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in der Beck’schen Reihe

Warum braucht der Mensch Moral, warum Ethik? Was unter-


scheidet die Moral von anderen Verbindlichkeiten menschli-
chen Handelns? Welche Grundmodelle der Ethik entwickelte
die Philosophie im Laufe der Geschichte? Welche Fragen und
Kontroversen sind in der heutigen Debatte relevant? Nicht zu-
letzt: Wie reagiert die Ethik auf die Herausforderungen einer
globalisierten Welt in den Bereichen der Wirtschaft, der Wissen-
schaft und der Umwelt? Wie setzt sie sich mit den Fortschritten
in der Gentechnik und Humanmedizin auseinander?
Von einer Fundamentalethik über eine Anthropologie und
eine Handlungstheorie bis zur Angewandten Ethik behandelt
dieses Buch kurz, prägnant und allgemeinverständlich alle rele-
vanten Themenfelder.

Otfried Höffe, Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Uni-


versität St. Gallen, war bis zu seiner Emeritierung ordentlicher
Professor für Philosophie an der Universität Tübingen. Er leitet
die Forschungsstelle Politische Philosophie und ist Herausgeber
der Reihen «Denker» und «Klassiker auslegen».
Otfried Höffe

ETHIK
Eine Einführung

Verlag C.H.Beck
Nach fast 45 Jahren:
Immer noch für Evelyn

© Verlag C.H.Beck oHG, München 2013


Umschlaggestaltung: Uwe Göbel, München
ISBN Buch 978 3 406 64630 0
ISBN eBook 978 3 406 64631 7

Die gedruckte Ausgabe dieses Titels erhalten Sie im Buchhandel sowie


versandkostenfrei auf unserer Website
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Informationen.
Inhalt

Vorwort 7

I. Was heißt philosophische Ethik? 9


1. Zum Begriff der Ethik 9
2. Anthropologische Grundlagen 11
3. Drei Stufen des Guten; das Böse 16
4. Praktische Philosophie 21
5. Interkulturelle Ethikdiskurse 24

II. Methoden 25
1. Deskriptive und präskriptive Ethik 25
2. Methodenvielfalt 26
3. Zwei metaethische Debatten 29
4. Drei Fehlschlüsse 31
4.1 Der Sein-Sollensfehler 31 – 4.2 Der moralistische Fehlschluß 32
4.3 Der naturalistische Fehlschluß 33
5. Grundriß-Wissen 36

III. Handlungstheorie und Ethik 38


1. Bewußt und freiwillig 38
2. Praktische Vernunft: Gründe und Motive 42
3. Praktischer Syllogismus 45
4. Streben oder Wollen 47
5. Zwei Exkurse 49
5.1 Anthropozentrik? 49 – 5.2 Determinismus? 50

IV. Grundmodelle der Ethik 53


1. Prinzip Glück: Eudaimonie 54
1.1 Erste Begriffe 54– 1.2 Eudaimonismus: Aristoteles 56 – 1.3 Kritik
am Eudaimonismus 59
2. Kollektivwohl: Der Utilitarismus 61
2.1 Der Grundgedanke 61 – 2.2 Kritik am Utilitarismus 63
3. Prinzip Freiheit: Autonomie 65
3.1 Kantische Ethiken 65 – 3.2 Handlungsfreiheit 66 – 3.3 Kategori-
scher Imperativ 68 – 3.4 Maximenethik 72
4. Moralkritik 73
4.1 Ethischer Relativismus 74 – 4.2 Entlarvende Moralkritik 75 –
4.3 Umwertung aller Werte: Friedrich Nietzsche 76 – 4.4 Ein verlore-
nes Paradigma? Niklas Luhmann 78 – 4.5 Rechtfertigende Moralkri-
tik 79 – 4.6 Moralkritik zweiter Stufe 79
5. Kontraktualismus und Diskursethik 80
5.1 Gesellschaftsvertrag: Kontraktualismus 80 – 5.2 Diskursethik 82

V. Tugenden 83
1. Zum Begriff 83
2. Tugenden aus Selbstinteresse 86
2.1 Besonnenheit 86 – 2.2 Freigebigkeit 87 – 2.3 Gelassenheit 88 –
2.4 Heiterkeit 89 – 2.5 Aus Selbstinteresse selbstvergessen 89
3. Tugend des Geschuldeten: Gerechtigkeit 90
3.1 Politische Gerechtigkeit 90 – 3.2 Soziale Gerechtigkeit 91 –
3.3 Personale Gerechtigkeit 92
4. Verdienstliche Tugenden: Solidarität und Wohltätigkeit 94
5. Urteilskraft 98
5.1 Klugheit 98 – 5.2 Moralische Urteilskraft in autonomer Moral 99

VI. Warum moralisch sein? 100


1. Eudaimonie: Lebenskunst 100
2. Gerechtigkeit: Geschuldet 104
3. Autonomie: Selbstachtung 104

VII. Angewandte Ethik 106


1. Drei Kompetenzen 106
2. Angewandte Ethik als Preis der Moderne 111
3. Ethikberatung 112
4. Ein aktuelles Beispiel 114

VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral 116

Literatur 121 – Personenregister 124 – Sachregister 126


Vorwort

Viele erwarten von der philosophischen Ethik oder auch Moral-


philosophie nur eine Lehre von Pflichten, insbesondere von Ver-
boten, und sehen darin eine unangenehme Einengung ihrer Le-
bensmöglichkeiten. Tatsächlich wirft die Ethik auch die Frage
nach dem guten, weil glücklich gelungenen Leben auf und be-
antwortet sie mit einer philosophischen Lebenskunst. Zu ihr ge-
hört freilich die Einsicht, daß ein wahrhaftes, gutes Leben auf
Pflichten nicht ganz verzichten kann. Eine umfassende Ethik
enthält daher beide: eine Lebenskunst und eine Theorie morali-
scher Pflichten.
Das heutige Interesse an der Ethik richtet sich vor allem auf
Fragen der Wirtschaft, der Umwelt und der Medizin samt Tech-
nik. Derart angewandte Ethiken erfreuen sich eines bleibenden
öffentlichen und Fragen der Lebenskunst eines steten persönli-
chen Interesses. Deren gründliches Verständnis bedarf aber vor-
ab einer allgemeinen philosophischen Ethik; darauf legt diese
Einführung ihren Schwerpunkt. Gegen Ende wirft sie noch ei-
nen Blick auf die Angewandte Ethik.
Wie fast alle Disziplinen abendländischer Philosophie be-
ginnt auch die Ethik bei den Griechen, und in Auseinanderset-
zung mit ihnen erfolgt alle Weiterentwicklung. Dabei bilden
sich so grundlegende Fragen und Begriffe, Methoden und Argu-
mentationsmuster aus, daß noch heute jede Ethik davon zu
profitieren vermag. Ein Blick in frühere Debatten kann jeden-
falls sowohl das Problembewußtsein als auch das Themenspek-
trum erweitern.
Trotzdem braucht man sich nicht gegen Neuerungen zu ver-
sperren, insbesondere dann nicht, wenn sie dem guten Leben
des Menschen dienen. Innerhalb der Philosophie gelten sogar
ausschließlich jene Autoren als wirklich bedeutsam, denen tat-
sächlich eine ethische Neuerung gelingt, also eine Innovation in
8 Vorwort

der Theorie der Moral. Denn für Innovationen der Moral selbst
ist die philosophische Ethik nur mitzuständig, nicht aber allein-
zuständig. Nun lehrt die Erfahrung, daß moraltheoretische In-
novationen nicht im Tempo wissenschaftlicher oder technischer
Innovationen, also in der Geschwindigkeit weniger Jahrzehnte
oder sogar einzelner Jahre, erfolgen. Wahrhafte Ethikinnovatio-
nen bedürfen, was eine hektische Zeit kaum noch kennt: eines
Atems von Jahrhunderten.
Blickt man auf den Gegenstand der Ethik, beispielsweise auf
moralische Grundsätze und Grundeinstellungen, so ist ein er-
heblicher Teil davon der Menschheit seit langem bekannt, über-
dies zu einem erstaunlich großen Teil interkulturell und in-
terepochal anerkannt. Dieser Umstand erleichtert der philoso-
phischen Ethik ihre Aufgabe; trotz Entstehung im Abendland
sucht sie eine mehr als okzidentale, nämlich eine globale, sogar
universelle Gültigkeit.
Diese Einführung konzentriert sich auf Wesentliches. Sie be-
ginnt mit der Frage, was Ethik heißt und welche Methoden für
sie wichtig sind. Sie erörtert sodann das Verhältnis zur Hand-
lungstheorie, skizziert klassische, zugleich bis heute entschei-
dende Ethikmodelle und stellt den Begriff der Tugend mit deren
wichtigsten Beispielen vor. Auf die Auseinandersetzung mit der
Frage, warum man überhaupt moralisch sein soll, folgen ein
Blick in die Angewandte Ethik und ein Ausblick zur Macht der
Moral.
Da ich mich mit diesen Themen seit langem befasse, kann ich
hier auf zahlreiche frühere Überlegungen zurückgreifen. Wieder
darf ich meinen ebenso kompetenten wie engagierten Mitarbei-
tern danken, dieses Mal insbesondere Dr. Dirk Brantl und Mo-
ritz Hildt, M. A., und für die Kunst, selbst schwer lesbare Ma-
nuskripte lesbar zu schreiben, Heike Schulz.

Istanbul und Tübingen im Frühjahr und Sommer 2012


I. Was heißt philosophische Ethik?

Unter «heißen» verstehen wir zweierlei, heute vor allem «be-


deuten, meinen» früher aber auch «gebieten» (z. B. «Wer heißt
mich kommen?»). Bei der Frage: «Was heißt philosophische
Ethik?» geht es um beides, um den Begriff der philosophischen
Ethik und um die Frage, warum man sich mit ihr befaßt, warum
die philosophische Ethik sogar notwendig ist. Ihrem Wesen
nach nicht an die westliche Kultur gebunden, beruft sich dabei
die Philosophie, was in Zeiten der Globalisierung willkommen
ist, auf keine Autoritäten, sondern lediglich auf eine allgemein-
menschliche Vernunft und eine ebenso allgemeinmenschliche
Erfahrung.
1. Zum Begriff der Ethik

Philosophische Grundbegriffe pflegen vieldeutig zu sein. Dafür


ist aber nicht eine Unklarheit des Denkens oder eine Ungenauig-
keit des Sprechens verantwortlich, sondern eine Mehrdeutigkeit
und Vielschichtigkeit der Gegenstände. Im Fall der Ethik zeigt
sich die Mehrdeutigkeit schon in der Etymologie. ta êthika, wie
die Disziplin der abendländischen Moralphilosophie von ihrem
Urheber, Aristoteles, genannt wird, bezeichnet die das êthos be-
treffenden Dinge. Dabei hat êthos drei Bedeutungen, die eine
philosophische Ethik allesamt zu behandeln hat:
Die erste Bedeutung, Ethos 1, der gewohnte Ort des Lebens,
versetzt den Menschen ins Kontinuum der Natur. Denn auch
Tiere haben ein Ethos, das für die jeweilige Art oder Gattung
eigentümlich ist. Gemäß ihrer biologischen Ausstattung woh-
nen Fische im Wasser, das Vieh dagegen entweder auf dem eher
natürlichen Weideplatz oder in dem von Menschenhand ge-
schaffenen, künstlichen Stall. Schon bei domestizierten Tieren
ist also ihr Ethos, obwohl durch die Biologie vorgeprägt, durch
sie unterbestimmt.
10 I. Was heißt philosophische Ethik?

Beim Urheber der Domestikation ist die Situation entschie-


den komplizierter. Der Mensch kennt nicht bloß eine Fülle
«geographischer» Möglichkeiten, da er sowohl auf der Erde als
auch über und unter ihr, dabei noch in unterschiedlichster Wei-
se wohnen kann. Er relativiert das geographische Ethos auch
durch zwei neue Faktoren, durch kulturelle Prägungen und
durch Individualität. So überläßt die Natur der Kultur und
überlassen liberale Kulturen den Individuen großzügig eine er-
hebliche Macht. Genau sie drängt nun die Bewertungsfrage auf,
die die Ethik auf den Plan ruft: Welche der Möglichkeiten sind
gut, welche schlecht?
Wegen der zwei neuen Faktoren, der kulturellen Prägungen
und des individuellen Lebens, zerfällt die Human-Ethik in zwei
sich ergänzende, gelegentlich aber auch widerstreitende Berei-
che, in ein soziales Ethos bzw. Ethos 2, griechisch ethos (mit
kurzem e; lateinisch mores), und in ein personales Ethos bzw.
Ethos 3, griechisch êthos (mit breitem e). Einerseits zählen beim
Ethos 3 die Art und Weise, wie man sein Leben führt, die Le-
bensform (griechisch: bios) und die persönliche Einstellung und
Sinnesart, der Charakter. Andererseits ist das persönliche Leben
in das Ethos 2 eingebunden, in den Inbegriff von Institutionen
wie Familie, Recht und Staat, aber auch den Inbegriff von Üb-
lichkeiten, den Gewohnheiten und Sitten. Obwohl die Human-
Ethik daher aus zwei Bereichen besteht, einer personalen Ethik
von Lebensformen und Charakter und einer Sozialethik, ein-
schließlich der Rechts- und Staatsethik, konzentriert sich diese
Einführung auf die personale Ethik.
Zuvor eine Randbemerkung: Eine so kreative und zugleich
anpassungsbereite Sprache wie das Deutsche bewahrt neben der
eigenen Übersetzung von êthê: «Sitten», in Fremdwörtern so-
wohl den griechischen Ausdruck, Ethik, als auch dessen lateini-
sche Übersetzung, Moral, auf. Das Ergebnis besteht in der ver-
wirrenden Situation, daß drei Ausdrücke in etwa dasselbe be-
deuten und daß von den verschiedenen Abgrenzungsversuchen
keiner absolut zwingend ist. Im Anschluß an gewisse Sprachge-
wohnheiten empfiehlt sich aber, unter «Ethik» die wissenschaft-
liche Disziplin, die vor allem philosophische Theorie von Moral
2. Anthropologische Grundlagen 11

und Sitten, zu verstehen, unter «Moral und Sitten» dagegen den


Gegenstand dieser Disziplin. Dabei bezeichnet die positive Mo-
ral, der Inbegriff von Gewohnheiten und Sitten, den Gegenstand
einer deskriptiven, die Wirklichkeit beschreibenden Ethik, die
kritische Moral oder schlicht: Moral dagegen den Gegenstand
einer vorschreibenden, präskriptiven und einer Verbindlichkei-
ten begründenden, normativen Ethik.

2. Anthropologische Grundlagen

Offensichtlich ist innerhalb der Natur nur der Mensch zur Ethik
fähig. Die Antwort auf die zweite Bedeutung von «heißen»,
nämlich auf die Frage, was gebietet, sich mit Ethik zu befassen,
hängt daher mit den Eigentümlichkeiten des Menschen, der
Conditio humana, zusammen. Die zuständige Disziplin, die
philosophische Anthropologie, wird zwar bald nach ihrem Hö-
hepunkt in den 1920er bis 1940er Jahren (Max Scheler, Hel-
muth Plessner und Arnold Gehlen) vernachlässigt. Der dafür
mitverantwortlichen Befürchtung, man lasse «den Menschen zu
fixer Gegenständlichkeit erstarren» und schiebe damit «die Dia-
lektik und die Geschichte beiseite» (Lukács 1922, 204) läßt sich
aber entkräften.
Eine auf die Moral konzentrierte Anthropologie, eine Moral-
anthropologie, läßt sich von der Frage leiten, welche biologi-
schen, einschließlich neurobiologischen Eigentümlichkeiten da-
für verantwortlich sind, daß der Mensch ein Moralwesen wird.
Damit verbindet sie die zweite Frage, warum die Moral eine all-
gemeine Grundlage in der (biologischen) Natur hat und doch
kulturell bestimmt ist. Und die dritte Frage lautet: Warum hat
die Moral den Charakter eines begründeten Sollens, eines Impe-
rativs, ohne, wie Hegelianer befürchten, zum ohnmächtigen
Sollen zu degenerieren?
Gegen die von Kritikern geäußerte Befürchtung, der Mensch
werde auf ein ungeschichtliches Wesen festgelegt, zeigt die neu-
ere Anthropologie, daß dem Menschen seiner biologischen Na-
tur nach eine Dynamik innewohnt, die sowohl die Kultur im
Singular, das nicht bloß organisch-natürliche Menschsein, als
12 I. Was heißt philosophische Ethik?

auch die Kultur im Plural, die geschichtlich unterschiedlichen


Gestalten, schafft. Infolgedessen ist das weit verbreitete duali-
stische Denken – hier Natur, dort Kultur – aufzugeben: Wäh-
rend die natürliche Existenz des Menschen durch und durch
kulturell geprägt ist, machen sich die kulturellen Prägungen von
den organisch-natürlichen Anlagen nie ganz frei. Eine selbstkri-
tische Anthropologie gesteht daher zu, daß sie lediglich ein Ske-
lett von Menschsein erkennt. Erst durch kulturelle, darüber hin-
aus individuelle Faktoren entsteht ein konkretes Wesen aus
«Fleisch und Blut».
Obwohl der Anthropologie heute weit mehr Erfahrung zur
Verfügung steht, sind die zwei entscheidenden Einsichten seit
der Antike bekannt: daß der Mensch ein vernunft- und sprach-
begabtes Lebewesen und ein Sozial-, näherhin Rechts- und Poli-
tikwesen ist (vgl. Aristoteles, Politik I 2). Dabei schließt die Ver-
nunft- und Sprachbegabung des Menschen die Begabung zur
moralisch-praktischen Vernunft ein, und wegen der Sozial- und
Politiknatur bildet der Mensch die Moral im Zusammenleben
mit seinesgleichen aus. Die Vernunft und die Sozialnatur sind
freilich sowohl bei der Gattung als auch beim Individuum zu-
nächst nur in Form einer Anlage gegeben, die es zu entwickeln
und zur schließlichen Blüte zu führen gilt.
Das Sich-Entwickeln-Müssen schlägt auf die Moral durch.
Der Mensch ist nicht sogleich das Animal morale, das Moral-
wesen, wohl aber in dreierlei Hinsicht ein Animal morabile:
(1) Er ist zur Moral fähig; (2) er ist zu ihr auch berufen, muß
sich aber (3) dazu auch entwickeln. Damit findet die dritte Fra-
ge der Moralanthropologie eine erste Antwort: Wegen der
nötigen Anstrengungen hat die Moral einen Sollenscharakter,
und sie hat ihn in einem noch grundlegenderen als dem vertrau-
ten Sinn. Die Moral tritt nicht nur in Gestalt von vernunftbe-
gründetem Sollen, einem Imperativ, auf. Vielmehr liegt schon
ihrer Entfaltung ein deshalb noch basalerer Imperativ zugrun-
de. Das zur Moral fähige Wesen Mensch ist sowohl als Gattung
als auch als Gruppe und als Individuum aufgefordert, sich von
einem nur potentiellen zu einem aktualen Moralwesen zu ent-
wickeln.
2. Anthropologische Grundlagen 13

Schon in der Vorform des rationalen Denkens, im Mythos


(vgl. Platon, Protagoras, 321 f.), fallen Menschen im Vergleich
zum Tier durch zwei Eigentümlichkeiten auf, einerseits durch
bestimmte Schwächen in der Organ- und Instinktausstattung,
andererseits durch eine Stärke, namentlich die Intelligenz, die
über die Ansätze, die sich bei Tieren finden, weit hinausreicht.
Wegen dieser beiden nahtlos ineinandergreifenden Seiten ist der
Mensch im Unterschied zum Tier auf kein Ethos 1, auf keinen
wohlbestimmten Ort des Lebens, festgelegt. Genetisch nicht
dem Zwang innerer Mechanismen oder äußerer Umwelteinflüs-
se ausgeliefert, stehen dem Menschen zunächst als Gruppe, spä-
ter auch als Individuum eine fast unbegrenzte Fülle von Hand-
lungs- und Lebensmöglichkeiten offen. Als ein Generalist, der
fast unbegrenzt Vieles vermag, genießt er schon in organischer
Hinsicht das Glück einer Weltoffenheit, die nicht einmal auf die
beiden «natürlichen» Generalziele, das individuelle und das
kollektive Überleben, festgelegt ist.
Zum Menschen als biologischem Multitalent gehört als psy-
chologische Eigenart ein unspezialisierter Energieüberschuß,
der sich einem Hormon, dem leistungssteigernden Noradrena-
lin, verdankt. Zusammen mit Intelligenz und Sprache ermög-
licht es humane Glanzlichter wie Technik und Medizin, wie
Musik, Kunst und Architektur, wie Literatur, Wissenschaft und
Philosophie, nicht zuletzt heroische Verzichte. Der Antriebs-
überschuß erlaubt aber auch ein so gut wie grenzenloses Immer-
mehr: Völlerei und sexuelle Maßlosigkeit, Ehrsucht, Herrsch-
sucht und Habsucht. Nicht zuletzt kann der Mensch Allmachts-
phantasien erliegen, so daß man ihn ironisch als einen Affen
definieren kann, der gelegentlich wie Gott sein will.
Die sachgerechte Diagnose lautet deshalb seit Platons
Protagoras und in der Neuzeit seit Herder nicht auf Organ-
schwäche und Instinktmängel, sondern auf Weltoffenheit statt
Umweltgebundenheit und auf reflexiven Welt- und Selbstbezug
statt unmittelbarem Lebensvollzug.
Eine erfahrungsoffene Moralanthropologie betont weitere
moralerhebliche Gesichtspunkte, etwa daß der Mensch um An-
erkennung sich sorgt, sogar um sie kämpft. Dazu gehören Fol-
14 I. Was heißt philosophische Ethik?

gephänomene wie Neid, Eifersucht und Mißgunst, wie Rache,


aber auch Verzeihen, Sympathie und Empathie, Barmherzigkeit,
Reue und Scham.
Man kann die Weltoffenheit verharmlosen und sie nur auf die
Mittel («technische Rationalität») und das Wohlergehen
(«pragmatische Rationalität») beschränken. In Wahrheit gibt es
aber jene größere Offenheit von Recht und Unrecht, auch Gut
und Böse, die der Moral entspricht und um die nicht erst das
jüdisch-christliche Denken weiß: Während die technisch-wis-
senschaftliche Rationalität in Platons Protagoras-Mythos als
von den Göttern gestohlen, mithin als nicht rundum legitim gilt,
geht deren für das menschliche Zusammenleben notwendige
Ergänzung, gehen Recht und Scham auf Zeus selbst zurück
(Protagoras, 322 c–d); sie haben einen göttlichen, insofern legi-
timen Ursprung.
Weil die dem Recht und der Scham verpflichteten Handlungs-
muster überlebenswichtig sind, empfiehlt es sich, sie den zufälli-
gen Strebungen der Individuen zu entheben und auf Dauer zu
stellen. Eine derartige Stabilisierung geschieht in dem für die
Menschen charakteristischen Ethos 2, den Institutionen und
verbindlichen Sitten, die zusammen die soziale Sittlichkeit oder
soziale Moral im positiven, noch nicht kritischen Verständnis
von Moral bilden.
Zu Anfang der Menschheitsgeschichte bildet also die soziale
Moral, die den Anforderungen von Recht und Scham und zu-
gleich der Gut-Schlecht bzw. Gut-Böse Bewertung ausgesetzte
Welt, eine ungeschiedene Einheit vom Geziemenden und Guten,
von Brauch, Sitte und Recht. Friedrich Nietzsche drückt es in
seinen «Gedanken über die moralischen Vorurteile», in der
Morgenröte, treffend aus: «Ursprünglich gehörte die ganze Er-
ziehung und Pflege der Gesundheit, die Ehe, die Heilkunst, der
Feldbau, der Krieg, das Reden und Schweigen, der Verkehr un-
tereinander und mit den Göttern in den Bereich der Sittlichkeit»
(1. Buch, Abschnitt 9).
Bei dieser positiven Moral handelt es sich um einen für die
Daseinsweise der Menschen konstitutiven normativen Grund-
rahmen. Er bestimmt das Verhalten vor allem zu den Mitmen-
2. Anthropologische Grundlagen 15

schen, aber auch zur Natur und zu sich selbst und besteht in
einem der Willkür der einzelnen weithin entzogenen Komplex
von Handlungsregeln, Wertmaßstäben, auch Sinnvorstellun-
gen. Ohne von inneren Spannungen ganz frei zu sein, ist er für
Klein- oder Großgruppen, auch für ganze Kulturkreise charak-
teristisch. In seiner jeweiligen Gestalt mitbegründet er die Un-
terscheidung von «fremd» und «dazugehörig». Durch Auf-
wachsen in der entsprechenden Gruppe, durch Vor- und Nach-
machen, durch Leitbilder, verbale oder nichtverbale Billigung
und Mißbilligung angeeignet und zur persönlichen Haltung,
Sinnesart befestigt, ist er der Gefahr ausgesetzt, die eigene Mo-
ral zu verabsolutieren und Fremde mit anderer Moral und an-
deren Sitten zu diskriminieren. Aufgrund eines längeren kultur-
geschichtlichen Prozesses betrifft freilich die positive Moral
heute nur noch einen Teil des von Nietzsche benannten größe-
ren Zusammenhangs.
Einiges ist nämlich aus der überpersönlichen Lebenswelt in
den Raum persönlicher Verfügung ausgewandert, anderes hat
sich in Etikette und Konventionen, in Brauch und Sitte sowie in
das Recht ausdifferenziert. Kulturanthropologisch betrachtet
besteht die positive Moral in Direktiven und Stabilisationsker-
nen. Mit ihrer Hilfe wird das durch seine Organe und Instinkte
kaum geschützte Leben des Menschen auf der Basis gegenseiti-
gen Vertrauens gesichert und der einzelne durch vorgefundene
Lebensmuster vom steten Zwang zur Formschöpfung und Ent-
scheidung entlastet (Gehlen). In einer zur Soziologie erweiterten
Perspektive dient diese Moral der Integration und Stabilität so-
zialer Systeme (Talcott Parsons), das wiederum ein (in Grenzen)
vorhersagbares Zusammenleben mit Verläßlichkeit und Verste-
hen ermöglicht. Die positive Moral reicht allerdings über diese
genealogisch gesehen frühen Aufgaben im Rahmen der kollekti-
ven Selbsterhaltung hinaus. Denn sie stellt auch jenes gruppen-
und kulturspezifische Richtmaß eines sinnvollen Lebens dar,
das sich aus kollektiven Erfahrungen und schöpferischen
Sinnentwürfen herausbildet und der humanen Selbstdarstellung
und -verwirklichung dient.
Anthropologisch betrachtet ist die Moral also eine merkwür-
16 I. Was heißt philosophische Ethik?

dige Mischung aus den drei Modalitäten Sollen, Bedürfnis und


Sein: Der seiner Biologie nach weltoffene, aber auch gefährdete
Mensch («Bedürfnis») braucht wirksame Verbindlichkeiten (po-
sitive Moral: «Sein»), die die Intelligenz auf ihr Gutsein, letztlich
auf ein uneingeschränktes Gutsein («Sollen») zu befragen er-
laubt.
Diese Erlaubnis wird zwar nicht notwendig realisiert, läßt
sich aber schwerlich auf Dauer unterdrücken. Folglich erweist
sich die Moral erstens als von der Biologie vorbereitet. Zwei-
tens nimmt sie nur in einer Kultur die konkrete Gestalt einer
positiven Moral an, die drittens mittels einer allgemeinmensch-
lichen Vernunft einer kritischen Moral ausgesetzt, nicht selten
durch sie auch umgestaltet wird. Die biologische, einschließlich
neurobiologische Natur des Menschen bietet also Rahmenbe-
dingungen, die der Entwicklung von Moral entgegenkommen,
die sie sogar um des bloßen Lebens willen herausfordern. Die
Moral selbst muß der Mensch aber aus eigener Kraft und nach
eigenen Kriterien entwickeln.

3. Drei Stufen des Guten; das Böse

Die anthropologisch begonnene Begründung der Ethik setzt


sich in einer neuartigen, konstruktiven Semantik fort (vgl. Höf-
fe 2007, Teil I). Diese stellt beim normativen Grundbegriff der
Ethik «gut» drei Bedeutungen fest, sieht, daß sie rangmäßig
aufeinander aufbauen und daß man die dritte Stufe sinnvoller-
weise mit «moralisch gut» und den Gegensatz mit «böse»
gleichsetzt:
Auf der ersten und untersten Stufe bewertet man Mittel und
Wege auf ihre Tauglichkeit für beliebige Absichten oder Ziele.
Wer beispielsweise zu Wohlstand kommen will, braucht weit
mehr Einnahmen als Ausgaben. Dagegen bleibt hier die Frage
offen, ob es gut ist, wohlhabend zu werden. Dieses «gut für
(irgend-) etwas» schließt alles technische, taktische oder stra-
tegische, alles instrumentelle, auch funktionale Gutsein ein.
Es kann im weiteren Sinn des Wortes «technisch gut», auch
«fachlich gut» heißen. Trägt man die Bewertung als begrün-
3. Drei Stufen des Guten; das Böse 17

dete Forderung vor, so nimmt sie die Gestalt eines technischen


Imperativs, eines aus technischen Gründen folgenden Sollens,
an.
Nach dem in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts einfluß-
reichen Emotivismus (z. B. Stevenson 1944) bezeichne «gut»
weder natürliche noch nichtnatürliche Eigenschaften, vielmehr
habe der Ausdruck nur eine Gefühls- (Emotions-) Bedeutung.
Sage jemand «a ist gut», so bringe er bloß seine persönliche Ein-
stellung, gewissermaßen seinen emotionalen Geschmack zum
Ausdruck. Allerdings verbinde man damit den Versuch, den an-
deren zum Übernehmen der persönlichen Einstellung bzw. des
eigenen Geschmacks zu bewegen.
Wäre diese Ansicht richtig, so fielen alle Bewertungen, auch
die moralischen Urteile, aus dem Bereich des Erkennbaren (Ko-
gnitiven), zugleich auch aus dem Bereich der argumentativen
Diskussion heraus. Die Ethik wäre bloß nichtkognitivistisch
und nichtargumentativ möglich, folglich allein als Theorie von
unterschiedlichem Gefühl und Geschmack, mithin lediglich als
Konsens über den Dissens. Schon für die erste Bewertungsstufe,
das technisch Gute, überzeugt aber die Ansicht nicht. Denn bei
ihren Aussagen gibt ein vorgegebenes Ziel (Z) den Maßstab ab,
an dem die Richtigkeit der Aussage «a ist gut für Z» objektiv
gemessen wird. Infolgedessen erhebt die Aussage einen objekti-
ven, jedenfalls argumentativen Anspruch.
Weil der Emotivismus von einem unreflektierten und phäno-
menfremden Begriff des Guten ausgeht, wird er auch dem mo-
ralisch Guten, auf das es ihm letztlich ankommt, nicht gerecht.
Er verfehlt nämlich, wird sich zeigen, den zumindest stillschwei-
gend argumentativen, darüber hinaus sogar universalistischen
Anspruch.
Dem technischen Gutsein bzw. Imperativ entspricht die tech-
nische Rationalität, die auch «technische Vernunft» heißt. Beide
Ausdrücke, Rationalität und Vernunft, sind hier in dem weiten
Sinn gemeint, daß sie die taktische, strategische, instrumentelle
und funktionale Rationalität bzw. Vernunft einschließen. Weil
sie sich nicht auf Erkennen, sondern auf Handeln beziehen,
spricht man besser von technisch-praktischer Rationalität bzw.
18 I. Was heißt philosophische Ethik?

technisch-praktischer Vernunft. Gemeint ist die Fähigkeit, tech-


nisch-praktischen Gründen zu folgen.
Zu dieser Stufe des Guten gehören Werte und Haltungen, die
für eine Vielzahl anderer Handlungsziele und -zwecke von Be-
deutung sind, zum Beispiel Konzentration, Pünktlichkeit, Ord-
nungsliebe und Fleiß. Als funktionale Werte und Haltungen
sind sie aber nicht in sich gut. Weil alles darauf ankommt, wo-
für sie eingesetzt werden, drängt sich eine zweite Stufe des Be-
wertens auf. Bei ihr wird, was auf der untersten Stufe bloß vor-
ausgesetzt wird, das Ziel, seinerseits bewertet.
Die Bewertung erfolgt hier im Blick auf ein Ziel zweiter Stufe,
auf jene Leitabsicht, das eigene Wohlergehen, nach dem die
Menschen natürlicherweise verlangen. Ob es um eine natürliche
oder eine juristische Person, etwa eine Schule, ein Unternehmen
oder einen Staat, geht – auf der zweiten Stufe fragt man, ob de-
ren Wohl befördert werde. Auf das «für (irgend-) etwas gut»
folgt das «für jemanden gut». Zu ihm gehören die pragmatische
Rationalität samt pragmatischem Imperativ und pragmatischer
Vernunft. Dabei sind noch zwei Teilstufen zu unterscheiden:
Zu dem bloß auf den einzelnen bezogenen, individualprag-
matischen Gutsein gehören etwa die Sorge für die eigene Ge-
sundheit und jene Kontrolle der momentanen Triebe, Bedürf-
nisse und Leidenschaften im Interesse am eigenen langfristigen
Wohlergehen, die man Besonnenheit nennt (s. Kap. V.2).
Bei der zweiten Teilstufe, dem gruppenbezogenen, sozial-
pragmatischen Gutsein, kommt es auf das Wohl aller Betroffe-
nen an. Die entsprechende Ethik, eine Sozialpragmatik, ist der
Utilitarismus, dessen nähere Beurteilung später (Kap. IV.2) er-
folgt. Hier, in der konstruktiven Semantik, ist aber schon eine
vorläufige Einschätzung möglich: Falls der Utilitarismus «mo-
ralisch gut» schon semantisch, also ohne normative Argumen-
te, mit «gut für alle Betroffenen» gleichsetzt, erhebt er einen
normativ zu geringen Anspruch. Denn er gibt sich insofern mit
einer hypothetischen (wenn …, dann...) Verbindlichkeit zufrie-
den, als er die normativ unabweisbare und zugleich höherstufi-
ge Frage offen läßt, warum man denn das Wohlergehen aller
verfolgen soll. Immerhin muß, wer fremdem Wohl dient, gele-
3. Drei Stufen des Guten; das Böse 19

gentlich sein eigenes Wohl einschränken, was rechtfertigungs-


bedürftig ist.
Weil eine Frage offen bleibt, sind die Möglichkeiten des Be-
wertens noch nicht ausgeschritten. Dies geschieht erst dort, wo
man auf etwas für sich selbst Gutes stößt, auf ein Gutes
schlechthin, ohne Zusätze und Voraussetzungen. Auch wer
schon der Sozialpragmatik einen moralischen Rang zuspricht,
kann dieses nicht leugnen: Erst auf der dritten Bewertungsstufe
wird alle hypothetische Verbindlichkeit aufgegeben und ein hin-
sichtlich der Verbindlichkeit voraussetzungsfrei, also uneinge-
schränkt Gutes, ein schlechthin oder kategorisches Sollen und
ein ebenso kategorischer Imperativ, erreicht. Als die von ihrem
konstruktiven Begriff her höchste und als voraussetzungsfrei
gute, nicht mehr rechtfertigungsbedürftige Stufe verdient sie am
ehesten die Gleichsetzung mit dem moralisch Guten im engen
und strengen Sinn.
Wie beim technischen und beim pragmatischen gibt es auch
beim moralischen Gutsein eine Entsprechung auf seiten des be-
gründeten Sollens. Da die hypothetische Verbindlichkeit be-
grifflich ausgeschlossen ist, liegt der nicht mehr hypothetische
Imperativ von moralischer Rationalität und moralischer Ver-
nunft vor. Und da sich das Bewerten sogar auf die zugrundelie-
gende Leitabsicht, das Eigenwohl oder aber das Kollektivwohl,
erstreckt, wird die Stufung des Bewertens ausgeschöpft. Wer
sich darauf nicht einlassen will, trägt die Beweislast; ein vorhe-
riges Abbrechen des Weiterfragens bedarf der Rechtfertigung.
Nach diesem Begriff besteht die (kritische) Moral in einem
höchsten Anspruch, den man an das menschliche Leben und
Zusammenleben stellt, und zugleich in einem letzten Grund der
Rechtfertigung. Insofern es willkürlich wäre, die Frage nach
dem Gutsein vorzeitig abzubrechen, bezeichnet diese Moral ei-
nen unabweisbaren Anspruch.
Da trotzdem andere Bewertungen belangvoll bleiben, könnte
man die kritische Moral für einen bloß dominanten Gesichts-
punkt halten, also für einen Aspekt, der anderen Bewertungen
zwar übergeordnet, mit ihnen aber verrechenbar sei. Beispiels-
weise könnten moralische Verfehlungen durch ein Übermaß an
20 I. Was heißt philosophische Ethik?

wissenschaftlicher, künstlerischer oder auch politischer Lei-


stung ausgeglichen werden. Nach einer wohlüberlegten Über-
zeugung hat aber auch ein Genie kein Recht zu betrügen, zu
stehlen oder zu töten.
Erkennt man diese Überzeugung an, so spricht man der kriti-
schen Moral eine Eigenschaft zu, die manche Philosophen allzu
rasch als unsinnig beiseite schieben: den Rang eines unbedingt
gültigen Anspruchs. Sie verhält sich beim Bewerten wie ein
Trumpf im Kartenspiel, der alles andere sticht, oder wie in ei-
nem Lexikon der vorangehende Buchstabe, dessen (lexikali-
scher) Vorrang sich unter keinen Umständen aufheben läßt.
Der entsprechende, seit Kant kategorisch genannte Imperativ
ist in erster Linie kein Maßstab für Moral, zu dem es eventuell
alternative Maßstäbe gäbe. Er bringt vielmehr die Sache der
Moral auf den Begriff und ist in dieser Hinsicht alternativlos
gültig: Im Fall des moralisch Guten hat die Verbindlichkeit nicht
mehr den Charakter eines «vorausgesetzt, daß man x will, so
soll man y tun». Es ist vielmehr ohne Voraussetzung, rein als
solche und für sich, folglich un-bedingt, eben kategorisch gültig.
Ob es um Personen oder Institutionen geht – vom Standpunkt
der (ab jetzt immer kritischen) Moral beschränkt sich menschli-
che Praxis nicht darauf, eine Funktion für anderes abzugeben;
sie soll für sich und uneingeschränkt gut sein. Offensichtlich ist
diese Möglichkeit nicht auf bestimmte Bereiche und Aspekte
des Lebens festgelegt, weder auf Fragen der Sexualität noch auf
außergewöhnliche Lebenslagen, auf Grenzsituationen. Mora-
lisch handeln heißt vielmehr, sein Leben sowohl vor sich als
auch gegen andere schlechthin verantwortbar zu führen. Mit
diesem strengen Begriff der Moral wird menschliche Praxis als
ganze vor das Forum der praktischen Vernunft, vor das Forum
der Verbindlichkeit, Rechtfertigung und Argumentation, gezo-
gen und erst damit radikal und voll verantwortbar.
Auch innerhalb der dritten Stufe lassen sich noch zwei Teil-
stufen unterscheiden. Die untere Teilstufe, die Rechtsmoral,
auch (politische) Gerechtigkeit genannt, besteht in Verbindlich-
keiten, deren Anerkennung die Menschen einander schulden, so
daß sie auf deren Verletzung mit Empörung reagieren dürfen.
4. Praktische Philosophie 21

Dazu gehört etwa der Respekt vor fremdem Leib und Leben
und vor anderen religiösen Überzeugungen. Die anspruchsvol-
lere zweite Teilstufe, die Tugendmoral, besteht im verdienstli-
chen Mehr:
Wer jemandem aus einer Not hilft, die er mitverschuldet hat,
genügt lediglich einer Rechtspflicht, wer es dagegen aus einer
nicht mitverschuldeten Not tut, erfüllt eine Tugendpflicht (s.
Teil V). Das Vorbild einer Tugendpflicht gibt die Nächstenliebe
ab, deren hohe Wertschätzung sich übrigens nicht bloß in der
christlichen Kultur findet (vgl. Lesebuch zur Ethik, Nr. 5 für
Alt-Ägypten, Nr. 31 für den Konfuzianismus und Nr. 39 für den
Islam). Und um die Nächstenliebe windet sich noch ein Kranz
weiterer Tugendpflichten: Wohlwollen, Mitleid (Sympathie)
und Mitgefühl (Empathie). Die Dankbarkeit, vielleicht auch die
Solidarität sind dagegen Zwischenphänomene zwischen Rechts-
und Tugendpflichten, weshalb man auch über Undankbarkeit
und mangelnde Solidarität empört sein darf.
Auf der negativen Seite entspricht dem moralisch Guten das
höchst Verwerfliche, das schlechthin Schlechte, das Böse: Böse
ist, wer die Mißachtung der Moral nicht etwa bloß in Kauf
nimmt, sondern sogar beabsichtigt. Eine solche Person erkennt
das moralisch Gute, verachtet es aber und handelt ihm zuwider.

4. Praktische Philosophie

Wer das Ethos nur in seinen verschiedenen Bedeutungen aus-


breitet und bloß über den Grund der Moral nachdenkt, behan-
delt die Moral wie eine theoretische Sache, wie einen Gegen-
stand bloßer Erkenntnis. Die philosophische Ethik als ganze hat
weiterreichende Interessen. Seit ihren Anfängen, in der Sache
schon bei Platon, ausdrücklich aber seit Aristoteles, sieht sie ihr
Ziel nicht im Wissen, sondern im Handeln (Nikomachische
Ethik I 1, 1095a5 f.). Selbstverständlich auf philosophische
Weise, also nicht durch Predigt und den Ruf zur Umkehr, läßt
sie sich von Schwierigkeiten des tatsächlichen Lebens anstoßen,
nimmt deren Diagnose vor und entwirft eine perspektivenreiche
Therapie. Im Gegensatz zu einem sich selbst genügenden Wis-
22 I. Was heißt philosophische Ethik?

sen, einer «theoretischen Theorie», sucht die philosophische


Ethik durchaus Erkenntnis, die von ihr gesuchte Erkenntnis hat
aber keinen Selbstzweck. Einerseits von der Praxis angestoßen,
andererseits auf deren Verbesserung zielend versteht sie sich als
eine im emphatischen Sinn praktische Philosophie.
Dieser auf Aristoteles zurückgehende Gedanke einer prakti-
schen Philosophie legt weder ein genaues Forschungsprogramm
noch eine gewisse Methode fest. Er besteht lediglich in einer lei-
tenden Forschungsintention, die daher auch dann sinnvoll
bleibt, wenn man sich inhaltlich und methodisch von Aristote-
les absetzt. Es handelt sich nämlich um eine ethiktheoretische
Intention, die auch von Philosophen praktiziert wird, die wie
etwa Hobbes, Kant oder Nietzsche sich ansonsten als Alterna-
tive zu Aristoteles verstehen.
Drei Arten von praktischen Anstößen sind für die Ethik cha-
rakteristisch: der Konflikt, die Kritik und die Krise. Alle drei
treten in unterschiedlicher Schärfe auf, wobei sich drei Stufen
unterscheiden lassen, etwa der moralisch-praktische Konflikt,
der Prinzipienkonflikt und der fundamentalethische Konflikt.
Auf der ersten Stufe gibt es beispielsweise ein anerkanntes
Leitziel, das Glück, aber eine Palette konkurrierender Lebens-
formen, die sich für das Glück anbieten. Mit dieser Schwierig-
keit setzt sich vor allem die antike Ethik auseinander. Nach Ari-
stoteles’ Nikomachischer Ethik weiß der Mensch nicht, in wel-
cher Lebensform (bios) er sein selbstverständliches Leitziel, das
Glück im Sinne von Eudaimonie, erreichen soll. Die alternati-
ven Lebensformen, die Aristoteles erörtert, sind übrigens bis
heute aktuell, ebenso die Argumente, warum drei der Lebens-
formen, das Genußleben, das auf Ansehen und Ehre abzielende
und das auf Reichtum verpflichtete Leben, das Leitziel struktu-
rell verfehlen. Der gemeinsame Grund: Sie sind allesamt nur an-
geblich, nicht wahrhaft glückstauglich. Die entsprechende Kri-
tik ist deshalb so überzeugend, weil sie nicht von außen, son-
dern glücksimmanent erfolgt (s. Kap. IV. 1.2).
Beim ersten, moralisch-praktischen Konflikt gilt das Leitziel
als unstrittige Vorgabe, nur der «Weg» zum Leitziel ist umstrit-
ten. Auf der zweiten Konfliktstufe ist man sich selbst über das
4. Praktische Philosophie 23

Leitziel bzw. über das Moralprinzip uneinig. Auf dieser Stufe,


beim Prinzipienkonflikt, konkurriert etwa Aristoteles’ eudaimo-
nistische Ethik mit dem utilitaristischen Prinzip des Kollektiv-
wohls, mit Kants Prinzip der Selbstgesetzgebung (Autonomie)
des Willens und mit konstruktiven Formen der Moralkritik (s.
Kap. IV. 1–3).
Auf der dritten Stufe, der fundamentalethischen Kritik, steht
der moralische Standpunkt selbst infrage. Der Anlaß oder
Grund liegt etwa in umstürzend neuen Erfahrungen, in verän-
derten Gesellschaftsverhältnissen oder einem radikal neuen
Menschenbild. Eine fundamentalethische Kritik kommt etwa
von seiten des Relativismus, da er sich in seiner radikalen Ge-
stalt, dem ethischen Relativismus, auf einen moralischen Skep-
tizismus beläuft (s. Kap. IV. 4).
Eine gründliche Fundamentalethik begnügt sich nicht mit der
Auseinandersetzung mit moralischem Skeptizismus, mit ethi-
schem Relativismus und mit destruktiven Formen der Mo-
ralkritik. Vielmehr wird sie auch konstruktiv und sucht nach
einem allgemeinen Maßstab für die Moral, nach einem «Mo-
ralometer», das jedoch strukturell komplizierter als ein Ther-
mometer ausfällt.
In der Frühzeit, vor der Philosophie, beginnt die Ethik als Le-
bensweisheit, die, in Texten der Religion, des Rechts und der
Literatur niedergeschrieben, sowohl das persönliche als auch
das soziale und politische Leben betreffen (für zahlreiche Bei-
spiele s. das Lesebuch zur Ethik).
Während die vorphilosophische Ethik entweder das von al-
ters her Gewohnte und Bewährte bekräftigt oder als Gegenent-
wurf dazu auftritt, dann auf der ersten Konfliktstufe verbleibt,
sucht die philosophische Ethik, von der Idee eines guten und
gerechten Lebens geleitet, auf methodischem Weg und ohne
letzte Berufung auf politische oder religiöse Autoritäten allge-
mein gültige Aussagen. Sie bildet allgemeine Begriffe, entwik-
kelt ebenso allgemeine Argumente und wägt konkurrierende
Argumente gegeneinander ab. Auf diese Weise gelingt ihr, was
heute, in Zeiten der Globalisierung, unerläßlich ist, ein interkul-
tureller Ethikdiskurs:
24 I. Was heißt philosophische Ethik?

5. Interkulturelle Ethikdiskurse
Der Ausdruck «Ethik» geht zwar auf die Griechen zurück. Die
dabei verhandelte Sache, die Moral, wurzelt aber in der Condi-
tio humana, weshalb die Ethik anderen Kulturen ebenso ver-
traut ist: Die Suche nach einer Ethik gehört zum gemeinsamen
Erbe der Menschheit.
Erfolgt die Suche auf dem angedeuteten philosophischen
Weg, so erhält die Ethik eine interkulturelle Bedeutung. Inter-
kulturell bedeutungsvoll wird sie, weil ihre Diskurse weder in
der eigenen Kultur allein stattfinden noch sich an deren beson-
dere Voraussetzungen bindet. Gegen die Gefahr gerichtet, ande-
re Kulturen am Maßstab der eigenen zu messen («Ethnozentris-
mus»), insbesondere gegen die Neigung, von der europäisch-
amerikanischen Kultur her alle anderen Kulturen als defizient:
als primitiv, barbarisch oder als zurückgeblieben («unterentwik-
kelt») abzuwerten («Euro- und Americozentrismus»), nehmen
interkulturelle Ethik-Diskurse andere Kulturen in ihrer unver-
wechselbaren Besonderheit ernst, ohne deshalb einem ethischen
Relativismus zu verfallen.
Heuristisch können sie mit folgender Faustregel operieren:
Das, wofür sich eine Kultur stark einsetzt, findet sie bei anderen
Kulturen ebenso, teils im Positiven – was sie moralisch einfor-
dert, läßt sich mindestens ansatzweise auch andernorts ent-
decken –, teils im Negativen: Worüber man sich in einer Kultur
empört, empört man sich andernorts ebenfalls.
Interkulturelle Ethik-Diskurse sind auf mehreren Ebenen zu
führen: (a) In der Moral- und Rechtsgeschichte suche man einen
den anderen Kulturen eigentümlichen, oft älteren Ursprung von
Moral und Recht auf. (b) Im Kulturvergleich hebe man auf das
gemeinsame moralische Erbe der Menschheit ab, etwa auf die
Goldene Regel und die Hochschätzung von Rechtschaffenheit,
Tapferkeit und Hilfsbereitschaft. (c) In der Moralbegründung
schließlich greife man nicht auf kulturspezifische, sondern auf
jene kulturübergreifend gültigen Prämissen zurück, die in der
allgemeinen Menschenvernunft und in allgemeinmenschlichen
Erfahrungen gründen.
II. Methoden 25

Ein interkultureller Ethikdiskurs hält nun das für gültig, was


dem Einspruch und Widerspruch aller Kulturen standhält.
Dank der basalen Unterscheidung von Universalität und Uni-
formität verteidigt er zwar universale Prinzipien, die aber be-
wußt so formal bleiben, daß sie im Widerspruch zur Uniformi-
tät für die Eigenart anderer Kulturen offen bleiben. (d) Für die
Moralpraxis schließlich verlange man, die Prinzipien so behut-
sam zu verwirklichen, daß die anderen Kulturen dasselbe Recht
auf einen Lernprozeß erhalten, das sich etwa bei den Menschen-
rechten Europa und Nordamerika genommen haben (vgl. hier-
zu Höffe 21998 und 1999 und Nussbaum 1992 und 2011).
Wie also ist die Frage dieses ersten Teils zu beantworten?
Ethik heißt, die der praktischen Vernunft innewohnende Inten-
tion auf Vernünftigkeit voll zu entfalten. Zu diesem Zweck ist
der Inbegriff von Verbindlichkeiten dritter Stufe, die Moral im
engen und strengen Sinn, zu entwickeln. Und angesichts von
Schwierigkeiten wie Konflikt, Kritik und Krise ist über die
Moral methodisch nachzudenken, somit die philosophische
Ethik als praktische Philosophie zu betreiben. Nicht zuletzt ver-
langt das moralische Recht aller Kulturen auf grundsätzliche
Gleichberechtigung, die philosophische Ethik in interkulturel-
len Diskursen durchzuführen.

II. Methoden

1. Deskriptive und präskriptive Ethik

Die drei Bedeutungen von Ethos erlauben zunächst zwei, am


Ende drei grundverschiedene Betrachtungen, denen drei ebenso
verschiedene Erkenntnisinteressen zugrundeliegen:
Man kann das Ethos entweder so beschreiben, wie es gegeben
ist, oder von Gesichtspunkten des Guten her vorschreiben, wie
es sein soll. Die erste, deskriptive oder empirische Ethik richtet
sich auf die die mannigfachen Phänomene von Lebensformen,
Gewohnheiten und Einstellungen, kurz: auf die positiv vorhan-
26 II. Methoden

dene, herrschende Moral. In ihrer anspruchsvollen Form ver-


sucht sie, über die bloße Beschreibung hinaus die positive Mo-
ral zu erklären, sie sogar zu einer empirischen Theorie mensch-
lichen Verhaltens zu verallgemeinern.
Um erfahrungsgesättigt zu sein, ist es der philosophischen
Ethik bzw. Moralphilosophie empfohlen, sich über die Empirie
kundig zu machen. Weil dafür aber nicht die Philosophie selbst,
sondern der bunte Strauß der empirischen Sozial- und Kultur-
wissenschaften zuständig ist, läßt sich die Philosophie vornehm-
lich auf die andere, präskriptive oder normative Ethik ein. De-
ren erste Stufe, die ethische Grundlagenforschung bzw. Funda-
mentalethik, klärt den Begriff des moralisch Guten und
begründet ein Prinzip oder eine Mehrzahl von Prinzipien mora-
lisch guten Handelns. Eine zweite Stufe, die Angewandte Ethik,
befaßt sich mit den moralischen Prinzipien und Kriterien ausge-
wählter Lebensbereiche (s. Teil VII). Eine umfassende philoso-
phische Ethik befaßt sich jedenfalls mit beiden, zunächst mit
den Grundlagen, sodann mit exemplarischen Anwendungen.

2. Methodenvielfalt

Will normative Ethik philosophisch sein, so hat sie sich durch


Begriffsklärung, Argumentation und Reflexion sowie durch
jene Voraussetzungslosigkeit auszuzeichnen, die nichts als ihrer
Diskussion entzogen anerkennt. Als Ethik wird sie dabei von
der Idee eines moralisch guten und gerechten Lebens geleitet.
Mit dem Ziel, das sittliche Bewußtsein über sich aufzuklären,
richtet sie keine Appelle an den Menschen, sondern bemüht sich
um klare Begriffe und setzt sich mit Schwierigkeiten, etwa den
drei genannten Konfliktstufen, und mit Einwänden auseinander.
Ferner sucht sie ein leitendes Prinzip, ein Moralprinzip, gegebe-
nenfalls dessen Plural, und ein Kriterium für Moral auf; sie klärt
Voraussetzungen und Folgen moralischen Lebens und entwirft
Grundhaltungen und Institutionen.
Eine Ethik, die diesem weiten Aufgabenfeld gerecht werden
will, läßt sich auf eine Vielfalt von sich ergänzenden Methoden
ein. Zwei Methoden sind schon praktiziert worden: (1) die In-
2. Methodenvielfalt 27

terpretation anthropologischer Befunde (Kap. I.2) und (2) die


konstruktive Semantik (Kap. I.3); hier folgen weitere Methoden:
(3) Damit die Argumentation nicht gehaltlos, leer bleibt, muß
sie sich einer empirischen Basis vergewissern. Wie man eine ver-
bindliche Ausgangsbasis gewinnt, ist jedoch umstritten. Die
hermeneutische (griechisch: Auslegung, Verstehen betreffende)
Ethik (Joachim Ritter, Hans Georg Gadamer und deren Schüler,
aber nicht der Ethik-renitente Martin Heidegger), und neuer-
dings der Sache nach auch der Kommunitarismus, behauptet,
um die sittlich-politische Wirklichkeit in ihrer Geschichtlichkeit
zu begreifen, den Vorrang der geschichtlichen Erfahrung vor
der abstrakten Deduktion. Als Vorbild dafür gelten die prakti-
sche Philosophie von Aristoteles und von Hegel, an der sich
Neoaristoteliker und Neohegelianer orientieren. Da die herme-
neutische Ethik eine vorhandene Moral und Sittlichkeit auf die
in ihr enthaltene Idee allgemeiner Verbindlichkeit hin auszule-
gen sucht, neigt sie zur Rechtfertigung des Bestehenden, ohne
es, wo es nötig wäre, im Namen der Moral auch zu kritisieren.
(4) Die von Franz Brentano und Edmund Husserl begründe-
te, von Max Scheler und Nicolai Hartmann ausgebaute, heute
aber weniger vertretene phänomenologische Ethik setzt bei ei-
ner Anschauung eigener Art an: In einer inneren Wahrnehmung
(Intuition) wird der Bereich der idealen materialen Werte und
ihr subjektives Korrelat aufgesucht, das moralische bzw. sittli-
che Bewußtsein, in dem sich die Werte als Sollensforderungen
unterschiedlichen Ranges befinden. Durch die Analyse von Lie-
be und Sympathie, von Haß, Scham und Demut versucht zum
Beispiel Scheler die «Sinnesgesetze des emotionalen Lebens» zu
erhellen. Allerdings geht die Phänomenologie vom eigenen Be-
wußtsein aus, das aber ohne gezielte Abstraktion nicht das sitt-
liche Bewußtsein schlechthin, sondern eine geschichtliche Ge-
stalt und diese sogar in individueller Ausprägung bildet.
(5) In einem allgemeinen Sinn ist jede philosophische Ethik
analytisch. Denn sie zerlegt ihren Gegenstand, das moralische
Handeln, in seine verschiedenen Elemente und Aspekte und
sucht diese methodisch zu bestimmen. Im engeren Sinn kann
diejenige Ethik analytisch heißen, die einen intersubjektiv ver-
28 II. Methoden

bindlichen Ausgangspunkt analysiert, was sich freilich fast jede


Ethik vornimmt: (5.1) Von G. E. Moore und dem späteren Witt-
genstein beeinflußt, beschreibt, erklärt und kommentiert die
sprachanalytische Ethik die Art und Weise, wie wir in der Um-
gangssprache moralische Ausdrücke (gut, richtig, auch Absicht,
Freude, Gewissen, Handlung, Pflicht usw.) verwenden und wie
wir moralisch argumentieren.
(5.2) Indem sie dabei um objektiver Wissenschaftlichkeit wil-
len auf alle normativen Aussagen nachdrücklich verzichtet
(Neutralitätsthese), versteht sie sich als Metaethik, die freilich
nicht nur sprachanalytisch möglich ist (s. Kap. II.3). Noch in
zwei weiteren Hinsichten neigt die sprachanalytische Metaethik
zu einer Selbstüberschätzung. Sie ist gar nicht so neu, denn seit
Platon und Aristoteles hat jede philosophische Ethik metaethi-
sche Anteile, da sie ihre Grundbegriffe klärt und die Methoden
der Ethik erörtert.
(5.3) Die normativ-analytische Ethik ist in einigen ihrer Ge-
stalten mit der hermeneutischen Ethik verwandt. Denn sie geht
beispielsweise von den sittlichen Urteilen lebenserfahrener
Menschen aus und sucht deren moralische Urteile in ein wider-
spruchsfreies System zu bringen, das unsere Überzeugungen er-
klären, nur gelegentlich auch korrigieren soll (vgl. etwa John
Rawls’ 1993 Gedanke des Überlegungsgleichgewichts und der
sich daran anschließende Konstruktivismus). Diese kohärenz-
theoretische Gestalt der normativ-analytischen Ethik gerät dort
in Schwierigkeiten, wo es zu den sittlichen Vorstellungen unter-
schiedliche Grundsätze und ihretwegen verschiedene Moralsy-
steme gibt. Deren Konkurrenz kann sie dann nicht mehr metho-
disch entscheiden. Das methodische Grundinteresse der norma-
tiv analytischen Ethik, die klare Explikation ihrer Begriffe und
Argumente ist aber, zeigt die Philosophie seit Platon und Aristo-
teles, später Kant, nicht an eine Kohärenztheorie gebunden.
(6) Ob die Ethik bei der sittlich-politischen Wirklichkeit, bei
idealen Werten oder dem sittlichen Bewußtsein, ob bei der Um-
gangssprache oder den Überzeugungen erfahrener Menschen
ansetzt – die entsprechenden Analysen, behaupten Kritiker,
bleiben von den im Ausgang (Vorwissen) enthaltenen, aber
3. Zwei metaethische Debatten 29

nicht thematisierten Grundansichten über den Mensch und die


Welt abhängig. Durchschaut man die Abhängigkeiten, so wer-
den sie gern als «metaphysische» Prämissen qualifiziert. Eine
Ethik ohne Metaphysik versucht nun, ohne solche Prämissen
auszukommen, obwohl keine bestimmte Ethik beanspruchen
kann, völlig «metaphysikfrei» zu sein. Denn ihre Prämissen lie-
gen nicht offen zutage. In der Regel werden sie erst dann offen-
bar, wenn das stillschweigend beanspruchte Verständnis von
Welt und Mensch seine Tragfähigkeit verliert. Im übrigen be-
deutet Meta-physik wörtlich: jenseits der Natur (physis), was
für das moralisch Gute seinem Begriff nach zutreffen dürfte: Als
Theorie eines die naturale Natur überschreitenden Gegenstan-
des, eben der (kritischen) Moral, dürfte eine streng metaphysik-
freie Ethik schwerlich möglich sein.
(7) Die durch Kant begründete transzendentale Ethik unter-
sucht die Bedingungen a priori der Möglichkeit von sittlicher
Erfahrung. Auch sie geht von gewöhnlichen sittlichen Urteilen
aus, ist also keinesfalls wirklichkeitsfremd. Sie abstrahiert aber
von allen besonderen, oft kontroversen Inhalten und sucht die
identische Form moralischer Grundsätze auf. Indem sie ge-
schichtlich konkretes Sollen auf das Moment des Unbedingten
zurückführt, leistet sie in einem emphatischen Sinn Begrün-
dung. Dazu gehört bei Kant der Versuch, im Gegensatz zur Vor-
stellung, Moral bzw. Sittlichkeit sei eine bloße Illusion, im Fak-
tum der Vernunft die Wirklichkeit reiner moralisch-praktischer
Vernunft aufzuweisen.

3. Zwei metaethische Debatten

In der im 20. Jahrhundert entwickelten Metaethik ragen zwei


teilweise ineinander greifende Debatten heraus, eine erkenntnis-
theoretische und eine ontologische. Dabei stehen sich jeweils
zwei Grundrichtungen gegenüber.
(1) In der erkenntnistheoretischen Debatte behauptet die eine
Position, der schon von David Hume vertretene Nonkognitivis-
mus, die Moral erlaube keine wissenschaftliche Erkenntnis.
Denn sie entziehe sich den beiden Wahrheitskriterien, dem lo-
30 II. Methoden

gisch-mathematischen Beweis und der Überprüfung durch Be-


obachtung oder Experiment: (1.1) Nach dem Emotivismus ha-
ben moralische Urteile wie erwähnt lediglich die Bedeutung,
unsere eigenen rein subjektiven Gefühle oder Einstellungen zu
bekräftigen und appellativ die anderer zu beeinflussen. Dabei
wird ein Wesenselement moralischer Urteile, ihr Anspruch auf
Allgemeingültigkeit und eine gewisse Objektivität, unterschla-
gen. (1.2) Nach einer Übergangsform zur nächsten Grundrich-
tung, nach dem Präskriptivismus von Richard M. Hare (1952),
handelt es sich bei moralischen Urteilen um Empfehlungen, für
die man allgemeine Gründe anzugeben bereit ist. Nach einem
Kritiker dieses universellen Präskriptivismus, zugleich anderer
universalistischer, etwa kantischer Ethiken, Bernard Williams
(1985), gebe es moralische Konflikte, die wie von antiken Tra-
gödien bekannt, sich nicht durch Aufhebung von Inkonsisten-
zen in einem abstrakten Normensystem vermeiden ließen. Al-
lerdings unterstellen universalistische Ethiken nicht, moralische
Konflikte seien nur die Folge von systeminternen Inkonsisten-
zen.
(2) Der Kognitivismus selbst hält an der Erkennbarkeit des
Sittlichen fest: (2.1) Nach dem Naturalismus sind moralische
Prädikate gleichbedeutend mit gewissen empirischen Prädika-
ten, etwa «gut» mit «nützlich» (Utilitarismus) oder «lustvoll»
(Hedonismus). Moralische Urteile lassen sich dann aus wahren
Sätzen über den Menschen und die Welt ableiten. Das Standar-
dargument gegen den Naturalismus ist G. E. Moores These vom
naturalistischen Fehlschluß (s. Kap. II.4.3). – (2.2) Der alterna-
tive Intuitionismus von Moore hält die grundlegenden morali-
schen Urteile für in sich evident, also einer bloß intuitiven Er-
kenntnis zugänglich, allerdings ohne klare Entscheidungskrite-
rien für die Richtigkeit von Intuitionen anzugeben.
Der zweiten, neueren Debatte geht es um die ontologische
Frage des Status moralischer Eigenschaften. Nach dem (3) mo-
ralischen bzw. ethischen Realismus gibt es von moralischen Ur-
teilen unabhängige moralische Tatsachen, was (4) der morali-
sche bzw. ethische Antirealismus bestreitet. Innerhalb des Rea-
lismus stehen sich naturalistische und subjektivistische Theorien
4. Drei Fehlschlüsse 31

gegenüber. Dort gelten moralische Eigenschaften als natürliche,


hier als subjektabhängige Eigenschaften. Beiden Grundpositio-
nen, dem Realismus und dem Antirealismus, ist derselbe Blick-
winkel gemeinsam: Sie sehen das Muster philosophischer Ethik
im Erkennen, um dann entweder den Bereich der Moral aus der
Welt der wahr-falsch-fähigen Aussagen herauszunehmen, dafür
aber den «ontologischen» Preis eines ethischen Relativismus zu
zahlen, oder die Moral in die theoretische Welt des Wahren und
Falschen zu vereinnahmen, dabei jedoch die Differenz von Gut-
Schlecht / Böse zu Wahr-Falsch aufzugeben. Überzeugender ist,
die Objektivitätsfähigkeit moralischer Aussagen mit ihrer Ei-
genständigkeit zu verbinden, also eine Objektivität herauszufin-
den, die für den Bereich für Gut-Schlecht / Böse charakteristisch,
besser noch: spezifisch ist (vgl. für solche Ansätze etwa Höffe
2007, Rawls 1980 und Scanlon 2000).
Beide methaethischen Debatten haben zwar begriffliche Dif-
ferenzierungen und scharfsinnige Argumente in Fülle hervorge-
bracht, aber nirgendwo zeichnet sich eine auch nur annähernde
Übereinstimmung ab. Folglich muß zumindest das Grundinter-
esse der Metaethik als verfehlt gelten: Der Versuch, die Kontro-
versen der traditionellen Ethikdiskurse durch einen Metadis-
kurs zu überwinden, ist gescheitert; ein Newton der Metaethik
ist nicht in Sicht.

4. Drei Fehlschlüsse

Welche Methoden sie auch immer vorzieht – eine schlüs-


sige Ethik hat drei Argumentationsfehler zu vermeiden. (Für
weitere Fehlschlüsse s. Kap. III.1: kognitivistische Verkürzung,
Kap. IV.3: genealogischer Fehlschluß und Kap. VII.1: humani-
taristischer Fehlschluß.) Ordnet man die entsprechenden Über-
legungen einer Metaethik zu, so dürfte sie hier, in einer Argumen-
tationstheorie der Ethik, am erfolgreichsten sein.

4.1 Der Sein-Sollensfehler Ein erster Fehlschluß mißachtet eine


semantische Unterscheidung, die von Seins- und Sollensaussa-
gen. Diese liegt freilich so nahe, daß sie von den wichtigsten
32 II. Methoden

Moralphilosophen sowohl erkannt als auch anerkannt wird.


Kant zum Beispiel setzt den Bereich der Naturgesetze («Sein»)
gegen die als Imperative auftauchenden Freiheitsgesetze («Sol-
len») ab, was im Neukantianismus als Trennung von Tatsachen
und Werten fortlebt. Auch ein gegen Sollensaussagen skepti-
scher Philosoph wie Hegel hebt die Unterscheidung nicht auf,
relativiert aber deren philosophische Tragweite.
Neuerdings beruft man sich meist auf eine knappe Passage
aus Humes Traktat über die menschliche Natur (3. Buch, 1. Teil,
1. Abschn.). Nach deren Standardinterpretation, Humesches
Gesetz genannt, sei die Ableitung von Sollensaussagen aus blo-
ßen Seinsaussagen logisch unmöglich. Daß dies zutrifft, läßt
sich ohne ein ausgefeiltes logisches Kalkül beweisen: Sofern
man die semantische Voraussetzung, eine die Seins- und die Sol-
lensaussagen unterscheidende Sprache, teilt, braucht man zur
schlüssigen Ableitung einer Sollensaussage mindestens eine Sol-
lensprämisse.

4.2 Der moralistische Fehlschluß Eine Ethik, die wie gebannt


auf den Vorwurf des Sein-Sollensfehlers schaut, übersieht die
nicht minder große Gefahr, sich ausschließlich in der Welt des
Sollens zu bewegen. Wer jeden Bezug auf die Wirklichkeit aus-
blendet, ist unfähig, gehaltvolle Verbindlichkeiten zu gewinnen.
Aus Sollensaussagen allein läßt sich kein spezifisches, moralphi-
losophisches Sollen ableiten. Um etwa in der Sorge für die Ge-
sundheit einen pragmatischen Imperativ zu erkennen, muß man
um deren Bedeutung für das Wohlergehen wissen. Und wer je-
mandem aus einer Notlage helfen soll, muß dreierlei kennen:
die konkrete Not, die Mittel, sie zu beheben, und den eigenen
Zugang zu diesen Mitteln.
Wer auf derartige Kenntnisse und Einschätzungen glaubt
verzichten zu können, verfällt dem moralistischen Fehlschluß.
Dieser besteht in der zum Sein-Sollensfehler entgegengesetzten
Annahme, aus moralischen Voraussetzungen allein ließen sich
substantielle Verbindlichkeiten ableiten. Tatsächlich führen sie
nur zu allgemeinen Beurteilungsprinzipien, die noch der Ver-
mittlung mit der Lebenswirklichkeit bedürfen. Die Vermitt-
4. Drei Fehlschlüsse 33

lungsaufgabe stellt sich sogar schon auf der Ebene moralischer


Prinzipien. Das Hilfsgebot beispielsweise bezieht den Stand-
punkt der Moral auf eine anthropologische Gegebenheit, die
Möglichkeit von Not und Hilfsfähigkeit. So taucht auf verschie-
denen Ebenen dasselbe Argumentationsmuster auf: Zu ebenso
schlüssigen wie gehaltvollen Aussagen gelangt nur, wer beide
Fehler, sowohl den Sein-Sollensfehler als auch den moralisti-
schen Fehlschluß, vermeidet.

4.3 Der naturalistische Fehlschluß Vom Grundwort der Moral-


philosophie «gut» behauptet G. E. Moore (1903), es sei ein
schlechthin einfacher Gegenstand. Infolgedessen versperre er
sich gegen eine Definition und sei nur einer geistigen Intuition
zugänglich. Keineswegs unbescheiden, vermeint Moore mit
diesem Argument so gut wie die gesamte bisherige philosophi-
sche Ethik in Mißkredit zu bringen. Sie habe nämlich «gut»
irrtümlich mit anderen Gegenständen gleichgesetzt, insbeson-
dere mit naturalen Eigenschaften wie «nützlich» (Utilitaris-
mus), «lustvoll» (Hedonismus) oder «lebensdienlich» (Evolu-
tionismus), weshalb er von einem naturalistischen Fehlschluß
spricht. Da er einen ähnlichen Fehlschluß auch metaphysi-
schen Ethiken vorwirft, behauptet er zusätzlich einen meta-
physischen Fehlschluß.
Für die behauptete Undefinierbarkeit von «gut» trägt Moore
keinen schlüssigen Beweis, sondern lediglich ein direktes und
ein indirektes Argument vor. Das direkte Argument, «gut» lasse
sich nicht in weitere Bestandteile zerlegen, ist zirkulär, da es als
bewiesen voraussetzt, was erst zu beweisen wäre: die nichtzer-
legbare Einfachheit von «gut». Nach dem indirekten «Argu-
ment der offenen Frage» bleibt dort, wo man «gut» etwa mit
«nützlich» oder «lustvoll» gleichsetze, die Frage offen, ob das
Nützliche oder Lustvolle unter allen Umständen gut sei. In der
Tat kann jemand ein unehrliches Versprechen für nützlich oder,
sofern er ein Sadist ist, das Quälen von Personen oder Tieren,
als lustvoll bezeichnen und trotzdem deren Gutsein in Frage
stellen. Rundum beweiskräftig ist dieses Argument aber nicht,
da es versteckte Synonymitäten gibt. Springt etwa die Bedeu-
34 II. Methoden

tungsgleichheit von Brunch und Gabelfrühstück nicht unmittel-


bar ins Auge, so ist die Frage: «Dieses ist A (Brunch); ist es auch
B (Gabelfrühstück)?» nicht sinnlos.
Moore kann den Naturalisten und den Metaphysikern nur
eine Art von Farbenblindheit, nämlich ein mangelndes Unter-
scheidungsvermögen von «gut» mit «nützlich» usw., vorwer-
fen. Und die Gegner lasten ihm eine Art von Halluzination an,
nämlich die Wahrnehmung einer von «nützlich» angeblich,
aber nicht tatsächlich verschiedenen Eigenschaft.
Abgesehen davon, daß es raffinierte Definitionen des Guten
gibt, etwa Aristoteles’ Bestimmung des Guten als das, wonach
alles strebt (Nikomachische Ethik I 1, 1094a), ist für die Ethik
nicht die Definition des Guten, sondern die des «moralisch Gu-
ten» entscheidend. Und diese Definition läßt sich mittels der in
Kapitel I.3 skizzierten konstruktiven Semantik gewinnen.
Ein ethischer Naturalismus versucht, den Sein-Sollensfehler
dadurch zu unterlaufen, daß er die Moral beispielsweise rein
biologisch, jedenfalls aus einem bloßen Sein begründet. Dabei
pflegt er zu übersehen, daß die etwa von anthropologischen Be-
funden her vorgenommene Moralbegründung in der Regel
nicht zur kritischen, «moralischen Moral», sondern lediglich zu
einer geltenden, positiven Moral führt. Infolgedessen verbleibt
man im Bereich des Seins. Überdies wird selbst die positive Mo-
ral wesentlich unterbestimmt. Denn wegen der Weltoffenheit
des Menschen braucht es zwar irgendeine positive Moral, was
aber noch nicht deren genauen Gehalt begründet. Selbst mit
Kriterien wie Lebensdienlichkeit oder Optimierung der Lebens-
möglichkeiten bleibt die Moral unterbestimmt. Insbesondere
bleibt die Frage offen, ob die Moral, besser: die Quasi-Moral,
wie in der Tierwelt anscheinend üblich dem Überleben der Spe-
zies oder wie beim Menschen eher der jeweiligen Kultur, letzt-
lich sogar den einzelnen Mitgliedern, den Individuen, dient. Die
sich hier abzeichnende Alternative von drei Optionen – Spezies
oder einzelne Kultur oder Individuum – läßt sich mit rein bio-
logischen Mitteln nicht entscheiden.
Hinzu kommt eine weitere Alternative, die der bloß biologi-
schen Betrachtung so gut wie fremd ist, die vom schlichten Le-
4. Drei Fehlschlüsse 35

ben (Überleben) oder aber Gutleben. Dabei kann die zweite


Möglichkeit die erste nicht bloß steigern, sondern ihr auch wi-
derstreiten. Zwar kennt auch die Tierwelt eine Art von hero-
ischem Altruismus: daß insbesondere ein Muttertier sich für die
eigenen Jungen opfert. Bei Tieren findet das entsprechende Ver-
halten aber einfachhin, ohne die Rückfrage statt, ob man das
Opfer denn bringen soll. Beim Menschen kommen überdies
zwei der Tierwelt fremde Erweiterungen hinzu: Soll ich mich
eventuell für andere als meine Kinder, vielleicht sogar für Nicht-
verwandte opfern? Und: Soll ich einer (zum Beispiel religiösen,
politischen oder kulturellen) Überzeugung selbst unter Inkauf-
nahme meines Lebens treu bleiben?
Die Grenzen eines am Muster der Biologie orientierten Natu-
ralismus treffen auch auf die raffinierte Gestalt von Philippa
Foot zu. Gemäß ihrer Titelthese «Natural Goodness» (2001)
bedeute «gut» generell, was den Mitgliedern einer biologischen
Art gut tue. Wie bei allen Tieren, selbst Pflanzen, so bestehe
auch beim Menschen das Gute in dem, was seinem natürlichen
Gedeihen zuträglich sei: «Ich ziehe es daher vor zu sagen, daß
Tugenden im Leben von Menschen eine notwendige Rolle spie-
len, so wie es Stacheln im Leben von Bienen tun.» (2001, 56)
Foot erklärt keineswegs, Menschen seien letztlich nichts an-
deres als Bienen, sie behauptet jedoch eine semantische, zu-
gleich biologische Gemeinsamkeit: Wenn sie sagt, trotz anderer
Unterschiede sei für Mensch und Tier gleichermaßen das «gut,
was die jeweilige Art zum eigenen Leben braucht» (ebd.), so
unterschlägt sie nicht gerade, aber akzentuiert im Begriff des
«eigenen» Lebens nicht hinreichend die Unterscheidung von
bloßem und gutem Leben, ferner, daß wegen dieser Unterschei-
dung der den Tieren fremde Konflikt auftaucht, ob man die An-
forderungen des bloßen Lebens zum Preis des Gutlebens oder
im Gegenteil die Verbindlichkeiten des guten zulasten des blo-
ßen Lebens befolgen soll. Nicht zuletzt kann das im artspezifi-
schen Sinn eigene Leben dem kultur- und dem individuumspezi-
fisch eigenen Leben widersprechen.
Eine andere, aber ebensowenig überzeugende Spielart des
Naturalismus, die Evolutionäre Spieltheorie (Skyrms 1996,
36 II. Methoden

Binmore 1992 und 1998) hebt nicht auf das natürliche Gut-
sein, sondern auf die natürliche Entwicklung der Normen des
Guten ab.
5. Grundriß-Wissen

Sofern die Ethik praktische Philosophie sein will (s. Kap. I.4), ist
ihr ein auf Aristoteles zurückgehender methodischer Begriff
wichtig, der Gedanke eines typô-, eines Umriß- oder Grundriß-
Wissens (Nikomachische Ethik I 1, 1094b 11–22; dazu Höffe
32008 Teil II ): Nach dem antiken Bild eines Bogenschützen, der

sein Ziel, wenn er es klar vor Augen hat, besser trifft, sucht die
Ethik durchaus das Leitprinzip der Moral auf. Wer es vor Au-
gen hat, in der Antike das Prinzip der Eudaimonie, in der Mo-
derne seit Kant das von kategorischem Imperativ und Autono-
mie (s. Teil IV), gewinnt aber erst eine geringe praxisleitende
Orientierung. Als praktische Philosophie gibt sich die Ethik da-
her nicht mit dem Prinzip zufrieden. Sie sucht nach spezifische-
ren Kriterien und Gesichtspunkten, beispielsweise nach morali-
schen Grundhaltungen, nach Tugenden (s. Teil V), wodurch sie
erfahrungsgesättigt und lebensnah wird. Rezepte dafür, wie In-
dividuen handeln sollen, formuliert sie aber nicht und hat dafür
einen Grund: Auf das entscheidende Strukturgitter, gewisserma-
ßen das moralische Skelett, konzentriert, überläßt sie das indivi-
duelle Tun und Lassen der Verantwortung der Handelnden, ih-
rer Begabung, Lage und kulturellen Umwelt.
Selbst unter dem stolzen Anspruch einer praktischen Philoso-
phie übt sich also eine philosophische Ethik in Bescheidenheit.
Sie begnügt sich nämlich mit einem Grundriß-Wissen, das dem
selbständig Handelnden willkommen ist, nur dem Unselbstän-
digen als Defizit erscheint. Dabei zeigt sie im Vorübergehen, wie
menschliches Leben verschieden sein und doch die gemeinsame
Qualität des Moralischen haben kann, ohne einem ethischen
Relativismus auf der einen oder einem starren Regeldogmatis-
mus auf der anderen Seite das Wort zu reden. Denn das Struk-
turgitter beinhaltet jenes Einheitsmoment, das gegen den Relati-
vismus spricht. Und das gegen den Regeldogmatismus gerichte-
te Moment liegt in der Notwendigkeit, das Gitter durch ein
5. Grundriß-Wissen 37

Vermitteln mit dem «Fleisch und Blut» von individuellen, auch


kulturellen Besonderheiten anzureichern.
Zu den Gründen der philosophischen Bescheidenheit gehört
der Umstand, daß drei methodisch grundverschiedene Momen-
te zu vermitteln sind. Das erste, präskriptive, näherhin morali-
sche Moment besteht im Gedanken des moralisch Guten, das
zweite, deskriptive Moment in allgemeinen Anwendungsbedin-
gungen, unter denen das moralisch Gute gefragt ist, und als
drittes Moment kommt das Handeln in seiner individuellen
Konkretion hinzu.
Offensichtlich liegt das genuin moralische Moment in der
Zuständigkeit der Moralphilosophie. Da in das zweite Moment
allgemeinmenschliche Erfahrungen hereinspielen, besitzt die
Philosophie hier keine Alleinzuständigkeit, wohl aber eine er-
hebliche Mitzuständigkeit. Für das dritte Moment, die Ein-
schätzung der konkreten Situation, braucht es dagegen eine Fä-
higkeit, die moralische Urteilskraft (s. Kap. V.5), für die die Phi-
losophie keine Sonderkompetenz mitbringt. Vielmehr ist hier
jede mündige Person selbst zuständig. Denn sie muß ihr eigenes
Leben führen und sich dabei auf die eigene Urteilskraft verlas-
sen, auch wenn sie klugerweise bei wichtigen Fragen und in ver-
wickelter Lage den Rat urteilsfähiger Freunde einholt.
Welche Orientierung leistet also eine Ethik als praktische Phi-
losophie? Sie vermag Grundschwierigkeiten zu lösen, zum Bei-
spiel gegen den Relativismus und den Nihilismus die moralische
Perspektive in ihr Recht zu setzen. Im Streit um das letzte Hand-
lungsprinzip beginnt sie mit einer Begriffsanalyse und gewinnt
aus ihr einen Begriff, dann einen Maßstab. Nicht zuletzt stellt
sie allgemeine Beurteilungspunkte bereit, überläßt jedoch das
konkrete Tun und Lassen dem Handelnden. So verbindet sich
eine Grundorientierung mit einem hohen Maß an Freiheit und
einem Recht auf Differenz. Mitlaufend votiert die Ethik für ei-
nen ethischen Liberalismus, der sich hinsichtlich konkreter Le-
bensentwürfe von allem maternalistischen und paternalisti-
schen Besserwissen freihält.
III. Handlungstheorie und Ethik

Anthropologisch gesehen ist der Mensch zwar dank Weltoffen-


heit, Antriebsüberschuß und Intelligenz samt Sprachfähigkeit
zu eigenverantwortlichem Handeln mit kritischer Bewertung
sowohl fähig als auch ihrer bedürftig. Und in ethischer Hinsicht
stellt das moralisch Gute, als das schlechthin Gute bestimmt,
im Rahmen des kritischen Bewertens die höchste Stufe dar.
Offensichtlich erreicht man aber mit dieser Verbindung von
Anthropologie und Ethik noch keine gehaltvolle Moral. Selbst
zusammengenommen ergeben beide Seiten nicht einmal ein
aussagekräftiges Moralprinzip. Dafür sind die zwei Kernele-
mente näher zu bestimmen, das eigenverantwortliche Handeln
und das schlechthin Gute. Beide Bestimmungen sind – worauf
die zeitgenössische Moralphilosophie weniger achtet – eng mit-
einander verknüpft: Einem aussagekräftigen Moralprinzip liegt
ein bestimmtes Verständnis von Handeln zugrunde, so wie um-
gekehrt das Handlungsverständnis den Moralbegriff präjudi-
ziert, allerdings nur in Verbindung mit der Idee des schlechthin
Guten. Das grundlegende Argumentationsmuster heißt daher:
Anthropologie plus Ethik plus Handlungstheorie.

1. Bewußt und freiwillig

«Handeln» ist ein Ausdruck der Alltagssprache und zugleich


ein Grundwort der Philosophie. Offensichtlich hat nicht jedes
menschliche Verhalten Handlungscharakter. Nicht darunter
fallen, es sei denn sie werden absichtlich herbeigeführt, At-
men, Schwitzen, Gähnen oder Nießen, auch Stolpern, Sich-Ver-
schreiben oder Sich-Verrechnen. Willentliches Unterlassen da-
gegen, etwa das Verweigern einer Hilfe, hat fraglos Handlungs-
charakter.
Durch Weltoffenheit und Intelligenz ausgezeichnet, unter-
1. Bewußt und freiwillig 39

scheidet sich das spezifisch menschliche Tun und Lassen von


physikalisch-chemischen Bewegungen, vegetativen Prozessen
und tierischem Verhalten durch ein praktisches Selbst- oder Re-
flexionsverhältnis: Der Mensch kann seine äußeren und inneren
Lebensbedingungen sowohl wahrnehmen, benennen und be-
greifen als auch bewerten und nach Maßgabe der Bewertungen,
sie gegebenenfalls schöpferisch verarbeiten. Infolgedessen ver-
mag er so, aber auch anders zu handeln und ist insofern frei.
Selbst bei den organischen Grundbedürfnissen zeigt sich die
Handlungsfreiheit. So drängen beispielsweise Hunger und
Durst zur Nahrungsaufnahme. Aber was gegessen und getrun-
ken wird, wann, wie oft und in welcher Atmosphäre, wie die
Nahrung zu finden, zuzubereiten und aufzubewahren ist – das
alles ist dem Menschen überantwortet und mit zusätzlichen,
etwa ästhetischen und sozialen Interessen verknüpft. Ob aus
Gründen der Gesundheit, der Schönheit, religiöser Askese oder
politischen Motiven – man kann auch für einige Zeit fasten
oder das Essen und Trinken ganz verweigern. Dabei lebt der
Mensch weder im Augenblick noch allein. Einerseits kann er
aus der Vergangenheit Erfahrungen ziehen und mit ihrer Hilfe
gewissermaßen in die Zukunft schauen – mit der Kehrseite, daß
ihn schon heute der Hunger von morgen plagt. Andererseits
lebt er mit seinesgleichen, mit denen er sich beraten, mit denen
er kooperieren und konkurrieren kann.
Im praktischen Selbstverhältnis greifen zwei Momente, ein
wissentliches (kognitives) und ein willentliches (volitives) Mo-
ment, ineinander. Zum Handeln gehört nämlich, daß man
(mehr oder weniger deutlich) weiß, was man tut oder läßt, wo-
bei sich das Wissen sowohl auf die Ziele und Zwecke als auch
die zweck- und situationsgemäßen Mittel und Wege erstrecken
kann. Häufig ist aber nur die eine, finale («Ziele») oder die an-
dere, instrumentelle Seite («Mittel») gegeben.
Selbst die Verbindung beider Anteile ergibt aber erst, was ein
zu enger Kognitivismus übersieht, ein praxisbezogenes, noch
kein wirklich praktisches Wissen. Wie ein Klavierinterpret, der
seine Sonate nur erläutert, aber nicht spielt, betrifft das Wissen
zwar die Praxis, realisiert sie aber nicht. Die Gegenansicht
40 III. Handlungstheorie und Ethik

verkürzt das Handeln auf ein Erkenntnismoment, erliegt also


einem neuartigen Fehlschluß, einer kognitivistischen Verkür-
zung.
Erst wenn sich das Moment des Wissentlichen mit dem un-
verzichtbar zweiten Moment, dem Willentlichen, verbindet,
wird aus dem «Wissen von» Praxis ein die Praxis zustandebrin-
gendes, kurz: wahrhaft «praktisches Wissen». Dort, aber auch
nur dort, wo sich das wissentliche, dijudikative Moment, das
ausdrückliche oder nur stillschweigende Urteil über Ziele und
Mittel, mit dem willentlichen bzw. exekutorischen Moment,
dem Antrieb, verbindet, liegt praktische Rationalität bzw. prak-
tische Vernunft vor. Auf der Wissensseite wählt der Mensch un-
ter den möglichen Zielen und Mitteln aus, die er nach der wil-
lentlichen Seite als die seinigen anerkennt und verfolgt: Was er
tut oder läßt, ist auch beabsichtigt, es ist intendiert; ebenso
wird, was er beabsichtigt, getan.
Für die exekutorische Seite vermeide man den wegen seiner
Mehrdeutigkeit hier mißverständlichen Ausdruck «Wille».
Denn in einem weiten Verständnis bezeichnet er jedes hand-
lungswirksame Wünschen, weshalb man dann besser von «ab-
sichtlich» oder «freiwillig» spricht. Daneben gibt es aber ein
enges und strenges Verständnis, das «einen Zustand von selbst
anfangen» meint, wofür es mehr als die reflexive Weltoffenheit
braucht. Der engere Willensbegriff zählt nicht zur menschlichen
Grundausstattung, zur Conditio humana. Weil er vielmehr eine
beträchtliche kulturelle Entwicklung voraussetzt, dürfte er we-
niger entwickelten Kulturen und Epochen unbekannt sein.
(Zum Willen als Gegenbegriff zum Streben s. Kap. III.3.)
In der praktischen Reflexivität gründet übrigens die Antwort
auf Wittgensteins «schwieriges», weil rein analytisch nicht
mehr auflösbares Problem: «was ist das, was übrigbleibt, wenn
ich von der Tatsache, daß ich meinen Arm hebe, die abziehe,
daß mein Arm sich hebt?» (Philosophische Untersuchungen,
Nr. 621). Übrig bleibt das praktische Selbstverhältnis. Dieses
existiert allerdings nicht für sich, sondern als die reflexive, be-
wußte und freiwillige Struktur des Armhebens.
Wie schon angedeutet erfolgt nicht jedes menschliche Verhal-
1. Bewußt und freiwillig 41

ten bewußt und freiwillig. Rein physiologische Prozesse und


bloße Reflexbewegungen sind es in keinem Fall. Wer dagegen
eine Behauptung aufstellt oder einen Betrug vornimmt, wer im
Internet surft oder moralische Überlegungen anstellt, handelt
schwerlich unbewußt oder auch nur unabsichtlich. Ferner gibt
es ein Mehr oder Weniger; «wissentlich» und «willlentlich»
sind komparative Begriffe. So kann das Wissen unvollständig
sein: Ödipus ist sich bewußt, einen Reisenden, nicht aber seinen
Vater zu töten, Hamlet, einen Lauscher, aber nicht Polonius zu
erstechen. Gewisse Merkmale nicht zu kennen dürfte sogar die
Regel sein. Außerdem kann man sich über das vorgebliche Wis-
sen irren. Und bei einem Handeln, das mit Überzeugung und
aus vollem Herzen geschieht, liegt ein höheres Maß an Freiwil-
ligkeit vor als bei einem, zu dem man überredet oder gar ver-
führt wird.
Ein bewußtes und freiwilliges Handeln rechnet man dem Be-
treffenden zu; er ist der zuständige Urheber. Deshalb kann man
ihn zur Verantwortung ziehen und in positiven Fällen loben,
auch ehren, ihn für Verfehlungen dagegen tadeln, strafen oder
verachten. Dem Begriff des bewußten und freiwilligen Gesche-
hens, des Handelns, liegt daher das Interesse zugrunde, den
Menschen als vor den Mitmenschen und vor sich selbst verant-
wortlich und zugleich als Person zu begreifen.
Nach allem, was wir bislang wissen, erfüllen unter den be-
kannten biologischen Arten nur der Homo sapiens die voraus-
gesetzten Bedingungen. Schon der Aufklärer d’Holbach (1770,
629, Anm. 50) warnt zwar davor, die intellektuellen Fähigkei-
ten der Tiere zu unterschätzen, die heute mehr und mehr er-
forscht werden (vgl. Perler / Wild 2005, Tomasello 1999 und de
Waal 2006). So ist etwa von Schimpansen eine Art von Täu-
schungsmanövern bekannt. Kontrollversuche zeigen jedoch,
daß sich das betreffende Verhalten als Erlernen einer situativ ef-
fizienteren Handlungsweise erklären läßt, ohne daß ein absicht-
liches Hinters-Licht-Führen vorliegt. Was manche als Ansätze
von Handlungsfähigkeit bezeichnen, ist in Wahrheit erst eine
(durchaus bemerkenswerte) Vorstufe.
42 III. Handlungstheorie und Ethik

2. Praktische Vernunft: Gründe und Motive


Jemanden für sein Handeln zur Verantwortung ziehen, heißt
von ihm Gründe einfordern, durch die sein Tun oder Lassen als
gelungen oder aber als mißlungen erscheint. Wegen seiner Be-
wußtheit und Freiwilligkeit bewegt sich menschliches Handeln
in einer Welt von Gründen, deren Art von den Gründen für die
Erkenntnis von Gegenständen aber wesentlich verschieden ist.
Die Welt praktischer Gründe ist an die Bewertung als Gut und
Schlecht bzw. Böse, die Welt theoretischer Gründe an die Beur-
teilung als Wahr und Falsch gebunden. Infolgedessen ist Han-
deln zwar argumentationsfähig, aber nicht im üblichen, theore-
tischen Sinn wahrheitsfähig.
Der lateinische Ausdruck im Fremdwort Rationalität, ratio,
hat ebenso wie seine griechische Entsprechung logos, auch das
englische reason und das französische raison die Doppelbedeu-
tung, im Singular Vernunft, in der pluralisierbaren Verwendung
dagegen Grund zu bedeuten. In diesem Sinn entspricht die Welt
der Gründe der Vernunft, und vernunft- und sprachbegabt (lo-
gon echon) ist, wer für seine Ansichten und Verhaltensweisen
einen Grund, ein Argument, anzugeben vermag (logon dido-
nai).
Auch die «Moral» genannte Bewertungsstufe hat den Cha-
rakter von Vernunft bzw. Rationalität. Im Unterschied zur theo-
retischen Vernunft, ihrer Erkenntnis von Sachverhalten, einem
know that, geht es ihr aber um eine qualifizierte Form von
know how, nämlich um die Fähigkeit und Fertigkeit, nach Maß-
gabe einer höchststufigen, eben moralischen Bewertung zu le-
ben. Erst die dabei tätige, zumindest dafür geforderte Rationali-
tät oder Vernunft hat praktischen Charakter: Praktische Ver-
nunft heißt die dem Handeln nicht bloß dienende, sondern die
zum entsprechenden Handeln auch auffordernde Vernunft.
Dort, wo man ein Handeln mit guten Gründen verteidigen
kann, heißt es vernünftig. Gemäß den drei Stufen des Guten
folgt es einer technisch-, pragmatisch- oder moralisch-prakti-
schen Vernunft. Keine dieser Stufen schließt vor-vernünftige,
etwa sinnliche Antriebskräfte aus. Sie dürfen aber nicht die ent-
2. Praktische Vernunft: Gründe und Motive 43

scheidende Bestimmungsmacht sein, der sich der Mensch skla-


venartig unterwirft. Der Vernunft folgen heißt, die Antriebs-
kräfte weder erleiden noch sie beiseite schieben, sondern sie in
einem wohlbestimmten Sinn steuern: Erstens nimmt man Di-
stanz, hält also beim Elementarmodell (s. Kap. III.3) weder die
Ziele noch die Mittel und Wege für eine unbeeinflußbare Vorga-
be. Aus der Distanz heraus geht man zweitens mit sich, eventu-
ell auch mit anderen zu Rate; man nimmt eine Einschätzung
und Wertschätzung vor und entscheidet sich je nach Vernunft-
stufe für die positiv bewerteten Mittel, etwa für positive Mittel
zum Wohlergehen oder für ein schlechthin gutes Handeln.
Innerhalb der philosophischen Handlungstheorie gibt es ei-
nen Streit über die Frage, ob eine Handlung ausreichend be-
schrieben sei, wenn man sie qua neutraler Beobachter als ein
Ereignis ansehe, das auf das Wirken unpersönlicher Kräfte, auf
subjektlose Ursachen, zurückgehe. Nach dem Kausalismus ist
die Frage mit «ja», nach der Gegenposition, dem Intentionalis-
mus, mit «nein» zu beantworten. Denn man müsse sich in die
Perspektive des Handelnden selbst versetzen und dessen Inten-
tionen und Gründe in eine angemessene Beschreibung aufneh-
men. Nach einem «verschärften» Intentionalismus, dem Perso-
nalismus, wird eine Handlung als solche von einer Person und
nicht durch Sachverhalte «bewirkt».
Eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Positionen ist für
die Ethik nur begrenzt erforderlich; folgendes läßt sich jedoch
sagen. Erstens ist den Intentionalisten und Personalisten inso-
fern zuzustimmen, zugleich den schlichten Kausalisten zu wi-
dersprechen, als nicht jedes Verhalten des Menschen, wohl aber
das für ihn eigentümliche ein eigenständiges, nicht auf rein na-
türliche Sachverhalte verkürzbares Phänomen ist. Die Hand-
lungssprache ist nicht nur tatsächlich, sondern, sobald sie das
Spezifische erfassen soll, notwendigerweise mit intentionalen
Ausdrücken durchsetzt.
Zweitens ist das Grundmerkmal des menschlichen Handelns
nicht, wie manche Kausalisten abwertend sagen, ein geheim-
nisvoller, nicht beobachtbarer geistiger Zustand des Handeln-
den (siehe die These vom Geist in der Maschine: Ryle 1949,
44 III. Handlungstheorie und Ethik

Kap. I.2). Überhaupt ist es kein «Zusatz» zu beobachtbaren Na-


turvorgängen. Weil es sich vielmehr um eine den Vorgängen in-
newohnende Strukturkomplikation, um ein praktisches Selbst-
verhältnis handelt, sind für die Beschreibung subjektive Ele-
mente unverzichtbar. Dafür genügt allerdings nicht jene aus sich
heraus erfolgende Gerichtetheit auf ein Objekt, die mancherorts
schon «Intentionalität» heißt. Denn weil damit weder ein Wis-
sen noch ein Wollen angesprochen ist, findet es sich schon bei
subhumanem, vor allem bei noch nicht zur Verantwortung zieh-
barem Verhalten. Die darüber hinausgehende Bedingung be-
steht in einer bewußten und freiwilligen Gerichtetheit, in einer
Absicht (Intention).
Gemäß der Unterscheidung von Sein und Sollen kann die
Vernunft in zweierlei Hinsicht das Handeln leiten. Normativ
verstanden, als Inbegriff von Gründen, kann sie ein vergangenes
oder zukünftiges Handeln rechtfertigen, und explikativ verstan-
den, als Inbegriff von inneren Ursachen, also Motiven, dasselbe
Handeln erklären. In beiden Fällen erwartet man auf dieselbe
Warum-Frage: «Warum hat jemand das getan?» eine grundver-
schiedene Antwort. Im normativen Fall will man wissen, mit
welchem Recht, im deskriptiven und kausalen Fall, aus welcher
für das Subjekt zutreffenden Ursache er gehandelt hat. Dem
normativen Verständnis geht es um Rechtfertigung, dem kausa-
len Verständnis um die Erklärung aus der in der betreffenden
Person liegenden Ursache, um deren Motiv bzw. subjektive
Triebfeder. Auch wenn beide Antworten zusammenhängen,
dürfen sie nicht verwechselt werden. Selbst die besten Gründe
für eine Handlung müssen nicht deren Ausführung zustande
bringen, und die tatsächlichen Motive der Ausführung können
jeder Rechtfertigung spotten.
Für den Zusammenhang von Grund und Motiv gibt es zwei
Grundansichten. Die einen behaupten, zwischen den Gründen
und den entsprechenden Motiven bestehe eine innere («inter-
ne») Verbindung. Nach diesem Internalismus sind nicht etwa
die Gründe selbst, wohl aber die Überzeugungen von rechtferti-
genden Gründen ein starkes Motiv, entsprechend zu handeln.
Da es allerdings konkurrierende Motive geben kann, folgt man
3. Praktischer Syllogismus 45

nicht notwendigerweise den rechtfertigenden Gründen. Nach


der Gegenansicht braucht es für die Ausführung ein gegenüber
den Gründen äußeres («externes») Motiv. Entweder komme
das moralische Handeln erst aus Furcht vor äußeren oder inne-
ren negativen Sanktionen, dort vor Strafen, hier vor Gewissens-
bissen (Scham- oder Schuldgefühlen), zustande oder aber aus
Hoffnung auf positive Sanktionen wie die Anerkennung durch
andere oder die Achtung vor sich selbst. Die Verbindung von
Grund und Motiv gilt jedenfalls als nichtnotwendig (s. Scarano
2002).
Betrachtet man diese Debatte vom überragenden Moralphi-
losophen der Neuzeit, Kant, aus, so ist dem Externalismus für
die bescheidenere Stufe der Moral, die Legalität, recht zu geben,
dem Internalismus dagegen für die Vollendungsstufe, die Mora-
lität. Denn nur, wer die moralischen Anforderungen schon als
solche anerkennt, erfüllt die Bedingungen der Moralität. Eine
dritte Position will mit der These «reasons are causes» (Gründe
erklären eine Handlung kausal: Davidson 1980) den Unter-
schied von erklärendem Motiv und rechtfertigendem Grund
einziehen. Das dahinterliegende Interesse, die Handlungstheo-
rie mit einer naturalistischen Weltsicht zu vereinbaren, hält aber
schwerlich der oben skizzierten Naturalismuskritik stand.

3. Praktischer Syllogismus

Um die Struktur absichtsvollen Verhaltens besser zu verstehen,


kann man sie als praktischen Syllogismus darstellen. Der be-
kannte theoretische Syllogismus zieht aus zwei Vordersätzen,
beispielsweise (1) Alle Menschen sind sterblich und (2) Sokrates
ist ein Mensch, den notwendigen Schluß: (3) Sokrates ist sterb-
lich. Der praktische Syllogismus behauptet ebenfalls einen de-
duktiv zwingenden Zusammenhang: Aus dem Obersatz zum
Ziel, beispielsweise einem Ort, und dem Untersatz zum zugehö-
rigen Mittel, dem Weg, folgt mit gewisser Notwendigkeit eine
Handlung, zumindest die Entscheidung zu ihr. Eine Person P1,
die ein Ziel Z1 zu erreichen beabsichtigt, schlägt Weg W1 ein,
von dem sie glaubt, er führe zum Ziel Z1:
46 III. Handlungstheorie und Ethik

(1) P1 beabsichtigt Z1, und


(2) P1 glaubt, W1 führt zu Z1.
–––––––––––––––––––––––
(3) P1 schlägt W1 ein.

Man kann den praktischen Syllogismus von unten nach oben


(«bottom up») oder von oben nach unten («top down») lesen.
Im ersten Fall formalisiert man eine (in Gedanken oder in der
Wirklichkeit) schon geschehene, im zweiten Fall eine erst in
Aussicht genommene Handlung. Viele Handlungstheoretiker
sehen hierin das Standardmodell des Handelns. Tatsächlich
liegt nur ein Elementarmodell vor, das noch erhebliche Verein-
fachungen enthält, von denen nur einige unbedenklich sind.
Nicht mehr unbedenklich ist der Umstand, daß es zwei
Grundformen des Handelns gibt, das Herstellen, auf Grie-
chisch: Poiesis, und die Praxis im engeren Verständnis, und daß
das Ziel-Mittel-Modell nur auf die erste Grundform paßt. Ob
handwerkliches oder industrielles, ob künstlerisches, selbst so-
ziales und intellektuelles Tun – überall dort, wo über das Gelin-
gen oder den Wert nicht der Vollzug entscheidet, sondern das,
was am Ende herauskommt, liegt ein Herstellen im Sinn von
Poiesis vor.
Anders verhält es sich bei der Praxis. Ob Sehen, Denken oder
Spazierengehen, ob Sich-Unterhalten oder Musizieren, auch be-
sonnenes und gerechtes Handeln oder ehrliches Forschen – in
all diesen Fällen erreicht die Tätigkeit ihr Ziel im Vollzug. Das
Kriterium für Praxis ist einfach: Wer beispielsweise sieht, hat
zugleich gesehen; wer sich unterhält, hat zugleich sich unterhal-
ten; wer denkt, hat schon gedacht. Über das Gelingen, das es
auch hier gibt, entscheidet die Qualität des Vollzugs: Unterhält
man sich kurzweilig oder aber langweilig; musiziert man rhyth-
misch, melodiös und mit Spannung; forscht man ohne Plagiat
und ohne ein Verfälschen empirischer Daten?
Das Ziel-Mittel-Modell des praktischen Syllogismus paßt
nun lediglich für das Handeln als Herstellen. Es eignet sich für
ein Tun oder Lassen, bei dem nicht der Vollzug, sondern das
schließliche Ergebnis zählt: Beim Handwerker steht das Möbel-
4. Streben und Wollen 47

stück, beim Komponisten die Sonate, beim Wissenschaftler der


Laborbefund oder die Abhandlung fertig da, und ein Reisender
ist an seinem Ziel angelangt. Gibt es dagegen wie beim Sehen,
Musizieren oder Spazierengehen kein außerhalb des Handelns
bestehendes Ziel, so verliert das Elementarmodell sein Recht.
Die Ethik darf es daher nicht überbewerten und schon gar nicht
verabsolutieren.

4. Streben oder Wollen

Grundlegender als die Unterscheidung von Herstellen und Pra-


xis ist für die Ethik der Gegensatz von Strebens- und Willens-
handeln. Ihretwegen führt derselbe Moralbegriff, das uneinge-
schränkt Gute, zu zwei grundverschiedenen Moralprinzipien.
Dort begründet er das Prinzip Glück im Sinne von Eudaimonie,
hier das Prinzip moralische Freiheit qua Autonomie des Wil-
lens.
Die dem Alltagsdenken naheliegendere Grundform des Han-
delns ist das Streben, das an das skizzierte Elementarmodell an-
knüpfen kann: Der Handelnde nimmt sich ein Ziel oder einen
Zweck vor und ergreift die dafür erforderlichen Mittel und
Wege. «Streben» heißt jede nicht aus äußerem Zwang, sondern
aus sich heraus erfolgende spontane und zugleich zielgerichtete
Aktivität, die man deshalb dem Urheber zurechnen kann. Ge-
meint ist hier das Streben als ein anthropologischer und ethi-
scher Begriff, der eine für den Menschen eigentümliche Bewe-
gungsform bezeichnet: daß man etwas beabsichtigt und auf das
Beabsichtigte hinarbeitet (mit Bezug auf den maßgeblichen
Klassiker Aristoteles vgl. Höffe 42000, Kap. 11 und 32008,
Kap. I.1).
Nun lassen sich die beabsichtigten Ziele in einer formalen
Hierarchie ordnen, die mit Zwischenzielen für ein höheres Ziel
beginnen und über Ziele mit dem Charakter von Endzielen
schließlich zu jenem Endziel führen, über das hinaus kein ande-
res Ziel mehr gedacht und verfolgt werden kann. Dieses singu-
läre, weil schlechthin höchste Ziel beinhaltet die Erfüllung allen
menschlichen Strebens und heißt, als absoluter Superlativ ge-
48 III. Handlungstheorie und Ethik

dacht, Glück oder Glückseligkeit (griech. eudaimonia). Ge-


meint ist kein glücklicher Zufall von der Art eines Lottoglücks,
sondern jenes singuläre Ziel, auf das hin man sein Leben aktiv
ausrichten kann. Unter Voraussetzung des Handelns als einem
Streben liegt im guten und gelungenen, geglückten Leben das
schlechthin höchste, insofern moralische Gut: Das (eudaimoni-
stische) Glück bildet den Horizont, in dem alles Streben seine
letzte Rechtfertigung erfährt (s. Kap. IV.1).
Das Strebensmodell des Handelns ist zwar naheliegend. Auf
der volitiven Seite lebt es aber von zwei nicht notwendigen Vor-
aussetzungen, nämlich von der spontanen Zielgerichtetheit und
von deren Rundum-Erfüllung. Beide stehen ihrerseits nicht
mehr zur Entscheidung. Stellt man nun die Spontaneität der
Zielgerichtetheit infrage, so steigert man die volitive Seite der
praktisch-reflexiven Weltoffenheit. Statt «etwas im Horizont
des Glücks zu beabsichtigen» nimmt man zum Horizont des üb-
lichen Beabsichtigens, dem Glück, Distanz. Dabei tut sich eine
vorher nicht sichtbare Alternative auf: daß das Glück nicht not-
wendigerweise das Leitziel im Sinne eines Horizontes aller Ab-
sichten bildet. Das dem entsprechende, strukturell neuartige
Handeln wird nicht etwa von der Philosophie erfunden. Diese
bringt es lediglich auf den Begriff, den Begriff des Wollens im
strengen Sinn bzw. des Willens.
Während es dem Strebenshandeln auf die Erfüllung von Ab-
sichten innerhalb des Horizonts der Eudaimonie ankommt,
richtet sich das Willenshandeln auf den Horizont von Absich-
ten. Dann bewegt sich das Wollen im blassen Verständnis, das
gewöhnliche Beabsichtigen, nicht länger wie selbstverständlich,
weil alternativenlos im Horizont des (eudaimonistischen)
Glücks. Aus dem schlichten Beabsichtigen wird ein eigenständi-
ges Wollen. Dessen höchststufiges Gutsein und zugleich Moral-
prinzip besteht in einem schlechthin ersten Wollen, in der Wil-
lensfreiheit im anspruchsvollen Sinn von Autonomie, von
Selbstgesetzgebung. Sie erlaubt, was die philosophische Traditi-
on «einen Zustand von selbst anfangen» nennt.
Darin liegt nun aus handlungstheoretischer Perspektive die
fundamentale Alternative für die philosophische Ethik: Der in
5. Zwei Exkurse 49

konstruktiver Semantik gebildete Gedanke eines schlechthin


höchsten Gutes führt entweder, so das Strebensmodell, zu einem
schlechthin höchsten Ziel, dem Glück im Sinne von Eudaimo-
nie, oder, so das Willensmodell, zu einem schlechthin ersten An-
fang, der Willensfreiheit im Sinne von Autonomie. In beiden
Modellen geht es um die menschliche Verantwortlichkeit. Weil
aber der Strebensbegriff nur deren schwächere Bedingung nennt:
Freiwilligkeit und Bewußtheit, erhält die Idee der Verantwort-
lichkeit erst im Willensbegriff die volle Schärfe und Radikalität.

5. Zwei Exkurse

5.1 Anthropozentrik? Gegen eine angeblich bislang vorherr-


schende Anthropozentrik, die den Menschen (anthropos) in den
Mittelpunkt stellt, verlangt eine Pathozentrik alle leidensfähi-
gen Lebewesen (pathos: Leiden, Leidenschaft), eine Biozentrik
sogar alles Leben (bios) moralisch zu berücksichtigen. Das Ge-
bot, auf Schmerz und Leiden von Tieren Rücksicht zu nehmen,
versteht sich aber fast von selbst und wird von Philosophen seit
langem und nicht etwa nur von Utilitaristen wie Jeremy Ben-
tham vertreten. Auch die von Albert Schweitzer verlangte «Ach-
tung vor dem Leben» ist kaum strittig, sofern man ihre Grenzen
sieht. Denn nicht nur leben in der Natur generell Lebewesen
von anderen Lebewesen, sondern es wäre absurd, selbst gesund-
heitsschädliche Lebewesen nicht bekämpfen zu dürfen.
Von Kritikern der Anthropozentrik wird gern verdrängt, daß
nur mit praktischer Vernunft begabte Wesen moralfähig sind.
Deshalb besteht beim Tier- und Pflanzenschutz eine wesentliche
Asymmetrie. Unter den uns bekannten Lebewesen unterliegt
nur der Mensch moralischen Verpflichtungen. Von keinem Tier
erwarten wir, was wir von uns fordern: die Anerkennung mora-
lischer Gebote und Verbote gegen sich, gegen seinesgleichen
und gegen die Mitglieder anderer biologischer Arten. Mit gu-
tem Grund ist es selbst in Bezug auf hochentwickelte Tierarten
unsinnig, von ihnen auch nur die minimale Rechtsmoral einzu-
fordern, also sowohl untereinander und mit anderen Arten Ver-
träge zu schließen und einzuhalten als auch sich dem Strafrecht
50 III. Handlungstheorie und Ethik

zu beugen. So steht der Mensch im Kontinuum der Natur und


fällt trotzdem aus ihm heraus.

5.2 Determinismus? Schon dem Alltagsbewußtsein ist eine viel-


fache Bedingtheit menschlichen Handelns vertraut. Durch die
Natur- und Sozialwissenschaften ist sie zu präziser empirischer
Erkenntnis geworden: daß der Mensch wie jeder Körper den
Gesetzen der Physik und Chemie, daß er als lebendiger Leib den
Gesetzen der Biologie und Physiologie, als Intelligenzwesen den
Gesetzen der Neuro- und Kognitionswissenschaften (Hirn- und
Lernforschung) und als emotionales und soziales Wesen den
Gesetzen der (Sozial-) Psychologie unterliegt. Seine Motivatio-
nen sind etwa durch Triebkonstellationen bedingt, die wieder-
um von Genstrukturen, frühkindlichen Prägungen, ferner von
Temperament und persönlichen Erfahrungen, von ökonomi-
schen, sozialen, politischen und geschichtlich-epochalen Fakto-
ren abhängen. Wenn sich schließlich ein Charakter herausbil-
det, gibt auch er dem Handeln eine gewisse Determination: Wer
«von Grund auf» ehrlich ist, kann nicht anders, als nicht zu be-
trügen, wer einen hartherzigen Charakter hat, kann nicht an-
ders, als gegen fremde Not gleichgültig zu sein. Allerdings kann
der Hartherzige sich auch einmal erweichen lassen, bei wieder-
holtem Nachgeben sogar seinen Charakter ändern.
Selbst wenn die empirischen Wissenschaften die Ursachen
menschlicher Praxis erst unvollständig erkannt haben, gehen
sie von der Idee durchgängiger Determination, nämlich der
prinzipiellen Erklärbarkeit aller Phänomene aus Ursachen und
Motiven, aus. Insofern liegt ihnen als Leitidee ein methodischer
Determinismus zugrunde, demzufolge sich für alles Handeln
und das ihm zugrundeliegende Wollen im Prinzip, wenn auch
nicht immer schon auf dem gegenwärtigen Forschungsstand
sachgerechte Erklärungen finden lassen. Dem entspricht auf sei-
ten der forschenden Subjekte die Einstellung einer ungestillten
Wißbegier.
Beides rechtfertigt jedoch nicht die Neigung vor allem jünge-
rer Wissenschaften, sich selbst absolut zu setzen und alle Be-
dingtheiten menschlichen Verhaltens jeweils nur aus physika-
5. Zwei Exkurse 51

lischen, biologischen, psychologischen, ökonomischen oder


soziologischen Gesetzen (Physikalismus, Biologismus, Psycho-
logismus usf.) zu erklären. Der methodische Determinismus er-
laubt weder eine epistemische Hegemonie, die sich für primär
zuständig, noch gar einen epistemischen Imperialismus, der sich
für allein- und allzuständig erklärt. Aus ihm folgt auch nicht,
wie es der ethische Determinismus behauptet (schon d’Holbach,
später Skinner, neuerdings manche Hirnforscher), daß Freiheit
und Verantwortung bloße Illusionen seien. Richtig ist nur, daß
sie sich nicht als Lücken im Wissen von Ursachen, als Ursachlo-
sigkeit, auffassen lassen.
Durch die Gegenposition, einen ethischen Indeterminismus,
der einige Handlungen für prinzipiell nicht empirisch erklärbar
hält, werden nicht etwa die menschliche Freiheit und Verant-
wortung «gerettet», sondern lediglich für die menschliche Er-
kenntnisfähigkeit eine zudem wenig überzeugende Grenze ge-
zogen.
Neuerdings sind es vor allem einige Hirnforscher, die die
Handlungsfreiheit infrage stellen. Da unbewußte Gehirnprozes-
se das Bewußtsein steuerten, sei die Handlungsfreiheit eine Illu-
sion. (Zur weitläufigen, mittlerweile aber abklingenden Debatte
vgl. Geyer 2004, Goldberg 2005 und Köchy / Stederoth 2006.)
Eines ist unstrittig: daß der Mensch nicht stets in Handlungs-
freiheit agiert. So kann er stolpern, sich verrechnen oder etwas
vergessen. Er unterliegt sowohl inneren als auch äußeren Wi-
derfahrnissen, außerdem gibt es Wahnvorstellungen. Aus diesen
Gründen vertritt niemand die Ansicht, jeder Mensch sei zu jeder
Zeit vollkommen frei und rundum verantwortlich. Strittig ist
nur, ob es keinerlei Handlungsfreiheit gibt, «keine Freiheit nir-
gends»: Ist jeder, der sich bestechen läßt, der Steuern hinterzieht
oder als Pfleger einen Patienten tötet, notwendigerweise unfrei,
folglich schuldunfähig?
Schon von ihrem Thema, der Raum-Zeit-Architektur des
Gehirns, befaßt sich die Hirnforschung nicht mit dem für die
Freiheit entscheidenden Gegenstand, den praktischen Grün-
den. Wer sich auf den Umkreis möglicher Naturerfahrung be-
schränkt, blendet die Freiheit daher schon im Ansatz aus.
52 III. Handlungstheorie und Ethik

Schließt er aus naturalen Gegebenheiten auf die Nichtexistenz


von Freiheit, so erliegt er dem naturalistischen Fehlschluß
(s. Kap. II.4.3).
Jemand ist nicht deshalb frei, weil er die Naturkausalität au-
ßer Kraft setzt, sondern weil er trotz Naturkausalität über die
Fähigkeit verfügt, nach selbst anerkannten Gründen zu han-
deln. Diese Gründe sind nach ihrer Seinsart Vorstellungen im
Bewußtsein; sie gehören in die Sprache einer Philosophie des
Geistes, nicht der Hirnforschung. Für diese mögen sie zwar die
Funktion von inneren Ursachen haben, die, um handlungswirk-
sam zu werden, neuromotorische Ursachen bewirken. Für die
Freiheit sind aber nicht neuronale Korrelate entscheidend, son-
dern die Gründe selbst, also keine neuronalen Zustände, son-
dern intellektuelle Argumente.
Ohnehin pflegen Hirnforscher Freiheit für sich zu beanspru-
chen und erliegen insofern einem pragmatischen Widerspruch.
Sie halten sich nämlich für die wissentlich-willentlichen Urhe-
ber von Experimenten, die im Fall von Originalität und Erklä-
rungskraft wissenschaftliches Prestige und Preise, bei Datenfäl-
schen oder geistigem Diebstahl (Plagiat) aber Sanktionen ver-
dienen.
Die Grundannahme der neueren Hirnforschung, daß man bei
der Willensbildung das Gehirn braucht, ist weder neu noch
spektakulär. Ebensowenig spektakulär ist die Einsicht, daß das
Gehirn, weil polyzentrisch vernetzt, ohne ein oberstes kogniti-
ves Zentrum, einen Dirigenten oder Kapitän, arbeitet, sich statt
dessen selbst organisiert. Trotzdem ist Aristoteles’ Einwand trif-
tig: «nicht die Seele ist zornig oder bedrückt oder denkt, son-
dern besser ist zu sagen, der Mensch tue dies kraft seiner Seele»
(De anima I 4, 408b13 ff.). Unter Seele ist dabei kein geheimnis-
volles Gegenüber des Leibes, sondern der Inbegriff von dessen
Antriebskräften zu verstehen. Aus dem Umstand, daß alle be-
wußten Aktivitäten an neuronale Aktivitäten des Gehirns ge-
bunden sind, folgt nicht, die Aktivitäten seien nichts anderes als
ein Bündel neuronaler Erregungszustände. In Wahrheit denkt
der Mensch zwar «mit» seinem Zentralorgan, dem Gehirn,
aber nicht denkt oder agiert das Gehirn statt des Menschen.
IV. Grundmodelle der Ethik

Die philosophische Ethik entfaltet im Laufe ihrer Geschichte


vier Grundmodelle; alle vier legen sich schon durch die Alltags-
erfahrung nahe: Der Mensch strebt nach einem gelungen-glück-
lichen Leben; er fühlt sich für das Wohlergehen seiner Gruppe
verantwortlich; die Frage nach dem letzten Grund der Moral
führt ihn zur Freiheit des Willens; nicht zuletzt wird immer wie-
der die jeweils herrschende Moral einer scharfen Kritik unter-
worfen.
Nach dem ersten, maßgeblich von Aristoteles (384–321
v. Chr.) entwickelten, sowohl in der Antike als auch im Mittelal-
ter herrschenden und bis in die frühe Neuzeit wirksamen Modell
besteht das Moralprinzip im Glück. Darunter ist allerdings
weder ein Zufalls- noch ein Sehnsuchts-, sondern vielmehr ein
Strebensglück, griechisch: eudaimonia, zu verstehen. Deshalb
spricht man von eudaimonistischer Ethik. Das zweite, vor allem
auf Jeremy Bentham (1748–1832) und John Stuart Mill (1806–
1873) zurückgehende Modell, der Utilitarismus, verpflichtet al-
les Handeln auf den Nutzen (lat. utilitas), genauer auf das Sozi-
al- oder Kollektivwohl. Nach dem dritten, insbesondere von
Immanuel Kant (1724–1804) entwickelten Modell liegt das Mo-
ralprinzip in der Autonomie, der Selbstgesetzgebung des Wil-
lens. Und für die seit der Antike bekannte Moralkritik schließ-
lich sei ihr wichtigster neuzeitlicher Vertreter Friedrich Nietz-
sche (1844–1900) genannt.
Heute neigt man dazu, die Ethik in zwei Großgruppen einzu-
teilen, in die teleologischen (griech. to telos: das Ziel) und die
deontologischen Ethiken (griech. to deon: das Erforderliche, die
Pflicht). Zur ersten, zielorientierten Gruppe zählt man die eu-
daimonistische Ethik und den Utilitarismus, während Kants
Entwurf als Muster der deontologischen, an Pflichten orientier-
ten Ethik gilt. In dieser Zweiteilung hat allerdings das vierte
54 IV. Grundmodelle der Ethik

Grundmodell, die Moralkritik, keinen Platz. Außerdem tritt die


Differenz zwischen Eudaimonismus und Utilitarismus in den
Hintergrund, weshalb die genannte Vierteilung vorzuziehen ist.
Nicht zuletzt kommen auch die teleologischen Ethiken nicht
ohne alle Gebote und Verbote aus.
In der neueren Debatte kommen zwei weitere Modelle hinzu,
die aber als Modifikationen von Kant keine grundlegend neuen
Modelle abgeben: die vertragstheoretische Moral-, vor allem
Gerechtigkeitsbegründung, die auch Kontraktualismus (lat.
contractus: Vertrag) heißt, und die Diskursethik.

1. Prinzip Glück: Eudaimonie

1.1 Erste Begriffe Jeder Mensch verlangt nach Glück, denn je-
der hat Bedürfnisse, die nach Befriedigung, und Interessen, die
nach Erfüllung drängen. Den Inbegriff der Befriedigung und Er-
füllung nennt man Glück. Als «Zufriedenheit mit seinem gan-
zen Dasein», wie der eudaimonismuskritische Kant zu Recht
sagt (Kritik der praktischen Vernunft, V 25), ist das Glück ein
Ziel, das der Mensch von allein anstrebt. Insofern bedarf es hier
keiner Gebote und Verbote, die sich auf mehr als das langfristi-
ge Selbstinteresse richten. Mit den Möglichkeiten und Chancen
eines gelungenen Lebens befaßt, ist eine am Glück orientierte
Ethik primär eine Könnensethik im Sinne einer philosophischen
Lebenskunst und keine Sollensethik, auch wenn das langfristige
Selbstinteresse ohne gewisse Gebote und Verbote nicht aus-
kommt.
Einige Menschen suchen nun das Glück in Reichtum oder
Macht, andere in Freundschaft oder Liebe, wieder andere in
Wissenschaft, Kunst oder Meditation. Auch wenn nicht jedes
dieser Ziele sich als wahrhaft glückstauglich erweist, sind
doch wegen der individuellen und kulturellen Vielfalt mensch-
licher Interessen für die nähere Gestalt des Glücks unterschied-
liche Bestimmungen zu erwarten. Die Einheit des Begriffs
Glück ist daher nur formal: Glück ist sowohl ein dominantes,
alle anderen Ziele überragendes als auch ein inklusives, die
wesentlichen Ziele und Zwecke eines Menschen umfassendes
1. Prinzip Glück: Eudaimonie 55

Ziel. So verstanden besteht es nicht im vorübergehenden Zu-


stand höchsten Wohlbefindens, sondern vielmehr in der Quali-
tät eines insgesamt zufriedenstellenden, weil guten und gelun-
genen Lebens.
Wer wissen will, worin sein Glück besteht, dem ist aber mit
diesem formalen Begriff wenig geholfen: daß das Glück im Äu-
ßersten und Letzten besteht, wonach er insgesamt strebt. Eher
zufrieden ist er, wenn man ihm sagt, was Platon (428 / 7–348 / 7
v. Chr.) von den Bürgern der «gesunden Polis» behauptet (Poli-
teia II, 372 a–c): Frei von Neid, Eifersucht und anderen «asozi-
alen Leidenschaften» leben sie in Frieden und Eintracht, sie füh-
ren ihr Dasein bei voller Gesundheit und sterben erst in hohem
Alter; sie genießen die Freuden der Liebe; dank hinreichender
Arbeitsproduktivität ernähren sie sich vergnüglich von Wein
und Brot; sie bekränzen sich und lobsingen den Göttern.
So einfach diese Beschreibung klingt, so anspruchsvoll ist je-
doch das Beschriebene. Denn es beläuft sich auf die endgültige
Versöhnung dank eines vierfachen Friedens: des Friedens mit
sich, des Friedens mit seinen Mitmenschen, mit den Göttern
und nicht zuletzt mit der Natur. Dem Begriff nach handelt es
sich hier um das Glück als Sehnsuchtsglück, das in der vollstän-
digen, überdies weder von innen noch von außen bedrohten Er-
füllung aller Bedürfnisse und Interessen liegt.
Ein derartiges Glück, das vollkommene Heil und die totale
Versöhnung, ist für den Menschen vorstellbar, aber nicht, zu-
mindest nicht in dieser Welt erreichbar. Es ist im strengen Sinn
eine Utopie, ein Nirgendwo. Mit der Leichtigkeit eines Träu-
mers überspringt es nämlich alle Beschränkungen und Wider-
sprüche der Wirklichkeit, denn es hält alle Konflikte innerhalb
eines Menschen, zwischen den verschiedenen Menschen und
zwischen Mensch und Natur für endgültig aufhebbar.
Dieser für die Lebenswirklichkeit zu hohe Begriff von Glück
führt leicht zur Resignation: «die Absicht, daß der Mensch
glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten» (Freud,
Das Unbehagen in der Kultur, 208). Vielleicht fehlt aber nur die
Fähigkeit, außer dem Sehnsuchtsbegriff einen realistischeren
und zugleich humaneren Begriff zu bilden, den Begriff eines
56 IV. Grundmodelle der Ethik

Glücks, nach dem man sich nicht bloß sehnen, sondern auf das
man auch hinarbeiten kann.
Um die häufig erlebte Kluft zwischen Glückserwartung und
Glückserfüllung zu überwinden, kann übrigens die Ethik zur
Lebenskunst werden und einen ersten Ratschlag formulieren.
Gegen jenes Übermaß an Erwartungen, das notwendigerweise
in Enttäuschungen endet, rät sie zu einem mêden agan, zu ei-
nem «nichts im Übermaß». Oder professioneller, sozialwissen-
schaftlich gesagt empfiehlt sie, Sinnfrustrationstoleranz zu ent-
wickeln. Daran schließt sie den zweiten Ratschlag an, im
«Werktagsglück» fürs «Sonntagsglück» offen zu bleiben. Man
soll also eine Doppelstrategie verfolgen und sich vorläufig mit
einem kleineren Glück zufrieden geben, zugleich für das größe-
re Glück aber eine Erwartungsreserve behalten.
Vor allem im Umkreis von Hedonismus und Utilitaris-
mus findet sich ein zweiter, empirisch-pragmatischer Begriff.
Danach besteht das Glück im Zustand der angesichts jeweils
gegebener Handlungsmöglichkeiten tatsächlich erreichbaren,
relativ größten Bedürfnis- und Interessenbefriedigung. Dieser
hedonistische Glücksbegriff wird oft vom neuzeitlichen Opti-
mismus begleitet, das Glück mit Hilfe eines hedonistischen Kal-
küls (Lust- bzw. Glückskalküls) rational berechnen und danach
handeln zu können: Man überlege sich alternative Handlungs-
möglichkeiten, bewerte sie nach ihrem direkten und indirekten
Lust-Unlust-Gewinn und entscheide sich für die lustmaximale
Möglichkeit.

1.2 Eudaimonismus: Aristoteles Für die philosophische Ethik


ist ein dritter Begriff wichtiger: Als Begriff der praktischen
Vernunft besteht das Glück in jenem formal und transzendental
zu verstehenden Ziel, über das hinaus kein Ziel mehr gedacht
werden kann. Es ist ein absolutes Optimum, das Aristoteles
zu Recht als telos teleitotaton, als zielhaftestes Ziel, und als
Autarkie, als Sich-Selbst-Genugsein, bestimmt (Nikomachische
Ethik I 5).
Für Aristoteles besteht alles typisch menschliche Handeln in
dem erwähnten Streben (griech. orexis). Es besteht in einem
1. Prinzip Glück: Eudaimonie 57

spontanen, nicht aus äußerem Zwang, sondern aus dem Inne-


ren erfolgenden Auslangen auf ein Ziel. Weil es als Streben seine
Ziele positiv, als gut bewertet, trachtet es danach, sie zu errei-
chen und gelangt im Erreichen zur Erfüllung. Das Glück stellt
nun jenes Ziel dar, das in keiner Weise Mittel für ein höheres
Ziel ist. Es ist kein Zwischenziel, sondern ein Endziel und, falls
es mehrere Endziele geben sollte, das vollkommenste unter allen
Endzielen, eben das zielhafteste Ziel. Der Maßstab für diesen
Superlativ steckt in der Frage, ob etwas ausschließlich um seiner
selbst willen erstrebt wird.
Ein derartiges Strebensglück zeichnet sich durch die genann-
te Verbindung von Dominanz und Inklusivität aus: Es bildet
nicht bloß die Spitze einer Pyramide, sondern umfaßt zugleich
alle wesentlichen Ziele (Inklusivität). Das Glück ist hier also
das Höchste sowohl im Sinne des Obersten als auch des Vollen-
deten. Es ist kein restriktives, sondern ein komprehensives,
kein einschränkendes, sondern ein umfassendes Ziel. Infolge-
dessen besteht die Autarkie nicht in persönlicher Bedürfnis-
losigkeit oder wirtschaftlicher Unabhängigkeit. Sie qualifiziert
vielmehr ein Leben, dem nichts Wesentliches mehr fehlt. Dieses
Glück ist insofern das Wünschenswerteste, als ihm nichts mehr
hinzugefügt werden könnte. Als das Prinzip von allem als Stre-
ben gedeuteten Handeln ist das als Eudaimonie verstandene
Glück das unbedingte Ziel und der Lebenssinn des Menschen –
freilich mit der Einschränkung: sofern er Ziele und Zwecke
verfolgt.
Solange man nur den skizzierten formalen Begriff kennt,
zeichnet sich das Glück durch ein so hohes Maß an Unbe-
stimmtheit aus, daß es an dem fehlt, was eine praktische Phi-
losophie sucht, an Orientierungswert. Aristoteles gewinnt ihn
unter anderem über alternative Lebensformen (bioi), die er in
einer bis heute aktuellen Weise auf ihre Glückstauglichkeit hin
untersucht. Dabei erweisen sich drei Lebensformen als grund-
sätzlich, weil strukturbedingt glücksuntauglich:
Beim reinen Genußleben (bios apolaustikos) ist man Sklave
seiner jeweiligen Bedürfnisse und Interessen. Bei dem aus-
schließlich an Reichtum orientierten Leben (bios chrêmatistês)
58 IV. Grundmodelle der Ethik

verkehrt man ein durchaus sinnvolles Mittel, den Erwerb finan-


zieller Ressourcen, zu einem Endziel. Schließlich verfehlt das
Glück ein nur auf Ansehen, Reputation ausgerichtetes Leben,
weil man sich dabei von anderen abhängig macht (bios politi-
kos 1).
Als glückstauglich bleiben zwei Lebensformen übrig, ein
Leben der sittlich-politischen Tugenden (bios politikos 2) und
eines der wissenschaftlich-philosophischen Tugenden (bios
theôrêtikos). Auf diese zweifache Weise ist nun der Tugendbe-
griff für den Eudaimonismus wesentlich. Und in beiden Optio-
nen, im sittlich-politischen und im theoretischen Leben, ist das
Glück nicht erst der Lohn der Tugend, sondern liegt in dem von
der Tugend geprägten Leben selbst.
Einige Philosophen der Antike erwarten jedoch das Glück
aus einer «Reinigung der Seele» genannten Einstellungsände-
rung. Denn sie führt zu einer inneren Unabhängigkeit und heite-
ren Gelassenheit. Diese ist allerdings nur wenigen, den wahren
Philosophen (Platon) und den in praktischer Hinsicht Weisen
(Epikur, Stoa), vorbehalten. «Humaner», «demokratischer»
und «liberaler» ist es, das Glück nicht notwendigerweise statt
dessen, wohl aber zusätzlich aus einem moralisch-politischen
Leben zu erwarten, das nicht bloß wenigen, sondern vielen
Menschen offensteht (Aristoteles).
Vorausgesetzt ist, daß man sich von den naturwüchsigen An-
triebskräften in ihrer Unmittelbarkeit distanziert, sich in ein
Verhältnis zu ihnen setzt und kraft dieses Selbstverhältnisses
nur solche Einzelziele verfolgt, die sowohl untereinander als
auch mit denen der Mitmenschen einen inneren Zusammen-
hang bilden. Eine derartige Ordnung ist aber nicht angeboren,
sondern wird durch Einüben gelernt: Besonnen wird man durch
besonnenes, gerecht durch gerechtes Handeln.
Das Glück liegt weniger, wie nach der sogenannten «epikure-
ischen», von Epikur selbst aber nicht vertretenen Vorstellung,
im Besitz und Verzehr lustbringender Dinge. Es besteht auch
nicht, wie nach asketischen Idealen, bloß in dem durch Vermin-
derung der Begierden zu erreichenden Gleichgewicht von Be-
gierde und Befriedigung. Und keineswegs befreit es von allen
1. Prinzip Glück: Eudaimonie 59

Unsicherheiten und Risiken des Lebens. Trotzdem erfährt Glück,


wer in seinen jeweiligen Tätigkeiten «mit Leib und Seele» auf-
geht und in seinen wichtigsten Aufgaben sich erfüllt: bestätigt
und erfreut, vielleicht sogar erhoben findet. Jedenfalls gehört
zum Glück die aktive Freude, allerdings nicht wie im Hedonis-
mus als Ziel, wohl aber als notwendige Begleiterscheinung.

1.3 Kritik am Eudaimonismus Bei oberflächlicher Betrachtung


könnte man dem Eudaimonismus Egoismus vorwerfen, da es
ihm nur auf das eigene Glück ankomme. Das trifft jedoch allen-
falls auf das theoretische Leben zu, das aber wegen der Sozial-
natur des Menschen auf das andere, sittlich-politische Leben
angewiesen bleibt. Dessen Tugenden haben allesamt einen sozi-
alen Charakter, sei es wie bei der Besonnenheit mitlaufend, sei
es wie bei den meisten Tugenden, etwa bei der Freigebigkeit,
Großherzigkeit und Gerechtigkeit, überdies bei der Freund-
schaft, wesentlich.
Berechtigt ist erst eine andere Kritik: Während es für die
Griechen sich von selbst versteht, daß das Ethikprinzip in der
«Eudaimonie», dem Glück oder der Glückseligkeit, liegt, wird
es in der Neuzeit vor allem durch Kant radikal, nämlich als Wi-
derspruch zur Moral, angegriffen. Kant nennt die Eudaimonie
sogar eine Euthanasie, einen sanften Tod der Moral (Metaphy-
sik der Sitten, VI 378). Diese Kritik geht freilich vom Glück als
Inbegriff der Erfüllung aller persönlichen Neigungen aus. Sie ist
deshalb dort wenig berechtigt, wo man das Glück als höchstes
Ziel alles Strebenshandelns bestimmt, was die genannten Tu-
genden, also durchaus moralische Haltungen, einschließt.
Folgendes trifft jedoch zu: In einer radikaleren Grundlagen-
reflexion wird die Eudaimonie als unzureichendes Fundament
der Moral erkannt und stattdessen die Autonomie, die Selbstbe-
stimmung des Willens, als der wahre Ursprung eingesehen.
Diese Einsicht, für die auch christliche Gedanken wesentlich
sind, hat für den Ethikdiskurs die Bedeutung einer Revolution.
Durch sie werden Fragen nach dem guten und gelungenen Le-
ben nicht überflüssig. Sie verlieren jedoch an Gewicht, da sich
der Fokus verschiebt. Im Brennpunkt des Diskurses stehen nicht
60 IV. Grundmodelle der Ethik

länger Fragen nach Glück und humaner Selbstverwirklichung,


überhaupt nicht mehr Fragen nach dem Menschsein-Können,
sondern nach dem Menschsein-Sollen. An die Stelle einer Theo-
rie der Lebenskunst tritt eine Theorie der Lebenspflicht, an die
Stelle einer Eudaimonologie, einer Könnensethik, tritt eine
Deontologie, eine Sollensethik.
Rundum durchgesetzt hat sich die Eudaimonismuskritik
allerdings nicht. Neoaristoteliker wie G. E. M. Anscombe, A.
MacIntyre und M. Nussbaum ziehen Aristoteles’ Ethik als
Vorbild vor, setzen sich dabei aber selten mit Kants Kritik am
Eudaimonismus auseinander. Zweifellos berechtigt ist ihre
Wertschätzung von Aristoteles’ Überlegungen zu den ethischen
Tugenden und deren notwendigen Ergänzung in der Klug-
heit (phronêsis), ferner die der Erörterungen zum wissentlich-
willentlichen Handeln, zur Gerechtigkeit und zur Freundschaft,
nicht zuletzt zur Unbeherrschtheit bzw. Willensschwäche
(akrasia) und zur Lust (hêdonê). Schon ihretwegen sind Aristo-
teles’ und Kants Ethiken keine planen Alternativen (vgl. Höffe
2007).

2. Kollektivwohl: Der Utilitarismus

Im deutschen Sprachraum wird der Utilitarismus gern als Nütz-


lichkeitsmoral abgestempelt, von Marx und Engels sogar als
«exploitation de l’homme par l’homme» gebrandmarkt (Die
deutsche Ideologie). In der englischsprachigen Welt ist er dage-
gen seit Jeremy Bentham und John Stuart Mill nach und nach
zu einer der wichtigsten moralphilosophischen Positionen auf-
gestiegen. Darüber hinaus ist er für die Entwicklung eines be-
deutenden Forschungszweiges der Nationalökonomie, der
Wohlfahrtsökonomie (vgl. Bohnen 1964), sowie für eine Viel-
zahl von sozialen und politischen Reformen von großer Bedeu-
tung. Schon um eine Verständigungsmöglichkeit mit der eng-
lischsprachigen Debatte zu gewinnen, vor allem aber um ein
Angebot zur rationalen Normenbegründung zu prüfen, emp-
fiehlt sich die Rezeption und kritische Auseinandersetzung mit
dem Utilitarismus.
2. Kollektivwohl: Der Utilitarismus 61

2.1 Der Grundgedanke Im Laufe seiner Entwicklung hat sich


der Utilitarismus in eine beinahe verwirrende Zahl von Positio-
nen und Unterpositionen ausdifferenziert. So kann man heute
den negativen vom positiven, den subjektiven vom objektiven,
den hedonistischen vom idealen Utilitarismus, ferner den Mo-
tiv- und den Gerechtigkeitsutilitarismus unterscheiden. Die uti-
litaristische Ethik ist längst nicht mehr eine einzige, in sich ho-
mogene Theorie. Auch wenn die inneren Kontroversen zu kei-
nem abschließenden Konsens geführt haben, läßt sich ein Kern
herausdestillieren, der den wichtigsten Varianten gemeinsam
ist. Diesen Kern bildet ein Moralprinzip, das aus vier oder fünf
Teilprinzipien oder Teilkriterien besteht.
(1) Gemäß dem Folgen- bzw. Konsequenzen-Prinzip sind
Handlungen nicht aus sich heraus, sondern von ihren Folgen
her zu beurteilen. (2) Deren Maßstab bildet der Nutzen, aller-
dings nicht der für beliebige Ziele oder Werte, sondern für das,
was als in sich gut gilt (Utilitätsprinzip). (3) Weil das in sich
Gute unterschiedlich verstanden werden kann, gibt es verschie-
dene Formen von Utilitarismus. Verbreitet ist heute ein Präfe-
renzutilitarismus, nach dem es auf die Vorlieben (Präferenzen)
der Betroffenen ankommt. Damit bleibt es jedem überlassen,
worin er sein Glück bzw. Wohlergehen sucht. Nach dem klassi-
schen Utilitarismus, so bei Jeremy Bentham und John Stuart
Mill, liegt das Kriterium für das Glück im Maß an Freude
(griech. hêdonê; engl. pleasure), das eine Handlung hervorruft,
vermindert um das mit ihr verbundene Maß an Leid (engl.
pain), was zum drittem Teilprinzip, dem hedonistischen Prin-
zip, führt. (4) Ausschlaggebend ist allerdings nicht das Wohl be-
stimmter Individuen oder Gruppen, sondern das aller von der
Handlung Betroffenen. Im Gegensatz zu jedem Egoismus ist
man nach dem Utilitarismus auf das allgemeine Wohlergehen
verpflichtet (Sozialprinzip).
Zusammengenommen ergeben diese vier Teilprinzipien das
eine utilitaristische Prinzip, das Prinzip der Nützlichkeit: «Die-
jenige Handlung bzw. Handlungsregel ist moralisch richtig, de-
ren Folgen für das Wohlergehen aller Betroffenen optimal
sind»; oder als (utilitaristischer) Imperativ formuliert: «Handle
62 IV. Grundmodelle der Ethik

so, daß die Folgen deiner Handlung bzw. Handlungsregel für


das Wohlergehen aller Betroffenen optimal sind».
Die erste systematische Darstellung des Utilitarismus bildet
Benthams Einführung in die Prinzipien von Moral und Gesetz-
gebung (1789). In den einleitenden vier Kapiteln läßt der Autor
seine psychologische Grundvorstellung anklingen und formu-
liert das Prinzip der Nützlichkeit; er erörtert das Problem der
Beweisbarkeit des Prinzips und diskutiert Prinzipien, die mit
dem des Utilitarismus konkurrieren; er weist auf vier Quellen
von Freude und Schmerz hin und skizziert schließlich (5) einen
operativen Maßstab, den hedonistischen Kalkül bzw. Nutzen-
kalkül. Dieser soll es erlauben, alle erdenklichen Empfindungen
von Freude und Leid, selbst die heterogener Natur, gegeneinan-
der aufzurechnen und eine Gesamtbilanz des menschlichen
Glücks aufzustellen. (Ein Vorläufer des Nutzenkalküls findet
sich schon in Platons Dialog Protagoras: 357b.)
Schon bald wird Bentham eine «pig philosophy» (Thomas C.
Carlyle) vorgeworfen, wonach der Utilitarismus mit seinem He-
donismus den Menschen auf das Niveau von Schweinen herun-
terziehe. Darauf antwortet Mill im Utilitarismus (1874) mit ei-
nem qualitativen Hedonismus. Er unterscheidet niedere, sinnli-
che und höhere, geistige, soziale und moralische Freuden und
plädiert für die höheren Freuden, denn es sei besser, ein unzufrie-
dener Sokrates zu sein als ein zufriedenes Schwein. Diese These
klingt human, widerspricht aber dem utilitaristischen Grund-
gedanken, das tatsächliche und nicht ein moralisch imprägnier-
tes Wohl zu maximieren.
Die differenzierteste klassische Darstellung des Utilitarismus
bietet Henry Sidgwicks (1838–1900) voluminöses Werk Die
Methoden der Ethik (1874). Mit diesem Buch hält die utilitari-
stische Ethik Einzug in die Universitätsphilosophie. Sidgwick
verknüpft die normative Ethik des Utilitarismus mit der Meta-
ethik eines qualifizierten Intuitionismus. Das Moralprinzip folgt
nach ihm weder aus dem Begriff der Moral, noch wird es aus
der Erfahrung gewonnen. Es liegt vielmehr schon aller morali-
schen Erfahrung voraus. Es gilt also nicht als analytisch, auch
nicht als empirisch, mithin synthetisch a posteriori, sondern als
2. Kollektivwohl: Der Utilitarismus 63

synthetisch a priori, mithin als vor aller Erfahrung wahr. Die für
das Moralprinzip eigentümliche Form der Erkenntnis soll in
einer moralischen Intuition bestehen, für die vier Kriterien auf-
gestellt werden: sie muß selbstevident sein und sich in klarer
und präziser Form darstellen lassen, sie darf anderen grund-
legenden Wahrheiten nicht widersprechen und muß unter den
Fachleuten allgemeine Zustimmung finden.
Nach einem naheliegenden Einwand seien moralische Pflich-
ten, zum Beispiel Versprechen zu halten oder Schulden zurück-
zuzahlen, nicht nur dann gültig, wenn sie dem sozialen Wohler-
gehen dienen. Um diesen Einwand zu entkräften, erklärt der
spätere Regelutilitarismus, das utilitaristische Prinzip der Nütz-
lichkeit sei nicht direkt auf einzelne Handlungen (Handlungs-
utilitarismus), sondern zuerst auf Arten oder Regeln von Hand-
lungen anzuwenden. Noch überzeugender ist aber eine von
Utilitaristen noch nicht vorgenommene Dreistufung. Diesem
neuen Lebensformenutilitarismus zufolge suche man als erstes
eine glückstaugliche Lebensform, entwickle sodann in ihrem
Rahmen Regeln oder Grundhaltungen, um schließlich von ihnen
aus das konkrete Handeln zu bestimmen.

2.2 Kritik am Utilitarismus Der Utilitarismus erscheint deshalb


als so attraktiv, weil sein Moralprinzip empirische Kenntnisse
über die Folgen einer Handlung und deren Bedeutung für das
Wohlergehen der Betroffenen einfordert. Außerdem verspricht
er zwei zwar gegenläufige, aber je für sich plausible Antriebs-
kräfte zu einer Einheit zu bringen: das Interesse am eigenen
Wohl und die moralische Forderung, das Wohl der anderen mit-
zuberücksichtigen.
Eine erste Schwierigkeit liegt jedoch in der Unkenntnis vieler
Folgen und Nebenfolgen, eine weitere in der Verschiedenartig-
keit der genannten zwei Bestandteile: Wer dem fremdem Wohl
dienen will, muß bisweilen sein eigenes Wohl einschränken, was
nicht nur ein unrealistisch hohes Maß an Altruismus erfordern
kann; die Personen verlieren auch ihr Eigenrecht. Außerdem er-
laubt der Utilitarismus, den Nachteil der einen gegen den Vor-
teil der anderen zu verrechnen, was dem Standpunkt der Ge-
64 IV. Grundmodelle der Ethik

rechtigkeit widerspricht. Denn unter besonderen empirischen


Rahmenbedingungen können soziale und rechtliche Diskrimi-
nierungen, einschließlich so verwerflicher Institutionen wie der
Sklaverei und der Praxis des Folterns gerechtfertigt sein.
In den Anarchical Fallacies (Anarchische Fehlschlüsse, 1816)
erklärt Bentham sogar eine rechtsmoralische Errungenschaft der
Neuzeit, die Menschenrechte, zum «gestelzten Unsinn». Zwar
behauptet er nicht, persönliche Freiheitsrechte seien unmöglich,
wohl aber, bloße Forderungen ohne Durchsetzungskraft seien
unsinnig. Dabei unterschätzt er das im Gedanken der Men-
schenrechte enthaltene Kritik- und Reformpotential.
Ein zeitgenössischer Utilitarist, Peter Singer (1993), lehnt ein
absolutes Tötungsverbot ab und setzt sich großzügig für Abtrei-
bung und gewisse Formen von Kindstötung und nichtfreiwilli-
ger Euthanasie ein. Allerdings folgen diese Ansichten nicht aus
dem Utilitarismus, sondern aus einem Personenbegriff, der alle
ihrer selbst bewußten Wesen, einschließlich Schimpansen, Go-
rillas, Wale und Delphine, umfaßt. Trotzdem werden diese sub-
humanen Personen – besser nenne man sie Quasi-Personen –
nicht dem ausgesetzt, was der übliche Personenbegriff ein-
schließt. Weder werden bei Singer diesen intelligenten Tieren
gegebenenfalls moralische Vorwürfe gemacht, noch ihre Bestra-
fung gefordert. Auch werden sie nicht als zivilrechts-, zum Bei-
spiel vertragsrechtsfähig angesehen. Nicht zuletzt hält man sie
nicht in dem Sinn für völkerrechtsfähig, daß entweder die Men-
schen mit gewissen Tiergruppen und daß unterschiedliche Tier-
gruppen untereinander oder daß sogar verschiedene Tierarten
miteinander Verträge abschließen.
Am Utilitarismus ist ferner zu kritisieren, daß er keine Moral-
probleme im Verhältnis des Menschen zu sich selbst anerkennt.
Und vor allem fehlt ihm eine zureichende Begründung seines
Moralprinzips. Schließlich kann man mit Nietzsche von der
Lust und dem Inbegriff ihrer dauerhaften Erfüllung, dem Glück,
behaupten, daß sie kein Lebensziel, sondern nur eine Begleiter-
scheinung seien (vgl. Götzen-Dämmerung, «Sprüche und Pfei-
le», Nr. 12).
Insbesondere wegen des Gerechtigkeitseinwandes hat mittler-
3. Prinzip Freiheit: Autonomie 65

weile selbst der englische Sprachraum den Utilitarismus weitge-


hend verabschiedet und sich entweder Aristoteles oder noch
häufiger Kant zugewandt.
Der Utilitarismus hält sich gern seinen Einsatz für den Tier-
schutz zugute. Dieser gründet allerdings weniger im Utilitaris-
mus als im Hedonismus, demzufolge alle lust- und schmerzfähi-
gen Wesen zu berücksichtigen seien. Dabei übersieht der Utilita-
rismus erneut, daß Tiere zwar Rücksichtnahme verdienen, sie
selber aber keine moralischen Wesen sind, die zu Rücksicht-
nahme gegen andere verpflichtet werden.

3. Prinzip Freiheit: Autonomie

Freiheit ist der philosophische und moralisch-politische Schlüs-


selbegriff der Neuzeit. Er bedeutet negativ die Unabhängigkeit
von Fremdbestimmung und positiv, daß man selbst seinem Tun
den bestimmten Inhalt gibt.
Zunächst allerdings ist «frei» bloß eine partikulare Rechtsbe-
stimmung. Sie zeichnet sowohl im griechisch-römischen als
auch im germanischen Denken gewisse Personen als vollwertige
Mitglieder einer Gemeinschaft aus, die im Unterschied zu den
Sklaven um ihrer selbst willen leben (vgl. Aristoteles’ Metaphy-
sik I 2, 982b24–28). Unabhängig von fremder Gewalt, sind die
«Freien» im Unterschied zu Fremden vor Gewalt geschützt und
wirken gleichberechtigt am politischen Leben mit.
Unter dem Einfluß stoischer und jüdisch-christlicher Ethik
wird aber im Laufe der Neuzeit die Freiheit zum universalen
Anspruch jeder Person und jeder politischen Gemeinschaft. In
der Ethik kommt es vor allem auf die persönliche Freiheit an. Sie
tritt zwar auf zwei verschiedenen Ebenen auf, als Selbstbestim-
mung des Handelns: Handlungsfreiheit, und als Selbstbestim-
mung des Wollens: Willensfreiheit. Freilich führt nur die zweite
Ebene zu einem eigenständigen Ethikmodell. Dessen maßgeb-
liche Entwicklung verdankt die Philosophie Immanuel Kant.

3.1 Kantische Ethiken In den letzten Jahrzehnten hat Kants


Ethik sowohl in der europäischen, hier vor allem der deutschen
66 IV. Grundmodelle der Ethik

(z. B. K.-O. Apel, J. Habermas und O. Höffe), als auch in der


englischsprachigen Ethik (bes. A. Gewirth u. J. Rawls, später
O. O’Neill u. Chr. Korsgaard) zunehmendes Gewicht erhalten.
Dabei konnten die lange vorherrschenden Vorwürfe des Forma-
lismus, des Rigorismus und des sachfremden Dualismus von
Pflicht und Neigung entkräftet werden.
In der Anerkennung Kantischer Grundgedanken sind unter-
schiedlich starke Formen zu unterscheiden: (1) Eine Kantische
Ethik im bescheidenen Sinn hält die moralischen bzw. sittlichen
Pflichten im Unterschied zu denen des eigenen Glücks für unbe-
dingt geboten; sie erkennt die strenge Verallgemeinerbarkeit als
Moralkriterium an, setzt sich daher für eine universalistische,
nicht partikularistische Ethik ein. Und im Gegensatz zum Utili-
tarismus orientiert sie sich in letzter Instanz an der einzelnen,
aber nicht vereinzelten Person. (2) Eine Kantische Ethik im
mittleren Verständnis sieht im Handeln gemäß der moralischen
Pflicht, der Legalität, erst eine Vorstufe des eigentlich Gebote-
nen, dem Handeln aus freier Zustimmung der Moralität. Infol-
gedessen kommt es ihr nicht auf irgendeine Verallgemeinerbar-
keit, sondern auf die der Maximen und ihretwegen weiterhin
auf die innere Gesinnung an. (3) Eine Kantische Ethik im stren-
gen Sinn unterscheidet noch die geschuldeten Rechts- von den
verdienstlichen Tugendpflichten; sie erkennt zudem Pflichten
gegen sich an und enthält eine Theorie des moralischen Subjekts
mit jener Selbstgesetzgebung (Autonomie) des Willens, in dem
die Freiheit des Menschen zur Vollendung gelangt.

3.2 Handlungsfreiheit Wie andere philosophische Grundbegrif-


fe ist auch der Begriff der Freiheit deshalb mehrdeutig, weil das
angesprochene Phänomen mehrdeutig ist. So kann man schon
Tiere frei nennen, sofern sie sich in ihrer angestammten Umwelt
entfalten und sich nach den Gesetzen ihrer Art- und Selbsterhal-
tung bewegen. Im spezifisch menschlichen Sinn liegt die Hand-
lungsfreiheit aber erst dort vor, wo jemand ohne äußeren
Zwang im Einklang mit seinen eigenen Wünschen und Über-
zeugungen handelt. In der Regel gehört dazu die Fähigkeit, ei-
nen Spielraum von alternativen Möglichkeiten des Verhaltens
3. Prinzip Freiheit: Autonomie 67

zu sehen und eine davon auszuwählen. Freiheit heißt dann, han-


deln und auch nicht handeln (libertas exercitii) oder das eine
statt des anderen tun können (libertas specificationis).
Zur Handlungsfreiheit gehört die Fähigkeit, aus sich heraus
Vorstellungen von den Zielen und Wegen seines Lebens zu ent-
wickeln und den Vorstellungen gemäß, ohne äußeren Zwang,
zu agieren (s. Kap. III.1). Sie ist keine angeborene Eigenschaft,
sondern eine Möglichkeit, die es zu entwickeln gilt, was den
verschiedenen Menschen unterschiedlich weit gelingt: Ein Indi-
viduum ist umso freier, auf je mehr Bahnen es sich zufolge sei-
ner physischen, psychischen, wirtschaftlichen und politischen
Bedingungen bewegen kann.
Schon deshalb ist die Handlungsfreiheit ein komparativer Be-
griff. Beispielsweise sind dem Kind, dem Kranken, Armen oder
Schwachen engere Grenzen gesetzt als dem Erwachsenen, dem
Gesunden, Reichen oder Mächtigen. Ferner hat jemand desto
mehr Freiheit, je mehr Handlungsalternativen er sieht, ferner je
mehr er seine Affekte und Leidenschaften beherrscht und je we-
niger Zwänge ein liberales Gemeinwesen zusammen mit einer
toleranten Gesellschaft ausübt.
Wie sich gezeigt hat (s. Kap. III.5) ist Handlungsfreiheit we-
der als Ursachlosigkeit noch als Abstreifen mannigfaltiger Be-
dingungen zu verstehen, auf daß man, wie ein naiver Existen-
tialismus behauptet, aus dem Nichts neu anfange. Die Bedin-
gungen, die zweifellos bleiben, sind aber keine unabänderlichen
Fakten. Vielmehr kann man sich in ein Verhältnis zu ihnen set-
zen: sie benennen, beurteilen und sich kreativ zu eigen machen
oder aber sie verwerfen und in (selbst)erzieherischen, therapeu-
tischen und anderen Prozessen auf ihre Veränderung hinarbei-
ten.
Sofern dieses Selbstverhältnis sich praktischen Gesetzen un-
terwirft, spricht man von praktischer Vernunft. Da der Mensch
als ein sinnliches Vernunftwesen sich den praktischen Gesetzen
nicht von allein unterwirft, haben die praktischen Gesetze den
Charakter von Vernunftforderungen oder Imperativen. Ent-
sprechend den drei Stufen des Guten (s. Kap. I.3) gibt es sie als
technische, als pragmatische und als kategorische Imperative.
68 IV. Grundmodelle der Ethik

Ihnen entspricht jeweils eine technische, eine pragmatische oder


aber eine moralische Vernunft.

3.3 Kategorischer Imperativ Sofern sich die Gesetze (griech. no-


moi) an gegenüber der Vernunft externe Vorgaben binden,
stammen sie von etwas anderem (griech. heteros) als der Ver-
nunft. Deshalb spricht Kant hier von Heteronomie. Nur ein
Wille, der sich sein Gesetz ganz selber (griech. autos) gibt, zeich-
net sich durch das Prinzip des dritten Ethikmodells, durch Au-
tonomie, aus.
Nicht wer zu vorgegebenen Zielen stets die besten Mittel
sucht, auch nicht wer mit einer lohnenden und strafenden Ge-
rechtigkeit im Diesseits oder Jenseits rechnet, handelt im Sinn
des dritten Modells streng moralisch, sondern allein, wer sich
Gesetzen unterwirft, deren Ursprung im Willen selbst liegt.
Nach dem Gedanken der Autonomie des Willens ist der Mensch
mehr als ein bloßes Bedürfnis- und Gesellschaftswesen und fin-
det erst in dem Mehr zum eigentlichen Selbst, zur wahren Hu-
manität.
Bei den ersten zwei Stufen, den technischen und den pragma-
tischen Imperativen, gebietet die praktische Vernunft nur unter
Voraussetzung einer vernunftexternen Vorgabe. Ihretwegen ha-
ben die entsprechenden Imperative hypothetischen Charakter:
Wenn man die Vorgaben anerkennt, dann, aber auch nur dann,
steht man unter dem entsprechenden Imperativ. Im Fall der
technischen, auch «instrumentell» genannten Vernunft bindet
man sich an beliebige Absichten (Ziele oder Zwecke), im Fall
der pragmatischen Vernunft dagegen an das eigene oder, wie im
Utilitarismus, an das kollektive Wohl. Erst auf dieser dritten
Stufe, bei der Autonomie des Willens, entfällt jede vernunft-
externe Vorgabe. Deshalb hat der zuständige Imperativ nicht
mehr einen hypothetischen, sondern einen kategorischen, das
heißt schlechterdings gebietenden Charakter.
Dieser vor allem von Kant bekannte kategorische Imperativ
hat zwei verschiedene Funktionen. Als erstes bestimmt er das
Wesen des Moralischen; er hat, was oft übersehen wird, eine
moraldefinitorische Bedeutung: Die moralischen Gesetze, die
3. Prinzip Freiheit: Autonomie 69

beim Menschen die Gestalt von Imperativen annehmen, sind


ohne jede Einschränkung, insofern unbedingt gültig. Sie fordern
zu Handlungen auf, deren Maximen schlechthin, also nicht erst
in bezug auf etwas anderes, sondern schon für sich selbst gut
sind.
Ob die zugrundeliegende Maxime einem kategorischen Impe-
rativ genügt, erkennt man nicht an der Art des Satzes, in dem
der Imperativ formuliert ist. Der Satz «Wenn jemand dir Geld
geliehen hat, dann zahle es vereinbarungsgemäß zurück» ist
sprachlich hypothetischer, normativ aber kategorischer Natur.
Der Imperativ «Achte auf deine Gesundheit» hat dagegen hypo-
thetischen Charakter, da er nur unter Voraussetzung des Wun-
sches, glücklich zu sein, gültig ist.
Weil der kategorische Imperativ jede (subjektive) Absicht,
auch das natürliche Interesse an Glück, ausschließt, ist er sei-
nem Begriff nach streng allgemein gültig. Auf diese Weise erhält
er eine zweite, kriteriologische Bedeutung. Mit der Aufforde-
rung zum moralischen Handeln nennt der kategorische Impera-
tiv zugleich das höchste Kriterium. Die Grundformel lautet:
«Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich
wollen kannst, daß sie ein allgemeines Gesetz werde» (Grundle-
gung zur Metaphysik der Sitten, IV 421).
Außer dieser Grundformel gibt es für den kategorischen Im-
perativ drei Unterformeln. Da das Muster für ein streng allge-
meines Gesetz im Naturgesetz liegt, lautet die erste, formale Un-
terformel «Handle so als ob die Maxime deiner Handlung
durch deinen Willen zum allgemeinen Naturgesetz werden soll-
te» (ebd.).
Die zweite, materiale Unterformel des kategorischen Impera-
tivs, die Menschheits-Zweck-Formel, geht davon aus, daß der
Mensch sein eigenes Dasein als vernünftige Natur sich vorstellt
und daß die vernünftige Natur als Zweck an sich selbst exi-
stiert. Daraus folgt, daß man sowohl gegen sich als auch gegen
andere den Selbstzweckcharakter des Menschsein anerkennt,
daher die Menschheit sowohl in der eigenen Person als auch in
jeder anderen Person «jederzeit zugleich als Zweck, niemals
bloß als Mittel» braucht (ebd., 429). Bei dieser zweiten Unter-
70 IV. Grundmodelle der Ethik

formel ist das «niemals bloß» entscheidend. Zweifellos darf


man sich oder andere als Mittel behandeln. Es darf aber nie aus-
schließlich geschehen, wie etwa bei einem lügenhaften Verspre-
chen, durch das man einen Mitmenschen zum bloßen Instru-
ment degradiert.
Schließlich sollen nach der dritten, umfassenden Unterformel
alle der autonomen Gesetzgebung entstammenden Maximen zu
einem möglichen «Reiche der Zwecke», als einem Reich der
Natur, zusammenstimmen (ebd., 438).
Die strenge Verallgemeinerung, die die Grundformel des ka-
tegorischen Imperativs verlangt, richtet sich weder auf Einzel-
handlungen noch auf irgendwelche Handlungsregeln, vielmehr
auf persönliche Lebensgrundsätze, eben auf Maximen. Bei
der im kategorischen Imperativ geforderten Verallgemeinerung
handelt es sich daher um einen Prüfungstest, den die Maximen,
um sich als moralisch auszuweisen, bestehen müssen, oder um
einen Filter, der die unmoralischen Maximen abfängt und nur
die moralischen durchläßt.
Schon vor- und außermoralische Maximen, etwa die Grund-
sätze, mit allen sicheren Mitteln reich, berühmt oder mächtig zu
werden, zeichnen sich durch eine Allgemeinheit, in normativer
Hinsicht aber erst durch eine relative Allgemeinheit aus. Sie
sind nämlich nur unter einer stillschweigenden Voraussetzung,
der Absicht auf das eigene Wohlergehen, gültig. Im Verhältnis
dazu fordert der kategorische Imperativ eine Steigerung der All-
gemeinheit zu ihrem Superlativ, zu jener engen und strengen
Allgemeinheit, der Universalisierung, die ohne die Einschrän-
kung auf das allgemeine Wohl auskommt. Das Muster dafür
gibt das Naturgesetz ab. Geprüft wird, ob sich die subjektive
und relative Allgemeinheit einer Maxime als die strenge Allge-
meinheit eines Naturgesetzes vorstellen lasse. Kann man sich
beispielsweise eine Natur vorstellen, in der man durch Betrug
reich wird oder in der man sich durch ein lügenhaftes Verspre-
chen aus einer Notlage befreit?
Diese Prüfung kann man in drei Stufen vornehmen. Jenseits
der bloß momentanen und subjektiven Gültigkeit (Nullstufe)
beginnt sie mit einer noch subjektiven, aber übermomentanen,
3. Prinzip Freiheit: Autonomie 71

sogar gesamtbiographischen Gültigkeit (Stufe 1) und führt über


eine übersubjektive, gesamtsoziale (Stufe 2) zu einer völligen
Gültigkeit, der Gültigkeit schlechthin (Stufe 3). Erst hier erweist
sich die zunächst bloß subjektive Maxime als ein objektives Ge-
setz, das für die Willensbestimmung jedes zu praktischer Refle-
xivität fähigen Wesens taugt.
Auf der ersten Stufe überlegt ein Subjekt, ob sein momentan
geltender Grund (Nullstufe) sich zu einem Grundsatz eignet,
aus dem heraus es nicht bloß hin und wieder handeln, sondern
in einem großen Handlungsbereich sein ganzes Leben führen
kann: Taugt der Grund zum Lebensgrundsatz, zur Maxime? Als
zweites prüft man, ob sich die persönliche, subjektive Maxime
zum Grundsatz vieler Menschen, insbesondere zu ihrem Zu-
sammenleben eignet. Kann beispielsweise nicht bloß der «Täter»
eines unehrlichen Versprechens, sondern auch sein Opfer «ein
Recht auf Unehrlichkeit» anerkennen? (Allerdings gibt es auch
selbstbezogene Maximen, die sich verallgemeinern lassen und
sich auf die Pflichten gegen sich belaufen.) Auf der dritten Stufe
fragt man, ob der mittlerweile sozialfähige Lebensgrundsatz für
die Menschen jedweder Kultur und Epoche und selbst für die
Mitglieder anderer biologischer Gattungen, also für jene denk-
baren «außerirdischen» Wesen gültig ist, die ebenfalls über die
Fähigkeit zu praktischer Reflexivität verfügen.
Nach einem häufigen Mißverständnis fordere die Universali-
sierung, jede individuelle Persönlichkeit aufzugeben. Eine der-
artige Forderung sieht nach einem Plädoyer für den Zen-Bud-
dhismus aus, der nach Auffassung seiner Meister alle Begierden
zu überwinden, letztlich sein Ich aufzugeben trachtet. Der ei-
nem derartigen Leben verpflichtete «heilige, achtfache Pfad»
der Rechtschaffenheit stellt durchaus eine moralische Option
dar. Freilich bleibt zu fragen, ob man dabei tatsächlich sein Ich
aufgibt oder nicht eher zu einem wahren Ich findet. Der Test der
Universalisierung verlangt jedenfalls nicht, sein Ich aufzugeben,
sondern lediglich, die eigene Persönlichkeit ausschließlich im
Rahmen universalisierbarer Maximen zu entfalten.
Ebensowenig verlangt der kategorische Imperativ, alle Mo-
mente von Tradition und Geschichte aufzugeben. Er fordert
72 IV. Grundmodelle der Ethik

nicht etwa zu einer traditionsverachtenden «Kulturrevolution»


auf, bietet aber ein Kriterium, um moralunverträgliche Tradi-
tionen gegen moralverträgliche abzugrenzen.

3.4 Maximenethik Für den kategorischen Imperativ ist der Ma-


ximenbegriff wichtig. Denn das Kriterium einer strengen Wil-
lensethik betrifft nicht irgendwelche Regeln, sondern lediglich
jene praktischen Grundsätze eines Subjekts, die für größere
Lebensbereiche leitend sind. Innerhalb dieser, etwa dem Bereich
der Hilfsbedürftigkeit, sieht eine Maxime von allen deskripti-
ven Unterschieden ab und konzentriert sich auf den normativ
entscheidenden Gesichtspunkt, hier die Hilfsbereitschaft oder
aber, wo man sie verweigert, die Hartherzigkeit. Dadurch rich-
tet sich die Maxime auf das Moment im Handeln, das in der
eigenen Verfügung steht. Als zum Charaktermerkmal geworde-
ner Vorsatz beinhaltet sie eine auf Dauer gestellte Willensaus-
richtung, die vom Inneren der Person her, deren Willen, «Gesin-
nung», vom beobachtbaren Tun und Lassen aber «Einstellung»
oder «Haltung» und im Fall der strengen Verallgemeinerbar-
keit, also bei moralischen Maximen, «Tugend» heißt.
Eine Ethik, die sich auf Lebensgrundsätze, eben Maximen,
richtet, konzentriert sich also auf die normativ entscheidende
Willensbestimmung. Damit tritt sie zwei gegenläufigen Mißver-
ständnissen von Moral entgegen. Einerseits ist die Maxime
genau jenes identische, sei es moralische oder aber nichtmora-
lische Moment, das für kulturelle Unterschiede offen ist und
gegen viele Formen von Relativismus spricht (vgl. Kap. IV.4).
Andererseits verlangt die Notwendigkeit, im konkreten Han-
deln die allgemeine Maxime mit den Besonderheiten von Situa-
tion und Person zu vermitteln, im Widerspruch zum Regeldog-
matismus nach einer situationsgerechten «Anwendung». Dafür
sind empirische Kenntnisse und eine praktische Urteilskraft, die
(moralische) Klugheit, vonnöten. Eine Maximenethik tritt also
dem Vorurteil entgegen, eine Pflichtenethik lasse für die Urteils-
kraft keinen Raum. Tatsächlich übernimmt diese sogar drei
Rollen (s. Kap. V.5).
Da sich moralische Maximen wie angedeutet auf Tugenden
4. Moralkritik 73

belaufen, hebt eine Maximenethik den oft behaupteten Gegen-


satz von Pflichtenethik und Tugendethik sogar auf. Schließlich
erlaubt eine Maximenethik Folgeüberlegungen, wenn auch nur
handlungsinterne Folgenüberlegungen. Zu ihnen gehört bei-
spielsweise die Frage, ob eine gewisse Handlung tatsächlich eine
Hilfe erbringt, während die handlungsexterne Überlegung, zu
welchem Zweck (z. B. Reputation oder anderem Lohn) man die
Hilfe leiste, ausgeschlossen ist.
Eine Maximenethik ist für die Identität des Einzelnen und
dessen charakterliche Beurteilung von Bedeutung. Als allgemei-
ne Grundsätze, die situationsgerecht zu kontextualisieren sind,
helfen Maximen nämlich, die Teile einer Biographie zu einheitli-
chen Lebenszusammenhängen zu verbinden und einen Men-
schen als rachsüchtig oder großmütig, als eigensüchtig oder
rechtschaffen, ehrlich und couragiert zu qualifizieren. Zugleich
ist die Maximenethik für die Erziehung wichtig. Während man
beim Einimpfen von Regeln sich in die Nähe einer Dressur be-
gibt, lassen Maximen, weil für persönliche Unterschiede in Fä-
higkeit, Temperament und vorgefundener Situation offen, einen
Spielraum für personale Freiheit und moralische Selbstbestim-
mung.
4. Moralkritik

In der Universitätsphilosophie wird dieser Teil oft vernachläs-


sigt, obwohl er sowohl historisch als auch systematisch eine
große Rolle spielt: die in sich facettenreiche Moralkritik. Syste-
matisch gesehen beginnt sie als ethischer Relativismus und stei-
gert sich zu einem Hinterfragen der in einer Gesellschaft herr-
schenden Moral auf ihren verborgenen Zweck. In beiden Fällen
erschüttert sie die unmittelbare Geltung: Die moralischen Ge-
bote und Verbote verlieren den ihr bislang anhaftenden Tabu-
charakter.
In der Regel entsteht die Moralkritik dann, wenn die Wert-
vorstellungen, die eine Gesellschaft leiten, in die Krise geraten
und zu verfallen beginnen. Ein Beispiel bietet die Zeit der grie-
chischen Sophistik, als so mancher Sophist durch Moralkritik
den Zerfall zu verschärfen suchte, während Sokrates ihn durch
74 IV. Grundmodelle der Ethik

eine Neubegründung der Moral aufhalten wollte. Dort ist die


Moralkritik entlarvend, indem sie einen kompromittierenden,
die Moral wie einen Falschspieler entlarvenden Grund freilegt,
hier rechtfertigend, indem sie einen zwar neuen, aber legitimen
Grund aufzeigt.

4.1 Ethischer Relativismus Nach dem seit langem bekannten,


aber nur von wenigen Philosophen anerkannten ethischen Rela-
tivismus haben die verschiedenen Kulturen eine so unterschied-
liche Vorstellung vom Guten und Gerechten, daß der Gedanke
einer überpositiven Moral zu verabschieden sei. Schon antike
Autoren kennen den sowohl in Alltagsdebatten als auch in den
Kultur- und Sozialwissenschaften vielfach hervorgehobenen
Grundsatz: andere Länder, andere Sitten. Auf die Frage, wie
man mit den Verstorbenen angemessen umgehe, so berichtet der
griechische Geschichtsschreiber Herodot, sagen die Inder: wir
verbrennen sie, die Perser: wir essen sie, und die Griechen: wir
bestatten sie. Dabei war keine Gruppe selbst gegen einen hohen
Lohn bereit, von ihrem Umgang mit den Verstorbenen abzuwei-
chen (Historien 3, 38.2–4).
Aristoteles bringt das Grundproblem auf den Begriff, auf das
Gegensatzpaar von Nomos und Physis. Beim Guten und Ge-
rechten, sagt er nämlich, gibt es eine derartige Unbeständigkeit
und Unsicherheit, daß sie insgesamt als bloße Konvention und
Satzung, eben Nomos, erscheinen, dem jede natürliche (physei),
das heißt hier: überpositive Verbindlichkeit, mangelt (Nikoma-
chische Ethik I 1, 1094b11–16).
Sofern man mit der Relativierung der eigenen Verbindlichkei-
ten anderen Kulturen und Epochen ein Eigenrecht läßt, spricht
sich hierin eine moralisch wünschenswerte Einstellung, die sozi-
alethische Tugend der Toleranz, aus. Mit gutem Grund erkennt
sie andere Kulturen als gleichberechtigt an und läßt ihnen das
Recht, aufgrund ihrer eigenen geographischen, klimatischen
und wirtschaftlichen Randbedingungen, aufgrund ihrer eigenen
Tradition und Erfahrung anderen konkreten Verbindlichkeiten
zu folgen. Die sich daraus ergebenden Unterschiede beweisen
aber noch keine Unterschiede auf der Fundamentalebene. Auf
4. Moralkritik 75

dieser findet sich im Gegenteil ein erstaunliches Maß an Gemein-


samkeit. Am Beispiel der Behandlung der Verstorbenen zeigt
sich dieses in einer durch keinen materiellen Lohn zu beeinträch-
tigenden Hochachtung der eigenen Wertschätzung der Toten.
Vor allem kennen so gut wie alle Kulturen, so etwa schon Alt-
Ägypten, Alt-Indien und Alt-China (vgl. Lesebuch zur Ethik,
Teile A, D und E), ein Lügeverbot, einen Lebensschutz und die
positive Bewertung von Hilfsbereitschaft und Tapferkeit bzw.
Zivilcourage. Weiterhin schätzt man allerorten die Rechtschaf-
fenheit und den moralischen Grundsatz der Wechselseitigkeit,
die Goldene Regel etwa in ihrer negativen Fassung: «Was du
nicht willst, daß man Dir tu, das füg’ auch keinem anderen zu».
Gemeinsam sind auch der Gedanke der Unparteilichkeit sowie
Grundsätze der Verfahrens- und der Tauschgerechtigkeit.
Nimmt man dieses hohe Maß an interkultureller Gemein-
samkeit ernst, muß man dem ethischen Relativismus vorwerfen,
voreilig von einigen beobachtbaren Unterschieden im Konkre-
ten auf Differenzen bei den Prinzipien zu schließen. Sachgerech-
ter ist es, von einem Weltmoralerbe zu sprechen: Über allem,
was die Menschen trennt, über der Verschiedenheit der Spra-
chen, der Sitten und Gebräuche sowie der Religionen und Kon-
fessionen, darf man nicht übersehen, daß sie sich glücklicher-
weise in der wohl wichtigsten Angelegenheit weithin einig sind:
Über moralische Grundeinstellungen und Grundregeln herrscht
zwischen den verschiedensten Kulturen ein weitreichender Kon-
sens.

4.2 Entlarvende Moralkritik Die zweite und verbreitetste Art


der Moralkritik weist auf einen Zweck, der den Zwecken wi-
derspricht, die die jeweilige Moral selbst vorschreibt. Wesentli-
che Argumentationsfiguren stammen erneut schon aus der Anti-
ke: Um eine religiöse Moral zu entlarven, führt man sie auf den
Neid der Götter zurück, und den Gerechtigkeitsgedanken stellt
man als Egoismus der Herrschenden (Thrasymachos in Platons
Politeia: I 338c) oder im Gegenteil als Ressentiment der Schwa-
chen bloß (Kallikles in Platons Gorgias: 482c ff.).
In der Neuzeit will die Moralkritik eines Gracian (1601–
76 IV. Grundmodelle der Ethik

1658) und der französischen Moralistik mit scharfem Witz und


in aphoristischer Kürze die herrschenden Verhaltensregeln als
wenig moralisch, oft sogar unmoralisch demaskieren. Andere
Formen von Moralkritik suchen die angeblich selbstlosen Re-
gungen wie Mitleid und Nächstenliebe als bloße Rationalisie-
rungen des Selbstinteresses (Hobbes, La Rochefoucauld), eine
Lebensordnung als entfremdend (Marx), angeblich freie Ent-
scheidungen als biologisch, psychologisch, geschichtlich und
ökonomisch-gesellschaftlich determiniert (Darwin, Nietzsche,
Marx, Freud) oder das Gewissen als eine nach Innen verlagerte
fremde Stimme (Freud, Adorno) zu demaskieren.
Die entlarvende Moralkritik intendiert Aufklärung. Durch
Desillusionierung, nämlich den Nachweis eines herrschenden
Bewußtseins als einer Illusion, will sie den Menschen aus seiner
selbstverschuldeten, von den politischen und religiösen Mäch-
ten bewußt oder unbewußt beförderten Unmündigkeit befreien.
Ein falsches Bewußtsein bemißt sich allerdings an der Idee eines
richtigen Bewußtseins. Mit der Ablehnung bestehender Ver-
bindlichkeiten verbindet sich deshalb zumindest implizit eine
Bejahung der Idee moralischer Verbindlichkeit. Die marxisti-
sche Moralkritik ist beispielsweise von der Leitidee bestimmt,
die materiellen Bedingungen jener freien schöpferischen Persön-
lichkeit zu entwickeln, die sich auf durchaus traditionelle Werte
wie Humanität, Gemeinwohl und Solidarität verpflichtet. Inso-
fern also die Aufhebung einer Moral stillschweigend im Namen
von Moralität geschieht, ist die Moralkritik selbst ein morali-
sches Geschehen.

4.3 Umwertung aller Werte: Friedrich Nietzsche Ein intellektuel-


ler Artist, Schamane und Verführer, Friedrich Nietzsche, führt
die abendländische Moralkritik zu ihrem philosophischen Hö-
hepunkt. Manche üben Moralkritik im Bonsai-Format, bei
Nietzsche geschieht es in Übergröße, zugleich radikal, funda-
mental und mit großem Pathos. Seine «Umwertung aller Werte»
bedeutet nicht etwa Abwertung; sie stellt vielmehr die Werte auf
eine neue Wertgrundlage. Nietzsche bedient sich dabei des Ge-
gensatzes einer von Priestern geschürten Sklavenmoral des Mit-
4. Moralkritik 77

leids und der Nächstenliebe und einer Herrenmoral. An die


Stelle des angeblich im Abendland über viele Jahrhunderte vor-
herrschenden «platonisch-christlichen» Versuchs, den Sinn des
Lebens nur in jenseitigen Werten und Wahrheiten zu suchen,
setzt er eine Diesseits-Rechtfertigung. Diese stellt der «Sklaven-
moral» mit ihrem Gegensatz von Gut und Böse eine Herren-
moral entgegen, die nur den Gegensatz von Gut (im Sinne von
stark, mächtig, überlegen und vornehm) und Schlecht (als
schwach und verächtlich) kennt.
Für seine Diesseits-Rechtfertigung bedient sich Nietzsche der
Methode einer entlarvenden Genealogie der Moral (1887). Ra-
dikal im wörtlichen Sinn, gräbt sie Wurzeln der Moral aus, um
deren bisher vorherrschende Rechtfertigung zu erschüttern. Al-
lerdings vermag die Genealogie, also die Entstehungsgeschichte,
über die Legitimität der Moral nicht zu entscheiden. Sie ist zwar
legitimatorisch nicht belanglos. Wer sie aber für eine zureichen-
de Kritik der Moral hält, begeht einen genealogischen Fehl-
schluß, der zu Unrecht aus einem Tatbestand, dem entlarvenden
Ursprung, eine Entlarvung der Sache selbst ableiten will. Über-
dies gehen viele Genealogien selektiv vor: Sie beschränken sich
auf wenige Gesichtspunkte und blenden die das erwünschte Be-
weisziel störenden Faktoren aus.
Falls Nietzsches These also zutrifft, die jüdisch-christliche
Moral entspringe einem Ressentiment der Schwachen und ei-
nem Herrschaftsinteresse von Priestern, so wird hinter die Mo-
ral von Mitleid und Nächstenliebe zwar ein kräftiges Fragezei-
chen gesetzt. Der kritisierten Moral jedes Recht abzustreiten,
vermag sie aber nicht. Ohnehin pflegt auch Nietzsches entlar-
vende Moralkritik nicht bloß destruktiv zu sein. Sie kritisiert
zwar die Orientierung an lebensjenseitigen objektiven Werten.
Zusätzlich kritisiert sie deren planes Gegenteil, den europä-
ischen Nihilismus des 19. Jahrhunderts, der alle dem Dasein
Verbindlichkeit gebenden Werte, Normen und Wahrheiten hi-
storisch relativiert. Andererseits eröffnet sie einen neuen Le-
benshorizont: An die Stelle der überlieferten Moral tritt kein
Nihilismus, der alle Verbindlichkeiten leugnet, sondern eine
Selbstbejahung und zugleich Steigerung des Lebens, ein «In-
78 IV. Grundmodelle der Ethik

stinkt der Freiheit», den Nietzsche mißverständlich den Willen


zur Macht nennt.

4.4 Ein verlorenes Paradigma? Niklas Luhmann In einer Hinsicht


ist die Moralkritik des Soziologen und Systemtheoretikers Ni-
klas Luhmann (1927–1998) noch radikaler. Denn sie wirft der
philosophischen Ethik, verstanden als Reflexionsform der Mo-
ral, vor, die wichtige Aufgabe, vor der Moral zu warnen, nicht
ernst zu nehmen. Die der Moral innewohnende Neigung, auf
die sich Luhmann dabei beruft, nämlich gewaltbereiten Streit zu
erzeugen oder zu verschärfen, diese polemogene Tendenz, zeich-
net aber eher Religionen und Konfessionen, Nationalstaaten,
Ethnien und Stämme aus, weniger die Moral. Ein moralisches
Gebot wie die Toleranz entschärft sogar den Streit oder läßt ihn
gar nicht erst entstehen. Die Grundforderung der Rechtsmoral,
statt der Gewalt solle das Recht herrschen, zivilisiert den Streit.
Und das Vorbild für verdienstliche Mehrleistung, der Samariter,
setzt sich über ethnische und andere Streitfaktoren unbeküm-
mert hinweg.
Auch darf man an Philosophen erinnern, die wie Arnold Geh-
len in Moral und Hypermoral (1969) mit weit genaueren Dia-
gnosen vor einer dominierenden Moral gewarnt und ihre War-
nung um Therapievorschläge ergänzt haben. Noch brillanter
widmet sich dieser Aufgabe Friedrich Nietzsche, wenn er wie
gesagt in der Genealogie der Moral die platonisch-christliche
Moral des Mitleids als Sklavenmoral diskreditiert.
Luhmann wirft der Moral nicht nur einen polemogenen Cha-
rakter, sondern auch Nutzlosigkeit vor (und die Ethik kritisiert
er, weil sie die Nutzlosigkeit nicht bloßstelle). Er behauptet
nämlich, wegen veränderter Gesellschaftsverhältnisse habe die
Moral ihre ehemalige Funktion verloren. Weil nämlich die rela-
tiv selbständig gewordenen Funktionssysteme wie die Wirt-
schaft, die Wissenschaft und das Recht einer je eigenen Nor-
mativität unterworfen seien, könne die Moral nicht mehr die
Gesellschaft als ganze integrieren.
Hier läßt sich entgegnen, daß die philosophische Ethik zu-
sätzlich zur angedeuteten funktionsspezifischen Normativität
4. Moralkritik 79

eine unspezifische Normativität, eben die Moral, zuläßt, diese


jedoch funktionsspezifisch einsetzt. So verbietet sie beispiels-
weise Wissenschaftlern das Verfälschen von Daten und Verwal-
tungsbeamten die Korruption. Die Moral wird also lediglich
funktionsspezifisch eingesetzt. Auf diese Weise degeneriert sie
gerade nicht zu einem Relikt der überholten alteuropäischen
Gesellschaft. Auch für die moderne, funktional ausdifferenzier-
te Gesellschaft erfüllt sie vielmehr eine unverzichtbare Aufgabe,
nämlich die eines Veto-Rechts: Wer Daten fälscht, disqualifi-
ziert sich zum Wissenschaftler, wer korrupt ist, disqualifiziert
sich zum Verwaltungsbeamten. Ist man es nicht, muß man aber
dort seine Forscher-, hier seine Verwaltungsfähigkeit noch unter
Beweis stellen. Ähnlich darf sich zwar keine Regierungspartei
für moralisch besser halten, «nur weil sie im Augenblick die
Mehrheit hat». Politik vollzieht sich aber in einem Rahmen von
rechtsmoralischer Qualität, dem von Rechtsstaatlichkeit, De-
mokratie, Freiheitsrechten und Sozialstaatlichkeit.

4.5 Rechtfertigende Moralkritik Eine zweite, weniger verbreite-


te Moralkritik sucht entweder eine völlige oder aber eine parti-
elle Rechtfertigung. Im ersten Fall ist sie rein affirmativ, also nur
in einem neutralisierten Verständnis von «Kritik» noch kritisch:
Sie nimmt eine Beurteilung vor, die rein positiv ausfällt. Im
zweiten Fall werden zwar die Leitprinzipien der Moral aner-
kannt, von ihnen aus jedoch die relativ konkreten Normen ver-
worfen. Dabei kann man sich auf zwei Argumente berufen: Ent-
weder hat sich die faktische Moral von ihrem Leitprinzip ent-
fernt, beispielsweise hat eine sozialistische Moral den humanen
Anspruch des Marxismus aufgegeben. Oder die Lebensbedin-
gungen haben sich so verändert, etwa von der Agrar- zur Indu-
striegesellschaft oder von der Knappheit vieler Güter zu deren
Überfluß, daß der Leitzweck der überlieferten Moral bleibt,
aber eine Veränderung der konkreten Normen erforderlich ist.

4.6 Moralkritik zweiter Stufe Während die gewöhnliche, entwe-


der entlarvende oder rechtfertigende Moralkritik die Moral auf
ihre moralische Richtigkeit prüft, richtet sich eine Moralkritik
80 IV. Grundmodelle der Ethik

zweiter Stufe auf die Begriffe, Kriterien, Prinzipien und Metho-


den der Moral. Sie unterscheidet zwischen der Moral in ihrer
geschichtlich wandelbaren, oft unzulänglichen Wirklichkeit
und ihrem übergeschichtlichen Moralprinzip; sie fragt nach der
formalen Qualität eines Moralprinzips und nach dem Grund
von Moral überhaupt.
Während Vertreter der Moralistik wie La Rochefoucauld
(1613–1680) mit dem Motto: «Unsere Tugenden sind meist nur
bemäntelte Laster» gegen wahre Tugenden skeptisch sind, sucht
eine Moralkritik zweiter Stufe im Wissen, daß es durchaus be-
mäntelte Laster, aber auch das Gegenteil, wahre Tugenden, gibt,
ein Kriterium, um die beiden verläßlich gegeneinander abzuset-
zen. Mit diesem Kriterium, etwa Kants kategorischem Impera-
tiv, vermögen sie, wozu die schlichte Moralkritik, die Moralkri-
tik erster Stufe, außerstande ist: Sie können im bunten Strauß
von Maximen die moralischen von den unmoralischen Grund-
sätzen unterscheiden.

5. Kontraktualismus und Diskursethik

Zwei Positionen finden in der zeitgenössischen Ethik besondere


Aufmerksamkeit: die von Kant inspirierte Diskursethik und die
Vertragstheorie, die beispielsweise von John Rawls (1921–
2002) als Gerechtigkeitstheorie entwickelt ist. Generell, nicht
nur in der auf Gerechtigkeitsprinzipien verpflichteten Gestalt,
wird sie auch Kontraktualismus genannt. (Ebenfalls erwäh-
nenswert ist O. Höffes Versuch, unter Vorrang Kants die Ari-
stotelische mit der Kantischen Ethik zu versöhnen.)

5.1 Gesellschaftsvertrag: Kontraktualismus Die Vertragstheorie


sei hier exemplarisch als legitimatorische Grundfigur politischer
Gerechtigkeit skizziert. Der Gesellschaftsvertrag dient dann kei-
ner generellen Moralbegründung, sondern nur jenem Anteil,
dessen Anerkennung die Menschen einander schulden. (Einen
erweiterten Kontraktualismus vertreten z. B. T. M. Scanlon,
E. Tugendhat und P. Stemmer.)
Nach Ansätzen in der Antike (Platon: Kriton, Politeia II 359 a
5. Kontraktualismus und Diskursethik 81

und Nomoi III 684a–b, X 889d–890) wird die Vertragstheorie


in der Aufklärungsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts
(Althusius, Hobbes, Pufendorf, Spinoza, Locke und Rousseau)
zu begrifflicher Schärfe entwickelt und von Kant in ihrem me-
thodischen Status geklärt. Durch die Kritik von Hume, Adam
Smith und Hegel beiseite gedrängt, wird sie erst wieder von
O. v. Gierke (mit Bezug auf Althusius und Pufendorf), dann von
Buchanan (zu Hobbes), Rawls (zu Kant und Rousseau), Nozick
(zu Locke), und auch von Höffe (in zusätzlicher Auseinander-
setzung mit dem Rechtspositivismus und dem philosophischen
Anarchismus) erneuert.
Zur Legitimation von Recht und Staat eingesetzt, bezeichnet
der Gesellschaftsvertrag weder einen ausdrücklich noch still-
schweigend abgeschlossenen historischen Vertrag. Er ist viel-
mehr eine Metapher, die auf ein Gedankenexperiment verweist,
das aus drei Elementen besteht: (1) Im rechts- und staatsfreien
Zustand, Naturzustand genannt, herrscht, weil es keinerlei
Rechte (primärer Naturzustand) oder keine öffentliche Siche-
rung (sekundärer Naturzustand) gibt, ein latenter Krieg von je-
dem gegen jeden. (2) Weil dieser Zustand für jeden einzelnen
nachteilig ist, verzichten alle auf die den latenten Krieg hervor-
rufende unbegrenzte Handlungsfreiheit. Dieser Verzicht, der
den eigentlichen Gesellschaftsvertrag ausmacht, erfolgt im auf-
geklärten Selbstinteresse von jedermann, daher freiwillig: Ver-
tragstheorien sind Zustimmungs- oder Konsenstheorien politi-
scher Legitimation. (3) Damit der Vertrag kein bloßes Wort
bleibt und die Gefahr eines parasitären Ausnützens, eines Tritt-
brett- bzw. Schwarzfahrens, überwunden wird, bedarf es so-
wohl zur näheren Bestimmung als auch zur Durchsetzung und
zur nichtprivaten Streitschlichtung öffentlicher Gewalten, letzt-
lich eines Staates oder einer staatsanalogen Institution.
Der Vertrag eignet sich nun deshalb als Metapher für die Le-
gitimation einer öffentlichen Rechtsmacht und der mit ihr ver-
knüpften Gehorsamsverpflichtung, weil er die Grundform eines
Rechtsgeschäftes beinhaltet, bei dem die Vertragspartner sich
wechselseitige Rechte und Pflichten übertragen. Der Gesell-
schaftsvertrag gehört daher nicht primär, wie Rawls annimmt,
82 IV. Grundmodelle der Ethik

zur Verteilungs-, sondern mit Höffe (42003) zur Tauschgerech-


tigkeit. Diese rechtfertigt keine Blankovollmacht, sondern ver-
bindet die Legitimation von Herrschaft mit ihrer Legitimation:
Mit dem Rechtsverzicht der «Privatpersonen» geht die Gerech-
tigkeitsbindung der öffentlichen Gewalten einher. Der Gesell-
schaftsvertrag ist hier ein normativ-kritischer Maßstab zur Be-
urteilung der Rechtmäßigkeit und Grenzen öffentlicher Gewalt.

5.2 Diskursethik Die Kommunikationsethik, die Karl-Otto


Apel (*1922) entwickelt, hat Jürgen Habermas (*1929) zur
Diskursethik modifiziert. Beiden Philosophen geht es um eine
Moralbegründung mittels eines bestimmten Verfahrens. Weil
sie sich weder auf die Gesinnung der Menschen verlassen, noch
materiale Normen empfehlen, vertreten sie eine (formal-)proze-
durale Ethik.
Nach Habermas soll über strittige Normen und Geltungsan-
sprüche in einem gewaltfreien rationalen Diskurs rundum ein-
vernehmlich, also streng konsensuell verhandelt und schließlich
entschieden werden. Die Gehalte der im Zusammenleben zu be-
folgenden Normen und die als berechtigt zu geltenden Ansprü-
che der Individuen sollen im praktischen Diskurs aller Betroffe-
nen bestimmt werden. Dazu gehört, daß niemand aus dem Dis-
kurs ausgeschlossen noch am Ende überstimmt werden darf.
Infolgedessen gelten die Ergebnisse des Diskurses als zeit- und
kulturunabhängig für alle Menschen gültig.
Wie schon der Kontraktualismus hat also auch die Diskur-
sethik einen universalistischen Charakter. Beide gehören zur
Großfamilie antirelativistischer, auch antiskeptischer Kanti-
scher Ethiken. Die von der Diskursethik vorausgesetzte Fähig-
keit, Gründe für die Gültigkeit moralischer Normen und Prinzi-
pien zu erkennen, vernünftige Lösungen strittiger Probleme ein-
zusehen und sie vor allem auch anzuerkennen, darf nicht etwa
psychologisch verstanden werden. Bei Karl-Otto Apel erhält die
pragmatische Fähigkeit, rundum konsensfähige Lösungen zu
finden, noch eine transzendentale, angeblich auch den ethischen
Skeptizismus entwaffnende Letztbegründung.
Gegen die Diskursethik läßt sich einwenden, sie halte jeden
V. Tugenden 83

Grundlagenkonflikt für prozedural lösbar. Sofern diese Annah-


me empirisch verstanden wird, ist sie nicht enttäuschungsresi-
stent. Gravierender ist der Vorwurf von «Präjudizien des Dis-
kurses» (Höffe 21998, Kap. 6): daß der Diskurs als Diskurs
schon elementare moralische Prinzipien wie die Ehrlichkeit der
Diskursteilnehmer, deren wechselseitiges Lebensrecht und de-
ren Meinungsfreiheit voraussetzt. In deren Begründung liege
aber die primäre Ethikaufgabe, weshalb eine gründliche Ethik
hinter die Diskursethik einen Schritt zurückzugehen habe.

V. Tugenden

1. Zum Begriff

Seit Platon und Aristoteles ist die Tugend (griech. aretê, lat. vir-
tus) ein Grundbegriff der Ethik. In der Neuzeit wird er zwar ge-
genüber dem Begriff der Pflicht abgewertet und gerät wegen der
gelegentlichen Hervorhebung moralisch peripherer, instrumen-
teller und funktionaler Tugenden wie Ordnungsliebe, Sparsam-
keit, Pünktlichkeit und Fleiß in Mißkredit. Einer philosophi-
schen Ethik kommt es aber vornehmlich auf die moralischen
Charaktertugenden und die sie ergänzende intellektuelle Tu-
gend, die Klugheit, an. Beide haben keineswegs ihre ethische Be-
deutung verloren.
In der Verbindung von Charaktertugenden mit Klugheit liegt
vielmehr noch immer das Ideal der Erziehung und Selbsterzie-
hung des Menschen zu einer vortrefflichen Persönlichkeit. Da-
bei geht es weder um die Unterdrückung spontaner Neigungen
oder den Rückzug in weltabgewandte Askese noch um die Kon-
servierung geschichtlich überholter Verhaltensweisen, ohnehin
nicht um die Überbewertung instrumenteller Tugenden.
Durch fortgesetzte Übung erworben, ist wahre Tugend eine
Lebenshaltung, die das moralisch gute Handeln weder dem Zu-
fall noch einem sozialen Zwang überläßt. Es erfolgt vielmehr
aus Freiheit, gleichwohl mit einer gewissen Notwendigkeit,
84 V. Tugenden

nämlich aus dem Können und der (Ich-)Stärke einer moralisch


gebildeten Persönlichkeit. Die moralischen Tugenden bestehen
in einer zur Haltung verfestigten Anerkennung der Moral.
Tugenden zu besitzen bedeutet also, weder Spielball seiner
Triebkräfte: der naturwüchsigen Bedürfnisse und Leidenschaf-
ten, noch der sozialen Rollenerwartungen zu sein. Statt dessen
setzt man sich in ein kritisches Verhältnis zu diesen Faktoren, so
daß man jene Zwecke zielstrebig und überlegt verfolgt, die un-
tereinander und mit denen der Mitmenschen im Einklang ste-
hen. Tugenden zu haben heißt, sein Leben in Verantwortung für
sich und seine Mitmenschen zu führen, was sich nicht bloß in
exzeptionellen heroischen Taten, sondern im gesamten, auch
gewöhnlichen Leben zeigt.
Man kann die eine Haltung sittlichen Lebens, die Tugend,
unter verschiedenen Aspekten betrachten und dann von einer
Mehrzahl von Tugenden sprechen. Seit Platon ist die Aufgliede-
rung in vier Grundhaltungen, in Besonnenheit, Tapferkeit, Ge-
rechtigkeit und Klugheit bzw. Weisheit maßgeblich. Sie heißen
Kardinal-Tugenden, weil gemäß cardo: Türangel, sich vieles um
sie dreht. Aristoteles nennt noch weitere Tugenden, beispiels-
weise Freigebigkeit, Hochherzigkeit und Ehrgefühl (Stolz). Und
die christliche Ethik fügt die theologischen Tugenden von Glau-
be, Liebe und Hoffnung hinzu.
Nach Aristoteles’ grundlegender Bestimmung bestehen sittli-
che Tugenden weder in starren noch objektiv berechenbaren
Verhaltensmustern, vielmehr sind sie für persönliche Unter-
schiede in bezug auf Temperament und Fähigkeit und die jewei-
lige Lage offen. Mit Hilfe von Tugenden vermag man je selbst
und je neu die Mitte zwischen jenen beiden das gute Leben ver-
fehlenden Extremen zu finden, dem Übermaß und dem Mangel,
bei der Tapferkeit beispielsweise die Mitte zwischen Tollkühn-
heit und Feigheit.
Angeblich ist die Tugendethik für Aristoteles, aber nicht für
Kant charakteristisch. Jedoch steht der zweite Teil von Kants
systematischer Moralphilosophie, der Metaphysik der Sitten,
genau unter dem Titel «Tugendlehre». Kant führt sogar eine Un-
terscheidung ein, die den Tugendbegriff in normativer Hinsicht
1. Zum Begriff 85

verschärft (Metaphysik der Sitten, VI 407). Die Grandes Dames


der neueren Tugendethik, G. E.M. Anscombe und Ph. Foot,
mögen zwar als Aristoteliker den Meister aus Stagira vorziehen
und sich zusätzlich auf den großen Neoaristoteliker des Mittel-
alters, Thomas von Aquin, berufen. In der Sache besteht aber
nicht die von ihnen beschworene Front von Aristoteles’ Tugend-
gegen Kants Pflichtenethik. Vielmehr liegt die subtilere Alterna-
tive von Aristoteles’ strebensethisch-eudaimonistischer gegen
Kants autonome und zugleich moralisch anspruchsvollere Tu-
gendethik vor.
Hinzu kommt, was selten beachtet wird: daß sich die Tugend-
listen der beiden Protagonisten nicht überschneiden. Die Tugen-
den, die zu den vier Beispielen aus der Grundlegung zur Meta-
physik der Sitten gehören, könnte man Kants Quartett von Kar-
dinaltugenden nennen. Es besteht aus einer Treue zu seinem
Leben (Selbstmordverbot), aus Ehrlichkeit (Lügeverbot), Hilfs-
bereitschaft (Hilfsgebot) und der Bereitschaft, seine Talente zu
entfalten (Entfaltungsgebot). Keine dieser Tugenden erscheint
in Aristoteles’ Tugendliste (Nikomachische Ethik II 7). Diese
umfaßt statt dessen Tugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit und
Freigebigkeit, die in Kants Quartett fehlen.
Selbst ausdrückliche Vertreter der Tugendethik lassen sich
kaum auf die Analyse einzelner Tugenden ein. Nimmt man sie
trotzdem vor, sind zwei entgegengesetzte Gefahren, sowohl zu
gehaltlose als auch zu konkrete, rezeptähnliche Ausführungen
zu vermeiden. Statt dort im Vagen zu bleiben und sich hier in
einem paternalistischen Besserwissen zu gefallen, bleibt die
Kunst des Grundriß-Wissens gefordert (s. Kap. II.5).
Man kann die Vielzahl der (moralischen oder moralisch rele-
vanten) Tugenden in vier Gruppen ordnen: Innerhalb der Cha-
raktertugenden gibt es die Tugenden des Selbstinteresses, des
Geschuldeten und des Verdienstlichen, wozu als vierte die zu
ihnen allen komplementäre intellektuelle Tugend der Klugheit
hinzukommt. Für jede von ihnen seien hier exemplarische Bei-
spiele genannt. Sie werden übrigens nicht bloß in der abendlän-
dischen, sondern auch in asiatischen und afrikanischen Ethiken
hervorgehoben.
86 V. Tugenden

2. Tugenden aus Selbstinteresse


Die Tugenden aus Selbstinteresse beziehen sich innerhalb einer
eudaimonistischen Ethik auf so naheliegende Lebensziele des
Menschen wie das Verlangen nach Lust, nach Wohlstand und
nach Macht.

2.1 Besonnenheit Wie die Lust so tritt auch die dafür zuständi-
ge Tugend in verschiedenen Arten auf. Angesichts körperlicher
Lust besteht die Gefahr, den momentan auftretenden Begierden
jeweils nachzugeben, ohne Zusammenhänge zu berücksichtigen
und Folgen zu bedenken. Im Extremfall steigert sich eine Ge-
nußsucht zur veritablen Zügellosigkeit, zum Laster. Andere
handeln dagegen sinnenfeindlich oder werden aus ängstlicher
Zurückhaltung empfindungsarm, im Extremfall empfindungs-
los. Die Alternative zu beidem, die Einstellung des zugleich ko-
ordinierenden und kontrollierenden, daher im praktischen Sinn
reflektierten Verhältnisses zur Lust heißt Besonnenheit (griech.
sôphrosynê, lat. temperantia). Diese fordert nicht etwa zum Un-
terdrücken aller Sinnlichkeit auf, was dem Menschen als kör-
pergebundenem Wesen auch nur unter Preisgabe seiner Vitalität
gelänge. Als ein praktisches Selbstverhältnis zu Lust und Unlust
bewahrt die Besonnenheit die für jede Tugend charakteristische
Offenheit für unterschiedliche Temperamente, Umstände und
Interessen.
Im Verhältnis zu den Affekten ist nicht etwa besonnen, wer
nie Zorn empfindet. Wer sich an keiner Beleidigung oder unge-
rechten Behandlung stört, selbst auf eine Demütigung nicht mit
Empörung antwortet, dem fehlt es an Selbstachtung, weshalb
seine Haltung verachtenswert ist. Besonnen ist dagegen, wessen
«Vergeltungsimpulse» sich nur bei berechtigtem Anlaß entzün-
den und sich auch dann nicht in maßlosem Zorn oder mitleidlo-
ser Rache ausleben.
Vielfach auf Selbstkontrolle und Selbstbeherrschung ver-
kürzt, gibt sich die Besonnenheit mit diesen bloß negativen Lei-
stungen nicht zufrieden. Als ein Selbstverhältnis zur eigenen
Emotionalität tritt die Besonnenheit sowohl maßloser Begierde
2. Tugenden aus Selbstinteresse 87

als auch ihrer Unterdrückung entgegen. Besonnen ist, wer im


Bereich von Lust und Unlust Teilziele verfolgt, die zusammen
ein gelungenes, sinnerfülltes Leben ermöglichen.
Die Besonnenheit versteht es also, sich vom Despotismus der
momentanen Begierden freizumachen, öfters deren Befriedi-
gung aufzuschieben, einige Begierden zu beschneiden und man-
che ganz zurückzudrängen. Ihre gesteigerte Gestalt, eine mora-
lische Besonnenheit, widersetzt sich sowohl einem Luststreben,
das die eigene Selbstachtung, als auch einem, das die berechtig-
ten Interessen der Mitmenschen verletzt.
Heute, in der nach Bevölkerungszahl und Pro-Kopf-Ansprü-
chen enorm gewachsenen Weltgesellschaft, braucht es außer der
persönlichen noch eine globale und kollektive Besonnenheit,
um den vieldimensional ungehemmten Raubbau an der Natur
endlich zu bremsen (vgl. Höffe 42000b, Kap. 10.3). Einen ana-
logen Raubbau gibt es auch an den eigenen Ressourcen. Wie
die Menschheit die Erde für die nächsten Generationen zu be-
wahren hat, so hat auch der einzelne seine physischen, psychi-
schen und intellektuellen Kräfte für die Zukunft, wenn auch
keine unbegrenzte, offenzuhalten. Dafür braucht er Wider-
standsreserven, die befähigen, gegen eigene Wünsche nein zu
sagen und auf gewisse Anreize zu verzichten; ferner sich nicht
zu viel aufzuladen, mithin anderen nein zu sagen, ohne sie zu
verletzen.

2.2 Freigebigkeit Bei einem zweiten Lebensziel, dem unermüdli-


chen Streben nach Wohlstand, gibt es zwei «Versuchungen», die
häufig zusammenkommen: eine Habsucht, die mehr und mehr
besitzen will, und ein Geiz, der mit niemandem teilt («Harther-
zigkeit»), oft sogar gegen sich selbst knauserig ist. Den Gegen-
satz dazu bildet die Verschwendung. Beiden Fehlhaltungen tritt
jener freie Umgang mit materiellen Gütern entgegen, die Freige-
bigkeit, die weder die Güter «aus dem Fenster wirft» noch sich
ängstlich an sie klammert. Mit seinem Vermögen «nicht verhei-
ratet», sondern dessen souveräner Herr, gibt der Freigebige es
aus, wo es ihm als sinnvoll erscheint, vor allem auch für andere,
jedoch nie so viel, daß er selber im Armenhaus landet.
88 V. Tugenden

2.3 Gelassenheit Ein zum Wohlstandverlangen analoges Im-


mer-Mehr-Wollen findet sich auch bei einem dritten Lebensziel,
dem grenzenlosen Machtstreben. Sowohl zur Habsucht und zur
Herrschsucht, als auch zum grenzenlosen Verlangen nach Anse-
hen, der Ehrsucht, gibt es eine gemeinsame Alternative, die Ge-
lassenheit. Sie richtet sich unter anderem gegen die Zukunfts-
angst, also gegen die Sorge, zum einen in Zukunft nicht über
genügend materielle Ressourcen, und zum andern nicht über
genügend Machtressourcen, schließlich nicht über genügend
Reputation zu verfügen. Ihr Anwendungsbereich reicht aller-
dings weit darüber hinaus, was das Gewicht dieser im klassi-
schen, Aristotelischen Tugendkatalog fehlenden Haltung er-
höht:
Das menschliche Leben spielt sich in einem Kräftefeld mit
Natur- und Sozialvorgaben ab, die nur zum Teil vom jeweils
Handelnden beeinflußt, in der Regel nicht einmal voll über-
schaut werden. Soll das Leben trotz vielfältiger Fremdvorgaben
glücken, so braucht es das paradoxe Können, etwas, das nicht
in eigener Hand liegt, trotzdem in die Hand zu nehmen. Wer die
entsprechende Fähigkeit, den eigenen Grenzen frei zuzustim-
men, zu einer Grundhaltung entwickelt, verfügt über die Tu-
gend der Gelassenheit.
Damit wendet sich die Gelassenheit gegen eine Ungeduld, die
sich auf eine Situation nicht einzustellen vermag, aber auch ge-
gen eine Nachgiebigkeit, die sich der jeweiligen Situation wil-
lenlos unterwirft. Zwischen Erzwingenwollen und Gefügigkeit
gestellt, besteht die Gelassenheit in der Bereitschaft, die natürli-
che Welt, die Mitmenschen, nicht zuletzt die eigene Person mit-
samt der dazugehörigen Geschichte anzunehmen und sich trotz-
dem nicht als freie und schöpferisch handelnde Person aufzuge-
ben. Gegen sich selbst weder zu großzügig noch zu kleinlich,
sucht man, wo erforderlich, seine Fähigkeiten fortzuentwickeln,
ohne sich, wo man versagt, zu quälen. Auch akzeptiert man,
daß das Leben sowohl unangenehme Überraschungen als auch
nicht überraschende Unannehmlichkeiten wie das Altern bringt.
Gelassen ist auch, wer sich der Diktatur der Hetze entzieht und
sich an Zeitverschwendung, an Muße, erfreut.
2. Tugenden aus Selbstinteresse 89

2.4 Heiterkeit Kommen beide Tugenden, Besonnenheit und


Gelassenheit, zusammen, so erhält das Leben einen inneren
Glanz. Getragen von einem ruhig-fröhlichen, von allem Trüb-
sinn freien Gestimmtsein, steigert sich die Lebenseinstellung zur
Heiterkeit, dem stets fröhlichen Herz. Wer sie im vollen Sinn
besitzt, wandelt – wie es bei Epikur heißt – wie ein «Gott unter
Menschen» (Brief an Menoikeus, 135). Zweifellos ist diese Hal-
tung nicht an kulturelle Grenzen gebunden. In der chinesischen
Philosophie, dem vom legendären Lao Zi begründeten Daois-
mus, kommt ihr das Ideal einer wahren, authentischen Person
nahe: zhenren (chen-jen). Gemeint ist ein durch Selbstkultivie-
rung erreichter Gemütszustand, in dem man, von Begierde und
Nutzenkalkulation frei, ein einfaches, ruhiges und sorgenfreies
Leben führt (vgl. Shen 2003).

2.5 Aus Selbstinteresse selbstvergessen Weisheitstexte vieler


Kulturen sind sich darin einig, daß für das geglückte Leben
Freundschaft, Partnerschaft und Liebe eine besondere Bedeu-
tung haben. Enge persönliche Beziehungen leben von zwei Ei-
gentümlichkeiten. Einerseits sind insbesondere Partnerschaft
und Elternschaft auf lange Zeit, sogar auf ein ganzes Leben an-
gelegt. Damit schränken sie die Freiheit ein, allerdings «in Frei-
heit», wofür sie dann mit einem Freiheitsgewinn belohnt wer-
den: Bindungen, die gelingen, bieten Schutzräume, in denen
man weithin unbesorgt um Anfeindungen seinen Interessen
nachgehen, auch seine Schwächen haben darf. Insofern kann
man in Freiheit leben und sich darüber hinaus neue Freiheits-
räume erschließen.
Damit die Beziehungen tatsächlich gelingen, muß man sich
aber andererseits Mitmenschen so zuwenden, wie diese sind, sie
also in ihrer Andersheit anerkennen. Spätestens hier braucht es,
was sich am treffendsten paradox formulieren läßt: einen
Selbstgewinn durch Selbstverlust oder eine Selbstaneignung
durch Selbstentäußerung. Die Weisheitsliteratur nennt es «Be-
freiung aus der Enge des eigenen Herzens» (Psalm 18, 20).
Eine besondere Form von Selbstvergessenheit bildet das Mit-
gefühl (Sympathie) in seinen beiden Seiten: Als Mitleid versucht
90 V. Tugenden

es, den von Unglück, Mißerfolg und Leid Betroffenen zu helfen,


und als Mitfreude genießt sie das Glück mit und verstärkt es im
Mitgenießen. Auf das Mitleid trifft nämlich das Sprichwort zu:
«Geteiltes Leid ist halbes Leid», und auf die Mitfreude die Ent-
sprechung: «Geteilte Freude ist doppelte Freude». Während
Neid und Mißgunst die Freude des eigenen Gelingens mindern,
erbringt die Mitfreude eine positive Rückkoppelung, weshalb
man zu recht freudige Ereignisse mit anderen zusammen feiert.

3. Tugend des Geschuldeten: Gerechtigkeit

Die Gerechtigkeit (griech. dikaiosynê, lat. iustitia) ist ein Leit-


ziel, das die Menschheit über Kultur- und Epochengrenzen hin-
weg eint. Innerhalb der Sozialmoral besteht sie in jenem kleinen
Teil, deren Anerkennung die Menschen einander schulden. In
der ursprünglichen, bescheidenen Bedeutung verlangt die Ge-
rechtigkeit nur, was im Fremdwort für das Gerichtswesen, die
Justiz, noch anklingt: daß das Recht ohne Ansehen der Person
herrsche. Den Kern unserer Gerechtigkeitsvorstellungen bildet
nämlich das Prinzip der Gleichheit oder Unparteilichkeit, das
jede willkürliche Ungleichbehandlung verbietet.
Heute versteht man freilich die Gerechtigkeit anspruchsvol-
ler, in zwei aufeinander bezogenen Bedeutungen. In einem «ob-
jektiven», institutionellen, vor allem sozialen und politischen
Verständnis gilt die Gerechtigkeit als das grundlegende norma-
tive Prinzip des Zusammenlebens, im «subjektiven», persona-
len Verständnis dagegen als jene moralisch gebotene Haltung
im Verhältnis zu den Mitmenschen, die im Unterschied zu
Freundschaft, Liebe und Wohlwollen weder auf freier Zunei-
gung beruht noch über das hinausgeht, was man dem anderen
schuldet.

3.1 Politische Gerechtigkeit Im Rahmen der objektiven Gerech-


tigkeit sei exemplarisch die politische Gerechtigkeit genannt.
Sie verpflichtet die öffentlichen Gewalten eines Gemeinwesens
auf unveräußerliche Menschenrechte, dabei sowohl auf die ne-
gativen als auch die positiven Freiheitsrechte (Sozial- und Kul-
3. Tugend des Geschuldeten: Gerechtigkeit 91

turstaatlichkeit), nicht zuletzt auf die demokratischen Mitwir-


kungsrechte.
Als internationale, sogar globale Gerechtigkeit erhebt die po-
litische Gerechtigkeit Ansprüche an die Beziehung der Gemein-
wesen untereinander: Sie schützt die territoriale Integrität und
die politische und kulturelle Selbstbestimmung von Staaten. Al-
lerdings werden diese innenpolitisch zur Anerkennung der Men-
schenrechte und außenpolitisch zu einer nicht gewaltsamen,
sondern friedlichen, dabei rechtsförmigen Konfliktlösung aufge-
fordert. Dafür braucht es auf lange Sicht eine subsidiäre und fö-
derale Weltrechtsordnung, kurz: eine Weltrepublik (vgl. Höffe
22002). Solange es die Weltrepublik noch nicht gibt, schließt die

internationale Gerechtigkeit im Fall massiver Menschenrechts-


verletzungen eine humanitäre Intervention nicht grundsätzlich
aus. Überdies verlangt sie nicht bloß einen fairen Handel, son-
dern auch einen sozialen und ökologischen Weltmarkt.
Ein weiteres, unverzichtbares Element globaler Gerechtigkeit
bilden interkulturelle Rechtsdiskurse. Gegen die Gefahr, jede
andere Rechtskultur am Maßstab der eigenen zu messen, ver-
langen sie, aus kulturübergreifend gültigen Gesichtspunkten
heraus zu argumentieren, um allen Kulturen ein Recht auf un-
verwechselbare Eigenart zu lassen, ohne deshalb in einem
Rechts- und Gerechtigkeitsrelativismus zu verfallen (s. Kap. I.5).

3.2 Soziale Gerechtigkeit Nicht weniger aktuell als die zeitlich


horizontale, globale Gerechtigkeit ist die vertikale, intergenera-
tionelle Gerechtigkeit. Diese philosophisch relativ neuartige Ge-
stalt erhebt Ansprüche an das Verhältnis der Generationen zu-
einander, wobei es auf die Beziehung zur natürlichen Umwelt
(ökologische Gerechtigkeit), aber auch auf sozial- und finanz-
politische Aufgaben ankommt. Nicht zuletzt ist eine anamneti-
sche Gerechtigkeit gefragt, die die Erinnerung an gute und an
böse Taten nicht parteilich vornimmt.
Die soziale Gerechtigkeit im traditionellen Verständnis ant-
wortet auf die sogenannte soziale Frage, nämlich auf Phänome-
ne wie Arbeitslosigkeit, Schutzlosigkeit bei Krankheit und im
Alter, mangelnde Bildung und Ausbildung, nicht zuletzt Armut,
92 V. Tugenden

sogar Hunger. Sofern diese Phänomene auf gesellschaftliche


Veränderungen zurückgehen, die wie die Industrialisierung,
neuerdings die Globalisierung, einen kollektiven Vorteil erbrin-
gen, einige Gruppen aber schlechter stellen, verlangt die (kor-
rektive) Gerechtigkeit für sie eine Entschädigung.

3.3 Personale Gerechtigkeit Die Gerechtigkeit als Persönlich-


keitsmerkmal, als Tugend, wird auch Rechtschaffenheit ge-
nannt. Bei ihr sind zwei Stufen zu unterscheiden. Wer nur auf-
grund von außermoralischen Beweggründen, beispielsweise aus
Angst vor Strafe oder sozialer Ächtung, gerecht handelt, befin-
det sich erst auf der niedrigeren Stufe. Es ist die Grundstufe, die
seit Kant (moralische) Legalität heißt und die Übereinstimmung
mit dem, was die Gerechtigkeit gebietet, meint. Auf der Vollen-
dungsstufe, der Moralität, handelt man nicht bloß gerecht, son-
dern unternimmt dies auch aus einer bestimmten Gesinnung
heraus, nämlich «freien Herzens» und nur deshalb, weil es ge-
recht ist.
Das Vorliegen dieser wahren Tugend der Gerechtigkeit läßt
sich zwar empirisch nie streng nachweisen. Man kann sie aber
dort vermuten, wo jemand trotz größerer Macht und Intelligenz
andere nicht zu übervorteilen sucht oder wo er sein Tun – als
Gesetzgeber Richter, Lehrer, Eltern, Mitbürger – auch dann an
der Idee der objektiven Gerechtigkeit ausrichtet, wenn Recht
und positive Moral Lücken und Ermessensspielräume lassen
oder ihre Durchsetzung höchst unwahrscheinlich ist.
Während die antike Philosophie beide Seiten erörtert, Platon
sogar eine Entsprechung von personaler und politischer Ge-
rechtigkeit annimmt, interessieren sich das christliche ebenso
wie das islamische und das jüdische Mittelalter weit mehr für
die personale Gerechtigkeit, die in den sogenannten Fürsten-
spiegeln vor allem in Hinblick auf die Frage nach dem Handeln
der gerechten Herrscher erörtert wurde. Der politische Libera-
lismus der Neuzeit verläßt sich dagegen lieber auf die Gerech-
tigkeit der Institutionen und deren Gewaltenteilung. Die daran
anschließende Annahme, moderne Gesellschaften könnten auf
die personale Gerechtigkeit verzichten, ist jedoch falsch. Denn
3. Tugend des Geschuldeten: Gerechtigkeit 93

ein gewisses Maß an Gerechtigkeit sowohl auf seiten der Bürger


als auch ihrer Amtsträger gehört zu den Funktionsbedingungen
der rechtsstaatlichen Demokratie.
So bedürfen Amtsträger wie beispielsweise Parlamentarier
personaler Gerechtigkeit, weil sie andernfalls im Widerspruch
zu ihrem Amtseid nicht dem ganzen Volk, sondern lediglich den
Interessen ihrer Klientel dienen und zu jener Tyrannis der Mehr-
heit beitragen, die die kritische Demokratietheorie von Platon
(Politeia VIII 555b ff.) und Aristoteles (Politik IV 4, 1290b1 f.)
bis John Stuart Mill (Über die Freiheit, Abschn. 4) befürchtet.
Auch bei Richtern und Verwaltungsbeamten, sogar Medien-
schaffenden ist zwar keine umfassende, aber eine auf ihren Auf-
gabenbereich bezogene, funktionsspezifische personale Gerech-
tigkeit unabdingbar. Wenn es nur bei wenigen daran mangelt,
kann es durch die vielen anderen zurechtgerückt werden. Wo es
aber zur Regel wird, wo beispielsweise Richter sich «systema-
tisch» mit Ankläger oder Verteidiger auf eine «abgekartete Sa-
che» einlassen, wird die jeweilige Aufgabe pervertiert.
Zusätzlich müssen die Bürger ebenfalls über personale Ge-
rechtigkeit verfügen, damit sie die Forderungen der politischen
und sozialen Gerechtigkeit möglichst freiwillig und beständig
erfüllen, was einem Überhandnehmen der Staatsgewalt entge-
genarbeitet. Bei vitaler Ungerechtigkeit lassen sich rechtschaffe-
ne Bürger auf Empörung und Protest, wo erforderlich sogar auf
bürgerlichen Ungehorsam ein. Die personale Gerechtigkeit wi-
dersetzt sich jedenfalls dem Abgleiten einer Rechtsordnung in
einen «Unrechtsstaat».
Wer sich bloß dort empört, wo er selber einer Ungerechtig-
keit zum Opfer fällt, verharrt auf der selbstbezogenen, «egoisti-
schen» Vorstufe. Nur wer sich über Ungerechtigkeit gegen an-
dere empört, verfügt über die eigentliche, fremdbezogene, «al-
truistische» Gerechtigkeit. Wer sie nur gegen Freunde oder
Mitglieder der eigenen Gruppe übt, besitzt aber erst deren
schwache Form. Ein höheres Maß besitzt, wer sich über Unge-
rechtigkeit auch gegen Wildfremde empört. Und die Vollendung
erreicht, wer sich auch dann dem Unrecht verweigert, wenn er
wie Sokrates zum Opfer fremden Unrechts wird.
94 V. Tugenden

Nach dem Sophisten Thrasymachos ergeht es dem Gerechten


deshalb schlechter als dem Ungerechten, weil es ihm an Reich-
tum, an Macht, selbst an öffentlicher Anerkennung fehle (Pla-
ton, Politeia I 343d). Nach Sokrates dagegen leben nur gerechte
Menschen in wechselseitigem Vertrauen miteinander, überdies,
da sie Unrecht lieber erleiden als verüben, sowohl in Selbstach-
tung als auch in Achtung derer, an denen ihnen liegt. Ungerech-
te dagegen, da sie ohne Freundschaft, ohne Weltvertrauen und
ohne Selbstachtung leben, führen eine elende Existenz, während
sich die Gerechten eines rundum lebenswerten Lebens erfreuen
(Politeia IX 575e–576a).

4. Verdienstliche Tugenden:
Solidarität und Wohltätigkeit

In zwei Hinsichten reicht die Moral über das einander Geschul-


dete hinaus. Zum einen kennt sie Verpflichtungen nicht nur ge-
gen andere, sondern auch gegen sich selbst. Zu ihnen gehört
nach Kant die Pflicht der eigenen Vollkommenheit, einschließ-
lich der Aufgabe, seine Talente und Fähigkeiten zu entfalten.
Zum anderen gibt es innerhalb der Sozialmoral verdienstliche,
nämlich über das Geschuldete hinausreichende Verpflichtun-
gen. Deren untere Stufe bildet die Solidarität, die zwischen der
geschuldeten Moral, der Gerechtigkeit, und der freiwilligen
Mehrleistung, der Wohltätigkeit steht.
Der heute inflationär verwendete Ausdruck Solidarität be-
deutet ursprünglich, im römischen Recht, eine besondere Form
der Haftung: In einer Gemeinschaft, meist einer Familie, muß
jedes Mitglied für die Gesamtheit der bestehenden Schulden
aufkommen, so wie umgekehrt die Gemeinschaft für die Schul-
den jedes Einzelnen haftet. Die Solidarität spielt hier in beide
Richtungen; sie bietet dem Einzelnen Hilfe von seiten der Ge-
meinschaft und der Gemeinschaft von seiten der Einzelnen:
«Einer für alle und alle für einen».
Erst gegen Ende des 18. Jahrhundert wird der strenge Schuld-
begriff auf nichtrechtliche Beziehungen erweitert, der begriffli-
che Kern bleibt aber erhalten. Solidarität bezeichnet (1) eine ge-
4. Verdienstliche Tugenden: Solidarität und Wohltätigkeit 95

genseitige Haftung, das Füreinander-Einstehen-Müssen, (2) in


Gefahr und Notlagen, (3) innerhalb von Gruppen, die teils un-
freiwillig (z. B. Geschwister), teils durch freie Wahl (etwa Mit-
glieder einer Expedition), teils durch ein zufälliges Schicksal eng
miteinander verbunden sind. Solidargemeinschaften sind Not-
und Gefahrengemeinschaften, deren Mitglieder «im selben Boot
sitzen» und (4) emotionale Bindungen zueinander entwickeln.
Diese werden um so stärker, je emphatischer die Schicksalsge-
meinschaft ausfällt. In bloßen Interessengemeinschaften, in Be-
rufsverbänden und Versicherungsvereinen, sind sie naturgemäß
gering.
In jeder Notlage ist die Solidarität allerdings nicht gefragt. Ist
die Not von anderen verschuldet, so müssen sie schon aus Ge-
rechtigkeitsgründen helfen. Ist die Not aber allein selbst ver-
schuldet, so ist die Hilfe nur ein Gebot der Menschenliebe, der
Philanthropie. Die Solidarität dagegen ist dort geboten, wo die-
se Alternative Fremd- oder aber Selbstverschulden nicht zutrifft
und man von Schicksal sprechen kann. In einem weiten Ver-
ständnis spricht man auch dort von Solidarität, wo man sich
mit seiner Gruppe, selbst der ganzen Menschheit zusammenge-
hörig fühlt und aus diesem Zusammengehörigkeitsgefühl her-
aus handelt.
Nach Art des gemeinsam geteilten Schicksals kann man drei
Arten von Solidarität unterscheiden: (1) Die kooperative Soli-
darität sucht individuelle Risiken, die individuell vorhersehbar
sind, trotzdem gemeinsam zu bewältigen; denn nur die Art des
Risikos (Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit) ist vorhersehbar,
aber nicht, wen es wie stark trifft. (2) Die antagonistische Soli-
darität verfolgt kollektive Interessen gegen konkurrierende Kol-
lektiva, beispielsweise geht es um die Abwehr von Feinden oder
die Selbstbehauptung gegen Widersacher. (3) Die kontingente
Solidarität dient der Bewältigung unvorhergesehener, aber kol-
lektiver Schicksalsschläge, etwa Naturkatastrophen.
Das Muster der ersten Art von Solidarität bildet die Sozial-
versicherung, das der zweiten Art der Kampfverband gegen eine
feindliche Gruppe und das der dritten Art eine sich ad hoc
bildende und nach dem Unglück wieder auflösende Solidarität.
96 V. Tugenden

(4) Dazu kommt als besondere Art eine Gattungssolidarität, da


die Menschheit nur als ganze die Erde samt ihren Früchten,
aber auch Risiken miteinander teilt. Vielleicht kann man zusätz-
lich von einer Solidarität der Menschen mit der Natur, insbe-
sondere mit der Tierwelt sprechen.
Als Hilfe auf Gegenseitigkeit bedeutet die Solidarität eine
Brüderlichkeit bzw. Geschwisterlichkeit, die nicht dem asym-
metrischen Muster folgt, daß die größeren Brüder und Schwe-
stern stets den kleineren helfen. Die Hilfe kann zwar unter-
schiedlich ausfallen; außerdem muß sie nicht zur selben Zeit
fällig werden; nicht zuletzt kann die Not die einen mehr, die an-
deren weniger oder unter glücklichen Umständen sogar über-
haupt nicht treffen. Trotz inhaltlicher Unterschiede, mancher
Phasenverschiebung und kontingenter Umstände geht es aber
insgesamt um Wechselseitigkeit unter Gleichen.
Nur wenn man trotz dieser Abschwächung die Kernbedeu-
tung bewahrt: die Hilfe auf Gegenseitigkeit innerhalb einer
Schicksalsgemeinschaft, ist die Solidarität nicht länger das so
gefällige, aber vage Prinzip, das man dehnen und überdehnen
kann. Wie bei der Gerechtigkeit kommt es auf Wechselseitigkeit
an, im Unterschied zu ihr aber nicht auf einen rundum geschul-
deten Anspruch. Daß die Solidarität nicht streng geschuldet ist,
verbindet sie mit der Menschenliebe, bei der jedoch die Hilfe
einseitig erfolgt; wer aus Menschenliebe hilft, macht ein Ge-
schenk; er handelt altruistisch. Wer aus Solidarität hilft, er-
bringt dagegen eine Leistung für eine Gegenleistung, von der er
aber noch nicht weiß, ob sie je fällig sein wird.
Schon das schuldrechtliche Institut hat aber einen Vor- und
einen Nachteil, die bei einer Erweiterung des Begriffs erhalten
bleiben. Vorteilhaft ist, daß sich die Haftung auf mehrere Schul-
tern verteilt, was sowohl dem Schuldner als auch dem Gläubi-
ger erlaubt, Risiken einzugehen, die andernfalls zu gefährlich
wären. Dabei kann es aber, so der Nachteil, zu einer nur «pro
forma»-Wechselseitigkeit kommen: Wo sich immer dieselben
Mitglieder verschulden, für die immer dieselben anderen ein-
springen müssen, geht der normative Kern der Solidarität, die
Wechselseitigkeit, verloren.
4. Verdienstliche Tugenden: Solidarität und Wohltätigkeit 97

Über die Solidarität hinaus reicht das tätige Wohlwollen, die


Wohltätigkeit. Wohlwollen (griech. eunoia, lat. benevolentia)
bedeutet nach Aristoteles’ klassischer Definition die Bereit-
schaft, einem anderen um seinetwillen Gutes zu wünschen. In-
nerhalb der eudaimonistischen Ethik hat sie ihren Ort aber
nicht bei den Tugenden, sondern gehört als wechselseitiges
Wohlwollen zur Freundschaft. Nach dem Vorbild des barmher-
zigen Samariters wird in der christlichen Ethik das Wohlwollen
zu einer allgemeinen Pflicht innerhalb des Gebotes der Näch-
stenliebe, und sie bleibt es als Menschenliebe auch in der säku-
larisierten Ethik. Die Rechtfertigung kann etwa folgenderma-
ßen erfolgen:
Unabhängig davon, wie stark oder wie selbstgenügsam der
Mensch sein mag – jeder kann durch Unfall, Raubüberfall oder
Naturkatastrophen in eine Situation geraten, die ihn in größte
wirtschaftliche, psychische, physische und andere Not bringt,
aus der er sich nicht allein zu befreien vermag, er vielmehr auf
fremde Hilfe angewiesen ist. Mit welcher Wahrscheinlichkeit
eine solche Notsituation zu erwarten ist, durch welche Art und
welches Maß an Hilfe man aus ihr befreit werden kann, ob man
zum Beispiel um die benötigte Hilfe nachsucht oder aus Stolz
seine Not verbirgt – dies alles sind individuelle und geschicht-
lich-gesellschaftliche Besonderheiten, von denen man abstrahie-
ren kann, wenn es um die Grundaussage geht: Der Mensch ist
als Natur- und Bedürfniswesen ein Wesen, das in Not geraten
kann. Weil einerseits jedermann in Not geraten kann und weil
andererseits der Mensch als praktisches Vernunftwesen fähig
ist, fremde Not zu erkennen und ihr Abhilfe zu leisten, ist es ein
allgemeinmenschliches Gebot, Notleidenden nach Maßgabe der
eigenen Fähigkeiten und Möglichkeiten zu helfen. Die entspre-
chende persönliche Grundhaltung, die Hilfsbereitschaft und
Wohltätigkeit, überläßt das Helfen nicht kirchlichen, staatli-
chen und anderen Agenturen, sondern fordert, sich persönlich
zu engagieren.
Hobbes mißtraut in seiner Moralkritik der Nächstenliebe,
sieht die Grundlage aller Moral im Selbstinteresse und hält das
Wohlwollen nur für eine Art und Weise, seine Macht und Ehre
98 V. Tugenden

im Verhältnis zu anderen zu erhöhen. Nach Hume dagegen ist


das Wohlwollen neben der Gerechtigkeit die wichtigste soziale
Tugend; denn sie ist der Gesellschaft von so großem Nutzen,
daß ein umfassendes Wohlwollen die Gerechtigkeit sogar über-
flüssig macht. Nach Kants klassischer Bestimmung besteht das
Wohlwollen im «Vergnügen an der Glückseligkeit (dem Wohl-
sein) Anderer» (Metaphysik der Sitten, VI 452). Sie ist eine Form
von Mitmenschlichkeit oder Altruismus (lat. alter: der andere),
die andere auch ohne Gegenleistung zu fördern bereit ist.
Die Steigerung des Wohlwollens besteht in der Wohltätigkeit,
die anderen hilft, ohne dafür eine Gegenleistung zu erwarten.
Für Kant ist die Wohltätigkeit die erste der drei Liebespflichten,
vor der Dankbarkeit als der «Verehrung einer Person wegen ei-
ner uns erwiesenen Wohltat», und vor jener Teilnahme (Sympa-
thie), die sich sowohl in Mitfreude als auch in Mitleid zeigt und
in der Sensibilität für die Verletzbarkeit der Mitmenschen und
dem Mitleiden mit ihrer Not, ihrem Schmerz und ihrer Mühsal
besteht.
5. Urteilskraft

Die bisher genannten Tugenden sind Charaktertugenden. Sie


richten den Menschen auf moralisches Handeln aus, lassen aber
das konkrete Handeln offen. Für Überlegungen der jeweiligen
Lage und persönlichen Möglichkeiten ist eine eigene, jetzt intel-
lektuelle Tugend zuständig, eine moralische Urteilskraft. Diese
besteht in der Fähigkeit, mit Realitätssinn und gegebenenfalls in
Kritik ideologischer Täuschungen, auch Selbsttäuschungen das
persönlich und situativ Richtige zu bestimmen.

5.1 Klugheit Im Fall der eudaimonistischen Ethik heißt die Ur-


teilskraft Klugheit. Darunter ist nicht die Klugheit der Schlange
zu verstehen, jene Gerissenheit, die in jeder Lage ohne Rück-
sicht auf moralische Verbindlichkeiten nichts als den persönli-
chen Vorteil sucht. Gemeint ist eine intellektuelle Haltung, all-
fällige Situationsüberlegungen nicht moralisch beliebig oder so-
gar unmoralisch, sondern nur nach Maßgabe moralischer
Vorgaben anzustellen.
5. Urteilskraft 99

Die erste und für Jahrhunderte maßgebliche Bestimmung die-


ser Urteilskraft, im Griechischen phronêsis, im Lateinischen
prudentia, nimmt Aristoteles vor (Nikomachische Ethik VI, v. a.
Kap. 2–8 und Kap. 13). Er unterscheidet verschiedene Teilauf-
gaben und Teiltugenden. Dazu gehört die Wohlberatenheit
(euboulia), die konkrete Ziele überlegt und über Alternativen,
die Arten der Durchführung und mögliche Folgen nachdenkt.
Dazu zählt auch die Verständigkeit (synesis), die in Gemeinschaft
mit anderen das eigene Urteil über das moralische Richtige zu
finden vermag, und die geistige Gewandtheit (deinotês), die die
auf ein konkretes Ziel hin tendierenden Umstände geschickt zu
fassen und zu nutzen versteht. Dabei sind Urteilskraft-funktio-
nale Tugenden wie situative Geschmeidigkeit, Flexibilität und
Kreativität gefragt. Die Gewandtheit gilt aber im Unterschied
zur Gerissenheit (panourgia), die bei Machiavelli zur moralisch
indifferenten, gegebenenfalls sogar amoralischen Klugheit (pru-
dentia) aufsteigt, bei Aristoteles nur dort als ein Teilmoment der
Klugheit, wo sie sich der Verpflichtung auf das gelungen-ge-
glückte Leben unterwirft.

5.2 Moralische Urteilskraft in autonomer Moral Obwohl im


Rahmen einer autonomen Moral die Klugheit an moralischem
Rang verliert, bleibt sie gefordert und ihr formaler Kern ändert
sich nicht. Auch eine autonome Moral braucht eine moralische
Urteilskraft. Bei Kant spielt sie sogar eine dreifache Rolle:
Als empirisch-hermeneutische, noch moralisch indifferente
Urteilskraft sucht sie für die verschiedenen Handlungsfelder
und Lebensbereiche die zuständigen, zunächst alternativen
Maximen auf, für Notlagen beispielsweise die Maxime der
Hilfsbereitschaft oder im Gegenteil die der Hartherzigkeit. Un-
ter den alternativen Maximen werden dann mittels einer mora-
lischen Urteilskraft, nämlich des Gedankenexperiments der
strengen Verallgemeinerung, die moralischen gegen die nicht-
moralischen Maximen abgesetzt. Schließlich ist eine gegebene
Lage, hier eine konkrete Not, nach Maßgabe der moralisch
ausgezeichneten Maxime, der Hilfsbereitschaft, zu erschließen.
Dabei geht es nicht, wie der beliebte Ausdruck «Anwenden»
100 VI. Warum moralisch sein?

nahelegt, um eine mechanische Subsumption. Vielmehr ist im


Licht der Maxime die hermeneutische Aufgabe zu leisten, em-
pirische Faktoren mit dem normativen Faktor, der Maxime, zu
vermitteln. Dabei bleiben die genannten funktionalen Tugen-
den der Urteilskraft, insbesondere situative Geschmeidigkeit,
Flexibilität und Kreativität, kurz: ein esprit de finesse, gefragt.
Gegenüber Aristoteles ist für die autonome Moral lediglich die
mittlere Aufgabe, der Test der Verallgemeinerbarkeit, grund-
legend neu.

VI. Warum moralisch sein?

Eine gründliche Ethik darf der doppelten Frage nicht auswei-


chen, warum man moralisch sein will und warum man mora-
lisch sein soll. Diese Doppelfrage ist irritierend, da die Antwort
sich von selbst verstehen sollte und doch schwer zu geben ist.
Zu den Gründen der Schwierigkeit gehört, daß man sowohl
beim Moralischsein-Wollen als auch dem Moralischsein-Sollen
gern Mehrdeutigkeiten unterschlägt. Insbesondere läßt sich die
Doppelfrage auf drei unterschiedlich anspruchsvolle Weisen
verstehen. Sie entsprechen den drei Arten und zugleich drei Stu-
fen der Tugend und haben eine bescheidenere, eudaimonistische
Antwort, die der Lebenskunst, eine mittlere Antwort, die sei-
tens der Gerechtigkeit, und die im neuzeitlichen Verständnis
von Moral anspruchsvollste, rundum moralische Antwort zur
Folge.
1. Eudaimonie: Lebenskunst

Versteht man den Ausdruck «philosophisch» nicht zu eng, auf


möglichst wissenschaftliche Aussagen eingeschränkt, so tritt die
philosophische Ethik im Laufe ihrer Geschichte auch als Le-
benskunst, nämlich als Kunst, glücklich zu leben, auf. Gemeint
sind anwendungsorientierte Einsichten, die zeigen, wie man
sein Leben nicht bloß in abgrenzbaren Sachbereichen, sondern
1. Eudaimonie: Lebenskunst 101

als Ganzes glücklich-gelungen zu führen, folglich zu meistern


vermag. Insofern es einer eudaimonistischen Ethik auf die Be-
dingungen des guten und glücklichen Lebens ankommt, ver-
steht sie die Frage, warum moralisch sein, als ein Moralisch-
sein-Wollen und antwortet mit Glücklichsein-Wollen.
Nur Scharlatane preisen dafür genaue Regeln, Rezepte, an,
die ohnehin sich jeder verbitten würde, der selbstbestimmt lebt.
Philosophen begnügen sich mit Regeln zweiter Stufe, mit gewis-
sen Grundsätzen, Prinzipien bzw. Maximen, ergänzt um Metho-
den, mit deren Hilfe man moralisch schwierige Situationen zu
bewältigen vermag. Den Grundsätzen entspricht ein außerge-
wöhnliches know how, nämlich Lebenseinstellungen, die wegen
ihres positiven Wertes Tugenden heißen (s. Kap. V).
Die lange Tradition der philosophischen Lebenskunst erreicht
einen Höhepunkt in der griechischen und römischen Stoa und
in deren kreativer Wiederbelebung in der europäischen Morali-
stik. Die Lebensweisheit anderer Kulturen und Epochen darf
man freilich nicht vergessen. Während bei den üblichen Kün-
sten das Fachwissen rasch zu veralten pflegt, deutlich sichtbar
bei der Heilkunst, der Medizin, erweisen sich bei der Lebens-
kunst die Ratschläge der Alten als immer noch erstaunlich jung,
bei rechter Deutung fast so frisch und überzeugend wie vor vie-
len Jahrhunderten.
Ein Beispiel bietet der Trost der Philosophie, eines der bis ins
17. Jahrhundert hinein meistgelesenen philosophischen Bücher.
Verfaßt ist es von Boëthius, einem zu Unrecht angeklagten und
zum Tode verurteilten Philosophen, Theologen und hohen Be-
amten. Die um 523 n. Chr. entstandene, also über weit mehr als
tausend Jahre hochgeschätzte Schrift zeigt, wie man selbst ange-
sichts des Todes noch ein gelungenes Leben führt. Boëthius
spricht unter anderem über die Wankelmütigkeit des Schicksals
und das Gleichmaß der deshalb gegenüber dem Glück geforder-
ten Tugend. Bezeichnenderweise erscheint dem Verfasser im
Kerker nicht Christus, sondern die Philosophie. Wie eine See-
lenärztin, Psychotherapeutin, führt sie den von Empörung und
Trauer erschütterten Boëthius schrittweise zum Einverständnis
mit seinem Schicksal. Der entsprechende Weg läutert den Geist,
102 VI. Warum moralisch sein?

der aufgrund freier Zustimmung schließlich die anfängliche


Übermacht des Schicksals überwindet.
Idealtypisch gesehen entfaltet sich die Lebenskunst in drei
Grundmustern. Das erste Muster gibt die meist lockere Samm-
lung von Maximen und Reflexionen ab. In literarisch brillanter
Form präsentieren die europäischen Moralisten, also Autoren
von den Sieben Weisen Griechenlands über die Stoa bis La Ro-
chefoucauld, Lichtenberg, Goethe und Nietzsche, Überlegun-
gen zum guten Leben. Sie schließen skeptische Einwürfe oder
wie bei Adorno «Reflexionen aus dem beschädigten Leben» ein.
Das außereuropäische Gegenstück findet sich in der (Lebens-)
Weisheit anderer Kulturen, von Alt-Ägypten und Alt-Babylon
sowie den davon inspirierten Weisheitsbüchern Israels bis zu
hinduistischen, buddhistischen, konfuzianischen und daoisti-
schen Texten.
Fast immer ist der Stil wesentlich: Die großen Moralisten
pflegen ihre je eigene, mit der Sache eng verknüpfte Form der
Darstellung. Montaigne beispielsweise liebt in seinen Essais
(1580–88) die brüske Provokation. Ihr entschieden «momenta-
nistischer Individualismus» nimmt das jeweilige Jetzt der Exi-
stenz ernst: Jedes Ich ist anders, und das Ich im jeweiligen Au-
genblick ist weder mit dem Ich davor noch mit dem danach
identisch. Bei Nietzsche wiederum fallen der ätzende Sarkasmus
und eine Schule des Verdachts auf, die sich zwischen Pathos und
Ironie in der Schwebe hält.
Das zweite Muster besteht in sogenannten Utopien, die ideale
Verhältnisse eines guten Lebens, vor allem aber guten Zusam-
menlebens entwerfen (z. B. die gesunde Polis aus Platons Poli-
teia; Th. Morus’ Utopia, T. Campanellas Sonnenstaat, F. Ba-
cons Neu-Atlantis, J. V. Andreaes Christianopolis und E. Jün-
gers Heliopolis). Die Verfasser von Utopien schicken die
Vorstellungskraft auf Reise. Sie befassen sich mit dem Sehn-
suchtsglück (s. Kap. IV.1) und legen dabei den Schwerpunkt auf
die sozialen und politischen Rahmenbedingungen.
Die prinzipienorientierte Lebenskunst schließlich, die sich
auch praktische Philosophie nennt, sucht auf streng philosophi-
schem Weg, also in Verbindung von Begriff, Argument und Re-
1. Eudaimonie: Lebenskunst 103

flexion, Einsichten über ein gelungenes Leben (s. Kap. I.4). Die-
se prinzipienorientierte Lebenskunst erreicht schon in der Anti-
ke, bei Platon und Aristoteles, einen bis heute paradigmatischen
Höhepunkt. Über das Mittelalter bis weit in die Neuzeit, etwa
bei Spinoza und Leibniz, bleibt die Philosophie deren Prinzip,
dem Glück verpflichtet. Bald danach verliert sie es aber aus vier
Gründen aus dem Blick:
(a) Das Glück wird als untaugliches Fundament der Moral
erkannt und durch die Autonomie, die Selbstbestimmung des
Willens, abgelöst. Diese neue Pflichten- oder Sollensethik reicht
freilich in die Dimension der Lebenskunst hinein. (b) Nach Kant
soll auch die Moralphilosophie nach objektiv gültigen Aussa-
gen suchen, die es für das Glück unter anderem deshalb nicht
gebe, weil dessen Begriff inhaltlich zu unbestimmt sei. Aristote-
les hat aber in seinen Erörterungen der Tugenden, der Freund-
schaft, der Lust und der Willensschwäche, nicht zuletzt der
glückstauglichen Lebensformen exemplarisch gezeigt, daß ob-
jektive Aussagen möglich sind. (c) Die philosophische Lebens-
kunst erhält Konkurrenz, zum Beispiel durch eine empirische
Glücksforschung; diese macht jedoch die philosophische Le-
benskunst nicht arbeitslos. (d) Ein Nihilismus bezweifelt, daß
das menschliche Leben einen Sinn habe, von dem aus es als ge-
lungen oder mißlungen eingeschätzt werden könne.
Wer die philosophische Lebenskunst nicht naiv zurückgewin-
nen will, sieht in den vier Gründen keine unüberwindbaren
Hindernisse, wohl aber Schwierigkeiten, die er zu lösen sucht.
Ohne der Autonomie den Rang eines neuen Fundaments der
Moral abzustreiten, erweitert er die Ethik des Sollens um eine
Ethik des am Glück orientierten Könnens. Dabei verläßt er sich
nicht auf die Gewißheit eines Experten, auch nicht auf die eines
Propheten, der zu Buße und Umkehr aufruft. Er bleibt im Medi-
um von Begriff und Argument, das hier zu nicht mehr als einem
Grundriß-Wissen fähig ist (s. Kap. II.5).
Im Rahmen des Prinzips Glück beginnt er mit dessen Begriffs-
bestimmung, entwickelt daraus gewisse Kriterien und setzt mit
deren Hilfe Lebensformen, die das Glück erwarten lassen, ge-
gen jene ab, die das Glück strukturell verhindern. Weiterhin ar-
104 VI. Warum moralisch sein?

beitet er die Grundbausteine der glückstauglichen Lebensfor-


men heraus, nennt die Art und Weise, wie man sie erwirbt und
benennt grundlegende Hindernisse. Genaue Instruktionen da-
für, wie Individuen für sich oder mit anderen hier und jetzt
glückstauglich handeln, stellt er aber nicht auf. Somit bleibt das
individuelle und situative Handeln der Verantwortung der Han-
delnden, ihrer Begabung, Lage und kulturellen Umwelt über-
lassen, folglich inhaltlich offen.

2. Gerechtigkeit: Geschuldet

Innerhalb der wahrhaft moralischen Pflichten sind wie erwähnt


die bescheideneren Rechtspflichten von den anspruchsvolleren
verdienstlichen Pflichten zu unterscheiden. Bei der ersten, be-
scheideneren Gruppe, dem Inbegriff der Gerechtigkeit, ist die
Anerkennung der Moral geschuldet, woraus sich die Antwort
auf die Frage «Warum moralisch sein?» von selbst ergibt: Man
soll es, weil man es einander schuldet. Die Menschen haben ein
Recht darauf, weder betrogen noch bestohlen oder gar getötet
zu werden.
Weil jedermann dieses Recht hat, ist für die Anerkennung
dieser Moral die Rechtsordnung gefordert. Da sie sich zur
Durchsetzung der Sanktionen bedient, gibt es innerhalb der
zweiten Antwort einen zweiten Teil, der im Selbstinteresse grün-
det: Man soll und will zugleich moralisch sein, um den ange-
drohten Sanktionen zu entgehen. Diese beginnen mit der zivil-
rechtlichen Haftung und finden ihre härtere Form im Strafrecht.

3. Autonomie: Selbstachtung

Verdienstliche Pflichten wie die Wohltätigkeit reichen über die


geschuldete Rechtsmoral hinaus. Und selbst im Bereich der
Rechtsmoral gibt es die nicht mehr geschuldete Anerkennung,
daß man nämlich das Gerechte schlicht deshalb, weil es gerecht
ist, erfüllt.
Man kann freilich aus dem Grund wohltätig sein, daß man
sich vor Strafen im Diesseits oder Jenseits fürchtet oder weil
3. Autonomie: Selbstachtung 105

man mangelnden sozialen Respekt, vielleicht sogar soziale Äch-


tung befürchtet. Dann erfüllt man erst die Vorstufe der vollen
Moral, die moralische Legalität. Zur Vollendungsstufe, zur ve-
ritablen Moralität, gehört es, das moralisch Richtige, sowohl
das Geschuldete als auch das verdienstliche Mehr, aus keinem
anderen Grund zu erfüllen, als weil es moralisch richtig ist, also
der moralischen Pflicht lediglich aus Pflicht zu genügen.
Einen außermoralischen, dann notwendig vormoralischen
Grund für diese Moralität kann es nicht geben. Man darf zwar
die Antwort in einem persönlichen, dann aber außergewöhnli-
chen Vorteil suchen, weshalb auch hier das Moralischsein nicht
bloß den Charakter eines Sollens, sondern auch den eines Wol-
lens hat. Es handelt sich nämlich um einen «vorteilslosen Vor-
teil», und dieser liegt in einer Anerkennung des Moralischen um
seiner selbst willen. Hier will man moralisch sein, weil man jene
Art von Wesen sein will, in dem sich das eigene Menschsein, die
Humanität, vollendet.
Die Frage, warum moralisch sein, hat zusätzlich den Charak-
ter eines moralischen Sollens, einer moralischen Pflicht. Sie ist
aber nicht eine Pflicht gegen andere, sondern eine Pflicht gegen
sich. Nur, wer sich als moralisches Wesen konstituiert und die
Moral nicht nur aus autoritären oder aus pragmatischen Grün-
den befolgt, wer also diese besondere Vollkommenheitspflicht,
die Pflicht zur moralischen Selbstschätzung, zur Moralität, er-
füllt, wird der mit der Moralfähigkeit gegebenen Würde ge-
recht; er erbringt eine basale Eigenleistung. Wer dagegen die
Pflicht verletzt, entwürdigt sich selbst.
Die Motivationsfrage, warum man eine moralische Person
sein will und soll, erhält also eine gestufte Antwort. (1) Das Mi-
nimalinteresse sagt: um mit seinesgleichen erfolgreich zu überle-
ben; (2) ein mittleres Interesse: um im Zusammensein seine
Chance auf ein glücklich-gelungenes, gutes Leben zu erhöhen.
(3) Das gesteigerte Interesse beruft sich auf eine wechselseitige
Anerkennung als gleiche und gleichberechtigte Person. (4) Das
Optimalinteresse verlangt aber noch eine weitere Steigerung,
denn es erklärt: weil man nur so seine Möglichkeiten, ein guter
Mensch zu sein, strukturell ausschreiten und eine genuin mora-
106 VII. Angewandte Ethik

lische Person sein kann. Hier kann man die Moralität nicht
mehr von anderen, man muß sie von sich selbst einfordern, und
die Antriebskraft dazu liegt im Interesse an moralischer Selbst-
achtung.
Dieses Interesse an moralischer Selbstachtung darf man nicht
für gering halten. Denn nur dann kann man, um es salopp zu
formulieren, in den Spiegel schauen und ohne Überheblichkeit
sagen: «Ich bin einer der wenigen Menschen, die anständig
sind». Oder um erneut mit Platons Politeia zu sprechen: Der
moralisch Rechtschaffene, der rundum Gerechte, wird von
denen geachtet, auf die es ankommt: von jenen Personen, die es
verdienen, Freund zu sein, und von sich selbst, der sich dann
zum Kreis der wahrhaften Freunde zählen darf.

VII. Angewandte Ethik

1. Drei Kompetenzen

Selbst dort, wo sich die Moralphilosophie als praktische Philo-


sophie versteht, erörtert sie relativ allgemeine Fragen, mit denen
sie deshalb meist im akademischen Rahmen verblieb. Seit eini-
gen Jahrzehnten hat sich die Situation grundlegend geändert.
Mehr und mehr werden von der Ethik Orientierungsleistungen
samt Empfehlungen für so verschiedene Lebensbereiche wie die
Wirtschaft, die Gesellschaft und die Politik, wie die Medizin,
die Technik und den Umweltschutz, nicht zuletzt das persönli-
che Leben erwartet. Dafür ist eine angewandte und zugleich be-
reichsspezifische Ethik zuständig.
Die Angewandte Ethik bewegt sich im Zwischenbereich von
allgemeiner Ethik (Fundamentalethik) und der Erörterung kon-
kreter Fälle oder Falltypen. Sie untersucht wichtige Handlungs-
felder und Lebensbereiche unter moralischen Gesichtspunkten.
Dabei führt die zunehmende Differenzierung der menschlichen
Praxis zu einer wachsenden Spezialisierung der einschlägigen
ethischen Diskussion. Infolgedessen bilden sich innerhalb der
1. Drei Kompetenzen 107

Angewandten Ethik immer mehr Bereichsethiken heraus, wie


etwa die Bioethik, die Ethik des Datenschutzes, die der For-
schung und die der Gentechnik, die Medizinethik, die Politische
Ethik und die Technikethik, die Ethik von Tier- und Umwelt-
schutz, die Wirtschafts- und die Wissenschaftsethik.
In jeder dieser Bereichsethiken finden sich mehr und mehr
spezialisierte Teilbereichsethiken. Die Wirtschaftsethik bei-
spielsweise gliedert sich mittlerweile in eine Betriebs- und eine
Unternehmensethik, in eine Volkswirtschaftsethik und eine
Ethik der globalen Wirtschaftswelt. Besonders weit entwickelt
ist die Medizinethik, die sich beispielsweise spezialisiert auf das
Arzt-Patienten-Verhältnis, auf die Reproduktionsmedizin, auf
das Lebensende, auf etwaige Sterbehilfe, auf Gerechtigkeit im
Gesundheitswesen und viele weitere Themenbereiche.
Die Bezeichnung dieses Zwischenbereichs als Angewandte
Ethik ist mißverständlich, da der Ausdruck «Anwenden» an
eine logische Ableitung denken läßt. Eine angewandte Ethik
braucht zunächst jedoch drei Zuständigkeiten: Sie muß erstens
mit den Sachgesetzlichkeiten und Schwierigkeiten des jeweili-
gen Gegenstandes vertraut sein, was die Zusammenarbeit mit
den jeweiligen Fachleuten aufdrängt. Wer, bevor er sich in den
jeweiligen Sachbereich gründlich eingearbeitet hat, trotzdem
moralisch urteilt, am liebsten verurteilt, da auch voreilige Schel-
te mit Beifall rechnen kann, der macht sich argumentativ gese-
hen des moralistischen Fehlschlusses (s. Kap. II.4) und politisch
eines moralistischen Populismus schuldig.
Um sich nicht zu einer Ethik entwürdigen zu lassen, die sich
wie eine Fahne im Wind gesellschaftlicher Moden bewegt, um
statt dessen gegen einen Zeitgeistopportunismus ihre Prinzipi-
enfestigkeit zu wahren, braucht sich die Angewandte Ethik
zwar nicht auf den moralphilosophischen Binnendiskurs einzu-
lassen. Ohnehin kann sie die fundamentalethischen Kontrover-
sen etwa zwischen den ethischen Grundmodellen von Aristote-
lischem Eudaimonismus, Kantischer Autonomie, Bentham-
Millschem Utilitarismus und Nietzscheanischer Moralkritik
plus Rawlsscher Vertragstheorie und Habermas’ Diskursethik
weder aufheben noch auflösen.
108 VII. Angewandte Ethik

Klugerweise sucht sie daher aber zweitens eine argumentati-


onspragmatische Alternative. Sie zeichnet sich in der Einsicht
ab, daß moderne Gemeinwesen trotz der genannten Ethikkon-
troversen einen Konsens gefunden haben. Dieser tritt vor allem
in jenen Verfassungsgrundsätzen zutage, die moderne Gemein-
wesen miteinander teilen und die zu einem erheblichen Teil von
globalen Institutionen wie den Vereinten Nationen anerkannt
sind. Daher kann eine Angewandte Ethik dem Vorbild guter
Gesetzgeber folgen und sich gemäß der auf Aristoteles zurück-
gehenden topischen Methode so weit wie möglich auf unkon-
troverse Grundsätze berufen.
Die einschlägige argumentationspragmatische Alternative
beginnt mit einer Unterscheidung, die nicht bloß eine Kantische
Autonomieethik, sondern auch ein Aristotelischer Eudaimonis-
mus anerkennt, indem er nämlich der Gerechtigkeit gegen-
über den anderen ethischen Tugenden eine Vorrang zubilligt:
Man unterscheide den einander geschuldeten Anteil der Mo-
ral vom verdienstlichen Mehr und begnüge sich in der Regel
mit dem, was allein eine rechtliche Zwangsbefugnis erlaubt,
mit der einander geschuldeten Elementarmoral. (Sofern der Uti-
litarismus sich gegen diese Unterscheidung sperrt, verdient er
Kritik.)
Beim Geschuldeten wiederum knüpfe man an allgemein an-
erkannte Prinzipien an, die Medizinische Ethik zum Beispiel an
den Gedanken der unantastbaren Menschenwürde, an die
Menschenrechte auf Leib und Leben und auf Selbstbestim-
mung. Hinzukommen das Interesse an einem sinnerfüllten Le-
ben und Grundgedanken der Gerechtigkeit. (Mit ihnen hat der
überwiegende Teil des Utilitarismus Schwierigkeiten. Ihretwe-
gen verdient er erneut Kritik, der auch der sogenannte Gerech-
tigkeitsutilitarismus nicht wirklich entkommt.) Praktiziert man
nun die topische Methode, so taucht eine neue Schwierigkeit
auf: Die moderne Gesellschaft zeichnet sich durch eine Vielfalt
von Bekenntnissen und Religionen, zudem von Weltanschauun-
gen und Wertorientierungen aus, was den Bereich unkontrover-
ser Grundsätze einschränkt. Schon die Notwendigkeit eines
ebenso friedlichen wie gerechten Zusammenlebens der ange-
1. Drei Kompetenzen 109

deuteten Vielfalt erfordert die Anerkennung gewisser Grund-


sätze. Zu ihnen gehören außer der Menschenwürde die libera-
len Freiheitsrechte und elementare Grundsätze der Gerechtig-
keit (s. Kap. V.3). In diesem Sinn beruft sich die moderne
Rechtsgemeinschaft auf eine allgemeine Menschenvernunft. Da
freie Bürger diese Vernunft nicht nur sich, sondern allen Men-
schen zubilligen, rechnen sie, worauf die topische Methode ab-
hebt, mit allgemein anerkannten Grundsätzen.
Schwierig, zum Teil sogar enorm schwierig ist die dritte Auf-
gabe einer Angewandten Ethik: Mittels bekannter, auch aner-
kannter Grundsätze sind radikal neuartige Handlungsmöglich-
keiten zu beurteilen. Beispielsweise stand früher eindeutig fest,
wann der Mensch tot ist, nämlich nach einem nicht nur vor-
übergehenden Herzstillstand. Heute geht man von einem Pro-
zeß aus, bei dem sich die Frage stellt, welche der Stadien im Pro-
zeß jenen herausragenden Rang hat, der den Menschen für un-
strittig tot zu erklären erlaubt. Andere Fragen tauchen beim
Lebensbeginn auf, wieder andere bei der Reproduktionsmedi-
zin, bei der eventuellen Therapiebegrenzung, nicht zuletzt bei
der Mittelverteilung im Gesundheitswesen und bei der Mittel-
verteilung zwischen den öffentlichen Aufgabenbereichen von
Gesundheitswesen, Bildungswesen und Rechtspflege.
Weil sich derartige Beurteilungsfragen stellen, braucht es die
erwähnte Urteilsfähigkeit, die den jeweiligen Gegenstandsbe-
reich entweder, dem moralphilosophischen Binnendiskurs nahe,
im Lichte der Begriffe, Prinzipien und Argumentationsmuster
der allgemeinen Ethik wahrzunehmen, aufzuarbeiten und ein-
zuschätzen versteht oder, im Sinne des skizzierten argumentati-
onspragmatischen Vorgehens, sich auf allgemein anerkannte
Grundsätze beruft. Nicht zuletzt kann man diese zwei Metho-
den, das grundsätzlichere und das topische Vorgehen miteinan-
der kombinieren.
Selbst aus dem Zusammenspiel der genannten Kompeten-
zen – Sachkenntnisse, Aufgreifen unstrittiger Grundsätze und
Urteilsfähigkeit – ergeben sich selten relativ konkrete Verbind-
lichkeiten. In der Regel muß man sich mit bestimmten Gesichts-
punkten begnügen, für deren «Anwendung» in der jeweiligen
110 VII. Angewandte Ethik

Lage die oben genannten funktionalen Gesichtspunkte der Ur-


teilskraft erneut gefragt sind (s. Kap. V.5).
Bei diesem Zusammenspiel ist die Angewandte Ethik, na-
mentlich die Medizinethik, von der Gefahr eines Fehlschlusses
bedroht. Sie resultiert aus einem «moralischen Mantel», den
man sich gern umhängt, dem der «humanitären Ethik» des Hei-
lens und Helfens. Unter diesem Deckmantel beruft man sich
nicht selten auf die Diagnose einer «schuldhaften Verstrik-
kung». Danach befinde man sich in dem «tragischen Dilem-
ma», entweder an A, beispielsweise an heutigen menschlichen
Embryonen, oder aber an B, an zukünftigen Patienten, schuldig
zu werden. Denn an Embryonen würde zwar eine moralisch
nicht unbedenkliche Forschung vorgenommen. Sie eröffne aber
Diagnose- und Therapiemöglichkeiten für künftige Patienten,
die man beim Verbot verbrauchender Embryonenforschung
verspiele.
Diesem Rechtfertigungsversuch liegt ein humanitaristischer
Fehlschluß zugrunde. In seiner gravierendsten Gestalt verkennt
er das unterschiedliche Gewicht der moralischen Verpflichtun-
gen. Während die Elementarmoral, die einander geschuldeten
Rechtspflichten, notfalls mit Zwang durchgesetzt werden darf,
reichen die Mehrleistungen der Tugendpflichten in den Bereich
des Freiwilligen. Die zwangsbefugte Rechtsmoral genießt daher
den kompromißlosen Vorrang. In Übereinstimmung mit unse-
ren moralischen Grundintuitionen darf man im Namen der
Wohltätigkeit andere Menschen weder bestehlen noch betrügen
oder gar töten.
Freie Bürger pochen auf ihre Rechte und behalten sich die
Freiheit, aber nicht den Zwang zur Wohltätigkeit vor. Den hu-
manitaristischen Fehlschluß begeht nun, wer den grundsätzli-
chen Vorrang des Lebensschutzes vor dem Hilfsgebot verkennt.
Das ärztliche Ethos erkennt diesen Vorrang im zweiten hippo-
kratischen Grundsatz an: «primum nil nocere», als erstes darf
man nicht schädigen.
2. Angewandte Ethik als Preis der Moderne 111

2. Angewandte Ethik als Preis der Moderne


Mit der Moral verhält es sich ein wenig wie mit dem Geld: Erst
wenn sie knapp werden, geraten sie in den Strudel öffentlicher
Auseinandersetzung. Allerdings besteht auch ein feiner Unter-
schied: Über das Geld redet, wer selber zu wenig hat, über die
Moral meist, wer sie bei den anderen vermißt. Darum herrschen
in den entsprechenden Debatten so oft der moralische Zeigefin-
ger und eine Stimme der Empörung. Trotzdem ist es erstaunlich,
daß sich vor allem die technische und die medizinische For-
schung, aber auch die dynamische Wirtschaft häufig auf der An-
klagebank finden. Denn Technik und Medizin tragen als Säulen
unserer innovationshungrigen Zivilisation mit ihren humanitä-
ren Leistungen zum Wohlergehen der Menschheit bei. Und nur
wer geschichts- und erfahrungsblind ist, leugnet den Beitrag der
Wirtschaft zu einem früher unbekannten Wohlstand.
Ohne in Einzelheiten einzutreten, drängt sich eine Vorfrage
auf, die hier exemplarisch für Medizin und Technik behandelt
wird: Warum braucht die genannte Forschung, worauf sie frü-
her weitgehend verzichten konnte, warum benötigt sie heute
das Gespräch mit der methodischen Erforschung der Moral,
mit der philosophischen Ethik? Die Antwort ergibt sich aus Be-
sonderheiten der modernen und modernsten Forschung. Die
Neuzeit zeichnet sich durch zwei Evolutionsschübe aus: Durch
die Befreiung von einengenden Fesseln, also durch eine intellek-
tuelle Emanzipation, und durch eine aktive Bearbeitung der Na-
tur, indem man sich präzise Fragen, Hypothesen, ausdenkt und
mit Hilfe von Eingriffen, den Experimenten, auf Antwort
dringt. Dabei übersieht man gern eine moralische Folgelast; ih-
retwegen braucht die Forschung eine Kontrollmoral: Wer mit-
tels Experimenten in die Lebenswelt des Menschen eingreift,
lädt Verantwortung für das auf, was er in der Welt und an der
Welt tut, einschließlich für die Risiken, die er in die Welt setzt.
Weil neuzeitliche Forscher beispielsweise Mittel gegen Hun-
gersnöte, Unwetter, Seuchen und Krankheiten suchen, stellen
sie sich, zugespitzt formuliert, unter die neue Devise: Technik
und Medizin statt Metaphysik. Erneut lädt sich die neuzeitliche
112 VII. Angewandte Ethik

Forschung eine Folgelast auf, die die Ethik jetzt als ideologiekri-
tische Ethik auf den Plan ruft: Die Forschung wird für das Ein-
halten ihrer humanitären Versprechen verantwortlich. Dazu ge-
hört die Kritik von Allmachtsillusionen, derzufolge man mit ei-
nem Wortführer der Moderne, René Descartes (1596–1650),
annimmt, «daß man unendlich viele Krankheiten sowohl des
Körpers als auch des Geistes würde loswerden können, viel-
leicht sogar auch die Altersschwäche» (Abhandlung über die
Methode, 6. Teil).
Eine Verschärfung von Verantwortung tritt dort ein, wo die
in der frühen Neuzeit erst potentiellen Verantwortlichkeiten
massiv aktuell werden: Galilei kann den gefallenen Stein an sei-
nen alten Platz zurückstellen, freigesetzte Krankheitserreger las-
sen sich dagegen nicht «wieder einsperren». Ob dabei verhäng-
nisvolle Folgen drohen, weltweite Epidemien, vermag die philo-
sophische Ethik nicht zu entscheiden. Sie kann aber die hier
gebotene Verantwortung benennen und als Teil der Kontroll-
ethik eine Risikoethik entwickeln.
Weil der Mensch und er allein den Rang eines «Menschenwür-
de» genannten Selbstzweckes hat, trägt beim menschlichen Leben
die Forschung eine noch höhere Verantwortung. Das zuständige
Kriterium wird aus einer langen Tradition von Moral und Recht,
nicht zuletzt vom hippokratischen Verbot zu schädigen beglau-
bigt. Die philosophische Ethik bringt das Gebot «nur» auf den
Begriff der genannten Unterscheidung von geschuldeter Rechts-
moral und dem freiwilligen Mehr einer Tugendmoral. Sie erinnert
an den humanitaristischen Fehlschluß: daß man im Namen der
Tugendmoral, von Notwehr abgesehen, die Rechtsmoral nicht ver-
letzen darf. Vor allem darf man im Namen des Hilfsgebotes kein
menschliches Leben töten; man darf es nicht einmal schädigen.

3. Ethikberatung

Wegen der gewachsenen Bedeutung der Moral für die Moderne


ist angewandte Ethik mehr und mehr gefragt: sowohl von der
Öffentlichkeit und der Politik, namentlich dem Gesetzgeber, als
auch von Forschungseinrichtungen und deren Förderern, nicht
3. Ethikberatung 113

zuletzt von Wirtschaftsunternehmen und Finanzinstituten. Be-


sonders entwickelt ist die Medizinethik, die sich teils mit allge-
meinen Grundfragen ihres Sachbereichs, teils mit Einzelfällen
befaßt. Dort sind etwa gesamtstaatliche («nationale») Ethik-
kommissionen, hier Kommissionen einzelner Kliniken tätig. Ob
sie sich mit der Medizin, der Forschung, dem Datenschutz oder
mit anderen Bereichen befaßt – die Angewandte Ethik ist wegen
der genannten dreifachen Kompetenz methodisch komplexer
als die allgemeine bzw. fundamentale Ethik, folglich in metho-
discher Hinsicht auch schwieriger. Die Moralphilosophie allein
ist jedenfalls dafür nicht zuständig. Ob sie sich in einer Gruppe
oder, bei entsprechendem Sich-Kundig-Machen, in einer Person
vereinigt – die entsprechende Ethikberatung braucht eine inter-
disziplinäre Kompetenz.
Für die ethischen Grundbegriffe und Prinzipien bedarf es der
Moralphilosophie; für die jeweiligen Sachbereiche sind die je-
weiligen Fachkenntnisse (Ingenieure, Mediziner, Ökonomen
usw.) erforderlich, und für die Arbeit der Urteilskraft sind außer
Moralphilosophen auch Juristen, Moraltheologen bzw. Vertre-
ter der theologischen Ethik gefragt, sofern sie gewohnt sind, ge-
wisse Fallgruppen im Licht allgemeinerer Begriffe und Prinzipi-
en einzuschätzen.
Dabei drohen den Vertretern der verschiedenen Disziplinen
unterschiedliche Gefahren: Moralphilosophen und Moraltheo-
logen erliegen gern dem moralistischen Fehlschluß, der aus blo-
ßen Moralüberlegungen nähere Verbindlichkeiten zu bestim-
men glaubt. Fachvertreter dagegen neigen zur Überbewertung
der Sachanforderungen, mithin zum Sein-Sollensfehler (vgl.
Kap. II.4.1). Juristen wiederum überschätzen gern ihr Metier, das
bloß positive Recht. Und (christlichen) Moraltheologen droht
die Gefahr, die christliche Moral von Nächstenliebe und Barm-
herzigkeit überzubewerten und die bescheidenere, für die ange-
wandte Ethik aber meist allein entscheidende Rechtsmoral zu-
rückzudrängen.
Wie Beratung generell, so kann auch die Ethikberatung nie-
mandem, weder Privatpersonen noch Unternehmen noch der
Politik, die moralische Verantwortung abnehmen. Ohnehin gibt
114 VII. Angewandte Ethik

es nur für die Fachkenntnisse veritable Experten, obwohl auch


sie sich uneinig zu sein pflegen. Für die als zweites erforderliche
Kompetenz, die topische Seite des Vorgehens, die Arbeit mit an-
erkannten Grundsätzen, sind die jeweils Verantwortlichen,
letztlich die mündigen Bürger, selber zuständig. Denn sie müs-
sen die entsprechenden Grundsätze als von ihnen selbst aner-
kannt dignifizieren und sich gegebenenfalls dafür rechtfertigen.
Und manche Berufsgruppen bringen wie angedeutet für die drit-
te Kompetenz, die Urteilskraft, wegen ihrer professionellen
Aufgaben mehr Erfahrung als andere mit. Allerdings hat nie-
mand hier eine Sonderkompetenz.
Die Folge dieser Einschätzung der drei Kompetenzen liegt auf
der Hand: Ethikberatung kann nur Empfehlungen abgeben. Da-
für greift sie sinnvollerweise auf die bisherige öffentliche Dis-
kurslage, wenn es sie schon gibt, zurück, gibt ihr durch ihre
Empfehlungen und deren Begründung hoffentlich eine neue
Qualität, die weitere Debatten inspiriert und schließlich sowohl
informiertere als auch überlegtere Entscheidungen zu treffen er-
laubt.
4. Ein aktuelles Beispiel

Als Beispiel für das Vorgehen einer Ethikberatung im Rah-


men der Angewandten Ethik sei die Präimplantationsdiagno-
stik, abgekürzt: PID, gewählt. Ob man den Menschen säkular
als vernunftbegabtes Lebewesen bestimmt oder religiös als
Ebenbild Gottes – er hat die Fähigkeit und das Recht, nicht zu-
letzt die Pflicht, sein Leben selbst in die Hand zu nehmen. Das
schließt die künstliche Befruchtung nicht grundsätzlich aus. In-
sofern macht sich die Ethik als erstes sachkundig. Dabei stellt
sie fest, daß die PID streng genommen nur in einem Diagnose-
verfahren besteht. Angewandt wird es bei Eltern, die ein hohes
Risiko tragen, daß ihr Kind an einer schweren erblichen Krank-
heit leiden wird. Von diesem ersten Komplex ist die eventuell im
Anschluß erfolgende Auswahl unter mehreren Embryonen
streng zu unterscheiden. Dort ist der Arzt zuständig, hier allein
das Elternpaar, dabei vor allem die Frau, die das Kind auszutra-
gen hat.
4. Ein aktuelles Beispiel 115

Als nächstes überlegt sich die Ethik die Argumente des Dafür
und des Dagegen. Nach Ansicht von Gegnern sprechen gegen
die PID mindestens drei Argumente. Erstens gehe mit der PID
eine Zerstörung von Embryonen einher, was gegen deren Le-
bensrecht verstoße. Zweitens drohe die Gefahr einer Auswei-
tung der Indikationen, also die Gefahr eines Dammbruchs.
Drittens diskriminiere die PID die Menschen, die mit jenen
Krankheiten leben, zu deren Vermeidung die PID dienen soll.
Die Befürworter einer – selbstverständlich nur begrenzten – Zu-
lassung argumentieren vor allem mit den Interessen und Rech-
ten der Eltern. Wie sind die Argumente einzuschätzen?
Für Paare, die ein großes Risiko tragen, daß ihr Kind an einer
schweren erblichen Krankheit leiden wird, kann neben dem Er-
leben von Tod oder Fehlgeburt die lebenslange Versorgung ei-
nes schwerstkrankes Kindes ein Problem sein, das für sie sub-
jektiv, nicht selten aber auch objektiv kaum zu bewältigen ist.
Das Problem verschärft sich, wenn schon ein schwerstkrankes
Kind zu versorgen ist, wobei das Problem über die eigene Le-
benserwartung der Eltern hinaus besteht. Im übrigen kann die
Versorgung schwerstkranker Kinder auch zu lebenslangen ne-
gativen Folgen für andere Kinder des Elternpaares führen.
In ihrem dritten Schritt trennt die Ethik zwei Fragen ab, die
Frage «Was darf der Gesetzgeber erzwingen?» von der Frage
«Was erachte ich für mich als richtig und rate es Verwandten
und Freunden?» Ich beschränke mich auf die erste Frage. Hier
muß sich der Gesetzgeber vor Wertungswidersprüchen hüten.
Als nicht widerspruchsfrei erscheint eine Position, die dem frü-
hen Embryo (vor einer PID) in der Glasschale (in vitro) einen
höheren Lebens- und Würdeschutz zuerkennt als dem deutlich
reiferen Fötus im Mutterleib (vor der Pränataldiagnostik).
Daher legt sich zum genannten Beispiel die folgende Ein-
schätzung nahe: Man weiß seit Jahrhunderten, daß es schwere
Erbkrankheiten gibt. Einige davon lassen eine Totgeburt oder
den Tod des Säuglings bald nach der Geburt erwarten. Vor der
Möglichkeit der PID mußten sich die betroffenen Eltern ent-
scheiden, ob sie lieber ganz auf Kinder verzichten. Für sie stellt
nun die PID eine Chance dar, ein Kind zu bekommen, das der
116 VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral

Gefahr einer schwer erblichen Krankheit nicht ausgesetzt ist.


Das ist meines Erachtens ein erheblicher und seitens der Ethik
begrüßenswerter Fortschritt.

VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral

Moralische Argumente spielen in der Moderne eine tragende


Rolle, was das Gewicht der philosophischen Ethik stärkt. Trotz-
dem muß mit Widerspruch rechnen, wer der Moral Macht ein-
räumt, ohne diese postwendend als ohnmächtige Illusion zu ent-
larven. Damit erweist sich der Geist der Moderne als gespalten.
Von der Macht, zu der er der Moral seit langem zu verhelfen
sucht, ist er selber nicht überzeugt, und die vorherrschende Sozi-
altheorie nennt für diese (angebliche) Ohnmacht vier Gründe.
Erstens sei die Moral an Religion gebunden, weshalb die mo-
derne, säkularisierte Gesellschaft ihr bestenfalls im Privatleben
einen Platz lasse. Zweitens bezeichne die Moral etwas Unbe-
dingtes, sei folglich von Metaphysik abhängig und ebenso wie
diese überholt. Weiterhin bestehe die Gesellschaft aus autono-
men Teilgesellschaften, die je eigenen Verbindlichkeiten folgen,
was dem Begriff der Moral, ihrem Anspruch auf universale Gül-
tigkeit, widerspreche. Nach dem vierten, jetzt gegenläufigen Ar-
gument ist die Moral zwar lebenswichtig, aber in liberalen Ge-
sellschaften deshalb zur Ohnmacht verurteilt, weil sie hier nur
abgebaut, aber nicht regeneriert werden.
Wer nun die Moral, obwohl sie doch ihr Recht verloren habe,
trotzdem in Anspruch nimmt, treibt entweder Mißbrauch oder
erliegt einer Selbsttäuschung, einer Illusion.
Ein alltägliches Phänomen, ärgerlich zwar und doch weit ver-
breitet, erhebt jedoch gegen die Diagnose der Entmoralisierung
Einspruch. Denn über Macht verfügt auch, wer im Blick auf
moralische Verbindlichkeiten mit einem Skandal zu drohen ver-
steht, wer sich also zunächst zum Erpresser macht. Wer nun
glaubt, in der Erpressung trete nur Unmoral zutage – in der Ver-
VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral 117

gangenheit als moralischer Fehltritt des Erpressten, der in der


Gegenwart vom Erpresser schamlos ausgenützt werde –, der
verkennt die moralische Erfolgsbedingung. Die Erpressung
funktioniert nur, weil die eigene Mißachtung der Moral mit der
moralischen Reaktion der anderen rechnen darf. Wo das Auf-
decken vergangener Unmoral keine Empörung hervorruft, geht
die Erpressung ins Leere. Weil es aber häufig genug anders aus-
sieht, beweist Erpressung dreierlei: in der Empörung, wenn sie
als berechtigt erscheint, zeigt sie die Macht der Moral, beim Er-
presser einen Mißbrauch der Macht und beim Erpreßten, sofern
es um einen früheren Fehltritt geht, erneut einen Mangel der
Macht. Mindestens fünf Dinge teilen sich also die Herrschaft
über die Welt, neben den bekannten Faktoren, dem Geld, dem
Schwert bzw. Militär, dem Szepter, sprich der Politik, und den
Medien, zusätzlich die Moral.
Nach Max Webers berühmter Definition besitzt lediglich der-
jenige Macht, der «den eigenen Willen auch gegen Widerstre-
ben durchzusetzen» (1956, 28) versteht. Über die Vorbedin-
gung, den eigenen Willen, verfügt die Moral gewiß nicht. Trotz-
dem besitzt sie nicht bloß in einem metaphorischen Sinn Macht;
denn sie kann sich sogar grundlegender als andere Mächte ge-
gen Widerstreben durchsetzen: Selbst wenn das Schwert gezo-
gen ist, entscheidet die Moral, ob die anderen Machtmittel dem
Schwert zu Hilfe eilen oder sich ihm lieber verweigern, und vor-
ab, ob das Schwert nicht besser in der Scheide bleibt. Ähnliches
gilt hinsichtlich Geld, Politik und Medien. Die Moral, wenn sie
wirksam wird, bestimmt also die erste und zugleich letzte An-
triebskraft derer, die einen eigenen Willen haben, der natürli-
chen und der juristischen Personen.
Merkwürdigerweise pflegt man die Moderne im Namen der
Moral zu kritisieren, obwohl mindestens fünf Bereiche, die sich
im Kulturvergleich als besonders typisch modern erweisen – der
Komplex Naturwissenschaft-Medizin-Technik, die Demokra-
tie, die Menschenrechte, das rationale Wirtschaften und der So-
zialstaat – von moralischen Antriebskräften wesentlich mitbe-
stimmt sind. Beispielsweise dient der erste Bereich der Minde-
rung von Mühsal und der Sorge für die Gesundheit. Für das
118 VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral

rationale Wirtschaften spricht nach Adam Smiths berühmtem


Werk ein gemeinwohlfreundliches Ergebnis: Das Kapital erbrin-
ge geringen Gewinn, die Arbeit erhalte hohen Lohn, überdies
gebe es niedrige Preise, woraus ein früher unbekannter Lebens-
standard für breite Schichten folge. Und der moralische Rang
einer menschenrechtsverpflichtenden Demokratie liegt ebenso
auf der Hand wie der der Fortsetzung zur materiellen und bil-
dungspolitischen Absicherung. Analoges gilt für die Geistes-
und die Sozialwissenschaften, nicht zuletzt für die Religion, zu-
mindest das westliche Christentum.
Weil nun teils die Entstehung, teils die Veränderung der ge-
nannten Bereiche moralisch beeinflußt sind, hält weder die The-
se, in der Moderne sei die Moral überflüssig, gleichwohl wirk-
sam, noch die Gegenthese, sie sei ein knappes und nicht erneu-
erbares Gut, der Wirklichkeit stand. Die Macht der Moral ist in
der Moderne gewachsen.
Wird eine Epoche von moralischen Antriebskräften so viel-
fältig bestimmt und trotzdem im Namen der Moral kritisiert, so
drängt sich der Verdacht einer Fehldiagnose auf: Entweder die
Moderne oder aber ihre Kritik berufen sich zu Unrecht auf Mo-
ral. Weil aber für beide Seiten gute Argumente, und auch Ge-
genargumente sprechen, heißt die umfassendere Diagnose, in
Hegelschen Begriffen gestellt: Dialektik der Moderne. Ein erster
Grund der Dialektik liegt in der Art der moralischen Macht.
Eine erste moralische Macht, eine Initialmacht, unterwirft den
betreffenden Bereich, die Forschung, die Politik oder die Wirt-
schaft, einer Vorgabe und gibt ihn ansonsten den ihm eigentüm-
lichen Sachgesetzlichkeiten frei.
Eine bloße Initialmacht hat freilich die von ihr initiierte
Macht nicht voll in der Hand, weshalb weder der Komplex
Wissenschaft-Medizin-Technik noch das rationale Wirtschaften
oder die Politik der Rolle des Zauberlehrlings prinzipiell ent-
kommen. Deshalb ist zweitens die Moral als Kontrollmoral ge-
fordert. Zum Beispiel braucht es die Kontrollmoral bei Experi-
menten, die den geschlossenen Raum eines Labors verlassen
und in die gemeinsame Welt, teils die natürliche, teils die soziale
Welt, eingreifen.
VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral 119

Auf die Anschlußfrage nach ihrer Wirksamkeit stellt die Kon-


trollmoral keine Rezepte, wohl aber Kriterien bereit. Ein erstes
Kriterium sagt: Weil im Konkurrenzsystem «Wissenschaft»,
ähnlich in der Wirtschaft und der Medizin, selbst der Politik,
geringere moralische Skrupel einen Wettbewerbsvorteil erbrin-
gen, darf man sich auf die personale Gestalt der Moral, das Ge-
wissen, nicht verlassen. Damit der moralisch Handelnde nicht
als der Dumme dasteht, sind zusätzlich soziale und rechtliche
Vorkehrungen vonnöten. Diese müssen allerdings so flexibel sein,
daß sie die Kreativität der Forschung usw. nicht ersticken.
Macht pflegt zu korrumpieren, große Macht noch mehr. Zu
den deshalb erforderlichen Gegeninstanzen spielt neben der Tei-
lung der Macht die Moral eine besondere Rolle. Wäre die Welt
rein logisch eingerichtet, von Selbstwidersprüchen frei, so müß-
te bei der Moral die Korruptionsgefahr hinfällig werden. Die
Wirklichkeit belehrt uns eines Besseren. Die Macht der Moral
dient zum Beispiel der Macht ihrer Propheten und Priester, der
Moralisten, die aber nicht selten ihren hohen Standpunkt der
Moral in den Dienst recht gewöhnlicher Interessen stellen. Zu-
gespitzt: man redet moralisch und denkt politisch. Und weil die
Moral so mächtig geworden ist, wird kein Machiavellist von
heute darauf verzichten, seine eigennützigen Interessen mora-
lisch zu verbrämen.
Verbreitet ist zum Beispiel die Strategie der moralischen Dif-
famierung; Menschen, deren Ansichten man zutiefst ablehnt,
greift man am besten in ihrer moralischen Integrität an. Die be-
scheidenere Variante: Man wirft dem Gegner fehlende Moral
vor, obwohl er «nur» die Faktenlage anders beurteilt. Ähnlich
kann man politisch unerwünschte Themen abblocken; wer es
versteht, an der moralischen Integrität der Person Zweifel zu
säen, die eine mißliebige Debatte anstößt, kann oft die Debatte
selbst verhindern.
Einer zweiten Form von Mißbrauch erliegt so mancher Pro-
test, der, statt die in Demokratien erforderliche Überzeugungs-
arbeit auf sich zu nehmen, lieber Entscheidungen blockiert.
Drittens erspart man sich gern die Arbeit der Urteilskraft. Denn
die Moral bietet zwar klare Vorgaben, aber keine fertigen Ent-
120 VIII. Ausblick: Über die Macht der Moral

scheidungen. In der Biomedizin beispielsweise muß man sich


bei einem längst selbstverständlichen Prinzip, dem Lebens-
schutz, überlegen, ob es Embryonenforschung geben darf; fer-
ner ab welcher Woche ein Fötus, der den Mutterleib verläßt,
«alle nur erdenkliche medizinische Hilfe» verdient.
Eine vierte Mißbrauchsstrategie wird «jesuitisch» genannt,
obwohl sie eher durch den Jakobinerterror und die totalitären
Regimes der letzten Jahrzehnte bekannt ist. Danach soll der
Zweck die Mittel heiligen: Das Gemeinwohl erlaube, auch Un-
schuldige zu bestrafen; das Wohl der Zukunft berechtige, die
Gegenwart zu opfern usf. Besonders verbreitet ist die fünfte
Strategie, die der doppelten Moral: Man lebt nicht nach den
Maßstäben, die man an andere anlegt, oder man mißt Unrecht
mit verschiedenen Ellen.
Paradoxerweise bekräftigt derartiger Mißbrauch die Macht
der Moral; sie bekräftigt sie sogar in drei Hinsichten, also
gründlich. Bestätigt wird erstens der Rang der Moral: Interes-
sen zählen, Moral zählt mehr. Wie bei der Erpressung, so auch
beim Mißbrauch wird zweitens die Anerkennung der Moral be-
kräftigt: Nur weil man ihren überragenden Rang voraussetzen
darf, kann sich der Mißbrauch dieses Ranges lohnen. Schließ-
lich funktioniert die Kritik am Mißbrauch nur mittels der mora-
lischen Prämisse, daß der Mißbrauch, obwohl er dem Selbstin-
teresse zugutekommt, der Moral widerspricht.
Die Bilanz liegt auf der Hand: Als eine Instanz, die über die
Integrität einer Person, folglich über Selbst- und Fremdachtung
entscheidet, als eine Instanz, die unseren Blick auf die Welt und
die Antriebsrichtung prägt, als Instanz, die Erwartungen schafft,
das Recht verändert, dabei die Grenzen von Kulturen über-
schreitet und für deren Koexistenz mitzuständig ist, stellt die
Moral gewiß keine wehrlose Angelegenheit dar. In der Aktuali-
sierung freilich, eingespannt zwischen Macht und Ohnmacht,
überdies der Illusion und dem Mißbrauch ausgesetzt, bleibt die
Macht der Moral stets prekär.
Literatur

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Personenregister

Adorno, Theodor W. 76, 102 Geyer, Christian 51


Althusius, Johannes 81 Gierke, Otto von 81
Andreae, Johann Valentin 102 Goethe, Johann Wolfgang von
Anscombe, Gertrude Elizabeth 102
Margaret 60, 85 Goldberg, Elkhonon 51
Apel, Karl-Otto 66, 82 Gracian, Baltasar (Gracián) 75
Aristoteles 9, 12, 21–23, 27 f.,
34, 36, 47, 52 f., 56–58, 60, Habermas, Jürgen 66, 82, 107
74, 83–85, 93, 97, 99 f., 103, Hamlet 41
108 Hare, Richard Mervyn 30
Hartmann, Nicolai 27
Bacon, Francis 102 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich
Bentham, Jeremy 49, 53, 60–62 27, 32, 81
Binmore, Kenneth George 36 Heidegger, Martin 27
Boëthius 101 Herder, Johann Gottfried 13
Bohnen, Alfred 60 Herodot 74
Brentano, Franz 27 Hobbes, Thomas 22, 76, 81, 97
Buchanan, James 81 Holbach, Paul Henry Thiry d’
41, 51
Campanella, Tommaso 102 Hume, David 29, 32, 81, 98
Carlyle, Thomas C. 62 Husserl, Edmund 27
Christus 101
Jünger, Ernst 102
Darwin, Charles 76
Davidson, Donald 45 Kallikles 75
Descartes, René 112 Kant, Immanuel 20, 22 f., 28 f., 32,
36, 45, 53 f., 59 f., 68, 80 f., 84 f.,
Engels, Friedrich 60 92, 94, 98 f., 103
Epikur 58, 89 Köchy, Kristian 51
Foot, Philippa 35, 85 Korsgaard, Christine 66
Freud, Sigmund 55, 76
Lao Zi 89
Gadamer, Hans Georg 27 La Rochefoucault, François de 76,
Galilei, Galileo 112 80, 102
Gehlen, Arnold 11, 15, 78 Leibniz, Gottfried Wilhelm 103
Gewirth, Alan 66 Lichtenberg, Georg Christoph 102
Personenregister 125

Locke, John 81 Rawls, John 28, 31, 66, 80 f.


Luhmann, Niklas 78 Ritter, Joachim 27
Lukács, Georg 11 Rousseau, Jean-Jacques 81
Ryle, Gilbert 43
Machiavelli, Niccolò 99
MacIntyre, Alasdair 60 Scanlon, Thomas M. 31, 80
Marx, Karl 60, 76 Scarano, Nico 45
Mill, John Stuart 53, 60–62, Scheler, Max 11, 27
93 Schweitzer, Albert 49
Montaigne, Michel de 102 Shen, Vincent 89
Moore, George Edward 28, 30, Sidgwick, Henry 62
33 f. Skinner, Burrhus Frederic 51
Morus, Thomas 102 Skyrms, Brian 35
Smith, Adam 81, 118
Newton, Isaac 31 Sokrates 45, 62, 73, 93 f.
Nietzsche, Friedrich 14 f., 22, 53, Spinoza, Baruch de 81, 103
76–78, 102 Stederoth, Dirk 51
Nozick, Robert 81 Stemmer, Peter 80
Nussbaum, Martha 25, 60
Thomas v. Aquin 85
Ödipus 41 Thrasymachos 75, 94
O’Neill, Onora 66 Tomasello, Michaeö 41
Tugendhat, Ernst 80
Parsons, Talcott 15
Perler, Dominik 41 Waal, Frans de 41
Platon 13 f., 21, 28, 55, 58, 62, Weber, Max 117
75, 80, 83 f., 92–94, 102 f., Wild, Markus 41
106 Williams, Bernard 30
Plessner, Helmut 11 Wittgenstein, Ludwig 28, 40
Polonius 41
Pufendorf, Samuel von 81 Zeus 14
Sachregister

Anthropologie 11 ff., 20 Ethos 9 f., 13 f., 21, 25, 110


s. auch Conditio humana Eudaimonie, Eudaimonismus
Anthropozentrik 49 22 f., 36, 47 ff., 53 ff., 85 f., 97 f.,
Antirealismus 30 f. 100 f., 107 f. s. auch Glück
Autonomie 23, 36, 47 ff.,
53, 59, 65 ff., 103 f., 107 f. Fehlschluß
s. auch Freiheit genealogischer ~ 31, 77
humanitaristischer ~ 31, 110,
Besonnenheit 18, 58 f., 84 ff., 89 112
Böse, das 14, 16, 21, 31, 42, 77 metaphysischer ~ 33
moralistischer ~ 32 f., 113
Conditio humana 11, 24, 40 naturalistischer ~ 30, 33, 52
s. auch Sein-Sollens-Fehler
Determinismus 50 f. Freigebigkeit 59, 84 f., 87
Diskursethik 54, 80 ff., 107 Freiheit 37, 47, 51 ff., 65 ff., 73, 78,
s. auch Ethik 83, 89, 110 s. auch Autonomie
Fundamentalethik 23, 26, 106,
Ehrsucht 13, 88 113 s. auch Ethik
Emotivismus 17, 30
Ethik 7 ff., 16 f., 21 ff., 31 ff., 36 ff., Gelassenheit 58, 88 f.
43, 47 f., 53, 56, 65, 72, 78, 80, Gentechnik 107
83, 100, 106 f., 109, 111 f., 114 ff. Gerechtigkeit 68, 75, 80, 82, 90 ff.,
angewandte ~ 7 ff., 26, 106 ff., 94 ff., 100, 104, 107 ff.
112, 114 personale ~ 59 f., 84, 92 f.
aristolische ~ 80 politische ~ 20, 90 ff.
~beratung 112 ff. soziale ~ 91 ff.
deontologische ~n 53 Gesellschaftsvertrag 80 ff.
deskriptive ~ 11, 25 s. auch Kontraktualismus
interkulturelle ~-Diskurse 23 f. Gewissen 28, 45, 76, 119
kantische ~n 30, 65 ff., 80, 82 Globalisierung 9, 23, 92
präskriptive ~ 11, 25 f. Glück 13, 22, 47 ff., 53 ff., 61 ff.,
s. auch Präskriptivismus 64, 66, 69, 90, 98, 101 ff.
teleologische ~n 53 f. s. auch Eudaimonie
s. auch Diskurs~, Fundamental~, Grund 17 ff., 21, 30, 42 ff., 51 f.,
Medizin~, Meta~, Rechts~, 71, 82, 104 f.
Sozial~, Staats~ Grundriß-Wissen 36 f., 85, 103 f.
Sachregister 127

Gute, das 14, 16 ff. 25 f., 29, 34 ff., Medizinethik 107 f., 110, 113
38, 42, 47, 49, 61, 67, 74 s. auch Ethik
Metaethik 28 f., 31, 62
Habsucht 13, 87 f. s. auch Ethik
Handeln 17, 26 f., 37, 50, 53, 56 ff., Methode, ~n 7 f., 22, 25 ff., 31, 77,
63, 65 f., 69, 72, 83, 98, 104 80, 101, 108 f.
bewußtes ~ 38 ff. Mitgefühl, Mitleid 21, 89, 76 ff.,
freiwilliges ~ 38 ff. 89 f., 98
Handlungsfreiheit 39, 51, Moderne 36, 111 f., 116 ff.
65 ff., 81 Moral 8, 10 ff., 14 ff., 19 ff., 23 ff.,
Handlungstheorie 8, 38, 43, 45 31, 33 f., 36, 38, 42, 45, 53, 59,
Heiterkeit 89 62, 72 ff., 76 ff., 84, 92, 94, 99 f.,
Hermeneutik 27 f. 103 ff., 108, 111 ff., 116 ff.
Herrschsucht 13, 88 ~kritik 23, 53 f., 73 ff., 97, 107
Moralität 45, 66, 76, 92, 105 f.
Imperativ 11 f., 32, 61, 67 ff. Motiv 42, 44, 50, 61
hypothetischer ~ 19, 68 f.
kategorischer ~ 19 f., 36, 67 ff. Nächstenliebe 21, 76 f., 97, 113
pragmatischer ~ 18, 32, 67 f. Natur 9 ff., 15 f., 29, 50, 55, 70,
technischer ~ 17, 67 87, 96, 111
Internalismus 44 f. Naturalismus 30, 34 f.
Intuitionismus 30, 62 Nonkognitivismus 29

Klugheit 60, 72, 83 ff., 98 f. Phänomenologie 27


s. auch Urteilskraft Philosophie, praktische 21 f. 25,
Kognitivismus 30, 39 27, 36 f., 57, 102, 106
Kollektivwohl 19, 23, 53, 60 ff. Präimplantationsdiagnostik
s. auch Utilitarismus 114 f.
Kommunitarismus 27 Präskriptivismus 30
Kontraktualismus 54, 80 ff. s. auch präskriptive Ethik
s. auch Gesellschaftsvertrag,
Vertragstheorie Rationalität 14, 17 ff., 40, 42
Kultur 9 ff., 16, 21, 24 f., 34, Realismus 30 f.
40, 71, 74 f., 89 ff., 101 f., Rechtsethik 10 s. auch Ethik
120 Rechtsmoral 20, 49, 78, 104, 110,
112 f.
Lebenskunst 7, 54, 56, 60, 100 ff. Relativismus, ethischer 23 f., 31,
Legalität 45, 66, 92, 105 36, 72 ff.
Reproduktionsmedizin 107, 109
Maximen, Maximenethik 72 f., 66,
69 ff., 80, 99 ff. Sanktion 45, 52, 104 s. auch Strafe
Medizin 8, 13, 101, 106, 111, 113, Sein-Sollensfehler 31 ff., 113
117 ff. Selbstachtung 86 f., 94, 104, 106
128 Sachregister

Selbstinteresse 54, 76, 81, 85 f., 89, Umwelt 7, 36, 66, 91, 104
97, 104, 120 Urteilskraft 37, 72, 98 ff., 110,
Sitten 10 f., 14 f., 74 f. 113 f., 119 s. auch Klugheit
Solidarität 21, 76, 94 ff. Utilitarismus 18, 30, 33, 53 f., 56,
Sozialethik 10 s. auch Ethik 60 ff., 107 f. s. auch Kollektivwohl
Staatsethik 10 s. auch Ethik
Strafe 41, 45, 68, 92, 104, 120 Vernunft, praktische 12, 18, 20,
s. auch Sanktion 25, 29, 40, 42, 49, 56, 67 f.
Streben 40, 47 ff., 56 f., 87
Syllogismus, praktischer 45 f. Wirtschaft 7, 78, 106 f., 111, 118 f.
Willensfreiheit 48 f., 65
Technik 7, 13, 106 f., 111, 117 f. Wissenschaft 13, 28 f., 50, 54, 78,
Tugend 8, 35 f., 58 ff., 72, 74, 80, 118 f.
83 ff., 98 ff., 108 Wohltätigkeit 94, 97 f., 104, 110
~ aus Selbstinteresse 86 ff. Wohlwollen 21, 90, 97 f.
~ des Geschuldeten 90 ff. Wollen 44, 47 f., 50, 65, 100 f.,
verdienstliche ~ 94 ff. 105

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