erfindung der moralischen Wahrheit


Jürgen Habermas hat in seiner frühen Abhandlung Strukturwandel der Öffentlich-
keit (1961) etwas wie die Untersuchung zur kulturindustriellen Politik vorgelegt,
die wir in der Dialektik der Aufklärung vermissen. Aber schon in dieser Arbeit, die
der Kritischen Theorie noch recht nahe steht, ging Habermas eigenständige Wege,
die ihn bald in große Distanz zu den Grundgedanken der Kritischen Theorie
brachten. Der erneuten Lektüre durch Jürgen Habermas hält dann später auch
nichts stand, was vor seiner »Theorie des kommunikativen Handelns« verfasst
wurde. Auf seine eigenen Bücher Strukturwandel der Öffentlichkeit (vgl. das
Vorwort zur Neuauflage von 1990) und Erkenntnis und Interesse (vgl. dazu seine
Revision in: Müller-Doohm 2000) trifft das ebenso zu wie auf die Dialektik der
Aufklärung.
In seinen Überlegungen zur Dialektik der Aufklärung kommt Habermas (1983)
zu dem Ergebnis, dass die konsequente, selbstreflexiv gewordene Ideologiekritik,
die da betrieben werde, sich auch »gegen das Vernunftpotential der bürgerlichen
Kultur selber« wende und notwendig zu einem »performativen Widerspruch«
führe (Habermas 1983, S. 418).
Dass sich Horkheimer und Adorno des »performativen Widerspruchs« bewusst
waren, erschließt sich Habermas daraus, dass die Autoren »ad hoc die bestimmte
Negation« praktizieren und auf jeden Versuch eine Theorie aufzustellen, der »auf
dem erreichten Niveau der Reflexion« ohnehin »ins Bodenlose gleiten müßte«,
verzichten (Habermas 1983, S. 427). Die positive Alternative, die Habermas an-
bietet, lautet dagegen:
»Andererseits haben Horkheimer und Adorno damals auf die sozialwissenschaftliche Revi-
sion der Theorie keine Mühe mehr verwendet, weil die Skepsis gegen den Wahrheitsgehalt der
bürgerlichen Ideen die Maßstäbe der Ideologiekritik selbst in Frage zu stellen schien. Ange-
sichts dieses zweiten Elements haben Horkheimer und Adorno den eigentlich problemati-
schen Zug getan; sie haben sich, wie der Historismus, einer hemmungslosen Vernunftskepsis
überlassen statt die Gründe zu erwägen, die an dieser Skepsis selber zweifeln lassen. Auf
diesem Wege hätten sich die normativen Grundlagen der kritischen Gesellschaftstheorie
vielleicht so tief legen lassen, daß sie von einer Dekomposition der bürgerlichen Kultur, wie
sie sich damals in Deutschland vor aller Augen vollzogen hat, nicht berührt worden wäre.«
(Habermas 1983, S. 429)

Habermas kritisiert die Dialektik der Aufklärung nicht aus der Perspektive der
Kritischen Theorie, sondern formuliert eine Alternative, eine Gegentheorie. Gesell-
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 323

schaftstheorie ist diesem Verständnis nach nicht mehr Ergebnis einer Analyse der
Produktionsweise, der damit verbundenen Herrschaftsverhältnisse und der ver-
schiedenen sozialen Positionen und Widersprüche, die sich daraus ergeben. Nicht
mehr die materiellen Lebensbedingungen werden reflektiert, sondern Ideen wie
»Gerechtigkeit« und »herrschaftsfreier Diskurs«, und die Behauptung von der
universellen Gültigkeit von Recht und Moral leiten die Kritik des Bestehenden an.
Dabei hat er mit der diskurstheoretischen Begründung von Anerkennung (indem
ich mich mit jemanden auf ein Argument einlasse, anerkenne ich ihn als gleich-
berechtigt diskursfähig) ein Modell von Politik entworfen, das eindeutig Intel-
lektuellenpolitik ist: Die räsonierende Öffentlichkeit ist eine »permanente Po-
diumsdiskussion« (hat man es auf einer öffentlichen Veranstaltung polemisch
nennen hören). Die reflexive Kritik der Kritischen Theorie wird durch die Erfin-
dung der moralischen Wahrheit ersetzt, die der »Philosophenkönig« kennt (Stei-
nert 1998a).

3. Was Kulturindustrie ist

Von der Massenkultur zur Kulturindustrie: etwas Begriffsklärung


Das Wort »Kulturindustrie« wurde in das gleichnamige Kapitel der Dialektik der
Aufklärung erst in der Überarbeitung eingefügt. Adorno berichtet:
»Das Wort Kulturindustrie dürfte zum ersten Mal in dem Buch ›Dialektik der Aufklärung‹
verwendet worden sein, das Horkheimer und ich 1947 in Amsterdam veröffentlichten. In
unseren Entwürfen war von Massenkultur die Rede. Wir ersetzten den Ausdruck durch
›Kulturindustrie‹, um von vornherein die Deutung auszuschalten, die den Anwälten der Sache
genehm ist: daß es sich um etwas wie spontan aus den Massen selbst aufsteigende Kultur
handele, um die gegenwärtige Gestalt von Volkskunst. […] Das Wort Massenmedien, das für
die Kulturindustrie sich eingeschliffen hat, verschiebt bereits den Akzent ins Harmlose.«
(Adorno 1963, S. 337 f.)

In den Entwürfen war das Kulturindustrie-Kapitel noch mit »Das Schema der
Massenkultur« überschrieben. Unter diesem Titel ist dann der »zweite Teil« des
Kulturindustrie-Kapitels auch bekannt geworden – Teil der vorher unveröffent-
lichten Schriften aus dem Nachlass von Adorno, nicht mehr überarbeitet, auch von
Horkheimer nicht mehr bearbeitet. Bekanntlich endet das Kulturindustrie-Kapitel
mit »fortzusetzen« und das ist mit »Das Schema der Massenkultur« auch ge-
schehen, den Begriff »Kulturindustrie« gibt es dort nicht – aus den von Adorno
oben genannten Gründen.
Einiges spricht dafür, dass das Wort von Horkheimer stammt. Im Zweiten
Entwurf (Oktober 1942) des Kulturindustrie-Kapitels, ein handschriftlich bear-
beitetes Typoskript (Max Horkheimer Archiv, XI 6.4b, S. 13), wird die Formulie-
rung »So wird die Tendenz des Liberalismus sanktioniert, […]« durchgestrichen
und handschriftlich ersetzt: »So überlebt in der Kulturindustrie die Tendenz des
Liberalismus seinen Tüchtigen freie Bahn zu gewähren«. Der Begriff »Massen-
324 Christine Resch und Heinz Steinert

kultur« wurde erst in späteren Überarbeitungen revidiert, bleibt in dieser Bearbei-


tung unverändert. Das Kapitel wird Adorno zugeschrieben, die Bearbeitung Hork-
heimer, wie wir von Schmid Noerr wissen.
Dazu kommt, dass sich in verschiedenen Aufsätzen Horkheimers, die vor der
Dialektik der Aufklärung geschrieben wurden, in der deutschen Version der
Begriff »Kulturindustrie« findet. Übersetzt wurden diese Schriften freilich erst
nach der Veröffentlichung der Dialektik der Aufklärung. In den englischen Ver-
sionen (»On the Sociology of Class Relations«, 1943; »Art and Mass Culture«,
1941) ist aber schon von »cultural industries«, »industrialized culture« und »amu-
sement industry« (mit »Vergnügungsindustrie« übersetzt) die Rede, Wörter, die, im
Gegensatz zu »Massenkultur«, schon zum Umfeld des Begriffs »Kulturindustrie«
gehören. Und das ist es genau: Es waren Horkheimers Wörter und Adornos
Denkmodelle, die mit der Dialektik der Aufklärung dann auf den Begriff »Kultur-
industrie« gebracht wurden.
Wenn man die begriffsgeschichtlichen Reflexionen, wie sie Adorno vorgibt (in
den Soziologischen Exkursen, 1956, und der Philosophischen Terminologie, 1973,
etwa) als Modell verwendet, fällt am Begriff »Kulturindustrie« auf, dass Hork-
heimer und Adorno die späteren Veränderungen der Sache Kulturindustrie nicht
mehr wahrnehmen. Aus Horkheimers Denken verschwindet der Begriff wieder
und Adorno verwendet ihn zwar, entwickelt ihn aber nicht mehr, reflektiert kaum
historische Ausprägungen und benützt ihn auch nicht konsequent: In Adornos
Ästhetischer Theorie (1970) weist das Stichwortregister keine 40 Verwendungen des
Begriffs aus. Vielmehr werden die Denkfiguren, die in den 20er Jahren seine
Analysen des Jazz geprägt haben, auch in den 60er Jahren wieder verwendet, wenn
er über die Beatles redet. In einem Gespräch mit Peter von Haselberg heißt es:
Adorno: »Was gegen die Beatles zu sagen ist, ist gar nicht so sehr etwas Idiosynkratisches,
sondern ganz einfach das, was diese Leute bieten, womit überhaupt die Kulturindustrie, die
dirigistische Massenkultur uns überschwemmt, seiner eigenen objektiven Gestalt nach etwas
Zurückgebliebenes. Man kann zeigen, daß die Ausdrucksmittel, die hier verwandt und
konserviert werden, in Wirklichkeit allesamt nur heruntergekommene Ausdrucksmittel der
Tradition sind, die den Umkreis des Festgelegten in gar keiner Weise überschreiten und die
das an Ausdruck, was sie sich zutrauen und wovon die faszinierten Hörer behaupten, daß es
das Fascinosum sei, objektiv eben durch die Abgebrauchtheit all dieser Elemente gar nicht
mehr haben.« (Adorno/von Haselberg 1965, S. 493 f.)

Die Denkfigur, die Beatles, wie überhaupt Kulturindustrie, seien der »eigenen
objektiven Gestalt nach etwas Zurückgebliebenes«, gibt es schon in den Analysen
des Jazz. Und dass autonome Kunst im Gegensatz zu Kulturindustrie sich durch
einen Fortschritt der Produktivkräfte auszeichnet, ist ein zentrales Argument in
der Dialektik der Aufklärung. Im Denken Adornos ist Kulturindustrie ein a-
historisches Phänomen: Sie bleibt über 50 Jahre unverändert.
Es ist aber ein Begriff, der aktualisiert werden muss: als »erweiterte Kultur-
industrie« werden wir das im letzten Abschnitt tun. An der grundsätzlichen
Bedeutung der zentralen Begriffe – Waren- und Verwaltungsform – und an der
Perspektive – Reflexivität – hat sich nichts geändert. Dass sie in der spezifischen
Verwendung historisiert und erweitert werden müssen, ändert nichts an ihrem
Stellenwert für eine Theorie der Kulturindustrie.
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 325

Warenförmigkeit
Kulturindustrie ist intellektuelle Produktion nach den Imperativen von Warenför-
migkeit. Mit Kulturindustrie sind nicht Produktionsstätten gemeint. Und es ist
auch nicht einfach Kritik daran, dass Kultur auch verkauft wird. Horkheimer und
Adorno unterscheiden genau zwischen Kunst, die auch verkauft wird, das aber in
der Produktion reflektiert (Beethoven verwenden sie als Beispiel) und Künsten, die
von vornherein nach Kriterien der Verkäuflichkeit produziert werden.
An Klischees und Stereotypen, die zugleich als Neuheiten angepriesen werden,
wird am häufigsten vorgeführt, dass sie den Kriterien der Warenförmigkeit entspre-
chen. Aber auch Verstöße gegen Konventionen werden verziehen, weil »sie als
berechnete Unarten die Geltung des Systems um so eifriger bekräftigen«, wie
Horkheimer und Adorno an Orson Welles zeigen (S. 153). Wagners »Phantasma-
gorie« (Adorno 1937/38, S. 82–91) wird von Adorno als Ware interpretiert. Hier
dominiere der Ausstellungscharakter, das Phänomenale. Feuerzauber schlage um in
den Prototyp zukünftiger Lichtreklame. Aber Adorno geht noch weiter: Wagners
Phantasmagorien tendierten zum Traum, weil Arbeit aus ihnen verbannt sei. Sie
präsentieren sich als sich selbst Produzierendes, als absolute und zeitlose Erschei-
nung. Gesellschaftliche Arbeit wird zum Wunder. Man kann das leicht übersetzen
als Darstellung und Reproduktion von entfremdeter Arbeit, von Arbeitskraft als
Ware.
Viele weitere Beispiele lassen sich finden: Großformatige, abstrakte Kunst ent-
steht zu dem Zeitpunkt, als Schalter- und Empfangshallen dekoriert werden. Die
Protagonisten in Eiskalte Engel (1998, Regie: Roger Kumble), einem weiteren
Remake von Gefährliche Liebschaften (1959, Regie: Roger Vadim; 1989, Regie:
Stephen Fears), sind so jung wie das Kino-Publikum, mit dem man, seit der
Verbreitung des Fernsehens, noch Kassenschlager machen kann. Es ist zwar albern
und unglaubwürdig, Jugendliche in Liebesangelegenheiten zynisch sein lassen zu
wollen, aber die Einschaltquote hat trotzdem gestimmt. Man konnte den Film als
»Porno für Kinder« verstehen. Dass die Bundesliga an drei Tagen der Woche (und
nicht nur an Samstagen) spielen muss, ist eine Errungenschaft des Privatfernsehens,
das die Zuschauer mehrmals an die Werbe-Industrie verkaufen will. Menge und
Inhalte von wissenschaftlichen Veröffentlichungen bezeugen nicht unbedingt einen
Erkenntnisfortschritt. Sie sind Konkurrenzen, Publikationszwängen aus Karriere-
gründen und einem Kampf um Aufmerksamkeit geschuldet. Gesellschaftsdiag-
nosen (»Risiko«-, »Erlebnis«-, »Informations«-, »Wissensgesellschaft«) sind unter
diesen Bedingungen besonders beliebt. Usw.usf.
Warenförmigkeit, und das ist der Merksatz, ist nichts, was intellektuellen Pro-
dukten von außen angetan wird. Vielmehr verändert sie die Sache, ist das zentrale
Bestimmungsstück der intellektuellen Produktionsmittel.

Verwaltungsförmigkeit
Mit Kapitalismus und Warenförmigkeit als Vergesellschaftungsform korrespon-
diert eine Staats- und Bürokratieform. Bei Max Weber kann man das nachlesen.
326 Christine Resch und Heinz Steinert

Mit der Expansion des Tauschverhältnisses erweitert sich auch Verwaltungsdenken:


Nicht mehr nur staatliche und kommunale Verwaltungsapparaturen folgen dieser
Logik. Denken in Äquivalenten ist der Verwaltungsrationalität verwandt und
weitet sich tendenziell auf das gesamte Leben aus: »verwaltete Welt« nennen das
Adorno und Horkheimer.
Bildung (im emphatischen Sinn) wird ersetzt durch Berechtigungsscheine, Bil-
dungspatente, formal gleiche Abschlüsse, die den Rang von »objektiven Katego-
rien« erhalten, die Status und Prestige signalisieren. Verwaltung misst das Ver-
waltete an Normen, die der Sache nicht eigen sind. Der Asylsachbearbeiter ist
ebenso wenig daran interessiert, die Individuen um ihrer selbst willen zu verstehen
wie der Kulturbeauftragte. Vielmehr geht es um Planung und Kalkulation, um
schematisierte Verfahren und standardisierte Vorgänge.
Kunst und Kultur wurde und wird staatlich und kommunal gefördert, ist dann
nur indirekt der Marktlogik unterworfen. Die Debatten um die »Verhüllung« des
Reichstagsgebäudes von Christo und Jeanne-Claude und Hans Haackes Installa-
tion im Reichstag »Der deutschen Bevölkerung« zeigen, dass den Künstlern dabei
einiges an Autonomie zugestanden wird. Aber die Verhandlungen sind kompliziert
und langwierig. Wenn Bundestagsabgeordnete entscheiden, tun sie das nicht als
Kunstexperten. Welche Kunst sich zur Selbstdarstellung des Staates eignet, ist die
(implizite) Streitfrage.
Die Skandalisierung als »Steuergeldverschwendung« ist ein anderes, verbreitetes
und immer noch probates Mittel bei kulturpolitischen Konflikten. Adorno nennt
die Kritik dieser »Sprecher der Volksseele« einen Ableger »jener totalitären Tech-
nik, welche unter Ausnutzung plebiszitärer Formen der Demokratie ans Leben
will« (Adorno 1960, S. 143). (Hier wird, ohne es so zu nennen, auf Populismus als
kulturindustrielle Politik angespielt. Dazu später.) Künstler kennen diesen Me-
chanismus und arbeiten auch damit: Sie provozieren die Konservativen, um, ver-
mittelt durch deren populistische Propaganda, die Aufmerksamkeit der liberalen
Öffentlichkeit zu erreichen.
Bei Festivals ist sehr offensichtlich, dass Kultur nach touristischen Direktiven
geplant (und angeeignet) wird. Die Tauglichkeit für Stadtmarketing und Standort-
konkurrenzen zwischen Städten ist insgesamt wesentlicher Teil von Kulturpolitik
und -verwaltung. Jede (Klein-)Stadt, die auf sich hält, leistet sich ein Museum für
Moderne Kunst und zwängt zeitgenössische Kunst, die zu einem nicht unerhebli-
chen Teil aus Aktionen besteht, in Ausstellungsformate. Genug der Beispiele.
Der Verwaltungsform können sich Künstler und andere Fraktionen der ge-
bildeten Klasse ebenso wenig entziehen wie der Warenform. Kurz und bündig
kommentiert Adorno diese naive und hohle Forderung: »dass das Bessere aus
eigener Kraft sich durchsetze, ist nichts mehr als ein erbaulicher Lebkuchen-
spruch« (Adorno 1960, S. 134). Man kann Verwaltung als Teil der Produktion aber
reflektieren.
Mit »verwalteter Welt« wird nicht nur ein Teil der intellektuellen Produktions-
mittel beschrieben. Vielmehr geht es um die permanente Verfügung über In-
dividuen, die darauf trainiert werden, sich selbst zu instrumentalisieren, sich selbst
in Kategorien von Verwertbarkeit zu definieren – oder ausgeschlossen, im Extrem
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 327

umgebracht zu werden. Faschismus ist der Modellfall für Verwaltungsdenken –


kein harmloses Spiel, vielmehr fortgeschrittene Herrschaftstechnik. In Kriegs-,
Vernichtungs- und Ausschließungspropaganda wird Verwaltungsdenken zur Ideo-
logieproduktion mit Menschenopfern. Wie Reklame (als Prototyp von Warenför-
migkeit) in Befehl und Propaganda übergeht, so ist Verwaltungsform – Denken in
vorgegebenen Kategorien, die Rede von »Massen« und Gemeinwohl bis hin zum
»Volkskörper« – Voraussetzung für jede Art von Propaganda (und die waren-
förmige Logik von Einschaltquoten und Zielgruppen).
Die gebildete Klasse ist nicht nur diesen Produktionsbedingungen unterworfen,
wie oben an Kulturarbeitern dargestellt, sie betreibt »verwaltete Welt« aktiv: in den
entsprechenden Berufspositionen in Verwaltung und Politik ohnehin, aber auch in
Wissenschaft und Journalismus. Hier wird das Vokabular ausgearbeitet und gesell-
schaftlich verfügbar gemacht. Dazu gehören rassistisches und biologistisches Den-
ken, Definitionen von »Kriminellen« und »Wahnsinnigen«, »Sozialschmarotzern«
und »Überflüssigen«, »Modernisierungs- und Globalisierungsverlierern«, aber
auch die positiven Bestimmungen wie »Zivilisation« (im Gegensatz zur »Barba-
rei«), »Leistungsträger«, »Elite«, insgesamt die vorteilhaften Zugehörigkeiten und
Selbstbezichtigungen.
Keine Bürokratie ohne Kapitalismus und kein Kapitalismus ohne Bürokratie:
Mit Waren- und Verwaltungsform als Bestimmungsstücken von Kulturindustrie
wird reflektiert, dass diese Herrschaftsform der permanenten Reproduktion und
Absicherung bedarf. Es reicht nicht aus, sie ökonomisch und politisch einmal
durchzusetzen, sie muss auch kulturell verankert werden.

Reflexivität
Die Perspektive, die Kritische Theorie auszeichnet, ist Reflexivität. Sozialwissen-
schaft bestimmt sich nicht durch ihren Gegenstand, sondern durch ihre Per-
spektive. Soziologie, das ist eine bestimmte Art, die Dinge der Welt und des Lebens
anzusehen – Reflexivität. Um diese Perspektive zu bestimmen, können wir nach
den anderen Arten von Wissen über Gesellschaft fragen, um im Kontrast deutlicher
zu sehen. Wissenschaftlich produziertes Wissen über Gesellschaft steht ja nicht
allein. Es baut vielmehr auf dem auf, was die Teilnehmer an der Gesellschaft schon
wissen, und es entsteht parallel zu (und in Wechselwirkung mit) dem Wissen, das
andere Einrichtungen der Wissensproduktion hervorbringen und verbreiten. So-
ziologie hat es also einerseits mit dem Alltagswissen über Gesellschaft zu tun und
andererseits mit dem spezialisierten operativen Wissen verschiedener Berufsstände,
besonders Verwaltung und Politik sowie – wegen ihrer Bedeutung extra zu nennen
– Kulturindustrie, von Werbung und PR, Journalismus und Propaganda bis Unter-
haltung und Kunst.
Expertenwissen, technisches Wissen ist in unserer Gesellschaft beruflich organi-
siert und zum Teil auch aus dem Bestreben entstanden, umschriebene Berufsbilder
abzugrenzen. Es unterscheidet sich vom Alltagswissen hauptsächlich dadurch, dass
es ziemlich explizit kodifiziert und damit schulisch vermittelbar ist. Mit allen
beruflichen Positionen ist ein bestimmtes Wissen über Gesellschaft verbunden, ein
328 Christine Resch und Heinz Steinert

technisches Wissen über Arbeitsabläufe und über die Arbeitskräfte, die sie durch-
führen, ein technisches Wissen auch über Kunden und wie man ihnen etwas
verkauft, ein technisches Wissen schließlich über Konkurrenten und was man
ihnen gegenüber tun kann und muss. Usw.usf. Schließlich wird Wissen über
Gesellschaft in beruflichen Positionen, die zur Kulturindustrie gehören, bearbeitet
und dargestellt, rein um an die Leute gebracht zu werden, sei es als Propaganda, sei
es als Unterhaltung einfacherer oder raffinierterer Art. Diese Industrie ist für uns
besonders relevant, weil sie unter anderem über eine Hauptabteilung »Wissen-
schaft« verfügt und auch sonst gern wissenschaftliche Sensationen und wissen-
schaftliche Autoritäten vorführt.
Sozialwissenschaftliches Wissen über Gesellschaft steht diesen konkurrierenden
Arten von Wissen nicht einfach gegenüber, es nimmt vielmehr vielfach an ihnen
teil. Auch Sozialwissenschaftler/innen sind zunächst Mitglieder ihrer Gesellschaft
und teilen als solche das in ihr verbreitete Wissen darüber, wie sie funktioniert. Mit
technischem Expertenwissen ist Soziologie identifiziert, sofern sie »angewendet«
werden soll. (Am stärksten institutionalisiert ist hier die Markt- und Meinungsfor-
schung, dazu kommen aber auch Erhebungen, die vor allem für die Planung und
Verwaltung in den verschiedensten Bereichen durchgeführt werden.) Schließlich ist
Soziologie mit dem kulturindustriellen Wissen besonders verbunden, insofern
dieses einen Teil seiner Informationen und – wichtiger – seiner Fragestellungen aus
der Wissenschaft zu übernehmen sucht. Sofern wir (schriftlich oder mündlich)
veröffentlichen, machen wir uns auch selbst zu einem Teil der Kulturindustrie.
Die sozialwissenschaftliche Aufgabe kann unter diesen Bedingungen nur das
Sicherstellen von Reflexivität sein. Das ist zugleich der Kern der Ideologiekritik
von Adorno und Horkheimer. Man kann sich den anderen Wissensformen, insbe-
sondere den kulturindustriellen nicht entziehen, man kann sie nur mit zum Gegen-
stand der Reflexion machen. Es ist Aufgabe von Reflexivität, an das in den
Selbstverständlichkeiten Ausgeblendete zu erinnern. Reflexivität heißt, auch in
Wissensfragen die gesellschaftlichen Konflikte zu benennen, um die es dabei geht,
und ihre strukturellen Ausgangspunkte kenntlich zu machen. Damit kann man
Bornierungen sichtbar werden lassen, sie vielleicht verhandelbar machen. Ohne
Frage ist das am schwierigsten, insofern wir aufgrund der eigenen Position – als
Gebildete, als Kopfarbeiter, als Frauen und Männer, als Angehörige einer Alters-
gruppe – in die Konflikte verstrickt sind.

4. Erweiterte Kulturindustrie

Kulturindustrie ist, heute besonders, eine Grundbedingung von gesellschaftlichem


Wissen. Wer sie nicht reflektiert, sitzt ihr auf. Kulturindustrie ist eine Dimension
von Vergesellschaftung und betrifft jeden Wissenschaftler, tatsächlich jeden in
seiner Eigenschaft als Kopfarbeiter. Mit der kapitalistischen Vergesellschaftung
über den Markt bestimmen Warenförmigkeit, Verwaltung und populistische Politik
die gesamte Wissensproduktion. Das bedeutet eine entscheidende Veränderung der
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 329

Produktionsmittel der Gebildeten. Mit Kulturindustrie ist der gesamte Bereich


dieser Wissensproduktion gemeint.
Seit Horkheimer und Adorno in den späten 1940er Jahren ihre Theorie der
Kulturindustrie vorgelegt haben, hat sich der gesellschaftliche Status der gebildeten
Klasse und ihre interne Struktur und damit Kulturindustrie verändert. Kultur-
industrie ist ein Begriff, der für gegenwärtige Zwecke erst weiter entwickelt werden
muss.

Affirmative und kritische Reflexivität


Reflexivität ist schwieriger geworden: nicht zuletzt, weil sich Kulturindustrie auf
weite Strecken selbst reflexiv gibt. Sie liefert uns das Wissen über Kulturindustrie
selbst mit. Sie manipuliert uns nicht heimlich, sondern lässt uns genau wissen, mit
welchem Aufwand sie sich um uns bemüht. Ideologien werden zusammen mit
ihrer Kritik geliefert: Peter Sloterdijk hat das seinerzeit als »zynische Vernunft«
benannt. Die klassische Form von Kritik ist längst kulturindustriell vereinnahmt.
Kulturindustrie ist selbst reflexiv geworden und zögert nicht, »beabsichtigte Mani-
pulationen« explizit zu machen.
Die Mühen, die unternommen werden, um uns zu gewinnen, sind der Beweis
für die Bedeutung, die wir haben. Uns von diesen Anstrengungen wissen zu lassen,
entspricht der Werbung, wie sie der alte Wanderzirkus praktiziert hat: »Die
Direktion hat weder Kosten noch Mühen gescheut.« Mit der ohnehin zwei-
felhaften Annahme, wir würden durch unterschwellige und unbewusste Strategien
vereinnahmt, hat das nichts zu tun. Wir durchschauen die Kulturwaren, aber wir
wollen als »König Kunde« behandelt werden, und das hat nie bedeutet, dass die
Wahrheit gesagt wird. Vielmehr erwarten wir, dass uns die enormen Anstrengun-
gen vorgeführt werden, die notwendig sind, um uns dazu zu bringen, unsere
Stimme für einen bestimmten Kandidaten abzugeben, ein Produkt zu kaufen
usw.usf.
Wie Kulturindustrie funktioniert, lernen wir aber auch auf andere Weise. Me-
dien – Theater, Zeitung, Film, Fernsehen, Werbeagenturen, Wahlkampagnen – sind
ein attraktives Milieu für Reportagen und Romane, Filme und Fernsehspiele. Dazu
kommen das inzwischen populäre Genre »The Making of …« sowie Fanzeitungen
und -bücher, die zu jedem erfolgreichen Produkt mitgeliefert werden. Wir wissen
mehr über die Lebensweise »unserer Stars« als über die unserer »wirklichen«
Nachbarn und Kollegen. Und wenn es sich dabei um gefälschte Informationen
handelt, erfahren wir das auch – aus anderen Publikationen.
Auf diese und ähnliche beabsichtigte oder unbeabsichtigte Weisen produziert
Kulturindustrie selbst eine Form von Reflexivität: Wir beziehen unser Wissen über
Medien aus den Medien. Mit »Reflexivität als Kritik« hat das freilich nicht viel zu
tun. Vielmehr wird Reflexivität affirmativ gewendet. Das geschieht nicht nur als
Selbstdarstellung von Medien. Praktisch alle Institutionen verfügen über Me-
chanismen der bewussten Selbststeuerung, die von begeisterten Sozialwissenschaft-
lern als »reflexiv« beschreiben werden. (Ein gutes Beispiel für solche affirmative
Reflexivität bieten die Beiträge von Beck und Giddens in Beck et al. 1994.)
330 Christine Resch und Heinz Steinert

Affirmative Reflexivität beschreibt eine avanciertere Form von Herrschaft:


Regulation durch permanentes Feedback und antizipiertes Feedback. Selbstreferen-
tielle Anteile in den verschiedenen Medien machen Material für kritische Reflexivi-
tät zugänglich, aber konstituieren sie nicht.
Kritische Reflexivität bedeutet dagegen, die Aspekte von Herrschaft zu analy-
sieren, die in unseren Begriffen und Verständnissen selbstverständlich enthalten
sind. Eine solche Analyse ermöglicht Rückschlüsse auf die Herrschaftsverhältnisse
und darauf, wie, nicht zuletzt mit diesen Begriffen und Verständnissen, gesell-
schaftliche und individuelle Befreiung verhindert wird.

Beispiel 1: Affirmative Reflexivität im Politikmarketing


Nachdem in den 1990ern die Sozialdemokraten in den USA (wo man die Clinton-
Democrats so verrechnen kann), in GB und in D die Regierungsmacht über-
nommen hatten, kursierten neue Zauberwörter in der politischen Öffentlichkeit.
Allenthalben war von »fairer Politik« die Rede, und den »dritten Weg« machte
Tony Blair nicht zuletzt damit plausibel, dass er ihn auf die Niederungen des
Alltags bezog: Bei der Geburt seines letzten Kindes erklärte er, er wolle einen
»dritten Weg« suchen, nicht abwesender Vater und nicht Hausmann sein. Kom-
plexe wirtschaftliche und politische Vorgänge werden mit Erfahrungen in der
Kleinfamilie analogisiert, damit sie jeder verstehen kann. (Staatsbudget = Haus-
haltsbudget ist eine weit verbreitete Form dieser Propaganda.) Das entspricht der
Logik von populistischer Politik. Auch Gerhard Schröder war auf der Suche nach
einem allgemeinen Etikett. Eine solche Formel muss sich deutlich von denen der
konkurrierenden Parteien unterscheiden (auch dann, wenn die Politik dieselbe ist),
und sie muss »vom Volk« angenommen werden. Schröder musste seine (CDU-)
Politik – Modernisierung, Privatisierung, Abbau des Sozialstaates – auf einen
sozial(demokratisch) verträglichen Begriff bringen und scheiterte mit seiner Idee:
»Der Kanzler will die ›Zivilgesellschaft‹ zum Markenzeichen seiner Politik machen. Doch die
meisten Deutschen können mit dem Wort nichts anfangen. Sie verbinden damit den Zivil-
dienst oder eine Polizei ohne Uniform. Deshalb sollte Schröder besser von der ›zivilcoura-
gierten Gesellschaft‹ reden, einer Gesellschaft aus sich einmischenden Individuen.« (Ulrich
Beck, in: Die Zeit, 25. Mai 2000, S. 11)
»Bei Umfragen vermutet ein Drittel der Befragten, es gehe um ›Zivildienst‹ oder jedenfalls
eine Abgrenzung vom Militär. Ebenso wird der Begriff vom ›aktivierenden Staat‹, den
Wissenschaftler gern im gleichen Atemzug verwenden, falsch gedeutet. In der Regel vermuten
die Befragten, der Staat wolle seine Kompetenzen erweitern.« (Elisabeth Niejahr, in: Die Zeit,
16. März 2000, S. 22)

Wenig später wurde mitgeteilt, der Kanzler habe den Begriff »Zivilgesellschaft« ad
acta gelegt. Er blieb der Szene der NGOs und Protestbewegungen zur Selbst-
benennung erhalten. (Zur Klärung des Begriffs und zur Kritik seiner Verwendung
vgl. Demirovic 1997, Kap. 9 und 10.)
Ulrich Becks Vorschlag, von einer »zivilcouragierten Gesellschaft« zu reden,
hatte einen entscheidenden Vorteil. Er war auf vertraute Diskussionen beziehbar:
Die Gewalt nehme zu und auch »Zuschauen ist Gewalt«, Bürger mit Zivilcourage
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 331

sehen nicht nur hin, sondern tun was. So wurde es jedenfalls in Anzeigen-
kampagnen propagiert. Wie bei Blairs Übersetzung des »dritten Wegs« konnte sich
jeder vorstellen, in eine solche Situation zu geraten.
An dieser politischen Strategie ist noch etwas anderes interessant. Hier wird uns
offen mitgeteilt, dass es bei populistischer Politik nicht um Inhalte geht, sondern
um ein »Label«, mit dem man Wahlstimmen gewinnen kann. Wenn ein Begriff
nicht populär gemacht werden kann, entscheidet sich die politische Klasse eben für
einen anderen. Es ist uns längst vertraut, dass die Verhandlungen, welche Partei mit
welchem Thema um die Stimmen der Wählerinnen und Wähler kämpft, schon Teil
des Wahlkampfes sind. So überrascht es auch niemanden, dass Wahlkampfverspre-
chen nicht eingehalten werden. Das klagt niemand ein (entsprechende Ideen der
CDU 2002 waren gewollt naiv), und alle wissen, dass es darum auch nicht geht.
Die Frage ist nicht mehr, wie eine reale Politik so verpackt wird, dass sie
wahlkampftauglich ist. In der »erweiterten Kulturindustrie« sind instrumentelle
Politik und Wahlkampfpolitik zwei weitgehend getrennte Bereiche. Die eine wird
gemacht, die andere dargestellt – und das wird offen gesagt: Wir werden darüber
auf dem Laufenden gehalten, mit welchen Schlagworten wir weichgeklopft werden
sollen – es gibt kein klareres Beispiel für affirmative Reflexivität. Die Wähler
antworten (angemessen) mit »Politikverdrossenheit«.

Populismuskritik
Gegenwärtig sind Schlagworte wie »Mediendemokratie«, »Infotainment« oder
»Politainment« geläufig. Sie werden als Vorwurf an Journalisten verwendet, sie
seien nicht mehr der Aufklärung verpflichtet. Diese Schlagworte sind auch dann
beliebt, wenn öffentliche Inszenierungen der Politiker, ihre Selbstdarstellungs-
kompetenzen und ihre Fähigkeit, eine »gute Show« zu bieten, beschrieben werden.
In der Kulturindustrie-Theorie ist aber eine viel umfassendere politische Theorie
angelegt. Als Prototyp von Kultur unter kulturindustriellen Bedingungen wird
Werbung bestimmt, die wiederum fließend in Propaganda übergeht.
Wenn man das Kapitel über Kulturindustrie auf die Arbeiten von Horkheimer,
besonders seinen Aufsatz »Egoismus und Freiheitsbewegung« (1936) bezieht, wird
deutlich, was damit gemeint ist. In diesem Aufsatz analysiert Horkheimer politi-
sche Agitation, die sich im Kampf gegen die Herrschenden und mit eigenem
Machtanspruch instrumentell auf die Massen beruft. Er beschreibt – ohne den
Begriff zu verwenden – verschiedene historische Ausprägungen dessen, was wir
heute Populismus nennen: Populismus wird als Politikform bestimmt (vgl. Steinert
1999).
Populismus ist kulturindustrielle Politik.
Populismus stellt – im Gegensatz zu Interessenpolitik – Identifikation mit einem
großartigen Großen & Ganzen her, ist Identitätspolitik. Statt Interessen werden
übergreifende Kategorien bestimmt, die Zugehörigkeit und damit soziale Aus-
schließung definieren.
Populismus hebt statt politischen Programmen einzelne großartige Persönlich-
keiten hervor, die das Gemeinwohl/das Große & Ganze/den Staat repräsentieren
und mit denen man sich identifizieren soll.
332 Christine Resch und Heinz Steinert

Populismus konstituiert ein passives politisches Subjekt, das nur als Inhaber
einer Wahlstimme interessant ist, als Teilchen »des Volkes«, mit dem man der
herrschenden Fraktion droht. Das Individuum wird klein und nichtig gemacht, in
seiner nationalen Identifikation und Zugehörigkeit ist es aber Teil des Großen &
Ganzen, das als selbstbewusst gewordene Nation den Weltenlauf mitbestimmt.
Erweiterte Kulturindustrie, so lässt sich das Gesagte zusammenfassen und auf
die allgemeinste Formel zuspitzen, ist eine Theorie über strukturellen Populismus
in der Produktion von Wissen, vor allem von politischem Wissen. Der Begriff lässt
sich aber verallgemeinern: Zum Beispiel kann man mit Gewinn von »Markt-
populismus« und »Kulturpopulismus« sprechen (vgl. Frank 2000; McGuigan
1992).

Beispiel 2: »The Bell-Curve-Debate«


Die Debatte über die »Bell Curve« (dokumentiert in: Jacoby/Glaubermann 1995)
in den USA trifft eine nationale Empfindlichkeit: Rassismus gegenüber den African
Americans. Mit der genetischen Begründung von geringerer Intelligenz der
Schwarzen liefern die Autoren Herrnstein und Murray eine Legitimation für
soziale Ungleichheit, die zudem eine politische Handlungsanweisung enthält:
wohlfahrtsstaatliche Zuwendungen an Benachteiligte sind »rausgeworfenes Geld«.
In dieser Debatte wird die Beurteilung von sozialer Ungleichheit und ihren
Konsequenzen verhandelt. Es geht um wohlfahrtsstaatliche Zuwendungen und wie
man sie reduziert. Herrnstein und Murray verwenden ein biologistisches Argu-
ment, um eine »Leistungselite« zu rechtfertigen. Es geht in dieser Debatte auch
über die Bedeutung von Geschichte für das gegenwärtige Leben, um ihre Irrele-
vanz im Vergleich zu genetischen Bestimmungen. Es ist vor allen Dingen eine
Debatte darüber, wie die weiße Hegemonie erklärt und legitimiert wird.
Das Buch hat scharfe Reaktionen ausgelöst. Auch die sind bemerkenswert. Hier
dominiert Methoden- (und nicht Ideologie-)Kritik oder aber, es werden immanente
Widersprüche in der Argumentation aufgezeigt. Das szientifische Selbstmissver-
ständnis wird reproduziert. Eine der zentralen Einsichten, die sich aus dieser
Debatte gewinnen lassen, ist, dass sich Rassismus dieser Tage hinter »harten«
wissenschaftlichen Methoden verbirgt. Die Idee, individuelle Fähigkeiten seien
messbar und begründeten die soziale Position, die einer einnimmt, ist der Hinter-
grund für die Plausibilität des »Bell-Curve«-Arguments. Die Kritiker teilen nur
nicht die Vorannahme, dass das die Folge eines angeborenen IQs sein soll. Sie
plädieren stattdessen für Erziehung und (Aus-)Bildung und halten so die »wahre«
Leistungsgesellschaft hoch.
Erst die ideologiekritische Analyse der Positionen, die die liberalen Kritiker
einnehmen, macht auf die klassenpolitische Dimension aufmerksam. Die Autoren
und ihre Kritiker eignen sich Intelligenz/Bildung als Persönlichkeitsmerkmal an
und legitimieren/reproduzieren damit ihren gesellschaftlichen Status, der allein
persönlichen Kompetenzen zuzuschreiben sei, und die vorherrschende Ideologie
von Leistungsgesellschaft und Wissensökonomie. Dass soziale Ungleichheit ge-
rechtfertigt ist und einen vernünftigen Grund hat, ist allen gleichermaßen plausibel.
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 333

Erst die Reflexion, dass die gebildete Klasse unterstellt, »Bildung« als Merkmal
spalte Gesellschaft mit Fug und Recht, macht aus Kritik Ideologiekritik, die nach
wie vor notwendig ist, wenn sie mit einer Gesellschaftstheorie verbunden wird.

Ideologiekritik
Das Kernstück der Kritischen Theorie ist Ideologiekritik. Dass Kritische Theorie
so leicht als veraltet definiert werden kann, hat auch damit zu tun, dass mit der
Postmoderne Ideologiekritik als unzulänglich verabschiedet wurde. Eine »Krise«
der Ideologiekritik wird auch damit begründet, dass mit jedem Satz (und Produkt)
der Hinweis, wofür und für wen das gut ist, gleich mitgeliefert wird. Da will uns
niemand etwas vormachen, da gibt es nichts mehr aufzudecken. Die Erfahrung, mit
der diese Haltung begründet wird, ist freilich nicht neu und wurde schon von
Horkheimer und Adorno reflektiert. Dass Ideologiekritik damit schon obsolet sei,
ist ein Kurzschluss. Im Gegenteil: Ideologiekritik ist immer noch notwendig,
immer noch die adäquate Form, sie ist nur komplizierter geworden (vgl. Adorno
1949).
Die voreilige Verabschiedung von Ideologiekritik hat damit zu tun, dass die
Dialektik der Aufklärung häufig als Theorie über das Ende von Dialektik gelesen
und eindimensional als Verschwörungstheorie interpretiert wird. Gegen dieses
Verständnis benennt und diskutiert Ritsert (2002) vier »ideologietheoretische Zent-
raltheoreme« des Kulturindustrie-Kapitels. Kulturindustrie ist nicht einfach eine
gigantische Manipulationsmaschine. Dieser unterstellten Beschreibung zuzustim-
men oder sie als nicht angemessen abzulehnen, geht an der Sache vorbei. Ritsert
analysiert gegen derart simplifizierende Deutungen die vielfältigen Widersprüche
und komplizierten Vermittlungen (von Gegensätzen in sich), die von Adorno und
Horkheimer mit diesen Theoremen reflektiert werden. Dabei zeigt er: Befreiungs-
theoretisches Nachdenken über Gesellschaft ist notwendig ideologiekritisches
Denken.
Unideologisch ist nur der Gedanke, »der sich nicht auf operational terms
bringen lässt, sondern versucht, rein der Sache selbst zu jener Sprache zu verhelfen,
welche ihr die herrschende sonst abschneidet« (Adorno 1949, S. 24). Diese Denk-
figur ist vertraut: Kunst ist dann ein Statthalter für Befreiung, wenn sie sich die
Probleme von der Sache vorgeben lässt und nicht auf Verkäuflichkeit schielt.
Adorno argumentiert analog, wenn er auf gesellschaftliche Wissensproduktion
reflektiert. Ideologiekritik ist damit nicht einfach eine Analyse der impliziten (und
zunehmend ohnehin explizit gemachten) Interessen. Vielmehr setzt ideologie-
kritisches Denken Herrschaftsanalyse voraus. Unter Bedingungen einer erweiter-
ten Kulturindustrie, die der gebildeten Klasse die Produktionsmittel vorgibt, die sie
als Apparat nutzt, um ihre gesellschaftlichen Hegemonie-Ansprüche durchzu-
setzen, kann von Ideologiekritik nur dann die Rede sein, wenn die gebildete Klasse
selbstreflexiv ihre gesellschaftliche Position in jede Kritik eines Gegenstands ein-
bezieht. Dass genau das nicht geschieht, haben wir am Beispiel der »Bell-Curve-
Debatte« veranschaulicht. Ideologiekritik ist nicht obsolet, sie wird nur zu wenig
praktiziert.
334 Christine Resch und Heinz Steinert

Beispiel 3: Kulturindustrie und Alltag


Auch Alltag ist wie Sozialwissenschaft kein Bereich des gesellschaftlichen Lebens,
sondern eine Perspektive: das selbstverständliche und nicht problematisierte Wis-
sen und Können, mit denen man das eigene Leben und die übernommenen
Aufgaben in der Gesellschaft bewältigt (vgl. Soeffner 1989). Alltag, das sind die
Dinge und Ereignisse des Lebens, die man routiniert erledigt. Kulturindustrie ist
daran nicht unbeteiligt. Kulturindustrie stellt den gesellschaftlichen Konsens dar,
präsentiert Weltanschauungen und verpflichtet uns auf Denkweisen. Wir üben
akzeptierte Verhaltensmuster und Erklärungen für die Dinge des Lebens ein. Mit
der Notwendigkeit von Gentechnologie, von der wir nichts verstehen, werden wir
etwa durch eine Allgegenwart von Biologismen vertraut gemacht.
Gelegentlich wird kulturindustriell aber auch daran gearbeitet, die alltäglich
selbstverständlichen Vorgänge zu verkomplizieren. Kulturindustriell angebotenes
Wissen macht aus souverän gemeisterten Situationen riskante Begebenheiten, die
komplexe Entscheidungen erfordern und damit Informationsbedarf herstellen. Am
evidentesten drückt sich das in den zahlreichen und ausdifferenzierten Beratungs-
angeboten aus, die uns aufgedrängt werden.
Beratungen – Vermögens- & Karriere-, Psycho- & Gesundheits-, Ehe- & Erzie-
hungs-, Computer- & sonstige Technik-, Einkaufs- & Öko-Beratungen, usw.usf. –
überformen unser Alltagswissen durch warenförmige Angebote. Ratgeber normie-
ren und disziplinieren das Alltagsleben mit stereotypen Regeln und Weisheiten.
Die grobe Verständigung über das, was noch geht und was nicht mehr möglich ist,
wie wir sie in informellen Gesprächen aushandeln (Klatsch und Tratsch; Rat, den
wir bei Leuten mit mehr Erfahrung suchen), wird durch einen Regelkanon ersetzt.
Dazu kommt die Ideologie, es seien persönliche Fertigkeiten, die über die soziale
Position entscheiden, die einer einnimmt. Beratungen sind Trainings-Seminare zur
gekonnten Selbsteinordnung und -instrumentalisierung. Jeder ist individuell für
seine Karriere und seine Gesundheit, für das Glück in der Ehe und dafür, dass die
Kinder nicht missraten, verantwortlich. Alles lässt sich lernen und gestalten. Wenn
es nicht gelingt, sind Sie selbst schuld, dann haben Sie die magischen Formeln nicht
genau genug beachtet, die einzig den Erfolg garantieren. Jedenfalls haben Sie
wieder ein Problem – und Beratungsbedarf. (Arlie Russell Hochschild 1990, 1995,
redet in diesem Kontext vom »kommerziellen Geist des Intimlebens«.)
Aber nicht nur der Alltag ist von Beratung umstellt. Dazu kommen die Beratun-
gen der Herrschenden – als Politik- und Unternehmensberatung. Beratung, das ist
das Unternehmertum der Wissensgesellschaft, die Herrschaft der Wissensgesell-
schaft. In der Diagnose, wir lebten in einer »Wissensgesellschaft«, drückt sich der
Anspruch der gebildeten Klasse auf Hegemonie aus, die sie mit ihrem privilegierten
Zugang zu Kulturindustrie durchsetzt.

Macher, Berater und Manipulierte – die Herrschaft der Wissensgesellschaft


Mit der »Wissensgesellschaft« hat sich Kulturindustrie verallgemeinert: Warenför-
migkeit von Kulturprodukten ist selbstbewusst vorgetragenes Hoffnungsgebiet der
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 335

wirtschaftlichen Entwicklung geworden. Was ein mit Unbehagen kritisch beob-


achtetes und begrenztes Phänomen war, wird zumindest als Quelle von Ein-
kommen, wenn nicht als Lösung vieler Probleme propagiert. Indem die Produk-
tion »immateriell« wird, entsteht nicht nur ungeahnte Wertschöpfung im Bereich
von Beratung und Diensten, es wird zugleich die Welt alle Grenzen überschreitend
kommunikativ »vernetzt«. Von Lash and Urrys Economies of Signs and Space
(1994) bis zu Manuel Castells’ dreibändiger Analyse des Informationszeitalters und
der Netzwerkgesellschaft (1996/97/98) gilt Wissen als Produktivkraft der Zukunft.
Die Idee ist nicht so neu. Sie hatte schon in den 60er Jahren und in der
Studentenbewegung eine Rolle gespielt: der gebildete Lohnarbeiter und die pro-
letarisierte wissenschaftlich-technische Intelligenz würden ein gemeinsames Motiv
für eine sozialistische Orientierung entwickeln. Alvin Gouldner (1979) hat schon
deutlich das schwierige Verhältnis zwischen Lohnarbeit und radikalisierter Intelli-
genz benannt, mit dem die Studentenbewegung einige nicht so ermutigenden
Erfahrungen machen musste. Zugleich haben die Studenten ihre Avantgarde-
legitimation daraus bezogen, dass der von ihnen vertretene Wissensanteil der
gesellschaftlichen Arbeit genauso unverzichtbar sei wie der handarbeiterische. Die
beiden sollten stärker zusammengeführt werden.
Seither hat sich das Motiv eher dahin gewandelt, dass körperliche Arbeit und die
ihr zugeordnete große Industrie für unbeachtlich bis bedenklich erklärt wurden.
Stattdessen liege die Zukunft in der Wissensökonomie. Die Evidenz dafür wurde in
der Schließung von Kohlebergwerken und Stahlschmelzen, im Untergang der
westeuropäischen Schwerindustrie überzeugend geboten. Nach dem anfänglichen
Schock (der in GB bürgerkriegsähnliche Auseinandersetzungen einschloss) wurde
in den Kohlerevieren – mit mehr oder weniger Erfolg – auf Medien- und Compu-
terarbeit umgestellt. Als es schließlich wieder »blauen Himmel über dem Ruhrge-
biet« gab, war die auch ökologische Überlegenheit der Wissensgesellschaft unter
Beweis gestellt. Der wirtschaftliche und politische Untergang der kommunisti-
schen Arbeiter- und Bauernstaaten deutete in dieselbe Richtung: Nach der in-
dustriellen Gesellschaft kommt die Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft. Das
geforderte Wissen konzentriert sich auf gekonnten Umgang mit Computer und
Internet.
Eine Suggestion des Begriffs »Wissensgesellschaft« – und häufig auch explizite
Ableitung aus ihm – ist, dass alle jetzt umfassendes und jedenfalls viel mehr Wissen
haben müssten. Tatsächlich ist die Wissensgesellschaft aber eine Gesellschaft des
enteigneten Wissens: Sie funktioniert darüber, dass Experten für alles und jedes den
anderen klar machen, wie notwendig sie ihre Beratung in allem und jedem brau-
chen. Die Verkäuflichkeit dieser Beratung hängt genau davon ab, dass die anderen
wissen, dass sie nicht wissen. Die Wissensgesellschaft braucht verbreitet Halb-
wissen, gerade genug, dass man um den Beratungsbedarf weiß, gerade genug, dass
man die Geräte anschafft, die man dann alleine nicht bewältigen kann (vgl. Laster/
Steinert 2002a). Die Wissensgesellschaft ist eine Gesellschaft von Lehrern und
Beratern. Ihr wichtigster Rohstoff ist nicht, wie behauptet wird, Wissen und
Information, sondern das Bewusstsein ihres Fehlens.
Die Wissensgesellschaft beruht auf einer Offensive der gebildeten Klasse: Sie
336 Christine Resch und Heinz Steinert

schiebt sich zwischen die Herrschenden und die Beherrschten. In der heutigen
Situation sind es diese Gebildeten, die mit ihren Theorien (zur Zeit ein forcierter
Ökonomismus und Marktpopulismus) um Anerkennung ringen und werben und
sie auch hinreichend bekommen. Sie haben sich durchgesetzt. Die Erfahrung mit
der Welt wurde von der Wirksamkeit der Gebildeten, von deren Organisations-
talent auf die Erfahrung mit Gebrauchsanweisungen reduziert, besonders kompli-
zierte Gebrauchsanweisungen etwa im Fall des Computers, aber zuletzt nicht mehr
als das.

Die Breite der gesellschaftstheoretischen Anwendung


»Kulturindustrie«, so haben wir hier argumentiert, ist ein Zentralbegriff von
Kritischer Gesellschaftstheorie. Er wird aber derzeit, so haben wir auch gezeigt,
vorwiegend affirmativ verfälscht oder gleich ganz (und zum Teil erstaunlich rüde)
abgelehnt. Das hat mit der realen Situation zu tun. Schon unmittelbare Adorno-
Schüler haben mit Werbeagenturen und Meinungsforschung so viel Geld gemacht,
dass sie sich den Luxus eines schlechten Gewissens gut leisten konnten. Inzwischen
ist bei den meisten diese Scham vorbei: In den »cultural industries« zu arbeiten, ist
chic und erstrebenswert. Einige, die noch nicht so souverän (oder so blauäugig)
sind, müssen den Anspruch der Kritischen Theorie aggressiv zurückweisen. Ihnen
ist der Begriff »Kulturindustrie« in dem Maß ärgerlich, in dem sich die Sache
verallgemeinert hat. Nur so ist die schnöde Häme zu erklären, mit der gelegentlich
über Adorno hergezogen wird. In dieser Situation haben wir uns darauf konzent-
riert, die Vielfalt der Bezüge aufzuzeigen, in denen der Begriff steht und verwendet
werden sollte.
Die Untersuchung hat gezeigt, dass mit »Kulturindustrie«, weit über eine
Medientheorie hinaus, eine Theorie der Wissensproduktion unter den Bedingungen
der Trennung von Hand- und Kopfarbeit angesprochen wird. Daraus ergibt sich
die Kritik dieses Wissens, das von Spezialisten zu instrumentellen Zwecken erzeugt
und vorgegeben wird. In der Beflissenheit, mit der wir uns als Abnehmer genau um
diese Form von Wissen bemühen, von deren Einsatz uns ein Ein- und Fort-
kommen versprochen wird, pflegen wir die erfahrungslose »Halbbildung«, die
Adorno (1959) diagnostiziert hat. Der Umbau der Universitäten für die Zwecke
der Wissensgesellschaft, in der die instrumentelle Nützlichkeit des Wissens Pro-
gramm ist, verbaut einen der Orte von kritischer Reflexivität. Indem sich auch die
Sozialwissenschaften dem anpassen, machen sie sich überflüssig: Instrumentellen
Einsatz von Wissen beherrschen die Juristen aus einer langen Tradition ungleich
raffinierter und Betriebswirte und Informatiker zeitgemäßer und schnittiger. Die
Aufgabe der Sozialwissenschaften ist Kritik dieser Wissensform, ihre Rückführung
auf die gesellschaftlichen Zustände, die sie hervorbringen.
Die gesellschaftstheoretische Relevanz der Analyse von Kulturindustrie war nie
höher als jetzt, in der »Wissensgesellschaft«. Der Widerstand dagegen auch nicht.
Kulturindustrie: Konflikte um die Produktionsmittel der gebildeten Klasse 337

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Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur
Gerhard Schweppenhäuser

1. Ästhetik und Gesellschaftstheorie im Institut für Sozialforschung

Die Kritische Theorie war die begriffliche Konstruktion struktureller und his-
torischer Wesensmerkmale der hoch- und spätkapitalistischen Gesellschaft und
ihrer Antagonismen. Diese Konstruktion war materialistisch und normativ; sie
geschah in Begriffen, die beschreiben, was ist, und antizipieren, was sein soll und
sein könnte. Von Anfang an hatten dabei Kunst und Theorien des Ästhetischen
einen hohen Stellenwert im Forschungsprogramm. Im ersten Heft der Zeitschrift
für Sozialforschung erschienen 1932 programmatische Aufsätze »Zur gesellschaft-
lichen Lage der Literatur« und »Zur gesellschaftlichen Lage der Musik«. Ihre
Autoren Leo Löwenthal und Theodor W. Adorno nahmen keine kunstsoziologi-
schen Reduktionen ästhetischer Gehalte auf die gesellschaftliche Positionierung
ihrer Urheber vor, was die Titel und der damalige Stand der Kunstsoziologie
vielleicht vermuten lassen könnten. Sie gaben mustergültige Darstellungen, wie sich
in ästhetischen Gebilden – die zwar nie autark sind, aber als Kunstwerke sehr wohl
autonom sein können – gesellschaftliche Erfahrungen niederschlagen.
Löwenthal bezeichnete es als die Aufgabe einer soziologisch, historisch, ökono-
misch und sozialpsychologisch inspirierten Literaturwissenschaft, »zu untersu-
chen, was von bestimmten gesellschaftlichen Strukturen in der einzelnen Dichtung
zum Ausdruck kommt und welche Funktion die einzelne Dichtung in der Gesell-
schaft ausübt« (Löwenthal 1932, S. 317). »Fragen der Form, des Motivs wie des
Stoffs haben in gleicher Weise sich der materialistischen Betrachtungsweise zu
eröffnen« (Löwenthal 1932, S. 320). Ähnliche formale Mittel wie offene Dialoge
oder die auktoriale Beschränkung auf Kommentare wurden auf die unterschiedli-
chen Bedeutungen hin transparent gemacht, die sie in verschiedenen sozialen und
historischen Stadien haben. Löwenthal verglich z. B. den jungdeutschen Gutzkow
mit dem Impressionismus des späten Fontane und Schnitzlers. Er zeigte, dass »das
moderne Gespräch der bürgerlichen Gesellschaft« bei jenem die post-traditionale
Vorstellung informierter, autonomer Subjekte in einem liberalen, ergebnisoffenen
Kontext zum Ausdruck bringt und damit die Zuversicht über die Möglichkeiten
des Individuums. Das demonstrative Zurücktreten der späteren Autoren in ihren
Texten sei dagegen von einer Verunsicherung getragen. Diese Verunsicherung habe
einerseits das Unvermögen bewirkt, noch einmal verbindliche Theorien zu kon-
zipieren, die der eigenen literarischen Produktion zu Grunde gelegt werden;
anderseits belege sie eine selbstkritische Sensibilität der liberalen Bürger, die spür-
ten, dass ihrer Epoche die Stunde geschlagen hat (Löwenthal 1932, S. 321 f.).
Löwenthals Methode war widerspiegelungstheoretisch, aber ihr fehlte die miss-
liche Ausblendung ästhetischer Eigenlogiken, die diese Methode in der kom-
munistischen Orthodoxie rasch zum schematischen Instrument der Gesinnungs-
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 341

prüfung und -überwachung machte. Die Deutung des ästhetischen Sinns eines
literarischen Kunstwerks und die Entzifferung seiner gesellschaftlichen Bedeutung
sind nach Löwenthal nicht von einander zu trennen.

1.1. Autonomie, Utopie und Glücksversprechen


Die Tendenz, Kunstwerken eine genuine Logik der Form zuzuerkennen, der sie
allein verpflichtet seien, begriffen die Autoren der Kritischen Theorie als eine
Entwicklung, die von hoher ästhetisch-immanenter Relevanz ist und gleichwohl
selbst sozialen Bedingungen unterliegt. Adornos berühmte, auf Durkheim an-
spielende Formel aus seiner Ästhetischen Theorie, der zufolge ein Kunstwerk
immer zugleich autonom und fait social sei (Adorno 1970, S. 334), war der kunst-
soziologische Kompass für die Beiträge, die er, Löwenthal, Herbert Marcuse, Max
Horkheimer und Walter Benjamin für die Zeitschrift für Sozialforschung schrieben.
(Sie galt auch für Siegfried Kracauer, dessen theoriebildende Rolle nicht unter-
schätzt werden darf, auch wenn er im Institut für Sozialforschung ebenso wie
Benjamin eine randständige Position einnahm.)
Die ›autonom-und-fait-social‹-Formel hat ästhetisch-philosophische, kunstso-
ziologische und geschichtsphilosophische Implikationen. In aller Kürze sagt sie:
Kunstwerke artikulieren subjektive sowie objektive historisch-soziale Erfahrungen
und Kognitionen, und zwar auf spezifische Weise, nämlich nicht begrifflich, son-
dern anschaulich; deshalb sind sie dabei immer auch Manifestationen ästhetischer
Freiheit. Die Autonomie der Kunst, ihre »Verselbständigung der Gesellschaft
gegenüber«, ist Adorno zufolge eine »Funktion des [. . .] bürgerlichen Freiheits-
bewusstseins« (Adorno 1970, S. 334). Die gesellschaftliche Dialektik der Kunst-
produktion und -rezeption sieht aus dieser Perspektive so aus: Freiheit ist konse-
quente Dysfunktionalisierung, ein Gebot der ihrer selbst bewusst werdenden
Ästhetik – doch sie geht funktional aus einem sozialen Bedürfnis hervor. Diese
Doppelperspektive ist aber immer auch eine philosophische. Während sich die
Sachgehalte der Kunstwerke den Rezipienten und Interpreten nämlich über ihre
Stoffschicht erschließen, sind ihre Wahrheitsgehalte nur durch die Analyse ihrer
Formgesetze (und deren Relationen zur Stoffschicht) zu konzeptualisieren. Damit
ästhetische Geltungsansprüche nicht durch die Erklärung gesellschaftlicher Gene-
sen relativiert werden, ist eine philosophische Theorie der Ästhetik unverzichtbar.
Kunstwerke, so Marcuse, machen hörbar oder sichtbar, was ist und sein könnte,
indem sie Inhalte sinnlich und semantisch formen, nach Strukturgesetzen organi-
sieren. Kunst sei eine Form der Erkenntnis; eine Sprache sui generis, zugleich
Mitteilung und Ausdruck. Das komme in den individuierten Gebilden durch ihren
Stil zu Stande: durch das Strukturprinzip, nach dem ihre Teile in ein organisiertes
Verhältnis zum Werkganzen gebracht würden. Damit, erläuterte Marcuse 1968,
begebe Kunst sich in einen Gegensatz zur Alltagspraxis, deren humane Anliegen
sie doch teile.
»Indem die Kunst ihre eigene Form, ihre eigene ›Sprache‹ schafft, bewegt sie sich in einer
Dimension der Wirklichkeit, die der Alltagswelt antagonistisch gegenübertritt, jedoch so, daß
Worte, Klänge, Musik in der Verwandlung, ja Verklärung der je gegebenen Bilder des Alltags
342 Gerhard Schweppenhäuser

deren vergessene oder verzerrte Wahrheit ›bewahren‹, indem sie ihnen ihre eigene ›schöne‹
Form, Harmonie, Dissonanz, Rhythmik usw. verleihen.« (Marcuse 2000, S. 90; vgl. dazu
Koppe 1992)
Die Ästhetik der Kritischen Theorie ist von den ersten Aufsätzen aus der Zeit-
schrift für Sozialforschung bis hin zu den letzten Arbeiten von Adorno und
Marcuse immer eine geschichtsphilosophische Ästhetik gewesen. Ihre Grund-
annahme lautet, dass der Emanzipationsprozess der Kunstwerke in der Moderne
mit dem sozialen Emanzipationsprozess des Subjekts korrespondiert. Beide Eman-
zipationsprozesse, so die These, sind vom gleichen inneren Widerspruch durch-
zogen, dem des Fortschritts in der bürgerlichen Gesellschaft. Und die Autonomi-
sierung der Kunstwerke verhält sich zu dem des Subjekts in vieler Hinsicht
antizipatorisch – auch im Hinblick auf ihr Scheitern.
Ästhetische Emanzipation ist für die Kritische Theorie also nicht Widerspie-
gelung der gesellschaftlichen, sondern ihr Modell. In dieser Optik verhalten sich
Kunst und Massenkultur zueinander wie eine radikale utopische Vision und eine
schale Ersatzbefriedigung. Schematisch ausgedrückt: Wahrheit und Ideologie spie-
len sowohl in der autonomen Kunst der bürgerlichen Gesellschaft in einander als
auch in der Massenkultur, die nach Adorno und Horkheimer für deren Spätform
kennzeichnend ist.
Adorno hat das 1938 in seinem Aufsatz Ȇber den Fetischcharakter in der
Musik und die Regression des Hörens« für die Zeitschrift für Sozialforschung
eingehend untersucht; in diesem Text ist das Paradigma seiner Kritik der Kultur-
industrie entfaltet. Kunst, so die These, bewahrt ein Glücksversprechen – auch als
nicht mehr schöne, sondern radikal moderne. Im Schein des Ästhetischen erscheint
»das Bild eines gesellschaftlichen Zustands«, in dem die »partikularen Momente
von Glück« – nämlich die Momente unreglementierter Erfahrung von sinnlichem
musikalischen Reiz und authentischem subjektiven Ausdruck – »mehr wären als
gerade Schein« (Adorno 1938, S. 324). Die neue Musik, behauptete Adorno, breche
asketisch mit dem Glücksversprechen des Scheins; nicht, um ihren Hörer Glück
vorzuenthalten, sondern weil sie vom Bewusstsein der Unwahrheit des ästhe-
tischen Scheins durchdrungen sei. Schon in den Ritualen des bürgerlichen Musik-
lebens im 19. Jahrhundert und dann vollends in der industriell produzierten und
distribuierten Massenkultur des frühen 20. Jahrhunderts habe der ästhetische
Schein den Subjekten bloß vorgegaukelt, ihre Sinne zu stimulieren und ihnen
unverkürzte Ausdrucksgestalten bereit zu stellen. Wo der Genuss, der durch den
Gebrauch und die Erfahrung der Sinne vermittelt ist, durch seine Funktionalisie-
rung für die Reklame missbraucht wird, und zwar sowohl im Kunstbereich wie in
der Sphäre der Massenkultur, werde authentische Kunst spröde und entziehe sich
ihrer Funktionalisierung, aber damit auch ihrer Zugänglichkeit.

1.2. Liquidation der Kunst


Der soziale Antagonismus der warenproduzierenden Gesellschaft hat demnach
Konsequenzen für die Logik des Ästhetischen. Adornos Methode besteht darin,
die Widersprüche kultureller Gebilde aus den unversöhnlichen Gegensätzen der
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 343

gesellschaftlichen Wirklichkeit zu deduzieren. Der Widerspruch authentischer


Kunst in der Moderne liegt nach Adorno darin, dass sie objektiv eine Antizipation
von unverstümmelter Erfahrung und sinnlichem Glück ist, aber dies in der Gegen-
wart, in der die ästhetische Sphäre restlos der Logik des Warentauschs dienstbar
gemacht wird, nur noch negativ sein kann, nämlich indem sie sich gegen Kom-
munikation und sinnlichen Mitvollzug sperrt. Der Widerspruch der Massenkunst
liegt nach Adorno darin, dass ihr Distributionsapparat und ihre Produkte sugge-
rieren, den Konsumenten Lust, Vergnügen, Freiheit und kulturelle Selbstbestim-
mung zu verschaffen, während sie doch nur die Parameter der fremdbestimmten
Produktion und Distribution von Waren auf den Bereich arbeitsfreier Zeit aus-
dehnen. Die ästhetisch rückständige Machart der Schlager, Filme und Bestseller
fixiere die Rezipienten auf rückständigen Bewusstseins- und Wahrnehmungsstufen.
Das sei die gesellschaftliche Funktion der Kulturindustrie.
Diesen Begriff führten Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklä-
rung ein, um deutlich zu machen, dass Massenkultur keine spontane, selbstbe-
stimmte Artikulation der Massen ist, sondern eine geplante Veranstaltung der
Herrschenden, die manipulativen Zwecken diene. Kulturindustrie produziere re-
gressive Bedürfnisse, vor allem einen infantilen Wiederholungszwang, den sie dann
mit ihren immer gleichen Produkten befriedigen würde. Die Verbraucher spürten
zwar mehr oder weniger deutlich, dass die Vergnügungen, die die Kulturindustrie
anbietet, kein Vergnügen machen, sondern langweilen. Aber Adorno meinte (mit
Blick auf Erich Fromms Analysen des autoritätsgebundenen Charakters), die
Konsumenten würden sich mit dem Unausweichlichen identifizieren. Während
autonome Kunstwerke immer auch ein Fenster öffneten, das den Blick auf eine
Utopie der Freiheit vom Fixiertsein auf gewinnorientierte Zweckrationalität frei-
gibt, sei diese Perspektive des kulturellen Anderen in den Produkten der kultur-
industriellen Massenkunst blockiert. Hier herrsche die restlose Übertragung öko-
nomischer Kriterien auf kulturelle Produktion, die ganz offen bekannt werde
(Horkheimer/Adorno 1947, S. 145). Der Gebrauchswert der Kulturwaren werde
durch ihren Tauschwert ersetzt; genauer gesagt, nicht die wie immer geartete
Kulturware selbst werde genossen, sondern ihr Tauschwert. Das gelte im Bereich
des Entertainment ebenso wie in dem der Kunst, die als gehoben und ernsthaft
etikettiert wird. Statt selbstvergessener, zum Anarchischen tendierender Lust dort
oder spontanem Mitvollzug eines musikalischen oder literarischen Geschehens hier
(damit meinte Adorno kognitiv-strukturellen Mitvollzug) gelte allerorten nur die
Fixierung aufs Dabeisein: auf Filme, die man gesehen, Bands und Stardirigenten,
die man gehört oder Bücher, die man gelesen haben muss. Hochgefühle habe der
Konzertbesucher nur insofern, als er seinen sozialen Status demonstrieren und sich
etwas darauf einbilden könne, dass er die bürgerliche Kunstpraxis mit ermöglicht,
indem er sich die Konzertkarten leistet. Diese Kunstpraxis war für Adorno freilich
nur noch in Ruinen präsent, weshalb er es den Marx Brothers hoch anrechnete,
dass sie eine filmische Destruktionsallegorie der Gattung Oper geliefert hätten.
In der entfalteten bürgerlichen Gesellschaft, so Adorno, habe der Begriff der
Kultur immer auch in besonderem Maße für eine Sphäre gestanden, in der die
Gesetze des Praktischen teilweise suspendiert seien. Unter Praxis verstand er den
344 Gerhard Schweppenhäuser

Bereich der Produktion und Zirkulation von Waren sowie der Rahmenbedingun-
gen sozialer Herrschaft und Naturbeherrschung. Seit die kapitalistische Markt-
gesellschaft in der Ford-Ära in autoritär-monopolistische Staaten übergehe, werde
aber die avancierte industrielle Produktionsweise zum Muster kultureller Repro-
duktion. Die Zerlegung der Produktion in Segmente und ihre Stereotypisierung
bewirke auch die der Wahrnehmung. »Der Montagecharakter der Kulturindustrie,
die synthetische, dirigierte Herstellungsweise ihrer Produkte« (Horkheimer/
Adorno 1947, S. 191) diene der vollständigen gesellschaftlichen Integration durch
Mediatisierung aller Lebens- und Erfahrungbereiche. Die Folge sei die »falsche
Identität von Allgemeinem und Besonderem« (Horkheimer/Adorno 1947, S. 145).
Die Kultur-Produkte würden ununterscheidbar von einander, weil sie nicht mehr,
wie Kunstwerke, einer je besonderen eigenen Logik gehorchen. Arbeit und Freizeit
würden sich immer ähnlicher. Als universeller medialer Amüsierbetrieb werde
Kulturindustrie zum Gegenteil von Amusement, nämlich zur Verlängerung der
Arbeit in die Freizeit. Funktion der Kulturindustrie sei die Verdoppelung der
bestehenden Welt.
Die Identifikation mit sozialer und ökonomischer Herrschaft sei der Kern des
Konformismus der Massenkultur-Rezipienten, hatte Adorno in seinem Essay von
1938 behauptet. Alle Lust in ihr sei ausschließlich masochistisch. Ihre Objekte
seien durchweg verdinglichte Kulturgüter. Im musikalischen Bereich seien sie von
außen gekennzeichnet durch Bekanntheit und ökonomischen Erfolg, von innen
durch leicht memorierbare Momente wie markante Melodien oder eingängige
Texte, durch einfache Strukturen wie Steigerung und Wiederholung oder Syn-
kopierungen, sowie durch isolierte Sinnesreize, die partikular bleiben und in
keinem kompositorisch-sinnhaften Verhältnis zum Ganzen des musikalischen Ge-
bildes mehr stehen: schöne Stimmen oder der vermeintlich exklusive Sound selte-
ner Instrumente und üppiger Klangkörper.
Vor der Emigration hatte sich Horkheimers Institut dafür eingesetzt, die Erhe-
bungsmethoden empirischer Sozialforschung in Deutschland einzuführen, um
seine Schlüsselfrage beantworten zu können, warum eine objektiv dringend um-
wälzungsbedürftige Gesellschaft sich der praktischen Umwälzung hartnäckig ent-
ziehen kann; warum die Menschen es vorzuziehen schienen, sich dem autoritären
Staat zu fügen, anstatt für politische und soziale Freiheit zu kämpfen. Auch
während der Arbeit in den USA waren empirische Erhebungen ein integraler
Bestandteil der Institutsarbeit. Die empirischen Methoden der Kultursoziologie, in
deren Zentrum die Ermittlung von Wirkungen, Hör-, Seh- und Lesegewohnheiten
der Rezipienten stehen, schienen Adorno aber nicht zureichend, um eine struk-
turelle Erkenntnis der Massenkultur zu gewinnen. Er entschied sich dafür, die
Phänomene, mit denen er bei der Mitarbeit beim Princeton Radio Research Project
zu tun hatte (siehe Wiggershaus 1988, S. 266–276 u. Müller-Doohm 2000), nicht
neutral zu beschreiben und später auszuwerten; er versuchte, die Reaktionen der
Rezipienten aus den gesellschaftlichen Antagonismen und ihren ästhetischen Kor-
relaten selbst zu deduzieren. Kritische Theorie der Kultur und Ästhetik war für ihn
eine philosophische Theorie, und das bedeutete in diesem Fall, dass Konsumtions-
weisen aus Produktionsverhältnissen abzuleiten seien, die selbst wiederum aber
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 345

nicht als letzte Gegebenheiten aufgefasst, sondern auf den dialektischen Begriff des
gesellschaftlichen Ganzen zurückgeführt werden (Adorno 1938, S. 339). Diese
methodische Perspektive nahm ihren Ausgang von der These, dass die Rezipienten
der zeitgenössischen Massenkultur, also der Großteil der Menschen in den moder-
nen industrialisierten Gesellschaften des Westens, weitgehend sich selbst, d. h. ihren
eigenen Produkten und Erfahrungsweisen, entfremdet und von der Möglichkeit
zur freien Selbstbestimmung abgeschnitten seien. Zur teils erzwungenen, teils
freiwillig konformierenden »Preisgabe der Individualität« gehöre, gleichsam als
Prämie fürs Mitmachen, die »affektive Besetzung des Tauschwerts« (Adorno 1938,
S. 332).
Adornos Analysen waren also streng kategorial konstruiert, aber kaum oder gar
nicht empirisch überprüft. Der Preis dafür war ihr Pathos der Distanz zum
Untersuchungsfeld, den Radiohörern. Wer gerne hörte, wie Ella Fitzgerald »A
Tisket, A Tasket« singt, bekam von Adorno bescheinigt, dass er ein sadomasochi-
stischer Sozialcharakter sei, der gehorsam »die masochistische Verhöhnung des
eigenen Wunsches nach dem verlorenen Kinderglück« und »die Kompromittierung
des Glücksverlangens« zum eigenen Anliegen mache (Adorno 1938, S. 341). Hörer
klassischer Musik kamen nicht besser davon. »Daß z. B. viele Leute eine ihnen
vertraute Melodie in entstellter Form pfeifen, war für Adorno das gleiche, wie
wenn Kinder einen Hund am Schwanz ziehen. Die mindestens ebenso nahelie-
gende Möglichkeit, daß es sich dabei um ein Variieren des Bekannten, eine re-
spektlose Nutzung des Vertrauten für eigene Abwandlungen handeln könnte, hielt
er gar nicht für der Erwähnung wert« (Wiggershaus 1988, S. 275 f.). Das unter-
scheidet seine Sicht wesentlich von der (später zu betrachtenden) der Cultural
Studies, die sich besonders für abweichende und heterodoxe Aneignungen kultu-
rellen Materials durch dessen Benutzer interessieren. Adorno meinte, in der Mas-
senkultur würde als vertraut und nah erfahren, was der individuellen Erfahrung
eigentlich fremd ist, nämlich die Standardproduktionen des Mainstream, während
Avantgarde-Kunst, die »für die Stummen zu reden versucht« (Adorno 1938,
S. 330), diesen zutiefst fremd sei und abgelehnt werde. So zutreffend diese Beob-
achtung auch sein kann – dass avantgarde-ferne Menschen grundsätzlich nur die
falsche Wahl hätten, entweder stumm zu bleiben oder in faschistisches Gebrüll
auszubrechen, war eine Unterstellung, die Adorno für ästhetisch und sozial pro-
duktive Seiten der Massenkultur taub machte.

1.3. Transformationen der Kunstautonomie


Während Adornos philosophische Perspektive auf Massenkunst und -kultur von
deren Gegensatz zur autonomen Kunst ausging, stellte Benjamin Überlegungen an,
die auf eine Transformation des Kunstbegriffs selbst zielten. Neue Techniken aus
dem Bereich der industriellen Produktion schaffen ihm zufolge neue ästhetische
Techniken der Repräsentation und des Ausdrucks, die wiederum neue Dispositive
der Wahrnehmung und der Artikulation erzeugen. Benjamin zielte in seiner Studie
über »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, an der
er 1935–36 arbeitete, auf eine neue Theorie des Ästhetischen, die die Unter-
346 Gerhard Schweppenhäuser

scheidung zwischen hoher und niederer Kunst hinter sich lässt. Dabei entwarf er
die Grundzüge einer Utopie der Massenkunst. Seine Ausgangspunkte waren ästhe-
tische Überlegungen zweier sehr verschiedener Autoren: die modernistische Ästhe-
tik von Paul Valéry, die Kunstautonomie lehrt, und die politische, realistische
Poetik und Medientheorie von Bertolt Brecht.
Von Valéry stammte das Moment der intrinsischen ästhetischen Reflexion auf
die substantiellen Veränderungen, denen das Kunstwerk im 20. Jahrhundert ausge-
setzt ist. Valéry hatte als erster darauf aufmerksam gemacht, wie Wissenschaft und
soziale Praxis in der Moderne die Kunst betreffen und ihre Physiognomie und
Struktur verändern. Technische Innovationen würden die Künste und den theo-
retischen Begriff der Kunst verändern (Benjamin 1936, S. 472). Er hatte erkannt,
dass die Technologie der Moderne zur Reproduktion tendiert, sowohl im Bereich
sinnlicher Wahrnehmung überhaupt als auch in dem der Kunst; und er hatte die
moderne Unterhaltungstechnologie antizipiert, die Bilder und Töne in die Woh-
nungen liefern würde wie Wasser, Strom und Gas (Benjamin 1936, S. 475).
Von Brecht übernahm Benjamin den Anspruch, einen neuen ästhetischen Ansatz
zu entwickeln, der für faschistische Zwecke, konkret: für dessen »Ästhetisierung
der Politik« »vollkommen unbrauchbar« sei (Benjamin 1936, S. 506 bzw. 473; z. T.
kursiv). Damals war abzusehen, dass die Haltung zu technischen Innovationen, die
italienischer Faschismus und deutscher Nationalsozialismus einnahmen, äußerlich
ambivalent, aber eindeutig zweckorientiert war. Radikale Modernisierung war die
Kehrseite der Wiederbelebungsversuche abgestorbener Traditionen und artifizieller
Stiftung von kulturellen Pseudo-Archaismen. In Italien hatte die futuristisch in-
spirierte faschistische Ästhetik durchaus an der Avantgarde des 20. Jahrhunderts
teil; sie hatte zwar den radikalen Modernismus ausgebeutet, jedoch nicht ohne eine
innere, sachliche Affinität zu ihm. In Deutschland wurden hingegen synthetische
Kunstrichtungen wie der »heroische Realismus« ersonnen und politische Ereig-
nisse mit neuester Technologie massenwirksam als ästhetische Ereignisse inszeniert.
Die autoritäre Massengesellschaft wurde mit Hilfe neuester massenmedialer Errun-
genschaften geformt.
Solche Inszenierung von Politik erkannte Benjamin als Ersatzbefriedigung des
neuen Bedürfnisses nach politischer und kultureller Selbstbestimmung der ar-
beitenden Menschen. Statt zu ihrem »Recht«, nämlich der Revolutionierung der
Eigentumsverhältnisse, würden die Nationalsozialisten den Massen nur zum »Aus-
druck« verhelfen, der freilich nicht ihr authentischer eigener sei (Benjamin 1936,
S. 506). Gemeinsam mit Brecht hatte Benjamin Überlegungen angestellt, wie das
Radio für fortschrittliche soziale Umwälzungen nutzbar zu machen sei. Davon
ausgehend entwickelte er nun eine materialistische Theorie der modernen Medien,
ihrer gesellschaftlichen Voraussetzungen und Folgen.
Benjamins neue, ›von rechts‹ unbrauchbare Kategorien waren die Kriterien
»Kultwert« und »Ausstellungswert«, mit denen er archaische, religionsorientierte,
feudale und bürgerliche Kunstpraxen von einander unterschied. Während die
Kunst in ihren Anfängen Teil des magischen und religiösen Rituals gewesen sei,
werde in der bürgerlichen Gesellschaft das Kunstwerk gemäß seiner Einzigartigkeit
bewertet. Der Kultwert, der seine Legitimität aus der vermeintlichen Teilhabe am
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 347

Heiligen bezog, werde durch den Ausstellungswert abgelöst. Verbürgte Echtheit


und die raum-zeitliche Präsenz an einem Ort bestimmten dabei das Kunsterlebnis
und die Wertschätzung künstlerischer Produktion. Sowie aber Kunstwerke nicht
mehr per definitionem durch ihre Einzigartigkeit und indivuelle Authentizität
ausgezeichnet sind, verliere das Kriterium »Ausstellungswert« seinen Sinn. Zum
Zentralbegriff werde nun »Technik«.
Photographie und Film waren für Benjamin die genuinen Kunstgattungen der
Moderne. Sie sind dadurch gekennzeichnet, dass technische Reproduzierbarkeit
nicht als etwas Sekundäres hinzutritt, wie in anderen Bildkünsten und in der
Musik, sondern ein wesentliches Merkmal ihrer Form bildet, vielleicht das we-
sentliche überhaupt. Der bildtheoretische Streit des 19. Jahrhunderts, ob Photo-
graphie oder nur Malerei Kunst wäre, sei eine Phantomdebatte gewesen, denn die
entscheidende Frage sei gar nicht gestellt worden: »ob nicht durch die Erfindung
der Photographie der Gesamtcharakter der Kunst sich verändert habe« (Benjamin
1936, S. 486; kursiv). Eben das aber sei eingetreten; Photographie und bald auch
Film hätten sich »einen eigenen Platz unter den künstlerischen Verfahrungsweisen«
erobert (Benjamin 1936, S. 475; kursiv). Im Film seien innere Technik, also das
Formgesetz des Kunstwerks, und äußere Technik, also die Technologie der Pro-
duktion und Distribution, eins geworden.
Als »unbrauchbar« für den Nationalszialismus erschien Benjamin seine Ästhetik
des Films insbesondere auch deshalb, weil sie deutlich mache, dass der Film
vermöge seines neuen Verhältnisses zur Technik die Tradition erschüttere und
liquidiere. Seine Revolutionierung der Kunst leiste einen ästhetischen und wahr-
nehmungstheoretischen Beitrag zur sozialen Revolution.
»Die Reproduktionstechnik [. . .] löst das Reproduzierte aus dem Bereich der Tradition ab.
Indem sie die Reproduktion vervielfältigt, setzt sie an die Stelle seines einmaligen Vor-
kommens sein massenweises. Und indem sie der Reproduktion erlaubt, dem Aufnehmenden
in seiner jeweiligen Situation entgegenzukommen, aktualisiert sie das Reproduzierte. Diese
beiden Prozesse führen zu einer gewaltigen Erschütterung des Tradierten – einer Erschüt-
terung der Tradition, die die Kehrseite der gegenwärtigen Krise und Erneuerung der Mensch-
heit ist. Sie stehen im engsten Zusammenhang mit der Massenbewegung unserer Tage. Ihr
machtvollster Agent ist der Film. Seine gesellschaftliche Bedeutung ist [. . .] nicht ohne diese
seine destruktive, seine kathartische Seite denkbar: die Liquidierung des Traditionswertes am
Kulturerbe.« (Benjamin 1936, S. 477 f.; z. T. kursiv)

Für die Rezeption autonomer Kunstwerke war das Erlebnis ihrer Einzigartigkeit
entscheidend, also ihrer individuellen Besonderung und raum-zeitlichen Einmalig-
keit, was Benjamin mit der Metapher des Auratischen beschrieb. Charakteristisch
für die Rezeption von Kunstwerken auf der Höhe der Zeit sei nun, dass die Aura
zerfalle. Filme und die Glasarchitektur der Bauhaus-Moderne »haben keine Aura«
(Benjamin 1936, S. 217). Kunst im (reproduktions-) technologischen Zeitalter ist
für Benjamin Massenkunst. Massenhaft hergestellte Werke sind auf die Massen als
Publikum angewiesen. Die Massenkultur, Folge der »zunehmenden Bedeutung der
Massen im heutigen Leben«, meinte Benjamin, sei durch ein »leidenschaftliches
Anliegen der gegenwärtigen Massen« bestimmt: das Bedürfnis, die »Dinge sich
räumlich und menschlich ›näherzubringen‹« (Benjamin 1936, S. 479).
348 Gerhard Schweppenhäuser

Den Gedanken, dass die Transformation des Urbanen in den kapitalistischen


Industriegesellschaften des 20. Jahrhundert ein ebenso zahlungskräftiges wie legi-
times Bedürfnis nach einer spezifischen Kultur erzeugen, hatte Kracauer bereits in
den 1920er Jahren zur Grundlage seiner Kino-Theorie gemacht (Kracauer 1963). In
seiner späten, realistischen Filmtheorie stellte er dann dem Konzept der Auto-
nomie der Kunst ein Konzept nicht-autonomer Kunst gegenüber, von dem noch
die Rede sein wird. Benjamin veränderte dagegen den Begriff der Autonomie
selbst. Normalerweise wird ja unter »Autonomie der Kunst« der Prozess ihrer
Emanzipation aus dem Funktionszusammenhang verstanden, in den sie innerhalb
von Ritual, Religion, Kultus und herrschaftlicher Repräsentation eingespannt ist.
In der Moderne, so der an Max Webers Rationalisierungstheorie anschließende
Autonomiebegriff, wird Kunst vom Zwang befreit, heteronomen Zwecken zu
dienen. Benjamin dagegen drehte den Spieß um. Er meinte, ritueller »Kultwert«
und bürgerlicher »Ausstellungswert« hätten der Kunst den fetischhaften Schein des
Autonomen verliehen. Im Kunstbetrieb der bürgerlichen Gesellschaft (nicht nur in
der Kunstreligion des 19. Jahrhunderts, aber da noch einmal ganz besonders), habe
der Kultstatus fortgelebt, dem Kunstwerke ihre Entstehung und ihren Schein des
Verehrungswürdigen verdankten. Erst als »das Zeitalter ihrer technischen Repro-
duzierbarkeit die Kunst von ihrem kultischen Fundament löste, erlosch auf immer
der Schein ihrer Autonomie« (Benjamin 1936, S. 486).
Benjamin hat seine kulturpolitische Solidarität mit dem »schlechten Neuen«
gegen das »gute Alte« in dieser Phase seines Denkens selbst als positives »neues
Barbarentum« bezeichnet (Benjamin 1933, 215). Die Zerstörung von Aura und
Autonomie sei die Vorbedingung für die aufklärerische Fundierung der Kunst in
der Politik. Aber er sah das nicht nur als zeitbedingte Strategie an, sondern als
bessere Einsicht ins Phänomen der Kunst. Da Kunst stets durch ihre sozialen
Funktionen und Rezeptionszusammenhänge bestimmt sei, erwies sich ihm der
Autonomiegedanke als Ideologie. Im »Zeitalter ihrer technischen Reproduzier-
barkeit« verändere sich daher »die gesamte soziale Funktion der Kunst«. »An die
Stelle ihrer Fundierung aufs Ritual tritt ihre Fundierung auf eine andere Praxis:
nämlich ihre Fundierung auf Politik« (Benjamin 1936, S. 482; kursiv). Kunst werde
ein politisches Phänomen, weil die Massen sie sich über neue Technologien und
Wahrnehmungsgewohnheiten aneignen würden. Den neuen Technologien entsprä-
chen neue Rezeptionsformen, die kollektive Sinneswahrnehmung verändere sich
mit den neuen Medien, was an Phänomenen wie ›Beschleunigung der Wahr-
nehmung‹ oder dem ›optisch Unbewussten‹ deutlich werde. Erfahrungen moderner
Urbanität – die Atomisierung von Lebensvollzügen, Wahrnehmungs- und Refle-
xionsformen – entzifferte Benjamin als Artikulationsebenen der Formsprache des
neuen Mediums Film. Neben den Techniken Schnitt und Montage, die Bilder zu
Geschossen werden ließen, die die Menschen zwar im strengen Sinne nur visuell,
aber quasi auch haptisch treffen, fokussierte Benjamin Kino als neue kollektiv-
simultane Rezeptionsform. Kunst werde ein Massenphänomen im doppelten Sinne:
Kunstwerke würden massenhaft zugänglich und die Massen träten als Subjekt auf,
das Kunst rezipiert und produziert. Den hier zuständigen Begriff übernahm er
ebenfalls von Kracauer. Zeitgemäße Kunstwerke verlangten nicht mehr Kon-
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 349

templation; sie kämen den Bedürfnissen arbeitender Menschen entgegen, die in


einem Zustand der »Zerstreuung« der Kunst begegnen (Kracauer 1963, S. 313 f.).

1.4. Anarchistische und bürgerliche Romantik – Adornos Kritik an Benjamin


Adorno gewann die Kriterien des autonomen Kunstwerks an der Musikästhetik.
Das Formgesetz der Werke werde durch die stimmige Beziehung der Teile zum
Ganzen konstituiert. Die Logik des Ganzen dominiert dabei die Teile nicht, aber
sie gibt der fortschreitenden Erfahrung einen Rahmen, die sich nur in der Wahr-
nehmung der Teile erschließt, und zwar durch deren Durcharbeitung und Entwick-
lung hindurch. »Die verantwortliche Kunst richtet sich an Kritierien aus, die der
Erkenntnis nahekommen: des Stimmigen und Unstimmigen, des Richtigen und
Falschen.« (Adorno 1938, S. 321) In seiner Kritik an Benjamins Konzept der
Massenkultur bezeichnete Adorno autonome, nur dem Wahrheitsgehalt ihres
Formgesetzes verpflichtete Kunstwerke und zweckgebundene Produkte der Mas-
senkunst als die zwei gewaltsam getrennten »Hälften der ästhetischen Freiheit«:
»Beide tragen die Wundmale des Kapitalismus, beide enthalten Elemente der
Veränderung [. . .]; beide sind die auseinandergerissenen Hälften der ganzen Frei-
heit, die doch aus ihnen nicht sich zusammenaddieren lässt« (Adorno an Benjamin,
18. 3. 1936, in: Benjamin 1980, S. 1003).
Die Vereinigung von »high and low culture« in einer Gesellschaft, die vom
Antagonismus zwischen Besitzenden und Arbeitenden befreit wäre, hätte Adorno
als falsche Versöhnung bezeichnet. Denn er war sich noch sicher, dass »in der
kommunistischen Gesellschaft die Arbeit so organisiert sein wird, dass die Men-
schen nicht mehr so müde und so verdummt sein werden, um der Zerstreuung zu
bedürfen.« (Adorno an Benjamin, 18. 3. 1936, in: Benjamin 1980, S. 1004) Aber die
Forderung, sich hier und jetzt für autonome oder ›abhängige‹ Kunst entscheiden zu
müssen, sei falsch: »eine der andern zu opfern wäre romantisch, entweder als
bürgerliche Romantik der Konservierung von Persönlichkeit und all dem Zauber,
oder als anarchistische im blinden Vertrauen auf die Selbstmächtigkeit des Proleta-
riats im geschichtlichen Vorgang – des Proletariats, das doch selber bürgerlich
produziert ist« (Adorno an Benjamin, 18. 3. 1936, in: Benjamin 1980, S. 1003).
Adornos Verwendung der Begriffe »Romantik« und »Anarchismus« ist eigen-
willig, aber plausibel. Die Ästhetik der Romantik knüpfte an die Theorie des freien
Subjekts in Kants Kritik der Urteilskraft an, das dadurch frei ist, dass es sich selbst
die Regel der ästhetischen Beurteilung und vor allem der künstlerischen Produk-
tion gibt. Ästhetische Autonomie ist die des Genies. Ideologiekritik rekonstruiert
die dabei unterschlagenen Bedingungen entfalteter gesellschaftlicher Arbeitstei-
lung, unter deren entfremdenden Resultaten das romantische ästhetische Subjekt
leidet, die zugleich aber die Bedingung der Möglichkeit seiner ästhetischen Unab-
hängigkeit ist. Dem Anarchismus wohnt die Vorstellung einer zu sich selbst
kommenden gesellschaftlichen Subjektivität inne, die der heteronomen Steuerung
durch eine Avantgarde, die nur das Beste der Befreiten will, nicht länger bedarf.
Adorno votierte dafür, den diagnostischen und utopischen Befund autonomer
Kunst – in ihrer radikal verfremdenden Gestalt der klassischen Moderne – keines-
350 Gerhard Schweppenhäuser

falls preiszugeben; insbesondere im weiteren historischen Verlauf, den er in den


1930er und 1940er Jahren als Weg in die monopolkapitalistische Gesellschaft
beschrieben hat und später, in den 60ern, als »verwaltete Welt« des Spätkapita-
lismus. Daher bekannte er sich im Briefwechsel mit Benjamin auch dazu, dass seine
ideologiekritische Ästhetik ihn dann doch eher zur bürgerlichen Romantik ten-
dieren lasse, sofern sie die Dialektik der Individualität in der bürgerlichen Gesell-
schaft austrage (siehe dazu McBride 1998). Adornos Reflexionen im Vorspann zu
den Minima Moralia (Adorno 1951), die das Erkenntnispotential des Individuums
im Zeitalter seiner, wie er meinte, objektiven Liquidation als sozialer und philo-
sophischer Kategorie noch einmal seine volle Kraft entfalten lassen, bestätigen
diesen Gedanken ebenso wie die Spuren der Frühromantik in seiner Ästhetischen
Theorie. Dort wird jede Gestalt der Versöhnung des Ästhetischen mit dem be-
stehenden Wirklichen abgelehnt. Das gilt ebenso für die harmonistische Versöh-
nung in idealistischer Philosophie oder Populärkultur wie für die »erpresste« des
Realismus. Das Fragment wird als einzig authentische Form bezeichnet, die in der
Gegenwart noch möglich sei, und Texte wie die von Kafka oder Beckett werden
nicht als existentieller Ausdruck gelesen, sondern eher als ironische Manifes-
tationen der Paradoxien des prekären Subjekts in einer durch und durch fremdbe-
stimmten Objektivität.
Die Grundannahme von Adornos Ästhetik lautet, dass Kunst bewusstlose
Geschichtsschreibung ist. Sie sei das dort am authentischsten, wo sie sich dem
vereinnahmenden Zugriff der Gesellschaft entzieht. Sowohl bildende Kunst als
auch Musik täten dies im 20. Jahrhundert, indem sie sich von der massenkulturellen
Kunst im Zeitalter ihrer technischen Reproduzierbarkeit abgrenzten. Das Pathos
der Distanz abstrakter Malerei und atonaler, serieller Musik sei das Pathos des
dissonanten Nicht-Mitmachens bei der mechanischen Repräsentation des Wirkli-
chen, auf die Photographie bildlich und Unterhaltungsmusik tonal, harmonisch
und rhythmisch verpflichtet sei (Adorno 1949; siehe Hullot-Kentor 1997).
Adorno sprach von den zwei Hälften der ganzen Freiheit. Keine Seite solle
verabsolutiert werden, aber er entschied sich für die »eine Hälfte«, für autonome
Kunst. Er verabsolutierte sie zwar nicht, sondern zeigte die Dialektik der autono-
men Kunst. Aber die »andere Hälfte« negierte er: die nicht-autonome, zweck-
gebundene Kunst. Damit das plausibler erscheint, als es eigentlich ist, erklärte er sie
zum reinen Manipulationsprodukt. Vor der Kulturindustrie habe sie ihr relatives
Recht nur gehabt, weil sie in ihrer entweder kunsthandwerklichen oder wilden,
lust- und amüsement-betonten Zurückgebliebenheit einen negativen Wahrheits-
index gehabt habe: Sie habe das Misslingen der hohen Kultur dokumentiert, die die
Menschen unterdrücke. In ihrer negativen Wahrheit trügen die nicht-autonomen
Künste jedoch stets das Stigma an der Stirn, eben nicht an sich selbst zu gelten,
sondern nur in zweiter Reflexion des Kulturkritikers. Noch diese Restwahrheit
hätten sie dann, als vorsätzlich in Umlauf gebrachtes Falschgeld des Verblendungs-
systems, vollends eingebüßt. Adornos gewichtigstes Argument war, dass Produkte
der Kulturindustrie nicht mehr nur, wie Kunstwerke, auch Waren, sondern durch
und durch Waren seien (Adorno 1963, S. 338). Industrielle technische Reproduzier-
barkeit zielt auf Exemplare in massenhafter Anzahl und massenhafte Verbreitung.
Das wird von der historischen Erforschung der modernen Massenkultur bestätigt.
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 351

»Film war eine Ware, serienmäßig hergestellt zur Erzielung maximaler Gewinne.« »Schon vor
dem [Ersten] Weltkrieg wurde die Filmproduktion ökonomisch konzentriert und technisch
rationalisiert.« »Wo man eine Erfolgsformel zu haben glaubte, wurden die Produkte standar-
disiert, um den Aufwand möglichst niedrig zu halten und Studios und Kopierfabriken
wirklich industriell zu nutzen.« (Maase 1997, S. 111 f.)

Doch die Ineinssetzung von Massenkultur und Kulturindustrie war vorschnell.


Benjamins Lektüren der modernen Massenkultur behalten ihr Gewicht angesichts
der Vielzahl massenkultureller Produkte bis heute, deren ästhetisches Erfahrungs-
gehalt nicht im kulturindustriellen Kalkül aufgeht (auch wenn sie sich der Ver-
marktung in der Kulturindustrie nicht entziehen können). Dass angewandte bzw.
zweckgebundene Künste vor oder in den Zeiten der Kulturindustrie Geltungs- und
Wahrheitsanspruch besitzen könnten, war für Adorno undenkbar. Aber das ist
nicht einleuchtend (vgl. Zuidervart 1991). Künste können legitime Funktionen
haben, ohne dadurch zu ideologischer Praxis herabzusinken.

2. Die Autonomie- und Moderne-Debatten in den 60er, 70er


und 80er Jahren des 20. Jahrhunderts

2.1. Kunst und Verdinglichung


Nach Adorno machten neue Bemühungen um eine zeitgemäße Aneignung der
Ästhetik der Kritischen Theorie deutlich, woher die Ästhetik des autonomen
Kunstwerks und ihre nachhaltige Dialektik stammen. Christa Bürger hat den
Umbruch rekonstruiert, der im 18. Jahrhundert in den maßgeblichen Theorien
über Kunst, Literatur und über das Ästhetische in seinem Verhältnis zum Wirkli-
chen stattgefunden hat. Bis dahin hatte die bürgerliche Aufklärung gelehrt, Kunst
und Lebenspraxis hätten sich wechselseitig anzuregen. Der Wert der Kunst be-
stünde darin, dass sie im Stande sei, in die Wirklichkeit einzugreifen. Kunst werde
zwar nicht unmittelbar praktisch, verändere jedoch die Interpretationen von Wirk-
lichkeit, und das habe erhebliche Folgen für die Praxis. Kunst könne Bewusstsein
erweitern und Empfindung differenzieren, ästhetische Erfahrung das gesellschaft-
liche Leben erzieherisch humanisieren. Die Ästhetik des Sturm und Drang und
dann vor allem der Klassik stellte die aufklärerische These in Frage, es könne eine
Harmonie von ästhetischer Erfahrung und Lebenspraxis geben. In gemeinsamen
Erörterungen mit Goethe formulierte Karl Philipp Moritz Ende des 18. Jahr-
hunderts die Grundzüge einer folgenreichen Ästhetik. Das Schöne und das Nütz-
liche stünden nicht in ertragreicher Verbindung miteinander, sondern seien Gegen-
sätze. Kunstwerke könnten das Schöne nur verkörpern, wenn sie sich aus allen
lebensweltlichen Bezügen lösen würden und in sich selbst ruhende, vollendete und
harmonische Totalitäten seien. Das schöne Kunstwerk habe nur für sich selbst zu
stehen. Sobald es symbolisch oder allegorisch für etwas anderes stehe, werde es
unwahr. Wenn das, was im Werk zur Erscheinung komme, bloßes Symbol sei,
komme es auf die ihm eigentümliche Schönheit ja nicht an; sie indiziere nur
352 Gerhard Schweppenhäuser

stellvertetend einen außer ihm selbst liegenden Gehalt. Ein gelungenes Kunstwerk
sei aber die einzig angemessene Formgestalt eines bestimmten Gehalts, seine
Elemente bezögen ihre Legitimität aus der stimmigen Beziehung auf den Geist, der
seine Form im Ganzen durchdringe.
Die Bestimmung des Kunstwerks als organische Totalität war für die Kunst der
Klassik und bis weit in die Moderne hinein verbindlich. Der Künstler schafft eine
eigene Natur. Er »schneidet die Begebenheiten gleichsam aus ihrem Zusammen-
hang heraus« und stellt sie in neue Konstellationen, die der Idee verpflichtet sind,
die das Werk durchherrscht: »die allmälige Verwandlung der äußern Zweck-
mäßigkeit in die innere, oder kürzer, das in sich selbst Vollendete, scheinet daher
der eigentlich leitende Zweck des Künstlers bei seinem Kunstwerk zu seyn.«
Christa Bürger hat das treffend als »die Vernichtung der Wirklichkeit durch die
künstlerische Bearbeitung« genannt. Entsprechend galt nun die kontemplative
Versenkung als angemessene Haltung einem Kunstwerk gegenüber. Bringe der
Rezipient das Werk in Beziehung zu seiner eigenen Lebenswirklichkeit, dann
degradiere er es. Es sei, im Kantischen Sinn, Zweck an sich selbst und bedürfe
keiner äußeren Rechtfertigung – schon gar nicht der Legitimation durch ver-
meintliche Nützlichkeit für die Verbesserung der menschlichen Angelegenheiten
außerhalb der Kunst. Daher habe man sich in der Aneignung des Werks zurück-
zunehmen. »Der Vernichtung der Wirklichkeit durch das Werk entspricht die
Auslöschung des Rezipienten im Akt der Rezeption« (Bürger 1977, S. 121).
Diese Ästhetik ist in der Folge zur Grundlage der Kunstreligion der bürger-
lichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts geworden. Damit ließen sich in der
bürgerliche Kultur zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen. Praxis und Erfahrung
des Ästhetischen dienten als Genussmittel für Saturierte und Beruhigungsmittel für
Leidende. Kunst erhielt einen anerkannten Platz und wurde zugleich unschädlich
gemacht; ihre Gehalte sprengten nicht die engen Grenzen des Erlaubten. Das war
einer der charakteristischen Züge der »affirmativen Kultur«, wie Marcuse, auf den
sich Christa Bürger bezog, in der 1930er Jahren gezeigt hatte:

»Nur in der Kunst hat die bürgerliche Gesellschaft die Verwirklichung ihrer eigenen Ideale
geduldet und sie als allgemeine Forderung ernst genommen. Was in der Tatsächlichkeit als
Utopie, Phantasterei, Umsturz gilt, ist dort gestattet. [. . .] Das Medium der Schönheit
entgiftet die Wahrheit und rückt sie ab von der Gegenwart. Was in der Kunst geschieht,
verpflichtet zu nichts.« (Marcuse 1937, S. 76)

Doch es waren auch schon diese Kehrseiten der bürgerlichen Kunstideologie, die
Karl Philipp Moritz im Auge hatte, als er seine Ästhetik des autonomen Werks
formulierte. Deren Intention war das Gegenteil der ideologischen Rechtfertigung
des Scheins, Kunstwerke hätten nichts mit der Wirklichkeit zu tun. Moritz stieß
sich daran, dass der Geist der aufkommenden industriekapitalistischen Gesellschaft
auf geschäftlichen Nutzen fixiert war. Was sich dem Effizienzdenken entzog oder
widersetzte, wurde zunehmend delegitimiert. Die Herrschaft instrumenteller Ra-
tionalität, die nur gelten lässt, was als Mittel für Erwerbszwecke dienen kann,
beschrieb er als moralische und ästhetische Verlusterfahrung. Noch ehe sich die
Verwertungslogik zum universellen Prinzip ausgebreitet hatte, sah Moritz, dass
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 353

»das Charakteristische der kapitalistischen Gesellschaft in deren Tendenz« besteht,


»die sinnliche Wahrnehmung dem ökonomischen Prinzip zu unterwerfen« (Bürger
1977, S. 122 f., Fußnote). Er beobachtete, dass der Arbeiter in der kapitalistischen
Produktion den Zwecken eines fremden Subjekts unterworfen ist, seiner eigenen
denkenden Subjektivität entäußert und zum physischen Instrument herabgestuft
wird.
Moritz nahm aber an, dass der gesamtgesellschaftliche Fortschritt, der alle dazu
zwinge, die eigenen Leistungen auf jedem Gebieten zu optimieren, nur auf Kosten
der einzelnen Individuen zustande käme. Das konzipierte er, ähnlich wie Kant und
Schiller (und später Georg Simmel) als objektive Tragik der Kultur. Dieser Ge-
danke wurde bei Moritz durch ein neues Motiv ergänzt, das den Weg zur Verin-
nerlichung der ästhetischen Erfahrung bahnt. Die Erfahrung von Schönheit in der
Kunst verkläre die Tragödie der Kultur. Leid sei unvermeidbar und notwendig, und
die Erfahrung des Kunstschönen leistet für die einzelnen Subjekte »durch den
Schein des Schönen die Versöhnung mit dieser Notwendigkeit« (Bürger 1977,
S. 126). An diesem Punkt schlägt die kritische Haltung der Autonomieästhetik
gegen die kalkulierende Zweckrationalität des bürgerlichen Effizienzdenkens in
praktische Resignation um, die freilich auf ästhetischem Gebiet die Perspektive
größter innovativer Kraft eröffnet. Die Vorstellung, dass Kunstwerke von gesell-
schaftlichen Funktionen frei seien und nicht außer ihnen liegenden Zwecken zu
dienen hätten, sondern ihre Legitimität allein aus ihrer immanenten Stimmigkeit
und dem Grad des Gelingens der Abarbeitung an ihren Formproblemen zögen –
diese Vorstellung ist der Kerngehalt dessen, was gewöhnlich als »ästhetische Mo-
derne« bezeichnet wird.

2.2. Selbstbezug der Moderne und die Ambivalenz des Neuen


Nach Jürgen Habermas sind für die künstlerische Moderne drei normative Krite-
rien wesentlich: Authentizität, der Anspruch auf Selbstbegründung und Inno-
vationsdruck. Authentische Erfahrung des Künstlers und deren kompromisslose
Umsetzung in Ausdrucksgehalt und innovative Formsprache des Werks wurden
zum Siegel der ästhetischen Legitimät. Sie ersetzen die aus der Überlieferung
stammende Verbindlichkeit, mit der handwerklich-technische und stilistische Vor-
gaben perfektioniert werden, wie es für traditionsorientierte Künste verpflichtend
war. Die Absage an normative Rechtfertigungen aus der Tradition wurde zuerst auf
ästhetischem Gebiet explizit formuliert, nämlich in Baudelaires Theorie der Kunst-
kritik. Habermas hat dies so zusammengefasst:
»die Moderne kann und will ihre orientierenden Maßstäbe nicht mehr Vorbildern einer
anderen Epoche entlehnen, sie muß ihre Normativität aus sich selber schöpfen. Die Moderne
sieht sich, ohne Möglichkeit der Ausflucht, an sich selbst verwiesen. [. . .] In der Grunder-
fahrung der ästhetischen Moderne verschärft sich das Problem der Selbstbegründung, weil
hier der Horizont der Zeiterfahrung auf die dezentrierte, aus den Alltagskonventionen
ausscherende Subjektivität zusammenschrumpft.« (Habermas 1986, S. 16 f.)
Der Kult des Neuen wurde zum Dreh- und Angelpunkt jener Dialektik der
Moderne, die Adorno in den Minima Moralia und der Ästhetischen Theorie
354 Gerhard Schweppenhäuser

formuliert hatte: Die Abkehr von der Tradition muss immerfort radikalisiert
werden, um ihre Frische und ihre schockierende Kraft zu behalten. Bei Poe trat das
Neue als über die Maßen Grauenhaftes auf, und Baudelaire formulierte die Erfah-
rung, dass die Jagd nach dem Neuen ihr Ziel erst im Untergang des Subjekts,
nämlich im Tod, erreicht und damit zugleich verfehlt.
Die unausweichliche Frage der ästhetischen Moderne ist die, ob ein Neues
möglich sei. Betrachtet man, wie in den Minima Moralia, die ästhetische Forderung
nach Neuheit kunstsoziologisch, zeigt sich, dass sie als abstrakte Forderung mit
dem Bewegungsgesetz der Warenproduktion verwandt ist (vgl. Adorno 1951,
S. 266–270). Das nicht weiter spezifizierte Postulat des Neuen ist das Prinzip der
Warenproduktion auf erweiterter Stufe. Hier kommt es darauf an, dass ständig
neue Produkte auf den Markt geworfen werden, damit bei steigendem Konkur-
renzdruck und zunehmender Sättigung des Marktes mit Gebrauchswerten die
immer aufwendiger werdende Produktion sich dennoch rentiert. In den ent-
wickelten Industrienationen Europas und ihren großstädtischen Märkten der zwei-
ten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschleunigte sich die Warenzirkulation. Als
abstraktes Prinzip gleicht die ästhetische Kategorie des Neuen dem Prinzip, dem
sie sich ursprünglich strikt entgegenstellte oder entzog: der Verwertungslogik der
bürgerlichen, nutzenorientierten Zweckrationalität. Deren Drang nach Neuem
macht die Erfahrung des Neuen kaputt und lässt sie umschlagen in die des
Immergleichen; die Dialektik von Innovation und Antiquation wird potenziert.
Aber das ist nur eine Seite. Im Ideal des Neuen (Rimbauds Forderung, man
müsse absolut modern sein) steckt auch das inner-ästhetische Postulat, »daß ein
Künstler über den einmal erreichten Stand seiner Periode verfügen müsse«
(Adorno 1970, S. 37). Die Kunst der radikalen Moderne entzieht sich zwar der
Verwertungslogik der bürgerlich-ökonomischen Vernunft, aber das tut sie nicht
abstrakt, indem sie aus der Geschichte und dem gesellschaftlichen wie technisch-
industriellen Fortschritt aussteigt. Die ästhetisch-autonome Rationalität der Mo-
derne hat an der technischen Innovationstendenz teil, indem sie ihre eigenen
künstlerischen Produktionstechniken radikalisiert und revolutioniert. Auf diese
Weise, meinte Adorno, ist die ästhetische Moderne zwar in Gefahr, das Neue um
seiner selbst willen abstrakt zu vergötzen und damit die ökonomische Logik
widerzuspiegeln; aber mehr noch verkörpere sie ein Versprechen, das in der
Rationalität der bürgerlichen Gesellschaft auch enthalten gewesen, jedoch mehr
und mehr marginalisiert worden sei: das Versprechen der Erfahrung von etwas, das
anders ist als die Erwerbslogik des Produktions- und Zirkulationsalltags. Dieses
Andere, das bei Baudelaire hinter der Negativ-Chiffre des Todes steht, wäre die
Utopie einer Lebenspraxis, in der Autonomie verwirklicht wäre – auch als Selbst-
bestimmung der Individuen.
Die Avantgarde-Bewegungen des frühen 20. Jahrhunderts sprachen diese utopi-
sche Intention teilweise offen aus. Im Ästhetizismus der zweiten Hälfte des 19.
Jahrhunderts ist die utopische Intention nur indirekt, negativ formuliert, in der
totalen Ablehnung aller Instanzen der bestehenden Gesellschaft. Der Rückzug in
eine Kunst um der Kunst willen kann mit Adorno durchaus als Absage, als negativ
gewendete Utopie wirklicher Schönheit und authentischer Erfahrung interpretiert
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 355

werden, die die Grenzen der Kunst überschritte. Die Abkehr von der Lebenspraxis
um der Kunst willen und die Aufhebung der Kunst in Lebenspraxis erweisen sich
als polare Bemühungen, die ein gemeinsames Ziel haben. Autonomie der Kunst
wird im Ästhetizismus absolut gesetzt, ist als solche aber Platzhalter verwirklichter
gesellschaftlicher Autonomie.
In der gesellschaftstheoretischen Zweideutigkeit der Autonomieästhetik, die bei
Moritz begonnen und mit Baudelaire einen weiteren Höhepunkt erreicht hat,
liegen die Wurzeln für die eigentümliche Stellung ästhetischer Autonomie in der
Kultur der Moderne. Einerseits vollzieht die Kunst, die sich auf sich selbst zurück-
zieht, das Bewegungsgesetz der Moderne, das die »Eigengesetzlichkeit der kultu-
rellen Wertsphären von Wissenschaft, Moral und Kunst« (Habermas 1986, S. 64)
durchsetzt. Andererseits scheint die Kunst damit aber auch aus dem Projekt der
Moderne auszuscheren, denn dessen Tendenz besteht Max Weber zufolge darin,
durch immer adäquatere Kenntnis und Beherrschung der Wirklichkeit die Lebens-
verhältnisse der Menschen zu verbessern, indem sie vernünftig eingerichtet werden.
Habermas beschreibt das als fortschreitende Verwirklichung der in ihnen ent-
haltenen Vernunftpotentiale bei gleichzeitiger Entfaltung der Pathologien der Mo-
derne.
»Die professionalisierte Bearbeitung der kulturellen Überlieferung unter jeweils einem ab-
strakten Geltungsaspekt läßt die Eigengesetzlichkeiten des kognitiv-instrumentellen, des
moralisch-praktischen und des ästhetisch-expressiven Wissenskomplexes hervortreten. Von
nun an gibt es auch eine interne Geschichte der Wissenschaften, der Moral- und Rechts-
theorie, der Kunst – gewiß keine linearen Entwicklungen, aber doch Lernprozesse. Das ist die
eine Seite. Auf der anderen Seite wächst der Abstand zwischen den Expertenkulturen und
dem breiten Publikum. Was der Kultur durch spezialistische Bearbeitung und Reflexion
zuwächst, gelangt nicht ohne weiteres in den Besitz der Alltagspraxis. Mit der kulturellen
Rationalisierung droht vielmehr die in ihrer Traditionssubstanz entwertete Lebenswelt zu
verarmen.« (Habermas 1981, S. 452 f.)

3. Massenkunst und ästhetischer Realismus

3.1. Rettung der Wirklichkeit im Bild


Der Entsubstantialisierung der Lebenswelt lässt sich visuell zum Teil gegensteuern,
und zwar mit eben den technologischen Errungenschaften, die sie erst herbeige-
führt haben. Adorno hatte dialektisch an die Ästhetik des autonomen Kunstwerks
angeknüpft, das er je nachdem als sinnerfüllte oder sinnverweigernde Totalität las,
in der die Teile ihre Existenzberechtigung jenem stimmigen Zusammenhang ver-
danken, den das künstlerische Subjekt herstellt. Wie Benjamin schlug auch Kra-
cauer einen anderen Weg ein. In seiner Theorie des Films von 1960 schrieb er:
»Wie realistisch [der traditionelle Künstler] auch sein mag, er überwältigt eher die Realität, als
daß er sie registriert. Und da es ihm freisteht, seinen formgebenden Tendenzen zu folgen,
kann sich sein Werk zu einem sinnvollen Ganzen entwickeln. Deshalb bestimmt die Bedeu-
tung eines Kunstwerks die Bedeutung seiner Elemente; oder umgekehrt, seine Elemente
356 Gerhard Schweppenhäuser

haben Bedeutung insoweit, als sie zur Wahrheit oder Schönheit beitragen, die dem Werk als
Ganzem innewohnt. Ihre Funktion ist nicht, die Realität widerzuspiegeln, sondern eine
Vision von ihr zu vergegenwärtigen.« (Kracauer 1985, S. 390)
Im Gegensatz zu Adorno war für Kracauer aber keineswegs selbstverständlich,
dass das Ästhetische im Fortschreiten seiner immer reflektierteren Stellung zur
Objektivität notwendig darauf hin angelegt sei, zunehmend zu sich selbst, das heißt
zur Kunstautonomie, zu kommen oder katastrophisch zu scheitern (oder beides).
Kracauers Theorie unterscheidet sich hier wesentlich von Adornos apokalyptischer
Ästhetik. Und zwar nicht nur deshalb, weil sie nicht in einem starken geschichts-
philosophischen Rahmen steckt, sondern auch, weil sie viel stärker auf den bild-
lichen Bereich mit seinen spezifischen visuellen Wahrnehmungsbedingungen kon-
zentriert ist als auf den konstruktiven Bereich notierter musikalischer Strukturen.
Kracauer hatte seine frühe ideologiekritische Filmtheorie aus den 1920er Jahren
mit der Zeit zu einer Variante des ästhetischen Realismus weiterentwickelt, die von
der Bildtheorie Erwin Panofskys beeinflusst ist (und eine interessante Alternative
zum Realismus der Ästhetik von Georg Lukács darstellt). Für Kracauer ist der
Film die Kunstgattung, die die äußere Wirklichkeit »retten« kann. Er konfrontierte
das Filmkunstwerk mit dem autonomen Kunstwerk, das die Wirklichkeit »ver-
nichtet«. Die dialektische Pointe in Kracauers Theorie ist: Der Film wird zwar in
eine Oppositionstellung zum autonomen Kunstwerk gebracht, aber mit einer
Intention, die die Oppositionstellung gegen das Nützlichkeitsdenken der zweck-
rationalen bürgerlichen Gesellschaft mit ihm teilt. Darum ging es Kracauer vor
allem, als er für die Rettung der erscheinenden, physischen, äußeren Realität
plädierte.
»Der Stoff des Films ist die äußere Realität als solche«, lautete die These von
Panofsky, der den theoretischen Grundstein für die Anerkennung des Mediums
Film als Kunstgattung legte (Panofsky 1967). Kracauer ist ihm darin gefolgt. Der
Film arbeite mit »Leben im Rohzustand«. Mit anderen Worten: Er kann Realität,
d. h. »unsere sichtbare Welt abbilden« (Kracauer 1985, S. 390). Das sei mehr, als
einen bloßen visuellen Abklatsch der Welt zu geben, an dem das Publikum sich
dann ergötzen könne; erst in der filmischen Abbildung werde Realität für uns
sichtbar. Filmbilder sind Zeichen, die eine je spezifische, nicht-arbiträre Beziehung
zum Bezeichneten haben. Filme, die auf der Höhe ihrer spezifischen ästhetischen
Möglichkeiten sein, hätten objektiv die Intention, die Erscheinungen der Welt zu
»retten«. Gerettet werden sollen sie davor, nicht wahrgenommen zu werden, aber
auch vor Desinteresse und funktionaler Reduktion, d. h. Verstümmelung durch den
Verschleiß, dem sie die warenproduzierende Gesellschaft aussetzt; und auch vor
der Bedeutungsminderung, die sie durch instrumentell-rationale Verengungen der
Wahrnehmung erleiden. Gerettet werden soll die physische, erscheinende Wirk-
lichkeit aber eben auch vor der Degradierung zum amorphen Stoff, die sie durch
Künstler erfährt, die in ihr nur das Material sehen können, das es durch Formung
allererst zu einer sinnhaften und ästhetischen Totalität zu machen gilt.
Wo sie gelingen, erbeuten Filme Bilder als Rohmaterial, die »ihre eigene Story
erzählen«; sie zeigen wirklich, »was sie zeigen«. Filmkünstler sind Menschen, die
»sich immer tiefer in den Dschungel der materiellen Phänomene hineinwag[en], auf
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 357

die Gefahr hin, sich unrettbar darin zu verlieren« (Kracauer1985, 392). Das ist der
ontologische Realismus der Kracauerschen Filmtheorie (s. dazu Koch 1996, S. 125–
147).

3.2. Realismus des Protests, Erfahrung und Gegen-Öffentlichkeit


Das Konzept des Realismus, dass der Schriftsteller, Filmemacher und Theoretiker
Alexander Kluge in den 1960er und 1970er Jahren entwickelt hat, kehrte sich
weniger vom autonomen Geltungsanspruch der Avantgarde-Moderne ab als Kra-
cauers Filmtheorie; es lebt von der Sensibilisierung für Verlusterfahrungen in der
Lebenswelt einer auf Verwertungsrationalität reduzierten Moderne. Kluge arbeitete
mit einem nicht-narrativen Realismus, der an das Prinzip der Montage aus dem
frühen sowjetischen Film anknüpft (vgl. Kluge 1975). Stücke subjektiv gefilmter
oder dokumentierter und kommentierter Realität sind so an einander gefügt, dass
keine filmische Kontinuität im traditionellen Sinn entsteht, sondern eine Folge von
Passagen. Zwischen den Elementen sind Brüche wahrnehmbar, aber gleichzeitig
wird auf eine Kontinuität der Reflexion in den Köpfen der Betrachter abgezielt.
Die Arbeit mit eingeblendeten Zwischentexten, die aus den Sehenden Lesende
machen, umgekehrt jedoch zugleich auch Texte in Bilder übersetzen, soll die
reflexive Arbeit unterstützen. Imagination und Kognition spielen frei, jedoch nicht
willkürlich in einander. Kluge ging es darum, dass die Kontinuität der Reflexion in
den Köpfen der Betrachtenden nicht die Brüche der Realität widerspiegelt, sondern
diese Brüche auf einer Ebene der Reflexion »aufhebt«. Darin sah er die Voraus-
setzung zur Kritikfähigkeit – sowohl Kritik der Wirklichkeit als auch Kritik ihrer
medialen Repräsentation in der bürgerlichen Öffentlichkeit, also vor allem im
Fernsehen. Kluges Realismus war »ein Realismus des Protests, kein Realismus, der
nur die ›schlechte Fiktion der Wirklichkeit‹ verdoppelt« (Hansen 1981, S. 49).
Kluge hatte Anfang der 70er Jahre zusammen mit Oskar Negt das Konzept
einer »Gegen-Öffentlichkeit« entwickelt. Die bürgerliche Öffentlichkeit im Spät-
kapitalismus, lautete die These, wird durch Bewusstseinsindustrien beherrscht. Die
Kulturindustrie der Mitte des 20. Jahrhunderts war vertikal organisiert, von der
Herstellung eines Produkts über die Distribution und Vermarktung war alles in
einer Hand. Inhaltlich hatte sie sich noch damit begnügt, einen ideologischen
Überschuss zu produzieren. Die Bewusstseinsindustrien (den Ausdruck hatte Hans
Magnus Enzensberger Anfang der 1960er Jahre geprägt), sind stärker horizontal
organisiert, greifen medial in einander über und erzeugen ein geschlossenes System.
Das hatte Adorno zwar auch schon von der Kulturindustrie gesagt, aber Negt und
Kluge meinten, es lasse sich empirisch erst für die Gegenwart nachweisen. Die
Bewusstseinsindustrien würden lebendige Erfahrungen, die Menschen machen und
brauchen, um sich selbst als denkende und fühlende Lebewesen zu reproduzieren,
als Rohstoff benutzen. Nun werde auch noch all das ausgebeutet, was Menschen
jenseits des Bereichs der ökonomischen Reproduktion produzieren. Es lässt sich
darüber streiten, ob die Differenz zur Kulturindustrie der klassischen Moderne
wirklich so gravierend ist, wie es bei Negt und Kluge manchmal erscheint, oder ob
es sich eher um eine graduelle Steigerung der Intensität handelt. Aber Negt und
358 Gerhard Schweppenhäuser

Kluge konnten zeigen, was sich in der Öffentlichkeit des Spätkapitalismus qualita-
tiv verändert hatte, weil sie ihre empirischen Beobachtungen in intensiver Ausei-
nandersetzung mit einer europäischen Medienkultur machten, die bis heute in
weiten Teilen immer noch eine Mischform aus privatkapitalistisch und, wie in
Deutschland, öffentlich-rechtlich organisierten Massenmedien ist.
Ein Widerstandspotential sahen Negt und Kluge damals nun eben gerade darin,
dass die Vergesellschaftung von Erfahrungen, also deren Integration in den kapi-
talistischen Verwertungsprozess, zunehmend notwendig wird. Der Speer, der die
Wunde schlug, sollte sie auch heilen. Die nicht mehr schwerindustrielle kapi-
talistische Produktionsweise in den 1970er Jahren verlangte neue Qualifikationen
der Subjekte, die ihre Arbeitskraft anboten. Subjektive Faktoren wie Sensibilität,
veränderte Wahrnehmungsfähigkeit, Gefühl und Emotion wurden in den nach wie
vor entfremdeten Arbeitsprozess eingebaut. Medien sind in diesem Prozess wider-
sprüchliche Agentien: sowohl treibende Kraft einer heteronomen, ausbeutenden
Vergesellschaftung von Erfahrung, Phantasie und Subjektivität, als auch deren
Förderer, Transportmittel und Beschleuniger. Kino, Fernsehen und reproduzierte
Musik, also die Basis-Ingredizien der modernen Massenkultur, haben in diesem
Licht einen Doppelsinn. Sie dringen in die letzten Ritzen dessen ein, was bis dahin
tendenziell noch unverfügbar war, beuten dies aus und führen das individuelle wie
das soziale Imaginäre der marktförmigen Verwertung zu (wie Fredric Jameson das
bald darauf formulierte). Aber zugleich stimulieren sie das Unverfügbare, können
es zur Selbstreflexion bringen, und damit die mögliche Aneignung des entfremde-
ten Eigenen vorbereiten. Der Eigen-Sinn der Medien ist also mehr als nur die
kultur- und bewusstseinsindustrielle Verwertung des Imaginären; er ist kompatibel
mit dem Eigen-Sinn der Subjekte und dessen utopischem Potential (das als Kon-
zept seinen Wert nicht dadurch verliert, dass sich Negt und Kluges »proletarische
Gegenöffentlichkeit« nie so recht zeigen wollte).

4. Kritische Theorien der Postmoderne und Cultural Studies

4.1. Todeskampf des Realen und die experimentelle Ästhetik der Avantgarde
In den ästhetischen Debatten der Postmoderne ist die technisch reproduzierte
Simulation des Wirklichen, die von Benjamin zuerst ins Visier genommen wurde,
als wichtigstes Phänomen der Gegenwart bezeichnet worden. Jean Baudrillard
verfolgt und kommentiert seit Mitte der 70er Jahre den Untergang der Wirklichkeit
im Hyperrealismus der elektronischen Bildmedien, die das Reale permanent ver-
doppeln würden (Baudrillard 1982). Der iterative Selbstbezug der Bildmedien in
ihrem ständigen Reproduktionskreislauf, in dem von einem Medium in das andere
hinüber kopiert werde, zerstöre das Reale. Realität sei nur noch im Simulakrum
greifbar, das sozusagen eine Reproduktion ist, zu der es kein Original gibt. Das
Reale sei durch seine Ähnlichkeit mit sich selbst vermittelt, die freilich den
Charakter einer Halluzination habe und damit selbst irreal sei. Baudrillards para-
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 359

doxe These: Diese Aufhebung des Realen sei das Ergebnis des Triumphs des
Realismus in der bildenden Kunst. Wie ein Vampir habe dieser die Wirklichkeit bei
seinen beharrlichen mimetischen Annäherungen entkräftet. Die Verdoppelung der
sichtbaren Welt in realistischen Bildern sei immer schon der Wiederholungszwang
gewesen, der im Zeitalter seiner industriellen Reproduzierbarkeit triumphiere;
Realität sei als dasjenige definiert worden, wovon sich eine äquivalente Reproduk-
tion herstellen lasse.
Baudrillard beschwört diesen Prozess als allgemeine mediale Apokalypse, in der
es nicht mehr auf die Unterscheidung zwischen Kunst und Massenkultur an-
kommt. Jean-François Lyotards Kritik der Massenkultur basiert dagegen auf der
Unterscheidung zwischen einer falschen Postmoderne, dem Eklektizismus der
Waren und Ideologien, und einer authentischen Postmoderne, der Weiterführung
des experimentellen Ansatzes der Avantgarde. Massenkultur, glaubte Lyotard,
befriedige heute das Identitätsverlangen und das Sekuritätsbedürfnis der meisten
Menschen. Statt risikofreudiger Lust auf das Neue sei »Erschlaffung« das Signum
unserer Kultur. Gesucht würde nach Bedeutungen und Wirklichkeit, Sinn und
Transzendenz, subjektiver Expressivität und kommunikativem Konsens. Der reali-
stische Konsens der modernen Alltagskultur sei ein Index für die Integrationskraft
des Kapitalismus, der Kunst, Literatur, soziale Rollen, Alltagsleben und Ge-
brauchsgegenstände durchdringe. Wie für Baudrillard stand für ihn fest, dass
Abbildungen der Wirklichkeit, von der großen realistischen Malerei des 19. Jahr-
hunderst bis zur Pop-Art, zu sehnsüchtiger oder spöttischer Beschwörung der
Wirklichkeit würden. Die nach der Logik der Warenform gebildete Vergesellschaft-
ungs- und Sprachform sei der real existierende Realismus, aber tatsächlich sei die
Wirklichkeit, im Gegensatz zu den Suggestionen des Kapitalismus und der
»Techno-Wissenschaft« (Lyotard 1999, S. 41), destabilisiert. Authentische Kunst
müsse vom Nihilismus ausgehen und den experimentellen Weg der Avantgarden
einschlagen: sie müsse versuchen, das Nichtdarstellbare darzustellen.
Der kulturindustrielle Realismus der neuen visuellen Medien, meinte Lyotard,
könne »besser, schneller und mit hunderttausendmal größerer Verbreitung als der
bildnerische und erzählerische Realismus«, »das Bewußtsein vom Zweifel [. . .]
bewahren« (Lyotard 1999, S. 37). Die industriellen Bildkünste stellten Kontinuitä-
ten und Rezeptionssicherheiten wieder her, die die Avantgarden in der Moderne
liquidiert hatten. Der Film stabilisiere die prekär gewordenen Zeichen, die nun
wieder in sequentielle Strukturen eingefasst würden und »als wiedererkennbarer
Sinn« erscheinen, der jederzeit verfügbar ist. Über ihn können sich die Zuschau-
enden ihres »Identitätsbewußtseins« und der kommunikativen Geborgenheit aller
versichern. Künstler dürften aber nicht den »Konformismus der Massen« bedienen
und »zu Anwälten des Bestehenden« werden, wie Lyotard in Adornoscher Diktion
fordert; sie müssen »sich solcher therapeutischen Praxis verweigern« (Lyotard
1999, S. 38). Das täten sie durch Infragestellung der Tradition, wodurch sie das
Vertrauen des Publikums verlieren. Das »Verlangen nach Realität, das heißt nach
Einheit, nach Einfachem, nach Mitteilbarkeit« sei für die Kunstrezeption im Zeit-
alter der Massenkultur kennzeichnend (Lyotard 1999, S. 39). Die »Dialektik der
Avantgarden« dagegen entstehe seit Duchamps aus den Herausforderungen, »die
360 Gerhard Schweppenhäuser

von den industriellen und massenmedialen Realismen auf die Kunst des Malens
und Erzählens ausgeht« (Lyotard 1999, S. 38).

4.2. Ideologie und Utopie in der Massenkultur


Der postmoderne französische Diskurs über Kunst und Massenkultur oszilliert
zwischen zwei Polen, die gleichermaßen resignativ sind: paradoxe Wiederbele-
bungsversuche der Avantgarde-Ästhetik und medientheoretische Apokalyptik.
Weiterführende Impulse auf diesem Gebiet kommen dagegen aus dem angelsäch-
sischen Sprach- und Kulturraum. Jameson hat gezeigt, dass moderne (Hoch-)
Kunst und Massenkultur objektiv mit einander verbunden und dialektisch auf
einander bezogen sind, weil sie die beiden Formen der Spaltung ästhetischer
Produktion im Kapitalismus sind. In dessen gegenwärtigem multinationalen Sta-
dium bleibe das klassisch-moderne Problem des Dualismus von hoher Kultur und
Massenkultur bestehen und verschärfe sich sogar, denn es sei nicht mehr nur ein
Problem unserer subjektiven Beurteilungsskriterien, sondern ein objektiver, gesell-
schaftlich begründeter Widerspruch (vgl. Jameson 1992a, S. 14). Massenkultur, die
sämtliche Formen früherer populärer Kunst und Kultur in sich aufgesogen hat,
leistet nach Jameson in der postmodernen kapitalistischen Gesellschaft die Koloni-
sierung des visuellen Unbewussten, das in Formen gebracht wird, die der Waren-
form analog und kompatibel sind. Aber die Produkte der Massenkultur gehen in
der commodification, also der warenförmigen Verdinglichung des kollektiven Un-
und Vorbewussten, nicht auf. Sie können auch eine Ausdrucksfunktion haben, die
soziale und politische Ängste und Phantasien ästhetisch transformiert. Die massen-
kulturellen »Texte«, d. h. ästhetischen Produkte, verwalten diese Ängste und Phan-
tasien zwar und unterdrücken oder verdrängen sie meist, aber damit das möglich
ist, müssen sie sie zunächst einmal überhaupt symbolisch gestalten und artiku-
lieren. Moderne Kunst und Massenkultur, argumentiert Jameson, haben genau so
viel »Gehalt« wie der traditionelle Realismus. Aber die drei ästhetischen Formen
gehen in sehr verschiedener Weise damit um. Realistische Kunst bearbeitete kollek-
tive Affekte als Gehalt der Werke,
»Modernismus und Massenkultur unterdrücken bzw. verdrängen fundamentale soziale Äng-
ste und Besorgnisse, Hoffnungen und blinde Flecke, ideologische Widersprüche und Kata-
strophenphantasien, die ihr Rohmaterial sind. Aber während der Modernismus dieses Mate-
rial so zu bearbeiten pflegt, dass er kompensatorische Strukturen verschiedener Art produ-
ziert, unterdrückt bzw. verdrängt die Massenkultur dieses Material, indem sie narrativ
imaginäre Lösungen konstruiert und eine visuelle Illusion sozialer Harmonie projiziert.«
(Jameson 1992a, S. 25 f.)

Das hat Jameson u. a. mit Analysen erfolgreicher Kinofilme wie Jaws oder The
Godfather demonstriert, in denen Konflikte bearbeitet und scheinbaren Lö-
sungen zugeführt werden, die aus dem zivilisatorischen Naturverhältnis, aus sozia-
len Spannungen oder der modernen Erfahrung des Verlusts familiärer Strukturen
hervorgehen und somit existentielle und soziale Erfahrungen fast aller Menschen
berühren. Die ideologischen und populistischen Lösungs- und Harmoniesugges-
tionen, die von der Filmindustrie nahegelegt werden, sind dabei nur eine Seite; die
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 361

andere, so Jameson, ist das utopische oder transzendente Potential, das gerade auch
solche Produkte der Massenkultur besitzen.
»Angst und Hoffnung sind die zwei Seiten des kollektiven sozialen Bewusstseins, und daher
können die Produkte der Massenkultur, selbst wenn es ihre Funktion ist, die bestehende
Ordnung (oder eine schlechtere) zu legitimieren, ihre Aufgabe nicht erfüllen, ohne die
tiefsten, fundamentalsten kollektiven Hoffnungen und Phantasien im Dienst jener Ordnung
umzulenken, wobei sie diesen Hoffnungen und Phantasien eine wie auch immer entstellte
Stimme verleihen.« (Jameson 1992a, S. 30)
Selbst die seichtesten Erzeugnisse der Massenkultur hätten noch, zumindest im-
plizit, negative und kritische Elemente der gesellschaftlichen Ordnung gegenüber,
deren warenförmige Produkte sie sind. Andernfalls könnten sie ihre ideologisch-
manipulative Funktion überhaupt nicht erfüllen. Ihre Anziehungskraft verdankten
sie dem verlockenden Bestechungsgeld, das sie den Konsumenten sozusagen in
Phantasiewährung anbieten. Sie legitimieren die bestehende Ordnung, aber damit
sie das können, müssen sie Ängste und Widerstände gegen das Bestehende wenigs-
tens rudimentär ausdrücken.

3.3 Der Perspektivismus der Cultural Studies


Jameson hat eine originelle Lektüre der Kulturindustriekritik von Adorno und
Horkheimer mit der Rekonstruktion der aktuellen Weiterentwicklung kritischer
Theorien der Massenkultur verbunden. Als die Autoren der Dialektik der Aufklä-
rung ihre Theorie der Kulturindustrie formulierten, so führt er aus, wurde in den
fortgeschrittenen USA der kulturelle Sektor monopolkapitalistisch erschlossen,
während das rückständige Deutschland seine nachholende, nicht mehr bürgerliche,
sondern kleinbürgerliche Revolution exerzierte und Europa damit terrorisierte.
Die Dialektik der Aufklärung setze nun einerseits die Gattung der neuzeitlichen
europäischen Reiseliteratur fort, die die neue Demokratie in Nordamerika und ihre
politischen, gesellschaftlichen und kulturellen Formen der vergleichenden Kritik
unterzieht. Andererseits bestehe sie auf einer strukturellen »Untrennbarkeit von
Kulturindustrie und Faschismus« (Jameson 1992b, S. 177), wodurch der Unter-
schied zwischen bürgerlich-kapitalistischer und autoritärer Staatsordnung als bloß
gradueller erkennbar wird. Das sei der Stachel der Dialektik der Aufklärung in
allen kritischen kulturtheoretischen Diskursen bis heute gewesen. Adorno und
Horkheimer hätten »die Identifikation von Massenkultur und Warenform« als
totalitäres Paradigma der modernen Massengesellschaft aufgezeigt, und das konnte
in Nordamerika »zur Grundlage für eine Kulturkritik des Kapitalismus« werden
(Jameson 1992b, S. 177).
Nun wurde aber in den 1960er Jahren ein anderer Strang der linken Kritik
dominant, nämlich populistische Theorien der populären Kultur, die Manipula-
tionstheorien ablehnen und erforschen, wie Benutzer der massenkulturellen Wa-
renangebote diese im Gebrauch umfunktionieren. Sie gehen nicht mehr davon aus,
dass ein passives Publikum sich der kommerziellen, warenästhetischen Kultur
unterwirft und ihre Angebote identifikatorisch verinnerlicht. Vielmehr arbeiten sie
mit dem Modell eines lebendigen Kampfs um Deutungshoheiten in der Alltags-
362 Gerhard Schweppenhäuser

kultur. In spätkapitalistischen Gesellschaften stehen sich »power bloc« und »the


people« als Widersacher gegenüber, auch wenn es um die Produktion und Rezep-
tion kultureller »Texte« geht. Die neuen »Konzeptionen des Lesens« kultureller
Texte, die die Cultural Studies der Massenkultur entwickelt haben, bezeichnet
Jameson resümierend als »Theorien des Widerstands, des Umformulierens, der
Aneignung des kommerziellen Textes durch Gruppen, für die er in der Form gar
nicht gedacht war« (Jameson 1992b, 179).
Keine Frage: Die Cultural Studies haben die Optik verändert, das hat sich gerade
im deutschsprachigen Raum in den letzten Jahren deutlich gezeigt. Ihr Projekt
einer kritischen Gesellschafts- und Kulturtheorie knüpft an Karl Marx und Roland
Barthes an. Dessen Kultursemiotik lehrte, dass kulturelle Phänomene wie Texte
organisiert sind, als Zeichenzusammenhänge mit denotativen und konnotativen
Bedeutungsaspekten. In der medialen Kommunikation der Massenkultur wird die
Grundbedeutung durch die sekundäre Bedeutungskomponente der Konnotationen
überlagert. Die »Mythologien«, die so produziert werden, sind sekundäre Zeichen-
systeme, die Ideologien des Alltagslebens formieren. Diese sekundären semioti-
schen Systeme arbeiten meist mit binären Oppositionen, d. h. mit Gegensatzpaaren
von Zeichen, die sich ausschliessen, aber zusammen auftreten wie zwei Seiten einer
Medaille. Die Gegensätzlichkeit erzeugt Vieldeutigkeit (Barthes 1964). Noch (oder
gerade) an den trivialsten Gegenständen lässt sich die Polysemie kultureller Texte
entziffern; sie wird mit Witz, Ironie und Metaphern erzeugt. Die Cultural Studies
betonen die Vieldeutigkeit massenkultureller Produkte. Kultur, als Form kollekti-
ver, doch antagonistisch organisierter menschlicher Praxis, ist für sie sowohl die
Gesamtheit einer Lebensweise als auch ein Bedeutungssystem. Es ist einerseits
durch Vielschichtigkeit gekennzeichnet, andererseits aber auch durch hegemoniale
Tendenzen, d. h. durch das Ringen bestimmter gesellschaftlicher Schichten um
kulturelle Vorherrschaft. Hegemonie ist hier, mit Antonio Gramsci, die komplexe
Mischung aus Zwang und Zustimmung, die eine bestimmte soziale Gruppe durch-
setzt. Raymond Williams versteht unter kultureller Hegemonie das »Ensemble von
Praxen und Erwartungen, das die Gesamtheit unserer Lebensformen umfasst:
unsere Sinnes- und Arbeitsenergien, die Art und Weise, wie wir uns selbst und
unsere Welt wahrnehmen. Sie ist ein gelebtes System von Bedeutungen und Werten
[. . .], die in dem Maße, in dem sie als Praxen erfahren werden, sich wechselseitig zu
bestätigen scheinen.« (Williams 1977, S. 177)
Die Rezeptionsforschung der Massenmedien, lehren die Cultural Studies, muss
zweierlei berücksichtigen: zum einen, dass Massenkommunikation ein Produk-
tionsverhältnis (im Marxschen Sinne) ist, in dem Rohmaterialien, nämlich Inhalte,
vermittels Kodierung in einen warenförmigen Verwertungskreislauf eingespeist
werden – aber auch, dass ästhetischer Gebrauchswert komplexen subjektiven
Wertungen unterliegt, die nicht nur auf ihren ideologisch-manipulativen Gehalt
reduziert werden können. Kulturelle Texte können ganz anders dekodiert werden,
als sie enkodiert worden sind, meint Stuart Hall (1999). Hier kann es zu Ver-
selbständigungen kommen, weil es verschiedene Bedeutungsschichten gibt, die
verschiedene Benutzer jeweils verschieden für sich aktivieren; stereotype Produkte
können kontraintentional und individuierend rezipiert werden.
Ästhetische Theorie, Kunst und Massenkultur 363

Natürlich müssen z. B. die verselbständigende Rezeption, die alte Fernsehserien


zu Kultserien macht, oder der Elvis-lebt-Kult, der sich, wie John Fiske (1999)
meint, augenzwinkernd und frech gegen Herrschaftwissen und den Populismus der
Boulevardpresse zugleich behauptet, nicht unbedingt nur Indizien für die Auto-
nomie und Freiheit der Rezeption kommerzieller Produkte sein. Aber es gibt die
Möglichkeit zu solcher Rezeption; die strukturelle Vieldeutigkeit der Massenkultur
lässt sie zu. Polysemie erkennen und dekodieren ist eine ästhetische Kompetenz,
die in der Massenkultur immer wichtiger wird. Das hat man freilich in den
professionellen Branchen längst erkannt (weshalb es heute leider kaum noch
»naive« Kino- oder TV-Produktionen gibt, die in späteren Rezeptionswellen die
ungeahnte Süße ihrer unfreiwilligen Komik entfalten könnten). Vieldeutigkeit
entsteht nicht mehr gleichsam naturwüchsig, sie wird einkalkuliert. Das flüchtige
Zusammenspiel manifester, dominanter Aussagen und latenter, eigen- und gegen-
sinniger Bedeutungen wird geplant.
Hier ist noch einmal Jameson zu erwähnen, der auf der grundlegenden Diffe-
renz zwischen kritischer Theorie der Kulturindustrie und der Massenkultur-Theo-
rie der Cultural Studies beharrt (1992b). Er meint, es werde Zeit, diesen Diskurs
durch eine neue Manipulationstheorie zu korrigieren, die zwar von Adorno in-
spiriert ist, aber den Veränderungen der Phänomene in der Gegenwart Rechnung
trägt.
So wichtig dies auch ist – ich plädiere dafür, dass zugleich die produktiven
Aspekte der Massenkultur und ihres ambivalenten Verhältnisses zur Kunst nicht
vernachlässigt werden. Meine These ist, dass in der Massenkultur ästhetische
Erfahrungen eigener Art möglich sind, die anderswo nicht (oder nicht mehr) zu
haben sind. Das sind einerseits solche, die durch Reproduktionstechnologie ent-
weder überhaupt ermöglicht werden oder neue Qualitäten und Quantitäten errei-
chen, und andererseits solche, die nach der Moderne in der »Hochkunst« und
ihrem Legitimationsdiskurs tabuiert oder zumindest kompromittiert worden sind.
Ich denke z. B. an Erfahrungsbereiche wie physische Teilhabe und Mitvollzug, an
das ludische Element (das gerade auch im Sport als Teil der Massenkultur zentral
ist), an Performativität und körperliche Präsenz, Identifikation, das Glück der
Wiederholung, Schönheit, Begehren, Unterhaltung und Vergnügen durch Effekte
und Zustände, in die wir uns versetzen lassen, das Kathartische und das Politische,
und nicht zuletzt an die formalen Mittel des Realismus und des Mimetischen.

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Warum ist die Kritische Theorie kritisch?
Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen
Wolfgang Bonß

I.

Eine der vielen Merkwürdigkeiten des Positivismusstreits (Adorno et al. 1969) war
der weitgehend unkritische Umgang mit dem Stichwort der Kritik. So etikettierten
sich Popper und Albert ebenso wie Adorno und Habermas als »kritisch«, und dies
wurde von ihren jeweiligen Anhängern unbesehen übernommen. Popper/Albert
traten dementsprechend als Verfechter des »Kritischen Rationalismus« in den
Blick, während Adorno/Habermas für das Label »Kritische Theorie« standen.
Angesichts der ansonsten betonten Differenzen hätte es durchaus nahe gelegen, die
parallelen (Selbst-)etikettierungen zum Problem zu machen und eine Debatte über
die Dimensionen und Kriterien des Kritischen zu beginnen. Aber genau dies
geschah nicht. Statt dessen beschränkte man sich darauf, »ein Streitgespräch zwi-
schen politisierten Wissenschaftlern« (Schablow 1974) zu führen und das Kritik-
konzept der jeweils anderen Seite als unkritisch bis ideologieverdächtig zu atta-
ckieren.
Dass der unterschiedliche Gebrauch des Kritikkonzepts jenseits der wechselsei-
tigen Polemik kaum zum Thema gemacht wurde, ist mit dem Abstand von mehr
als drei Jahrzehnten weniger den unmittelbaren Kontrahenten vorzuwerfen, son-
dern eher der Rezeption der Kontroverse. Letztere zeichnet sich durch vieles, aber
nicht unbedingt durch eine nachhaltige Arbeit am Begriff aus. Statt bereits vorlie-
gende Argumentationen zu »Kritik und Erkenntnisfortschritt« (Lakatos/Musgrave
1965) oder zur »Kritik als Beruf« (Lepsius 1964) aufzugreifen und für die Frage
»Was ist Kritische Theorie?« (Bubner 1969) fruchtbar zu machen, wurde die
systematische Diskussion des Kritikbegriffs weitgehend ausgeblendet und in die
Welt der philosophischen Handbücher (z. B. Bormann 1973) oder der Spezialunter-
suchungen (z. B. Röttgers 1975) abgeschoben. Vor diesem Hintergrund fanden sich
die Beteiligten weitgehend problemlos damit ab, dass das Konzept der Kritik
ubiquitär wurde, wobei diese Entwicklung nicht selten als Fortschritt begriffen
wurde. So war und ist es für manche ein entscheidendes Kennzeichen der moder-
nisierten Moderne, dass Kritik an allem und jedem geübt werden kann. Angesichts
fehlender ›fester‹ Maßstäbe scheint umgekehrt das Stichwort der Kritik zu einem
»Verpflichtungsbegriff« (Röttgers 1990, S. 889) geworden zu sein. Sich unkritisch
zu geben, ist jedenfalls verpönt, wobei die ubiquitär gewordene Kritik meist
folgenlos bleibt und wohl auch bleiben muss, da ihre Grundlagen nur selten
explizit gemacht werden.
Man kann darüber streiten, ob eine solche Verflachung des Kritikbegriffs irre-
versibel und unausweichlich ist. Dies um so mehr, als es seit den 1990er Jahren
durchaus »Gegenbewegungen« gegeben hat, die auf eine vertiefte Begründung des
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 367

Kritikbegriffs abzielen. So finden sich Versuche, eine »Soziologie der Kritik« (Holz
1990) zu entfalten und die Geschichte des Kritikbegriffs genauer zu beleuchten
(z. B. Geyer 2000). Darüber hinaus ist gerade in letzter Zeit eine erstaunlich
lebhafte Diskussion um die Kritikmaßstäbe insbesondere auf dem Feld der Gesell-
schaftskritik entbrannt (vgl. Wenzel 2002). Zwar steht diese Debatte erst am
Anfang und hat bislang nicht unbedingt zu mehr Klarheit geführt, sondern eher die
Defizite der bisherigen Reflexion aufgezeigt. Aber auch wenn zunächst die Vielfalt
und historische Veränderbarkeit der Begründungsstrategien deutlich geworden
sind, so zeigen sich in den neuen Ortsbestimmungen des Kritikkonzepts durchaus
Gemeinsamkeiten, die dann klarer werden, wenn man sich die Anfänge des okzi-
dentalen Kritikkonzepts vergegenwärtigt.
Die etymologische Wurzel des okzidentalen Kritikbegriffs liegt in dem griechi-
schen Verb krinein, das mehrere Bedeutungsschichten hat und sich am ehesten mit
(ab-)sondern, (unter-)scheiden und (be-)urteilen übersetzen lässt. Auch wenn sich
die Experten im Detail nicht unbedingt einig sind, so ist zumindest eins klar: Das
Geschäft des Kritisierens bezieht sich auf die Formulierung von Urteilen bzw.
genauer: auf die urteilende Feststellung von Differenzen, die ihrerseits nicht be-
liebig sind, sondern sich auf Dimensionen wie wahr/falsch, zutreffend/unzutref-
fend oder angemessen/unangemessen beziehen. Zwar ist keineswegs klar, wie die
Stichworte wahr/falsch, zutreffend/unzutreffend oder angemessen/unangemessen
im Einzelnen auszubuchstabieren sind. Aber dies ändert nichts daran, dass sich
Kritik immer auf die Feststellung von Differenzen bezieht.
Unter kognitiven Perspektiven verweist die Differenzsetzung auf die Abgren-
zung von zwei Beschreibungsebenen und damit auf eine spezifische ›Doppelstruk-
tur‹ bei der Beurteilung von Wirklichkeit. Egal worauf sie sich bezieht und wie sie
formuliert wird – Kritik ist nur möglich auf der Grundlage eines unterstellten
Gegensatzes von tatsächlicher und behaupteter bzw. von faktischer und möglicher
Wirklichkeit. Wer kritisiert, trifft immer ein Urteil über das Verhältnis von be-
schriebenen und ›wirklichen‹ Wirklichkeiten, wobei die angesprochenen Wirklich-
keiten immer nur einen bestimmten Realitätsausschnitt betreffen. Denn bei den
Wirklichkeiten, die der Kritik zugänglich sind, handelt es sich stets um Handlungs-
wirklichkeiten. die abzugrenzen sind von jenen Realitäten, auf die der Mensch
keinen Einfluss hat. Oder in den Worten von Kurt Röttgers (1990, S. 889) ausge-
drückt: das Konzept der Kritik ist von Anfang an »begrenzt auf solche Sach-
verhalte, die als Handlungen oder Handlungsresultate aufgefasst werden können.
Die Natur oder Teile der bloßen Natur zu kritisieren gilt als unangemessen.« Kritik
bezieht sich also immer nur auf durch den Menschen veränderbare Dinge, und dies
macht deutlich, dass insbesondere die okzidentale Kritik per definitionem einen
praktischen Ursprung hat und stets auf Veränderung drängt.
Allerdings ist weder die Praxisorientierung noch das Faktum der Feststellung
von Differenzen eine eindeutige Angelegenheit. So kann die Veränderungsorientie-
rung unterschiedlich ausfallen, und ähnliches gilt für die Feststellung von Differen-
zen. Bleibt man zunächst bei den Differenzen, also bei dem mit jeglicher Kritik
behaupteten Gegensatz von tatsächlicher und behaupteter bzw. von faktischer und
möglicher Wirklichkeit. so lassen sich weiterführend und jenseits der griechischen
Ursprünge mindestens drei Varianten von Kritik unterscheiden:
368 Wolfgang Bonß

(1) Für die erste Variante ist entscheidend, dass die vorgelegte Beschreibung mit der
faktischen Wirklichkeit (bzw. genauer: mit der Realität im Sinne der Welt der
Tatsachen) nicht übereinstimmt oder sie nur unzutreffend wiedergibt; wer diesen
Punkt betont, formuliert eine empirische Kritik.
(2) Das behauptete Spannungsverhältnis kann sich aber auch darauf beziehen, dass
die beschriebene Realitätsstruktur in sich inkonsistent ist bzw. (Neben-)Folgen
zeitigt, die den Strukturprinzipien widersprechen oder sie außer Kraft setzen;
orientiert sich die Kritik an diesem Punkt, so handelt es sich um eine immanente
Kritik.
(3) Die dritte Variante schließlich operiert mit der These, dass die beschriebene
Wirklichkeit nicht so ist, wie sie sein sollte oder sein könnte. Die (schlechte)
Wirklichkeit wird aus der Perspektive eines (wie auch immer begründeten) mögli-
chen Andersseins kritisiert; sofern diese Form der Kritik das Spannungsverhältnis
von Sein und Sollen ins Zentrum stellt, kann sie als normativ charakterisiert
werden.

Zwar sind die drei Kritikvarianten keineswegs völlig trennscharf, und es wäre auch
falsch, sie gegeneinander auszuspielen. Gleichwohl ist es erhellend, die Unter-
scheidung der verschiedenen Kritikformen auf den Positivismusstreit zu über-
tragen. Denn eine solche Übertragung macht deutlich, dass die Kontrahenten
höchst unterschiedliche Kritikkonzeptionen vertraten. So war für den Kritischen
Rationalismus die Idee einer empirischen Kritik entscheidend, ergänzt um Aspekte
einer immanenten Kritik. Normative Perspektiven hingegen wurden explizit abge-
lehnt und damit letztlich auch das Konzept der Gesellschaftskritik. Ganz anders
hingegen die Akzentsetzung bei den Verfechtern der Kritischen Theorie. Zwar
akzeptierten deren Vertreter von Adorno und Horkheimer bis hin zu Habermas
die Varianten der empirischen und der immanenten Kritik in ihrem jeweiligen
Rahmen durchaus. Aber mindestens ebenso wichtig war für sie die vom Kritischen
Rationalismus verworfene Gesellschaftskritik, die nur denkbar erschien vor dem
Hintergrund der Idee und/oder der Erfahrung eines möglichen Andersseins, und
damit im Kontext einer normativen Kritik.
Dass Gesellschaftskritik stets normativ sein muss, ist eine keineswegs selbst-
verständliche, aber bei genauerer Betrachtung durchaus plausible These. So lassen
sich insbesondere noch (oder nach außen) funktionierende gesellschaftliche Sys-
teme letztlich nur kritisieren vor dem Hintergrund der Idee eines wie auch immer
gedachten möglichen Andersseins, das Ausbeutung und Ungerechtigkeiten erst
richtig sichtbar werden lässt. Zwar ist Gesellschaftskritik zum Teil als empirische
und/oder immanente Kritik denkbar, nämlich dann, wenn gesellschaftliche Systeme
an mehr oder weniger deutlichen, internen Funktionsstörungen leiden. Aber selbst
in diesen Fällen setzt die Kritik normative Momente insofern voraus, als sie in der
Regel nur dann überzeugend ist, wenn sie sich auf das Konzept einer anderen
Gesellschaft als Denkmöglichkeit und ›Kontrastfolie‹ bezieht. Gleichwohl bleibt
die Frage, wie sich die Idee des möglichen Andersseins als Kontrastfolie zur
schlechten Wirklichkeit begründen lässt. Sie bloß zu behaupten, reicht jedenfalls
nicht aus, und seitens der Kritischen Theorie wurde von Anfang an darauf hin
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 369

gewiesen, dass ein mögliches Anderssein nicht idealistisch gegen die schlechte
Wirklichkeit gewandt werden könne, sondern realitätsbezogen begründet und
erfahrungsbezogen verankert sein müsse.
An dieser ebenso richtigen wie problematisierungswürdigen Feststellung setzen
die folgenden Argumentationen an. Diese beschäftigen sich mit der Frage der
Begründbarkeit von Kritik, und zwar sowohl allgemein als auch im Sinne von
Gesellschaftskritik. Historisch wie systematisch lässt sich die Frage der Begründ-
barkeit unterschiedlich beantworten, und geht man die diversen Begründungsvor-
schlage durch, so fällt auf, dass sich die Bezugspunkte, Gegenstände und Adressaten
der Kritik gleichermaßen verändern. Genau diese drei Dimensionen sollen im
Folgenden genauer betrachtet werden, denn anhand der Veränderungen in diesen
drei Dimensionen lässt sich so etwas wie eine Lerngeschichte der Gesellschafts-
kritik erkennen, die unabgeschlossen ist und grob skizziert werden soll, um die
offene Frage nach den »Bedingungen der Möglichkeit von Kritik heute« zum
Thema zu machen.

II.

Eine Rekonstruktion der Geschichte des Kritikbegriffs wäre unvollständig ohne


einen knappen Blick auf das antike Kritikverständnis. Das antike Konzept er-
scheint heute vor allem deshalb interessant, weil es mit dem Kritikverständnis der
Moderne kaum vergleichbar ist. Dies zeigt bereits der Bezugspunkt der antiken
Kritik, der aus der heutigen Perspektive stets metaphysisch gedacht wurde. Als
Maßstab und Bezugspunkt fungiert in der antiken Philosophie der nous – ein
Stichwort, das mit Vernunft und Geist nur unzureichend übersetzt wird (vgl.
Buchheim 1998). Nous bezeichnet ein den Kosmos ordnendes Prinzip, das unter-
schiedlich interpretiert wurde, aber stets auf eine als unantastbar begriffene Ord-
nung verweist, die als ›natürliche‹ unbeeinflussbar ist, allenfalls in der Verfügungs-
macht der Götter steht und der sich jeder zu fügen hat. Diese den Menschen
vorgegebene Ordnungsstruktur dient als normative Letztbegründung und Maßstab
zur Beurteilung menschlichen Handelns gleichermaßen, und sie bestimmt sowohl
den Gegenstand als auch die Adressaten der Kritik. Das Thema und damit der
Gegenstand der Kritik sind somit tatsächliche oder mögliche Verletzungen dieser
Ordnung, die nicht akzeptiert werden können bzw. geahndet werden müssen. Den
Adressaten der Kritik wiederum bilden diejenigen Subjekte, die sich potentiell oder
faktisch der Ordnung nicht fügen und damit nicht nur in ihr eigenes Verderben
herauf beschwören, sondern auch ihre soziale Umgebung ins Unglück stürzen
können.
Dieses auf Anpassung an einen vorgegebenen Ideenhimmel abzielende Kritik-
konzept ist keineswegs auf die Antike beschränkt, sondern bleibt mit dem Über-
gang zum Christentum weitgehend unverändert erhalten. Zwar wurde die göttliche
Ordnung jetzt anders ausbuchstabiert. Aber auch wenn der Polytheismus zum
Monotheismus wurde, behielt die göttliche Ordnung ihre Funktion als Basis und
370 Wolfgang Bonß

Bezugspunkt der Kritik. Aus ihr ergaben sich die Normen des menschlichen
Zusammenlebens, die auf dem Wege der Kritik zu verdeutlichen waren. Oder wie
Reinhart Koselleck (1973, S. 99) es am Beispiel der vormodernen Königskritik
formuliert: Die legitime »Kritik am König bestand« nicht darin, ihn ins Unrecht zu
setzen, sondern »darin, ihm sein Recht zu zeigen« und jenen die Grenzen aufzu-
weisen, die ihm sein Recht streitig machten und sich damit der göttlichen Ordnung
verweigerten. Kritik bedeutet somit ziemlich das Gegenteil von dem, was wir seit
der Moderne mit diesem Stichwort verbinden, nämlich Bestätigung einer vorgege-
benen Ordnung, die es nicht zu verändern, sondern wiederherzustellen gilt.
Andere Perspektiven ergaben sich erst mit der breitenwirksamen Einbürgerung
des Kritikbegriffs in den europäischen Nationalsprachen und mit der Entstehung
der aufklärerischen Kritik im frühen 18. Jahrhundert. Die hiermit verknüpfte,
konzeptuelleVeränderung lag in einer entscheidenden Verweltlichung der Kritikba-
sis. Basis und Bezugspunkt der Kritik wurden nicht länger in einer durch Gott
repräsentierten, externen Ordnung gesehen, sondern im Menschen selbst. Als
neues Leitmodell fungierte die naturrechtlich begründete Idee des vernunftbegab-
ten Menschen als unterstellte Wesensnatur und normative Letztbegründung.
Sofern die Menschen als potentiell vernunftgesteuerte und dementsprechend
gleiche begriffen wurden, wandelte sich aber nicht nur der Bezugspunkt, sondern
ebenso der Gegenstand der Kritik. Wie die Praxis der Freimaurer und anderer
aufklärerischer Geheimgesellschaften zeigt, waren Religion und Politik als Kritik-
gegenstände zwar zunächst ausgeklammert worden. Aber sofern die Vernunft
gegen einen unvernünftigen Glauben ins Feld geführt werden konnte, erschien der
absolute Wahrheitsanspruch der Offenbarungsreligion immer weniger haltbar, und
angesichts der postulierten Vernunftgleichheit der Menschen konnte es auch nicht
mehr um die Anerkennung einer vorgegebenen Ordnung der Ungleichheit gehen;
die Ungleichheiten des Absolutismus gerieten vielmehr selbst in die Kritik, da sie
der unterstellten Wesensnatur des Menschen widersprachen. Hiermit veränderte
sich schließlich auch der Adressat der Kritik, der gleichsam herrschaftskritisch
aufgespalten wurde. Auf der einen Seite stehen die ›positiven‹ Adressaten, nämlich
die als vernunftbegabte Wesen begriffenen Bürger, die den Mut haben, sich aus der
selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien, und auf der anderen Seite als
›negativer‹ Adressat der diese Vernunft negierende König bzw. Adel, der auf durch
die Vernunft nicht zu rechtfertigende Privilegien pocht und sich dadurch selbst ins
Unrecht setzt.
Die herrschaftskritische Akzentuierung bildet ein zentrales Kennzeichen moder-
ner Gesellschaftskritik, wie sie sich im 18. Jahrhundert allmählich herausbildete
und als Konsequenz ihrer immanenten Dynamik zunehmend radikalisierte (vgl.
Koselleck 1979, S. 89ff.). So stellte die Kritik immer mehr scheinbare Selbst-
verständlichkeiten in Frage, und sofern sie praktisch vor nichts mehr halt machte,
wurde sie selbst scheinbar haltlos. Denn mit ihren eigenen Fortschritten entzog sie
jeglichen normativen Letztbegründungen ungewollt den Boden. Diese Akzentuie-
rung war zwar weder direkt sichtbar noch bestimmte sie das Selbstverständnis der
Kritiker; Letztere hofften vielmehr, gerade durch eine Radikalisierung der Kritik
doch noch zu einer widerspruchsfreien Wahrheit zu gelangen. Aber dies ändert
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 371

nichts daran, dass die Kritik durch ihren eigenen Fortschritt immer weniger in
überzeitliche Wahrheitszusammenhänge eingebunden und durch diese begrenzt
war; sie wurde vielmehr zunehmend in dem Sinne autonom, dass sie als entgrenzte
nicht mehr aus allgemeinen Prinzipien, sondern letztlich nur aus sich selbst heraus
begründet werden konnte.
Freilich wurde diese Konsequenz, die heute vor allem in den Konzeptionen der
Postmoderne betont wird, zunächst kaum gesehen. Denn auch die entgrenzte und
damit autonom gewordene Kritik beanspruchte nach wie vor Verallgemeiner-
barkeit, weshalb ihr der Gedanke eines möglichen Relativismus zunächst fremd
war. Ungeachtet dessen konnte die Idee der vernünftigen Menschennatur kaum
länger im Sinne überzeitlich-verbindlicher Wertkriterien als gleichsam säkulari-
sierte göttliche Ordnung gedacht werden. Hiergegen sprachen nicht zuletzt Argu-
mentationen wie die von Jean-Jacques Rousseau, dessen Polemik gegen die Ver-
fechter eines vernünftigen Gesellschaftsvertrages eine Ahnung davon vermittelte,
dass die scheinbar überzeitlichen Wertkriterien keineswegs unveränderlich waren.
Nach Rousseau waren besagte Wertkriterien selbst als ein gesellschaftliches Pro-
dukt zu begreifen, das ebenso problematisch wie veränderbar erscheint. Diese
Argumentation ist zwar durchaus unterschiedlich aus deutbar, aber nimmt man sie
ernst, dann ist die menschliche Existenz nicht determiniert, und die menschliche
Entwicklung muss als eine prinzipiell offene Angelegenheit verstanden werden
(vgl. Geyer 1997, S. 202ff.).
Als Reaktion auf den Verlust apriorischer Werte und auf die Unmöglichkeit, das
konkrete Einzelsubjekt umstandslos auf Gattungsprinzipien zu beziehen, kam es
zu spezifischen Weiterentwicklungen des Kritikkonzepts, die hier kaum im Detail
(vgl. Röttgers 1975) beschrieben werden können. Festzuhalten sind aber zumindest
drei Punkte, die bis weit in das 20. Jahrhundert hinein eine entscheidende Rolle
spielen, nämlich (a) eine grundsätzliche Verzeitlichung der Kritik, (b) eine wach-
sende Verknüpfung von Kritik und Krise sowie (c) ergänzende soziale bzw. sozial-
strukturelle Differenzierungen.
Verzeitlichung der Kritik bedeutet in diesem Zusammenhang, dass die einge-
klagte Gestaltung der Welt als vernünftige nicht mehr als eine einfache ›Um-
setzung‹ von zeitlosen Prinzipien begriffen wird, sondern als ein zeitabhängiger
Prozess, der verschiedene Stufen durchlaufen muss und dessen Ausgang überdies
ungewiss ist. Diese Akzentverschiebung war angesichts der zeitgeschichtlichen
Situation Ende des 18. Jahrhunderts keineswegs zufällig. Denn vor dem Hinter-
grund der Erfahrungen der französischen Revolution ließ sich das nach wie vor an
überzeitlichen Wertkriterien orientierte Kritikverständnis der Frühaufklärung
kaum ungebrochen halten. So zeigte der Umschlag der Revolution in den Terreur,
dass die Vernunft weder von selbst noch problemlos zur Verwirklichung drängt.
Die Gestaltung der Welt als vernünftige erschien nicht mehr unbedingt als ein
selbstverständliches Projekt, dessen Realisierung allein durch die Unvernunft der
feudalen Ungleichheit behindert wird. Sie stellte sich vielmehr als eine historisch
unentschiedene Aufgabe dar, die nicht scheitern musste, aber scheitern konnte und
auf jeden Fall als ein mehr oder weniger offener Prozess zu begreifen war.
Freilich wurde diese prinzipielle Offenheit von den Zeitgenossen nur begrenzt
372 Wolfgang Bonß

realisiert. Dies gilt auch für die intellektuelle Avantgarden, die zumeist mit dem
Versuch reagierten, die verzeitlichte Kritik in eine Geschichtsphilosophie mit
eindeutigem Ende einzubinden. Hierfür stehen die frühromantischen Entwürfe à la
Novalis ebenso wie die weit prominentere Dialektik Hegels, die explizit darauf
abzielte, die im Zuge der sich radikalisierenden Kritik zersplitterte Welt noch
einmal zu einem Gesamtentwurf zusammen zu fügen. Gleichwohl konnte selbst
Hegels Entwurf die prinzipielle Ambivalenz der modernen Kritik nur begrenzt
überdecken. Deutlich wird diese prinzipielle Ambivalenz freilich in einer anderen
Entwicklung, nämlich in dem parallelen Aufschwung des Konzepts der Krise, das
seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine immer breitere Verwendung fand.
Der ursprünglich aus der Rechtswissenschaft stammende und im Kontext der
Medizin reformulierte Krisenbegriff, der interessanterweise auf dieselbe etymologi-
sche Wurzel zurück geht wie das Stichwort der Kritik, bezieht sich auf eine schwer
zu beeinflussende Entscheidungssituation, die ins Positive wie ins Negative um-
schlagen und dem menschlichen Zugriff durchaus entzogen sein kann (vgl. Gold-
berg 1990, S. 889). So ist ein kritischer Zustand in der Medizin ein solcher, der die
Möglichkeit einer irreversiblen Verschlechterung ebenso in sich birgt wie die
Chance einer Heilung, wobei die Mediziner selbst nach der Feststellung und
Setzung der Rahmenbedingungen oftmals nur abwarten können. Eben diese Ambi-
valenz ist auch für die Gesellschaftskritik in der Moderne kennzeichnend. Zwar
kann die Kritik, sofern sie gut begründet ist, destruktive und konstruktive Mo-
mente der Situation unter Umständen präzise benennen. Aber dies bedeutet nicht,
dass sie in der Lage wäre, die weitere Entwicklung eindeutig zu prognostizieren
und die Doppelung von destruktiven und konstruktiven Momenten aufzulösen.
Hier ist vielmehr auf die Dimension der Praxis als Konsequenz und Fortsetzung
der Kritik zu verweisen. Zwar kann die Praxis im Sinne Hegels als ein Zu-sich-
selbst-kommen der Kritik begriffen werden. Aber im Unterschied zu den An-
nahmen Hegels ist dieses Zu-sich-selbst-kommen der Kritik keine zwangsläufige
und eindeutige Entwicklung, sondern eine eigenständige mit ungewissem Ausgang,
bei der oft genug gewartet werden muss, und genau diese Erfahrung ist ausschlag-
gebend für die wachsende Verknüpfung der Konzepte von Kritik und Krise als
einer prinzipiell ambivalenten Situation.
Neben der Verzeitlichung der Kritik und der Verknüpfung von Kritik und Krise
sind gegen Ende des 18. Jahrhunderts schließlich auch soziale bzw. sozialstruk-
turelle Differenzierungen der Kritik zu notieren. Da die Kritik nicht mehr um-
standslos aus einer unterstellten universalen Menschennatur begründet werden
konnte, stellte sich die Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit ihrer Begrün-
dung in veränderter Form. Wurde in der politisierten Phase der Aufklärung vor
1789 damit argumentiert, dass bestimmte soziale Akteure, nämlich König und
Adel, Privilegien beanspruchten, die durch die allgemeine Menschennatur nicht
gerechtfertigt waren, so war dies nach 1789 nur begrenzt möglich. Zugleich – und
dies war letztlich noch wichtiger – zerbrach die Gleichsetzung von ›vernünftigem
Subjekt‹ und ›Bürger‹. Denn nach der französischen Revolution und der Erfahrung
des Terreur wurde unübersehbar, dass der Sieg des »Dritten Standes« keineswegs
zu einem Sieg der Vernunft und einer Realisierung der mit ihr postulierten neuen
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 373

Gleichheit geführt hatte. Statt dessen wurden neue soziale Ungleichheiten sichtbar,
die in der überlieferten ständegesellschaftlichen Terminologie alle »unterständi-
schen« Gruppen betrafen, und hier insbesondere den im Gefolge der industriellen
Revolution entstandenen »vierten Stand«, nämlich die Arbeiterklasse, die allmäh-
lich als ebenso eigenständige wie depravierte soziale Gruppe ins gesellschaftliche
Bewusstsein trat.
Vor diesem Hintergrund veränderten sich Gegenstand und Adressat der Kritik
gleichermaßen. Kritikgegenstand waren nicht länger der absolute Wahrheitsan-
spruch der Offenbarungsreligion und die der Wesensnatur des Menschen wider-
sprechenden Ungleichheiten des Absolutismus. Statt dessen ging es um handfeste
ökonomische, soziale und politische Ungleichheiten der nationalstaatlich verfassten
kapitalistischen Klassengesellschaft, die sich in der massiven Verelendung des
vierten Standes niederschlugen und mit der postulierten Gleichheit nicht vereinbar
waren. Sofern klar wurde, dass diese Ungleichheiten bestimmte soziale Gruppen
wie die Arbeiterklasse betrafen und diese wegen ihrs Elends von den postulierten
Vernunftgleichheit ausgeschlossen waren, nahm die Gesellschaftskritik fast
zwangsläufig die Gestalt einer Ideologiekritik an, die darauf hinwies, dass die
postulierte Vernunftgleichheit angesichts der unübersehbaren materiellen Un-
gleichheit nicht realisiert und damit pure Ideologie sei.
Hierbei stellte die Ideologiekritik des 19. Jahrhunderts die Ideen einer all-
gemeinen Menschennatur, wie sie seit der Frühaufklärung formuliert worden
waren, als normatives Ideal keineswegs vollständig in Frage. Diese wurden viel-
mehr als verzeitlichte zu einem gesellschaftlichen Projekt erklärt und bildeten
somit eine implizite Bezugsfolie, vor deren Hintergrund darauf hingewiesen
wurde, dass (a) bestimmte Bevölkerungsgruppen aufgrund sozialer Barrieren von
der postulierten Gleichheit ausgeschlossen seien und (b) diese Gruppen keine zu
vernachlässigenden Randgruppen darstellen, sondern als zentrale Träger von Ge-
sellschaftskritik zu begreifen seien und (c) eine Realisierung der verzeitlichten
Ideale nur auf dem Wege entsprechender sozialer Veränderungen möglich sei. Als
Adressat und Träger der Kritik rückt dementsprechend der vierte Stand ins Zent-
rum, also das Proletariat und die deklassierten Bürger, die über entsprechende
Ausbeutung- und Entfremdungserfahrungen verfügen. Ihr Thema ist keine selbst-,
sondern eine fremdverschuldete Unmündigkeit, die es auf dem Wege der Kritik zu
bearbeiten gilt, und zwar mit dem Ziel, nicht realisierte Gerechtigkeitsideale (Frei-
heit, Gleichheit) einzuklagen und den Übergang zu einer vernünftigen Gestaltung
der Welt zu ermöglichen.

III.

Diese Kritikkonzeption war im Kern auch für die Kritische Theorie gültig, wie sie
zu Beginn der 1930er Jahre am Frankfurter Institut für Sozialforschung entstand.
Zwar wurde das Etikett der »kritischen« (in Abgrenzung von der »traditionellen«)
Theorie erst seit dem gleichnamigen Aufsatz von Max Horkheimer aus dem Jahre
374 Wolfgang Bonß

1937 verwandt. Aber die damit verknüpften Intentionen waren von Anfang an
leitend, wobei das Konzept der Kritik stets gesellschaftstheoretisch verstanden
wurde. »Kritisch« war das Projekt insofern, als es darum ging, eine »Theorie der
Gesamtgesellschaft« (Horkheimer 1933, S. 161) zu entwickeln, die sich durch ein
spezifisches Erkenntnisinteresse auszeichnet und deren »einziges Geschäft in der
Beschleunigung einer Entwicklung besteht, die zur Gesellschaft ohne Ausbeutung
führen soll« (Horkheimer 1937, S. 274). Als »Theorie des historischen Verlaufs der
gegenwärtigen Epoche« (Horkheimer 1932, S. III) richtete sich die Kritische
Theorie an »die vorwärts strebenden Kräfte der Menschheit« (Horkheimer 1933,
S. 161) und verstand sich als ein »Faktor zur Verbesserung der Wirklichkeit«
(ebd.).
Der Bezug auf die »vorwärts strebenden Kräfte der Menschheit« und die Idee
einer »Gesellschaft ohne Ausbeutung« macht deutlich, dass sich die gesellschaft-
liche Entwicklung für den Frankfurter Kreis nicht auf den faktischen Zustand
moderner Gesellschaften und Kritik nicht auf empirische oder immanente Kritik
reduzieren ließ. Vielmehr orientierte man sich von Anfang an einem möglichen
Anderssein, das mit der Chiffre der Vernunft gleichgesetzt wurde. So schrieb
Horkheimer in einem Nachtrag zu seinen Ausführungen über »traditionelle und
kritische Theorie«: »das Ziel einer vernünftigen Gesellschaft […] ist in jedem
Menschen wirklich angelegt« (Horkheimer 1937, S. 630), wobei die Begründung
dieses Diktums offen blieb. Klar war allerdings, dass das Begründungsproblem
kaum im Kontext des tradierten akademischen Betriebes behandelt werden konnte.
Dies betonte vor allem Theodor W. Adorno, der mit etwas anderen Akzent-
setzungen als Horkheimer für eine neue Ortsbestimmung der philosophischen
Arbeit plädierte. So sei es eine »Illusion […] in Kraft des Denkens die Totalität des
Wirklichen zu ergreifen« (Adorno 1931, S. 325), wie dies besonders prominent
Hegel behauptet hatte. Zielte Hegels Philosophie darauf ab, die Wirklichkeit in all
ihren Facetten unter normativen wie empirischen Perspektiven auf den Begriff zu
bringen, so war ein solcher Ansatz für Adorno im 20. Jahrhundert ebenso wenig
möglich wie die Entfaltung allgemeiner Prinzipien der Menschennatur. Hiergegen
sprachen die Fortschritte der Kritik und des Kapitalismus gleichermaßen. Denn
egal, aus welcher Perspektive man sie betrachtete – die Wirklichkeit des 20.
Jahrhunderts ließ sich nicht länger als ein vernünftiges Insgesamt begreifen. Im
Gegenteil: Reduziert auf die Dimensionen des Zweckrationalen und der instru-
mentellen Vernunft bietet die Welt »allein polemisch […] dem Erkennenden als
ganze Wirklichkeit sich dar, während sie in Spuren und Trümmern die Hoffnung
gewährt, einmal zur richtigen und gerechten Wirklichkeit zu geraten« (Adorno
1931, S. 325).
Hinter dieser Formulierung verbirgt sich ein entscheidender Perspektivenwech-
sel im Blick auf das mögliche Anderssein als Basis und Bezugspunkt der Kritik.
Gingen Kant, Hegel oder auch Marx davon aus, dass ein »Durchbruch« der
Vernunft historisch kontingent, aber systematisch unausweichlich sei, so argu-
mentiert Adorno umgekehrt. Für ihn werden die Indikatoren für eine Durch-
setzung der Vernunft nicht stärker, sondern schwächer. Zwar hält auch er an dem
Glauben an die Möglichkeit einer richtigen und gerechten Welt fest. Aber Adorno
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 375

geht nicht mehr davon aus, dass die Idee eines möglichen Andersseins in der
gesellschaftlichen Wirklichkeit immer klarer hervortritt. Im Gegenteil: Das mögli-
che Anderssein wird unschärfer, bruchstückhafter und schwieriger zu finden. Ge-
rade deshalb wird die Aufgabe aber auch wichtiger. Denn das Projekt der Gesell-
schaftskritik macht nur solange Sinn, wie in der Krise der Gegenwart und in den
Trümmern der Geschichte zumindest Spuren der Hoffnung und Splitter eines
möglichen Andersseins zu finden sind.
Hierbei hatten Horkheimer und Adorno zunächst unterschiedliche Vorstellun-
gen, wie eine solche Spurensuche zu bewältigen sei. Während Adorno das Problem
eher methodologisch reflektierte und für neue Analysestrategien mit exemplari-
schen und monographischen Akzentsetzungen plädierte (vgl. Bonß 1983), argu-
mentierte Horkheimer stärker wissenschaftsorganisatorisch. Für ihn verwies die
Kritische Theorie nicht unbedingt auf eine spezifische Methodologie, sondern eher
auf einen methodologischen Pluralismus, der seinerseits strukturiert, gesteuert und
begrenzt wurde durch eine interdisziplinäre Kooperation von begründender Philo-
sophie und erklärender Wissenschaft. Letztlich entscheidend war daher in seinen
Augen die Frage der Organisation dieser interdisziplinären Kooperation, deren
Beantwortung ihm auch und gerade bei der Gesellschaftskritik unverzichtbar
erschien.
Die Begründung und Ausführung dieser Position lässt sich in der Antrittsrede
zur Übernahme des Direktorats am Frankfurter Institut (Horkheimer 1931)
ebenso studieren wie in den »Bemerkungen über Wissenschaft und Krise« (Hork-
heimer 1932). In beiden Aufsätzen wurde die gesellschaftliche Situation als eine
prinzipiell krisenhafte beschrieben, nämlich als eine widersprüchliche Mixtur von
»vorwärts strebenden« und retardierenden Momenten, deren weitere Entwicklung
offen erschien und positiv wie negativ gedacht werden konnte. Für Horkheimer
betraf diese Krise Ökonomie und Wissenschaft gleichermaßen, und hier setzte er
andere Akzente als die meisten Weimarer Intellektuellen. Gingen Letztere davon
aus, dass die Wissenschaftsentwicklung im Prinzip positiv verlaufe, auch wenn sie
durch ökonomische Schwächen und Krisen behindert werde, so konstatierte Hork-
heimer (1932, S. 2) nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine wissenschaft-
liche Grundlagenkrise: »Die wissenschaftlichen Erkenntnisse teilen das Schicksal
der Produktivkräfte und Produktionsmittel anderer Art: Das Maß ihrer Anwen-
dung steht in fürchterlichem Mißverhältnis zu ihrer hohen Entwicklungsstufe und
zu den wirklichen Bedürfnissen des Menschen; dadurch wird auch ihre weitere
quantitative und qualitative Entwicklung gehemmt.«
Zwar begriff Horkheimer die Wissenschaft noch nicht als »erste Produktiv-
kraft«, wohl aber als ein zentrales Produktionsmittel, das sich in seinen Augen
keineswegs so entwickelte wie es sich entwickeln könnte. Dies nicht nur aufgrund
der unübersehbaren Praxiskrise. Mindestens ebenso wichtig ist für Horkheimer die
»innere Krise« (ebd., S. 4) der Erkenntnisproduktion, wie sie in der Trennung von
Philosophie und Wissenschaft zu Tage tritt ‹ sowie in der darüber hinaus gehenden
Verselbständigung der Einzelwissenschaften. Letztere sammeln zwar immer mehr
Detailerkenntnisse, aber sie versagen »vor dem Problem des gesellschaftlichen
Gesamtprozesses«, der gleichsam unwirklich erscheint, obwohl er »durch die sich
376 Wolfgang Bonß

verschärfenden Krisen […] und gesellschaftlichen Kämpfe […] die Realität be-
herrscht« (ebd.). An die Stelle einer systematischen Analyse der Wirklichkeit als
historische Totalität von Mensch und Natur tritt die »chaotische Spezialisierung«
der Fachdisziplinen (Horkheimer 1931, S. 40), deren instrumentelle Selektivität zu
einem unvernünftigen Bild der Realität ebenso führt wie zu einer »Vernach-
lässigung der dynamischen Beziehungen zwischen den einzelnen Gegenstands-
gebieten« (Horkheimer 1932, S. 4).
Aus dieser Diagnose ergab sich im Prinzip bereits die Lösung. Denn die
anvisierte kritische Theorie der Gesamtgesellschaft schien für Horkheimer nur in
dem Maße realisierbar, wie es gelang, die prekäre Trennung von Philosophie und
Wissenschaft zu überwinden bzw. genauer: allgemeine Sozialphilosophie und ein-
zelwissenschaftliche Sozialforschung arbeitsteilig zu vereinen und prozessual zu
verknüpfen. Hierbei fiel der Sozialphilosophie die Aufgabe zu, in Form von
allgemeinen Annahmen über die Struktur und Entwicklungsmöglichkeiten des
gesellschaftlichen Zusammenhangs die »aufs Allgemeine, ›Wesentliche‹ gerichtete
theoretische Intention« (Horkheimer 1931, S. 41) zu formulieren. Sofern derartige
Annahmen auch Ideen über ein mögliches Anderssein enthalten, ist die Sozial-
philosophie zwar der Motor der Kritik. Gleichwohl können die sozialphilosophi-
schen Überlegungen gerade wegen ihrer impliziten Normativität keine wissen-
schaftliche Objektivität beanspruchen. Sie haben eher einen auf vorwissenschaftli-
cher Erfahrung beruhenden Anspruch auf Verallgemeinerbarkeit und Praxisrele-
vanz, der nur in dem Maße wissenschaftlich reformuliert werden kann, wie die
einzelwissenschaftliche Überprüfung gelingt.
Genau hier setzt nach Horkheimer die Sozialforschung an, deren Funktion darin
bestand, die allgemeinen Fragen aufzugreifen, sie nach Maßgabe der einzelwissen-
schaftlichen Standards umzuformulieren und mit dem auf dieser Ebene zur Verfü-
gung stehenden methodischen Instrumentarium umfassend zu bearbeiten. Letztlich
hatte die Sozialforschung dabei eine doppelte Aufgabe: Auf der einen Seite sollte
sie den Gegenstand der Kritik einzelwissenschaftlich präzise bestimmen. Unter
dieser Perspektive ging es um die Analyse ökonomischer, sozialer und politischer
Ungleichheiten, die sich zuspitzen, aber nicht zu dem erwarteten Umsturz der
kapitalistischen Klassengesellschaft geführt haben, wobei geklärt werden musste,
warum dies der Fall war. Auf der anderen Seite sollte die Sozialforschung aber auch
zeigen, dass die Idee eines möglichen Andersseins nicht völlig aus der Luft gegriffen
war, sondern einzelwissenschaftlich übersetzt und belegt werden kann. Unter
dieser Perspektive griffen einige Mitglieder des Frankfurter Kreises (einschließlich
Horkheimer, aber ohne Adorno) auch kulturanthropologische Studien auf wie
etwa Robert Briffaults Analysen zu »Family Sentiments« (Briffault 1933) oder
Margaret Meads Geschlecht und Temperament in drei primitiven Gesellschaften
(Mead 1935). Diese Arbeiten waren vor allem deshalb wichtig, weil sie empirische
Belege dafür zu liefern schienen, dass ein mögliches Anderssein durchaus gelebt
werden konnte. Noch mehr Aufmerksamkeit wurde allerdings den eigenen Unter-
suchungen über die Lebenslage und die Wertorientierungen von Arbeitern und
Angestellten (Fromm 1937/38) sowie über den Zusammenhang von Autorität und
Familie (Horkheimer1936) gewidmet. Diese sehr breit angelegten Untersuchungen
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 377

sollten den Zusammenhang von ökonomischer Basis, sozialer Lage sowie kulturel-
len und politischen Präferenzen herausarbeiten, wobei es ursprünglich auch darum
ging, in der empirischen Analyse widersprüchliche Spuren und Splitter eines
kritischen Bewusstseins und einer anderen Lebenspraxis zu dechiffrieren.
Bezogen auf diese Erwartung waren die Ergebnisse allerdings enttäuschend. So
wies nur eine verschwindend geringe Minderheit der befragten Arbeiter und
Angestellten einen »revolutionären Charakter« und alternative Wertorientierungen
auf. Die überwiegende Mehrheit war inkonsistent, und ein nicht geringer Anteil
offensichtlich reflexionsresistent und anfällig für autoritäre oder faschistische Ori-
entierungen. Diese Befunde waren für Horkheimer und seine Kollegen ebenso
bezeichnend wie ernüchternd und erklärten in ihren Augen zum Teil auch den Sieg
des Nationalsozialismus, den sie bereits Ende der 20er Jahre befürchteten, und der
sie selber 1933 zur Emigration zwang.
Spätestens in der Emigration sah sich der Frankfurter Kreis auch zu einer
veränderten Ortsbestimmung des kritischen Intellektuellen gezwungen, der nicht
mehr unbedingt so gefasst werden konnte wie in Lukács’ Analysen zu Geschichte
und Klassenbewußtsein (Lukács 1923). In Geschichte und Klassenbewußtsein hatte
Lukas eine einflussreiche Antwort auf die Frage gegeben, warum das Proletariat
der zentrale Träger der Kritik sein sollte. Zum einen, so Lukács, sei das Proletariat
nicht irgendeine partikulare Gruppe; als zentraler Gegner der Bourgeoisie vertrete
die Arbeiterklasse in den Klassenauseinandersetzungen vielmehr potentiell verall-
gemeinerbare Positionen. Zum anderen verfüge nur das Proletariat über die alltäg-
lichen Ausbeutungs- und Entfremdungserfahrungen in der Produktion, vor deren
Hintergrund die Ideen eines möglichen Andersseins erlebnisfundiert formuliert und
begründet werden könnten.
Diese Überlegung akzeptierte Horkheimer zwar insofern, als das kritische
Denken nicht aus sich heraus entsteht. Vielmehr gelangen »die Menschen [..] im
geschichtlichen Gang zur Erkenntnis ihres Tuns und begreifen damit den Wider-
spruch in ihrer Existenz« (Horkheimer 1937, S. 266). Aber auch wenn die kritische
Erkenntnis entsprechende Praxiserfahrungen voraussetzt und die Arbeiterklasse
hier einen strukturellen Erkenntnisvorteil hat, so bildet »die Situation des Proleta-
riats […] keine Garantie der richtigen Erkenntnis« (ebd., S. 267). Denn »an der
Oberfläche sieht [..] die Welt auch für das Proletariat anders aus« (ebd.); hier geht
es oft genug um das blanke Überleben, und da dies mit tiefergehenden Wahrheiten
nicht unbedingt etwas zu tun hat, konnte die Kritische Theorie für Horkheimer
keineswegs »in der Formulierung der jeweiligen Gefühle und Vorstellungen einer
Klasse« (ebd., S. 268) bestehen.
Diese Einschätzung, die nicht nur durch die politische Entwicklung insbe-
sondere in Deutschland, sondern auch durch die stalinistischen Schauprozesse
bestätigt wurde, warf allerdings die Frage auf, wer überhaupt noch Produzent und
Adressat Kritischer Theorie sein könne und aufgrund welcher Kriterien. Hierauf
gab Horkheimer keine klare Antwort, und wenn er davon sprach, dass es nur ein
»paar Menschen (seien), zu denen die Wahrheit sich geflüchtet hat« (Horkheimer
1937, zit. n. Dubiel 1978, S. 69), dann schob er die Kriterienfrage eher der Wahrheit
selber zu. Auf der anderen Seite hob er die Bedeutung eines vergleichsweise
378 Wolfgang Bonß

konventionellen Merkmals hervor, nämlich des Bildungsabschlusses. Dies aus gu-


tem Grund. Denn bei den eigenen Erhebungen war deutlich geworden, dass
kritische Orientierungen weniger mit der sozialen Lage als mit der Bildung korre-
lierten.
Produzent und Adressat der Kritik waren vor diesem Hintergrund nicht mehr
unbedingt das Proletariat, sondern die durch Entfremdungserfahrungen geprägten
und durch Bildung sensibilisierten Menschen, zu denen sich »die Wahrheit ge-
flüchtet hat«, weil sie ihre Leidenserfahrungen nicht verdrängen, sondern um die
Diskrepanz zwischen wirklicher und möglicher Welt wissen und den kultur-
industriell produzierten »Verblendungszusammenhängen« widerstehen können.
Den Gegenstand der Kritik wiederum bildeten nach wie vor die unvernünftigen
Verhältnisse, die es in Gestalt von Autoritarismus, Ausbeutung und Ungleichheit
exemplarisch zu analysieren und zu erklären galt. Zwar war die Hoffnung auf eine
gute und gerechte Welt weitgehend geschwunden, zumal die faktischen Ungleich-
heiten aufgrund eines zunehmend universellen »Verblendungszusammenhangs«
nur noch bei einer (kritisch-reflexiven)Minderheit zu einem manifesten Leiden an
den Verhältnissen führten. Aber auch wenn die Verhältnisse immer weniger verän-
derungsfähig erschienen, galt es die Erinnerung an ein mögliches Anderssein zu
bewahren, um so die schlechte Wirklichkeit kritisch auszuhalten und aushalten zu
können.

IV.

Im Vergleich zu den Argumentationen zu Beginn der 1930er Jahre verweist dies auf
eine skeptische Rückzugsposition mit elitären Akzentsetzungen, die von der zwei-
ten Generation der Kritischen Theorie so nicht unbedingt geteilt wurde. Zwar
gingen auch deren Vertreter davon aus, dass die Idee kritischer Theorie sinnlos
wäre, wenn es nicht die gesellschaftliche Erfahrung eines »möglichen Andersseins«
und eines »gesellschaftlichen Insgesamt« gäbe. Im Unterschied zu Horkheimer und
Adorno versuchten sie die Basis dieser Erfahrungen jedoch genauer zu bestimmen
und auf die veränderten gesellschaftlichen Erfahrungen nach 1945 zu beziehen.
Exemplarisch hierfür steht Jürgen Habermas, der schon früh die Frage nach der
Bedingung der Möglichkeit von Gesellschaftskritik stellte und sich hierbei vor
allem mit der »philosophischen Diskussion um Marx und den Marxismus« (Haber-
mas 1957) beschäftigte.
In seiner hierauf aufbauenden Ortsbestimmung des Marxismus bezeichnete er
diesen explizit als »Kritik« und damit als eine Theorieform »zwischen Philosophie
und Wissenschaft« (vgl. Habermas 1963, insbes. 244ff.). Zwar bezog sich Habermas
bei dieser Charakterisierung an keiner Stelle auf die Thesen der Kritischen Theorie
aus den 1930er Jahren – dies geschah erst fast zwei Jahrzehnte später in den
Überlegungen zu den »Aufgaben einer kritischen Gesellschaftstheorie« (vgl. Ha-
bermas 1981, S. 555ff.). Aber seine Argumentationen knüpften durchaus an die
frühen Überlegungen an. So betont auch Habermas, dass der Marxismus als
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 379

Kritische Theorie eine Krisenwissenschaft sei und den Status »einer explizit in
politischer Absicht entworfenen, dabei wissenschaftlich falsifizierbaren Ge-
schichtsphilosophie« (Habermas 1963, S. 244) habe. Ihr kritischer Gehalt ergibt
sich aus einer spezifischen Kontrastierung von Möglichkeit und Wirklichkeit, vor
deren Hintergrund in einer wissenschaftlicher Überprüfung zugänglichen Form
zentrale gesellschaftliche Krisenpotentiale benannt und Möglichkeiten ihrer posi-
tiven Auflösung angedeutet werden können.
Gleichwohl muss das Kritikpotential zeitdiagnostisch aktualisiert und dement-
sprechend anders gefasst werden. Denn die gesellschaftlichen Entwicklungstrends
haben sich verändert, wobei für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts mindestens
vier Akzentverschiebungen zu notieren sind: Zum einen ist unter den Bedingungen
der modernisierten Moderne die Trennung von Staat und Gesellschaft einer wech-
selseitigen Verflechtung beider Sphären gewichen, und dies hat zur Folge, dass die
ökonomischen Widersprüche auch als politische beschrieben werden können. Zum
zweiten haben sich die Bedingungen der Politisierung insofern gewandelt, als »in
den fortgeschrittenen kapitalistischen Ländern der Lebensstandard […] so weit [..]
gestiegen [ist], dass sich das Interesse an der Emanzipation der Gesellschaft nicht
mehr unmittelbar in ökonomischen Ausdrücken artikulieren kann« (Habermas
1963, S. 228). Unter diesen Vorzeichen hat sich, zum dritten, der Adressat der
Theorie verändert. Denn der »designierte Träger einer künftigen sozialistischen
Revolution, das Proletariat [hat sich] als Proletariat aufgelöst« (ebd., S. 229). Zwar
gibt es nach wie vor ökonomisch bedingte soziale Ungleichheiten. Aber diese
schlagen im Alltag nur noch abgepuffert durch, weshalb »ein Klassenbewußtsein,
zumal ein revolutionäres, […] auch in den Kernschichten der Arbeiterbewegung
nicht festzustellen« ist (ebd.). Hinzu kommen schließlich die allmählich bewusst
gewordenen Negativerfahrungen der russischen Revolution, die eben nicht zu
mehr Freiheit und Gerechtigkeit geführt hat, sondern zu einer Funktionärs- und
Kaderherrschaft, an deren Ende der Gulag stand.
Zwar war die Intention der Marxschen Kritik für Habermas hierdurch keines-
wegs falsifiziert. Denn auch unter den veränderten Bedingungen stimmen die
Möglichkeiten der Gesellschaft mit ihrer Wirklichkeit nicht überein. Zugleich, so
das Fazit seiner Heidelberger Antrittsvorlesung, ist das Interesse an Mündigkeit als
Basis und Bezugspunkt der Kritik in jedem Menschen angelegt. Bemerkbar macht
sich dieses Interesse vor allem dann, wenn es verletzt wird. Wie Habermas implizit
bereits in den frühen Schriften angedeutet und in der Theorie des kommunikativen
Handelns (Habermas 1981, insbes. S. 173ff.) explizit ausgeführt hat, geschieht dies
nicht unbedingt in der Sphäre von Ökonomie und Arbeit, sondern eher unter
Rekurs auf den Bereich der Lebenswelt. Mit der Unterscheidung von »System-«
und »Sozialintegration« (Lockwood) und der parallel gedachten Kontrastierung
von »System« und »Lebenswelt« grenzt sich Habermas von Marx und Lukács ab
und kritisiert deren Beschreibungen als systematisch unterkomplex. So zeige die
Entwicklung der fortgeschrittenen Industriegesellschaften, dass es letztlich nicht
die Systemkrisen sind, die zu Kritik und Protest führen. Kritik und Protest
entstehen vielmehr durch eine Kolonialisierung der Lebenswelt, nämlich dann,
wenn die Imperative der System- auf die der Sozialintegration in unangemessener
380 Wolfgang Bonß

Form übergreifen und basale lebensweltliche Perspektiven in Frage gestellt wer-


den.
Hiermit griff er eine Vermutung auf, die mit anderen theoretischen Akzent-
setzungen bereits in den Arbeiten über »Autorität und Familie« angedeutet worden
war. Dort hatte es geheissen, dass sich »die Handlungsweise der Menschen in
einem gegebenen Zeitpunkt nicht allein durch ökonomische Vorgänge erklären«
(Horkheimer 1936, S. 9) lasse; mindestens ebenso wichtig sei der »Charakter« der
Handelnden und damit »das Wissen darum, wie sich ihr Charakter im Zusammen-
hang mit allen kulturellen Bildungsmächten der Zeit gestaltet hat« (ebd., S. 10). Für
die Erklärung konkreter sozialer Phänomene können dementsprechend ›Überbau-
faktoren‹ wichtiger sein als ›Basisprozesse‹. Bei Habermas (1973b, S. 87) klingt
diese These wie folgt: Wichtiger als die »Systemkrisen«, die entweder als »öko-
nomischen Krisen« oder als »Rationalitätskrisen« des politischen Systems auftreten
können, seien die »Identitätskrisen«, wie sie sich im politischen System als »Legiti-
mationskrise« und im soziokulturellen System als »Motivationskrise« niederschla-
gen.
Während es bei den Systemkrisen um Verwertungs- und Verwaltungsprobleme
geht, beziehen sich die Identitätskrisen auf hochgradig normative Sachverhalte,
nämlich auf die Rechtfertigung politischer Ziele bzw. Entscheidungen sowie auf die
Herstellung von Commitment und sozialer Integration. Identitätskrisen sind In-
tegrationskrisen, die sich aus einer wie auch immer erlebten Diskrepanz von Sein
und Sollen speisen. Als empirische Indikatoren für derartige Identitätskrisen iden-
tifiziert Habermas »moralische Gefühle, Entbehrungen, Frustrationen, lebens-
geschichtliche Krisen, Einstellungsänderungen im Zuge einer Reflexion« (Haber-
mas 1964, S. 238). Diese sind nicht zuletzt deshalb von entscheidender Bedeutung,
weil sie auf wie auch immer fragmentierte Erfahrungen eines gesellschaftlichen
Insgesamt verweisen, das auch die Idee eines »möglichen Andersseins« in sich
enthält. Letzteres freilich nicht im Sinne einer positiv formulierbaren, konkreten
Utopie. Die Idee eines »möglichen Andersseins« ergibt sich vielmehr aus ebenso
dauerhaften wie bruchstückhaften Erfahrungen einer Differenz zwischen Möglich-
keit und Wirklichkeit und somit aus Irritations- und Krisenerfahrungen, die in dem
Maße zum Thema und praktisch wirksam werden können, wie das Interesse an
Mündigkeit nicht unterdrückt wird.
Neben dieser gesellschaftstheoretischen Differenzierung des Kritikkonzepts lie-
ferte Habermas eine zweite Argumentation in Gestalt seiner »sprachtheoretischen
Grundlegung der Soziologie« (Habermas 1970). Dieser ganz anders akzentuierte
Ansatz war für ihn letztlich noch wichtiger und leitete für die Kritische Theorie
das ein, was heute allgemein als »lingustic turn« (Rorty 1967) der Sozialphilosophie
bezeichnet wird. Motiviert war die kommunikationstheoretische Wende durch den
Versuch, »quasi-transzendentale« Bedingungen der Möglichkeit von Kritik und
Erkenntnis zu benennen, die allen empirischen Randbedingungen und Einschrän-
kungen vorausgesetzt sind. Als einen derartigen Rahmen identifizierte Habermas
die Sprache, die als Medium und Basis jeglicher Erkenntnisbildung gelten kann.
Wie universalpragmatische Analysen zeigen, ist Sprache mehr als ein linguistisches
Regelsystem zur Generierung beliebiger Aussagen. Sprechakte sind vielmehr eine
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 381

auch normativ voraussetzungsvolle Angelegenheit. So machen sie nur Sinn, wenn


im Moment des Redens oder Schreibens unterstellt wird, dass die im Kommunika-
tionsakt verwendeten Zeichen und Begriffe (einschließlich der Regeln ihrer An-
wendung) von allen faktischen oder potentiellen Kommunikationsteilnehmern in
gleicher Weise verstanden und verwendet werden. Habermas nennt dies die »kon-
trafaktisch ideale Sprechsituation«, die »weder ein empirisches Phänomen noch
bloßes Konstrukt (ist), sondern eine in Diskursen unvermeidlich reziprok vorge-
nommene Unterstellung« (Habermas 1973c, S. 258).
Die ›ideale Sprechsituation‹ verweist darauf, dass schriftliche oder mündliche
Kommunikation stets an die Unterstellung eines wechselseitigen Verstehens ge-
bunden ist. Diese Unterstellung wird bei Habermas im Spannungsfeld von Ver-
stehen und Verständigung mehrstufig gedacht (vgl. Habermas 1983, S. 73). Dies
erste Ebene betrifft das Postulat der »kommunikativen Kompetenz« und damit,
vereinfacht gesagt, die Annahme, dass alle potentiellen Kommunikationspartner
sprachfähig sind, also die jeweilige Sprache aktiv und passiv beherrschen oder über
Übersetzungsmöglichkeiten verfügen. Mindestens ebenso wichtig sind für Haber-
mas allerdings die (stärker auf die Idee der Verständigung bezogenen) Postulate der
»Redegleichheit« und der »Wahrhaftigkeit«. Hiernach ist Kommunikation nur
möglich, wenn alle Beteiligten die gleichen Chancen haben, sich in den Prozess der
argumentativen Auseinandersetzung einzuschalten und wenn sie das, was sie sagen,
auch tatsächlich aufrichtig meinen. Am voraussetzungsvollsten ist schließlich die
vierte Ebene. Hier lokalisiert Habermas das Postulat der Vernünftigkeit aller
Diskursteilnehmer, das bei verständigungsorientierten Diskursen eine conditio sine
qua non ist, um dem zwanglosen Zwang des besseren Arguments zum Durchbruch
zu verhelfen.
Man kann darüber streiten, ob die Implikationen der idealen Sprechsituation für
alle oder nur für verständigungsorientierte kommunikative Akte Geltung hat. Alle
vier Ebenen werden sicherlich nur in verständigungsorientierten Situationen em-
pirisch relevant, also beim kommunikativen Handeln im engeren Sinne. Bei strate-
gisch orientierten Kommunikationen hingegen dürfte statt des Postulats der Ver-
nunft der Rekurs auf den Verstand und die Sprachkompetenz ausreichend sein,
wobei nicht auszuschließen ist, dass die Unterstellungen der kommunikativen
Kompetenz ›kontrafaktisch‹ sind. Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, spielen
sie auf der anderen Seite in praktisch allen Kommunikationssituationen eine Rolle
und als kontrafaktisch anzuerkennende Bedingungen werden sie auch empirisch
wirksam. So wird selbst in pathologisch verzerrten Situationen davon ausgegangen,
dass alle Beteiligten über kommunikative Kompetenz verfügen oder zumindest
verfügen müssten, und sollten diese basalen Voraussetzungen nicht erfüllt sein, so
ist genau dies ein Bezugspunkt für Kritik.
Zwar sind die Implikationen des Konzepts der kontrafaktisch idealen Sprech-
situation noch keineswegs abschließend diskutiert. Gleichwohl dürfte deutlich
geworden sein, dass die Habermassche Argumentation im Vergleich zu den Argu-
mentationen von Horkheimer und Adorno eigenständige Ansätze zur Begründung
der Bedingung der Möglichkeit von Kritik enthält, wobei dies auch unter praxeolo-
gischen und methodologischen Gesichtspunkten gilt. So wies Habermas in me-
382 Wolfgang Bonß

thodologischer Hinsicht darauf hin, dass Kritische Theorie letztlich doppelt an-
setzen muss: Sie ist einerseits immanente, andererseits normative Kritik. Als imma-
nente Kritik zielt sie auf das, was Habermas als die Nachkonstruktion sozialer
Entwicklungslogiken beschreibt, als normative Kritik hingegen auf die (Selbst-)
Reflexion der an Mündigkeit interessierten Subjekte. In seiner Abgrenzung von
Nachkonstruktion und Selbstreflexion (vgl. Habermas 1973a, S. 411ff.) setzte Ha-
bermas die Akzente allerdings etwas anders und beschränkte das Etikett der Kritik
auf den Bereich der Selbstreflexion, während die Nachkonstruktionen eher den
Charakter positiver Wissenschaft annehmen. Denn Nachkonstruktionen, so seine
These, beziehen sich auf objektivierbare Gegenstände und anonyme Regelsysteme,
denen beliebige Subjekte mit entsprechenden Kompetenzen folgen; hier geht es
also um Funktionszusammenhänge und nicht um praktische Veränderung sozialer
Verhältnisse. Genau das hingegen ist Thema der Kritik, die sich nicht auf objek-
tivierbare Gegenstände beschränkt, sondern deren Objektivierbarkeit in Frage
stellt und sich immer »auf ein Partikulares, nämlich auf den besonderen Bildungs-
prozeß einer Ich- oder Gruppenidentität erstreckt« (ebd., S. 412).
Sofern Kritik »Unbewußtes praktisch folgenreich bewusst macht und die De-
terminanten eines falschen Bewußtseins verändert« (ebd., S. 413) ist sie im Unter-
schied zur Nachkonstruktion stets praktisch orientiert, wobei Habermas weiter-
führend zwischen sozialer und politischer Praxis unterscheidet. Unter sozialer
Praxis verstand er den »geschichtlichen Konstitutionszusammenhang einer Interes-
senlage, der die Theorie gleichsam durch die Akte der Erkenntnis hindurch noch
angehört« (Habermas 1971, S. 10), unter politischer Praxis hingegen den bewussten
Versuch, »das bestehende Institutionensystem umzuwälzen«. Als soziale Praxis
verweist Kritische Theorie auf den Versuch, mit den Mitteln von Philosophie und
Wissenschaft die in der Gesellschaft enthaltenen Momente eines möglichen An-
dersseins ebenso herauszuarbeiten wie die immanenten Widersprüche der gesell-
schaftlichen Organisation. In dem Maße wie ihr dies gelingt bleibt Kritische
Theorie – und hier grenzt sich Habermas von Horkheimer wie von Adorno ab –
nicht für sich stehen; sie zielt vielmehr über den Weg der Selbstreflexion auf
politische Veränderungen und drängt somit zur politischen Praxis, ohne mit dieser
identisch zu werden.

V.

Weder die praxeologischen noch die methodologischen Überlegungen zum Kri-


tikbegriff von Habermas sind in den letzten zwei Jahrzehnten systematisch disku-
tiert und weiter entwickelt worden. Erst recht fehlen Beiträge zu den konkreten
methodischen Konsequenzen, und dies ist kaum zufällig. Denn ähnlich wie schon
Horkheimer blieb Habermas in methodischer Hinsicht vage und vertraute hier
eher auf die einzelwissenschaftlichen Diskussionen. Vor diesem Hintergrund ist
nicht nur ein Auseinandertreten von methodologischen und methodischen Dis-
kussionen bei gleichzeitiger Stagnation der praxeologischen Debatten zu be-
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 383

obachten. Zugleich zeichnet sich in den 1980er und 1990er Jahren eine Verflachung
des Kritikkonzepts ab. So wurde die ebenso bedenkenswerte wie plakative These,
dass Kritik nur unter Rekurs auf quasitranszendentale Überlegungen begründet
werden könne, kaum aufgegriffen. Statt dessen schälte sich ein ubiquitäres und
zugleich abgeschwächtes Verständnis von Kritik heraus, wobei die Abschwächung
und Relativierung der Kritik höchst unterschiedlich begründet wird.
Für eine eher konventionelle Begründung der veränderten Kritikbedingungen
stehen die Argumentationen von Klaus Holz (1990) oder Georg Vobruba (1999),
die sich nach dem ›langen Schweigen‹ der 80er Jahre mit als erste an die Frage der
Bedingung der Möglichkeit von Kritik heute wagten. So konstatierte Holz als
Ausgangspunkt für die »Kritik nach der ›Moderne‹« ein doppeltes Dilemma: Zum
einen ist die Moderne seit Kant mit der Unmöglichkeit substanzieller Kritik
konfrontiert, zum anderen werden alle »festen« Kritikmaßstäbe angesichts der
Pluralisierung möglicher Kritik nachhaltig relativiert. Dass diese Entwicklung zu
einer grundlegenden Veränderung des Konzepts der Kritik zwingt, ist klar. Frag-
lich ist allerdings, in welche Richtung diese Veränderung geht. Holz und Vobruba
ziehen den im Prinzip seit Popper (1958) bekannten Schluss, dass unter dieser
Voraussetzung zumindest jegliche normative Kritik unhaltbar bis ideologisch
werde. Als Konsequenz raten raten daher beide zu einem Verzicht auf derartige
Konzepte. Denn »das Problem ist unlösbar, weil ein normativer Kritikmaßstab
sozialwissenschaftlich nicht begründbar ist. Es ist unnötig, weil es auf einen
sozialwissenschaftlich begründbaren Kritikmaßstab gar nicht ankommt« (Vobruba
1999, S. 34). Statt immer wieder nach einem solchen Maßstab zu suchen, sollten
sich die Sozialwissenschaften auf empirische und immanente Kritik beschränken,
wobei freilich offen bleibt, ob diese ›neue Bescheidenheit‹ nicht letztlich mit einem
Verzicht auf Gesellschaftskritik überhaupt erkauft wird.
Während Holz und Vobruba sich eher auf den Kritikbegriff des Kritischen
Rationalismus zurück ziehen, verweisen andere Autoren auf reale gesellschaftliche
Veränderungen, die angeblich zu einer Umakzentuierung und vielleicht auch zur
einer Aufgabe bisheriger Kritikansprüche zwingen. Besonders pointiert sind hier
die Ausführungen von Scott Lash über »Informationcritique« (Lash 2000a, 2000b,
S. 1 ff.), die vor dem Hintergrund einer expliziten Auseinandersetzung mit dem
Konzept der Kritik (vgl. Lash 2000b, S. 6ff.) auf die These eines Strukturwandels
der Kritischen Theorie unter den Bedingungen der »Informationsgesellschaft«
hinauslaufen. In Abgrenzung von den Konzepten, wie sie von Bell (1973) bis
Castells (1996) entwickelt worden sind, interpretiert Lash den Übergang zur
Informationsgesellschaft weniger als Übergang von einer Güter- zu einer Wissens-
gesellschaft. Statt dessen richtet er sein Augenmerk auf die »primary qualities of
information itself« (Lash 2000b, S. 2), die er als »flow, disembeddedness, spatial
compression, temporal compression, real time relations« (ebd.) beschreibt. Unter
dieser Perspektive bedeutet das Informationszeitalter gerade nicht mehr Wissen
i.S.v. Wissensakkumulation und präziserer Erkenntnisbildung. Statt dessen spricht
Lash von der »Disinformed Information Society« (Lash 2000b, S. 141) und stellt
die sinkende Halbwertzeit des Wissens, die Relativierung und Verflüchtigung von
(Wissens-)Strukturen sowie die generelle Beschleunigung des strukturellen Wan-
384 Wolfgang Bonß

dels in den Vordergrund, in deren Folge neuartige »emergent constellations of


power and inequality« (Lash 2000a) entstehen.
Begreift man die sozialen Verhältnisse in einer weitgehend verflüssigten und
emergenten Form, dann passen die seit dem 18. Jahrhundert entwickelten Kon-
zeptionen der Kritik allesamt nicht mehr. Lash grenzt sich daher nicht nur von
allen Formen der Kritik mit universalistischen und transzendentalen Akzentset-
zungen ab. Er argumentiert ebenso gegen eine Verzeitlichung der Kritik, wie sie für
dialektische Konzepte kennzeichnend ist und verschwendet auch keinen Gedanken
an neue Konzepte von Krise oder sozialstrukturellen Differenzierungen. Statt
dessen votiert er für den Übergang von der ›klassischen‹ Ideologie- zur post-
modernen Informationskritik, die als solche eher impressionistisch akzentuiert und
als medienbezogene und -geprägte Zeitkritik zu begreifen ist. Unter den Be-
dingungen der Informationsgesellschaft »critical theory text becomes just another
object« (ebd.), wobei offenbleibt, ob der Strukturwandel nicht selbst auf ein Ende
der Kritik hinausläuft. Denn angesichts der Beschleunigung und Verflüssigung von
Strukturen und Wissen gelten auch für kritische Texte andere Bedingungen der
Produktion und Konsumtion: Sie sind »consumed less reflectively than in the past,
written […] under conditions of time and budget constraint much more than in the
past« (ebd.) und immer stärker an die Nutzungs- und Verwertungsbedingungen
der Neuen Medien gebunden. Oder in den Worten von Scott Lash: »Texts of
informationcritique are part and parcel of the flows, the ›economies of signs and
space‹. Perhaps with a bit more duration, a bit more time for reflection, but
nonetheless part of the global information and media ›scapes‹. To be anything less
would render critical theory all too irrelevant in the information age« (ebd.).
Diese Überlegungen sind zwar bislang nur unvollständig ausgearbeitet, aber
insofern wichtig, als sie einen Strukturwandel behaupten, der nicht nur auf verän-
derte Bedingungen der Möglichkeit von Kritik verweist, sondern vielleicht sogar
ein Ende der Kritischen Theorie selber zur Folge haben könnte. In den aktuellen
Debatten über die Frage, was Kritische Theorie heute noch sein könne, spielen
diese Thesen bislang noch keine oder allenfalls eine indirekte Rolle. Berührungs-
punkte gibt es am ehesten noch zur »Neuen Kritischen Theorie in kosmopoli-
tischer Absicht«, wie sie kürzlich von Ulrich Beck (2002) postuliert worden ist.
Auch Beck behauptet einen tiefgreifenden strukturellen Wandel. Trotz eines ex-
pliziten Bezuges auf Lash (vgl. Beck 2002, S. 68) wird dieser allerdings nicht als
Übergang zur Informationsgesellschaft, sondern als ökonomische, politische, so-
ziale und kulturelle Entgrenzung und/oder Globalisierung beschrieben wird. Glo-
balisierung erscheint dabei als ein Strukturierungsmuster, das die nationalstaat-
lichen Fixierungen/Beschränkungen der »klassischen« Gesellschaftstheorie durch-
bricht und neu ist, weil es einen anderen, »kosmopolitisch« akzentuierten Blick
eröffnet, der seinerseits als zentrales Charakteristikum einer »Neuen Kritischen
Theorie« beschrieben wird (vgl. ebd., S. 50ff.).
Für Beck verweist der vielschichtige Prozess der Globalisierung auf einen
gesellschaftlich wie theoriestrategisch entscheidenden Strukturbruch, nämlich auf
eine »historische Transformation«, in deren Folge »die die bisherige Weltsicht
tragende Unterscheidung von national und international aufgelöst wird« (ebd.,
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 385

S. 7). Was sich abzeichnet, ist eine »schöpferische Selbstzerstörung der von Natio-
nalstaaten dominierten, ›legitimen‹ Weltordnung« (ebd., S. 14), wobei dieser Pro-
zess als Erosion alter Grenzziehungen und als Herausbildung eines neuen Struk-
turierungsmuster gleichermaßen beschrieben werden kann. Ähnlich wie bei Lash
bleibt das neue Strukturierungsmuster vergleichsweise offen und unscharf, und
hierfür gibt es auch einen Grund. Denn jenseits des Streits um die empirische
Bedeutung der Globalisierung wird das neue Strukturierungsmuster nicht als ein
bereits realisiertes, sondern ein sich ankündigendes beschrieben. Die Globalisie-
rung, so Beck, steckt erst in den Anfängen, aber sie ist unausweichlich, wobei gilt:
»Der Widerstand gegen Globalisierung beschleunigt und legitimiert dieselbe«
(ebd., S. 415) und: die »Globalisierung schreitet durch eine paradoxe Verbrüderung
ihrer Gegner voran« (ebd., S. 419).
Von ihrer Logik her erinnert diese Konstruktion an die Marxsche Analyse des
Kapitalismus im 19. Jahrhundert. In der Kritik der politischen Ökonomie be-
schrieb Marx den Kapitalismus ebenfalls als eine neue Form der Vergesellschaftung,
die noch keineswegs dominant sei, aber sich nicht aufhalten lasse und alle traditio-
nalen Strukturierungsmuster hinwegfege und verdampfen lasse. Sofern diese Per-
spektive zutraf, erschienen alle Beschreibungen, die sich nicht an diesem neuen
Strukturierungsmuster orientierten, per definitionem veraltet und konnten als
›ideologisch‹ kritisiert werden, wobei sich die Kritik keineswegs gegen die Dyna-
mik des Kapitalismus an sich richtete, sondern gegen dessen dysfunktionale Ne-
benfolgen, die sich in Ausbeutung und Ungleichheit niederschlagen und am Wider-
spruch von Produktivkräften und Produktionsverhältnissen festgemacht wurden.
Das Becksche Kritikkonzept ist in mancher Hinsicht ähnlich angelegt. So argu-
mentiert die Kritische Theorie in kosmopolitischer Absicht nicht gegen die Dyna-
mik der Globalisierung. Sie fragt vielmehr »nach den Widersprüchen, Dilemmata
und den ungesehenen, ungewollten Nebenfolgen einer sich kosmopolitisierenden
Moderne und zieht aus der Spannung zwischen der politischen Selbstbeschreibung
und deren sozialwissenschaftlicher Beobachtung ihre kritische Definitionsmacht«
(ebd., S. 67).
Ein Spannnungsverhältnis zwischen dem politischen Handeln und der wissen-
schaftlichen Beobachtung entsteht vor allem dann, wenn das Handeln durch einen
»nationalen Blick« geprägt ist, die wissenschaftliche Beobachtung hingegen auf der
Grundlage eines »methodologischen Kosmopolitismus« erfolgt. Letztlich ist es
genau die Diskrepanz der Blicke, die eine »kosmopolitische Kritik der national-
staatlich zentrierten Gesellschaft und Politik, Soziologie und Politikwissenschaft«
(ebd., S. 53) ermöglicht. Denn aus der Perspektive des methodologischen Kosmo-
politismus wird deutlich, dass das politische Selbstverständnis nationalstaatlich
verengt ist, und dies erlaubt eine Ideologiekritik (und vielleicht auch eine »In-
formationcritique«), die sich durch dreierlei auszeichnet:
(a) Zwar verfügt die Neue Kritische Theorie mit dem kosmopolitischen Blick
über ein vergleichsweise eindeutiges Kritikpotential, das nach Beck aber keines-
wegs dogmatisch gehandhabt wird. Sofern das in der sich ankündigendender
Globalisierung aufscheinende mögliche Anderssein offen und unbestimmt ist, muss
die Neue Kritische Theorie in letzter Instanz der »Logik der Selbstkritik« (ebd.,
386 Wolfgang Bonß

S. 444) folgen. Sie ist zwar nicht unbedingt relativistisch, wohl aber konstruk-
tivistisch-selbstkritisch akzentuiert. Denn unter der Voraussetzung der Verflüssi-
gung und Kontingenz der reflexiven Moderne lassen sich für Beck wie für Lash
keine klaren normativen Optionen der Kritik mehr angeben. Dies hat zur Folge,
dass Kritik vorrangig empirisch-analytisch und weniger normativ verstanden wird.
Zwar gibt es sehr wohl normative Bezugspunkte und Verweise auf ein mögliches
Anderssein (»Anerkennung der Andersheit des Anderen«, ebd., S. 412), »Zustim-
mung, Selbstlegitimation, Menschheitsgefahren« (ebd., S. 433). Aber diese bleiben
vergleichsweise blass und unexpliziert, und die entscheidenden Argumente ergeben
sich auf der Grundlage der kosmopolitischen Perspektive auch eher aus der em-
pirischen und immanenten Kritik.
(b) Vor dem Hintergrund der kosmopolitischen Perspektive als Basis und
Bezugspunkt zielt die Kritik nicht nur auf das Aufzeigen von Widersprüchen,
Dilemmata und Nebenfolgen: mindestens ebenso wichtig ist das Aufzeigen der
Kontingenzen der gesellschaftlichen Entwicklung. In einer verflüssigten, offenen
Gesellschaft ist zwar keineswegs alles möglich. Gleichwohl spielen Kontingenzen
in der Zweiten Moderne eine weit größere Rolle als in der Ersten, und zwar
sowohl quantitativ als auch qualitativ. Denn die Entwicklung geht weder linear
aufwärts oder abwärts, sondern kann in höchst unterschiedliche Richtungen füh-
ren. So sind »Chancen der kosmopolitischen Erneuerung der Staatlichkeit« (ebd.,
S. 404) durchaus vorstellbar, aber es gibt auch die »Nachtseiten des Kosmopolitis-
mus« (ebd.), die auf die Möglichkeit einer Universalisierung und Depolitisierung
von Herrschaft in einer »verwalteten Welt« verweisen, und schließlich kann auch
eine desaströse Zukunft im Sinne einer Katastrophengesellschaft nicht ausge-
schlossen werden. Welche der verschiedenen Varianten und welche Mischformen
realisiert werden, ist eine Frage der Praxis und kann auf keinen Fall von einer
Theorie vorentschieden werden, deren Aufgabe eher darin liegt, kontingente Ent-
wicklungsmöglichkeiten und -szenarien zu konstruieren und experimentell auszu-
testen.
(c) Zum dritten schließlich hat die Neue Kritische Theorie keine spezifischen
Adressaten, und es gibt auch keine bestimmten Träger der Kritik. Weder rekurriert
Beck, wie Habermas, auf alle diskursorientierten bzw. dem zwanglosen Zwang des
besseren Arguments zugänglichen Menschen noch auf bestimmte Protestgruppen
oder Neue soziale Bewegungen. Statt dessen benennt er eine Vielzahl möglicher
Adressaten, wobei die Bandbreite von den politischen Konsumenten bis hin zu
Administration und Eliten reicht. Zwar wendet sich Beck insbesondere an die
durch Individualisierung-, Pluralisierungs- Globalisierung- und Desintegrations-
erfahrungen geprägten Individuen, deren Freiheits-, (Un-)Gleichheits-, Leistungs-
und Integrationsvorstellungen in den klassisch-nationalstaatlich geprägten Ab-
grenzungen nicht aufgehen. Aber diese Adressaten werden nicht unbedingt als
potentielle Akteure, sondern eher als Globalisierungsbetroffene zum Thema, und
dies macht deutlich, dass die Neue Kritische Theorie im Sinne Becks eher praxisab-
stinent angelegt ist. Denn sie zielt nicht unbedingt auf die Beförderung von
Selbstreflexion ab, sondern auf Konstruktion und Nachkonstruktion von Ambiva-
lenzen, Nebenfolgen und Kontingenzen.
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 387

VI.

Sowohl Lash als auch Beck vertreten die These, dass Kritik unter den Bedingungen
der Globalisierung und/oder der Informationsgesellschaft anders formuliert wer-
den müsse als in der einfachen Moderne. Sie arbeiten sich aber keineswegs sys-
tematisch an der Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Kritik ab. Dies
ist um so bedauerlicher, als diese Frage vor allem dann wichtig wird, wenn die
Strukturveränderungen der Vergesellschaftung tatsächlich so zutreffen sollten wie
sie behauptet werden. Denn unter der Voraussetzung einer Verflüssigung der
Kritik, einer wachsenden Kontingenzorientierung (bei gleichzeitig sinkender Ein-
deutigkeit) und angesichts der Tatsache, dass das mögliche Anderssein selbst kon-
tingent wird und als Emanzipation und Katastrophe gleichermaßen gedacht wer-
den kann, scheint sich nicht nur das Verhältnis zwischen Kritik und Praxis zu
verändern. Vielmehr kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die ›bodenlos‹
gewordene Kritik aller Kriterien verlustig geht und somit kaum noch jene Funk-
tionen erfüllen kann, die von der Gesellschaftskritik bislang erwartet wurden.
Genau hier setzt die Debatte um den »kritischen Blick« (Wenzel 2002) an, die
sich explizit mit der Begründbarkeit und Möglichkeit von Gesellschaftskritik
beschäftigt und zusätzliche Differenzierungen liefert. Den Auftakt zu dieser De-
batte lieferte Michael Walzer, der schon in den 1980er Jahren versuchte, »einen
philosophischen Rahmen für das Verständnis von Gesellschaftskritik als einer
gesellschaftlichen Praxis« (Walzer 1990, S. 7) zu liefern. Hierbei unterschied er drei
Traditionen von Gesellschaftskritik, die er als »Pfad der Entdeckung«, »Pfad der
Erfindung« und »Pfad der Interpretation« bezeichnete (ebd., S. 11 ff.). Bei der
ersten Variante, die vor allem mit Beispielen aus der Religionsgeschichte illustriert
werden kann, liegt die Quelle der Kritik in einer Offenbarung, aus der sich
bestimmte moralische Gebote ergeben, und zwar letztlich begründungsfrei. Eine
solche Offenbarung führte beispielsweise Luther zu seiner Kritik der Amtskirche,
und wenn Luther darauf hinwies, dass er »nicht durch Zeugnisse der Schrift und
klare Vernunftgründe überzeugt« werden könne und eine Widerrufung seiner
Thesen »wider das Gewissen« sei, dann zog er eindeutige Grenzen für eine
vollständige Begründbarkeit der Kritik. Ganz anders akzentuiert ist der »Pfad der
Erfindung«, der für Walzer mit Descartes beginnt und bei Horkheimer, Habermas
oder Rawls endet. Hier entsteht Kritik nicht aus einer irrationalen Offenbarung,
sondern aus einer rationalen Konstruktion, die moralische Gebote (oder Verfahren
zu ihrer Gewinnung) theoretisch begründet und damit »erfindet«, wobei der Praxis
die Aufgabe der Realisierung dieser Erfindungen zufällt.
Der »Pfad der Interpretation« schließlich verweist auf eine Art pragmatische
Zwischenposition, die Walzer anhand eines Gedankenexperiments erläutert, das
implizit gegen Rawls und Habermas gerichtet ist (ebd., S. 22ff.). Die von Rawls bis
Habermas formulierten Ethiken machen nach Walzer nur Sinn für eine Gruppe
Reisender aus unterschiedlichen Kulturen und mit unterschiedlichen Sprachen, die
sich irgendwie auf gemeinsame Normen verständigen müssen. Das kann die
Gruppe nur, wenn alle Beteiligten, zumindest zeitweise, davon ablassen, auf ihren
je eigenen Praktiken und Werten zu beharren. Aber die auf diese Weise erfundenen
388 Wolfgang Bonß

Regeln und Gebote haben nicht zwangsläufig Geltung, wenn die Reisenden wieder
in ihre Kulturen und Lebenswelten zurück kehren. Dort können sie allenfalls den
Status von regulativen Ideen haben, die vor dem Hintergrund einsozialisierter
Werte und Normen interpretiert und angepasst werden müssen, wobei die ent-
scheidenden Auslöser der Kritik auch nicht in den erfundenen Regeln zu sehen
sind, sondern im praktischen Unbehagen an den konkreten Verhältnissen.
So verdienstvoll die Verdienste der Varianten der »Entdeckung« und »Erfin-
dung« historisch gesehen auch sein mögen – für die Begründung von Kritik in
modernisiert-modernen Gesellschaften sind sie nach Walzer unzureichend. Dies
gilt nicht nur für diejenigen Konzepte, die auf (meist hoch problematische) Strate-
gien der »Offenbarung« rekurrieren, sondern auch für jene Ansätze, die auf dem
Wege der Konstruktion allgemeine Regeln und Normen zu begründen versuchen.
Dass dies schief gehen muss, lässt sich für Walzer nicht zuletzt am Beispiel der
Kritischen Theorie studieren. So ist Horkheimer in seinen Augen ein typisches
Beispiel für jene Leute, »die eine gute Theorie haben und trotzdem keine präzise
und rechtzeitige Kritik hervorbringen« (Walzer 2002, S. 28). Die Bedingung der
Möglichkeit von Kritik, so seine Schlussfolgerung, liege nicht in einer guten
Theorie, sondern in spezifischen Tugenden, also in praktischen Gesinnungen, die
auf die Verwirklichung moralischer Werte ausgerichtet sind. Woher diese Tugenden
kommen, ob sie angeboren oder einsozialisiert sind und wie sie sich entwickeln
bzw. verändern, ist für Walzer (im Unterschied zu Alasdair MacIntyre (1987))
nicht von Interesse; er beharrt allein auf dem Punkt, dass das auslösende Moment
für praktisch wirksame Kritik nicht in der theoretischen Reflexion liegt, sondern
vor allem in drei Tugenden, nämlich in Mut, Mitleid (»compassion«) und Augen-
maß.
Mit diesen Thesen stieß Walzer auf erheblichen Widerspruch, und zwar nicht
nur bei Ralf Dahrendorf (2002), sondern auch bei Axel Honneth (2002), der in
seiner Entgegnung eine wichtige weiterführende Differenzbildung vornahm. Für
Honneth ist im Unterschied zu Walzer die Gleichsetzung von intellektueller
Tätigkeit und Gesellschaftskritik historisch wie systematisch nicht mehr möglich.
So hat sich die Funktion der Intellektuellen in den Informations-, Wissens- und
Mediengesellschaften erheblich geändert. Sie sind nicht mehr Außenseiter und
Randfiguren, sondern im Zuge der Verwissenschaftlichung der Gesellschaft selbst
»normalisiert« worden. Mit ihren Analysen und Kommentaren erfüllen sie wich-
tige Aufgaben der Wissensbeschaffung, Symbolanalyse und Entscheidungsvor-
bereitung, und bei der in diesen Zusammenhängen formulierten Kritik »geht es um
die Korrektur von Sichtweisen öffentlicher Belange innerhalb des in der demo-
kratischen Öffentlichkeit akzeptierten Beschreibungssystems« (Honneth 2002,
S. 67). Diese Form der Kritik darf mit Gesellschaftskritik freilich nicht verwechselt
werden. Bei Gesellschaftskritik geht es nicht um die Veränderung von Sichtweisen
innerhalb der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung, sondern »um die Hinterfra-
gung jenes Beschreibungssystems selber« (ebd.). Im Unterschied zur normalisier-
ten und ubiquitär gewordenen Kritik interner Blockaden und Unzulänglichkeiten
stellt die Gesellschaftskritik die Frage nach dem möglichen Anderssein in einer
grundsätzlichen Form: »Hinterfragt wird nicht die vorherrschende Deutung eines
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 389

Sachproblems, die öffentliche Ignoranz gegenüber abweichenden Meinungen oder


die nur selektive Wahrnehmung einer zur Entscheidung anstehenden Materie,
sondern vielmehr das soziale wie kulturelle Bedingungsgeflecht, in dem alle diese
Willensbildungen überhaupt zustande gekommen sind« (ebd., S. 69).
Eine solche, auf das gesellschaftliche Insgesamt bezogene Perspektive ist auch
und gerade in Informations-, Wissens- und Mediengesellschaften nach wie vor
keine Angelegenheit des Mainstreams, sondern geschieht eher aus der Perspektive
von ›Außenseitern‹, die nach der Bedingung der Möglichkeit des alltäglichen
Funktionierens fragen und das darauf bezogene soziale und kulturelle Bedingungs-
geflecht nicht umstandslos akzeptieren. Aus dieser Ortsbestimmung ergeben sich
zunächst zwei Schlußfolgerungen: Zum einen zeichnet sich Gesellschaftskritik in
weit stärkerem Maße als früher durch eine spezifische Praxisabstinenz aus. Diese
wird um so deutlicher und unabweisbarer, als intellektuelle Tätigkeit ansonsten in
hohem Maße praxisbezogen ist und es überdies auch nicht mehr einen eindeutigen
Träger und Adressaten der Kritik gibt. Zum anderen bedarf gerade die Gesell-
schaftskritik im Unterschied zu vielen anderen intellektuellen Tätigkeiten in ho-
hem Maße der Theorie. Denn sie ergibt sich nicht von selbst aufgrund spezifischer
Charaktereigenschaften bzw. Tugenden, sondern sie muss begründet werden, und
ihre Überzeugungskraft ist um so höher, je verallgemeinerbarer die Begründung
selbst ausfällt.
»Was Gesellschaftskritik antreibt, ist der Eindruck, daß die institutionellen
Mechanismen und Bedürfnisinterpretationen selber äußerst fragwürdig sind, die
der öffentlichen Willensbildung als quasinatürliche Bedingungen zugrunde liegen«
(ebd., S. 69 f.) – diesem Satz würden wahrscheinlich auch Lash und Beck zu-
stimmen und auf die informationskritische und/oder kosmopolitische Perspektive
als Bedingung der Möglichkeit einer Aufdeckung des Quasinatürlichen verweisen.
Honneth hingegen stellt sich erst einmal die Frage, wieso es nicht nur eine
subjektive Meinung ist, dass die institutionellen Mechanismen und Bedürfnisinter-
pretationen fragwürdig sind. Seine Antwort knüpft einerseits an Habermas kom-
munikationstheoretischen Begründungsversuchen an, die ihm andererseits jedoch
unzureichend erscheinen. Denn es reicht nicht aus, »das normative Potential der
sozialen Interaktion [..] mit den sprachlichen Bedingungen einer herrschaftsfreien
Verständigung gleichzusetzen« (Honneth 1996, S. 22). Kritik ist vielmehr nur dann
zureichend begründet, wenn sie sich (zumindest aus der Beobachterperspektive)
auf faktische Widerstandspotentiale beziehen kann.
Die Analyse des Widerstandshandelns von depravierten Gruppen wiederum
macht deutlich, »dass es nicht die Orientierung an positiv formulierten Moral-
prinzipien, sondern die Erfahrung der Verletzung von intuitiv gegebenen Ge-
rechtigkeitsvorstellungen ist, die dem sozialen Protestverhalten […] zugrunde
liegt« (ebd., S. 23). Allerdings werden diese Gerechtigkeitsvorstellungen, die sich
auf die Anerkennung der eigenen Würde oder Integrität beziehen, in der Regel
nicht als ein positives System von Gerechtigkeitsidealen formuliert. Unter den
Bedingungen einer »bodenlos« gewordenen Kritik ist ein solches System kaum
länger positiv positiv formulierbar, sondern Gerechtigkeit tritt allenfalls negativ in
den Blick, nämlich als Erfahrung von Ungerechtigkeit. Genau diese »Ungerechtig-
390 Wolfgang Bonß

keitserfahrungen« bilden für Honneth daher die unverzichtbare Basis und den
Bezugspunkt einer Kritik, deren Gegenstand in Anschluss an Habermas als »Pa-
thologien der kapitalistischen Gesellschaft« (ebd., S. 25) beschrieben wird und
später als »Paradoxien kapitalistischer Modernisierung« (Honneth 2001, S. 62).
Derartige Paradoxien sind krisenhafte Störungen der Vergesellschaftung, die in
empirischer Hinsicht auf unterschiedlichen Ebenen identifiziert werden können
und dann gegeben sind, »wenn durch dieselben Mechanismen, die moralische,
rechtliche und kulturelle Fortschritte zustande bringen, diese normativen Errun-
genschaften auch wieder gefährdet (werden), weil der Kreis der von ihnen tatsäch-
lich Profitierenden strukturell reduziert wird« (ebd.).
Diese Formulierung erinnert an die Becksche These von den »Nebenfolgen« der
Modernisierungsprozesse, und Honneth bezieht sich indirekt auch auf Beck, wenn
für ihn »die reflexive Modernisierung […] ein zutiefst paradoxer Prozeß« ist, den
es im Rahmen Kritischer Theorie »auf breiter Ebene empirisch zu untersuchen«
gilt (ebd., S. 63). Aber ungeachtet der sich hier andeutenden Nähen in der Dia-
gnostik bestehen in der Konzeption des Kritikbegriffs und des möglichen Anders-
seins erhebliche Differenzen. Abgesehen davon, dass Honneth im Unterschied zu
Beck die Frage nach der Bedingung der Möglichkeit von Kritik vor dem Hinter-
grund der Entwicklungsschritte der kritischen Theorie explizit zu begründen
versucht, hält er an Idee der Möglichkeit einer ›vernünftigen‹ Welt fest und
versucht zugleich, auch potentielle Träger zu benennen. Während Beck das mögli-
che Anderssein im Spannungsfeld zwischen positivem Kosmopolitismus und poten-
tieller Katastrophengesellschaft weitgehend kontingent beschreibt (und an dieser
Stelle unfreiwillige Nähen zu Niklas Luhmann aufweist), sucht Honneth unter
Bezug auf konkretes Protestverhalten nach den schon von Adorno beschworenen
Spuren und Splittern einer Welt jenseits der instrumentellen Vernunft. Zwar wird
diese potentiell vernünftige Welt an keiner Stelle positiv bestimmt und auch nicht
unbedingt mit bestimmtensozialen Gruppen in Verbindung gebracht. Aber auch
wenn in empirischer und analytischer Hinsicht die Katastrophengesellschaft als eine
mögliche Option nicht ausgeschlossen wird, so weigert sich Honneth, diese Op-
tion auch unter normativen Perspektiven zu akzeptieren, da dies letztlich ein Ende
der Möglichkeit von Gesellschaftskritik bedeuten würde.
Gegenüber den von Beck und Lash formulierten Thesen ist dieser Einwand
insofern bedenkenswert, als bei beiden Zweifel bestehen können, ob nicht die von
ihnen postulierte veränderte Kritik in letzter Instanz auf einen Abschied von der
Idee der Gesellschaftskritik hinausläuft. Umgekehrt ist an Honneth die Frage zu
stellen, ob die von ihm in Anschluss an Habermas entwickelten Argumentationen
ausreichen, um am Projekt der Gesellschaftskritik unter den Bedingungen einer
kontingenten Moderne nicht nur mit guten Gründen, sondern auch mit em-
pirischen Indikatoren festhalten zu können. Die Antwort auf beide Fragen ist nach
wie vor offen.
Warum ist die Kritische Theorie kritisch? Anmerkungen zu alten und neuen Entwürfen 391

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Bd. I der Lehrbuchreihe: Einführung in die sozialwissenschaftliche Frauen- bzw. Geschlech-
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Christoph Görg, lehrt Politikwissenschaft an der Universität/GH Kassel. Neuere Veröffentli-
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Mythen globalen Umweltmanagements. »Rio + 10« und die Sackgassen nachhaltiger Ent-
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Lena Inowlocki, lehrt Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universität Frankfurt a. M.
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Matthias Kettner, geb. 1955, Professor für Philosophie an der Fakultät für das studium
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Boy Lüthje, geb. 1959, lehrt am Fachbereich Gesellschaftswissenschaften der Johann Wolf-
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394 Die Autorinnen und Autoren des Bandes

Contract Manufacturing – Transnationale Produktion und Industriearbeit in der IT-Industrie


(Frankfurt a. M./New York 2002)
Jost Müller, geb. 1959, Literatur- und Politikwissenschaftler. Letzte Veröffentlichung: Kritik
der Weltordnung. Globalisierung, Imperialismus, Empire (Berlin 2003)
Thilo Maria Naumann, geb. 1966, tätig in der Kinder- und Jugendhilfe und Lehrbeauftragter
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Thomas Sablowski, geb. 1964, Sozialwissenschaftler, lebt und arbeitet in Berlin. Letzte
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gegen Belegschaftsinteressen. Der Weg der Hoechst AG zum Life-Sciences-Konzern (Ham-
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Demokratie in der Geschlechterdebatte (Frankfurt a. M./New York 2001); Gewalt, Staat und
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Gunzelin Schmid Noerr, geb. 1947, Professor für Sozialphilosophie an der Hochschule
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Gerhard Schweppenhäuser, geb. 1960, Professor für Design-, Kommunikations- und Medien-
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Neuere Veröffentlichungen: Die Fluchtbahn des Subjekts (Münster 2001); Grundbegriffe der
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Heinz Steinert, geb. 1942, Professor für Soziologie an der Johann Wolfgang Goethe-Universi-
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Michael Vester, geb. 1939, Professor für Politische Wissenschaft an der Universität Hannover.
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