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Gegenwarten
Herausgegeben von
A. Nassehi, München, Deutschland
I. Saake, München, Deutschland
Unter diesen drei programmatischen Vorzeichen wird die Reihe „Studien zu einer
Gesellschaft der Gegenwarten“ in loser Folge Bände präsentieren, die dieses Para-
digma weiter entwickeln werden.
Herausgegeben von
Prof. Dr. Armin Nassehi
Dr. Irmhild Saake
Ludwig-Maximilians-Universität München
München
Deutschland
Armin Nassehi
Irmhild Saake
Jasmin Siri
(Hrsg.)
Irmhild Saake
Institut für Soziologie
Ludwig-Maximilians-Universität
München, Deutschland
Springer VS
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung,
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Inhaltsverzeichnis
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen ������������������� 13
Armin Nassehi
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele. Zum politischen Umgang
mit Tod und Verwundung am Beispiel des Afghanistaneinsatzes der
Bundeswehr ��������������������������������������������������������������������������������������������������������������� 95
Dinah Schardt
V
VI Inhaltsverzeichnis
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale ��������������������� 173
Jasmin Siri
Dominik Kunz, lic. Phil., hat Soziologie und soziale Arbeit in Freiburg i. Ü. und
an der LMU München studiert. Er arbeitet als Coach und Lehrer in der Berufsin-
tegration von Jugendlichen.
Dr. Armin Nassehi ist Professor für Soziologie an der LMU München. Zu sei-
nen Arbeitsschwerpunkten gehören neben soziologischer Theorie die Wissens-,
VII
VIII Die Autorinnen und Autoren
Dr. Jasmin Siri ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Soziologie der
LMU München. Ihre Arbeitsschwerpunkte sind politische Soziologie, insbes. poli-
tische Organisationen, soziologische Theorie und Gender Studies. Zuletzt erschie-
nen: NSU-Terror. Ermittlungen am rechten Abgrund (mit Imke Schmincke),
transcript Verlag 2013. Im Erscheinen bei Springer VS: Lehrbuch Parteiensoziologie.
Dr. Martin Stempfhuber ist Gastprofessor für Soziologie an der Fakultät für Wirt-
schafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg. Seine Arbeitsschwer-
punkte sind Intimitätssoziologie, soziologische Theorie und qualitative Methoden.
Letzte Veröffentlichungen: Paargeschichten. Zur performativen Herstellung von
Intimität (2012); ‚Disorderly Conduct‘. On the Unruly Rules of Public Communi-
cation in Social Network Sites (mit Elke Wagner) (2013).
ihm herausgegebene Sammelband „Die Gesellschaft der Daten - Über die digitale
Transformation der sozialen Ordnung“ erscheinen, der sich der Frage nach gesell-
schaftstheoretischen Perspektiven auf digitale Medien widmet.
Nassehi 2006, S. 50 ff., 155 ff., 350 ff.). Man kann dann etwa an Gesellschaftstheo-
rien studieren, wie diese in ihre Begriffe bereits moralische Geltungsbedingungen
eingebaut haben, die sie eigentlich erklären müssten, anstatt sie vorauszusetzen. Es
fällt der Soziologie dabei kaum auf, dass gute Gründe und kritische Überzeugungen
keineswegs unhintergehbare soziale Faktizitäten sind, sondern selbst wiederum
nur moralische Forderungen und Geltungsansprüche – und dass sie ihre Faktizität
entfalten. Insofern lässt sich die sowohl theorietechnische als auch alltägliche Not-
wendigkeit von solchen Forderungen als soziales Faktum verstehen, das man em-
pirisch untersuchen kann. In den Fokus geraten dann nicht ethische Theorien und
ihre Begründungsalgorithmen, sondern die Faktizität ethischer Kommunikationen
rückt selbst in den Blick.
Dies ermöglicht dann auch ein anderes, ein soziologisches Verständnis von
Moral, wenn man sie aus diesem Zusammenhang von großer Ethik und kleiner
Moral, von systematischem Entwurf und unzusammenhängendem Rezeptwissen
des Alltags befreit. Moral verweist im Alltag typischerweise nicht auf ein ganzes
System, und sie ist eigentlich auch gar nicht die dümmere kleine Schwester der
Ethik, sondern lediglich die nicht-akademische Anwendung der Frage danach, was
gut und richtig ist. Sie kommt üblicherweise mit weniger Reflexionslasten aus und
tritt deshalb unvermittelter auf. In dieser Form lässt sie sich gut instrumentalisie-
ren, um Nein-Stellungnahmen unwahrscheinlich zu machen. Sie zwingt den Ande-
ren zum betretenen Schweigen oder aber erst recht zum dezidierten Widerspruch,
der dann selbst wiederum moralische Form annimmt.1 Wer moralisch kommuni-
ziert, bewaffnet sich mit Vorwürfen, denen man nur entgehen kann, wenn man
sich schnell mit dem Angreifer solidarisiert oder sich der weiteren Kommunikation
entzieht. Ebenso wie im Falle der ethischen Kommunikation lässt sich jedoch auch
hier eine Inflation des Moralischen beobachten. Aus der Perspektive einer middle
range-Theorie könnte man dies für ein Problem halten, würde vielleicht den mo-
ralischen Baldachin einer modernen Gesellschaft für zerstört halten (Berger 1967)
und müsste dann mit einer Vielzahl an Relativierungen rechnen. Der Vorteil von
großen Gesellschaftstheorien ist es jedoch, für Zeitdiagnosen nicht nur die gegen-
wärtige Gesellschaft als Horizont zu haben, sondern sich – auch wenn dies nur ge-
1
Niklas Luhmann setzt hier an, aber auch nur hier. Ihn interessiert eigentlich nur, dass die
gute Seite von moralischer Kommunikation nur so lange sichtbar ist, wie sich die Kommuni-
kationsteilnehmer den moralischen Erwartungen fügen. Dass es andernfalls zu Streit kommt
– oder zum Abbruch der Kommunikation, ist für ihn der Beweis dafür, dass moralische
Kommunikation selbst nicht gut sein kann (Luhmann 2008). Jenseits dieser Frage ist aber
interessant, wie die Maschinerie der moralischen Kommunikation eigentlich in Gang bleibt
und welche Lösungen sie produziert. Diese Frage soll hier in diesem Band im Vordergrund
stehen.
Ethik – Normen – Werte. Eine Einleitung 3
Dass sich die moderne Gesellschaft nicht länger durch Moral integrieren und
sich somit auch nicht als moralische Einheit beschreiben lässt, ist ein soziologischer
Allgemeinplatz. Der Beitrag von Julian Müller fragt nach den Gründen dieser un-
übersehbaren Schwächung des Moralischen und findet eine mögliche Erklärung in
der ‚Erfindung‘ der Mode. Das Auftauchen der Mode im semantischen Haushalt
der modernen Gesellschaft ist ein deutliches Anzeichen dafür, dass spätestens seit
dem 17. Jahrhundert immer mehr gesellschaftliche Phänomene vor dem Hinter-
grund erwartbarer Veränderungen beobachtet werden: das gilt zunächst für Ma-
nieren, Tischsitten und Kleidungsmoden, aber zunehmend auch für Fragen der
Politik, der Ästhetik, der Wissenschaft und eben der Moral.
Jasmin Siri beschäftigt sich anschließend mit dem Verhältnis von Politik, Mas-
senmedien, Öffentlichkeit und Moralkommunikation am Beispiel politischer
Skandale. Sie argumentiert, dass politische Skandale weder auf eine Krise der po-
litischen Öffentlichkeit, noch auf Fehler politischer Parteien oder der Demokratie
als Regierungsform hinweisen. Skandale sind vielmehr als Lösung für den Umgang
mit dem Problem der Pluralisierung demokratischer Öffentlichkeit zu verstehen.
Im politischen Skandal kommen Politik, Massenmedien, Organisationen und di-
versifizierte Publika der Demokratie zusammen. Aus differenzierungstheoreti-
scher Perspektive kann der Skandal so als ein Effekt funktionaler Differenzierung
und als Lösung für die Erfahrung der Differenzierung betrachtet werden.
Der dritte Block vereint unter dem Titel Die Ethisierung der Moral fünf Studien,
in denen es vor allem um die Entstehung von organisationsinternen Kontexten
geht, die eine ethische Kommunikation pflegen. Dieser Abschnitt beginnt mit dem
Wiederabdruck eines Beitrags von Irmhild Saake und Dominik Kunz mit dem Ti-
tel „Von Kommunikation über Ethik zu ‚ethischer Sensibilisierung‘“, der erstmals
2006 in der „Zeitschrift für Soziologie“ erschienen ist. In dieser Studie steht der
Zusammenhang zwischen dem Habermasschen moralischen Diskurs und seiner
systemtheoretischen Reformulierung als Symmetrisierungsleistung von ethischen
Diskursen im Mittelpunkt. Das empirische Material, an dem dieser Zusammen-
hang dargestellt wird, sind Interviews mit Mitgliedern klinischer Ethikkonsile, die
die Symmetriepostulate eines an Konsens orientierten Verständigungsprozesses so
ernstnehmen, dass sie auch die Asymmetrie, die mit der Überlegenheit eines besse-
ren Arguments verbunden ist, für problematisch halten.
In dem darauf folgenden Beitrag fragen Gina Atzeni und Katharina Mayr am
Beispiel der Ethikkommissionen des Arzneimittelrechts und Klinischer Ethik-
Komitees nach dem Verhältnis professioneller und ethischer Expertise. Die sehr
unterschiedlichen Formen ethischer Rede in den beiden Gremientypen reagieren
auf das Problem, dass die gesellschaftliche Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkei-
ten monoprofessionelle Entscheidungslagen problematisch werden lässt. Entgegen
8 A. Nassehi et al.
der weit verbreiteten These von der Deprofessionalisierung des Arztes und anderer
klassischer Professionen kommen sie zu dem Schluss, dass ethische Expertise kei-
neswegs professionelle Expertise ersetzt, sondern vielmehr einen Modus darstellt,
in dem die radikale Unterschiedlichkeit professioneller Perspektiven handhabbar
gemacht wird, ohne sie je harmonisieren zu können.
Elke Wagner stellt in ihrem Beitrag die Frage, wie sich empirisch eine ethi-
sche Praxis innerhalb von Organisationen einstellt. Sie stößt anhand der ethno-
grafischen Analyse von Sitzungen klinischer Ethikkomitees auf eine unbestimmte
Kommunikationspraxis, die sich als funktional für die Einstellung einer ethischen
Gegenwart erweist. Die Unbestimmtheit von Ethik ermöglicht den Teilnehmern an
den Sitzungen über alles reden zu können, was innerhalb des Organisationsalltags
keine Rolle spielen kann. Gleichzeitig erzeugt die Unbestimmtheit von Ethik Fol-
geprobleme: wie kann sich die ethische Rede unter diesen Bedingungen innerhalb
eines Organisationsalltages bewähren, wenn sie vordringlich auf Unbestimmtheit
und Offenheit, nicht aber auf entscheidungsförmige Kommunikation abstellt? Der
Beitrag arbeitet empirisch unterschiedliche Lösungsstrategien heraus, woran sicht-
bar wird, wie sich die Kontextur des Ethischen innerhalb von Organisationshierar-
chien behaupten kann.
Florian Süssenguths widmet sich der Frage, warum die Warnung vor einer dro-
henden Rationierung im Gesundheitswesen innerhalb des medizinethischen Dis-
kurses höchst plausibel und anschlussfähig ist, in der politischen Debatte und in-
nerhalb Klinischer Ethikkommittees in Krankenhäusern aber auf den ersten Blick
kein Gehör findet. Der Beitrag arbeitet am empirischen Material heraus, wie die
Ökonomisierung des Gesundheitswesens in Klinischen Ethikkommittees statt-
dessen als Organisations- und Professionskritik verhandelbar gemacht wird und
schließt mit einer kurzen Skizze der Konsequenzen dieses Befundes für die For-
schungsprogrammatik der Medizinethik.
Mikko Virtanen analysiert in seinem englischsprachigen Beitrag medizinethi-
sche Diskurse am Beispiel des finnischen „National Advisory Board on Social
Welfare and Healthcare“ (ETENE). Funktionale Differenzierung der Gesellschaft,
so Virtanen, führt zur Auslagerung medizinethischer Probleme in Kommissionen
und gleichzeitig zu Präventionslogiken, die vom Ideal der Individualanamnese auf
statistische Daten umstellen. Am empirischen Fall des Diskurses um „Evidence
Based Medicine“ (EBM) zeigt Virtanen, wie widerstreitende Funktionslogiken die
medizinethische Kommunikation strukturieren und unterschiedliche Formen der
Kommissionsarbeit in medizinischen Organisationen hervorbringen.
Alle hier versammelten Texte verstehen sich als Teil eines Münchener For-
schungszusammenhangs, in dem systemtheoretische Perspektiven mit Hilfe des
Konzepts einer „Gesellschaft der Gegenwarten“ auf empirische Anwendungsfälle
Ethik – Normen – Werte. Eine Einleitung 9
Literatur
Berger, P. L. (1967). The sacred canopy: Elements of a sociological theory of religion. Garden
City: Doubleday.
Luhmann, N. (2008). Die Moral der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Nassehi, A. (2006). Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Teil I
Soziologie als Reflexionstheorie der Ethik
Die „Theodizee des Willens“ als
Bezugsproblem des Ethischen
Armin Nassehi
A. Nassehi ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität, München, Deutschland
E-Mail: armin@nassehi.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik − Normen − Werte, Studien zu einer 13
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_2,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
14 A. Nassehi
Von hier aus könnte man vorschnell ein praxistheoretisches Argument anfü-
gen – was allerdings hieße, den gesamten Kosmos einer begründenden Perspek-
tive aus dem Blick zu verlieren. Aber genau darum soll es hier ja gehen. Ethik als
Begründungspraxis rechnet exakt mit einer begründenden Handlungstheorie und
–praxis – und letztlich war diese Handlungstheorie auch konstitutiv für die ge-
samte moderne Theorieform, die als Aufklärung und Emanzipation nur verstehbar
werden kann, wenn man bedenkt, wie aufregend es einmal war, zu behaupten, die
Menschen handelten aus guten Gründen und nicht aus Herrschafts-, Gewohnheits-
oder gar aus Gründen göttlicher Vorsehung. Das Handeln ist letztlich der „Rea-
litätsmodus des Moralischen“ (Tyrell 1998, S. 104). Das Sapere Aude! War nicht
einfach eine Geschmacksfrage, sondern muss historisch verstanden werden, bevor
man es als alteuropäischen Ballast loswerden will – wenn überhaupt.
Die Geschäftsgrundlage aller neuzeitlichen Handlungstheorien war das, was ich
bereits in früheren Arbeiten eine Theodizee des Willens genannt habe. Ich werde
diese Argumentation hier zunächst wiederholen (vgl. dazu Nassehi 2009), bevor
ich dann in einem nächsten Schritt auf die gesellschaftstheoretischen Vorausset-
zungen und Folgen solcher Handlungstheorien zu sprechen komme. Das Argu-
ment beginnt so: Einerseits wurden Menschen als Subjekte nun mit einem Willen
ausgestattet und damit mit der Fähigkeit und mit der Notwendigkeit der Begrün-
dung ihrer Handlungen. Zwischen Handlungsdruck und Handlungsdruck wurden
kontingente Maximen gesetzt. Denn von Handeln ist nur dann zu sprechen, wenn
man auch anders handeln könnte, so dass das, was als Handeln geschieht, in Form
von Begründungen verdoppelt werden muss. Die Praxis der Begründung rechnet
also damit oder reagiert darauf, dass die Freigabe des Handelns an die Maximen
und Gründe des Handlungsträgers das Risiko des falschen, des unvernünftigen, des
unangemessenen Handelns radikal erhöht – was dann durch eine Aufwertung der
Praxis des Begründens aufgefangen werden muss. Die Theodizee des Willens be-
handelt also die Frage, wie die Vernunft es zulassen kann, dass vernünftige Akteure
unvernünftig handeln.
Während die antike Ethik etwa des Aristoteles noch eher an einem Ethos interes-
siert war, an der tugendhaften Inszenierung eines gelungenen Lebens, hat bereits
die christliche Ethik des Mittelalters stärker auf den Zusammenhang individueller
Schuld und Erlösung gesetzt. Nicht mehr nur die äußerlich sichtbare Gestalt ei-
nes gelebten Ethos mit lebenspraktischer Inszenierung eines gelassenen Lebensstils
16 A. Nassehi
stand nun im Vordergrund, sondern bereits die nach innen verlegte Motivlage im
Zusammenhang mit persönlicher Schuld und Verantwortung. Das lässt sich be-
reits in den spätantiken Texten des Augustinus ablesen, dessen Biographisierung
der Selbstbeschreibung als Bekehrungsgeschichte den individuellen Willen ent-
deckt, dessen Quelle zwar Gott ist, der aber eben doch nur in der individuellen
Motivlage aufgefunden wird (vgl. Augustinus 1982, S. 261 f.). Am ausgeprägtesten
findet sich diese Versöhnung des griechischen Ethos mit der christlichen Idee des
individuellen Willens in Thomas von Aquins Implantierung des „Naturgesetzes“ in
die menschliche Vernunft, die Thomas im Sinne einer kognitiven Autonomie des
einzelnen Menschen versteht (vgl. von Aquin 1977, Qu. 94). Versöhnt werden soll
hier semantisch der individuelle Wille mit dem allgemeinen Naturgesetz, also die
individuelle kognitive Entscheidungsfähigkeit mit einer (noch göttlich gegebenen)
Allgemeinheit.
Wiewohl es hier noch um die Versöhnung von Theologie mit der (griechischen)
Vernunftphilosophie geht, wird doch recht deutlich, dass eine Versöhnung indi-
vidueller kognitiver Möglichkeiten und einer Allgemeinheit wohl schon auf die
Erfahrung reagieren muss, dass diese beiden Seiten getrennt voneinander gedacht
werden können. Das grundlegende Bezugsproblem des ethischen/moralischen
Diskurses, nämlich das Risiko, sich auf Entscheidungen von einzelnen verlassen zu
müssen, wo es um Integration und Ausschluss unerwünschter Möglichkeiten geht,
wird bei Thomas bereits bearbeitet. Es ist vom „Gesetz“ die Rede, also von einer
rechtsförmigen Semantik, deren Bezugsproblem vor allem darin liegt, wie indivi-
duelle Handelnde an überindividuelle Normen gebunden werden können und wie
die Norm sich durchsetzt. Hier deutet sich bereits das an, was Jürgen Habermas
in seiner hegelianischen Rekonstruktion des Verhältnisses von Ich-Identität und
kollektiver Identität als Grundzug von Modernisierungsprozessen herausgearbei-
tet hat. Modernität bedeutet in diesem Zusammenhang, „daß damit die Spaltung
zwischen einer in universalistischen Strukturen gebildeten Ich-Identität und der an
Volk oder Staat haftenden kollektiven Identität unausweichlich wird. Die sittliche
Totalität, in der jedes Individuum in der unendlichen Selbständigkeit des anderen
Individuums die vollständige Einheit mit ihm anzuschauen die Möglichkeit hat,
wird in der modernen Gesellschaft, wie es scheint, definitiv entzweit“ (Habermas
1976, S. 101).
Eine sittliche Totalität lässt sich nur in einer Gesellschaft denken, in der es ge-
lingen kann, Orte und Anschlussfähigkeit von Kommunikation relativ eindeutig
zuzuordnen – etwa auf dem Boden eines stabilen, hierarchisch gebauten Tugend-
kataloges oder stabilisiert durch schichtungsbezogene Handlungserwartungen.
Der Hintergrund sind vor allem kompakte Inklusionsbedingungen vormoderner
Gesellschaften. Handlungsselektionen ergaben sich relativ eindeutig aus den In-
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 17
allem als Problem der Handlungsträgerschaft als Ort des Willens, nicht als äußere
Ordnung, nicht einmal im Sinne der Konsequenzen der moralischen Handlung.
Der locus classicus dafür ist Immanuel Kants Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten. Dort heißt es: „Der gute Wille ist nicht durch das, was er bewirkt, oder aus-
richtet, nicht durch seine Tauglichkeit zu Erreichung irgend eines vorgesetzten
Zweckes, sondern allein durch das Wollen, d. i. an sich, gut, und, für sich selbst be-
trachtet, ohne Vergleich weit höher zu schätzen, als alles, was durch ihn zu Gunsten
irgend einer Neigung […] zustande gebracht werden könnte“ (Kant 1983a S. 19,
B 3). Wille kann der Wille nur sein, weil er nicht einfach tut, was er will, sondern
weil er will, was er soll. Kant versöhnt damit den Willen mit der Pflicht: „Pflicht
ist die Notwendigkeit einer Handlung aus Achtung fürs Gesetz“ (Kant 1983a S. 26,
B 14). Träger dieser Pflicht ist das Subjekt, das das moralische Gesetz in sich trägt.
Obwohl die Idee der Selbsttätigkeit und des denkenden Subjekts nur als denknot-
wendige Bedingung herangezogen wird, um sich exakt mit jener gesellschaftlichen
Erfahrung versöhnen zu können, dass die Freiheitsgrade individueller Selbsttätig-
keit in einer allgemeinen Struktur gründen, die aller Freiheit entzogen ist, bilden
sich hier doch eminent empirische Verhältnisse ab.
Die transzendentale, d. h. nicht-empirische Bestimmung einer allgemeinen Sub-
jektivität vernünftiger Wesen korrespondiert offensichtlich mit der empirischen
Erfahrung der Unvernunft empirischer Einzelsubjekte, Menschen eben. In der
transzendentalen Analytik schreibt Kant, dass das Selbstbewusstsein, also die mo-
derne Figur eines auf sich selbst reflektierenden Ichs eben keine Anschauung sei,
sondern „eine bloß intellektuelle Vorstellung der Selbsttätigkeit eines denkenden
Subjekts“ (Kant 1983b, S. 257, B 278). In aller Deutlichkeit wird hier gezeigt, dass
die Idee der Selbsttätigkeit und des denkenden Subjekts nur als denknotwendige
Bedingung herangezogen wird, um sich exakt mit jener gesellschaftlichen Erfah-
rung versöhnen zu können, dass die Freiheitsgrade individueller Selbsttätigkeit in
einer allgemeinen Struktur gründen, die aller Freiheit entzogen ist. Das ist es, was
ich alsTheodizee des Willens bezeichne, als theoretischen Versuch, die Subjektivität
des Subjekts, also das alle verbindende Allgemeine, mit den Freiheitsgraden des
individuellen Willens zu versöhnen. Oder anders formuliert: Die transzendentale
Figur des vernünftigen Subjekts reagiert auf die (wenigstens drohende) empirische
Unvernunft der Menschen, denen die Vernünftigkeit ihres Tuns nurmehr in sich
selbst und nicht mehr in Geboten, in den Verhältnissen oder in der Erfüllung eines
sichtbar und praktisch erreichbaren Maßes gelingen kann (vgl. dazu Nassehi 2006,
S. 69 ff.).
Kant schreibt diese Theorie in einer Welt, in der es für Handlungen keine ein-
deutigen Algorithmen mehr gibt. Gebote vermögen stets exakt zu sagen, was zu tun
und was zu lassen sei. Gebote bewegen sich in einer Welt, die Situationen konkre-
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 19
1
Die theoretische Umstellung von Geboten eines per Praxis und Hexis, also gewissermaßen
hektisch erreichbaren Maßes auf eine Konzentration auf eine Motivwelt findet eine erstaun-
liche Parallele im Religionsbegriff der klassischen Religionswissenschaft. Das „Heilige“ und
das „Numinose“ wird in einer Allgemeinheit formuliert, die an die Innerlichkeit des bürger-
lichen Individuums anschließt, das in historisch-bildungsförmiger Rücksicht auf religiöse
Traditionen den Ort der religiösen Erfahrung in das Subjekt hinein verlagert (vgl. Otto 1963).
Es bedarf dann in der Konzentration auf ein abstrakt Heiliges keiner konkreten, materialen
religiösen Aussagen mehr, um religiöse Erfahrung auf den Begriff zu bringen. Religiöse Er-
fahrung wird dabei erstaunlich gesteigert und entdramatisiert – gesteigert, indem das religi-
öse Subjekt das Numinose in sich selbst, in der eigenen Erfahrung, in inklusiver Innerlichkeit
findet, entdramatisiert, indem all dies nicht in der äußeren empirischen Welt stattfindet, son-
dern eben in der exklusionsindividualisierten Sphäre dessen, was „privat“ zu nennen zu sehr
an Äußerlichkeiten sich orientiert.
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 21
schaft und Privatleben kaum möglich gewesen wäre. Sie muss daher vor allem auf
Motive setzen – stößt aber dann auf das Problem, dass der Motivträger die Einheit
seiner selbst durch Kontinuierung biografischer Anforderungen und durch Ratio-
nalisierung seiner Motive herstellen muss. Exakt deshalb durchziehen Ideen einer
einheitlichen Gesellschaft trotz interner Differenzierung, einer sittlichen Lebens-
führung trotz diese korrumpierender Lebensformen, rationaler Entscheidungs-
und Motivgenese trotz irrationaler Entscheidungslagen die Reflexionstheorien von
Modernität.
In der ethischen Debatte hat sich dies vor allem darin niedergeschlagen, dass
Verhaltenskoordination und -steuerung eben nicht mehr als Frage gebotener Ge-
bote oder eines erreichbaren Ethos in aristokratischer Lebenskunst beantwortet
werden kann. Die Welt, in der sich die ethische Debatte bewegen muss, ist eine
Gründewelt, die vor allem auf sozialstrukturell unwahrscheinlicher gewordene
Formen wie Verallgemeinerungsfähigkeit der Argumente und rationale Eindeutig-
keit setzen muss2. Die ethische Debatte findet deshalb bisweilen in einer Gesell-
schaft statt, die es nicht gibt – zumindest erkennen dies Kommentatoren, indem
sie gewissermaßen die denknotwendigen Bedingungen für rationale Argumente
nicht mehr in die Subjekte hineinverlagern, sondern in fiktive Lebensformen, in
denen sich Handlungen tatsächlich dem deliberativen Ausgleich guter und besserer
Gründe fügen. Oder aber sie bindet die „Möglichkeit des Guten“ (vgl. etwa Vossen-
kuhl 2006) an die Frage der Kontextualisierung und empirisiert damit die Bedin-
gungen für moralische Entscheidungen – und kann dann doch nur darauf setzen,
dass es entsprechender Persönlichkeitsstrukturen bedarf.
Wenn es stimmt, dass die Ethik eine Reflexion der Moral bereit stellt, wenn es
weiterhin stimmt, dass solche Reflexion vor allem in Form von Gründen für Hand-
lungsmaximen oder konkrete Entscheidungen auftritt, dann ist das entscheidende
Bezugsproblem solcher Begründungslogik darin zu sehen, dass sich die moderne
Gesellschaft letztlich nicht an einen Grundalgorithmus hält, vor dem sich solche
Begründungen als gewissermaßen unproblematisch darstellen können. Eine sol-
che Konsistenz in einer inkonsistenten Welt herzustellen, scheint die theoretische
Voraussetzung fürs ethische Argumentieren zu sein – und auch hier lässt sich eine
merkwürdige Parallele zum Bild von Religion ziehen. Ebenso die klassische Reli-
gionswissenschaft (vgl. Otto 1963) wie auch die klassische Soziologie haben, wie
2
Meine Argumentation hat sich bis jetzt nur auf die deontologische Ethik gestützt. Letztlich
gilt all dies aber auch für teleologische Ethiken, etwa für den Utilitarismus, denn auch hier
geht es keineswegs nur um den je individuellen Nutzen, sondern um die Frage, wie der indi-
viduelle Nutzen mit dem „größten Glück der größten Zahl“, also mit allgemeinen Nutzener-
wartungen vermittelt werden kann. Ich erwähne dies hier nur und werde den Gedanken im
Rahmen dieser Abhandlung nicht weiter verfolgen.
22 A. Nassehi
3
Wie unterschiedlich diese Lösungen dann ausfallen, kann hier nicht diskutiert werden.
Aber man denke etwa an Durkheims Lösung der Formulierung einer neuen gesellschaftli-
chen Moral, die neben der Legitimation für Arbeitsteilung wohl auf die nationale Integration
von Gesellschaften abzielt, oder man denke an Max Webers gesellschaftstheoretische Kapitu-
lation mittels seiner persönlichkeitstheoretischen „Aufhebung“ der Differenzen in der aristo-
kratischen Selbstwahl – hier übrigens dem griechischen Ideal eines zu praktizierenden Ethos
nicht unähnlich. Vgl. dazu Saake und Nassehi 2004a. Zum Integrationsproblem als „basso
continuo“ der gesellschaftstheoretischen Soziologie vgl. Nassehi 2006, S. 310 ff.
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 23
eine Welt zu simulieren, in der es allein Gründe wären, die zu moralisch angemes-
senen Entscheidungen führen. Als Soziologe zu betonen, nicht an Begründungsfra-
gen interessiert zu sein, bedeutet eben nicht, Begründungsfragen ethischer Natur
für bedeutungslos zu halten. Im Gegenteil: Es kann soziologisch nicht nur darum
gehen, die gesellschaftlichen Bedingungen für Sittlichkeit und Moral auszuloten,
die Pluralität moralischer Standards zu betonen oder den ethischen und morali-
schen Ursprung etwa rechtlicher oder politischer, familialer oder alltäglicher Nor-
men und Werte herauszuarbeiten (so etwa Joas 1997). Vielmehr besteht die Auf-
gabe einer soziologischen Perspektive auf die Ethik darin, wie Begründungsfragen,
wie gute Gründe und wie die Frage nach guten Gründen praktisch funktionieren.
Wer beruft sich wann, wie und wozu auf Gründe ethischer Natur? Wie kommen
ethische Entscheidungen zustande? Welche Ideen von Entscheidungen liegen dem
zugrunde? Eine soziologische Perspektive auf die Ethik ist keine ethische Perspek-
tive – sie hat aber zu berücksichtigen, warum in bestimmten Kontexten die Algo-
rithmisierung von Problemen in Ethikform ernst genommen wird. Die Form des
Ethischen reagiert vor allem auf die Schwächung des Moralischen.
Die Ethisierung des Moralischen ist bereits eine Reaktion darauf, dass Moral nicht,
oder: nicht mehr, vermag, was sie will. Unterscheiden lässt sich moralisch relevante
von moralisch indifferenter Kommunikation – also nicht moralische von unmo-
ralischer, sondern moralische von amoralischer Kommunikation – womöglich an
den Konsequenzen von Annahme- und v. a. Ablehnungsformen in der Kommuni-
kation. Niklas Luhmann hat dies in der Unterscheidung von „Achtung“ und „Miss-
achtung“ operationalisiert. Er schreibt: „Eine Kommunikation nimmt moralische
Qualität an, wenn und so weit sie menschliche Achtung und Missachtung zum
Ausdruck bringt“ (Luhmann 1989, S. 361). Merkwürdigerweise bindet Luhmann
dies an Symmetriebedingungen, wonach Achtungs- und Missachtungsbedingun-
gen für Ego und Alter identisch sein müssen. Dies scheint mir jedoch nur ein Spezi-
alfall zu sein. Zunächst würde ich jede Achtungs- oder Missachtungsbekundung als
moralische Kommunikation bezeichnen, deren Folgen sich aber danach unterschei-
den, ob Ego und Alter einer moralischen Symmetrie unterliegen. Nur dann näm-
lich erzeugt Moral das, was man ihr unterstellt: soziale Bindung. Denn wer dem
anderen Achtung bzw. Missachtung zumutet, unterwirft sich selbst letztlich den
gleichen Bedingungen von Achtungs- und Missachtungserweisen und produziert
dadurch soziale Reziprozität. Das ist es übrigens, was Nietzsche mit der „Sklaven-
24 A. Nassehi
moral“ meinte. Wo diese Symmetrie nicht gegeben ist, produzieren moralische An-
sprüche freilich exakt das Gegenteil. Ein solches Moralverständnis schreit geradezu
nach gesellschaftsstrukturellen Überlegungen, die angeben können, unter welchen
Voraussetzungen dies der Fall ist.
In einem frühen Aufsatz von 1978 bindet Luhmann den Mechanismus der Mo-
ral weniger an Symmetriebedingungen von Achtungs- bzw. Missachtungserweis,
sondern bestimmt die Funktion der Moral als einen Mechanismus, der in der
Lage ist, die komplexe Situation doppelter Kontingenz zu vereinfachen. In einer
Situation doppelter Kontingenz hätten beide, Alter und Ego, jeweils in sich eine
dreifache Rolle zu integrieren: „Jeder ist für sich selbst zunächst Ego, weiß aber
auch, daß er für den anderen Alter ist und außerdem noch, daß der andere ihn als
Ego betrachtet“ (Luhmann 2008, S. 101). Daraus entstehe eine für Bewusstseins-
leistungen viel zu komplexe Situation, die für die Beteiligten so nicht zugänglich
sei. Deshalb müsse die Kommunikation diese Identitäten in vereinfachter Form
verarbeiten. Luhmann schreibt: „Als Indikator für einen akzeptierbaren Einbau des
Ego als Alter und als alter Ego in die Sichtweise und Selbstidentifikation seines
Alter dient der Ausdruck von Achtung und die Kommunikation über Bedingungen
wechselseitiger Achtung. Ego achtet Alter und zeugt ihm Achtung, wenn er sich
selbst als Alter im Alter wiederfindet, wiedererkennt und akzeptieren kann oder
doch sprechende Aussichten zu haben meint. Achtung fungiert also im Kommu-
nikationsprozeß als Kürzel für sehr komplexe zugrundeliegende Sachverhalte, die
nur über diese symbolische Substitution überhaupt kommunikationsfähig werden“
(Ebd., S. 102). Hier wird also weniger eine bereits vorkonsentierte Welt voraus-
gesetzt, sondern so etwas wie symmetrische Achtungsbedingungen werden in den
Kommunikationsprozess selbst hineinverlagert – gewissermaßen als funktionaler
Anreiz für Anschlussfähigkeit, was dann der Moral eben einen „objektivistischen“
Charakter verleiht und keineswegs eine „subjektivistische“ Beliebigkeit ist. Man
kann also mit Luhmann durchaus eine Art funktionale Notwendigkeit von Moral
in der Kommunikation voraussetzen. Dies ließe sich sogar in Richtung einer Mi-
nimalmoral der Kommunikation durchaus normativ weiter entwickeln, was ich an
dieser Stelle aus Platzgründen unterlassen werde. Was hier relevant ist, ist freilich
dies: Moral wird damit eher zu einer praktischen, man könnte mit Bourdieu sagen:
habituellen Form der Ermöglichung von Kommunikation durch Einbeziehung von
Alter durch Achtung seiner Person als Bedingung für weitere Kommunikation.
Damit ist übrigens noch nichts über die ethische Qualität solcher Moralen gesagt,
denn diese sind ihrerseits von empirischen Randbedingungen abhängig. Übrigens
widerspricht ein solche Moralverständnis auch nicht moralischem Pluralismus, der
ja seinerseits durch Achtungserweis und -zuteilung moralisch anschlussfähig ge-
halten werden kann (vgl. ebd., S. 111). Moral setzt nach diesem Verständnis also
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 25
dazu, sich die Gründewelt als eine Welt unter anderen vorzustellen, sondern eher
zu einer unmerklichen Restituierung moralischer Einheit, die letztlich nur dadurch
korrumpiert wird, dass mangelnde Einsicht die Akteure daran hindert, das Rich-
tige zu tun. Am eindringlichsten vermag das Julian Nida-Rümelin auf den Begriff
zu bringen: „Eine in sich vollkommen kohärente Lebensform wirft keine internen
Begründungsprobleme auf “ (Nida-Rümelin 2001, S. 160). Nida-Rümelins Utopie
besteht offensichtlich darin, eine Lebensform zu inaugurieren, in der sich Begrün-
dungsprobleme aufgrund der Einsicht in die Notwendigkeit der rationalen Konti-
nuität und der kohärenten Begründung nicht mehr stellen. Das ist aber zugleich ihr
Bezugsproblem, denn letztlich rechnet sie immer schon mit Uneindeutigkeit, Irra-
tionalität und mangelhafter Begründung und schwört deshalb um so mehr auf ein
kohärentes Phantasma ein, das bisweilen zur Karikatur einer Rationalitätsmaschine
gerät. Dass eine solche „vollkommen kohärente Lebensform“ empirisch geradezu
unmöglich ist, ficht das Argument nicht an, denn auf die Inkonsistenz der Um-
welt wird mit Konsistenz des Arguments reagiert – so könnte man das Argument
zusammenfassen, doch es ist zu einfach gebaut. Denn man könnte ethisch daran
anschließen und die moderne Gesellschaft damit selbst moralisch kritisieren und
entweder in Durkheimscher Manier für eine neue integrative Moral plädieren oder
aber die Rationalität von Lebensformen daran festmachen, ob sie interne Antino-
mien überwinden kann.
Ein solches Argument bewegt sich noch auf der Ebene dessen, was man vor
kurzem noch das Problem des „Pluralismus“ genannt hat (vgl. etwa Vokey 2001;
Kerber 1989; Kremendahl 1977). Die Problemformel Pluralismus geht letztlich von
einer Problemkontinuität aus – etwa in dem Sinne, dass man durchaus weiß, dass
Probleme zum Beispiel moralisch gelöst werden müssen, man sich aber nur schwer
auf gemeinsame Standards einigen kann. Die Moralphilosophie hat ihrerseits das
Pluralismusproblem bereits im Blick gehabt, bevor es den Begriff dafür gab. Kants
prozedurale Ethik mit ihrer Umstellung von Was- auf Wie-Fragen reagiert letztlich
bereits darauf, dass man mit pluralen Lösungen rechnen muss – und reagiert des-
halb theoretisch nicht nur mit einem Verallgemeinerungspostulat, sondern auch
mit möglichst allgemeinen, abstrakten Begriffen. Wie der deus absconditus in einer
Welt anschlussfähiger ist, die sich nicht durch das Gebot konditionieren lässt, so
scheint auch eine ratio abscondita zu einer Gesellschaft zu passen, in der sich die
Rationalitäten multiplizieren. Übrigens werden so weder Gott noch die Vernunft
dementiert oder demontiert, im Gegenteil: Beide werden durch ihre Abstraktion
zugleich anschlussfähiger und pluralismusfähiger, selbst wenn das nicht die Inten-
tion war, die hinter der Formierung solcher abstrakter Figuren steckte.
Mit dem Theorem des Pluralismus lässt sich nicht weiter arbeiten. Es muss er-
setzt werden durch das Theorem der Differenzierung. Eine funktional differen-
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 27
zierte Gesellschaft ist weder eine Gesellschaft, in der sich die Möglichkeiten bloß
pluralisieren, noch ist sie eine Gesellschaft, die durch Arbeitsteilung geprägt ist.
Eine naive Vorstellung funktionaler Differenzierung meint etwa dies: Man stellt
sich einen Setzkasten vor, in dem die unterschiedlichen Funktionssysteme je ein
Kästchen besetzen und der Rahmen den Zusammenhang stiftet. Dass die Öko-
nomie für die Produktion und Verteilung knapper Güter sorgt, die Wissenschaft
für sichere Wahrheiten, die Erziehung für angemessenes Personal, das Recht für
Regeln und Konfliktbewältigung, die Familie für einen Rückzugsbereich intimer
Privatheit, die Kunst für interesseloses Wohlgefallen und die Politik für die Her-
stellung und Durchsetzung kollektiver Verbindlichkeiten, ist die Karikatur, nach
der wir unsere Welt gerne nach dem Abbild unserer gewohnten Begrifflichkeiten
erschaffen. All das hört sich nach einer wohlfeilen Arbeitsteilung an, deren verbor-
gener Sinn darin besteht, dass die unterschiedlichen Subsysteme der Gesellschaft
so ineinander greifen, dass sie über wechselseitige Austauschprozesse den Bestand
des Ganzen befördern. Und man könnte auf die Idee kommen, bei Knappheitspro-
blemen die Wirtschaft zu konsultieren oder bei Wahrheitsbedarf die Wissenschaft
zu bemühen, damit man seine Probleme gelöst bekommt. Eine solche Karikatur
verkennt vollständig den Sinn des differenzierungstheoretischen Arguments. Es
geht gerade nicht um Koordination oder darum, dass die unterschiedlichen Logi-
ken der Gesellschaft sich zu wechselseitiger Unterstützung begegnen – an welchem
Ort der Gesellschaft sollten sie das auch tun?
Differenzierung meint etwas Anderes: Man kann beobachten, wie die unter-
schiedlichen funktionalen Logiken unterschiedliche Anschlusslogiken erzeugen,
die weder koordiniert noch aufeinander bezogen vonstatten gehen. Die unter-
schiedlichen Funktionssysteme lösen Probleme je nur nach ihrer Maßgabe – das
politische System hat zwar gesellschaftliche Probleme im Blick, es löst sie aber eben
nur politisch, das heißt im Hinblick auf politische Entscheidungen und im Hinblick
darauf, dass der Entscheider weiter entscheiden kann. Und das Wirtschaftssystem
hat in der Tat mit Knappheit zu tun – aber es löst Probleme erstens nicht in toto
und zweitens im Hinblick darauf, dass Zahlungen im Zeitverlauf neue Zahlungs-
fähigkeit herstellen können. Differenziert ist vor allem die Anschlussfähigkeit. An
ein und dasselbe Ereignis wird in der modernen Gesellschaft von ihren Zentralin
stanzen unterschiedlich angeschlossen, und zwar so unterschiedlich, dass man dies
als „Pluralismus“ nur sehr verniedlichend wiedergibt.
Ich möchte dies an einem Beispiel deutlich machen: Ein Patient hat eine Pa-
tientenverfügung verfasst, in der er für bestimmte medizinische Konstellationen
einen Behandlungsabbruch verlangt, wenn er nicht mehr selbst entscheiden kann.
Nun ist der Patient nicht mehr bei Bewusstsein, und es sieht so aus, dass die Bedin-
gungen eingetreten sind, die in der Patientenverfügung ausdrücklich qualifiziert
28 A. Nassehi
werden. So wird der Jurist darauf beharren, dass in der Patientenverfügung der
Wille des Patienten ausgedrückt ist; aus medizinisch-psychiatrischer Sicht dagegen
sind Zweifel angebracht, ob dies tatsächlich der angemessene Wille des Patienten
sein kann; der behandelnde Arzt kann die in der Patientenverfügung beschriebe-
ne Situation nicht in Deckung mit den medizinischen Parametern des konkreten
Falles bringen; und ein Journalist ist vor allem daran interessiert, wie wenig sich
der Arzt um den Patientenwillen kümmert. Das ist ein zugegebenermaßen kon
struiertes, aber wohl keineswegs realitätsfernes Beispiel. Wer nun versuchen wollte,
die Frage zu beantworten, welche der Anschlussformen die richtige und angemes-
sene sei, wird schnell ratlos werden. Denn es gibt kaum Möglichkeiten, die unter-
schiedlichen Anschlüsse gegeneinander auszuspielen. Das Merkwürdige ist, dass
die Anschlüsse sich einerseits radikal widersprechen, andererseits alle irgendwie
angemessen sind. Die aporetische, antinomische Situation basiert auch nicht auf
einem Aporie- oder Antinomiefehler in der Beschreibung des Sachverhalts, son-
dern die gesellschaftliche Struktur ist selbst antinomisch gebaut.
Mein Beispiel zeigt, dass die moderne Gesellschaft in erster Linie auf Perspekti-
vendifferenz gebaut ist, auf Unversöhnlichkeit, auf widersprüchliche Praxisformen.
Es entstehen durch unterschiedliche Anschlüsse unterschiedliche Gegenwarten,
unterschiedliche Kontexte – und gesellschaftliche Modernität scheint sich dadurch
auszuzeichnen, mit dieser Differenziertheit klarzukommen. Die Konzentration der
modernen westlichen „Kultur“ auf Einheitschiffren – auf Rationalität und Ver-
nunft, auf eine universalistische conditio humana, auf die Idee der Gesellschaft als
Arena des Interessenausgleichs, auf standardisierte Formen legitimer ästhetischer
Urteile und Lebensformen etc. – verweist auf dieses Bezugsproblem der konkurrie-
renden Kontexte.
Was ich in verschiedenen Zusammenhängen eine „Gesellschaft der Gegenwar-
ten“ genannt habe (vgl. Nassehi 2003, S. 159 ff., 2006, S. 375 ff., 2011), meint exakt
dies: Die moderne Gesellschaft zeichnet sich dadurch aus, dass sie die Möglich-
keit von Anschlüssen multipliziert. Für eine empirische Forschungsperspektive be-
deutet dies, sich nicht von einer vorgängigen Harmonisierungserwartung solcher
Perspektiven einschränken zu lassen, sondern die Logik von Situationen tatsäch-
lich darin zu entdecken, dass es unterschiedliche Gegenwarten sind, in denen sich
Anschlüsse plausibel machen. In meinem Beispiel kam die Ethik nicht vor. Sie wäre
aber auch nur eine bestimmte Perspektive – eine Perspektive nämlich, die nach
Gründen sucht, die einen Algorithmus anbieten muss, wie in dem besagten Falle
zu entscheiden ist, um dann an sich selbst feststellen zu müssen, dass diese Gegen-
wart sich ebenso wenig wie die anderen auf andere Gegenwarten und Plausibilitä-
ten extrapolieren lässt. An solchen Beispielen kann man lernen, dass die Ethik sich
einer wissenschaftsförmigen Plausibilität fügt – was, ich wiederhole es, nicht gegen
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 29
die Ethik spricht, aber eine realistischere Kontextualisierung des Ethischen ermög-
licht. Lernen lässt sich des Weiteren, dass man nicht der Gefahr eines funktionalis-
tischen Fehlschlusses auf den Leim gehen sollte. Analog zum naturalistischen Fehl-
schluss (George E. Moore) – man solle nicht von einer natürlichen Tatsache auf ein
Sollen schließen – besteht ein funktionalistischer Fehlschluss darin, von der einen
Funktion auf die andere schließen zu können. Die Welt ist voll solcher praktischer
Fehlschlüsse, etwa der Steuerungsillusion des politischen Systems, andere Funk-
tionslogiken determinieren zu können. Ohne Zweifel lassen sich im Wirtschafts-
system auch politisch Effekte erzielen, aber nur indirekt, wirtschaftlich nämlich.
In der „Gesellschaft der Gegenwarten“ herrscht eine eigentümliche Diskontinuität,
die es kaum erlaubt, die eine gegen die andere Plausibilität auszuspielen. Das em-
pirisch Spannende ist dann, dass es trotzdem immer wieder zu Lösungen kommt,
zu Arrangements, zu praktischen Settings, zu Gegenwarten eben, die die Voraus-
setzungen neuer Arrangements sind. Das interne Problem der Ethik ist demnach
die wissenschaftsförmige Generierung guter Gründe; das externe Problem ist die
Frage, wie die Ethik in andere Gegenwarten eindringen kann, in jene Gegenwarten
nämlich, von denen, nicht in denen sie handelt.
Vielleicht liegt ja eine Chance für die Ethik darin, an sich selbst noch mitbeob-
achten zu können, dass sie nur eine wissenschaftliche Form ist und dass der Theo-
rie-Praxis-Transfer nur eine Illusion ist, ohne die freilich wissenschaftlich nichts
auszurichten ist, aber auch nicht politisch oder rechtlich, weder religiös noch
künstlerisch. Ich referiere hier auf eines der bedeutendsten Theoriestücke in Pierre
Bourdieus Soziologie, seine Idee der illusio nämlich.4 Bourdieu meint damit, dass
die Soziologie zwar strukturelle Kräfte ausmachen könne, um die es der sozialen
Praxis „eigentlich“ gehe. Bei Bourdieu ist das ein eigentümlich ökonomischer Wett-
bewerb um knappe Ressourcen. Allerdings benötigten die beteiligten Akteure in
ihrer Binnenperspektive sehr wohl die illusio, um das politische, das wissenschaftli-
che, das künstlerische, das religiöse Spiel spielen zu können. Es geht den Beteiligten
um etwas – das gilt analog auch für die Ethik. Wenn es der Ethik nicht ums Ethische
geht, taugt sie nichts. Gegenteiliges zu verlangen, wäre naiv.
Pluralisierung ist letztlich ein unlösbares Problem für die ethische Theorie – es
sei denn durch die Formalisierung der Ethik und eine womöglich unrealistische
Unterstellung von Rationalität als formal verbindendem Gerüst. Dieses Modell ist
insofern praktikabel, als es sich tatsächlich in erster Linie auf die wissenschafts-
förmige Begründungspraxis der akademischen Ethik bezieht, die damit all ihre
Praxisprobleme lösen kann. Differenzierung dagegen lässt sich ethisch erheblich
4
Für das wissenschaftliche Feld vgl. Bourdieu 1998, S. 27 und auch Nassehi 2004a.
30 A. Nassehi
Dass sich die Praxis des rationalen ethischen Begründens und ihrer Kultivierung
von der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft in das wissenschaftliche Funktions-
system zurück gezogen und dort ein geschütztes Reservat gefunden hat, hängt
womöglich auch mit der Veränderung dessen zusammen, was die bürgerliche Ge-
sellschaft bedeutet. Ich habe meine Überlegungen damit begonnen, den emanzipa-
torischen Charakter der Idee des individuellen, motiv- und maximengesteuerten
Handelns hervorzuheben. In einer Gesellschaft, in der die Freiheit der Rede und
die Entscheidung über Lebensformen noch erkämpft werden musste, musste das
Bezugsproblem allen Handelns gerade in jener Handlungslogik liegen, die für das
klassisch-moderne Denken bestimmend war. Es ging darum, Sprecher sichtbar zu
machen, die in vorherigen kompakten Herrschafts- und Traditionsverhältnissen
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 31
letztlich keine eigenständigen Sprecher sein konnten. Die Umstellung von der Pos-
tulierung moralisch tadellosen Verhaltens zum ethisch reflektierten und begründe-
ten Handeln ist insofern konsequent.
Es war vor allem Habermas, der diese Konsequenz auf die Spitze getrieben hat,
indem er diese Idee des Handels auf die Ethik und das Begründen selbst angewandt
hat. Die Diskursethik setzt nicht einfach aufs Argument, sondern aufs Argumen-
tieren, also nicht auf Sprache im Sinne eines aussagenlogischen Systems gramma-
tikalischer und semantischer Bedeutungen, sondern auf Sprechen im Sinne eines
kommunikativen Handelns, das die Deliberation aus der Innenwelt des Bürgers in
die Innenwelt von Gesellschaften holt, die sich damit selbst zu identifizieren lernen.
Das Sprechen wird dabei zu einem doppeldeutigen Mechanismus – es soll einer-
seits die Zahl der Sprecher erhöhen, andererseits die Zahl der Argumente verknap-
pen, wenn tatsächlich der zwanglose Zwang des besseren Arguments derjenige Al-
gorithmus sein soll, der zu vernünftigen Lösungen führt.
Sieht man einmal von Habermas’ theoretischen credenda einer Asymmetrie
guter und besserer Argumente ab, die sich mit eigentümlich zwanglosem Zwang
durchsetzen, stößt man, wie Irmhild Saake (in diesem Band) ausführlich zeigt, auf
die empirischen Konsequenzen dieser Theorie: Sie multipliziert Sprecherpositio-
nen. Sie macht ausnahmslos jeden zum legitimen Sprecher und symmetrisiert da-
mit die Verhältnisse. Sie ersetzt letztlich den autoritativen durch den authentischen
Sprecher. Um dies zu verdeutlichen, ist ein Blick in die Rezeption der Habermas
schen Diskursethik lohnend, in der letztlich die normativen Konsequenzen seiner
gesamten Handlungstheorie fokussiert zur Geltung kommen.
Es ist, wie ich bereits im Rahmen meiner „Kritik der authentischen Vernunft“
herausgearbeitet habe (vgl. Nassehi 2006, S. 169 ff.), insbesondere Matthias Kett-
ner, der die Diskursethik auf unterschiedliche Anwendungsfelder appliziert (vgl.
Kettner 1996, 1999, 2003, 2005). Und es liegt in der Tat nahe, eine Ethik zu bemü-
hen, die auf den prozeduralen Aspekt der Herstellung gemeinsamer, konsentier-
barer Entscheidungen durch Kommunikation setzt – das gilt sowohl für Kontexte
ethischer Entscheidungsfindung in Organisationen, also in Ethikgremien, als auch
für den allgemeinen praktischen Diskurs. Nun weiß auch Kettner empirisch, dass
selbst unter den idealisierten Bedingungen eines herrschaftsfreien Diskurses – de-
nen reale Diskurse ungefähr so nahe kommen wie die priesterliche Absolution der
eigentlichen Erlösung – keine wirklich abschließbaren Ergebnisse erzielt werden
können. All das dient gewissermaßen bloß als regulative Idee. Den missing link
zur Empiriefähigkeit des Modells formuliert Kettner so, dass natürlich einerseits
gute Gründe vorgebracht und diskutiert werden müssen, dass aber andererseits die
authentische Bindekraft des Konsenses nicht nur auf den guten Gründen beruht,
sondern auch auf der Authentizität der Teilnehmer (vgl. Kettner 2005). Sowohl die
32 A. Nassehi
Gründe als auch die aufrichtige Authentizität der Teilnehmer sind jene Medien, die
Argumente verknappen und damit wenigstens dem empirischen Bruder des ide-
alisierten zwanglosen Zwangs des besseren Argumentes zu seinem Recht verhelfen.
Es ist sehr interessant, dass der Hinweis auf die Authentizität der Träger mögli-
cher Äußerungen gewissermaßen den blinden Fleck von Kettners Argumentation
darstellt – für ihn selbst unsichtbar, weil Voraussetzung der gesamten Argumen-
tation. Moralische Autorität, so schreibt Kettner, kann einem diskursiv erzielten
Konsens nur durch die Authentizität der Sprecher verbürgt werden, die sich selbst
wiederum in authentischer Einstellung dem „moralisch richtigen Austragen von
Meinungsverschiedenheiten“ (Kettner 2005, S. 37) verpflichten. Dabei vermag
Kettner durchaus zu sehen, dass unter einem Konsens eher ein Prozess denn ein
fixierbares Ergebnis zu verstehen ist. Letztlich scheint es die Praxis selbst zu sein,
in der Sprecher als authentische Sprecher anerkannt werden und die die ethische
Qualität eines moralischen Diskurses verbürgt, nicht dagegen den effizienten Out-
put eines moralischen Fixums.
Schöner kann man den sozialen, den praktischen Sinn der Diskursethik nicht
auf den Begriff bringen – einen praktischen Sinn freilich, der in seiner theoreti-
schen Gestalt womöglich gar nicht auffällt. Die Verheißung einer zunehmenden
Symmetrisierung von Sprecherpositionen löst sich anders ein, als es die Diskurs-
ethik verspricht: Die Relativierung von Kontexten erzeugt tatsächlich symmetri-
sche Sprecherpositionen, aber sie führt nicht zu mehr Eindeutigkeit, sondern zu
mehr Anschlussfähigkeit. Damit wird all das, was einzelne Sprecher an Geltung be-
anspruchen, noch plausibler, aber es wird damit die Möglichkeit moralischer Ein-
deutigkeit erst recht unterminiert. Gesichert werden kann die Authentizität unter-
schiedlicher Sprecher, ohne den Preis zahlen zu müssen, dass diese Authentizität
zugunsten eines fixierbaren Konsenses eingeschränkt werden muss. Im Gegenteil:
Der Diskurs erhöht die Authentizität der Sprecher dadurch, dass ihre Inkommen-
surabilität wechselseitig anerkannt werden kann – und diese Inkommensurabilität
dann selbst eine „ethische“ Qualität annehmen kann.
War es Habermas noch darum zu tun, einen Algorithmus zu finden, der nicht
die Zahl der Sprecher, aber die Geltung möglicher Argumente verknappt – auf die
besten nämlich –, scheint diese ethische Theorie entgegen ihren Intentionen die In-
kommensurabilität von Argumenten zu steigern – und damit ihre Zahl. Die Plausi-
bilitätsbedingungen werden gewissermaßen in die Praxis selbst verlagert, in der es
zunehmend unplausibel wird, bestimmte Geltungsansprüche nicht anzuerkennen.
Diese Applikation der Diskursethik promoviert den authentischen Sprecher und
bildet damit eine gesellschaftliche Praxis ab, deren klassisch-moderne Vermittlung
der Vernunft durch professionelle und autoritäre Sprecher nicht mehr vorausge-
setzt werden kann. Insofern wird jeder vernünftig, zurechnungsfähig für Geltungs-
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 33
ansprüche – und die Gesellschaft scheint sich eine Ordnung zu geben, die auch
trotz solcher Anspruchsinflation zu stabiler Erwartungsbildung kommt.
Das mag eine Überzeichnung sein – aber sie bildet das ab, was mit der Ha-
bermasschen Soziologie und ihrer Idee der Moderne letztlich impliziert war: eine
Rekonstruktion der bürgerlichen Idee des aktiven Interessenausgleichs, der per-
formativen Darstellung des Subjekts in der kommunikativen Praxis und – nicht
zuletzt – die Demokratisierung dessen, was in der bürgerlichen Gesellschaft noch
als Einsicht in die Notwendigkeit autoritativ beansprucht werden konnte. Wiewohl
in Habermas’ Denken diese Einsicht in die Notwendigkeit in der Idee des gewis-
sermaßen subjektlosen Zugzwangs des besseren Arguments zumindest theoretisch
aufbewahrt werden konnte, sind die empirischen Konsequenzen dieser Denkungs-
art darin zu sehen, dass sich Sprecherpositionen unheilbar multiplizieren und
damit das Sprechen selbst zum Argument wird. Die Authentizität des Sprechers
erhält damit unmerklich einen Vorrang vor der Authentizität des Gesprochenen.
Vielleicht lässt es sich in einer Analogiebildung so formulieren: Wo Joseph Beuys’
Versicherung, jeder Mensch sei ein Künstler, noch eine subtile und subversive Kri-
tik einer sich vom Publikum abwendenden Avantgarde und ihrer unterwürfigen
Kommentatoren darstellte, reagiert die Promotion von Sprechern noch auf die em-
pirische Erfahrung ihrer Einschränkung, ihrer mangelnden Teilhabe, der Macht
von Expertenkulturen und der allzu konservativen kulturellen Exklusionspraxen
einer unkritischen Öffentlichkeit. Wo sich freilich in der Kunstszene die Avant-
garde schon deshalb aufgelöst hat, weil die autoritativ-kanonischen Kriterien des
legitimen bzw. konventionellen Geschmacks fehlen, kann das Postulat der Teilhabe
nur dort von subversiver Kraft sein, wo sie sich nicht längst durchgesetzt hat. Mein
Beispiel mit Kettners Applikation der Diskursethik auf ein konkretes empirisches
Feld zeigt, dass sich das Sprechen selbst zu genügen scheint und jene subversiven
Kräfte freisetzt, denen nun ethische Qualitäten zugerechnet werden können. Hier
eine Analogie zu einer Medienlandschaft zu zeichnen, in der noch die banalste Äu-
ßerung zumindest gehört werden muss, wenn sie authentisch genug daherkommt,
mag allzu suggestiv sein. Aber zumindest scheint sich jenes Publikum, dem als Ge-
sellschaft noch vor kurzem ein deliberatives Verhältnis zu theoretischen und prak-
tischen Fragen abverlangt wurde, daran gewöhnt zu haben, dass die Zurechnung
aufs Individuelle und seine authentische Performanz die Botschaft selbst zu sein
scheint. Man spricht dann als Mann oder als Frau, als Angehöriger dieser oder
jener Kultur, als Anhänger diesen oder jenen Lebensstils – und dem soziologischen
Beobachter scheint jenes tertium comparationis zu fehlen, mit dem Habermas die
Multiplikation der Sprecher noch mit der Verknappung der Argumente auf die bes-
ten ihrer Art erreichen wollte.
34 A. Nassehi
– bei Habermas freilich noch so „vernünftig“, dass sie um die deliberative Kraft der
öffentlichen Rede wissen und dass sie in der Lage sind, Sphären der Gesellschaft
(„Systeme“) anzuerkennen, in denen es nicht um Anerkennung geht. Nach Ha-
bermas freilich verschwindet der gesellschaftstheoretische Rekurs auf die Möglich-
keitsbedingung der Rede, auf die Argumentstruktur der prozeduralen Herstellung
von Einverständnis und auf die Idee einer zumindest in dem Sinne bürgerlichen
Gesellschaft, dass sich Geltungsansprüche an den konkurrierenden Ansprüchen
anderer zu messen haben. Exakt das war es, was Gesellschaften zu Arenen im klas-
sisch-modernen Sinne gemacht hat. Übrig geblieben ist davon nur die Rede selbst,
die Authentizität des Sprechers und die Promotion seines Anspruchs auf Geltung,
nicht die Geltung selbst.
In einer gemeinsamen Arbeit mit Irmhild Saake haben wir dies als Kulturalisie-
rung der Ethik bezeichnet (Saake und Nassehi 2004b). Ausgehend von Luhmanns
These, den Kulturbegriff als historischen Begriff zu führen und Kultur insbeson-
dere als Vergleichsalgorithmus anzusehen, sind wir auf die „Kommensurabilität
aller Gegenstände“ gestoßen. Kommensurabel wird alles, sobald es sich nicht mehr
der Notwendigkeit der Verknappung (etwa durch Argumente oder Standpunkte)
fügt. Letztlich führt das dazu, dass die Authentizität von Positionen nicht mehr be-
stritten werden kann und somit die Idee des Vergleichs keineswegs auf ein Drittes
verweist, aus dem besonderer Erkenntnisgewinn gezogen werden könnte, etwa im
Sinne eines Vergleichsmaßstabes. Im Gegenteil, der Vergleich braucht keinen Maß-
stab mehr, sobald Sprecher sichtbar werden, von denen man nun erwartet, dass
das, was sie tun, als „Kultur“ erscheint. Das gilt nicht nur für „Kulturen“ im Sinne
von ethnischen Gruppen in der globalisierten Weltgesellschaft, die sich an sich zu
gewöhnen beginnen. Es gilt für Sprecherpositionen schlechthin – auch für Profes-
sionskulturen, die letztlich die Gestalt einer funktional differenzierten Gesellschaft
ohne Spitze und Zentrum abbilden und sich in Anschlussroutinen einrichten, die
sich gegenseitig womöglich kaum mehr irritieren können.
Letztlich ist das Medium, in dem solche Kulturalisierungen stattfinden, das
Medium des Ethischen, aber nicht mehr im Sinne der akademischen Ethik, die
Sprecherpositionen einschränken muss. Ethische Theorie freilich muss sich nach
wie vor fragen, wie sie in der Lage sein kann, ethische Argumente zu verknappen,
d. h. dafür zu sorgen, wenigstens Kriterien oder Prozeduren anzubieten, das Rich-
tige vom Falschen zu scheiden. Ob – wie etwa bei Joas – vom Diskurs über die
Entstehung der Werte und ihre integrative Kraft die Rede ist (vgl. Joas 1997), ob
die diskursethischen Potentiale der Sprache als Grundlage moralisch integrierter
Handlungskoordinierung hervorgehoben werden (vgl. Habermas 1992), ob im
Sinne Rawls’ Gerechtigkeit als Grundkategorie angemessener Vergesellschaftung
geführt wird (vgl. Rawls 1975), ob in der kommunitaristischen Liberalismuskri-
36 A. Nassehi
Zum Ende meiner Überlegungen möchte ich noch darauf zu sprechen kommen,
dass die Kulturalisierung der Ethik und die Ethisierung des Kulturellen sich letzt-
lich auch auf die Frage politischer Normativität auswirken. Das grundlegende Ver-
Die „Theodizee des Willens“ als Bezugsproblem des Ethischen 37
vistische Position dann doch die Frage danach, wie Zustimmung hergestellt werden
und wie man in einer pluralistischen und differenzierten Gesellschaft mit Überzeu-
gungen, Ansprüchen und Interessen umgehen kann. Luhmann zeigt letztlich, dass
Verfahren dabei helfen, mit Zustimmungs-, Überzeugungs- und Legitimationsfra-
gen umgehen zu können. Und er zeigt auch, dass es diese Fragen auch jenseits von
Verfahren gibt.
Letztlich verbindet die Diskursethik die beiden Seiten der funktionalistischen
Beziehung von normativen Fragen und Verfahren. Auch sie plädiert für eine Legiti-
mation durch Verfahren, stattet dann aber das Verfahren selbst mit ethischen Qua-
litäten aus. Womöglich ist diese prinzipiell ergebnisoffene Ethik deshalb diejenige,
die am ehesten die Bedingungen erfüllt, in einer Gesellschaft der Gegenwarten ge-
hört und verstanden werden zu können – wenn nicht als Theorie, dann als Praxis.
Verfahren, so könnte man nun an die vorstehenden Überlegungen anschlie-
ßen, sind dann in der Lage, von den Inhalten zu entlasten und kommen so einer
Gesellschaft entgegen, die sich mehr und mehr kulturalisiert. Verfahren hindern,
anders als naturrechtliche Begründungen und hohe Anforderungen an demokra-
tische Praxis und Teilhabe, kulturalistische Sprecher daran, bis zu einem Konsens
weitersprechen zu müssen. Zugleich geraten sie dann in Gefahr, wenn sich kon
fligierende Parteien „kulturell“ einrichten. Das führt dann zu einer Protestkultur,
bei der es angesichts von Einzelfragen ums Ganze geht – etwa bei der Tieferlegung
eines Bahnhofs in einer deutschen Provinzhauptstadt. Vielleicht enden irgendwann
alle demokratische Prozeduren nur noch in Schlichtungsverfahren, weil in ihnen
konsequenzenfrei gesprochen werden kann. Entscheidungen werden dann wohl
am ehesten durch Ermüdung getroffen.
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Soziologie der Ethik. Semantiken
symmetrischer Kommunikation
Irmhild Saake
I. Saake ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
E-Mail: Saake@soziologie.uni-muenchen.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik − Normen − Werte, Studien zu einer 43
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_3,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
44 I. Saake
trisierungen funktionieren, ist kein alleiniges Phänomen der Ethik. Alle Kommu-
nikationen lassen sich daraufhin untersuchen, inwiefern sie sachliche, soziale und
zeitliche Dimensionen einer mehr oder weniger großen Vergleichbarkeit unterwer-
fen. Der Beginn jeder Kommunikation ist eine Asymmetrie, insofern Komplexität
durch Selektion einseitig aufgelöst wird, wenn jemand etwas sagt. Im Anschließen
wiederholt sich dieses Muster, insofern jedes Verstehen notwendig die Informatio-
nen erst auswählen muss, an die es anschließt. Dies ist gemeint mit dem Begriff der
Differenztheorie. Von dieser operativen Ebene eines ständigen Asymmetrisierens
lässt sich jedoch eine semantische Ebene unterscheiden, auf der Symmetrien als
Gemeinsamkeiten, Bedeutungsidentität und Gleichzeitigkeiten behauptet werden.
Zur Information werden diese Symmetriepostulate erst, weil gerade nicht die Sym-
metrie, sondern die Asymmetrie den Beginn der Kommunikation markiert.
Ethische Kommunikationen sind nun insofern auf diese Funktion des Sym-
metrisierens spezialisiert, als sie nicht nur symmetrische – und natürlich auch
asymmetrische – Formen in Anspruch nehmen, sondern diese auch voraussetzen
müssen, um den Zuhörer in einer gemeinsamen verbesserungsbedürftigen Welt zu
verorten. Wer sich mit der Frage „Was soll ich tun?“ auf den Rat anderer verlässt, ist
bereits dafür sensibilisiert, „wir“ sagen zu können.
Armin Nassehi illustriert überzeugend in seinen Studien zur Entstehung des
modernen soziologischen Diskurses, wie sich gerade aus der Erfahrung der histori-
schen Wandelbarkeit der Gesellschaft heraus die Notwendigkeit einer gesellschaft-
lichen Moral des Maßhaltens, der freiwilligen Einschränkung ergibt (vgl. Nassehi
2006). Er rekonstruiert die Soziologie als eine Disziplin, die aus Vernunft eine so-
ziale Veranstaltung macht und die dafür den Begriff der Gesellschaft erfunden hat.
Das Konzept einer normativ integrierten Gesellschaft1 erscheint aus dieser Pers-
pektive als eine Metapher, die nur behauptet, was eigentlich erklärungsbedürftig
wäre2. Dass die Theoretiker der Gesellschaft ihr Thema zumeist in moralischer Ab-
sicht verhandeln, ergibt sich demzufolge qua Thema, und erwartungsgemäß fin-
den sich entsprechende normative Elemente, die in die meisten Theoriesprachen
eingelassen sind. Eine – so Nassehi – soziologisch veranstaltete Welt der „guten
Gründe“ lässt sich jedoch nicht nur als Dekonstruktion der Vernunft verstehen,
sondern auch als Motor einer großen Maschinerie des Symmetrisierens. Das Be-
1
Vgl. hierzu auch die Ausführungen von Thomas Schwinn 2001.
2
Niklas Luhmann beschreibt in einer Auseinandersetzung mit der klassischen soziologi-
schen Frage danach, wie soziale Ordnung möglich ist, dass sich viele soziologische Antwor-
ten eigentlich nur als Metaphern verstehen lassen, die nicht hinterfragt werden können. Ent-
weder sie schaffen ein plausibles Bild und befreien damit von der Notwendigkeit der Erklä-
rung, oder sie werfen Fragen auf, dann funktionieren sie nicht als Metapher. Vgl. Luhmann
1981, S. 210.
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 45
zugsproblem einer ‚vernünftigen‘ Argumentation ist das Erleben von Gleichheit als
Resultat eines Diskurses, der mit dem Blick auf das ‚bessere Argument‘ alles dem
Vergleich aussetzt.
Mit der Habermasschen Diskursethik (Habermas 1983) sind diese soziologi-
schen Ambitionen in einer Art und Weise auf den Punkt gebracht worden, die
gleichzeitig auch das voraussetzungsreiche Instrumentarium einer systemtheore-
tischen Beobachtung der Soziologie, einer soziologischen Aufklärung3 stimulieren
konnte. Zeitgleich mit der Habermasschen Typisierung der Soziologie als Ethik
entstand also eine systemtheoretische Revision einer moralisch imprägnierten So-
ziologie. Die Luhmannsche Systemtheorie versteht den Anspruch der Soziologie,
eine Wissenschaft der Gesellschaft zu sein, als sachliche Frage danach, woraus eine
Gesellschaft besteht, und findet Kommunikationen, die sowohl Personen als auch
Themen in die Welt bringen. Nicht mehr das „Wir“ als vielleicht anthropologisch
gefasste Gleichheit von Menschen steht damit im Vordergrund, sondern die Fragi-
lität (historisch) unterschiedlicher personaler Adressen. Eigentlich ist erst mit die-
sem Instrumentarium der Boden dafür bereitet, das Soziologische der Ethik und
das Ethische der Soziologie zu reflektieren. Das Bekenntnis der Soziologie zu glei-
chen Menschen, zu sich emanzipierenden Subjekten, rationalen Akteuren erhält
aus einer systemtheoretischen Perspektive nicht nur die sachliche Alternative einer
anderen Theorieform, sondern auch den Standpunkt eines Beobachters, der das
implizite „Wir“ explizieren kann. Dies gelingt nur mit Hilfe einer Theorie, die nicht
mit dem Menschen und entsprechenden Annahmen über sein Wesen, sondern mit
Kommunikationen eben darüber beginnt.
Begründungen für eine Soziologie der Ethik ergeben sich in einer von Parti-
zipationserwartungen geprägten Gesellschaft jedoch auch aufgrund einer neuen
Tendenz zu explizit ethisch überformten Organisationskontexten (z. B. Ethikräten,
Ethikkomitees, ethischer Begleitforschung, ethischer Beratung, nicht zu verges-
sen: ethischer Beratung der Ethikforschung). Hinter dem Postulat des „Ethischen“
scheint sich gegenwärtig außerhalb der akademischen Philosophie eine Praxis der
Erforschung von Beobachterperspektiven zu etablieren, in der sich soziologische
Partizipationsforderungen verselbstständigen.4 Begleitende ethische Reflexionen
3
Unter dem Titel „Soziologische Aufklärung“ beginnt Niklas Luhmann eine Reihe, die sich
der Kritik des soziologischen Wissens widmet. 1970 geht es ihm noch sehr konkret darum
zu zeigen, dass nur Systeme „als Medien der Aufklärung dienen, nicht das frei diskutierende
Publikum“ (Luhmann 1970, S. 77).
4
Wie fundamental dieser Partizipationsgedanke für die Soziologie ist, lässt sich in Bryan S.
Turners Studie mit dem Titel „Equality“ nachlesen. Er rekonstruiert eine Soziologie, die sich
der Infragestellung von Ungleichheiten verdankt und die in die Forderung nach Menschen-
rechten mündet (vgl. Turner 1986).
46 I. Saake
werden für viele Kontexte als hilfreich angesehen (vgl. Bogner 2008), ja sogar emp-
fohlen (vgl. Nida-Rümelin 1996, S. 802). Immer implementieren sie Formen, in
denen – dem Habermasschen Diskurs entsprechend – neue Sprecher eine Stimme
erhalten und auf diese Weise sichtbar gemacht oder gar geschaffen werden. Die
Diagnose einer „Infektion“ der Soziologie mit Moral gewinnt damit eine neue Qua-
lität. Ethik ist einerseits in die Form der soziologischen Argumentation bereits ein-
gelassen und sie tritt andererseits als eine neue eigenständige soziologische Praxis
der Soziologie gegenüber.
Diese Abstraktion von einer Ethik als Philosophie und von einer Soziologie
als Wissenschaft wird ermöglicht durch einen systemtheoretischen Rahmen, der
in spezialisierten Kommunikationen auch spezialisierte, radikal unterschiedliche
Weltbeschreibungen sieht, um sich dann konkret für die spezifischen Leistungen
ethischer Kommunikationen zu interessieren. Beobachtet werden kann dann ein
Zugewinn an Kommunikationsmöglichkeiten und zu fragen wäre, welche Funk-
tion diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten haben. Der philosophische Be-
griff der Ethik wechselt damit radikal sein Aussehen. Unter Ethik wird aus system-
theoretischer Perspektive schlicht eine soziale Praxis verstanden, deren Definition
sich über die Besonderheiten ihres Funktionierens ergibt. Ethik ist dann das, was
als Kommunikation von Ethik plausibel wird, was sich als ethische Kommunika-
tion bewährt und ohne dieses Etikett nicht auskommt.
Im Folgenden sollen beide Phänomene, eine sich als ethisch verstehende Sozio-
logie und ethisch gerahmte Organisationskontexte, als genuin soziologische Ver-
anstaltungsformen der Vergesellschaftung verstanden werden, insofern sie eine
Einübung in den Umgang mit symmetrisierenden Kommunikationsformen dar-
stellen. Anhand von Beispielen soll dabei vorgeführt werden, wie ethische Kommu-
nikationen ihre Teilnehmer vergleichbar machen, wie sie sie in eine symmetrische
Beziehung zueinander setzen. Symmetrie erscheint dabei als nicht ganz zufälliges
Nebenprodukt einer Soziologie der sozialen Ungleichheit, aber auch einer Begrün-
dungspraxis, in der gute Gründe beliebige Teilnehmer an einem Diskurs auf glei-
cher Augenhöhe platzieren. Das Ethische der Soziologie experimentiert mit radi-
kalen Formen der Vergleichbarkeit von unterschiedlichen Beobachterperspektiven
(Arzt und Patient, Experte und Laie, Betroffener und Laie usw.).
Um mehr als die bloße Normativität dieser Praxis sehen zu können, ist zunächst
eine Distanzierung von den normativen Grundlagen der Soziologie5 hilfreich. Zen-
trale Grundbegriffe sollten nicht gleichzeitig für wünschenswerte Sachverhalte ge-
5
Damit ist keineswegs präjudiziert, dass sich eine systemtheoretische Beobachtung nicht
mehr für den „normativen Gehalt der Moderne“ (Habermas) interessiert. Der Unterschied
ist nur, dass man es nun nicht mehr automatisch tun muss.
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 47
halten werden: Symmetrie muss nicht gut sein, ein Mehr an Kommunikation muss
nicht hilfreich sein, Interaktion ist nicht authentischer als Kommunikation ohne
Anwesenheit.6 Diese normativen Elemente werden im Folgenden sehr beispielhaft
und schematisiert anhand von typischen Texten aus diesem weitgefassten Kontext
der Ethik auf den Begriff der Gleichheit zurückbezogen, um zu zeigen, mit welchen
Bildern von Gleichheit soziologische und ethische Argumentationen arbeiten. Am
Beginn dieser Studie wird zunächst eine normativ gefasste Soziologie selbst zum
Thema gemacht, die ‚Gleichheit‘ negativ über den Gegenbegriff der ‚sozialen Un-
gleichheit‘ bestimmt (1). Ein Blick auf die Besonderheiten der Habermasschen Dis-
kursethik kann im Anschluss daran verdeutlichen, wie es mit ihrer Hilfe gelingt,
dem Projekt der Moderne eine Gestalt zu geben und Gleichheit im Blick auf „das
bessere Argument“ positiv zu bestimmen (2). Eine hiervon geprägte (medizin)
ethische Beratungspraxis beerbt diese Tradition und treibt sie auf die Spitze, in-
dem sie jedwede Asymmetrie, eine solche des sozialen Status und des sachlichen
Arguments, ablehnt. Gleichheit wird hier wiederum negativ als Abwesenheit von
Asymmetrie bestimmt (3). Ein neuer Zweig einer sich als ethische Forschung ver-
selbstständigenden Soziologie macht hieraus eine positive Bestimmung, insofern
sie Situationen schafft, in der differente Betroffenheiten gleichzeitig aufeinander
bezogen werden können (4).
Damit gelangt der ethische Diskurs quasi selbstständig bei der Diagnose von
Perspektivendifferenz an. Symmetrien und Asymmetrien lassen sich auf dieser
Grundlage sowohl als funktionale Elemente der Generierung von Sinn verstehen
als auch als Semantiken, die strukturell aufeinander angewiesen sind: Ohne Asym-
metrien sind Symmetrien unsichtbar. Eine gesellschaftliche Evolution, die Symme-
trien privilegiert, muss auch Asymmetrien schaffen.
Niklas Luhmanns Sätze zur Moral und zur Ethik kommen sehr beiläufig daher,
sind aber vermutlich der entscheidende Punkt, an dem sich eine angelsächsische
von einer deutschen Theorietradition trennt. Er betont zunächst ganz einfach, dass
6
Die Grundfigur dieser Distanzierung von der impliziten Normativität findet sich in der
theoretischen Entscheidung für eine Loslösung des Begriffs des Sozialen vom Begriff des
Subjekts. Der klassische Satz von Niklas Luhmann dazu lautet: „Wenn Sinn, wie zumeist, mit
Bezug auf das Subjekt definiert wird, wirkt diese Tradition nach, die aus ihrem Leitbegriff
das Unwillkommene, ‚Sinnlose‘ ausschließt.“ (Luhmann 1985, S. 108) Eine subjektorientierte
Soziologie kann ähnliches in den Blick nehmen, muss dies jedoch dann als „Nebenfolge“
diskreditieren. Vgl. Beck 1996.
48 I. Saake
moralische Sätze auch als Inklusionsadressen funktionieren, dass sie also jemanden
ansprechen, um ihn einzubeziehen – oder um ihn auszuschließen. Der letzte Teil
dieses Satzes ist entscheidend, denn er beschreibt etwas, was üblicherweise nicht
mitverhandelt wird, wenn es um Moral geht: Das Reden über das Gute erscheint
fast immer selbst auch als gut, weswegen die exkludierende Wirkung von Moral
ungern mitbeobachtet wird.
Eine Soziologie der Ethik kann zeigen, wie moralische Kommunikation Perso-
nen adressiert und wie sie ihnen damit spezifische Inklusionsmöglichkeiten7 ver-
schafft. Die Form der Inklusion, die entsteht, wenn ethisch kommuniziert wird,
lässt sich als symmetrische Form der Inklusion verstehen, weil ethische Sätze, in
denen alter adressiert wird, typischerweise auch für ego gelten. In einem ausführli-
chen Essay zum Thema „Ethik als Reflexionstheorie der Moral“ stellt Niklas Luh-
mann dar, was damit gemeint ist. Die Moral löst das Problem einer Tautologie,
„dass für verschiedene Personen Dasselbe gelten soll: Und warum? Weil es Dasselbe
ist, das für verschiedene Personen gelten soll!“ (Luhmann 1989, S. 433). Sätze wie
dieser charakterisieren die Luhmannsche Theorieanlage und ihr Interesse für die
Entfaltung von Paradoxien. Dass Dasselbe Dasselbe ist, lässt sich nicht zeigen. Sinn
kann aus sich heraus nicht identisch sein; erst der Anschluss schafft eine Wieder-
holung und betont Identität – dies aber immer wieder aufs Neue. Der Bedarf für
symmetrische Kommunikation ergibt sich aus dieser Paradoxie heraus, die eine
Kommunikation wahrscheinlich macht, in der die Behauptung des Selben auf bei-
den Seiten die Negationsmöglichkeiten einschränkt. Man darf nicht widersprechen
und erlebt dies als Gemeinsamkeit. Armin Nassehi hat hierfür den Begriff der „in-
klusiven“ Rede (Nassehi 2006, S. 25) verwendet.
Die Herausforderung von moralischen Sätzen und philosophisch-ethischen
Theorien besteht also zunächst darin, mit Hilfe von Wörtern die Differenz unter-
schiedlicher Perspektiven zu überbrücken. Indem man moralisch redet, sagt man,
7
Unter Inklusion soll dabei zunächst ganz einfach nur verstanden werden, dass „im Kom-
munikationszusammenhang Menschen bezeichnet, also für relevant gehalten werden“ (vgl.
Luhmann 1994, S. 20). Hier zeigt sich, wie trocken eine soziologische Sprache klingt, die sich
für die Entstehungsbedingungen dessen interessiert, was die Soziologie sonst in normati-
ver Absicht immer schon voraussetzt. Man sieht aber auch, wie unscharf eine soziologische
Sprache ist, die den Menschen schon voraussetzt, ohne sich dafür zu interessieren, wann
und wieso es plausibel erscheint, von Menschen – oder auch von Subjekten – zu reden. Viel
produktiver, als den Begriff des Subjekts als Grundbegriff vorauszusetzen, ist es, sich dafür
zu interessieren, wann Personen als „Subjekte“ adressiert werden (vgl. Saake und Nassehi
2007, Mayr 2007).Wenn man die Rede vom Menschen auf diese Weise in Klammern setzt,
ergibt sich von alleine ein Blick dafür, in welch unterschiedlichen Schablonen von Menschen
geredet wird. Sie können Kunden, Täter, Eltern und Arbeitslose sein und werden in diesen
Formen jeweils anders angeredet (vgl. Fuchs 1999).
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 49
dass für die an der Kommunikation Beteiligten das Gleiche gilt. Es entsteht ein
„Wir“.
Was damit gemeint ist, kann man am besten verstehen, wenn man sich die
Fundierung soziologischer Sätze in der Annahme, Moral sei etwas Außersozia-
les, das das Gute repräsentiert, vor Augen führt. Die Luhmannschen Textpassagen
zum Thema polemisieren vor allem gegen diese Annahme. In ihrer Kritik an der
Amoralität der Luhmannschen Systemtheorie setzen Sighard Neckel und Jürgen
Wolf exakt an dieser Stelle falsch und eigentlich doch erwartungskonform an. Sie
kritisieren, dass die „Luhmannsche Moraltheorie … letztlich ihren soziologischen
Gegenstand, den sozialen Gehalt der Moral, zum Verschwinden (bringe). Sie ge-
rät zur handlungsentlastenden Institution, die dem ‚moralischen Minimalismus‘
(post)moderner Lebensformen zum theoretischen Ausdruck verhilft“ (Neckel und
Wolf 1988, S. 57). Ihre Begründung für diese Diagnose besteht in einer Beweis-
führung, die auf historisch problematische Formen von Achtungskommunikation
(Statusunterschiede, Kasten, unternehmerisches Kalkül…) hinweist, die ganz of-
fenkundig Ungleichheit produzierten, aber nicht moralisch gefasst seien (vgl. ebd.,
S. 64). Sie führen weiterhin aus, dass einer solchen Art von Achtungskommunika-
tion als z. B. Anerkennung von Status eben jener „differentielle Möglichkeitsraum
von Handlungen“ (ebd.) fehle, der zum Begriff dazugehöre. Für Neckel und Wolf
reicht zunächst schon die mögliche Negativität von Achtungskommunikation aus,
um sicher zu sein, dass es dabei nicht um Moral gehen kann. Den Begriff der Moral
reservieren sie nur für den Fall der Kritik an bestehender Ungleichheit und platzie-
ren sich damit selbst auf der Seite des Guten. Vor diesem Hintergrund rechtfertigt
sich der immer wiederkehrende Hinweis Luhmanns, dass alle Kommunikationen
in der Gesellschaft stattfinden, und also auch solche der Moral und der Ethik, die
auf ihren Entstehungsort in der Gesellschaft untersucht werden können – wenn
nicht die Soziologie dieses „Wir“ im Zusammenfallen von einer Moral, die nur das
Gute meint, und einer Gesellschaft, die moralisch sein muss, diesem forschenden
Blick entzieht.
Wie stark das Bedürfnis nach einem solchen gemeinsamen Fundament ist, zeigt
sich auch in einem Plädoyer von Scott Lash (1996) zu einer postmodernen Ethik
der Anerkennung von Differenz, die jedoch immer auf einen gemeinsamen Boden
verweisen soll. In einer Auseinandersetzung mit dekonstruktivistischen Theorie-
angeboten fordert er für die Soziologen etwas ein, was er „Groundedness“ nennt.
„My view is that the ethical and political critique of ‚high modernity‘ must contain
elements, on the hand of deconstruction and, on the other, of such groundedness“
(Lash 1996, S. 91). Am Beispiel der Philosophie von Emanuel Levinas stellt er im
Folgenden dar, wie eine solche soziologisch gehaltvolle Ethik aussehen könnte. Sie
könnte vom Kommunitarismus geprägt sein, insofern dieser ein gemeinsames Fun-
50 I. Saake
dament voraussetze. Aber es sollte doch letztlich um die Anerkennung des einzel-
nen in seiner Subjektivität gehen, die sich vor allem dann zeige, wenn alle „An-
rufungen“ einer zweckrationalen asymmetrisierenden Gesellschaft, ja sogar auch
einer rechtlich verfassten Institution wegfielen.
Es ist erstaunlich, dass eine angelsächsisch geprägte Debatte an solch eine sehr vo-
raussetzungsreiche Form der ethischen Begründung als „éthique esthétique“ (ebd.,
S. 101) mit ihrem Bekenntnis zur Moral so viel einfacher anschließen kann als an
die schlichte systemtheoretische Frage danach, wie das Gute der Moral entsteht.
Das gesamte Handwerkszeug einer systemtheoretischen Gesellschaftstheorie, in
der die ständige Formierung von Personadressen8 zum Alltag gehört, wird in der
Argumentation von Lash schon angedeutet, jedoch nicht genutzt. In einem Sam-
melsurium aus vielen ‚I‘ soll ein ,I‘ sichtbar werden, das sowohl betroffen ist und
damit unverwechselbar, das aber auch etwas Gemeinsames schafft und damit eine
neue Form des Zusammenlebens garantieren kann. Das sind nicht nur große Er-
wartungen, sondern auch sehr diffuse Voraussetzungen dafür.
Die Argumentationen von Neckel und Wolf und die von Lash münden typi-
scherweise in Paradoxien, die sie nur in „inklusiver Rede“ (Nassehi) auflösen kön-
nen: die Anerkennung von Ungleichheiten soll nicht eine moralische Disposition
sein und ist aber doch – indem sie zwischen richtig und falsch unterscheidet – eine
moralische Form der Anerkennung (Neckel und Wolf); Differenzen sollen nicht
in Ungleichheiten münden, aber sie verweisen auf Ungleichheiten (Lash). Mit den
klassischen Mitteln der Soziologie kann man diese Paradoxien nicht thematisieren,
man kann sie nur in eine soziologische Praxis des gemeinsamen „Wir“ überführen,
in der jeder schon weiß, dass das Gute richtig ist und Gleichheit erstrebenswert.
8
Worum es Lash hier geht, ist die Orientierung an Personschablonen, die sich in ihrer Un-
vergleichlichkeit der Beobachtung entziehen, die nicht relativierbar sind, die sich nicht in den
Begründungssog einer modernen Gesellschaft mit „selbsttragenden Strukturen“ (Luhmann)
hineinziehen lassen.
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 51
Wenn man soziologische Semantiken der Gleichheit auf ihren Entstehungsort hin
befragt, dann zeigen sich grundsätzliche Unterschiede zwischen Zugangsweisen,
die Gleichheit negativ über die Problematisierung sozialer Ungleichheit wahr-
nehmen, und der Habermasschen Ausarbeitung dieses Themas über die positive
Fassung von Gleichheit als Gleichheit im Angesicht des besseren Arguments. Im
Folgenden soll nun die Habermassche Theorie des rationalen Diskurses als Bei-
spiel für eine Konkretisierung der positiven Seite durchgesetzter Gleichheit gelesen
werden. Während sich die Soziologie sozialer Ungleichheit üblicherweise mit der
Rekonstruktion und Kritik verschiedener Varianten sozialer Ungleichheit ausein-
andersetzt (vgl. Kreckel 2004), „empirisiert“ Habermas die Gestalt einer durch-
gesetzten Gleichheit in der Figur des besseren Arguments, das sich über einen
„zwanglosen Zwang“ (Habermas 1992, S. 370) entfaltet.
Grundlage der Habermasschen Theorie des moralischen Diskurses ist zunächst
eine allgemeine, in der „Theorie des kommunikativen Handelns“ rekonstruktiv,
also in der hermeneutischen Auseinandersetzung mit bereits vorhandenen Theo-
rien, erzeugte Diagnose der modernen Gesellschaft. Demzufolge lässt sich die
Überführung von ritualisierten Elementen in eine sprachliche Verständigungs-
praxis als Charakteristikum der modernen Gesellschaft bezeichnen. Was man als
ein ständiges Mehr an Kommunikation erleben kann, bezeichnet diese Theorie als
„kommunikative Verflüssigung“ (vgl. Habermas 1981). In den Worten von Jürgen
Habermas heißt dies, „dass die sozialintegrativen und expressiven Funktionen, die
zunächst von der rituellen Praxis erfüllt werden, auf das kommunikative Handeln
übergehen, wobei die Autorität des Heiligen sukzessive durch die Autorität eines
jeweils für begründet gehaltenen Konsenses ersetzt wird. Das bedeutet eine Frei-
setzung des kommunikativen Handelns von sakral geschützten normativen Kon-
texten. Die Entzauberung und Entmächtigung des sakralen Bereichs vollzieht sich
auf dem Wege einer Versprachlichung des rituell gesicherten normativen Grund-
einverständnisses; und damit geht die Entbindung des im kommunikativen Han-
deln angelegten Rationalitätspotentials einher. Die Aura des Entzückens und Er-
schreckens, die vom Sakralen ausstrahlt, die bannende Kraft des Heiligen wird zur
bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprüche zugleich sublimiert und verall-
täglicht“ (Habermas 1981, S. 118 f).
Konventionen werden also durch Diskurse ersetzt, Rituale durch Sprache. Mit
der Sprache selbst, so Habermas, ist jedoch darüber hinaus „Verständigung“ ge-
geben. Wiederum in seinen eigenen Worten: „Argumentationsteilnehmer können
der Voraussetzung nicht ausweichen, dass die Struktur ihrer Kommunikation, auf-
grund formal zu beschreibender Merkmale, jeden von außen auf den Verständi-
52 I. Saake
heiten“ eines lebensweltlichen Alltags sichtbar gemacht werden (vgl. Saake 2010).
Die Kohlbergsche 6. Stufe der Orientierung am universalen ethischen Prinzip wird
erkennbar nicht von allen erreicht, um die Zustimmung der EU-Bürger muss noch
gerungen werden und mit der Entstehung einer von Massenmedien geprägten Ge-
sellschaft ist zu befürchten, dass die Gefahr der ‚bloßen Meinung‘ entsteht. Ohne
reziproke Sprecher- und Adressatenrollen, ohne face-to-face-Interaktion, ohne das
gemeinsame Ziel, eine Entscheidung herbeizuführen, werden die Massenmedien
zu einem ‚Kontext der Abstraktion‘: „Massenkommunikation ist insofern ‚abstrakt‘,
als sie von der physischen Anwesenheit der mehr oder weniger passiven Rezipien-
ten absieht und sich über die Unmittelbarkeit der konkreten Blicke und Gesten,
Gedanken und Reaktionen von Anwesenden und Adressaten hinwegsetzt“ (ebd.,
S. 159). Meinungen werden dann zu „bloßen Meinungen“ (ebd., S. 160), die nicht
mehr an der Zustimmungsfähigkeit der anderen interessiert sind, da sie nicht mehr
unter der Bedingung von „Teilnahme“ formuliert werden.
Was mit Symmetrie gemeint ist, wird mit Hilfe dieser Theorieform ausbuch-
stabierbar, jedoch nur um den Preis, die Asymmetrien konkreter Anwesenheits-
kontexte noch stärker in den Blick zu rücken. Symmetrie wird kontrafaktisch im
Erleben und in der Kritik der Asymmetrie des Diskurses sichtbar. Ethische Kom-
munikation, wie sie von Habermas konzipiert wird, muss für die Wahrnehmung
von Asymmetrien sensibilisieren, um Gleichheit darzustellen.
Geht es nun um das Erleben von Ungleichheit oder um die Gleichheit? Ein Blick
auf entsprechende Debatten der Medizinethik und ihre Schematisierung über die
Figur des dominanten Arztes verdeutlicht, wie sich die Habermassche Diskurs-
theorie als eine ethische Praxis verselbstständigt und dass auch das Erleben der
Asymmetrie eine verallgemeinerungsfähige Grundlage für ethische Kommuni-
kation darstellen kann. Der Blick richtet sich dabei auf sozial und sachlich Ver-
schiedenes und vermutet in dem, was sich bewährt, einen illegitimen Anspruch
auf Überlegenheit. Auch das „bessere Argument“ gerät nun selbst in die Kritik,
insofern es eine Asymmetrie repräsentiert.
mer nur einer fragt und der andere immer nur antwortet. Dabei fällt auf, dass der
Arzt Fragen formuliert, die nur mit Ja oder Nein beantwortet werden können, dass
er öfter unterbricht und dass seine Fragen für den Patienten keinen Zusammen-
hang aufweisen. (Vgl. Hak 1994; Maynard 2003) Virginia Teas Gill illustriert in
einer Studie, dass dieses Muster des turn taking verhindert, dass der Patient selbst-
ständig Erklärungen für seine Probleme anbringen kann. Diese Möglichkeit bleibt
den Ärzten vorbehalten, die dafür wiederum einen Patienten benötigen, der als
Auskunftsquelle funktioniert. (Vgl. Gill 1998)
Solche und ähnliche Forschungen blenden aus, was sich auch als Funktionali-
tät einer speziellen Kommunikationslogik rekonstruieren lässt (vgl. Saake 2003).
Von Funktionalität soll hier nur insofern die Rede sein, als es darum geht zu zei-
gen, wieso sich eine solche asymmetrische Kommunikationsform selbst stabilisiert.
Der Funktionsbegriff der Luhmannschen Systemtheorie setzt eine moralisch nicht
infizierte Soziologie voraus und er verhandelt dementsprechend nicht die Frage
danach, ob eine solche Funktion richtig oder falsch ist. Wenn man beides auseinan-
derhält, die Kritik einer moralisch fragwürdigen Dominanz und die Beobachtung
der Funktionalität medizinischer Dominanz, entstehen Fragen, die den medizini-
schen Alltag in ein neues Licht rücken. Zunächst ist zu vermuten, dass die Dauer-
haftigkeit des Problems der medizinischen Dominanz eventuell darauf verweist,
dass die Funktionalität der Medizin nicht ohne ihre asymmetrische Inszenierung
zu haben ist. Eine systemtheoretisch orientierte Medizinsoziologie stößt an dieser
Stelle schnell auf sehr spezialisierte Behandlungskontexte, in denen zunächst eine
partnerschaftliche Situation der Beratung über Ursachen und Folgen einer mög-
lichen Therapie geschaffen wird, die dann aber – sozusagen nach Abfassung des
Behandlungsvertrags und mit Beginn der Therapie – in eine starke Asymmetrie
überführt wird. Onkologen berichten, dass sie mit Beginn einer problematischen
Therapie nicht mehr von Risiken reden, um den Patienten auf eine hoffnungsvol-
le Zukunft festlegen zu können (vgl. Saake 2003). Sie beschwören den Patienten,
um ihn behandlungsfähig zu machen, um sein Vertrauen, seine „compliance“ zu
gewinnen. Jenseits eines Diskurses der bloßen Inszeniertheit ärztlicher Expertise
lässt sich an dieser Stelle besser von der „Performanz des Medizinischen“ sprechen,
bei der Heilung zu einer Frage der Kommunikation von medizinischer Wahrheit
wird (vgl. ebd., S. 455 f.). Die Asymmetrie zwischen Arzt und Patient bestätigt ärzt-
liche Expertise, um in einer vielleicht mitunter auch negativ verlaufenden Zeit der
Therapie sicherzustellen, dass der Patient sich selbst auf den Erfolg der Behandlung
festlegt. Die – aus einer Perspektive des unbetroffenen Beobachters – nicht wahre
Kommunikation des Arztes adressiert eine Psyche, die sich auf den Arzt und nicht
auf die Signale des Körpers verlässt. Der Arzt erhält auf diese Weise einen freieren
Zugang zum Körper, an dem er ausprobieren muss, wie diese und jene Behandlung
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 55
anschlägt – wohlwissend um die Chancen und die Risiken, aber auch um die Nicht-
kalkulierbarkeit jedes medizinischen Handelns, das trotz aller modernen Möglich-
keiten eben doch keine deterministische Technologie ist.
An diesem Beispiel lässt sich gut demonstrieren, wie sehr die Unterstellung von
Gleichheit als moralischem Wert den Blick auf solche Situationen verstellt.9 Sie ver-
deckt die Frage danach, wie sich die Unterschiedlichkeit des Wissens in den immer
schon zeitlich limitierten Kontakten zwischen Laien und Experten kompensieren
lässt. Warum muss sie verdeckt werden? Warum wird sie über eine entsprechen-
de Stilisierung des Arztes als Vorbild ästhetisch aufgefangen? (Vgl. Osborne 1994)
Gunnar Stollberg hat in überzeugenden Studien zur Alternativmedizin demons-
triert, wie stark die Asymmetrie gerade dort ist, wo sich der Patient auf ein eso-
terisches Wissen verlässt, das sich jeder wissenschaftlichen Kritik qua Programm
entzieht – im Unterschied zur Schulmedizin (vgl. Frank und Stollberg 2004). Die
Akzeptanz der verständnisvolleren, „egalitären“ Alternativmedizin würde dann ge-
radezu auf Techniken des umfassenden Ausschließens von Kritikformen gründen.
Deutlich wird dabei, dass all diese Situationen immer damit zu tun haben, unter-
schiedliches Wissen einerseits sichtbar zu machen, wenn es z.B. um Beratung geht,
andererseits jedoch unsichtbar, wenn es um eine Behandlung geht, die sich in ihrem
Verlauf dem Wissen des Laien notwendig entziehen muss. Die einzige verbleibende
Basis ist dann Vertrauen.10
Dieser Weg zur Entproblematisierung von Asymmetrie ist Kontexten verwehrt,
die sich – wie Ethikkommitees und Ethikkonsile – nur der Deliberation widmen.
Eine plausible Unterscheidung von negativer ärztlicher Dominanz einerseits und
positiver ärztlicher Expertise andererseits lässt sich hier kaum rechtfertigen. Der
Arzt weiß zwar mehr, aber es darf nicht so aussehen, als würde nur er entscheiden.
Also müssen auch diejenigen etwas sagen, die sonst nicht so viel sagen – auch wenn
sie nicht so viel wissen. Empirische Studien zu Ethikkonsilen legen den Schluss
nahe, dass es in ethischen Organisationskontexten vor allem um die Umverteilung
9
Eine andere Lesart findet sich bei Talcott Parsons und seiner Professionssoziologie, aber
dieser Bezug ist gleichzeitig auch riskant, da er eine systemtheoretische Lesart einer konser-
vativen Rechtfertigung des Paternalismus nahelegt. Parsons sieht in dem Patienten jeman-
den, der die Krankheit zum Vorwand nimmt, um zu regredieren und sich auf diese Weise
den gesellschaftlichen Verpflichtungen zu entziehen. Der Arzt muss dies verhindern und
benötigt dafür eine Rolle als „Träger der sozialen Steuerung“ (Parsons 1979, S. 69 f.). Der
Funktionsbegriff wird hier als Hinweis auf kausale Zusammenhänge gelesen, die Asymmet-
rie ist dann die Ursache für die zu bewirkende Wirkung der gesellschaftlichen Stabilisierung.
10
Vgl. hierzu die Ausführungen von Luhmann zu „Vertrauen: Ein Mechanismus der Reduk-
tion sozialer Komplexität“. Das Argument verweist sehr viel allgemeiner auf die Komplexität
und Uneinsehbarkeit schon alltäglicher Routinen und die Notwendigkeit von schlichtem
Vertrauen auf der Grundlage entsprechender Asymmetrien (vgl. Luhmann 2000).
56 I. Saake
von Redeanteilen geht (vgl. Nassehi et al. 2008, siehe auch die Beiträge in diesem
Band von Saake/Kunz und Atzeni/Mayr). Unsere eigenen Studien zu ethischen Or-
ganisationskontexten verdeutlichen einerseits, dass die Figur der sprachlichen Ver-
ständigung im Sinne einer Semantik der Gleichheit empirisch tatsächlich unver-
meidbar ist: Hat man erst einmal angefangen zu diskutieren, dann will man auch
verstanden werden, und zwar von jedem Teilnehmer. Deutlich wird bei diesen Stu-
dien jedoch auch, dass eine Ethik befolgt wird, in der das gemeinsame Erleben der
guten Argumentation – nach den Regeln der Diskursethik – wichtiger ist als das Er-
leben der Wahrheit der Argumentation. Nicht das gute Argument steht im Vorder-
grund des untersuchten Ethik-Diskurses, sondern die gute Argumentation, bei der
alle mitreden dürfen und bei der jedes Argument geäußert werden kann. Von den
Teilnehmern wird folgerichtig erwartet, dass sie eigene Argumente nicht wieder-
holen, weil dies auf professionelle Routinen verweisen würde, auf außersprachliche
Zwänge. Die Beteiligten unterwerfen sich dem Zwang, immer wieder neue und un-
erwartete Argumenten zu produzieren, um sich und die anderen Teilnehmer von
der Authentizität des Diskurses zu überzeugen. Sie vermeiden den Eindruck, als
würde jemand nur sagen, was er immer schon gesagt hat. Die Authentizität des
Sprechers und nicht die des guten Arguments steht damit letztlich im Vordergrund.
Paradoxerweise wird damit das ‚bessere Argument‘ selbst delegitimisiert, denn in-
haltliche Positionen können sich wegen ihrer Erwartbarkeit nicht bewähren. Dass
dies vor allem die Sätze der Ärzte betrifft, auf deren Authentizität die Teilnehmer
besonders achten, kann nicht verwundern. Der junge männliche Arzt erscheint da-
bei als Inbegriff einer wenig hilfreichen ärztlichen Expertise.
Dieser Prozess der „Ethischen Sensibilisierung“ (Saake und Kunz in diesem
Band) – Argumentieren erscheint nun als ein Problem der wahrhaften Sprecher,
nicht als eines der Wahrheit – relativiert die Habermassche Argumentation inso-
fern, als ihr Wahrheitsanspruch nicht bestritten wird, die Reichweite jedoch aus-
gedehnt wird. Als Problem von Gleichheit wird nun nicht mehr die soziale Un-
gleichheit der Teilnehmer angesehen, sondern Asymmetrie allgemein. Auch eine
Asymmetrie, die durch das bessere Argument entsteht.
Die Dekonstruktion dieser Argumentation soll nicht den inszenierten Charak-
ter dieser Debatte zeigen, sondern vielmehr die Erklärungsnöte offen legen, die
sich im Umfeld von bioethischen Debatten ergeben. Expertise ist gefragt, aber sie
muss von vornherein – noch vor ihrem ersten Satz – lernen, sich „ethisch sen-
sibilisiert“ darzustellen. Die Grundlage für diese Erwartung findet sich einerseits
in der Vermutung der Illegitimität reiner Expertise, andererseits aber auch in der
Relativierung der moralischen Laienmeinung, die sich nun als nur noch lebens-
stadienspezifische Aussage, als Resultat einer jeweils kontextabhängigen mehr oder
weniger großen Betroffenheit wiederfindet. Die Personschablone „Mensch“ als
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 57
kleinster gemeinsamer Nenner steht im Mittelpunkt, aber der Mensch ist nur noch
eine Momentaufnahme, wenn er um seine Meinung gebeten wird.11
All diese Themen sind Themen nur noch von Lebensstadien, von Betroffenen-
gruppen, die selber an sich lernen können, dass sie in der konkreten Situation alles
anders sehen als vorher. In diesen Sätzen finden sich Partizipationsangebote wie-
der, die Beteiligte erzeugen, die sich selbst als unzuverlässige Urteiler, als Urteiler,
die sich verändern, erkennen sollen. Nur wer das weiß, urteilt als „Mensch“. Die
Partizipationsangebote hinterlassen auf diese Weise viele Betroffene und Laien, die
sich selbst für unzuverlässige Beurteiler der Situation halten müssen. Dass „Das-
selbe“ also zunächst auf „Verschiedenes“ verweist, wird mit solchen Sätzen immer
deutlicher. Ethik wäre demzufolge falsch verstanden, wenn man sie schlicht als eine
Verständigungspraxis ansehen würde, als den Ort, an dem „Dasselbe“ geschaffen
werden soll. Das war vielleicht plausibel, so lange Partizipationsangebote noch über
einen gemeinsamen Wissenshorizont der Teilnehmer als Experten stabilisiert wer-
den konnten. Wenn sich die Teilnahmebedingungen jedoch erweitern, ist letztlich
offen, ob in der Sachdimension eines gemeinsamen Wissens oder in der Sozialdi-
mension der inszenierten Unterschiedlichkeit und ihrer Anerkennung angeschlos-
sen wird. Unter Ethik würde man dann eine Situationsbeschreibung verstehen, die
zunächst entschieden asymmetrisch ist, die dann aber darüber resymmetrisiert
wird, dass sich jeder selbst hypothetisch als Betroffener sehen kann.12
Diese Problembeschreibung entfaltet ihre Bedeutung erst dann, wenn man sich
vor Augen führt, wie sehr unter modernen Bedingungen gerade nicht in face-to-
face-Situationen einer ethischen Deliberation angeschlossen wird. Die Diagnose
einer Organisationsgesellschaft, die über Kontexte der Interaktion hinausweist, war
11
Eine entsprechende Zusammenfassung von Wolfgang van den Daele betont diese Rela-
tivierung einerseits und unterschlägt sie dann doch in der Aufrundung als „Umgang mit
Natur“: „Die Dynamik bioethischer Kontroversen rührt daher, dass die Beteiligten nicht nur
Fragen des Umgangs mit anderen Menschen (Status von Embryonen, Abtreibung, Behand-
lungsabbruch bei schwerstbehinderten Neugeborenen und Sterbenden) im Sinne strikter Re-
geln moralisieren, sondern auch Fragen der Verfügung der Menschen über sich selbst (künst-
liche Befruchtung, gentechnische Eingriffe und prädiktive Gendiagnostik, Sterbehilfe) und
des technischen Umgangs mit Natur überhaupt (‚Würde der Kreatur‘, Integrität von Leben)“
(van den Daele 2001a, S. 483).
12
Interessanterweise findet sich hier ein Element wieder, das für die Habermasschen Dis-
kursethik zentral ist, nämlich die „hypothetische Einstellung“ (Habermas 1983, S. 97 f.) der
Diskursteilnehmer. „(A)us dieser Perspektive verwandeln sich Dinge und Ereignisse in Sach-
verhalte, die sowohl existieren als auch nicht existieren können; ebenso verwandeln sich be-
stehende, d. h. faktisch anerkannte oder sozial gültige Normen in solche, die sowohl gültig,
d. h. anerkennungswürdig als auch ungültig sein können.“ (Ebd., S. 170) Vgl. hierzu auch die
Debatte um das „gute Sterben“ (Saake 2008).
58 I. Saake
fältig sind. Manche Interviewpartner fühlten sich sogar betroffen, obwohl sie nur
eine genetische Untersuchung durchlaufen hatten, eine genetische Erkrankung bei
ihnen aber nicht vorliegt.13 Für die Selbstbeschreibung benötigten die Teilnehmer
der Untersuchung jeweils entsprechende Kommunikationsanlässe, anhand derer
sie sich dann identifizieren konnten. Auch für sie selbst war es neu zu wissen, dass
sie Betroffene oder Nicht-Betroffene sind.
Im Vergleich dieser beiden Gruppen von Betroffenen und Nicht-Betroffenen
ergab sich ein Ergebnis, das aus der eingangs getroffenen Unterscheidung der For-
scher viel Gewinn schlägt. „In all our groups, the idea is frequently articulated that
being affected constitutes a specific epistemic status, that is, a cognitively distinct
position on matters that are related to the respective medical condition. Thus, many
affected and lay people express the thought that being affected was likely to consi-
derably change one’s whole perception of a medical technology“ (ebd., S. 62). Die
Betroffenen unterscheiden sich von den Nicht-Betroffenen grundsätzlich darin,
dass sie einen deutlichen Vorsprung im Hinblick auf die Deutung des jeweiligen
Krankheitsbildes haben. Die Laien respektieren dies und betonen, dass sie eigent-
lich nicht mitreden können, weil sie selber in der Situation noch nicht waren (ebd.,
S. 63).14 Diese Studie zeigt beispielhaft, wie sehr es in solchen interviewbasierten
Selbstbeschreibungen um die Innenperspektive von authentischen Subjekten geht,
die sich als Repräsentanten ihrer jeweiligen Situation wiederfinden. Es entstehen
dabei zunächst vor allem unterschiedliche Partizipationsformen, die nur noch
hypothetisch symmetrisiert werden können, indem man sich vorstellt, man könne
besser urteilen, wenn man selber betroffen sei.
Ganz ähnlich lässt sich eine soziologische Studie von Nina Nikku und Bengt
Erik Eriksson zum Thema „Microethics in Action“ (2006) als Entdeckung von
Differenz verstehen. Im Unterschied zu „general theories and analytical models“
13
Schon hier zeigt sich wiederum, wie im Laufe der Forschung qua Praxis ein Blick dafür
entsteht, dass Personschablonen hergestellt werden. Eine ethnographische Analyse trägt die-
sem Befund Rechnung, indem sie accounts untersucht und recipients. Sie bleibt jedoch me-
thodisch an die Authentizität der Selbstdarstellung gebunden und wird deshalb unflexibel,
wenn es um die moderne Vervielfältigung von Adressen in Authentizitätspraxen geht. (Vgl.
Nassehi und Saake 2002)
14
Darüber hinaus ergeben sich aus diesem Unterschied auch noch andere plausible Konse-
quenzen: Die Betroffenen verwenden einen pragmatischeren Redestil, während die Laien
eher die Form der Deliberation wählen und hypothetisch reden (ebd., S. 63). Auch die Be-
reitschaft zur Organspende scheint von diesem Unterschied betroffen zu sein. Die Betroffe-
nen sprechen sich für eine größere Verpflichtung zur Organspende post mortem aus, auch
um ihre eigenen Familienmitglieder vor dem Druck des Spendens zu schützen, während die
Laien die Lebendspende bevorzugen, da sie dem Willen des Spenders stärker unterworfen
ist (ebd.).
60 I. Saake
(ebd., S. 170) geht es den Autoren um einen alltäglichen Blick auf klinisches Ge-
schehen aus der Perspektive der Teilnehmer (ebd., S. 170). Ethiker – so sagen sie
– interessierten sich eher für repräsentative Einzelfälle, den Soziologen ginge es
stattdessen um die Komplexität der gesamten Situation und um daran orientierte
Bewältigungsstrategien. Die Studie beschäftigt sich auf dieser Grundlage damit, auf
welch unterschiedliche Art und Weise sich die Pflegekräfte als private Personen
mit der privaten Situation einer schwerstpflegebedürftigen Frau auseinandersetzen.
Eine Differenz zwischen den Interviewpartnern im Hinblick auf Inszenierungen
von Privatheit stellt sich dabei automatisch ein und soll im Folgenden gar nicht
weiter beschrieben werden. Verständlich wird diese Studie nämlich nicht über die
Schlichtheit ihres Ergebnisses, sondern über ihr Verfahren. Die Trennung der orga-
nisatorisch hergestellten Rollen wird in der forschungstechnischen Konzentration
auf eine gemeinsame Situation der Gleichzeitigkeit aufgehoben. Privatheit wird von
allen Beteiligten thematisiert und schafft als Thema eine Vergleichbarkeit der Per-
spektiven bei zu erwartender maximaler Differenz. Ist dies nicht eigentlich nur ein
methodisches Artefakt?
Eine Bestätigung findet dieses Verfahren, bei dem eine solche Differenz syste-
matisch hergestellt wird, auch in einer Studie von Reidun Forde, Reidar Pedersen
und Victoria Akre, die in Norwegen Ärzte danach befragt haben, ob Ethikkonsile
für sie hilfreich waren (Forde et al. 2008). Als Ergebnis dieser Befragung lässt sich
eine Kritik der beteiligten Ärzte festhalten, derzufolge nicht immer alle relevan-
ten Informationen bzw. Experten im Ethikkonsil verfügbar waren, weswegen auch
der Fall nicht immer transparent dargestellt werden konnte (vgl. ebd., S. 21 f., 32).
Wichtiger als diese Kritik schien jedoch den Beteiligten zu sein, dass vor allem
die ethische Abwägung als Auseinandersetzung mit differenten Perspektiven sehr
geschätzt wird, nicht so sehr das Ergebnis des Konsils selbst (ebd., S. 24). Die Be-
währung dieses Verfahrens zeigt sich auch in einer Studie von Rhonda Shaw zu
verschiedenen Techniken der Körperspende (2010). Wiederum wird darauf ver-
wiesen, dass es um Kontexte, statt um ethische Prinzipien geht und um eine all-
tägliche Form des „doing ethics“ (ebd., S. 445). Auch hier kann das Ergebnis – die
Spender haben unterschiedliche moralische Codes, nach denen sie handeln –,
nicht überraschen, wohl aber offenbar das Verfahren, bei dem unterschiedliche
Betroffenengruppen über ein Thema vergleichbar gemacht werden. Es ist offen-
bar ein gutes Ergebnis, wenn gezeigt wird, wie vielfältig Perspektiven sein können.
Medizinethische Forschung erzeugt auf diese Weise als Merkmal ethischer Kom-
munikation die Darstellung von Betroffenheit und – darüber hinaus – die Erwar-
tung von Differenz.
Wie weit sich diese Praxis der Kommunikation von Ethik von der Idee von
Gleichheit als der ‘gleichen Betroffenheit von guten Gründen‘ (Habermas) entfernt,
um sich mit einem Gefühl von Betroffenheit zufriedenzugeben, zeigt eine weitere
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 61
für die Soziologie der Ethik sehr zentrale Studie. Erica Haimes und Robin Wil-
liams haben in einer Begleitstudie zur Entstehung einer englischen Biodatenbank
gezeigt, wie Teilnehmer der Studie anstatt zu ethischen Entscheidern nur zu „ethi-
cal beings“ (Haimes und Williams 2007, S. 464) werden. Obwohl die Teilnehmer
der Studie im Vorfeld auf problematische Aspekte einer Freigabe von persönlichen
Daten hingewiesen worden waren, machten über 90 % der angesprochenen Per-
sonen mit und spendeten Blut für eine privat organisierte Gendatenbank (ebd.,
S. 461). Die begleitende Studie unter der Leitung einer Soziologin und eines Philo-
sophen konnte dann zeigen, dass viele der Teilnehmer letztlich gar nicht wussten,
inwiefern sie teilgenommen hatten, ob sie z. B. nur Blut gespendet hatten oder ob
sie auch den Fragebogen ausgefüllt hatten. Haimes und Williams formulieren des-
halb als Ergebnis:
Die Autoren verweisen darüber hinaus auf die Studie von Thomas Osborne zur
„medical stylization“ (Osborne 1994), die letztlich auch zeige, dass es nur um die
Form gehe, aber nicht um Inhalte. Für sie ist entscheidend, dass nicht die allgemei-
nen bioethischen Normen Anwendung finden, sondern eine Ästhetisierung des
eigenen Selbst (ebd., S. 464). Sie wenden sich mit dieser Einschätzung gegen die Be-
hauptung, ethische Begleitforschung diene selbst dazu, problematische Forschung
zu legitimieren, während eigentlich die Teilnehmer solcher Studien gar nicht wüss-
ten, worum es ginge15.
15
Diese Art von Argumentation haben Klaus L. Hoyer und Richard Tutton entfaltet, indem
sie zu Recht schlicht auf „language-games of ethics“ (ebd., S. 397) verweisen. Die gleiche
Angelegenheit, die Haimes und Williams gerade noch gerechtfertigt haben, hört sich nun so
an: „In accordance with this focus on autonomy in medical ethics, UK Biobank constructs a
particular form of ethics that does not make it possible to deny others the right to participate
in research: it is a choice to be made by the individual participant – which of course from a
normative standpoint might be regarded as perfectly laudable. This emphasis on the right of
the individual resonates with other recent developments in medical research ethics, where
cancer patients have promoted their ‚right‘ to enrol in early-stage research programmes; in-
fertile couples seek help from cloning specialists; and patient organizations lobby to stimu-
62 I. Saake
Zeigen lässt sich auf diese Weise, dass ethische Begleitforschung den Focus auf
die Darstellung als ‚ethical being‘ lenkt, während gleichzeitig kognitive Formen der
inhaltlichen Auseinandersetzung mit Argumenten in den Hintergrund treten. Die
Teilnehmer verstehen sich als kompetente Entscheider, sobald sie sich als „ethisch“
darstellen. Im besten Falle könnte man das Etikett ‚ethisch‘ noch als gut rechtfer-
tigen, wenn man annähme, dass die Darstellung von Betroffenheit als einer guten
Form, in der jeder einer eigenen Perspektive folgt und sich seine eigenen Gedanken
macht, die Idee des „guten Arguments“ nur auf eine unbestimmte Zukunft vertagt.
Eine solche Semantikanalyse wie die von mir hier durchgeführte kann verdeut-
lichen, welchen Gewinn eine Soziologie der Ethik aus der Beforschung einer Praxis
entsprechender soziologischer und ethischer Programme ziehen kann16. Eine Re-
konstruktion der Versprechen soziologischer Ethikforschungen verdeutlicht dabei,
dass es zunächst um Begriffe geht, anhand derer sich die Soziologie ihre Themen
erschließt. Mit einem an Empirie geschulten Blick auf ethische Beratungsformen
kann man darüber hinaus zeigen, inwiefern diese Praxis eine genuin soziologische
ist, aber auch wie sie die Begriffe selbst in ihrer Bedeutung verschiebt. Während
die Soziologie Gleichheit unproblematisch als Gegenteil sozialer Ungleichheit ver-
steht und entparadoxiert, entsteht in explizit ethischen Beratungskontexten eine
darüber hinausgehende Erweiterung des Begriffs. Nicht der negative Wert (soziale
Ungleichheit) qualifiziert den Begriff; er wird nun selbst positiv gefasst als (zukünf-
tige) Zustimmung aller Betroffenen.
Zum Schluss soll nun dargestellt werden, wie eine systemtheoretische Soziologie
der Ethik sich systematisch auf Kontexte der ethischen Deliberation beziehen kann.
An die Stelle der theoretisch voraussetzungsreichen Annahme einer umstandslos
symmetrischen Kommunikation (vgl. Habermas 1983; Honneth 1992; Celikates
2009) tritt dabei die theoretisch angeleitete Beobachtung, dass Symmetrie auf das
Bezugsproblem der Perspektivendifferenz reagiert. Empirisch lässt sich dann zei-
gen, dass „ethical beings“ (Haimes und Williams) nicht nur Stilvorlagen folgen,
late more research in their disease …. The representation of research participation in the
framework as a positive and actively asserted right is in contrast to the documented history
of research repeatedly having involved exploitation of the poor and the weak. […] Instead of
a potential threat, research is here represented as an opportunity or even a right.“ (Ebd., S. 5)
16
Die Anerkennungstheorie von Axel Honneth (1994) lässt sich auf dieser Grundlage als
eine entsprechende theoretische Praxis der Symmetrisierung verstehen. Im Unterschied zu
einer Habermasschen Argumentation, in der es zentral um die Verabschiedung von meta-
physischen Annahmen geht und um die Fundierung aller Theorie in einer Praxis, in der
„einer dem anderen Gründe dafür nennt, warum er wollen kann, dass eine Handlungsweise
sozial verbindlich gemacht wird“ (Habermas 1983, S. 81), geht es Honneth mit seinem Rück-
griff auf eine Hegelsche Wahrheit doch wiederum nur um die philosophische Ausschmü-
ckung dieses soziologischen Arguments.
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 63
5 Schluss
einen anderen Blickwinkel hat, und beginnt dann, diese andere Perspektive darzu-
stellen. Gleichheit erscheint hierbei nur noch als zukünftiges Versprechen.
Von einer Zunahme symmetrisierender Kontexte auszugehen, heißt also nicht
notwendig, dass Asymmetrien abnehmen. Eine symmetrische Platzierung von Per-
sonschablonen einzufordern, rechtfertigt sich in besonderer Weise vor dem Hin-
tergrund einer diskursethischen Entfaltung von Asymmetrien bzw. Perspektiven-
differenzen. Symmetrische und asymmetrische Semantiken sind an dieser Stelle
zunächst gleichermaßen wahrscheinlich. Entscheidend für eine soziologische Ana-
lyse wäre nun mitzubeobachten, welche Asymmetrien weiterhin als plausibel er-
scheinen und welche als problematisch. Das entscheidende Instrument dafür ist
die Untersuchung von Inklusionsformen, also die Frage danach, wie Semantiken
Personen als Adressen schaffen. Zunächst ist mehr als plausibel, dass alles, was
unter den Begriff der identity politics fällt, etwas beschreibt, was an die vorherige
Stelle der Biographie getreten ist. Dass Biographien flüssiger werden, ist dabei gar
nicht so sehr entscheidend. Viel spannender ist es zu sehen, wie sich diese biogra-
phischen Selbstbeschreibungen stabilisieren. Wer sich an das ständige Vorhanden-
sein anderer Perspektiven gewöhnt, der begegnet auch sich selbst nicht mehr als
Biograph, sondern nur noch als authentischem Sprecher. Ethische Prinzipien, Pa-
tientenverfügungen und Testamente gewinnen vor diesem Hintergrund eine neue
Bedeutung als voraussetzungsreiche Formen einer zeitlichen Symmetrisierung von
lebenslaufbezogenen Phasen.
Wie radikal die gesellschaftliche Semantik der Gleichheit alles einem Verfahren
der Symmetrisierung unterzieht, lässt sich an dieser Stelle nur beispielhaft auslo-
ten. Das verwendete Material, „moralisch infizierte“ Fachtexte, lädt den Leser ein,
sich als Beobachter, nicht als Teilnehmer eines solchen Diskurses zu verstehen. Das
interessierende Phänomen der Infektion mit Moral kann dabei viel ernster genom-
men werden, insofern es sich nun nicht mehr als Resultat des guten Willens von
Betroffenen einstellt, sondern als eine Semantik mit einem „Potential zur Selbst-
transformation“ (Habermas 1990, S. 20).17
17
Für die Plausibilisierung dieses Versprechens der Habermasschen Theorie genauso wie für
dessen systemtheoretische Rekonstruktion braucht man eine Gesellschaftstheorie. Die Kritik
an der großen Form der grand theory genauso wie die forschungstechnische Unterschlagung
von gesellschaftlichen Differenzierungsformen (in ethnographischen und interaktionsori-
entierten Studien, vgl. beispielhaft Hirschauer 1996) setzt bereits bei voraussetzungsreichen
Symmetrisierungsleistungen an, ohne diese noch thematisieren zu können.
Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 65
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Soziologie der Ethik. Semantiken symmetrischer Kommunikation 67
Martin Stempfhuber
Was bekommen Soziologen in den Blick, wenn sie sich mit Normen beschäftigen?
Schon der Untertitel dieses Textes deutet an, dass es in soziologischen Diskussions-
zusammenhängen zur normalen Erwartung gehören darf, dass im Hinblick auf die
theoretische und methodische Behandlung des Normenbegriffs kein soziologisches
„Normalverständnis“ von „Normen“ zu erwarten ist. Soziologen etwa, die sich für
die Normativität interessieren, interessieren sich auf den ersten Blick für etwas an-
deres als diejenigen, die Normalisierung in den Blick bekommen wollen. Heute
scheint es weniger denn je realistisch, auf den fachübergreifenden Erfolg eines De-
finitionsvorschlags für „Normen in soziologischer Perspektive“ (so noch Luhmann
1969) zu spekulieren. Einwände gegen eine Zusammenschau der Themen Normen,
Normativität und Normalität sind dabei freilich schnell gefunden. Handelt es sich
hierbei nicht nur um eine Begriffsverwirrung, die sich einer unnötigen Ausdeh-
nung des Normenbegriffs verdankt? Gewiss hat etwa ein in diesem Diskussionszu-
sammenhang als Stichwortgeber fungierender Theoretiker wie Jürgen Habermas,
der nach der Normativität seines Gegenstandes (des kommunikativen Handelns;
vgl. Habermas 1981) und seiner eigenen theoretischen Anstrengungen (vgl. 1990)
fragt, etwas anderes im Sinne als etwa ein ebenso einflussreicher Theoretiker wie
Michel Foucault, der die Prozesse der Normalisierung in modernen Disziplinarge-
sellschaften (vgl. 1977) und die bedrohlichen Normalisierungstendenzen in seinen
eigenen theoretischen Anstrengungen (1985) analysiert. Geht es hier aber um mehr
als nur eine zufällige Namensverwandtschaft? Die These der folgenden Seiten wird
sein, dass gerade aus der Spannung zwischen Normativität und Normalisierung
einiges über Normen in soziologischer Perspektive zu lernen ist. Als paradigmati-
sches Beispiel sollen für diese These eine Zusammenschau einiger jüngerer theore-
M. Stempfhuber ()
Universität Hamburg, Hamburg, Deutschland
E-Mail: martin.stempfhuber@wiso.uni-hamburg.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik − Normen − Werte, Studien zu einer 71
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_4,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
72 M. Stempfhuber
tischer Debatten zum Problem moderner Intimität und Liebe dienen, die scheinbar
unversehens das Problem der Normen in den Mittelpunkt rücken lassen.
Für einen soziologischen Beobachter mag es auf den ersten Blick eher unge-
bührlich erscheinen, sich dem Themenkomplex der Normativität und der Nor-
malisierung gerade aus einer spezifisch intimitätssoziologischen Perspektive zu
nähern. Man muss sich nur zwei berühmt gewordene Formulierungen in diesem
Zusammenhang ansehen und stößt sofort auf eine eigentümliche Paradoxie. Niklas
Luhmann etwa interessiert sich für die Liebe als eine im modernen Alltag als „ganz
normale Unwahrscheinlichkeit“ auftretende Kommunikationsform (1982, S. 10).
Für Ulrich Beck entpuppt sich das zeitgenössische Phänomen der Liebe gar ins-
gesamt als ein „ganz normale[s] Chaos“ (Beck/Beck-Gernsheim 1990). In beiden
Fällen taucht die behauptete Normalität des Gegenstandes kokett nur als attributive
Bestimmung ihres vermeintlichen Gegenteils auf. Aber man findet sich hier schon
sofort inmitten einer vielsagenden Mehrdeutigkeit. Normal (und normiert?) ist in
der modernen Liebe, dass es in ihr nicht mit (regel)rechten Dingen zugeht – oder
gar zugehen soll?
Die Soziologie hat sich seit jeher – glaubt man der Standardauskunft zeitgenös-
sischer Kommentatoren (vgl. Lenz 1998; Wimbauer 2003) – mit dem Phänomen
der Liebe und der Intimität schwer getan. Dabei hat sich die Liebe und die Intimi-
tät seit jeher – glaubt man der Standardauskunft zeitgenössischer Kommentatoren
(vgl. Luhmann 1982; D’Emilio und Freedman 1988; Warner 1999; Stäheli 2002)
– mit Normen schwer getan. Und schließlich haben sich die Intimitätssoziologie
und verwandte Theorien der Intimität seit jeher – glaubt man dem Verfasser dieses
Artikels – mit ihrer Fassung von Normen der Liebe schwer getan. In den folgenden
Ausführungen soll dieser Umstand jedoch als eine Chance begriffen werden; ihm
sollen Einsichten für eine soziologisch interessante Konzeption von Normen ab-
gerungen werden. Es wird davon ausgegangen, dass eine solche Einsicht am besten
zu erreichen ist, wenn zunächst einmal etwas überspitzte Versionen eines Normen-
begriffs diskutiert werden. Strategisch werde ich also Positionen aufgreifen, die zu-
nächst die größtmögliche Distanz bezüglich ihrer theoretischen Perspektive auf das
Thema aufzuweisen scheinen. Auf der einen Seite stehen „Normativitätstheorien“,
Theorien also, die dem Versprechen von Normen folgen, die Gesellschaft um eine
für sie notwendigen normativen Dimension zu erweitern. Exemplarisch soll das an
Harry G. Frankfurts Versuch (2005) vorgeführt werden, die Normativität der Liebe
auszuloten. Liebe wird hier – tendenziell – im Blick auf den Gesichtspunkt ihrer
Normativität als eine positive Chance zu kreativem Handeln konstruiert (1.). Auf
der anderen Seite stehen die weitaus zahlreicheren „normalisierungskritischen“
Unterfangen, die problematische Normalisierung der Liebe dingfest zu machen.
Insbesondere anhand von Texten von Michael Warner, Judith Butler und Eva Illouz
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 73
Axel Honneth (2000) hat schon vor einiger Zeit eine Renaissance des Themas der
Liebe in der zeitgenössischen Moralphilosophie festgestellt. So unterschiedliche
Autoren wie Bernard Williams (1984), Martha Nussbaum (1990) und Paul Ricœur
(1990) dienen ihm als Vorläufer und Gewährspersonen. Interessant an diesem Dis-
kursstrang ist der Umstand, dass, wie Georg Lohmann formuliert, in unverblümter
Weise der (mögliche) Zusammenhang von Liebe und Moral explizit in den Mittel-
punkt der Diskussionen gerät: „Ob die Liebe über der Moral stehe oder sie begrün-
de, ob sie Teil der Moral sei oder ob sie der Moral unterworfen sei, für jede die-
ser Positionen finden sich Argumentationen“ (Lohmann 2009, S. 317). Man kann
dieser Formulierung und ihrer heuristischen verallgemeinerten Gegenüberstellung
von ‚Liebe‘ und ‚Moral‘, die vielfältige Kombinationen und Positionierungen er-
möglicht, schon einen Hinweis auf das Bezugsproblem der Diskussion entnehmen.
Gefragt wird danach, wie der „radikale Partikularismus der Liebe mit den Unpar-
74 M. Stempfhuber
dass die Liebe selbst als ein interner Gründe-Generator angesehen werden muss.
Die Liebe „schafft Gründe“ und ist [f]ür den Liebenden […] eine Quelle von Grün-
den“ (S. 61). Gemeint ist damit zunächst der simple Umstand, dass Akteure ver-
ständlich und vollkommen widerspruchsfrei als Grund einer Handlung etwa im
Bezug auf einen anderen Menschen angeben können, dass sie diesen lieben – ein
Umstand, der jedoch im Diskussionskontext der (post-)analytischen Philosophie
erhitzte Debatten auslösen kann. Für die Leistungen der Liebe hat das wiederum
weitreichende Konsequenzen. Sie wird zu einer ernstzunehmenden Quelle von
Gründen, Motiven und Werten. „Die Liebe ist der Ursprung äußerster Werte“
(S. 35). Das dreifache Ziel Frankfurts ist es dabei, die Liebe als Gründe-Generator
in Anspruch zu nehmen, der faktisch ständig am Werke ist, der dies auch legiti-
merweise ist, und der schließlich dadurch auch dem anderen großen modernen
Gründe-Generator – der Vernunft – als ebenbürtiger Konkurrent gegenübertreten
mag. Die Gründe der Liebe „beruhen nicht auf Überlegungen. Sie antworten nicht
auf Anweisungen der Rationalität“ (S. 35). Vor diesem Hintergrund ist auch die
Frage nach den Gründen der Liebe entschieden: Sie erzeugt Gründe, weil sie sich
selbst nicht auf andere Gründe außerhalb ihrer selbst berufen muss. Die Liebe in-
stalliert Entscheidungen ohne Entscheider.
Damit ist aber ein zweites Motiv angesprochen, dass schon in dem zitierten De-
finitionsversuch angeklungen ist. Die Liebe wird hier bestimmt, indem sie in einer
Zone der Unbestimmtheit verortet wird. Man kann als ersten Hinweis darauf schon
die formale Art und Weise nehmen, in der sie von Frankfurt mit der Verwendung
von Paradoxa oder Oxymora eingeführt wird. Liebe ist „vor allem eine interesse-
freie Sorge“ (S. 47). Vor diesem Hintergrund gerät dann auch die Liebe zu sich
selbst zu einer selbstlosen Selbstliebe (vgl. S. 89). Die Rede ist darüber hinaus von
den „kontingenten Notwendigkeiten der Liebe“ (S. 53). Die Liebe befreit die Akteu-
re gerade dadurch, dass sie sich ihr bedingungslos unterwerfen (vgl. S. 73) – und sie
befreit sie ganz im Sinne eines alten romantischen Topos vor allem von einem: von
ihnen selbst. Diese formale Hinwendung zu paradoxen Bestimmungen und zur
Freude an der Unbestimmtheit der Liebe liegt aber vor allem auch in einer Einsicht
in ihre Reflexivität begründet. Schon das Sich-Sorgen ist dadurch charakterisiert,
dass das, was man will, noch einmal selbst als willentlicher Akt gewollt wird. Noch
viel zugespitzter ist die Liebe ihr eigener Grund und kann so zum Grund für Grün-
de, Motive und Werte werden: „Vielmehr gewinnt das, was wir lieben, notwendig
an Wert, weil wir es lieben“ (S. 43). In der Liebe wird nicht nur dem Lieben selbst
noch einmal bewusst zugestimmt – es geht nicht nur darum, über die Liebe zu
reflektieren, sondern das Lieben zu lieben. In diesem Punkt konvergiert dann auch
ein klassischer Topos der Liebe (vgl. Luhmann 2008, S. 40 ff.) mit einem klassi-
schen Topos der praktischen Philosophie, in der Frankfurts „Konzeption menschli-
76 M. Stempfhuber
chen Handelns“ eine Sonderposition einnehmen mag, als sie „eine internalistische
ist, aber dennoch eine explizite Identifikation mit dem Wollen als zentral für unser
Handeln ansieht“ (Wolf 2009, S. 409).
Die Normativität der Liebe erscheint nun in einem besonders spektakulä-
ren Licht: „Indem wir uns um Dinge sorgen, verleihen wir der Welt Wichtigkeit“
(Frankfurt 2005, S. 28). Als eine Quelle von anderen Gründen und anderen Werten
bewirkt sie auch eine eigentümliche Verzauberung der entzauberten Welt: „Genau-
so macht die Liebe die Welt lebendig“ (S. 42). In diesem Punkt unterscheidet sich
die Perspektive Frankfurts nur wenig von soziologischen wie etwa der Eva Illouz’,
die einer entzauberten Liebe immer noch Potentiale einer Verzauberung der Welt
abgewinnen kann. In diesem spezifischen Sinne triumphiert dann auch die „Ro-
mantisierung“ der Welt über die ethische Fragestellung: „Es ist nicht die Funktion
der Liebe, die Menschen gut zu machen. Ihre Funktion ist bloß, ihrem Leben Sinn
zu geben und es so gut für sie zu machen“ (S. 107). Der Sinn, um den sich hier alles
dreht, ist aber nicht irgendein Sinn, sondern ein anderer Sinn, dem jenseits der Be-
schränkungen argumentativer Rationalität zu seinem Recht verholfen werden soll.
Frankfurt soll hier exemplarisch für ein theoretisches Interesse an der Norma-
tivität des Liebens stehen (vgl. Honneth 2003, S. 148 ff.; Hondrich 2004; Lohmann
2009). Dieses Interesse gilt vor allem der Fähigkeit der Liebe, die Liebenden mit
ganz individuellen Normen zu versorgen. Wohlgemerkt handelt es sich um Nor-
men in einer ganz spezifischen Fassung: Weder sind es sozial vorgegebene Normen,
denen die Liebenden zu folgen hätten, um überhaupt lieben zu können; noch sind
es – zumindest im Falle Frankfurts –allgemeine Normen, die sich auch der Struk-
tur des Liebens für jedermann ableiten ließen. Die Liebe (das ist gerade ihr Clou)
liefert keine moralischen Regeln im Sinne eines festen materialen Normenkodexes
noch im Sinne eines formal zu bestimmenden kategorischen Imperativs. In die-
sem spezifischen Sinne läuft die Liebe immer Gefahr zu „demoralisieren“. Sie ist
lediglich dafür verantwortlich, dass die Welt um eine spezifische Dimension der
Normativität aufgestockt wird. Sie reichert die Welt ganz allgemein um eine spezi-
fische Dimension des Sollens an, die praktisch auf keine Verbindlichkeit außerhalb
der Liebeswelt hoffen kann – oder dies auch nur wollen würde. Der normativi-
tätstheoretische Blick konfrontiert die Liebe allerdings mit einer ethischen Pers-
pektive, die gerade mit Kontinuitätsunterstellungen operiert und operieren muss,
die auf – zumindest theoretische – Konsequenzen der spezifischen Verbindlichkeit
der Liebe außerhalb der Liebeswelt hofft. Dieser eigentümliche Partikularismus im
Bezug auf die Reichweite von Normen ist insbesondere deswegen interessant, weil
die im nächsten Abschnitt behandelten Normalitätskritiker gerade hier ansetzen
würden und dagegen eine Analyse und Kritik von Normen setzen würden, die die
notwendig nicht-partikularistische Vehemenz von Normen im Blick hat. Für sie
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 77
hat die Norm ihre Unschuld verloren; die Normativität des Liebens ist ihnen zum
Normalisierungszwang geronnen.
Man kann die gender- und queer-theoretische Auseinandersetzung mit den Nor-
men (der Liebe und Intimität) am Beispiel ihrer Konzeptionalisierung der „Nor-
malfamilie“ besonders gut verstehen. Zwei Titel bringen die Ausgangslage wohl
besonders prägnant auf den Punkt: In „The Trouble with Normal“ (1999) nimmt
Michael Warner die Normalitätszumutungen tradierter Modelle der Intimität un-
ter die Lupe, und die Frage „Ist Verwandtschaft immer schon heterosexuell?“ be-
schäftigt Judith Butler (2009) in einem gleichnamigen Aufsatz. Worauf hier das
Hauptaugenmerk fallen muss, ist der Umstand, dass es in diesen beiden hier ex-
emplarisch angeführten theoretischen und politischen Interventionen um Denk-
angebote zur bloßen Möglichkeit von neuen Formen der Intimität geht. Um die
Argumentation nachverfolgen zu können, darf eine Grundprämisse nicht aus
den Augen verloren werden. Argumentiert wird etwa im Fall von Butler freilich
im Rahmen feministischer Problemstellungen, und das bedeutet für sie explizit:
„Im Feminismus geht es um die soziale Erneuerung der Geschlechterbeziehun-
gen“ (S. 325). Dass es neue und alternative Formen des „intimen“ Zusammenle-
bens, neue und alternative Möglichkeiten der Umbesetzung von Beziehungs- und
„Verwandtschaftsformationen“ (S. 172), die Debatten um die „Homo-Ehe“ (S. 173)
und Adoptionsmöglichkeiten empirisch gibt (und gab), ist dabei aber zunächst
einmal weder das zentrale theoretische noch das zentrale politische Problem. In-
teressant wird es an der Stelle, an denen sich diese Neuerungen und Alternativen
auf fest etablierte Normen beziehen oder beziehen lassen. Nun ist die butlersche
Fassung des Normbegriffs in mehrerlei Hinsicht problematisch – und wird von
ihr auch explizit problematisiert. Erstens werden in ihm mindestens zwei theo-
retischen Traditionen miteinander konfrontiert und gegeneinander ausgespielt:
In der einen, von Foucault inspirierten Tradition ist der Normbegriff eng mit der
Konnotation der „Normalisierung“ verknüpft; Normen sind „regulatorische Ide-
ale“ (S. 349), die „die regulative oder normalisierende Funktion der Macht sym-
bolisieren“ und fast schon als solche „nicht akzeptable[…] Restriktionen“ (S. 248).
In einer anderen, von Habermas exemplifizierten Tradition sind „Normen jedoch
genau das, was Individuen verbindet, weil sie die Grundlage ihrer ethischen und
politischen Ansprüche bilden“ (ebd.). Butler sieht klar, dass sie nur unter Berufung
auf bestimmte Normen sich gegen die Norm im allgemeinen richten kann, und es
sieht zunächst so aus, als könnte sie dieses Problem dadurch lösen, dass sie sich
78 M. Stempfhuber
auf eine Norm im Sinne Habermas’ gegen die Norm im Sinne Foucaults berufen
möchte. Aber genau hier lässt Butler die eingeführte mögliche Unterscheidung, in
der „Normen, die das Handeln auf das Gemeinwohl hin orientieren und die zu
einer „idealen“ Sphäre gehören, nicht genau sozial sind [und] nicht zu variablen
Sozialordnungen [gehören und] keine „regulatorischen Ideale“ im foucaultschen
Sinne […] und daher kein Teil des idealen Lebens sozialer Macht“ sind (S. 349f.),
wieder implodieren. Denn ihre Herausforderung gilt gerade auch der ersten In-
karnation der Norm, die in gewisser Weise nur die perfidere Variante der zweiten
ist, regelt sie doch noch auf viel fundamentalere Weise die „Sphäre des menschlich
Intelligiblen“ (S. S351), auf deren Problematisierung sich das butlersche Projekt ge-
rade eingeschossen hat. In wiederum selbst foucaultscher Manier ist die einzige
Norm, die noch gelten mag, die Norm zur Kritik (und Erneuerung) von Normen.
So geht es zweitens bei Normen um das, was legitim im „Diskurs des Intelligiblen“
(S. 175) ein- oder ausgeschlossen wird. Der Bezug auf die Legitimitätsfrage – in
diesem Falle „der „Sphäre der legitimen intimen Verbindung[, die] dadurch eta-
bliert [wird], dass Bereiche der Illegitimität produziert und intensiviert werden“
(S. 173) – verweist Butler auf das Einzugsgebiet des Staates. Ein Paradebeispiel da-
für sind die Debatten um die Homo-Ehe: Butler kann sie, ambivalent in Hinsicht
auf den eigenen politischen Standpunkt, als die Gefahr eines „Begehren nach dem
Begehren des Staates“ (S. 173) entziffern. Gefährlich erscheint dieses Begehren na-
türlich vor allem unter der Prämisse, dass man im Kampf durch die Anerkennung
durch den Staat, nach staatlicher Legitimierung gewissermaßen die den queeren
Beziehungsformen eigenen radikalen Möglichkeitsraum verspielt hat, indem man
sich auf strukturelle Vorgaben tradierter Muster einlässt. We’re queer, we’re here.
But don’t panic: we want the same as you. Zumindest in diesem Punkt vertraut
Butler offensichtlich den „Imitationspflichten“, die vorgegebene Modelle auch noch
den Umbesetzungen im Personal auferlegen, um einiges mehr als etwa die von ihr
bekämpfte konservative amerikanische Rechte, die mit einer staatlichen Öffnung
der Stellenbesetzung auch gleich das gesamte Modell der christlichen bürgerlichen
Kleinfamilie fundamental bedroht sieht.
Drittens muss man aber noch einmal genauer unter die Lupe nehmen, wo für
Butler soziale Normen theoretisch verortet sind. Grob lassen sich nämlich im Sin-
ne Butlers drei Dimensionen unterscheiden, deren Trennung freilich nicht konsis-
tent durchgehalten wird oder auch nur werden soll: eine symbolische Dimension,
die Dimension sozialer Ordnung und die Dimension der Praxis. Dabei ist Butler
grundsätzlich skeptisch, ob es für ihr Projekt einen theoretischen Mehrwert ab-
werfen würde, wenn die Idee einer symbolischen Ordnungsdimension überhaupt
unterstellt wird. Sie tut sich eingestandenermaßen „noch immer schwer damit, die
Geschlechterdifferenz als Funktionsweise einer symbolischen Ordnung zu verste-
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 79
hen, Was bedeutet es für eine solche Ordnung, symbolisch anstatt sozial zu sein?“
(S. 336). Diese polemisch gemeinte Frage ist natürlich an die Adresse psychoana-
lytischer Theoretiker, die sich in der Nachfolge Lacans verorten, und Anthropo-
logen strukturalistischer Provenienz, für die Lévi-Strauss der Stichwortgeber ist,
gerichtet. Beiden eignet ein Grundzug der Argumentation, der sich auf eine vor-
gängige Dimension beruft, die die Bedingung der Möglichkeit von Kultur, Sprache,
dem „Sozialen“ und der Subjektwerdung überhaupt ist. Das Symbolische oder die
elementaren Strukturen der Verwandtschaft können in diesem Sinne also als eine
ordnungsstiftende Sphäre begriffen werden, die nicht nur regelt, was überhaupt als
legitim und als intelligibel gilt und kommuniziert und gelebt werden kann, son-
dern als notwendige Voraussetzung für Legitimität und Intelligibilität überhaupt.
Und in beiden Fällen wird dem Geschlechterunterschied eine zentrale Rolle zuge-
schrieben: Im Falle der Lacanianer über die Figur der Ödipalisierung, im Falle der
Anthropologie über den Tausch der Frauen, der nicht nur die patrilineare Tradier-
barkeit von Kultur garantiert, sondern auf der Ebene dieses elementaren Tausches
auch den „Unterschied zwischen Männern und Frauen [stiftet], eines Tauschs, der
die Möglichkeit der Kommunikation selbst bildete“ (S. 331). Grundsätzlich liegt
die Idee, dass der Geschlechterunterschied fundamental für die materiale Ermögli-
chung eines sprechenden Subjekts überhaupt ist, natürlich nahe an der Argumenta-
tion Butlers selbst. Rückblickend auf die Geschichte feministischer Theoriebildung
betont Butler einen „Gezeitenwechsel“, der sich „vollzog, als die feministische For-
schung nicht mehr die Analyse von ‚Bildern‘ der Frau in dieser oder jener Disziplin
oder Lebenssphäre war, sondern sich zur Analyse der Geschlechterdifferenz an der
Basis kultureller und menschlicher Kommunikationsfähigkeit wandelte. Plötzlich
waren wir grundlegend.“ (ebd.) Man darf das nicht unterschätzen: Die Stärke fe-
ministischer und Gender-Forschung – gleiches wird noch zu den Leistungen der
Queer Studies zu vermerken sein – war und ist, dass sie sich nicht als eine Sonder-
disziplin mit einem Sonderpublikum mit Sonderinteresse für Sonderprobleme prä-
sentieren muss. Es ist ein universalistisches Projekt – eines, in dem es ums Ganze
geht, das nicht nur grundlegend ist, sondern in diese entdeckte Grundlage auch
verändernd eingreifen und sie verändern will. Aber genau hier setzt auch Butlers
Frage bezüglich der Idee einer symbolischen Ordnung an: „Wenn sie symbolisch
ist, ist sie dann veränderbar?“ (S. 336). Lässt sich die Geschlechterdifferenz anfech-
ten, verändern und erneuern, wenn sie schon theoretisch auf einer Ebene angesie-
delt ist, die sich als präsoziale gerade ihrer sozialen Veränderung entzieht? Butler
setzt deshalb auf einer anderen Ebene an, auf der sie auch zunächst die sozialen
Normen ansiedelt. Diese Ebene sozialer Ordnung trägt noch einiges von den Kon-
notationen des Symbolischen mit sich, insbesondere die Idee, das die Normen zur
Herausbildung eines intelligiblen Subjekts fundamental an den Geschlechterunter-
80 M. Stempfhuber
schied geknüpft sind. Sie ist aber genau dadurch nicht die Ebene des Symbolischen
oder der elementaren Strukturen der Verwandtschaft, als sie sich nicht strukturell
ihrer Veränderung entzieht. Sie ist durchzogen von Machtkämpfen; ihre sozialen
Normen sind Gegenstand politischer Eingriffe; ihre Stabilitiät ist nicht die Starrheit
der symbolischen Ordnung. Gewährsmann hierfür ist Michel Foucault: „Es han-
delt sich, schematisch ausgedrückt, um eine immerwährende Beweglichkeit, um
eine wesenhafte Zerbrechlichkeit: um eine Verstrickung zwischen Prozeßerhaltung
und Prozeßumformung“ (zit. n. Butler 2009, S. 342).
Es ist genau dieses Moment der Prozessumformung, um das es Butler schließ-
lich auf einer dritten Ebene der materialen Praktiken geht. Sie ist insofern eine
poststrukturalistische Vorreiterin von praxistheoretischen Denkmöglichkeiten, als
sie theoretisch genau an dieser Dimension der Praxis ansetzt, um von hier aus so-
wohl Stabilisierungsprozesse als auch Destabilisierungsmöglichkeiten zu erklären.
Im Bezug auf die Geschlechternormen etwa formuliert sie das Problem prägnant:
„Wenn Gender performativ ist, dann folgt daraus, dass die Realität der Geschlechter
selbst als ein Effekt der Darstellung produziert wird. Obwohl es Normen gibt, die
bestimmen, was real zu sein hat und was nicht, was intelligibel zu sein hat und was
nicht, werden diese Normen in dem Moment in Frage gestellt und wiederholt, in
dem die Performativität mit ihrer Zitierpraxis beginnt. Man zitiert natürlich Nor-
men, die bereits existieren, aber diese Normen können durch das Zitieren erheb-
lich an Selbstverständlichkeit verlieren“ (S. 346). Hier erkennt man deutlich das für
Butler so zentrale theoretische Motiv der Wiederholung als Bedingung der Mög-
lichkeit von Stabilisierung und Destabilisierung zugleich. In diesem Zitat wird aber
auch deutlich, wie sehr der Akzent Butlers in diesem Kontext auf der Veränderbar-
keit, Erneuerbarkeit und Kritisierbarkeit von Normen gesetzt wird. Normen exis-
tieren in dieser Fassung nicht jenseits der materialen Praktiken ihrer Wiederholung
und Zitierung, sondern ausdrücklich nur vermöge dieser Praktiken, die sie aber
gleichzeitig – schon durch die Dimension der zeitlichen und räumlichen Ver- und
Aufschiebung, die hier als eine Variante der différance erscheint – immer schon „in
Frage stellen“ und gewissermaßen auch: in Anführungszeichen setzen. Aber den-
noch: es „gibt“ „natürlich“ Normen, „die bereits existieren“. Das erstaunt vielleicht
nicht nur in dieser Formulierung, sondern auch grundsätzlich im Hinblick auf
den eben rekonstruierten expliziten Agnostizismus Butlers im Bezug nicht nur auf
strukturelle normative Vorgaben durch die Ebene des Symbolischen, sondern auch
im Bezug auf soziale Normen selbst. Wenn der Hinweis auf die Vorgängigkeit von
„existierenden“ Normen nicht nur als ein Hinweis auf die zeitliche Vorgängigkeit
von anderen Zitierungspraktiken gelesen werden will – und auch für diese Lesart
spricht einiges –, offenbart sich nämlich Butlers Agnostizismus als ein Agnostizis-
mus ad majorem dei gloriam. Fast scheint es so, als würde die praxistheoretische
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 81
Wende nichts daran ändern, dass vielleicht gerade durch sie eine theoretische Re-
potenzierung der Norm stattfindet. Auch wenn sie Beständig kritisiert werden und
der Nachweis ihrer möglichen Veränderbarkeit erbracht werden soll – der Bezug
auf die Norm ist die Stelle in Theorie Butlers, in der sich die bekannten Kontinui-
tätsunterstellungen einschleichen. In dieser Lesart würde sich Butlers Theorie der
Performativität in gewisser Weise strukturkonservativer darstellen als diejenige der
von ihr als konservativ kritisierten Gegner. In gewisser Weise vertraut die Theore-
tikerin des gender trouble mehr auf die strukturbildende, kontexttranszendierende
und imitationsverpflichtende Kraft von Normen als die konservativen Theoretiker
des Geschlechterunterschieds, die um ihren Einfluss bangen. Aber natürlich wird
man auch sofort einsehen, dass damit – ganz abgesehen von den empirischen Evi-
denzen – auch zumindest ein fundamentaler Mehrwert sowohl in politischer als
auch in theoretischer Hinsicht geschaffen worden ist. Denn nur auf diese Weise
können die Abweichungen von der Norm auch als Abweichungen von der Norm
gedeutet werden. Was sich sonst als beliebige Variationen von Identitäts- oder Inti-
mitätsbildungen herausstellen würde, erweist sich so als ein Geflecht grundsätzlich
politischer Interventionen; es sind Abweichungen von Gewicht. Nur in Relation zu
sozialen und kulturellen Normen sind sie subversiv. Und sie sind subversiv nicht
nur hinsichtlich bestimmter sozialer Normen: „Es geht tatsächlich genau dann um
eine viel radikalere soziale Veränderung, wenn wir uns zum Beispiel weigern, zuzu-
lassen, dass Verwandtschaft auf „Familie“ reduziert oder das Feld der Sexualität am
Maßstab der Ehe gemessen wird.“ (S. 212); sie sind es hinsichtlich der Normativität
insgesamt: geschaffen wird „ein Ort des reinen Widerstands, ein Ort, der sich von
der Normativität nicht kooptieren lässt“ (S. 175).
In diesem Zitat klingt schon an, dass sich für Butler die Schaffung neuer For-
men der Intimität zumindest ebenso für diese Logik der Normativitätskritik eig-
net wie für die Schaffung neuer Formen der Identität. Warum dies so ist, muss
hier zunächst einmal unbeantwortet bleiben. Noch stärker tritt dieser Umstand bei
Michael Warners Angriff auf die Normalisierung und die Normativität1 zu Tage.
Warner wird auch von Butler als der tapferste und radikalste Gewährsmann einer
Queer Theory und eines queer ethos zitiert, der als einsamer Rufer in der Wüste auf
die Problematiken aufmerksam macht, die entstehen, wenn sich das Begehren nach
dem Begehren des Staates auch bei den „nonnormative sexual cultures“ (Warner
1999, S. 86) auf eine Weise bemerkbar macht, die die Orte des reinen Widerstands
für den diskreten Charme der Normalisierung anfällig machen. Das Paradebeispiel
hierfür ist für Warner die breit geführte Debatte um die Homo-Ehe. Denn zunächst
ist der Trend der letzten zwanzig Jahre, das Hauptaugenmerk schwuler und les-
bischer Emanzipationsbewegungen auf die rechtliche Möglichkeit, auch gleichge-
schlechtliche Ehen legitim eingehen zu können, in den Augen Warners geradezu
der Präzedenzfall für alles, was in der Mainstream-Bewegung schwuler und lesbi-
scher politischer Initiativen (nicht nur) in den USA falsch läuft. Und auch wenn
sich Warner – mit einigem Recht – als eine der Ausnahmestimmen zumindest im
akademischen und massenmedial sichtbaren Diskurs inszeniert, die diesen Trend
kritisieren und hinterfragen, kann er hier doch repräsentativ für den stimmgewal-
tigen Einsatz eines bestimmten theoretischen Motivs einstehen. Sein politisches
und ethisches Argument gegen die Ehe liegt zunächst klar auf der Hand: Die Ehe
ist in seinen Augen nämlich eine staatlich legitimierte Institution zur Privilegien-
verteilung, die immer auch mit notwendigen Ausschließungsmechanismen einher-
geht. Sonst wären die Privilegien der Ehe keine Privilegien. Aus der Perspektive
der „nonnormative sexual cultures“ muss dann der Drang, die Anerkennung einer
spezifischen (schwulen, lesbischen) Beziehungsform durch den Staat zu suchen,
die Frage aufwerfen, ob damit nicht automatisch die Delegitimierung von anderen
(queeren) Beziehungsformen einhergeht (vgl. S. 95 ff.). Mehr noch: impliziert das
Bestreben nach Anerkennung durch die Mainstream-Gesellschaft nicht auch eine
implizite oder sogar explizite Anerkennung der Normalisierungsmechanismen?
Genau hier taucht dann auch das zentrale (und für das Thema dieser Arbeit un-
ausweichliche) Motiv der Ambivalenz der Wiederholungspraktiken auf. Denn die
Frage ist dann auch, ob gleichgeschlechtliche Ehen das traditionelle Modell der Ehe
– und damit in Warners Diktion: die Norm, die Normativität, die Normalisierung
– nicht nur inszenieren, sondern vielmehr reproduzieren.
Sie reproduzieren sie, ist Warners Antwort. An dieser Stelle setzt er sogar einen
kritischen Seitenhieb gegen Judith Butler, die er zumindest potentiell der Produk-
tion eines zu optimistischen theoretischen Bildes der Realität verdächtigt: „Butler
sees all people as intrinsically resistant to the normal, even though they are for-
med by the normalizing ‚demand to inhabit a coherent identity.‘ […] For Butler, all
creatures straight and gay are virtually queer. [They] have all along resisted, just by
having psyches and body, the norms that form them“ (S. 142). In der Tat ist War-
ners Einschätzung nicht vollkommen von der Hand zu weisen; die „Politik der Ge-
schlechterparodie“ hatte ja tatsächlich eine Ahnung davon, dass parodistische Wie-
derholungen etwa des Geschlechterunterschieds diesen nicht nur verfestigen oder
reproduzieren, sondern vor allem auch inszenieren und damit untergraben (vgl.
dazu kritisch Hark 1998). Zumindest im Falle der Ehe hält Warner diese Ahnung
für kurzsichtig. Mit Butler teilt er aber zumindest die Problematisierung der Nor-
men, denen als solchen schon theoretisch ein gewichtiger Stellenwert eingeräumt
wird. Wie oben argumentiert wurde, würde die theoretische Geringschätzung von
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 83
sozialen Normen als solchen – der Normativität, der Normalisierung – auch der
Queer Theory ihren subversiven Stachel ziehen. Sie würde gar den „queer coun-
terpublics“ (Warner 1999, S. 147) ihre Grundlage entziehen, denn „queer“ wird
ja explizit als nicht-normativ, als Negation der Normativität definiert: „The term
‚queer‘ is used in a deliberately capacious way in this book, as it is in much queer
theory, in order to suggest how many ways people can find themselves at odds with
straight culture“ (S. 38; vgl. auch Warner 1993). Aber noch stärker als bei Butler
werden dabei die Akzente nicht auf die Möglichkeiten neuer Identitäten, sondern
auf die Bildung neuer Intimitäten gesetzt: Hoffungsträger einer subversiven Praxis
sind gerade die „nonnormative sexual cultures“ – und nicht die Advokaten einer
„lesbian and gay identity“ (1999, S. 86). Dieser Nexus von einer ambivalenten Be-
zugnahme auf die Norm innerhalb des Deutungsrahmens der Intimität erscheint
nun als der gemeinsame Grund, den die Theoretiker der Normativität ebenso wie
die Kritiker der Normalisierung bearbeiten.
Bisher sind noch keine Autoren zu Wort gekommen, die sich selbst als Sozio-
logen beschreiben würden. Wie reagiert aber die Soziologie auf diesen Nexus von
Normativität, Normalisierung und Intimität? Wenn Eva Illouz in ihrer einfluss-
reichen Studie das „unglückselige postmoderne romantische Ich“ (2006, S. 219)
charakterisiert, kommt sie fast unausweichlich auch auf die „Krise der Repräsen-
tation“ (ebd.) zu sprechen, die die postmoderne Lage als solche kennzeichnet. Im
Bezug auf die Liebe tritt diese „Krise“ für sie in ihrer nacktesten Form auf: Die
„Disjunktion zwischen dem Signifikanten für Romantik und dem Signifikat der
Liebe ist eines der charakteristischen Merkmale der condition postmoderne. Sie
weist auf eine gespaltene autobiographische Erzählstruktur hin“ (S. 221). Letzte-
res ist wichtig, denn Illouz zitiert damit ein weiteres Grundmotiv postmoderner
Zeitdiagnosen, spitzt es aber in einer Analyse von Interviews zum Thema der Er-
fahrung von romantischer Liebe empirisch auf die Selbstdarstellungspraktiken von
„unglückseligen postmodernen romantischen“ Gewährspersonen zu. Sie interes-
siert sich also für den praktischen Umgang mit dem, was sie mit den postmodernen
Denkern als eine „semiotische Verwirrung“ (ebd.) beschreiben würde; eine Ver-
wirrung, die sie – und auch darin schließt sie sich den oben skizzierten Diagnosen
an – vor allem als ein Produkt der Bilderflut in einer Kultur der Massenmedien,
der Verlagerung der Liebe in die Konsumsphäre, der Auflockerung normativer
Vorgaben der Geschlechtsidentifizierung und einer ambivalenten Befreiung der
Sexualität entschlüsseln wird. Was Illouz dabei insbesondere betont, ist der Um-
stand, dass die postmoderne Affäre als postmoderne „lokale“ Liebeserzählung die
moderne „Metaerzählung der Liebe“ im Prinzip abgelöst hat (S. 216). Und was sie
im Hinblick auf die Erzählungen ihrer Interviewpartner am meisten überrascht, ist
der Umstand, dass diese die massenmedial propagierten Bilder, Geschichten und
84 M. Stempfhuber
Formvorlagen für romantische Affären als Fiktionen durchschauen, aber sie in den
Erzählungen ihrer eigenen romantischen Affären trotzdem zitieren und benutzen.
Denn selbst wenn dem fiktionalen „Liebesnarrativ“ etwa ein „Narrativ der Be-
haglichkeit“ explizit und kritisch als realistischeres Modell gegenübergestellt wird
(S. 214 f.), fügen sich diese Erzählungen doch augenscheinlich dem kritisierten
Modell. Schlimmer noch: Illouz Gewährspersonen liefern gleichzeitig schon eine
reflektierte, soziologisch anmutende Erklärung dieses Phänomens mit, das Illouz
selbst wiederum nur als „Verwirrung“ (S. 221) oder „Widerspruch“ (S. 225) gelten
lassen will: „Diese semiotischen Verwirrungen wurden keineswegs als existentiel-
les Dilemma oder als eine Tragödie menschlichen Daseins betrachtet, sondern als
Nebenprodukt der massenmedialen Kultur analysiert und erklärt“ (S. 221). Was Il-
louz überrascht, ist, dass „der quasi-universelle Widerspruch zwischen zwei gleich
mächtigen Formen der Liebe“ (S. 225) zwar wahrgenommen wird, aber eben nicht
als Widerspruch wahrgenommen wird. Das erzählerische Mittel hierfür – und das
hat Illouz sehr hellsichtig und überzeugend beobachten können – ist die Ironie:
„Die postmoderne Lage der Liebe ist charakterisiert durch die ironische Wahr-
nehmung, dass man nur das wiederholen kann, was bereits gesagt wurde, und
dass man nur als Schauspieler in einem anonymen und stereotypen Stück agie-
ren kann“ (S. 224). Im Rahmen von Liebe allerdings, soviel steht für Illouz fest, ist
ein ironisches Bewusstsein notgedrungen falsches Bewusstsein; „unglückselig“ ist
das „postmoderne romantische Ich“, weil die ironische Distanz ihrer Ansicht nach
wahre Liebe prinzipiell unmöglich macht. „Warum ist Ironie so schädlich für die
Liebe?“ fragt Illouz explizit in einem späteren Aufsatz (Illouz 2008b, S. 219). Für
Illouz muss sie es sein, weil sie in einer ironischen Haltung geradezu die Antithese
zu dem wittert, was das romantische Skript der Liebe unabdingbar zu verlangen
scheint: die Intensität des Erlebens, die keine Distanz zulassen darf, ohne selbst
auf der Strecke zu bleiben. Gegen diese Distanz scheint nur die Originalität der
Formen und die gleichsam unschuldige Authentizität der Gefühle zu immunisie-
ren, und beides scheint in der postmodernen Ironie qua Definition2 verunmöglicht
zu sein. Nicht nur ergeht sich nämlich das „unglückselige postmoderne romanti-
sche Ich“ in „Wiederholungen von Wiederholungen“ (S. 223), es weiß darüber auch
noch Bescheid: „[S]o wird die Postmoderne am besten durch das selbstkritische
Glaubensbekenntnis typologisiert, dass diese Distanz aus Vorstellungen resultiert,
die in einem Übermaß der überkodifizierten Kultur der Massenmedien ausgesetzt
2
Für Illouz ist Ironie „der rhetorische Trick einer Person, die zuviel weiß, die Wirklichkeit
aber nicht ganz ernst nehmen möchte. Modernes romantisches Bewusstsein hat die rhetori-
sche Struktur der Ironie, weil sie von einem entzauberten Wissen durchzogen ist, das volles
Vertrauen und Verbindlichkeit verhindert“ (2008b, S. 219).
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 85
sind“ (S. 223). Zuviel Wissen um die Lage der Liebe in der Postmoderne verurteilt
zu ironischer Distanz – und vereitelt die Liebe, indem sie sie entzaubert.
Im Rückblick streicht Illouz jedoch die Besonderheiten der Konzentration auf
das Phänomen der romantischen Liebe heraus. Beobachtet im „Konsum der Ro-
mantik“ wurde nämlich eine erstaunliche Widerspenstigkeit der Romantik, gar der
„subversivere[n] Liebe“ (2007, S. 186) gegenüber der Kolonialisierung durch den
Markt. Mehr noch: „Die Sehnsucht nach ‚Spaß‘, der Wunsch, mit neuen Formen se-
xueller Freiheit zu experimentieren, die Suche nach emotionaler Intimität – all das
war so weit mit Elementen der Freizeitindustrie verwoben, daß es schwierig wurde,
die romantischen Gefühle von Konsumerfahrungen zu trennen. Gerade weil das
so war, konnte man nicht einfach davon ausgehen, daß die Sphäre der Waren die
der Empfindungen degradierte“ (2006, S. 135). Verglichen mit der Diagnose eines
Siegeszugs der Therapeutisierung (vgl. Illouz 2008a) erstrahlt dabei rückblickend
die Kraft der Liebe in einem hellen Licht. In den Diskussionen um den „Konsum
der Romantik“ wurde dann auch allzu oft vernachlässigt, dass hier nicht nur die
„Verdinglichung der romantischen Liebe“ zum Thema gemacht wurde, sondern
eben auch „die Romantisierung der Waren“ (2007, S. 53). Sollte das zunächst nur
bedeuten, „dass zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Filmen und Werbeanzeigen Wa-
ren eine romantische Aura bekamen“ (ebd.), legt Illouz dabei aber auch im Verlauf
ihrer Untersuchung die Möglichkeit dar, wie die neu verzauberten Waren als Werk-
zeuge für eine Neuverzauberung der Welt (vgl. S. 141 ff.) genutzt werden können.
Zur Entzauberung und Verdinglichung der romantischen Liebe gehört also die
Romantisierung der Welt, zur Normalisierung gehört die Normativität der Liebe.
Armin Nassehi (2005) hat darauf hingewiesen, dass eine Interpretation des sozio-
logischen Differenzierungstheorems, der zufolge Gesellschaft als eine differenzier-
te Einheit verschiedener Seinsbereiche aufgefasst wird – eine Interpretation also,
die etwa die „social spheres“ der Wirtschaft oder der Intimität als unterschiedliche
Substanzen begreif –, von einer potentiellen Mehrfachcodierung überrascht sein
muss. Aus einer soziologischen Perspektive, die die Ereignishaftigkeit, die Operati-
vität ihres Gegenstandes ernst nimmt (vgl. Nassehi 2005; 2006), darf es aber nicht
erstaunen, dass selbst wirtschaftliche Prozesse romantisiert werden können. Und in
der Tat scheint es in den hier behandelten Theorien immer auch darum zu gehen,
dass die Liebe eine Romantisierung der Welt in dem Sinne ermöglicht, dass sie die
Welt gewissermaßen verdoppelt und ihr einen neuen und anderen Sinn abgewin-
nen kann.
Nimmt man den Vorschlag auf, dass sich die differenzierte Gesellschaft durch
die Möglichkeit der Mehrfachcodierung jeglicher „Sphären“ auszeichnet, kann da-
mit aber noch keine Besonderheit einer Beobachtung gemeint sein, die auf Lie-
be abzielt. Alles, was man beobachten kann, kann man demnach auch unter dem
86 M. Stempfhuber
Meine Wahl der hier diskutierten Autoren war zunächst darauf ausgelegt war, die
größtmöglichen perspektivischen und theoretischen Differenzen im Bezug auf
den Zusammenhang von Liebe und Normen aufzuzeigen: den Normativitätstheo-
retikern Honneth und Frankfurt wurden die Normalisierungskritiker Butler und
Warner gegenübergestellt. Die sehr unterschiedlichen Argumentationsstränge der
Normativitätsproduktionsanforderungen an das Lieben und der Normalitätskritik
an der modernen Intimität laufen nun aber an diesem spannenden Punkt der für
die Liebe so zentralen Spannungen zusammen. Ich habe an anderer Stelle (2012)
versucht, diese Spannung für eine intimitätssoziologische empirische Studie nutz-
bar zu machen.3 Das Phänomen der Liebe ist aus dieser Perspektive von einem
eigentümlichen und spannungsgeladenen Verhältnis von sozialen, „normalen“
Formvorlagen einerseits und individuellen Neuerfindungen andererseits, von ak-
zeptierten und ständig wiederholten Normen und Abweichungen von denselben,
von Regelmäßigkeiten und Kreativität geprägt. Die typische Problemlage soll hier
kurz angedeutet werde: Ohne verbindliche Formvorlagen, Normen oder Regeln ist
die Liebe nicht zu haben, geschweige denn zu erkennen; mit ihnen aber gerade
auch nicht. Liebe und Intimität, so das „soziale Paradox“ (Illouz 2003), wird gera-
de von dem ermöglicht, was sie verunmöglicht. Die „Wiederholbarkeit der Liebe“
(Stäheli 2002, S. 21), ihre Erwartbarkeit ist für sie konstitutiv – und gerät ihr gleich-
zeitig zum Skandal und zur Chance.
Dabei lässt sich empirisch sehr gut nachzeichnen, wie sich die „Theodizee des
Willens“, die Armin Nassehi in diesem Band als charakteristisches Bezugsproblem
für die ethische Rede selbst und den wissenschaftlichen Diskurs über das Ethische
herausgestellt hat, im Kontext der Darstellung von Liebe und Intimität einen spezi-
fischen Ausdruck verschafft. Empirisch finden sich in der Darstellungspraxis von
Paaren, die sich mit der ungewöhnlichen Aufgabe konfrontiert sehen, einem sozio-
logischen Beobachter den Verlauf ihrer Paargeschichte zu erzählen, nämlich tat-
sächlich Verweise auf das, was eine normativitätstheoretische Perspektive als eine
3
Als empirisches Material stütze ich mich in dieser empirischen Untersuchung auf Paarin-
terviews. Ich beschränke mich hier auf Ergebnisse, die eine praxistheoretische Fassung des
Normbegriffs im Hinblick auf den soziologischen Umgang mit Interviewdaten nahelegen.
88 M. Stempfhuber
besondere Leistung von Liebe für ethische Fragestellungen festgemacht hat: der
Rekurs auf die Herstellung von neuen Gründen und Motiven. Empirisch lässt sich
an dieser Darstellungspraxis aber immer auch nachvollziehen, wie diese besondere
Leistung gerade mit den Kontinuitätsunterstellungen bricht, die aus normativitäts-
theoretische Perspektive die Liebe zum interessanten Kandidaten für das Ethische
gemacht haben. Im ersten Beispiel etwa macht ein Paar den Beginn und das initiale
„Funktionieren“ ihrer Beziehung an dem „Gefühl“ der Überraschung fest:
A: Das hat gut funktioniert, also ich war total über … Weil, das war das Schöne am
Anfang, dadurch, dass ich so wenig Erwartungen an die ganze Sache hatte, habe… B:
Sie war leicht positiv zu überraschen. (lacht) A: Immer … Nein, immer wieder, also
das war wirklich, also fast bis jetzt, dass es immer wieder so, so positive Überraschun-
gen gibt, wo ich mir denke: Das hätte ich nie gedacht, dass es … dass er … dass du so
bist, oder dass es so läuft, oder dass … Keine Ahnung. Also es war am Anfang dann
sehr schön. (P-J&S, 29, S. 47)
A erfährt – nicht nur an dieser Stelle der Erzählung – ihre „Liebe“ als Überraschung
und kann sie auch genau als solche überzeugend darstellen: als „überraschendes
Sichengagieren auf neuen Wegen“ (Luhmann 1984, S. 371). Darstellungstechnisch
geht es hier also um die Lücke zwischen situationsbedingten Gegebenheiten, eige-
nen willentlichen Vorsätzen und Reflexionsleistungen, in denen dann das Gefühlte
als Liebe auftauchen und erzählt werden kann. Sie wird im als Attributionsambi-
valenz erlebt – und wiederum also solche überzeugend erzählt. Auffällig ist dabei,
wie sehr der Rekurs auf die Individualität des Partners vom Bezugsproblem einer
Darstellung der Individualität der Beziehung überlagert wird. Die Plausibilität der
hier vorgeführten guten Gründe für die Liebe ergibt sich also genau über ihre über-
raschende Situationsabhängigkeit; ihr Sinn ist es, gerade mit anderen Kontexten zu
brechen, also die spezifische Codierung der romantischen Situation auszuweisen.
Dieser Umstand gilt auch dann noch, wenn, wie im nächsten Beispiel, die Erzäh-
ler explizit auf den alltagsweltlich pragmatischen Charakter ihrer Liebe hinweisen
wollen. Diese Geschichte wird erstens als unromantisch ausgewiesen, genauer: Es
wird explizit darauf hingewiesen, dass sich die eigene Präsentation der Beziehung
– wiederum explizit – unromantisch gibt („C: Das hört sich zwar jetzt echt ein biss-
chen unromantisch an, aber… (lacht) …ist es glaube ich so“ [P-N&O 26, S. 18]).
Auf die Frage nach dem „Erfolgsgeheimnis“ für die Stabilität der Beziehung wir
wiederholt wörtlich auf den eigenen Pragmatismus hingewiesen. Dieser Pragmatis-
mus speist sich einerseits aus „Kompromissbereitschaft“, andererseits aus realisti-
schen Erwartungen („C: Du darfst nicht irgendwie erwarten, dass… Ich weiß nicht,
viele Leute haben, glaube ich, haben so echt das Gefühl, die beenden dann schnell
eine Beziehung, wenn irgendwas nicht funktioniert“ [P-N&O 25, S. 44]). Dies wird
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 89
offenbar nicht negativ gedeutet, sondern im Gegenteil gerade als der Erfolgsgarant
der eigenen Beziehung präsentiert. Dabei wird diese Kennenlerngeschichte wiede-
rum zunächst explizit als eine Geschichte erzählt, die nichts Besonderes beinhaltet,
sich aber gerade dadurch im Vergleich zu anderen Geschichten als besonders er-
weist. Gerade bei der Narration des Beziehungsanfangs wird dies deutlich, der zu-
nächst gleichsam in Parenthese gesetzt wird.
C: Weil das ist ja irgendwie auch nicht so eine Geschichte, wo man irgendwie denkt,
ehm … dass es so ein besonderes Zusammentreffen ist oder so, weißt du… I: Ok. C:
…also ich hab jetzt nicht das Gefühl, dass man da irgendwie … ehm … sich durch so
einen besonderen Zufall oder so kennengelernt haben würde … (P-N&O 05, S. 18)
Und doch wird gerade der Beginn der Beziehung mit Metaphern belegt, die dem
klassischen Zuschnitt nach Zufälligkeit, Spontaneität und überraschende Gefühle
assoziieren lassen:
D: Wir haben öfter etwas unternommen zusammen, genau… sind so irgendwie raus
gegangen oder sowas war das. Und dann war es halt einmal im November, dann 96,
da waren wir auch zusammen auf einer Party. Ja, und da hat es dann irgendwie…
gefunkt, in der Nacht dann. (P-N&O 02, S. 17)
Auf Nachfrage wird sehr schnell darauf hingewiesen, dass dies nur den Beginn
der Beziehung bedeuten soll („C: Da waren wir dann zusammen. D: Ja. (lacht) C:
(lacht)“ [P-N&O 02, S. 14]). Dass damit aber in der Darstellung vor allem auch
Gründe für ihre Liebe sichtbar werden, hat nicht zuletzt mit dem Moment der
Überraschung und des Bruchs mit „pragmatischen“ Kontexten zu tun, den die hier
verwendete Metapher für den Zeitpunkt des Beziehungsbeginns markiert. Dieser
Moment wird als Moment der Überraschung ausführlich dadurch vorbereitet, dass
wiederum die Widerstände gegen eine mögliche Intimbeziehung hervorgehoben
werden – äußere, insofern einer von beiden zum Zeitpunkt des überspringenden
Funkens sich noch in einer Beziehung befand (oder nicht), wie innere:
C: Aber ich wollte eigentlich nicht so. Also irgendwie fand ich das auch komisch, weil
ich weiß nicht, ob du noch da mit deinem alten Freund zusammen warst, oder ob da
schon Schluss war … D: Nein. War ich nicht, da war gerade Schluss. C: Auf jeden Fall
war das so, ich hatte … eigentlich kein Interesse. (P-N&O 01, S. 47)
Liebe präsentiert sich also lediglich als Überraschungen, was freilich vor dem Hin-
tergrund einer Erzählung, die auf die Pragmatik und Rationalität der Beziehung
Wert legt, umso deutlicher – und insofern: überraschender – hervortritt.
Eine empirische Erforschung der Praxis des Liebens kann insofern an den Vor-
schlag von Armin Nassehi anschließen, die Gesellschaft fundamental als eine Ge-
90 M. Stempfhuber
sellschaft der Gegenwarten zu begreifen. Der entscheidende Schritt ist dabei nicht
nur, Intimität als Form einer Praxis zu begreifen; dieser Schritt wird von den wich-
tigen zeitgenössischen Studien zur Intimität mitgegangen, so etwa wenn Eva Illouz
romantische Liebe ausdrücklich nicht als Substanz, sondern als „kulturelle Praxis“
(2007, S. 26; vgl. Weeks et al. 2001) bestimmt. In einer Gesellschaft der Gegenwar-
ten muss man zudem damit rechnen, dass diese Praxisform in einem strengen Sin-
ne gegenwartsbasiert ist. Das soziologische Interesse gilt so der Operativität einer
jeglichen Praxis, die die Bedingungen ihrer Möglichkeit nicht einer vorgängigen
Struktur verdankt, sondern sie selbst erzeugen muss. Vor dem Hintergrund der
eingangs angedeuteten Schwierigkeiten der Soziologie mit der Liebe nimmt diese
Perspektive eine besondere Färbung an. Soziologisch interessant wird die „komple-
xe Hervorbringung von operativen Praxen […], die sich je in einer Gegenwart be-
währen müssen und zugleich die Motive wie die Kollektivitäten praktisch erzeugen,
mit denen sich solche Situationen entparadoxieren“ (Nassehi 2006, S. 392). Es ist
diese Betonung der situativen Praxis der Entparadoxierung, die uns auch in den Er-
zählungen von Paargeschichten begegnet ist. Nur mit ihr lässt sich empirisch ange-
messen beschreiben, wie auch noch der Rekurs auf Gründe der Liebe vornehmlich
über eine Betonung des Bruchs mit anderen Kontexten, mit einer überraschenden
und überraschten Abkehr von Kontinuitäten geleistet werden kann.
Der Bruch mit Kontinuitätsunterstellungen wird im Kontext der Liebe aber
nicht nur als Bruch mit anderen Kontexten, rationalen Gründen und Normen
inszeniert, er lässt sich auch noch als Bruch mit den normalisierten Normen der
Liebe selbst beschreiben. Beispielshaft darf hier noch ein Paar zu Wort kommen,
das auf die beginnenden Romantikroutinen zu einem früheren Zeitpunkt ihrer Be-
ziehung zurückblickt:
B: Das musst Du beantworten, mit der Romantik (lacht) […] I: Gibt es irgendwie so
was, dass man das inszenieren müsste, das man sagen müsste, jetzt ist wieder mal, jetzt
sind wieder mal zwei Wochen vorbei, wir… F: … jetzt bringen wir ein Sträußchen
Blumen mit, stellen Kerzen auf den Tisch und wir machen Candle-Light-Dinner? I:
Genau? F:… obwohl … E: … also wir haben das am Anfang schon mal gemacht … F:
Ehrlich? E: … versucht mal zu machen, dass wir uns zumindest jeden Monat […] dran
denken … F: Wir haben uns jeden Monat eine Scheiß Orchidee geschenkt, Schätzchen
… Also beide gegenseitig, dass wir dann am Schluss 50 Orchideen dastehen hatten,
die wir jetzt kürzlich weggeschmissen haben, weil (lacht) E: (lacht) (P-M&P, 18, S. 48)
Die Szenerie, in der sich ein junges Paar gegenseitig mit floraler Aufmerksamkeit
„überschüttet“, ist für ein Publikum sofort nachvollziehbar; sie referiert auf eine
romantische Norm des gegenseitigen Aufmerksamkeitsbeweises. In diesem Fall ist
die Kennzeichnung des Schenkens von Orchideen als klischeehafte romantische
Norm im Kommunikationsverlauf schon allein dadurch augenfällig, als es einer
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 91
die Gesellschaft der Gegenwarten als ein Schauspiel beschrieben, das sich in der
Praxis der Liebe vielleicht als ein besonders dramatisches ausnehmen wird. Was
hier zu einem Drama gerät,
ist freilich die Tatsache, dass die[…] unterschiedlichen ‚Rollen‘ weder von einem zen-
tralen Regisseur aufeinander abgestimmt werden noch ein Skript haben, an dem sie
sich abarbeiten können. Wenn man dieses Bild weiter bemühen will, spielt auf der
Bühne Gesellschaft eher eine Laienspielschar, die, zur Echtzeit gezwungen, weder
Probe noch Korrekturmöglichkeiten hat, sondern ihre Struktur gewissermaßen
improvisieren muss und dennoch zu Selbststabilisierungen auch im Hinblick auf die
Wechselseitigkeit der operativ voneinander unabhängigen Funktionssysteme kommt.
Es ist fundamental eine Gesellschaft der Gegenwarten. (Nassehi 2003, S. 165)
Und gerade hier wird für eine intimitätssoziologische Empirie deutlich, dass sich
die Kontrastierung von Normativität und Normalisierung nicht lediglich als eine
spekulative theoretische Konfiguration lesen lässt. Für die konkrete Praxis der Dar-
stellung von Intimität und Liebe selbst ist sie unerlässlich. Die erzählten Liebes-
geschichten drehen sich ganz selbstverständlich um eine spezifische Fassung von
Normen, die sie selbst als eine Rahmung der in ihnen aufscheinenden Intimität
inszenieren. Sie nutzen die Spannung zwischen der Normativität und der Norma-
lisierung der Liebe. Ich habe argumentiert, dass die Darstellung von Liebe dann
gelingt, wenn sie sich auf etablierte Normen gleichzeitig beruft und diese Normen
in Frage stellt; praktisch gelingt Intimität, wenn Normalitätserwartungen erfüllt
werden, aber nicht exakt erfüllt werden. Nur so kann eine Darstellung von Inti-
mität plausibilisiert werden. Sie führt performativ vor, wie man Normen befolgt,
indem man sie bricht. Das – so möchte ich hier argumentieren – ist die spezifische
Normativität des Liebens.
Die Norm der Normabweichung ist einerseits durchaus schon in den Formvor-
lagen der romantischen Liebe selbst angelegt. Sie ist in ihnen derart angelegt, dass
nur eine Zitier- und Kopierpraxis, die sich auf eine neue, besondere, einzigartige
und abweichende Art und Weise auf sie bezieht, ihre richtige Umsetzung in der
praktischen Kommunikation darstellen kann. Nur diejenigen folgen den Formvor-
gaben korrekt, die ihnen nicht korrekt Folge leisten. Es wurde argumentiert, dass
nur eine praxistheoretische Deutung dieser paradoxen Ausgangssituation soziolo-
gisch Sinn ergeben kann. Denn wenn sich dieser praxistheoretische Zugang verbie-
tet, jedwede zu Tage tretenden Paradoxien lediglich als pathologische Verzerrungen
einer idealtypischen Kommunikationssituation zu interpretieren, können anderer-
seits sogar ihre empirisch möglichen funktionalen Aspekte deutlich hervortreten.
In der Tat werden dann insbesondere die eigentümlichen „Schwierigkeiten“ inter-
essant, mit denen in der Darstellung der Intimität das Befolgen von Regeln behaf-
tet ist. Einiges spricht dafür, in diesen „Schwierigkeiten“ ein Spezifikum der Liebe
Demoralisiert die Liebe? Normen, Normativität und Normalität … 93
und der Intimität zu sehen. Ich habe diesen Artikel mit einen kurzen Überblick
über möglichst unterschiedliche normativitäts- und normalisierungstheoretische
Standardmotive begonnen, der das Verhältnis des Liebens zu Normen und damit
auch die Problematik des Regelbefolgens in den Mittelpunkt gerückt hat, als dessen
kleinster gemeinsamer Nenner genau dieser Problembezug offenbart hat. Parallel
zu dieser Diagnose würde es sich dann auch als ein nur marginaler Unterschied
erweisen, ob wie in der frühen Familiensoziologie von einem Mangel an sozial ver-
bindlichen Regeln oder wie in der zeitgenössischen (kapitalismuskritischen) Inti-
mitätssoziologie ein Überschuss an sozial vorgegebenen Regeln diagnostiziert wird
(vgl. dazu Stempfhuber 2012). In der empirische Analyse von „Paargeschichten“
lässt sich zeigen, dass es die von dieser paradoxen Problemlage erzeugte Möglich-
keit der Unschärfe und der Unbestimmtheit ist, die es Paaren ermöglicht, ihre ganz
eigene Version einer intimen Praxis zu plausibilisieren. Ihre Individualität als Paar
können Paare dadurch etablieren, dass sie Normen, Formvorlagen und Regeln in
Anspruch nehmen und sich gleichzeitig von ihnen distanzieren – in höchst erwart-
barer Weise.
Es lässt sich also zeigen, dass die kommunikative Herstellung von Unbestimmt-
heit als ein charakteristisches Merkmal der spezifischen Gegenwart der Intimität
ausgemacht werden kann. Dem intimen Kommunikationsstil geht es nicht so sehr
um das Offenhalten von Unbestimmtheit, sondern um eine performative Öffnung
der erzählten Geschichten (vgl. Stempfhuber 2012). Dieser Umstand muss dahin-
gehend interpretiert werden, dass sein grundlegendes Bezugsproblem im parado-
xen Status seiner Formvorlagen, derer er sich bedienen muss und gleichzeitig nicht
bedienen darf, zu finden ist. Die Gegenwart der Intimität ist unausweichlich im
Spannungsfeld von Normalisierung und Normativität zu verorten – und sieht ge-
nau hier die Bedingung ihrer Möglichkeit.
Literatur
Beck, U., & Beck-Gernsheim, E. (1990). Das ganz normale Chaos der Liebe. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Butler, J. (2001). Körper von Gewicht. Die diskursiven Grenzen des Geschlechts. Frankfurt
a. M.: Suhrkamp.
Butler, J. (2009). Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen.
Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
D’Emilio, J., & Freedman, E. (1988). Intimate matters. A history of sexuality in America. Chi-
cago: University of Chicago Press.
Foucault, M. (1977). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt a. M.:
Suhrkamp.
Foucault, M. (1985). Von der Freundschaft. Michel Foucault im Gespräch. Berlin: Merve.
94 M. Stempfhuber
Dinah Schardt
Dass militärische Einsätze nicht nur Krisen bewältigen, sondern selbst Krisen er-
zeugen, ist im Grunde genommen nichts Neues. Neu aber ist, dass diese Krisen mit
dem Hinweis auf Ethik geheilt werden sollen. Die verteidigungspolitische Verve,
mit welcher bis zum Frühjahr 2011 unter der Führung Karl-Theodor zu Gutten-
bergs einer Unbedingtheit zur Strukturreform nachgekommen wurde,1 bezog sich
zwar durchaus einsatzpraktisch auf das Fehlen an Struktur, Materialien, Ausbil-
dung und Geldern, um der sogenannten „Einsatzrealität“ gerecht zu werden. Im-
mer wieder aufkeimende Debatten um eine neue „Politikbedürftigkeit des Militäri-
schen“ (Naumann 2008) jenseits von akuten Personaldebakeln und Sparmaßnah-
Der vorliegende Text beruht formal und inhaltlich grundlegend auf einem Artikel, der unter
dem Titel „Ethik auf schmalem Grat. Ethikkrisen und Krisenethiken im politischen Umgang
mit Tod und Verwundung am Beispiel des Afghanistaneinsatzes der Bundeswehr“ 2011 im
Sammelband „Die sicherheitspolitische Streitkultur in der Bundesrepublik Deutschland.
Beiträge zum 1. akademischen Nachwuchsförderpreis „Goldene Eule“ des Bundesverbandes
Sicherheitspolitik an den Hochschulen (BSH)“ unter der Herausgeberschaft von Stella Adorf,
Jan-Florian Schaffeld und Dietmar Schössler erschien, siehe Schardt 2011.
1
Am 01.3.2011 erklärte Karl-Theodor zu Guttenberg offiziell seinen Rücktritt aus dem Amt
als Verteidigungsminister aufgrund einer vorhergehenden Plagiatsaffäre um den Erwerb sei-
nes Doktortitels. Hierzu noch einmal ausführlicher Punkt 4.3. Inzwischen bekleidet nach
einer Amtszeit Thomas de Maizières von 2011 bis 2013 Ursula von der Leyen das Amt.
D. Schardt ()
Johannes Gutenberg-Universität, Mainz, Deutschland
E-Mail: dschardt@soziologie.uni-heidelberg.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik − Normen − Werte, Studien zu einer 95
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_5,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
96 D. Schardt
men machen allerdings vermehrt deutlich, dass es vor allem an einem fehlt: einer
angemessenen Ethik. Die militärische Krise wird immer wieder zur ethischen Krise
deklariert. Virulent wird dieser Aspekt vor dem Hintergrund eines öffentlichen
Meinungstrends, wonach die Bundeswehr an eine so genannte „Einsatzrealität“
nicht entsprechend angepasst erscheint und folglich an ihrem eigenen Auftrag out
of area – vor allem in Nord-Afghanistan – zu scheitern droht. Angetrieben wird
der Abwärtstrend der öffentlichen Zustimmung2 aus militärsoziologischer, frie-
densethischer wie politischer Sicht vor allem durch die einsatzbedingten Fälle von
Tod und Verwundung. Soldatische Opfer bei Anschlägen, Tötungen von „Zivilis-
ten“ in Kampfhandlungen, körperlich Verwundete, aber auch die offizielle Anzahl
und insbesondere die vermutete Dunkelziffer an traumatisierten Heimkehrern –
so genannten PTBS-Kranken3 – versinnbildlichen als unintendierte Nebenfolge
die „ungeschönte“ soldatische Einsatzwirklichkeit. Sie bilden als akute Einzelfälle,
aber auch in aggregierter Zahl den entscheidenden Motor für Diskussionen um die
Sinnhaftigkeit des Einsatzes, strategische Fehlentscheidungen und -einschätzun-
gen, die künftige Fortsetzung unter Veränderung von Einsatzstrategie bzw. -stärke
oder einen schrittweise erfolgenden bis sofortigen völligen Abzug. Die Faktizität
und Potentialität von Tod und Verwundung in Form von Todeszahlen und Sta-
tistiken zu Posttraumatischen Belastungsstörungen, Ehrenmälern, authentischen
Betroffenheitsberichten der Angehörigen und Kameraden in Fernsehberichten
bringen zum einen Debatten um die Legitimation von Tod und neuerdings auch
2
Annahmen zur öffentlichen Meinung gelten als entscheidendes Argument für De- wie
auch Legitimierung der Einsätze, bringen allerdings je nach Fragestellung und Auswertung
sehr unterschiedliche Ergebnisse hervor: Das bundeswehreigene Sozialwissenschaftliche In-
stitut konstatiert noch im Februar 2010, das Vertrauen in die Bundeswehr sei unverändert
hoch. Nur noch 50 % der Bevölkerung im Vergleich zu 64 % im Vorjahr stimmten 2009 dem
Afghanistaneinsatz zu. Die anderen Einsätze der Bundeswehr würden jedoch mehrheitlich
unterstützt (Balkan, Anti-Piraterie vor der Küste Somalias) (vgl. zur Auswertung der TNS
Daten: Bundeswehr 2010). Geht es dagegen um die aktuelle Rückzugfrage aus dem Einsatz in
Afghanistan, so meint beispielsweise Statista (mittels Infratest Dimap Daten), 70 % aller 1000
Befragten befürworteten einen Rückzug (vgl. hierzu Statista 2010). Womöglich ließe sich
auch von einem Auf- und Abwärtstrend je nach akuten Todesereignissen sprechen, folgt man
den zentralen Ergebnissen einer umfassenden Bevölkerungsumfrage 2008 des Sozialwissen-
schaftlichen Instituts der Bundeswehr, wonach die Bevölkerung verhältnismäßig wenig über
die Bundeswehr und ihre Einsätze Bescheid wisse und sich demnach stark in ihrer Meinung
an jeweiligen Medienskandalen orientiere, zur Dominanz der Medienbilder in der öffentli-
chen Wahrnehmung im Kurzbericht: Bulmahn 2008, S. 16 f.
3
Die posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) beschreibt sich laut DSM (Diagnostic and
Statistic Manual of Mental Disorders)-IV-TR von 2003 als Stressreaktion, bei der Menschen
unter dem beständigen Wiedererleben des traumatischen Ereignisses in Form von beispiels-
weise Rückblenden oder Albträumen leiden, vgl. Gerrig und Zimbardo 2008, S. 475 f.
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 97
Töten ins Rollen.4 Sie rütteln aber auch direkt an den ethischen Grundfesten der
Bundeswehr, indem sie ethische Skepsis bezüglich Gestaltkraft und Aktualität der
Inneren Führung als „Taktgeber“ der Bundeswehr und ihr Konzept der Menschen-
führung5 hervorrufen.
Der vorliegende Text widmet sich Formen des politischen Umgangs mit Tod
und Verwundung vor dem Hintergrund einer veränderten militärischen Einsatzla-
ge der Bundeswehr. Anhand von ausgewählten Medienberichten und militärsozio-
logischer Literatur6 lässt sich zeigen, wie die veränderte Einsatzlage eine neue Be-
gründung(sproblematik) des militärischen Todes aufwirft. Statt jedoch der – auf-
grund einiger akuter Skandale mit der Bundeswehr gedanklich eng verknüpften –
Vertuschung, Verleugnung oder Verharmlosung zu unterliegen,7 erweist sich ihre
Krisenhaftigkeit stattdessen als Lösung für die politischen Legitimationsprobleme:
Nur über den militärischen Tod als Problem kann glaubhaft versichert werden,
dass man sich tatsächlich mit Tod und Verwundung im Militär ethisch angemes-
sen auseinandergesetzt hat. Der empirischen Analyse gehen ein kurzer Einblick in
4
Vgl. Gespräch mit Ludger Honnefelder, in: Deutschlandfunk 2010a; damaliger Titel des
Spiegels 2009c „Die Bundeswehr, Afghanistan und der Krieg im 21. Jahrhundert“; SZ 13.
Juni 2007a, S. 2.
5
Durch die Innere Führung wurde der Bereich II der Menschenführung eingerichtet, um mi-
litärischen Vorgesetzten ethische Grundsätze im Umgang mit dem Menschen zu vermitteln.
Diese sollen nicht nur an die Soldaten in der Ausbildung zum Auslandseinsatz weitergege-
ben, sondern zugleich beim Führen im Einsatz selbst Anwendung finden, vgl. auch BMVg
Fü S I 4 2008, S. 18 f.
6
Der politische Diskurs umfasst Auswertungen von massenmedialen Berichten des Jahres
2008 bis 2011 (Printmedien, Fernsehen, Radio, Internet) sowie von militärsoziologischer
Literatur seit 1990. Die Daten wurden vornehmlich im Jahr 2008 im Rahmen der Diplomar-
beit mit dem Titel „Auf schmalem Grat mit Leib und Seele. Konstitutionen des soldatischen
Subjekts. Zum ethischen Umgang mit Tod und Verwundung im Auslandseinsatz der Bundes-
wehr“ am Lehrstuhl Prof. Nassehi der Ludwig-Maximilians-Universität München erhoben
und durch aktuellere erweitert.
7
Zwar liegt der Verdacht in Bezug auf die Bundeswehr immer wieder in den letzten Jahren
nur allzu nahe, bedenkt man die nach Skandale 2010/2011 um die (u. a. tödlichen) Vorfälle
auf dem Lehrschulschiff Gorch Fock, unerlaubt geöffnete Feldpost von Soldaten aus Baghlan
und die Unklarheiten in Bezug auf einen soldatischen Schießunfall in Afghanistan. Gerade
hier lässt sich eine grundlegende Imagekrise einer ‚unzivil“ agierenden Bundeswehr ausma-
chen, über die jedoch im selben Moment ein akutes Krisenmanagement (Verteidigungsmi-
nister, Verteidigungsausschuss, Wehrbeauftragter) demonstrativ Herr zu werden weiß und
den politischen und vor allem zivilen Charakter der Bundeswehr angesichts des gut funktio-
nierenden Primats des Politischen stärkt. Über die Formierung von Krisenethiken in Bezug
auf Tod und Verwundung im Einsatz siehe Punkt 4.3.
98 D. Schardt
Fragt man nach einem militärsoziologischen Umgang mit Tod und Verwundung
von Bundeswehrsoldaten, so ließen sich bis vor wenigen Jahren außer einer empi-
rischen Studie von Kümmel und Leonhard (2004, 2005) zur öffentlichen Resonanz
bei einsatzbedingten Todesfällen in der Bundeswehr kaum Auseinandersetzungen
mit der doch recht aktuellen Thematik finden.8 Die Konzentration der wenigen,
hauptsächlich psychologischen oder psychiatrischen Abhandlungen lag (und liegt
oftmals noch) auf dem unmittelbaren wie mittelbaren Erleben von Tod, Verwun-
dung und Leid im Einsatz als Hauptursache für seelische Belastungen und gleich-
zeitig als Risikofaktor für dauerhafte (seelische) Verwundungen. Das (Nicht-)
Umgehen-Können mit kritischen bzw. traumatischen Ereignissen blieb der „indi-
viduellen Persönlichkeitsstruktur“ des Soldaten geschuldet und verwies in letzter
Instanz zur weiteren Einschätzung auf den Menschen und seine natürliche „unter-
schiedliche Verletzbarkeit“ (Beckmann 2006, S. 336 f.). Die Abhandlungen ließen
weder größere Rückschlüsse auf bestimmte Kontexte noch einen umfangreicheren
soziologischen Umgang mit dem Thema zu.9 2005 fanden von militärsoziologi-
8
Die Untersuchung lieferte überraschende Ergebnisse, die eine erwartete „casualty shyness“
(mangelnde Akzeptanz von Kriegsopfern) in der deutschen Bevölkerung widerlegten. Siehe
hierzu noch einmal 4.2.
9
Beispielhaft zu Tod und Verwundung als Ursachen und Folgen traumatischer Erfahrungen
vgl. Beckmann 2003, S. 209 ff., 2006, S. 334 ff.; zu Erfahrungsberichten über die Ausma-
ße physischer und psychischer Belastungen im Einsatz vgl. Feller und Stade 2006, S. 322 ff.,
oder auch aktuell: Biesold 2010, S. 101 ff. Folgt man den Vertretern einer subjektorientierten
Militärsoziologie (Vogt 1986; für die 90er Jahre beispielhaft: Seifert 1992, 1994), so ließen
sich möglicherweise die psychologischen Studien zu Belastungsfaktoren im Auslandsein-
satz und die erneut verstärkte Konzentration auf soldatische Motivationsprobleme vor dem
Hintergrund einsatzbedingter Risiken dem oftmals kritisierten Duktus einer „anwendungs-
orientierten“ militärsoziologischen Forschung unterordnen. Diese erhebe den Soldaten zwar
zum spezifischen Thema und problematisiere durchaus sein Verhalten im Rahmen seiner
organisatorischen Einbettung in den militärischen Apparat, lasse in ihrem theoretischen und
methodischen Vorgehen eine gesonderte Perspektive auf das Subjekt „Soldat“ dabei jedoch
außer Acht. Gerade jedoch mit der Entwicklung zu einer „Armee im Einsatz“ und im An-
schluss an eine ehemals preußische Auftragstaktik, die vermehrt die persönliche Kompetenz
und Eigenständigkeit der Soldaten erfordert, wird aus den militärsoziologischen Reihen eine
Subjektperspektive propagiert, die sich über bisherige organisationssoziologische Arbeiten
hinwegsetzt, welche dem Soldaten als „Spielball gesellschaftlicher Mächte“ (Seifert 1992, S. 3)
lediglich objektiven Status zuschreiben. Stattdessen wird der Soldat als selbstständiges Sub-
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 99
jekt mit einer sozialen Identität gefasst, dessen Handeln sozialen Deutungsmustern unter-
liegt und dessen Wirklichkeit und Selbstverständnis nicht objektiv gegeben, sondern sozial
konstruiert ist.
10
Dies zeigt sich am Handbuch der Inneren Führung 2009 zur „Rückkehr des Soldatischen“,
2010 zu den „Grenzen des Militärischen“ sowie an einer Ausgabe der Schriftenreihe des so-
zialwissenschaftlichen Instituts der Bundeswehr zum soldatischen Berufsbild (Hartmann
et al. 2009; Hammerich et al. 2010; Dörfler-Dierken und Kümmel 2010).
11
Der Begriff der Friktion entstammt eigentlich der Mechanik, wurde aber durch Carl von
Clausewitz auf die Militärtheorie übertragen (vgl. Clausewitz (1832/1833/1834): 1. Buch/7.
Kap). Damit sollten jene Probleme beschrieben werden, die sich zwischen Theorie und Pra-
xis im Allgemeinen, zwischen strategischer Planung und realer operativer Durchführung in
militärischen Operationen auftun. Gemeint ist hier die Sorge darum, dass der Soldat mög-
licherweise die Befehlslage durchbrechen könnte, sich anders verhalten könnte als erwartet.
100 D. Schardt
anderen Pol steht das Subjekt, das mit seiner Leiblichkeit hadert (Warburg 2008,
S. 340). Für das Militär bleibe die soldatische Subjektivität eine unberechenbare
organisatorische „Schwachstelle“ (Warburg 2008, S. 344), insbesondere angesichts
der vermehrten Fälle von Tod und Verwundung. Das Militär sei zwar vermehrt
auf den einzelnen Soldaten angewiesen, müsse in direkter Folge aber immer damit
rechnen, dass er mit der Riskanz eigener Leiden oder dem Erleben von Tod und
Verwundung anderer womöglich nicht umgehen könnte. Warburg versteht zwar
die Unfähigkeit im Umgang mit Tod und Verwundung durchaus noch als natürlich
geartetes subjektives (Berufs-)Problem, reflektiert zugleich aber auf die selbstpro-
duzierte organisatorische Krise: Das Subjekt ist im modernen Militär zur militäri-
schen Lösung erhoben, wird aber im Zuge der erneuten Auseinandersetzung mit
Tod und Verwundung vermehrt zum Risikofaktor.12
Mit Warburg lässt sich über die rein militärinterne Einsatzproblematik hinaus
nun fragen, wie politisch auf eine derartige Problematik weiter eingegangen wird.
Angelika Dörfler-Dierken (2010) enttarnt hier die neue „martialische“ Kriegsrhe-
torik als mediale Inszenierung der Politik: von „Gefallenen“ und „Krieg“ zu spre-
chen, werde gerne als bewusster verbaler Tabubruch bezeichnet, der über seine
Deutlichkeit den Frieden fördere. Die „öffentlichen Aufregungsrituale“ (Dörfler-
Dierken 2010, S. 149) seien jedoch eigentlich eine Strategie der Ent-Dramatisierung
qua Dramatisierung, um eigene „beruhigende“ Handlungsfähigkeit zu suggerieren
und Wählerstimmen einzufangen. Anhand von Dörfler-Dierkens Diskursanalyse
lässt sich – ohne (subjektorientierten) Rekurs auf mögliche individuelle Krisen –
an den Aspekt politischer Selbstplausibilisierungsstrategien anschließen, die durch
die Nicht-Selbstverständlichkeit der Inkaufnahme von Tod und Verwundung not-
wendig zu werden scheinen. Sieht man von den kritisch-normativen Schlüssen des
Textes ab, so macht er schlichtweg auf politische Praxen ethisierter Rede über Krisen
und mittels Krisen aufmerksam, die nun als solche anhand des spezifischen Um-
gangs mit dem Thema „Tod und Verwundung“ genauer untersucht werden sollen.
Das Militär war schon immer ein klassischer ethischer Fall – die für die Soziologie
spannende Frage ist allerdings, wie hier jeweils moralisiert wird. Aus Luhmann-
scher Sicht reagiert Ethik auf die Uneindeutigkeit moralischer Rede, indem von
Zur Ausführung dieser Gedanken anhand der historischen Genese der Bundeswehr und ihrer
12
ethischen Konzentration auf den Soldaten als Staatsbürger in Uniform siehe auch Punkt 4.1.
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 101
13
Mit Alois Hahn lassen sich drei dominante Stränge der thanatologischen Forschung iden-
tifizieren: Tabuisierung, Säkularisierung und Individualisierung des Todes bzw. des Sterbens,
vgl. zu thanatologischen Strömungen im Überblick: Saake 2008b.
102 D. Schardt
einsatzbedingter Tod auf ein politisches, ein öffentliches Motiv verweist? Während
die Zurechnung auf eine je individuelle Sinngebung des Todes und der persönliche
Umgang mit dem Sterben das Fehlen des kollektiven Taktgebers und die Ausdiffe-
renzierung in verschiedene Formen des Todes kompensiert (Nassehi 2003, S. 298 f.;
Saake 2008b), werden gewaltbedingte Todesopfer im deutschen Militäreinsatz –
einst als „normale“ Kriegsfolge durch Vaterlandsliebe nationalstaatlich begründet
und in Kauf genommen – im Zuge neuer Auslandseinsätze seit den 90er Jahren für
höchst unplausibel erachtet. Auch die Kriegsversehrtheit gilt als nicht akzeptierte,
unintendierte Nebenfolge, als Unfall, Missgeschick, Schaden, Scheitern. Mit ihrem
erneuten Aufkommen stellen Tod und Verwundung die Richtigkeit des Einsatzes
in Frage; sie verunsichern soldatische Moral und ethische Konzepte maßgeblich,
wirken nahezu unvereinbar. Das gesellschaftliche Fehlen einer symmetrischen Be-
troffenheit aller vom Tod schlägt sich hier in besonderer Weise nieder und muss
daher umso mehr kommunikativ bewältigt werden (vgl. Saake 2008b). Höchst frag-
lich erscheint nun: Wie kann ein Einsatz überhaupt noch als richtig oder gut gel-
ten, wenn er dauerhaft Tote und auch Verwundete, nicht nur in den Feindesreihen,
sondern auch den zivilen und insbesondere den eigenen Reihen, zur Folge hat?
Über den Problembestand von Todes- und Verwundungsfällen im Auslandsein-
satz öffnet sich ein Feld, in dem sich die (ethische) Suche nach Gründen für das
Geschehene (und künftig zu Erwartende) äußerst schwierig zu gestalten scheint
und sich nicht einfach über den Verweis auf die (deutsche) Nation beheben lässt.
Ein dulce et decorum est pro patria mori (Horaz) scheint definitiv passé. Der Aus-
spruch Peter Strucks, unsere Sicherheit werde nicht nur, aber auch am Hindukusch
verteidigt, mochte zwar den überkommenen deutschen Patriotismus durch neues
Sicherheitsbestreben ersetzen, lieferte aber schon 2004 eine Steilvorlage für Kritik
und wird heute allenfalls ironisch als „mission impossible“ rezitiert.14 So zieht auch
Dörfler-Dierken die semantische Bilanz:
Früher fiel der Soldat für Gott, Führer, Volk oder Vaterland. Jetzt wird dieses höhere
Gut, das dem Soldatentod Sinn verleihen soll, mit dem emotional und in der christ-
lich-abendländischen Tradition hoch besetzten Begriff ‚Frieden“ angegeben. (Dörfler-
Dierken 2010, S. 148)
Während eine humanitäre Mission wie die der International Security Assistance
Force (ISAF) in Afghanistan, an der auch die deutsche Bundeswehr offiziell seit
14
Nach seinen Ausscheiden in der aktiven Politik veröffentlichte Peter Struck, von 2002 bis
2005 im Amt des Verteidigungsministers, nun im September 2010 seine Biografie „So läuft
das“, in der er rückblickend auf seine Zeit im Wehrressort seine damaligen Entscheidungen
mit Vorbehalt – es hätte keiner so starken Konzentration auf das Militär allein bedurft –
rechtfertigt (Struck 2010).
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 103
2003 beteiligt ist, ihrer Form nach mit Konfliktprävention, Wiederaufbau, Schutz
von Leben, ja schließlich auch Frieden verbunden ist, so gilt Gewalt, Tod und Leid
dagegen als Ausdruck ihres Scheiterns – als Krieg. Dass die Thematisierung von
Tod und Verwundung in ihrer faktischen wie auch ihrer potentiellen Problem- bzw.
Krisenqualität notwendig erscheint, ist dem Umstand geschuldet, dass diese nicht
mehr zum selbstverständlichen Tagesgeschäft militärischer Auseinandersetzungen
zählen und selbstverständliche Bestandteile des heutigen soldatischen Berufsethos
bilden, sondern hochgradig kontingenter Deutung unterliegen. Soldatentod bzw.
-versehrtheit muss nicht mehr sein, kann prinzipiell vermieden werden, ist so nicht
eingeplant. Ihre Evidenz (v. a. in Afghanistan) verweist symbolhaft auf den fakti-
schen Zustand eines Krieges, der als historische Krisensemantik nur das Scheitern
des Einsatzes versinnbildlichen kann: „Was wir am Karfreitag in Kundus erleben
mussten, das bezeichnen die meisten verständlicherweise als Krieg – ich auch“
(Karl-Theodor zu Guttenberg).15
Mit der Verstetigung von Toten und Verwundeten muss nicht nur ethisch sensi-
tiv ausgehandelt werden, wofür der Soldat stirbt (und tötet), sondern auch, wie mit
dem Tod umgegangen wird. Interessant ist dabei gar nicht so sehr die berufsethi-
sche Frage, warum nun nicht von einem Soldaten gesprochen werden kann, der mit
Tod und Verwundung umgehen kann (oder wie so ein Soldat idealiter gewachsen
und gerüstet müsste). Als soziologisch spannender stellt sich heraus, dass eine Pra-
xis ethisierter Rede existiert, die permanent von einem Soldaten spricht, der nicht
mit Tod und Verwundung umgehen kann. Anhand von Beobachtungen politischer
und militärischer Diskurse um den Umgang mit Tod und Verwundung im Einsatz
soll gezeigt werden, dass ethisierte Rede einen Umgang mit Unsicherheit und Kon-
tingenz moralischer Fragen ermöglicht, ohne selbst konkrete Lösungen anzubieten
oder Konsens leisten zu müssen.16 Ein guter Umgang mit Krisen besteht zunächst
15
So Guttenbergs Bekenntnis bei einer Trauerfeier für drei Fallschirmjäger, die bei einem
Sprengstoffanschlag im April 2010 ums Leben kamen (vgl. Tagesschau 2010). Zur Kriegs-
rhetorik siehe schon Dörfler-Dierken 2010, zur sogenannten „Krieg oder Konflikt“-Debatte
auch Punkt 4.3.
16
Stattdessen wird über Fragen und Problemstellungen Irritation eher aufgebaut als ver-
hindert, Unbestimmtes betont und bisher Selbstverständliches permanent in der ethischen
Praxis infrage gestellt, ohne dass sich der Inhalt näher bestimmen ließe. Schon Atzeni und
Wagner (2010) zeigen anhand empirischer Studien zur ethischen Rede in klinischen Ethik-
komitees und Ethikkommissionen auf, wie Ethik „als institutionalisierte Dauerreflexion“ die
praktische Funktion einer narrativen Leerstelle einnimmt und über die eigene Unbestimmt-
heit die Handhabung riskanter Entscheidungslagen ermöglicht. Saake und Kunz sprechen
allgemeiner von einer „ethischen Sensibilisierung“ diskursiver Verfahren über Symmetrisie-
rungsprozesse, die die Existenz guter Gründe konterkarieren. „Eine ethisch sensibilisierte
104 D. Schardt
einfach nur in einem jeweiligen Umgang mit diesen Krisen an sich. Tod und Ver-
wundung, so die These, bilden Generatoren einer ethisierten Rede rund um die
Belange der Bundeswehr, indem in einer Art Krisen-Ethik unwiderruflich auf die
eigene permanente Krisenhaftigkeit im Scheitern an der Einsatzwirklichkeit ver-
wiesen wird. Im Hinblick auf die Frage nach der Funktion der Inneren Führung
als Führungskonzeption der Bundeswehr wird der Wandel von einer Ethikkrise
des Militärischen hin zu einer Krisenethik über den Berufsethos des scheiternden
postheroischen Soldaten möglich gemacht. Die Krise der Ethik ist also schon die
Lösung für den problematischen Umgang mit der Krise des Sterbens beim Militär.
Anhand des öffentlichen Diskurses über die militärische Ethik der Bundeswehr
soll im Folgenden die veränderte Selbstbeschreibungspraxis der Bundeswehr dar-
gestellt werden. Die vorliegende Argumentation zeigt, dass eine zivil-militärische
Krise für die Etablierung der Bundeswehr als politische Institution in den 50er
Jahren konstitutiv ist und ihre Entsprechung im Staatsbürger in Uniform findet
(4.1). Mit dem Wandel des zivilen Publikums seit den 70er Jahren und damit auch
des zivilisierten Soldaten gerät die ethische Selbstplausibilisierung der Politik qua
Unterscheidung zwischen Zivilgesellschaft und Militär selbst jedoch in die Krise
(4.2). Der Anspruch militärischer Ethik und die Einsatzwirklichkeit scheinen nicht
vereinbar. Letztlich scheint politische Legitimation nur noch über eine Krisenethik
möglich (4.3). Tod und Verwundung werden weder verdrängt noch mit Gründen
ausgestattet, sondern treten nur noch in Form der sichtbaren, zurechenbaren und
semantischen Krise auf. Anhand des Scheiterns an der tödlichen Einsatzpraxis wird
die Differenz zwischen Bundeswehr und „Zivilgesellschaft“ erneut hergestellt und
ihr politischer Charakter gesichert.
Kommunikation ist eine solche, die sich kohärent so stilisiert, dass sie nicht als kohärent
erscheint.“ (Saake und Kunz 2006, S. 54)
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 105
These 1
Mit der Inneren Führung wird auf die Legitimationskrise deutscher Ver-
teidigungspolitik reagiert. Die zivilgesellschaftliche Plausibilisierung der
Bundeswehr wird ermöglicht, indem der Anspruch auf Versöhnung von
Zivilgesellschaft und Militär in den Soldaten als „Staatsbürger in Uniform“
hineinverlagert wird.
Mit dem Wiederaufbau der neuen Streitkräfte im Jahre 1955 in Gestalt der Bun-
deswehr wird eine moderne Form des deutschen Militärs geschaffen, die als Par-
lamentsarmee durch die strenge demokratische Kontrolle17 unter dem Primat der
Politik den Anschluss an die Zivilgesellschaft garantieren soll. Begünstigt wird die
angestrebte Zivilisierung des Militärs durch die Wiederaufnahme des Wehrpflicht-
prinzips nach der klassischen Idee der levée en masse.18 Zur Erlangung eines legiti-
men Status als politisches Instrument für die Gesellschaft (und in gleichzeitiger Ab-
grenzung zu dieser) sieht man sich in politischer Hinsicht vor die Herausforderung
gestellt, einer Armee in der Demokratie nicht nur rein rechtlich über das Wehr-
pflichtprinzip und parlamentarische Kontrollinstanzen nachzukommen. Man will
über eine militärethische Inkorporierung der neuen freiheitlich-demokratischen
17
Die strenge staatliche Kontrolle wird dadurch gewährleistet, dass der oberste Befehlsha-
ber der Streitkräfte aus dem regierungspolitischen, sprich dem zivilen Bereich kommt. Die
Einrichtung des Wehrbeauftragten als „Anwalt der Soldaten“ durch den Antrag der SPD im
Jahre 1957, der ebenfalls als regierungspolitischer Vertreter für etwaige Verletzungen der
bürgerlichen Rechte von Soldaten zur Verfügung steht, verleiht der staatlichen Kontrolle
Nachdruck und sichert zugleich die Rechte des Soldaten noch einmal zusätzlich (Gabriel
und Holtmann 2005, S. 148). Den aktuellen Wehrbeauftragtenposten vertritt seit 2010 Hell-
mut Königshaus (FDP).
18
Mit der Idee der Massenarmee, verabschiedet im „décret sur la levée en masse“ von 1793,
kann in Folge der französischen Revolution ein neuer militärischer Standard in Europa ge-
setzt werden (vgl. Kantner und Sandawi 2005, S. 37; Haltiner 2006, S. 518). Das neue Wehr-
pflichtkonzept der Bundeswehr verfolgt ebenfalls über die Rekrutierung des gemeinen Sol-
daten direkt aus der eigenen Zivilbevölkerung den Anspruch, die gesamte Nation nach außen
zu repräsentieren. Von der Möglichkeit, im Krieg für die eigene Nation zu kämpfen und
möglicherweise zu sterben, ist jedoch nicht die Rede, auch nicht in den nachfolgenden Jahr-
zehnten des Kalten Krieges.
106 D. Schardt
Der Nur-Soldat, der im Stil eines Condottiere in jedem politischem System Verwen-
dung finden könnte, hat in der Bundeswehr keinen Platz. Der Soldat der Bundes-
wehr kann vielmehr den ihm auferlegten treuen Dienst überhaupt nur dann erfüllen,
wenn er ein sauberes Verhältnis zu den Grundlagen unserer Verfassungsordnung hat,
die auf ganz bestimmten, freiheitlichen und rechtsstaatlichen Vorstellungen von der
menschlichen Gemeinschaft basiert (de Maizière 1971, S. 61).20
Einerseits verabschiedet man sich hier von der Vorstellung einer Vollinklusion der
Person in die Organisation Bundeswehr. Andererseits möchte man mit dem Hoch-
halten sinnvermittelnder Werte verhindern, dass ein Bild des Soldaten vermittelt
werden könnte, welcher seine beruflichen Pflichten in einem „Job wie jedem an-
deren“ (Collmer und Kümmel 2005; Leonhard und Biehl 2005) nur noch gemäß
eines fachmännischen Dienstes „ohne Ansehen der Person“ im Weberschen Sinne
(vgl. Weber 2005 [1922], S. 186) erfüllt, nicht aber aus innerer Überzeugung bei
der Sache ist.21 Der Spagat zwischen gesellschaftlicher Inklusion und dem Bei-
behalten einer spezifischen, durchaus auch exklusiven Militärkultur findet sich
auf ethischem Wege in der Institutionalisierung der Inneren Führung mit ihrem
ethischen Konzept des „Staatsbürgers in Uniform“ nach Wolf Graf von Baudissin
(1969, S. 211).
Die Innere Führung erweist sich als innovatives und aufgrund dessen auch
höchst umstrittenes Bildungskonzept der frühen 50er Jahre.22 Ziel ist es, jedem Sol-
daten in Eigenregie die Suche nach einem neuem soldatischen Selbstverständnis
und der „Selbsterziehung“ zum demokratischen Staatsbürger zu ermöglichen (vgl.
Schmidt-Ahmad 2005, S. 123). Was sich am pädagogischen Grundkanon der Inne-
ren Führung zeigt, ist eine institutionelle und spezifisch ethische Antwort auf eine
Krise des klassischen Soldatenethos. Das hehre Ziel, „die sittlichen Werte des deut-
19
Diese junge politische Werteordnung der Bundesrepublik hatte kurz zuvor im Grundge-
setz von 1949 ihren Niederschlag gefunden.
20
Ulrich de Maizière, Vater des 2011-2013 amtierenden Thomas de Maizière, war 1966-1972
Generalinspekteur der Bundeswehr und gilt neben Wolf Graf Baudissin als einer der ,Väter
der Inneren Führung‘.
21
Auch hier erinnert die Beschreibung des militärischen Apparates an Webers Vorstellung
eines rationalisierten „inneren Gehäuses der Hörigkeit“ von Fachmenschen, die ohne Herz
und Verstand ihrer Aufgabe nachgehen (Weber 2005 [1922], S. 185 f.).
22
Das Baudissinsche Konzept stößt vor allem in den Reihen der Traditionalisten auf Wi-
derstände, wird als „überflüssig, überspannt und undurchsichtig“ beschrieben, vgl. Schnei-
derhan 2007, S. 35. Vor allem verfestigt sich der Vorwurf, dem Konzept mangele es an prak-
tischer Durchsetzbarkeit im Soldatenalltag und zeuge von allzu idealistischem Charakter
(Reeb 2007).
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 107
Es ist kein ständisch autonomes Berufsideal, das den Berufssoldaten immer wieder
herauslockt in die Isolierung und den Wehrpflichtigen vor die Frage stellt, sich ent-
weder seinem eigentlichen Lebens- und Berufskreis zu entfremden oder hier nicht
mitzumachen, sondern es ist doch wohl ein Bild, das allgemeinverbindlich ist und das
alle Soldaten unausweichlich auf ihre Verantwortung für das Ganze hinweist und sie
in die Gemeinschaft hineinzieht. (Von Baudissin 1969, S. 241)
Der „Staatsbürger in Uniform“, der die beiden Pole Zivilgesellschaft und Militär
idealiter in seiner Person bzw. soldatischen Identität zu versöhnen (und gleichzei-
23
So Konrad Adenauer im Dezember 1952 vor dem Deutschen Bundestag (Schneiderhan
2007, S. 32). Die Verschmelzung von Militär und Zivilgesellschaft im Soldaten erweist sich
in der Nachkriegszeit als gängige normative These. Ziel ist dabei nicht das tatsächliche
Verschmolzensein, sondern die Prozesshaftigkeit des Verschmelzens, die den Soldaten als
„Staatsbürger in Uniform“ definiert und die Unterscheidung zwischen Militär und Zivilge-
sellschaft aufrechterhalten kann.
24
Nicht abwegig erscheint die Forderung nach der „Normalisierung“ des Soldaten zum Bür-
ger dadurch, dass die meisten der in den 50er Jahren wieder eingesetzten Soldaten ehemals
der Wehrmacht angehörten. Man will sich daher nicht nur von einem strengen Befehls- und
Gehorsamsstil abgrenzen, sondern auch von der Verinnerlichung nationalsozialistischer
Werte und die Verrohung durch die begangenen Gräueltaten der Wehrmacht während des
vergangenen Zweiten Weltkrieges.
108 D. Schardt
tig aufrechtzuerhalten) vermag, stellt eine Figur dar, über die ein gesellschaftlicher
Raum auf Basis bürgerlicher demokratischer Prinzipien und der Einheitssemantik
des Nationalstaates aufgespannt werden kann und die der Bundeswehr als deut-
scher Armee ihren politischen Charakter verleiht.
In den beginnenden 70er Jahren werden jedoch die Nebenfolgen eines gesamt-
gesellschaftlichen Demokratisierungsprozesses für die gesellschaftlich angepasste,
demokratisierte Bundeswehr sichtbar: Die Formierung einer kriegskritischen Be-
wegung25, die das Ansehen der Bundeswehr dauerhaft ins Wanken bringt, zieht
eine breit angelegte Wehrpflichtdebatte (vgl. Schmidt-Ahmad 2005; Dörfler-Dier-
ken 2008; Werkner 2004) im Rahmen eines grundlegenden Wertewandels26 nach
sich und bewirkt schließlich eine allmähliche „Integration durch Öffnung“ unter
Helmut Schmidt. Die pazifistische Grundeinstellung eines militärskeptischen Pu-
blikums zur Zeit des Kalten Krieges bildet auch die Basis für eine kritische Mili-
tärsoziologie (König 1968; Lippert und Wachtler 1982), die die veränderten und
prekär gewordenen zivil-militärischen Beziehungen zu reflektieren weiß, die Sub-
kulturalität des Militärs verurteilt und den Fokus auf die Subjektivität des Soldaten
richtet (Vogt 1986).
25
Während schon der Koreakrieg und die Berliner Blockade zu antimilitaristischen Strö-
mungen in den 50er Jahren geführt hatten, so verfestigt sich wieder vor der permanenten
nuklearen Bedrohungskulisse inmitten des Ost-West-Konflikts mit der Notstandsgesetzge-
bung 1968, des Vietnamkriegs als erstem „Medienkrieg“ und schließlich dem NATO-Dop-
pelbeschluss 1979 eine neue Kritik gegen die Außen- und Verteidigungspolitik der Bonner
Republik. Die Bundeswehr, die sich im Rahmen des westlichen, antikommunistischen Fort-
schrittsoptimismus noch 1955 als moderne demokratische Armee präsentieren und Akzep-
tanz, wenn auch schwerlich, so zumindest auf breiter Basis erringen konnte, avanciert be-
sonders in der Zeit der Studentenrevolten ab 1968 als verhasstes Relikt aus der NS-Zeit zum
regelrechten Inbegriff der Wahrung überkommener Traditionalismen und (spieß)bürgerli-
cher Prinzipien und der Stabilisierung kapitalistischer Herrschaftsideologien. Die Abneigung
gegen Krieg im Zuge der andauernden nuklearen Bedrohung führt vor dem Hintergrund der
Entstehung einer kritischen sicherheitspolitischen Öffentlichkeit neuerdings unter „sicher-
heitspolitischen Laien“ (Kohr und Lippert 1990, S. 1) zu intensiven Auseinandersetzungen
über die atomare Rüstungsbestrebungen, die sich schließlich in einer breiten (und interna-
tionalen) Friedensbewegung der 80er Jahre formieren.
26
Angeknüpft wird in der Formulierung eines Wertewandels an Ronald Ingleharts Thesen
von einem postmaterialistischen Wertewandel und Lawrence Kohlbergs Annahmen einer
postkonventionalistischen Soziomoral, vgl. Kohr 1996, Szvircsev Tresch 2005, S. 53.
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 109
These 2
Dass die Bundeswehr sich heute als „Armee im Einsatz“ vor dem Hinter-
grund Neuer Kriege angesichts der Fälle von Tod und Verwundung in einer
ethischen Krise befindet, resultiert nicht so sehr aus einer erneut zunehmen-
den Kluft zwischen Militär und (postheorischer) Gesellschaft, sondern aus
den Erfolgen ihrer Annäherung. Die Selbstplausibilisierung der Bundeswehr
scheitert stattdessen an der Inkompatibilität ihres zivilen Charakters mit
einer neuen Einsatzwirklichkeit.
Mit dem Wegfall des Ost-West-Konflikts durch das Ende des Kalten Krieges
kommt es in Deutschland zu einer sicherheitspolitischen Wende, die allerdings
nicht wie anfangs erhofft in einer „war-less“ (Moskos 1990) bzw. „post-military
society“ (Shaw 1991) mündet. Anstelle einer vermuteten kontinuierlichen „De-
Militarisierung“ (Von Bredow und Kümmel 1999, S. 13) sind es die Neuen Krie-
ge27, die die Fortsetzung und Instandhaltung der Bundeswehr „alternativlos“28 er-
scheinen lassen. Mit dem ersten Transformationsschub von einer „Armee für den
Frieden“ in eine „Armee im Einsatz“ in den beginnenden 90er Jahren, gefolgt von
den Verteidigungspolitischen Richtlinien 2003 und dem Weißbuch 2006, erlebt
die deutsche Politik eine Art „Renaissance des Militärischen“ (Kernic 2001, S. 145).
Als Sicherheitsexporteur reagiert sie zum einen auf neue außenpolitische Ereig-
nisse, zum anderen auf den gleichzeitigen allmählichen Verlust an staatlicher Si-
cherungskompetenz und den konstatierten „Niedergang der Massenarmee“ (Von
Bredow und Kümmel 1999, S. 15). Der sicherheitspolitische Wandel wird dazu
genutzt, sich trotz erbitterten innenpolitischen Streits vom überholten Image der
alleinigen Landes- und Bündnisverteidigung zu trennen, Frieden und Menschen-
rechte als schützens- und erstrebenswerte Universalien zu reklamierbaren militä-
rischen Zielen zu erheben und das Aufgabenspektrum um die Beteiligung an Ein-
sätzen im Rahmen eines kollektiven Sicherheitssystems wie UNO, NATO oder EU
27
Zwar scheint die Ära des großflächigen zwischenstaatlichen Krieges beendet, doch entste-
hen neue Hybridformen des Krieges (Kaldor 2000; Münkler 2002, 2004), die als small wars,
dirty wars, spill-over Krisen (vgl. von Bredow und Kümmel 1999, S. 10) in Erscheinung tre-
ten. Charakteristisch für die in ihrer neuen Bezeichnung nicht ganz unumstrittenen „Neuen
Kriege“ sind Münkler zufolge deren zunehmende Entstaatlichung, Verstetigung, Dislozie-
rung, Medialisierung und Asymmetrisierung.
28
So der 2002–2009 amtierende Generalinspekteur der Bundeswehr, Wolfgang Schneider-
han.
110 D. Schardt
Das Label „postheroische Gesellschaft“ vermittelt, dass man es mit einer Gesell-
schaft zu tun hat, die nicht mehr bereit ist, kriegerische Opfer in Kauf zu nehmen.
Der Wegfall einer militärischen Gesamtbedrohung und eines ideologischen Feind-
bildes einerseits sowie die Pluralisierung und Individualisierung von Wertehaltun-
gen andererseits haben den kriegerischen Einsatz von Individuen zunehmend frag-
würdig werden lassen. Mit dem veränderten Aufgabenspektrum der Bundeswehr
und einer wiederaufkeimenden Debatte um Wehrpflicht oder Berufsarmee (vom
Hagen 2006, S. 9) wird auch die Frage nach einem neuen Berufsverständnis des
Soldaten virulent: Im Zuge der humanitär begründeten ebenso wie friedenserzwin-
genden Einsätze und mit der vermehrten Übernahme ziviler Aufgaben von einem
29
Per Bundesverfassungsgericht vom 12. Juni 1994 wird nach einem erbitterten Streit um
die Beteiligung der Deutschen am Bosnienkrieg der Weg für Auslandseinsätze out of area
erstmals frei. Vorausgesetzt wird allerdings, dass es sich um keinen deutschen Alleingang der
Bundeswehr handelt, vgl. Gareis 2005, S. 2; Gill 2002, S. 56.
30
Der Militärstratege Edward Luttwak (1995) machte bereits in den 1990er Jahren eine
„postheroische“ Form militärischer Kriegsführung aus. In den vergangenen Jahren hat hier-
zulande insbesondere Herfried Münkler den Topos des Postheroischen aufgegriffen und
spricht von einer „postheroischen Gesellschaft“. Verbunden damit ist, dass westliche moder-
ne Gesellschaften durch verschiedene soziokulturelle Prozesse sich als „casualty shy“, so die
amerikanische militärsoziologische Begrifflichkeit, bezeichnen lassen, also die militärische
Auseinandersetzung scheuen und (über-)empfindlich darauf reagieren, dass die eigenen Sol-
daten möglicherweise in Zinksärgen nach Hause zurückkehren könnten (vgl. Kümmel und
Leonhard 2004, 2005).
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 111
Die militärische Beschreibung des Soldatenberufs erfolgt nicht mehr über die Ver-
antwortung des Einzelnen für den Staat, sondern krisenhaft im Verweis auf ein
zunehmend komplexes Aufgabenfeld und globale Werte samt Risiken für Leib und
Leben. Diskutiert wird auch, ob die Innere Führung weiterhin als „innerer Kom-
pass“33 und „Markenzeichen der Bundeswehr“34 überhaupt noch in der Lage sei,
mit ihrem Versöhnungskonzept des „Staatsbürgers in Uniform“ eine ethische Ver-
ankerung für die Soldaten zu bilden.35 Radikalere Stimmen befürworten sogar zur
31
Der Begriff miles protector, der den Vermittler, Helfer und Retter im Rahmen der Krisen-
interventionen charakterisiert, ist den Worten Gustav Dänikers (1992, S. 143 f.) entlehnt.
32
Erste sichtbare Folge der neueren Auslandseinsätze ist die 1993 mit der Zentralen Dienst-
vorschrift zur gesetzlichen Pflicht erhobene Fürsorge für den Einzelnen im Sinne der Aus-
bildung zur „Menschenführung“ der Vorgesetzten. Was dies im Genauen heißt, bleibt unde-
finiert, letztlich geht es aber vor allen Dingen um die Betonung eines menschenfreundlichen
Militärs, das nicht nur Soldaten zu demokratischen Subjekten erzieht, sondern ihnen auch
bei ihren persönlichen Problemen zur Seite steht.
33
Siehe Führungsstab der Streitkräfte I 4 (Fü S I 4 2008); Zentrale Dienstvorschrift (ZDv)
10/1, S. 5.
34
Vgl. BMVg.de 10. Januar 2008.
35
Besonders innerhalb der regierungspolitischen Reihen beruft man sich auf die Zeitlosig-
keit und Anpassungsfähigkeit des bisherigen Leitbildes, sogar durch seine universell gelten-
den Grundwerte Frieden, Freiheit, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie
nicht an Aktualität einbüße, sondern vielmehr sogar in solch krisenhaften Zeiten an Bedeu-
tung gewinne und sogar „unverzichtbar“ sei (vgl. Jung 25. Januar 2006). Bedenken bezüglich
112 D. Schardt
der problematischen Verbindung von Individuum und klassischem Kämpfer, die das Kon-
zept des „Staatsbürgers in Uniform“ nicht aufgreifen könne (Wiesendahl 2007a; Bald 2000;
Hamann 2000), oder auch nach einer verstärkt multinationalen Ausrichtung (Gareis 2005)
werden vor allem durch die Militärsoziologie vorgebracht.
36
Hans Otto Budde (ehem. Heeresinspektor der Bundeswehr), In: Welt Online 27. February
2004. Buddes radikale Worte verweisen zugleich auf die immer wieder aufkeimende Wehr-
pflichtdebatte.
37
Der „Soldat für den Frieden“ ist der Überschrift des Buches von Wolf Graf von Baudis-
sin entlehnt, welches die „Neugestaltung für eine zeitgemäße Bundeswehr“ durch die Innere
Führung beschreibt (Von Baudissin 1969).
38
„(Un)freundliches Desinteresse“ in der Bevölkerung wird von Politikvertretern immer
wieder bekundet und bemängelt: Horst Köhler (2004–2010 neunter Bundespräsident) (vgl.
Spiegel Online 27. November 2009), ebenso Ulrich Kirsch (2009–2013 Vorsitzender des Dt.
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 113
vor allem dann als nicht zu vernachlässigender Grund auf, wenn es um das eigent-
lich todes- und verwundungsbedingte Sinken der Einsatzmotivation in der Truppe
geht.
Die politische Kritik an einem postheroischen und doch weitestgehend in-
differenten Publikum mag verwundern: Wie die beispielhaften Debatten veran-
schaulichen, fehlt es eigentlich nicht wirklich an einem öffentlichen Diskurs um
Bundeswehreinsätze und Todesfälle. Wenn Gründe neuerdings wieder ethisch aus-
gehandelt werden müssen, wofür der Soldat kämpft und stirbt, so fehlt eher eine
eindeutige Referenz bzw. ein kollektives Verständnis (z. B. Deutschlands Sicher-
heit am Hindukusch) für die Erklärung von Einsatztoten und Kriegsversehrten,
aber auch eben grundlegende Kritik. Mit der redundanten Rede von einer (in der
Regel westlich geprägten) „postheroischen Gesellschaft“ ging man davon aus, dass
diese aus einer generellen Kriegsskepsis heraus Tote und Verwundete als Opfer des
Einsatzes infrage stellt und dabei auf ein kohärentes ethisches Fundament Bezug
nimmt. Während es an einer solchen Debatte mangelt, die auf festgelegten zivil-mi-
litärischen Differenzen fußt und noch auf den Soldaten als Repräsentanten der Ge-
sellschaft Bezug nimmt, so tritt die derzeitige Debatte um die Bundeswehreinsätze
stattdessen als Debatte um eine fehlende Einsatzethik in Erscheinung, die erklären
könnte, warum ‚da draußen‘ gestorben wird.
Mit der diskursiven Problematisierung eines verzivilisierten Soldaten und einer
Öffentlichkeit, die sich nicht für militärische Belange interessiert, kann eine asym-
metrische Differenz zwischen Zivilem und Militärischem – dem Einsatz selbst – er-
neut aufgespannt werden. Der Aspekt der Versöhnbarkeit beider Seiten erscheint
nur noch als fernes Desiderat am Horizont. Das tatsächliche Verhältnis wird je-
doch als grundlegend prekär beschrieben – out of area, out of mind. Das Beklagen
der öffentlichen Indifferenz macht zugleich darauf aufmerksam, wie das Problem
militärischer Ethik praktisch gelöst wird: über die Kommunikation der Krise. Im
nächsten Abschnitt soll gezeigt werden, wie über unterschiedliche Formen einer
Krisenethik konkret auf das Fehlen einer symmetrischen Betroffenheit aller vom
Soldatentod bzw. eines kollektiven Motivs reagiert wird.
Bundeswehrverbandes) (vgl. NZZ Online 29. August 2008), Reinhold Robbe (2005–2010
Wehrbeauftragter des deutschen Bundestages) (vgl. Spiegel Online 24. June 2009), Franz Jo-
sef Jung (2005–2009 Verteidigungsminister) in einer Rede an der Führungsakademie der
Bundeswehr am 25. Januar 2006 in Hamburg (vgl.Clausewitz Gesellschaft 2006).
114 D. Schardt
These 3
Die Ethik der Krise stellt eine Reaktion auf die Krise des Ethischen dar. Mög-
lichkeiten, das Militär weiterhin als legitimes politisches Instrument zu ver-
stehen, bestehen in der Umformung der Ethikkrise in eine Krisenethik. Der
Umgang mit Tod und Verwundung kann nur in Form seiner Krisenhaftig-
keit erfolgen.
Die Krise militärischer Ethik vor dem Hintergrund einer veränderten Einsatzwirk-
lichkeit führt zu veränderten ethischen Selbstplausibilisierungen der Politik. An-
hand einiger Beispiele seit 2008 lässt sich zeigen, wie die Krise von Tod und Ver-
wundung nicht nur als Problem auftaucht, sondern genau als Problem zur Lösung
der veränderten Plausibilisierung des Militärs dient.
Seit den frühen 50ern hatten die unübersehbaren Differenzen zwischen Militär und
seiner Umwelt – der Zivilgesellschaft – bisher auf die Notwendigkeit permanenter
Integration verwiesen, der mit Inklusionsbestrebungen begegnet werden konnte.
Heute kreist die politische Sorge vornehmlich darum, die Einsätze und besonders
die damit verbundenen Gefahren könnten ohne großen Reibungseffekt eine höchst
marginale Stellung in der öffentlichen Diskussion um Außenpolitik einnehmen.
Die daraus resultierende Krise der gesellschaftlichen Repräsentation besteht in der
Irrelevanz des militärischen Auftrags, für das Ganze zu stehen und gemeinsame
Werte zu kämpfen. Statt das Gedenken an die Toten oder feierliche Gelöbnisse als
Bundeswehrinterna zu verstehen, wird auf traditionelle Formen soldatischer Ge-
denkkultur und Ehrenzeichen zurückgegriffen, um den gefährlichen Soldatenein-
39
So der letztere Teil der Inschrift des Ehrenmals im Bendlerblock nach dem Konzept des
Architekten Andreas Meck (vgl. Tagespiegel Online 06. Juli 2007).
40
Franz-Josef Jung anlässlich der Grundsteinlegung, in: Tagesspiegel Online 27. November
2008a.
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 115
satz zum Politikum erheben und als solches einem zivilen Publikum in seiner Ve-
hemenz vor Augen zu führen. Als Paradebeispiel für diese Art neuerer Repolitisie-
rungsbestrebungen des Militärischen der letzten Jahre lässt sich wohl das Berliner
Ehrenmal der Bundeswehr nennen.41 Das geplante zentrale Ehrenmal für verstor-
bene Bundeswehrsoldaten auf dem Gelände des Bendlerblocks42 in Berlin Mitte
führte 2007 zu einer hitzigen parteipolitischen, jedoch öffentlich nur marginal auf-
scheinenden Diskussion (Tagesspiegel Online 27. November 2008a). Bisher hatten
die Ehrenmäler der einzelnen Teilstreitkräfte in Laboe (Marine), Fürstenfeldbruck
(Luftwaffe) und Ehrenbreitstein (Heer) hauptsächlich in Form von Erinnerungs-
stätten „von Soldaten für Soldaten“ an die Gefallenen des Ersten und Zweiten Welt-
krieges erinnert und wurden lediglich durch unauffällige Stelen neueren Datums
ergänzt, aber weitgehend vom gesellschaftlichen Geschehen ausgeklammert. Da-
her wurde das schon 2005 durch Verteidigungsminister Franz Josef Jung geplante
Ehrenmal43 aus den unterschiedlichen parteipolitischen Reihen des Bundestages
als „längst überfälliger“ symbolischer Akt der Würdigung begrüßt (Siebert 2007),
jedoch unter Vorbehalt: Erwartungsgemäß wurden erhebliche Bedenken aus den
Reihen der SPD, Linken und Grünen geäußert, ob das Denkmal tatsächlich auch
als „Ehrenmal“ tituliert werden müsse: es verweise namentlich auf eine „falsch ver-
standene Erinnerungskultur“ (Jochimsen, die Linke) einer nationalistisch gefärb-
ten Beweihräucherung des „Heldentodes“ (Nachtwei, die Grünen)44, wie sie noch
aus Zeiten der Weimarer Republik bekannt sei, und könne leicht als „Kriegerdenk-
mal“ (Thießen, SPD) diskreditiert werden (Tagesspiegel Online 06. Juli 2007). In
41
Ein weiteres Beispiel bietet die Wiedereinführung des Tapferkeitskreuzes, das hier jedoch
unerwähnt bleibt.
42
Der sogenannte „Bendlerblock“, heutiger Sitz des Bundesministeriums für Verteidigung,
diente zu Zeiten des Nationalsozialismus als zentrale Stelle des militärischen Widerstands
um Claus Graf Schenk von Stauffenberg, aber auch zu gleichen Teilen als spätere Hinrich-
tungsstätte für die Widerstandskämpfer und symbolisiert gerade aus diesem Grund „Licht
und Schatten der jüngeren deutschen Militärgeschichte“. An die Widerstandskämpfer des
20. Juli 1944 erinnert im Innenhof des Gebäudekomplexes die „Gedenkstätte Deutscher Wi-
derstand“.
43
Die bewusst als „Ehrenmal“ konzipierte Stätte war anfangs nur für diejenigen Soldaten
gedacht, welche bei friedenserhaltenden Missionen im Ausland durch Fremdeinwirkung ihr
Leben verloren. Im Zuge der öffentlichen Debatte erfolgte der Entschluss durch Jung, die
Würdigung der Verstorbenen auf alle bei Auslandseinsätzen Verstorbenen zu erweitern. In-
zwischen gilt das Ehrenmal allen im Dienst der Bundeswehr seit 1956 verstorbenen Soldaten
und zivilen Angestellten.
44
Vgl. Spiegel Online 05. February 2007. Die Erwähnung von falscher Erinnerungskultur
verweist auf den kriegerischen Totenkult der Nazis, mit welchen sie die Gefallenen des Ersten
Weltkrieges als „Märtyrer“ für das Vaterland ehrten.
116 D. Schardt
der Debatte um das von Jung im Alleingang initiierte Ehrenmal regte sich auch
Kritik durch die FDP-Fraktion, das Militär könne als „Parlamentsarmee“ (Spiegel
Online 05. February 2007) nur über einen zentraleren Ort – den Reichstag – und
den Einbezug der deutschen Bürger in die Entscheidungsfindung wieder in den
öffentlichen Raum zurückgeholt werden.45
Allen Diskutanten gemeinsam (mit Ausnahme der Linken) war die Hoffnung,
dass die Existenz einer Gedenkstätte, gleich welcher Form, Bezeichnung und Lage,
ein probates Mittel zur bewussten, aber auch durchaus kritischen Auseinanderset-
zung der Zivilbevölkerung mit den bisher zu beklagenden Toten der Bundeswehr
darstelle, indem es evident werden lasse, dass künftig im Rahmen der Auslandsein-
sätze mit weiteren Toten oder seelisch wie körperlich Verwundeten ‚in den eigenen
Reihen‘ zu rechnen sei (Jens Bisky, in: SZ 24. September 2007b, S. 11).
Wichtig ist, dass wir uns bewusst machen, dass dieses Ehrenmal uns alle angeht und
nicht nur ein Anliegen der Bundeswehr und ihrer Soldaten ist. Deshalb ist es notwen-
dig, dass das Ehrenmal die Belange der Bundeswehr und die Bedeutung und Risi-
ken ihrer Einsätze ins öffentliche Bewusstsein rückt. Unsere im Einsatz ums Leben
gekommenen Soldaten und ihre Angehörigen haben eine solche Würdigung verdient.
(Siebert 2007)
45
So wollte die FDP-Fraktion des Bundestages im Juni 2007 vorerst das Projekt stoppen,
um zu einer Verlegung des Ehrenmals in nächster Nähe zum Reichstagsgebäude anzuregen
und den Alleingang des Baus über eine Parlamentsdebatte zu verhindern (vgl. Drucksache
16/5593 12. Juni 2007).
46
So der zusammenfassende Bericht zur Konferenz der Evangelischen Akademie Loccum
in Zusammenarbeit mit dem Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge, Landesverband
Niedersachsen und der Hessischen Stiftung für Friedens- und Konfliktforschung im Juni
2008 in Loccum zum „Soldatentod in heutigen Kriegen – Herausforderungen für politische
Normenbildung und Erinnerungskultur“ (Woitschach 2008). In den zum Teil sich wider-
sprechenden Diskussionsbeiträgen der Beteiligten bestand der Minimalkonsens zumindest
in einem Bedauern einer fehlenden Debatte.
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 117
47
Der Ausspruch entstammt dem „Kriegslied“ von Matthias Claudius von 1778. Angesichts
der Disziplinarverfahren und rechtlichen Klagen in Sachen Kundusaffäre wie auch der in-
zwischen üblich gewordenen Leidbekundungen Merkels oder Guttenbergs bei Trauerfeiern
um gefallene Soldaten erscheinen auch die Worte passend, mit denen die erste Strophe endet:
„Und ich begehre, nicht schuld daran zu sein.“
48
Zum „bösen K-Wort“ vgl. Spiegel 2008, S. 114 ff. Zur Gefallenenrhetorik: Tagesspiegel
Online 05. September 2008b.
49
Gespräch mit Michael Stürmer in: Deutschlandfunk 2010c.
50
So das Plädoyer des damaligen Bundesvorsitzenden des Deutschen Bundeswehrverbandes
Bernhard Gertz, man könne, wenn schon nicht zur Unterstützung, so zumindest zu einem
kritischen Bewusstsein einer repolitisierten Öffentlichkeit für die Gefahren des Einsatzes
anregen, wenn man – den Finger in der offenen Wunde der postheroischen Gesellschaft –
118 D. Schardt
Debatte verzeichnen: Mit einer steigenden Anzahl an Toten und Verwundeten sind
inzwischen nicht mehr allein Einsatzskeptiker (parteipolitisch vor allem die Linke)
und Angehörige des Militärs in Bezug auf den laufenden Einsatz der Bundeswehr
in Afghanistan darin einig, dass kein Konflikt, sondern ein Krieg in Afghanistan
herrscht. Die Semantiken Krieg, Veteran oder auch Gefallener demonstrieren poli-
tische Salonfähigkeit und finden selbst in den Reden und Statements Angela Mer-
kels Verwendung: „Wir müssen den Tatsachen ins Auge sehen. Viele nennen den
Einsatz in Afghanistan Krieg. Und ich verstehe das gut.“51 Einig ist man sich vor
allem in der Hinsicht, keine Bemühungen zur Legitimation der Auslandseinsätze
der Bundeswehr mehr in Gang setzen zu wollen, ohne immer wieder die unange-
nehmen Einsatzproblematiken mittels klarer Semantik angesprochen zu haben. Als
Paradebeispiel enttäuschenden Fehlverhaltens gilt immer noch die eklatante Un-
fähigkeit Franz-Josef Jungs, auszusprechen, was – schließlich durch seinen Nach-
folger Guttenberg – ausgesprochen werden musste:
Auch wenn es nicht jedem gefällt, so kann man sich, angesichts dessen was sich in
Afghanistan, in Teilen Afghanistans, abspielt, durchaus umgangssprachlich – ich
betone umgangssprachlich – in Afghanistan von Krieg reden. (Karl-Theodor zu Gut-
tenberg, in: ARD Reportage 01.12.2010)
An Guttenbergs, aber durchaus auch an Merkels Worten und den zu späten Kriegs-
Geständnissen Franz Josef Jungs zeigt sich, dass Kriegssemantiken nicht einfach
unterhinterfragt Verwendung finden, sondern ihr Einzug als schwierige und sym-
bolträchtige Krisenbegriffe in den alltäglichen politischen Sprachgebrauch immer
wieder als politisches Eingeständnis mitreflektiert werden müssen, gerade dann,
wenn über neue Fälle von Tod und Verwundung geredet werden muss. Über Krieg
zu reden, Soldaten als Gefallene zu bezeichnen oder dies zumindest nachvollziehen
zu können (Merkel), erweist sich als „guter“, weil ehrlicher (personal-)politischer
Akt jenseits der eigentlichen juristischen Richtigkeit des Wortgebrauchs (Gutten-
berg). Auch hier wird eine politische Krisenkommunikation sichtbar, die sich von
vornherein dem Vorwurf einer schleichenden „semantischen Normalisierungstak-
tik“ zu entledigen versucht, indem sie dauerhaft das eigentliche Einsatzziel und die
„Krieg“ und „Gefallene“ beim Namen nenne. Was Gertz erstmals im Januar 2008 „im Namen
der Soldaten“ einforderte, ließ anlässlich weiterer tödlicher Anschläge im Oktober 2009 Dis-
kussionen entfachen, die zum ersten Mal wieder ernsthaft um die definitorische Frage nach
„Krieg oder Konflikt?“ in Afghanistan kreisten (vgl. Truppen.info 22. January 2008).
51
Bundeskanzlerin Angela Merkel anlässlich einer offiziellen Trauerfeier für drei am 02. Ap-
ril 2010 bei einem Sprengstoffanschlag in der Nähe von Kundus gefallene Bundeswehrsolda-
ten (vgl. ZEIT Online 22. April 2010).
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 119
52
Vgl. Herfried Münkler im Gespräch, in: Deutschlandfunk 2010b.
53
Ein entsprechendes Verfahren der Generalbundesanwaltschaft gegen Bundeswehroberst
Klein und Hauptfeldwebel Wilhelms musste allerdings aufgrund der unklaren Beweislage
schließlich im April 2010 eingestellt werden, vgl. FAZ 19. April 2010a.
54
Von militärischer Seite wurde vor allem die Informationslage mangelhaft, das Vorgehen
selbst im Nachhinein trotz Formfehlern weitestgehend aus militärisch-technischer Sicht als
angemessen eingeschätzt. Während rechtlich-disziplinarisch die Lage ambivalent blieb und
unterschiedliche Einschätzungen hervorrief, ließ sich in ethischer Hinsicht seit der Kundus-
affäre ein historischer Bruch im Afghanistaneinsatz feststellen, wonach Frage nach dem „ge-
zielten Töten“ und der Inkaufnahme von Zivilen im Vordergrund stand.
120 D. Schardt
lichungen von Berichten über den militärischen Vorgang der damalige Bundes-
verteidigungsminister Franz Josef Jung am 27.11.2009 als Bundesarbeitsminister
offiziell zurück, da er bezichtigt wurde, Parlament und Öffentlichkeit verspätet,
unvollständig bzw. falsch über die Tötung von Zivilisten informiert zu haben. Sein
Nachfolger Karl-Theodor zu Guttenberg hatte wiederum am Vortag schon den da-
maligen Generalinspekteur der Bundeswehr Wolfgang Schneiderhan und Staats-
sekretär Peter Wichert der bewussten Vorenthaltung von Informationen bei der
schnellen Aufklärung des Falles bezichtigt und prompt ihres Amtes enthoben. Gut-
tenberg selbst geriet im Nachhinein ebenfalls sowohl durch seine „vorfrühe“ Be-
urteilung, der Angriff sei „militärisch angemessen“ gewesen, als auch im Zuge der
Ermittlungen des eigens dafür konstituierte Untersuchungsausschusses hinsicht-
lich der vorschnellen Entlassung Schneiderhans zwischenzeitlich ins Kreuzfeuer
der parlamentspolitischen Kritik (SZ Online 09. März 2010, 18. Dezember 2009).
Mit mehrfachen Amtsentlassungen und Rücktritten wurde auf die politische Ver-
mittlungsleistung zwischen militärisch plausiblem Vorgehen und möglicher ethi-
scher Angemessenheit krisenhaft reagiert, politische Verantwortung aber zugleich
über negative Zurechnung – mangelnde Information des Parlaments und der Bevöl-
kerung, unüberlegtes Urteilen – zumindest in Teilen wiedergewonnen.
Über den Präzedenzfall „Kundusaffäre“ hinaus erregte zum einen 2010 der
überraschende Rücktritt des ehemaligen Bundespräsidenten Horst Köhler Aufse-
hen.55 Ihn hatten Vorwürfe getroffen, er hätte in einer Rede den Einsatz in Af-
ghanistan mit wirtschaftlichen Interessen Deutschlands gerechtfertigt und darüber
hinaus Einsätze befürwortet, die vom Grundgesetz nicht gedeckt seien (FAZ 30.
May 2010b). In einem Gespräch zu Köhlers Rücktritt verweist Münkler auf einen
Trend der Politiker zu vermehrter „Dünnhäutigkeit“ im Zuge größerer Herausfor-
derungen, aber auch größerer Erwartungen der Bevölkerung. „Andererseits sollte
man ja eigentlich erwarten, dass Politiker sich gerade in solchen Krisensituatio-
nen bewähren und zeigen, was in ihnen steckt.“ (Münkler, in: Deutschlandfunk
2010b) Hieraus lässt sich die Chance erkennen, die sich für die regierende Politik
ergibt, über ein selbstproduziertes besorgtes Publikum voller Erwartungen wieder
als Krisenreaktionkraft aufzutreten und damit mögliche Legitimationsfragen aus
pragmatischen Gründen des Handlungsbedarfs selbst zu entkräften. Zugleich wird
sichtbar, was der Stein des Anstoßes in Bezug auf Köhlers Rücktritt war: Köhler in-
szenierte seinen Rücktritt nicht als bewusste verantwortliche Handlung durch die
Inkaufnahme der Konsequenzen des eigenen reflektierten Fehlverhaltens. Sowohl
seine Worte zu den Interessen Deutschlands am Afghanistaneinsatz galten als „un-
55
Zu den Aussagen Köhlers wie zu seinem Rücktritt: Tageschau 31. Juni 2010.
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 121
geschickt“ gewählt, als auch seine Rücktrittsrede als Ausdruck persönlichen „Be-
leidigtseins“.
Es war die erwartete politische Performance des Bundespräsidenten, die nicht
überzeugte, weniger der Inhalt seiner Worte (die ja dem des Weißbuches der Bun-
deswehr lediglich nachempfunden waren) oder der Rücktritt an sich, der auch, wie
im Falle Käßmann, als rasche und konsequen Geste oder bei Jung zumindest als
„Reparaturmaßnahme“ politischer Würde hätte gewertet werden können. Jenseits
der Frage, ob man tatsächlich mit dem Afghanistaneinsatz eigene wirtschaftliche
Interessen vertrete, erscheint vielmehr relevant, dass ein politisches Statement zu
Afghanistan, gerade des Bundespräsidenten, nun mal eine Angelegenheit ist, „bei
der im Prinzip auch allen Beteiligten klar ist, dass hier schnell etwas daneben gehen
kann und dass sozusagen die Performanz des Sprechens ein politischer Drahtseil-
akt ist“ (Münkler, in: Deutschlandfunk 2010b). Der Verweis auf das rechte „Fin-
gerspitzengefühl“ – nach Weber das abstrakte Charakteristikum einer ausgereiften
„politischen Persönlichkeit“ (Weber 1992 [1919]) – und die Betonung der beson-
deren Sensibilität des Themas formt politisches Handeln zu einem krisenhaften
„Drahtseilakt“. Mit ihr entsteht ein potentiell kritisches Publikum, vor dem man
sich erst einmal zu bewähren hat, und zwar unter der schwierigen Voraussetzung
dessen, dass eigentlich die Zeit fehlt, bei all den schnell zu fällenden Entscheidun-
gen noch „die Witterung aufzunehmen, zu spüren, was die Basis meint“ (Münkler,
in: Deutschlandfunk 2010b). Die würdige Vertretung des politischen Amtes voll-
zieht sich über eine besondere Art der Gratwanderung: zwischen dem demonst-
rierten Anspruch, dem Willen des repräsentierten Volkes und den militärischen
Erfordernissen gleichzeitig gerecht zu werden, und der rauen Wirklichkeit des Ent-
scheidungsalltags.
Wie sehr eine dauerhafte Überreizung der persönlichen Performanz Gutten-
bergs durch seine mediale Selbstinszenierung samt der erneut allzu vorschnellen
Entlassung des Kapitäns Schatz vom Lehrschulschiff Gorch Fock die Plagiatsaffäre
zu Guttenbergs maßgeblich vorantrieb und schließlich seinen Rücktritt von sei-
nem Amt als Verteidigungsminister am 1. März 2011 begünstigte, bleibt bis heute
offen.56 Das trotz der „enormen Wucht der medialen Betrachtung“ jedoch selbst
erwogene Eingeständnis der eigenen wissenschaftlichen Vergehen, das Hängen des
eigenen „Herzbluts“ am Amt und die Betonung, für alle Konsequenzen mit der
eigenen Person selbst Verantwortung zu tragen, stehen exemplarisch für die Form
der Krisenethik, deren Selbstplausibilisierung über personelle Zurechnungspraxen
funktioniert. Übertroffen werden konnte dies nur noch von der Unbedingtheit, mit
56
Zur wörtlichen Rücktrittsrede Guttenbergs, siehe Tagesschau extra 01. März 2011.
122 D. Schardt
der Guttenberg die von vielen Seiten kritisch betrachtete Verspätung seines Amts-
rücktritts am Ende seiner Rücktrittsrede erklärte:
Nachdem dieser Tage viel über Anstand diskutiert wurde, war es für mich gerade eine
Frage des Anstandes, zunächst die drei gefallenen Soldaten mit Würde zu Grabe zu
tragen und nicht erneut ihr Gedenken durch Debatten über meine Person überlagern
zu lassen. Es war auch ein Gebot der Verantwortung gegenüber diesen, ja gegenüber
allen Soldaten. (Guttenberg, in: Tagesschau extra 01. März 2011)
Auch hier bewährt sich der Soldatentod57 als praktisches Krisenargument, hin-
ter dem andere Angelegenheiten – selbst die Reparatur des eigenen Ansehens –
erst einmal offensichtlich zurückzustehen scheinen. Guttenbergs Äußerung darf
schlichtweg keinen kollektiven Sinn für das Sterben im Krieg vermitteln – sie glänzt
durch die Vermittlung reiner Betroffenheit. Ihm gelingt damit eine nahezu perfekte
Performance der doppelten Ethikkrise: durch die Versinnbildlichung der eigent-
lichen Trauer um die toten Soldaten einerseits und die öffentliche Inszenierung
seiner Person als Wiederhersteller fehlender Betroffenheit aus der eigenen Bevöl-
kerung andererseits.
Die Assoziation des politischen Umgangs mit einsatzbedingten Fällen von Tod
und Verwundung mit einer „Gratwanderung“ von ethischen „Krisenreaktionskräf-
ten“ sollte veranschaulichen, dass sich das verteidigungspolitische Verhalten zur
Verdeutlichung des eigenen krisenhaften Haderns mit der Einsatzproblematik an
das Militärische annähert, also statt der Politikbedürftigkeit des Militärischen (Nau-
mann), die sowohl zum Problem als auch zur Lösung geriert, im umgekehrten Sin-
ne über eine Art Militärbedürftigkeit des Politischen entsprochen wird.59 Tod und
57
Am 18.2.2011 starben drei Bundeswehrsoldaten durch eröffnetes Feuer eines afghanischen
Soldaten. Die Trauerfeier erfolgte schließlich am 25.2.2011 in Regen unter Anwesenheit Mer-
kels und Guttenbergs. vgl. SZ Online 25. February 2011.
58
So der pauschale Ausspruch Margot Käßmanns, der damals amtierenden Ratspräsidentin
des Evangelischen Kirchendienstes Deutschland, zur Silvesterpredigt in der Dresdner Frau-
enkirche, wodurch eine ungeahnte friedensethische Debatte vor allem von kirchlicher Seite
losbrach (vgl. Deutschlandfunk 2010a).
59
Verwechselt werden darf dies nicht mit der meist bundeswehrkritischen Annahme einer
schleichenden „Militarisierung der Gesellschaft“, die sich mitunter auf den vermehrten Ein-
satz der Bundeswehr im Inneren stützt, aber auch den Berufssoldaten zum Thema hat (vgl.
hierzu kritisch: Darmstädter Signal).
Auf schmalem Grat mit Leib und Seele 123
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‚Unternehmen sind nun mal Teil der
Gesellschaft‘ – Wertekommunikation
in Wirtschaftsorganisationen
zwischen Routine und Moral
1 Problemaufriss
V. von Groddeck ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München,
München, Deutschland
E-Mail: victoria.v.groddeck@soziologie.uni-muenchen.de
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132 V. von Groddeck
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heit des Internen als auch mit der Unbestimmtheit der Gesellschaft (v. Groddeck
2011, 2013). Die Funktion der Oszillation zwischen Routinisierung ethischer Rede
in Wirtschaftsunternehmen und Moralisierung als Anschluss an diese Routinisie-
rung haben genau die Funktion, Handlungsspielräume und Erwartungsstrukturen
in der Wirtschaft und ihrer Unternehmen zu verhandeln. Dies ist unvermeidbar,
da wirtschaftliche Praxis immer im Kontext anderer nicht-wirtschaftlicher Logiken
operieren muss. Hier bietet die Kommunikation von Werten und ethischer Rede
ein Medium an, diese zwangsläufig entstehende Mehrdeutigkeit so zu vermitteln,
dass unterschiedliche Perspektiven aufeinander bezogen werden können, ohne die
Multiperspektivität aufzulösen. Die Ausführung jener These soll in vier Schritten
erfolgen: In einem ersten Schritt wird in Rekurs auf die wissenschaftliche Verhand-
lung der Rolle von Werten in Gesellschaft und Organisation eine kommunika-
tionstheoretische Perspektive vorgeschlagen, die die skizzierten routinisierten und
moralisierten Kommunikationspraxen in Beziehung setzen kann, indem sie sie als
empirische Kommunikationspraxen vergleichbar macht (2.). In Folge werden dann
anhand empirischen Materials die routinisierten Orte der Wertekommunikation in
Wirtschaftsorganisationen typisiert vorgestellt und deren Funktion für die organi-
sationale Praxis herausgearbeitet (3.). Daran anschließend gilt es zu zeigen, wie auf
diese Formen in (moralischer Weise) Bezug genommen wird. Durch die Analyse
der Folgen kommen die Relationen der unterschiedlichen Formen und Funktionen
in den Blick (4.). Der Artikel endet mit einer Zusammenfassung der Ergebnisse,
die auf die Paradoxien der Verhandlung von Werten in Unternehmen eingeht (5.).
Die Besonderheit und auch die Schwierigkeit des Wertbegriffs liegen in seiner
Mehrdeutigkeit. Der Wertbegriff wird einerseits ökonomisch geformt, um bezeich-
nen zu können, dass die Volatilität von Preisen an eine unbeweglichere Sphäre
rückgebunden werden kann. Der Ökonom Adam Smith geht dabei von der Unter-
scheidung von Tausch- und Gebrauchswert aus. Für Smith ist der Tauschwert ein
schwankender Wert (Preis), während der Gebrauchswert der ‚tiefere‘ Wert ist, der
den Tauschwert letztlich determiniert. Während für die ökonomische Theorie die
Bestimmung des Gebrauchswerts nicht im Fokus ihrer Analyse steht, sondern bis
heute lediglich vorausgesetzt wird, ist für die sozialwissenschaftliche Forschung die
Frage nach der Wechselwirkung zwischen‚individuellen‘ Werten und Gesellschafts-
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 133
Values in this sense are the commitments of individual persons to pursue and support
certain directions or types of action for the collectivity as a system and hence deriva-
tively for their own roles in the collectivity. (Parsons 1960, S. 172)
Mit dem Bezug auf Rollen versucht Parsons zu zeigen, dass Werte als Strukturkom-
ponenten in sozialen Systemen wirken. Durch Sozialisation verinnerlichen Indivi-
duen Werte als Handlungsmaxime und gleichzeitig wirken Werte als institutionali-
sierte Strukturen in sozialen Systemen bindend (Parsons 1969). Diese soziologische
Perspektive dient dazu, erklären zu können, was Handeln leitet und wie kollektiv
wertgeleitetes Handeln Gesellschaft ermöglicht. Dem soziologischen Konzept der
Werte wird damit in Hinsicht auf soziale Systeme die Funktion der Orientierung und
der Integration zugeschrieben. Der Hinweis auf diese klassischen Funktionsbestim-
mungen ist notwendig, da exakt diese Funktionsbestimmungen als Motiv für die
Einführung von Werteprogrammen sowohl in der wissenschaftlichen Reflexion als
auch von Organisationen selbst angeführt werden. In Folge der theoretischen An-
nahme, dass Werte Handlungen anleiten, dass Akteure einer Gesellschaft ähnliche
Wertmuster besitzen (können) und dass diese Wertmuster durch Kollektivierung
zu gesellschaftlicher Integration führen, beschäftigen sich sowohl Unternehmen als
auch ihre Reflexionswissenschaft, die Betriebswirtschaftslehre, mit der Frage, wie
diese Logik für Unternehmen genutzt werden kann. Das Bezugsproblem ist hierbei
die Erfahrung, dass die Steuerung der Organisation und die Motivation ihrer Mit-
arbeiter in einem digitalisierten und globalisierten Umfeld erschwert werden. Statt
an direkten Kontrollmechanismen anzusetzen, kommt die Idee zum Tragen, durch
134 V. von Groddeck
Vgl. beispielhaft eher in Bezug auf Unternehmensethik: Auinger et al. 2005; Bohlander und
1
Büscher 2004; Kohlhof et al. 2001; Schüz 1999; Vogelsang und Burger 2004; Wieland 2008,
2001, 2004 und beispielhaft eher in Bezug auf Unternehmenskultur Collins und Porras 1994;
Kotter und Heskett 1992; Peters und Waterman 2006; Schmidt 2005; Warnecke 2000.
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 135
Es kann keine Rede davon sein, daß Werte in der Lage wären, Handlungen zu seligie-
ren. Dazu sind sie viel zu abstrakt und im übrigen aus der Sicht von Handlungssitua-
tionen stets in der Form des Wertekonfliktes gegeben. Ihre Funktion liegt allein darin,
in kommunikativen Situationen eine Orientierung des Handelns zu gewährleisten, die
von niemandem infrage gestellt wird. Werte sind also nichts anderes als eine hochmo-
bile Gesichtspunktmenge. (Luhmann 1997, S. 341)
Luhmann weist in diesem Zitat darauf hin, dass Werte zu abstrakt sind, um direkt
Handlungen zu beeinflussen. Doch noch entscheidender scheint der Hinweis auf
das Konfliktpotenzial von Werten. Werte können deshalb Handlungen nicht steu-
ern, weil es zu einem Wert immer auch einen gültigen Gegenwert gibt (Luhmann
1999, S. 65). Soll man sich nun in einer Entscheidungs- bzw. Handlungssituation
eher nach dem Wert der Freiheit oder der Gerechtigkeit richten? Werte sind Ge-
sichtspunkte, die man berücksichtigen kann, die aber nicht die Entscheidungssitu-
ation auflösen. In Bezug auf Organisationen und Werte wählt Luhmann den Weg
über die Kultur. Für ihn sind die Letztkomponenten von Organisationskulturen
Werte, die sich auf die Geschichte des Systems stützen (Luhmann 2000, S. 244).
Plausibel ist die explizite Benennung von Werten in der Organisation nur dann,
wenn Dissens antizipiert wird, das heißt, wenn man den Wert der Annahme oder
Ablehnung in der Kommunikation aussetzen will. Ansonsten funktioniert die
kommunikative Wirksamkeit von Kultur, und in ihrer Letztinstanz auch Werte-
kommunikation, nicht indem man davon ausgeht, dass Individuen in ihrer Mei-
nung übereinstimmen, sondern dadurch, dass dies so kommuniziert wird (Luh-
mann 2000, S. 413).
Der Ansatz Luhmanns gibt erste Hinweise darauf, wie Wertekommunikation im
Folgenden als Gegenstand gefasst wird. Dass Wertekommunikation dazu dient, Er-
wartungen an Erwartungen zu postulieren wird dabei eine Rolle spielen. Auch, dass
sich das Aushandeln dieser Erwartungserwartungen in den jeweiligen Kommuni-
kationssituationen vollzieht und Werte keine systemübergreifende Selektionskrite-
rien darstellen, wird im Weiteren berücksichtigt. Dennoch wird seine skeptische,
bisweilen polemische Diagnose gegenüber Werten – sie „gleichen nicht, wie einst
die Ideen, den Fixsternen, sondern eher Ballons, deren Hüllen man aufbewahrt,
um sie bei Gelegenheit aufzublasen, besonders bei Festlichkeiten“ (Luhmann 1997,
S. 341) – insoweit überwunden, als Werte als empirisches Phänomen ernst genom-
men werden. So wird zwar die theoretische Auffassung einer strikten Bindung von
Werten an eine Integrations- und Orientierungsfunktion fallen gelassen, aber die
Frage nach den Funktionen der zunehmenden Verwendung von Werten in organi-
sationalen Kontexten in den Mittelpunkt gerückt.
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 137
Analytische Herangehensweise
te, in diesen Kontexten Werte zu kommunizieren. Das ‚Warum‘ ist hier jedoch nicht
als kausales ‚Warum‘ zu verstehen. Es geht nicht darum, auf Motive zu schließen,
sondern zu analysieren, welche Funktion Wertekommunikation in diesen jewei-
ligen Kontexten hat (Luhmann 2005a, 2005b). Dies bedeutet, dass die Praxis der
Wertekommunikation als eine kontingente – das heißt weder notwendige noch un-
mögliche – Lösung für ein spezifisches Problem der Organisation begriffen wird.
Wenn es also im Folgenden um die Herausstellung von Funktionen geht, handelt
es sich um eine analytische Relationierung von Problemlösung und Problem. Jede
spezifische Lösung verursacht auch immer Folgen; auch diese sollen in der Analyse
benannt werden, indem auf die Beziehung zwischen einer zur Routine gewordenen
Wertekommunikation und moralisierenden Reaktionen auf diese Form der Kom-
munikation dezidiert eingegangen wird.
Die These, die sich aus der Analyse des Materials ergeben hat und die im Folgenden
ausgeführt werden soll, besteht darin, dass Wertekommunikation in Unternehmen
als ‚normale‘, routinisierte, d. h. zu erwartende Semantik dann zum Tragen kommt,
wenn Unbestimmtheiten zunehmen. Das Bezugsproblem von Wertekommunikati-
on in Organisationen wird somit als ein Problem der Unbestimmtheit konstruiert
(Müller und v. Groddeck 2013), das durch Werte sowohl adressiert als auch invisi-
bilisiert werden kann. Mittels der Wertesemantik können Sachverhalte bezeichnet
werden, die so komplex oder so unbestimmt sind, dass sie sich einer konkreten
Bezeichnung entziehen. Werte können diese Sachverhalte bezeichnen, da sie Sinn
nur sehr abstrakt einschränken. Das Bezugsproblem der Unbestimmtheit lässt sich
weiter differenzieren und korrespondiert dabei jeweils mit unterschiedlichen For-
men von Wertekommunikation. Unbestimmtheit lässt sich so auf gesellschaftlicher
Ebene, auf organisationaler Ebene und auf zeitlicher Ebene identifizieren.
Die erste Form, die im empirischen Material erkennbar wurde, zeichnet sich da-
durch aus, dass Werte als Medium in der Kommunikation genutzt werden, um
gleichzeitig unterschiedliche Systemreferenzen bedienen zu können. Diese Form
findet sich vor allem bei der Analyse der offiziellen Selbstbeschreibungen, d. h. in
allen Hochglanzbroschüren, die als öffentlich gelten können. Die grundlegende
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 139
Beobachtung dabei ist, dass sich in diesen Broschüren die Selbstbeschreibung des
Unternehmens vornehmlich über Werte vollzieht.
Wir wollen uns mit exzellenter Qualität und innovativen Services als führender
Netzwerk-Carrier behaupten und weiter wachsen. Dieses Wachstum birgt große
Chancen – für unsere Kunden, unsere Mitarbeiter und unsere Anteilseigner glei-
chermaßen, denn wir fühlen uns der Wertschaffung verpflichtet. Wir wollen weiter
Erfolgsgeschichte schreiben: als die attraktivste und profitabelste Luftverkehrsge-
sellschaft mit globalem Angebot! (Deutsche Lufthansa AG 2006, S. 1)2
Der Auszug aus dem Lufthansa-Geschäftsbericht 2006 stellt auf exzellente Qualität
und innovativen Service ab. Dies soll dazu führen, attraktiv und profitabel zu sein.
Diese Werte schränken Sinn ein, ohne sich jedoch konkret an einen Zweck zu bin-
den. Die Maxime ist im abstraktesten Sinne Wertschaffung.
Dieses Abstellen auf Wertschaffung3 als Ziel, Identität oder Zweck der Orga-
nisation lässt sich in nahezu allen Dokumenten beobachten, so formuliert BMW
auf dem Deckblatt der Broschüre Das Jahr 2006: „Verantwortung unternehmen.
Werte schaffen.“ (BMW AG 2006) Und die HypoVereinsbank veröffentlicht eine
Kundenbroschüre mit dem Titel Werte leben – Werte schaffen (Bayerische Hypo-
Vereinsbank AG 2007). In einer Unternehmensbroschüre der Allianz stellt sich das
Unternehmen wie folgt vor: „,Hoffentlich Allianz‘ – der Werbeslogan verdeutlicht,
wofür unser Unternehmen steht: Sicherheit und Verlässlichkeit.“ (Allianz Deutsch-
land AG 2007, S. 16)
Die Frage, die sich nun für die Interpretation solcher Sätze stellt, ist, welche
Funktion diese abstrakten wertbasierten Selbstbeschreibungen für Organisationen
erfüllen. Aus theoretischer Perspektive kann die allgemeine Funktion von Selbstbe-
schreibungen der Organisation in erster Linie darin gesehen werden, dass sie einen
Organisationszweck vorschlagen, der einerseits die Adaption an eine Außenwelt
sicherstellen soll und anderseits für die Organisation vorgibt, was als gemeinsamer
Nenner für die interne Koordination eine Rolle spielt oder spielen sollte. Selbstbe-
schreibungen kommunizieren somit Erwartungen in zwei Richtungen: Zum einen
wird artikuliert, was die Umwelt von der Organisation erwarten kann und diese Er-
wartungen müssen eben so artikuliert werden, dass sie auf Interesse in der Umwelt
stoßen: Die angebotenen Produkte sollen gekauft werden, Menschen sollen als Mit-
arbeiter angeworben werden usw. Zum anderen geht es auch darum festzulegen,
wie diese Leistungen in der Organisation hergestellt und koordiniert werden soll.
Die Hervorhebungen im empirischen Material gehen allesamt auf die Verfasserin zurück.
2
Warum scheint es nun besonders plausibel, den Zweck der Organisation an-
hand von Werten darzustellen? Der Grund dafür ist darin zu sehen, dass es für
Organisationen uneindeutig wird, was auf Interesse in der Umwelt trifft. Organi-
sationen beobachten, dass die Heterogenität der Erwartungen an sie zunimmt. So
scheint es eben für Unternehmen wie die BMW AG oder die Allianz AG nicht
mehr auszureichen, allein auf das Produkt – das Herstellen von Autos oder das
Anbieten von Versicherungsleistungen – abzustellen. Besonders deutlich wird dies
nochmals in einem Interviewausschnitt mit Dieter Zetsche, Vorstandsvorsitzender
der ehemaligen Daimler Chrysler AG:
360 GRAD: Muss sich ein Unternehmen wie DaimlerChrysler wirklich für soziale
und kulturelle Anliegen außerhalb der Firma engagieren? Oder sollte man sich nicht
ehrlicherweise auf das eigene sozial und ökologisch verantwortliche Wirtschaften
konzentrieren?
Zetsche: Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft. Sie schaffen Arbeitsplätze
und zahlen Steuern, das sind wesentliche Beiträge zur gesellschaftlichen Stabilität.
Aber auch darüber hinaus sollten wir uns engagieren, insbesondere in Feldern, die
uns thematisch naheliegen. Da wir höchsten Wert auf die Sicherheit unserer Autos
legen, ist es sinnvoll, uns auch über das Produkt hinaus für sicheres Fahren zu enga-
gieren, etwa indem wir für viele Tausend Menschen Trainings anbieten. Da geht es uns
um den höchsten Wert, das menschliche Leben. (DaimerChrysler AG 2007, S. 11)
Da unbestimmt ist, wer Leser dieses Interviews sind, bleibt Zetsche hier nichts an-
deres übrig, als darauf hinzuweisen, dass Unternehmen Teil der Gesellschaft sind.
Um keine relevante Umwelt auszuschließen und Anschlussmöglichkeiten so offen
wie möglich zu halten, stellt er das Ziel der Organisation so abstrakt wie möglich
dar: Es gehe nicht um die Produktion von Autos, sondern um den höchsten Wert,
das menschliche Leben.
Diese Kommunikationsform als eine Kommunikationsform, die gleichzeitig
unterschiedliche Systemreferenzen bedient, zeichnet sich also dadurch aus, dass
sie in der jeweiligen Situation offen lässt, wie, d. h. anhand welchen Logiken ange-
schlossen werden könnte. Das Offenlassen hat in diesen Gegenwarten damit auch
die Funktion, symmetrische Kommunikationskontexte zu etablieren, die potentiell
die Inklusion unterschiedlicher Positionen, Argumente und gesellschaftlicher Lo-
giken zulassen (Saake und Kunz 2006). Durch Wertekommunikation halten sich
Wirtschaftsorganisationen gesellschaftlich anschlussfähig, da sie sich so zur Ge-
sellschaft in Beziehung setzen können. Wertekommunikation ermöglicht Organi-
sationen, die sich vornehmlich asymmetrisch über Hierarchie strukturieren und
sich so von ihrer Umwelt abgrenzen, symmetrische Kommunikationsangebote an
ihre Umwelt zu formulieren. Werte sind damit ein Kommunikationsmedium, das
zwischen symmetrischen und asymmetrischen Formen des Organisierens vermit-
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 141
telt und gerade so zu problematischen Folgen führen kann, wenn die Gleichzeitig-
keit von symmetrischen und asymmetrischen Kommunikationen beobachtet wird.
Diese Folgen werden im vierten Kapitel diskutiert.
Geht man nun davon aus, dass eine Organisation gar nicht umhin kann, sich über
Werte selbst zu beschreiben, wenn unbestimmt ist, welche Erwartungen die Um-
welt an sie stellt, so ist das Gleiche auch in Bezug auf die Organisation selbst zu
beobachten: Eine Organisation trägt die Heterophonie (Åkerstrøm Andersen 2003)
auch immer in ihren eigenen Strukturen, d. h. es gibt keinen Ort der Organisation,
an dem es möglich wäre eine Identität zu beschreiben, die für alle Bereiche gilt: Die
Abteilungen, die im direkten Kundenkontakt stehen, sehen sich anders, als evtl. die
Abteilung für Investor Relations oder der Vorstandsbereich des Unternehmens, der
vor allem langfristige Ziele vor Augen hat (Weick 1995). Doch muss eine Organi-
sation, um bestandsfähig zu bleiben, immer eine minimale integrierende Koordi-
nationsvorstellung haben (Luhmann 1964, S. 108). An dieser Stelle hat die Kom-
munikation von Werten die Funktion, eine Identität der Organisation beschreiben
zu können, die sich nicht in den unterschiedlichen Identitätskonstruktionen der
einzelnen Abteilungen und Bereiche ,verheddert‘. Wertekommunikation hat die
Funktion, trotz der Unbestimmtheit der Organisation selbst eine Identität kom-
munizieren zu können. Das Bezugsproblem besteht weniger in der Offenhaltung
von oder in der Motivation zu bestimmten Anschlüssen bzw. der Kommunikation
symmetrischer Kommunikationsangebote als darin, die Organisation trotz ihrer
Ausdifferenzierung immer wieder an sich selbst anzupassen. Performativ vollzieht
sich diese Identitätsherstellung über die Unterscheidung unterschiedlicher Werte,
die im Kontext der Organisation stehen. Über einen Wertevergleich kann darge-
stellt werden, um was es in einer Organisation geht, was als typisch und wichtig
erachtet wird:
C: Also das ist eher… also der Arbeitsfokus ändert sich… laufend, was letztend-
lich… denke ich auch, an der Unternehmenskultur bei uns im Haus liegt und an unse-
rer Führung… das böse Schlagwort ist moving targets (lacht).
I: (lacht)
C:… was positiv und negativ ist, also sehr flexibel, aber eben starre klare Aufgaben,
die von A bis Z kontinuierlich abgearbeitet werden, kommen aber bei mir und bei
andern selten vor, mh, dadurch gibt es immer neue Arbeitszusammenhänge und es
wird eigentlich miteinander geredet, was einfach auch wichtig ist, damit man in sol-
chen Themen, die andern Aspekte, die andern Sichtweisen da mit einbezieht… weil
es ein sehr komplexes… komplexe Organisation ist, so nen Fonds.
142 V. von Groddeck
In diesem Interview wird über die Gegenüberstellung von flexiblen Strukturen und
starren klaren Aufgaben, die nur selten vorkommen deutlich, was das Spezifische
der zu beschreibenden Organisation ist. Das Besondere an dieser Form der Werte-
kommunikation verweist darauf, dass die Identität der Organisation gar nicht so
einfach darstellbar ist, da eine Organisation, die sich auf unterschiedliche Umwelt-
erwartungen einstellt, immer auch multiple Identitäten ausbildet. Eine Identität zu
beschreiben gelingt nur, indem man den Weg über einen Vergleichshorizont wählt,
der die Organisation im Vergleich zu diesem Horizont mit sich selbst ähnlicher
werden lässt. Konkret heißt das, dass man nur relativ abstrakt Werte vergleicht. Im
obigen Interviewausschnitt ist dies zu beobachten, indem die Flexibilität des eige-
nen Unternehmens mit einer möglichen anderen Organisationsstruktur verglichen
wird, in denen die Aufgaben klar definiert sind.
Die Funktion dieser Form von Wertekommunikation liegt also darin, etwas
Unbestimmtes, die Identität des Unternehmens, bezeichnen zu können. Anhand
abstrakter Werte – von denen jeder so lange weiß, was gemeint ist, bis man sie sich
genauer anschaut – kann ein differenziertes Unternehmen mit unterschiedlichen
Identitätskonstruktionen als identische Einheit bezeichnet werden. Diese Form der
Kommunikation wird in Unternehmen nur punktuell wichtig, in vielen Praxen ist
der Hinweis auf Integration gar nicht notwendig – auf sie verzichten kann eine
Organisation jedoch nicht. Zusammenfassend lässt sich also argumentieren, dass
Werte ein Kommunikationsmedium bereitstellen, das es situativ ermöglicht, zwi-
schen expandierender Anpassung und integrierender Kontraktion zu oszillieren,
ohne sich zu sehr in Widersprüchlichkeiten verstricken zu müssen.
Bisher wurde argumentiert, dass die Verwendung von Werten auf Unbestimmthei-
ten reagiert, die dadurch entstehen, dass man sich über Dinge und Fakten in der
Umwelt und in der Organisation selbst unsicher ist. In der folgenden Form von
Wertekommunikation geht es um eine weitere Facette von Unbestimmtheit: Um
Unbestimmtheit, die mit der Unsicherheit der Zukunft in Verbindung steht. Für
Organisationen wird die Zukunft deshalb zum Problem, weil sie in Entscheidungs-
situationen permanent Zukünfte festlegen müssen, von denen sie nicht wissen
können, ob sie so eintreten, wie sie in diesen Entscheidungen festgelegt wurden.
Sowohl Vergangenheit als auch Zukunft sind immer nur als Horizonte in der Ge-
genwart zu haben, beide müssen aber hinreichend bestimmt sein, um überhaupt
entscheiden zu können (Luhmann 2000, S. 156). Die Darstellung der Vergangen-
heit ist relativ einfach über Fakten zu haben. Für die Darstellung der Zukunft, die
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 143
eben bestimmt werden muss, aber dabei unbestimmt bleibt, gelingt die Darstellung
über Wertekommunikation. Zu sehen ist dies sehr anschaulich im folgenden Aus-
zug aus dem Jahresbericht 2006 der Deutschen Lufthansa AG.
Erfolge
• Wir sind 2006 profitabel gewachsen. Umsatz und Ergebnis sind gestiegen – vor
allem im Kerngeschäftsfeld Passagierbeförderung.
• Wir haben unsere Kapitalkosten verdient und den Unternehmenswert gesteigert.
• Wir haben wesentliche Entscheidungen für das Wachstum im Kerngeschäft getrof-
fen. SWISS ist ein gutes Beispiel dafür, dass wir neue Partner erfolgreich in den
Konzern integrieren können.
• Unser Finanzprofil wurde weiter gestärkt. Unsere Eigenkapitalquote ist auf 25,2
Prozent gestiegen, das Rating wurde verbessert.
Ziele
1. Profitabel wachsen und Werte schaffen
Wir wollen unseren Weg des profitablen Wachstums kontinuierlich fortsetzen
und dabei Werte schaffen – für die Lufthansa, ihre Anteilseigner, Kunden und
Mitarbeiter
2. Stärkung des Kerngeschäfts
Wir wollen unser Kerngeschäft, die Passagierbeförderung, weiter stärken und
dynamisch ausbauen. Mit Fokus auf die jeweiligen Kernkompetenzen wollen wir
Wachstum gezielt auch in den übrigen Geschäftsfeldern entwickeln.
3. Finanziellen Spielraum sichern
Wir wollen unsere finanzielle Stärke festigen, um unser Wachstum zu sichern und
unsere strategischen Handlungsoptionen zu erhalten. (Deutsche Lufthansa AG
2006, S. 18)
Die Erfolge der Vergangenheit können als Fakten angeführt werden. So stieg bei-
spielsweise die Eigenkapitalquote auf 25,2 %. Die Zukunft ist unsicher und kann
daher nur als Selektion einer favorisierten Zukunft dargestellt werden. Werte eig-
nen sich hier um die gewünschte Zukunft überhaupt darstellen zu können, ohne
sich in einem öffentlichen Jahresbericht auf ‚zu Bestimmtes‘ festlegen zu müssen.
Es geht darum, in Zukunft Werte zu schaffen, das Kerngeschäft dynamisch auszu-
bauen und Handlungsspielräume zu sichern. Die Zukunft einer Organisation kann
zumindest in einem öffentlichen Dokument deshalb so gut über Werte dargestellt
werden, da Werte zwar Sinn einschränken, dies aber in so abstrakter Weise tun,
dass das Eintreten einer anderen Zukunft die Darstellung der Ziele bzw. die Dar-
stellung der Erfolge im nächsten Jahr kaum tangiert.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Wertekommunikation sich typisiert an
den Orten in Organisationen zeigt, die durch Unbestimmtheit geprägt sind. Dies
resultiert aus der Komplexität der Umwelt und der eigenen Organisation oder
aus der Unsicherheit, die sich daraus ergibt, dass eine unbekannte Zukunft in der
Gegenwart so festgelegt werden muss, dass sich Entscheidungen an dieser Festle-
144 V. von Groddeck
gung orientieren können. Diese Orte der Wertekommunikation haben sich in die
Praxis der Operationsweisen von Unternehmen als normale, routinisierte Kom-
munikationsstrukturen eingeschrieben. Wertekommunikation lässt sich zwar mit
Formen ökonomischer oder rechtlicher Redeweisen in Unternehmen kontrastie-
ren, die auf andere Bezugsprobleme reagieren. Was sich jedoch nicht beobachten
lässt, sind Organisationen, die gänzlich auf die Kommunikationsform der Werte-
kommunikation verzichten. Dies lässt darauf schließen, dass Wirtschaftsorganisa-
tionen sich eine Welt konstruieren, die sie selbst für so hinreichend komplex und
multiperspektivisch halten, dass Verfahren der Komplexitätsreduktion, wie bei-
spielsweise das Errechnen von Kennzahlen, durch anderen Formen der Kontin-
genzeinschränkung ergänzt werden, die Unbestimmtheiten zwar adressieren aber
nicht auflösen. Wertekommunikation kann als eine solche Form der Kontingenz-
einschränkung verstanden werden.
Jeder ist ja Arbeitnehmer und weiß deswegen, wie gefälligst fair mit Menschen umzu-
gehen ist, weil jeder ist ja ein Mensch und weiß wie man möchte, dass mit ihm umge-
gangen wird.
Äh, die Menschen haben einen Anspruch darauf, dass sie alles beim XXX abladen
dürfen und dass sie auf absolute Vertraulichkeit dabei setzen können.
Diese Zitate stellen heraus, dass Mitarbeiter als Menschen behandelt werden möch-
ten und das heißt im Falle dieser Zitate: fair und vertrauensvoll. Das Herausstellen
dieser Erwartungen verweist darauf, dass diese Erwartungen in einer formalen Or-
ganisation nicht erfüllt werden, da es gerade darum geht, nicht in jeder Situation
auszuhandeln, was von Mitarbeitern unter welchen Bedingungen erwartet werden
kann, sondern dass Strukturen unabhängig von einzelnen Menschen verändert wer-
den können (Luhmann 1964, S. 331).Genau hier liegt die Konfliktlinie zwischen
Organisation und Mitarbeitern, die so über Werte thematisiert und beobachtet
werden kann. Einerseits werden über Werte Erwartungen postuliert, die für jeden
gelten sollen, anderseits wird so der Fokus auf asymmetrische Bedingungen im
Organisationsalltag gerichtet. Die Wertesemantik führt dazu, dass die Organisa-
tion mit weiteren, nicht ökonomischen Systemrationalitäten konfrontiert wird, die
gleiche Gültigkeit beanspruchen. Dass es in den Interviews immer wieder um das
Menschen sein geht, verweist darauf, dass es sich bei den Mitarbeitern um Perso-
146 V. von Groddeck
nen handelt, die in vielen sozialen Systemen integriert sind und damit eine poly-
kontexturale Kommunikationsadresse bilden. Für die Personen selbst heißt dies,
dass sie auch eine polykontexturale Identität ausbilden, je nachdem in welchem
System sie gerade inkludiert sind (Nassehi 2004). So spricht und erfährt sich eine
Person als Familienvater anders, als wenn sie in einer Bank Kunden berät oder im
Fußballverein die Kasse verwaltet. Der Verweis auf den Menschen kann daher so
gedeutet werden, dass es für diese polykontexturalen Identitäten darum geht, über
diese Semantik persönliche Integration herzustellen. Diese Herstellung der persön-
lichen Integration durch das Darstellen eines plausiblen Verhältnisses zwischen
der Rolle als Organisationsmitglied und anderen Rollen im Leben ist nicht zuletzt
ein besonderes Problem der Interviewsituation, da hier diese verschiedenen Rollen
aufeinander bezogen werden müssen. Doch gerade anhand der kommunikativen
Strategien in den Interviewtexten kann beobachtet werden, wie Individualität als
polykontexturale Identität in einer Gesellschaft der Gegenwarten situationsabhän-
gig hergestellt wird (v. Groddeck und Siri 2010).
Werte haben – wie sich in diesen Textausschnitten zeigt – die Funktion inne,
Erwartungen an gemeinsames Zusammenarbeiten in Organisationen zu artikulie-
ren. Über Wertekommunikation kann dargestellt werden, was Ego als Grundlage
für eine Arbeitsbeziehung mit Alter annimmt. Werte sind somit ein Medium der
Sozialdimension. Insbesondere scheinen über Wertekommunikation genau die Er-
wartungen transportiert zu werden, die zwar zum Gelingen der organisationalen
Autopoiesis vonnöten sind, aber nicht in formalisierten Strukturen festgeschrieben
werden können: nicht formalisierte Verhaltensweisen (Luhmann 1964).
Bisher wurde argumentiert, dass die Leistung von Werten einerseits darin liegt,
Unbestimmtheiten bezeichnen zu können und, dass somit eine Kommunikations-
form gefunden wurde, die es ermöglicht an Unbestimmtheit als Unbestimmtheit
anschließen zu können. Mitarbeiter nutzen diese Semantik anderseits dazu, ihre
Erwartungen an eine gegenseitige Inanspruchnahme formulieren zu können. Dass
Werte sich für diese unterschiedlichen Zugriffe eignen, liegt daran, dass sie als ab-
strakte Semantiken relativ wenig Sinn einschränken. Diese Unbestimmtheit der
Werte selbst führt dazu, dass ihr Sinn in konkreten Praxen ausgehandelt wird und
konkrete Anschlüsse nicht planbar bzw. nur schwer zu antizipieren sind. Der fol-
gende Interviewauszug illustriert diesen Sachverhalt.
T: Das ist genau das Gleiche, man versucht schon seit Längerem, wie jedes andere
Unternehmen oder wie viele auch ein gewisses Branding zu machen. Also ‚it’s a sony‘
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 147
oder Mediamarkt mit ‚saugeil‘ und so ein Zeugs halt. Und wir haben da den Spruch
‚XXX‘, den finde ich total doof. Bezieht sich eigentlich auf […] Ich weiß eigentlich
gar nicht, worauf, also auf XXX kann man das natürlich beziehen, was es mit dem
Kunden zu tun hat, weiß ich nicht. Das ist einfach Blödsinn, ich halte eigentlich von
diesen ganzen Unternehmenswerten nichts. Also die so nichts aussagend sind, nicht
viel.
I: Davon merkt man dann intern auch nichts?
T: Doch, du liest in jeder Mitarbeiterzeitung darüber, bei jedem Kick-off, oder bei
jeder Veranstaltung, wo halt einer der Führungskräfte spricht, wird immer wieder
darauf angespielt und ehm, ehm, und ich weiß es nicht…
I: Also es kommt im Alltag schon vor?
T: Ja, klar, du wirst von der Geschäftsleitung mit Werbegeschenken überschüttet. Wo
dann halt irgendwo wieder was zu dem Thema passt. Also vor einem halben Jahr
haben wir so eine Kugel bekommen, ich weiß nicht, wie die heißt, wenn man die so
rumdreht, dann…
I: Schneekugel?
T: Genau, Schneekugel, wegen irgend nem Incentive und dann stehen dann die Unter-
nehmenswerte darauf und du kriegst T-Shirts, wo das Zeug draufsteht… und alle
lachen drüber, unsere Besprechungsräume sind sogar benannt nach diesen Dingern,
also wir gehen heute nach [nennt Unternehmenswert] oder das ist halt.
I: Und Dein Team schmunzelt eher drüber?
T: Ja, ja… Also klar, da ist schon ein Hintergrund da und ich versteh auch die Werte
an sich, aber ehm, Mitarbeiter, die neu ins Unternehmen kommen, werden auch in
einem Zweitagesseminar auf diese Werte hin geschult. Total verrückt! Aber des sind
halt Werte, die aus meiner Sicht, so eine Selbstverständlichkeit haben. Außerdem
[nennt Unternehmenswert], was ist das denn für ein Wert? [zögernd, mit Hand-
bewegung] Klar das ist ein Ziel, aber das ist doch kein Unternehmenswert. [nennt
Unternehmenswert] ist auch für jeden Mitarbeiter selbstverständlich.
Hier wird eine Diskrepanz zwischen der Wahrnehmung, dass formalisierte Werte
ein Thema in der Organisation sind und der Bedeutung, die diese Werte in konkre-
ten Situationen haben sollen, identifiziert. Der Verweis auf bedruckte T-Shirts und
Schneekugeln, die Umbenennung von Besprechungsräumen stellt auf der einen Seite
heraus, dass wahrgenommen wird, dass formalisierte Werte in der Organisation
Relevanz besitzen. Auf der anderen Seite bleibt unklar, was sich durch die Werte
ändern soll, da sie als selbstverständlich beobachtet werden. Der Mitarbeiter pro-
blematisiert die Bedeutung formalisierter Werteprogramme und artikuliert impli-
zit die Erwartung, dass diese Form der Kommunikation eine konkrete Bedeutung
haben sollte. Wertekommunikationen können somit zu Sinnverschiebungen in der
Organisation und in ihrer Umwelt führen, die in ihren Wirkungen deutlich kom-
plexer und diffiziler sind, als die Motivbeschreibung des formalen Wertemanage-
ments in Aussicht stellt; die Kommunikation von formalisierten Werten führt nicht
zwangsläufig zur Übernahme dieser Werte von Seiten der Mitarbeiter. Wertekom-
munikation ist somit in Organisationen eine riskante Kommunikation (Luhmann
148 V. von Groddeck
Unternehmen oft Bedingungen der Achtung und Missachtung – vor allem durch
Massenmedien, die diese Bedingungen gerade nicht symmetrisch kommunizieren,
da wirtschaftsmoralische Aspekte sich eben nur für wirtschaftliche Perspektiven
ergeben und nicht für massenmediale. Diese Unterscheidung stellt gerade darauf
ab, dass in der Gesellschaft Moralisierungen beobachtet werden können, die nicht
zu Inklusion oder sozialer Bindung führen, sondern viel eher auf Differenzen ver-
weisen. Nassehi hebt bei Moralisierung weniger auf die Funktion der Inklusion als
darauf ab, dass Moral Themen gesellschaftlich kommunizierbar macht. Dies führt
jedoch nicht dazu, Bewertungen so zu symmetrisieren, dass gegenseitige Reziprozi-
tät entsteht (Nassehi 2003, S. 274).
Bindet man diese theoretischen Ausführungen an den empirischen Fall for-
malisierter Unternehmenswerte, zeigt sich, dass gerade die formalisierten Werte
als Kondensator für verkürzende, massenmediale Moralisierung genutzt werden.
Unternehmenswerte werden als Bedingungen dafür gelesen, was eine Organisation
selbst als achtend bzw. missachtend bewertet. Die Umwelt – die Massenmedien,
aber auch Mitarbeiter und Kunden – schließen moralisch an diese Kommunikation
an. Als illustrierendes Beispiel kann hierfür die massenmediale Fassung der Dis-
kussion um die Schließung des Produktionsstandortes von Nokia in Bochum im
Jahre 2008 herangezogen werden. Über mehrere Tage wurde auf der Spiegel-On-
line Seite das Photo einer weinenden Demonstrantin gezeigt. Die Demonstrantin
hielt ein Plakat, auf dem der Unternehmenswert von Nokia „Mitarbeiter sind unser
wichtigstes Kapital“ der Realität gegenüber stellt wird: „Gewinnmaximierung“
(Spiegel Online am 21.1.08). Moralisierung findet hier insofern statt, als die Aus-
wirkung eines relativ komplexen Zusammenhangs, der Schließung eines Standorts,
über die Gegenüberstellung der Unternehmenswerte mit der ‚Realität der Gewinn-
maximierung‘ verkürzend dargestellt wird. Die Entscheidung von Nokia wird hier
in keiner Weise beurteilt, vielmehr geht es darum, an diesem Beispiel zu zeigen, in-
wiefern sich formalisierte Unternehmenswerte dazu eignen, ökonomische Themen
oder Entscheidungen von Unternehmen zu moralisieren.
Für Unternehmen hat Moralisierung vor allem insofern Folgen, als durch die
Kommunikation formalisierter Werte moralische und ökonomische Beschrei-
bungen als nicht zu vereinbarende Gegensätze stilisiert werden. Diesem Muster
können sich selbst für die Wertekommunikation verantwortliche Mitarbeiter nur
schwer entziehen:
Die Förderung bestimmter Projekte wird moralisch nicht geachtet, da das betreffen-
de Unternehmen das Verteilen des Geldes hochprofessionell gestaltet und nicht, wie
implizit mitschwingt, nach an Gemeinwohl orientierten Kriterien. Diese Beschrei-
bung zeigt die widersprüchlichen Erwartungen, denen sich Wirtschaftsorganisa-
tionen ausgesetzt sehen. Einerseits wird von ihnen rationales Wirtschaften erwar-
tet, anderseits sollen sie diesen Kriterien nicht folgen, wenn es um die Förderung
nicht wirtschaftlicher, sondern allgemein gesellschaftlicher Projekte geht.
Wissenschaftlich wird auf diese widersprüchlichen Erwartungen an Unterneh-
men und ihre Manager mit der Ausdifferenzierung bestimmter Wirtschaftsethiken
reagiert. Hier können vor allem zwei Stränge beobachtet werden. Einerseits wird
das Befolgen einer wirtschaftlichen Logik verteidigt und die daraus entstehenden
gesellschaftlichen Probleme werden in die Gestaltung einer Rahmenordnung ver-
lagert (Homann 1993; Homann und Lütge 2005). Anderseits wird gefordert, dass
sich Unternehmen ihren moralischen Erwartungen stellen müssen und sich gerade
nicht auf ihre wirtschaftliche Logik zurückziehen dürfen (Neuberger 2006). Krohn
beschreibt, dass die Funktionssysteme auch selbst institutionelle Moralvorstellun-
gen ausbilden, um damit funktionsspezifisches Handeln vor universellen Normen
zu schützen:
Die immanente Ethik des Wirtschaftssystems besagt, dass nutzen- und gewinn-
orientiertes Handeln die Wohlfahrt einer Gesamtgesellschaft verbessert. Wissen-
schaftlich wurde diese Logik von den schottischen Moralphilosophen postuliert
(z. B. Smith 2003), aber auch zeitgenössische wissenschaftliche Beiträge verteidigen
Unternehmen gegen moralische Erwartungen (Drucker 1989; Friedman 1990). Die
nach Krohn in den Funktionssystemen selbst ausdifferenzierten Ethiken können
auch empirisch beobachtet werden. So argumentiert die BMW AG:
Unternehmen wie die BMW Group agieren heute in einem sehr komplexen Umfeld
– und ihr Erfolg hängt von einer Vielzahl von Faktoren ab. Einige kann das Unterneh-
men selbst bestimmen. (…) Auf andere Faktoren aber – die für den Erfolg des Unter-
nehmens nicht minder wichtig sind – hat es keinen direkten Einfluss. Hier geht es
vor allem um gesellschaftliche Entwicklungen und Herausforderungen, die langfristig
‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 151
Dieser Ausschnitt zeigt, wie die BMW AG den unterschiedlichen Erwartungen be-
gegnen möchte. Sie orientiert sich an Gewinnmaximierung, aber um langfristig die
Bedingungen ihres Wachstums zu sichern, muss sie auch Rahmenbedingungen in
der Gesellschaft gestalten. Genau in dieser Selbstbeschreibung kann die Beobach-
tung Krohns ausgemacht werden. Die wirtschaftsethische Haltung hat die Funkti-
on, das Unternehmen vor moralischen Übergriffen anderer (Funktions-)Logiken
zu schützen.
Jedoch kann der Rückzug auf diese ethischen Argumente die Organisation nicht
davor bewahren, in moralische Kommunikation inkludiert zu werden. Eine Wirt-
schaftsorganisation kann nicht mehr ausschließlich einer Funktionslogik folgen.
Als polyphone Organisation (Åkerstrøm Andersen 2003) wird eine Organisation
immer der Gefahr ausgesetzt sein, sich für die Verfolgung widersprüchlicher Lo-
giken verteidigen zu müssen. Entscheidet sich eine Organisation zur Ausdifferen-
zierung von Strukturen, die in Zusammenhang mit formalisierten Werten stehen,
wandelt sie diese Gefahr in ein Risiko um, dessen Folgen sie sich selbst zurechnen
muss, wobei sie aber so auch versuchen kann, entstehende Probleme selbst zu lösen.
Doch moralische Verkürzungen müssen aus Sicht der Organisation nicht unbe-
dingt dysfunktionale Folgen zeitigen. Produkte werden beispielsweise auch gerade
deshalb gekauft, weil sich Unternehmen und ihre Produkte moralisieren lassen.
Die Organisation kann also selbst moralische Verkürzungen in Anspruch nehmen,
um den Absatz ihres Produktes zu erhöhen. Die moralische Etikettierung eines
Produkts oder einer Organisation führt dazu, Produktvergleiche abzukürzen, da
nicht die Produkteigenschaften selbst zum Kauf animieren, sondern der Ausweis,
dass man ein gutes Produkt eines guten Unternehmens kaufen kann (Priddat 2006).
152 V. von Groddeck
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‚Unternehmen sind nun mal Teil der Gesellschaft‘ … 155
Julian Müller
Aus soziologischer Sicht lässt sich die moderne Gesellschaft nicht als eine mora-
lisch integrierte Einheit beschreiben. Eine Soziologie, die heute eine neue Moral
(Durkheim) als soziales Regulativ beschwören wollte, müsste sich wohl den Vor-
wurf der Naivität gefallen lassen. Gleichzeitig kennzeichnet es die moderne Gesell-
schaft aber, Probleme zunehmend im Modus des Ethischen zu verhandeln und im-
mer mehr Fragen öffentlichen Interesses zu ethisieren. Und so konnte die Ethik als
Reflexionstheorie der Moral in jüngster Zeit zum Exportschlager philosophischer
Fakultäten avancieren; von der Medizin- und Bio-Ethik über die Rechts-, Wissen-
schafts- und Wirtschafts-Ethik bis zur Medien-Ethik, die Anzahl an so genannten
Bindestrich-Ethiken wächst unaufhaltsam und mit ihr der institutionelle und auch
öffentlich-mediale Erfolg. Denn zweifellos hat die Inanspruchnahme des Ethischen
in den letzten Jahren alle größeren öffentlich geführten Debatten mitbestimmt –
ganz gleich, ob es um ökologische, politische, ökonomische oder wissenschaftlich-
technologische Fragen ging, es handelte sich gleichzeitig immer auch um ethische
Fragen. Dieser unübersehbare Erfolg des Ethischen scheint dem von der Soziologie
behaupteten Bedeutungsverlust der Moral auf den ersten Blick zu widersprechen.
Dass nun aber zwischen der Unmöglichkeit einer moralischen Programmierung
der Gesellschaft auf der einen Seite und der unübersehbaren Proliferation ethischer
und ethisierbarer Problemkonstellationen auf der anderen Seite kein Widerspruch,
sondern vielmehr ein Zusammenhang besteht, lässt sich deutlich machen, wenn
man auf historische Verschiebungen der Moral hinweist. Diese Verschiebungen be-
treffen den Geltungsanspruch und die Reichweite von Moral und werden beson-
ders deutlich, wenn man zudem noch die Entstehung eines sehr modernen Phä-
nomens zu Beginn des 17. Jahrhunderts im Blick hat – die Rede ist von der Mode.
J. Müller ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
E-Mail: julian.mueller@soziologie.uni-muenchen.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik – Normen – Werte, Studien zu einer 157
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_7,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
158 J. Müller
Von der Mode ist schon immer eine große Faszination auf die Soziologie ausge-
gangen. Es ist kein Zufall, dass sie bei verschiedenen Klassikern der ersten Sozio-
logengeneration an ganz zentralen Stellen als Thema auftaucht – das gilt für Émile
Durkheim ebenso wie für Gabriel Tarde, für Georg Simmel oder Max Weber. Die
Mode war für das noch junge Fach von Beginn an ein Phänomen mit besonderem
Wert. Man muss sie als eine soziologische Figur beschreiben, die in besonderem
Maße dazu diente, den Gegenstand der Soziologie zu konturieren. Das mag si-
cherlich auch daran gelegen haben, dass die Mode eine der Grundunterscheidun-
gen der Soziologie – Individuum/Gesellschaft – so plastisch und für jedermann
nachvollziehbar problematisiert. Wenn etwa Durkheim den Zwangscharakter des
Sozialen betont, dann kommt er auf die Mode zu sprechen, ist sie für ihn doch
gerade deshalb ein so geeignetes Beispiel für ein „soziales Phänomen“, weil ihre
„äußerlich verbindliche Macht“ (1984, S. 111) tatsächlich sichtbar wird. Und eben-
so hat die Mode in Tardes Nachahmungstheorie weit mehr als nur exemplarischen
Charakter. Für ihn ist es „der besondere Fortschritt der Mode aller Art“, der dazu
tendiert, „in Europa den selben Typus Mensch hervorzubringen, der aus mehreren
hundert Millionen Exemplaren besteht“ (Tarde 2003, S. 39 f.). Was die deutsche
Soziologie betrifft, so wird man sicherlich sofort an Georg Simmels berühmten
Essay Philosophie der Mode denken, aber selbst Max Weber greift in seinen Sozio-
logischen Grundbegriffen auf die Mode als Erklärungsbeispiel zurück und macht
die Frage nach der Mode im ersten Paragraphen geradezu zum Lackmustest für
soziales Handeln1.
Wenn die Mode hier als soziologische Figur bezeichnet wird, dann soll das als
Hinweis darauf gelesen werden, dass sie immer weit mehr war als bloß ein sozio-
logischer Untersuchungsgegenstand. Vielmehr schien sie geradezu eine Parabel
auf die moderne Gesellschaft, ja geradezu ein Symptom für die Moderne als Epo-
che zu sein. Mode und Moderne gehören irgendwie zusammen, und so konnte
man von einer „Verwandtschaft der Moderne mit der Mode“ (Habermas 1985,
S. 18) schon so oft lesen, dass es sich erst recht lohnt, erneut danach zu fragen,
worin diese Verwandtschaft eigentlich begründet liegt. Um es vorwegzunehmen,
diese Verwandtschaft ist weit mehr als nur eine begriffliche. Wie kaum ein ande-
res Phänomen liefert die Mode einen Einblick in die Gemengelage, aus der die
1
Weber stellt die Frage, ob die Nachahmung von Moden „lediglich reaktiv“ sei oder eine
„sinnhafte Orientierung des eigenen an dem fremden Handeln“ (1976, S. 11 f.) vorliege? Sei-
ne Antwort darauf ist eindeutig: Modische Nachahmung ist soziales Handeln, denn „wird
fremdes Handeln nachgeahmt, weil es ‚Mode‘ ist, […] so liegt die Sinnbezogenheit – ent-
weder: auf das Verhalten der Nachgeahmten, oder: Dritter, oder: beider – vor“ (ebd., S. 12).
Modische Moderne, moderne Moral 159
moderne Gesellschaft hervorgeht. Die Bedeutung der Mode ist daher aus sozio-
logischer Sicht kaum zu überschätzen. Wer sie als lediglich oberflächliches und
ephemeres Phänomen abtut, übersieht leicht, welche Auswirkungen der Einbruch
der Mode auf die gesellschaftliche Ordnung an der Schwelle der Frühmoderne
zur Moderne hatte. Ich möchte in diesem Beitrag den Versuch unternehmen, das
an einer Kontrastierung von Mode und Moral anzudeuten. Denn obwohl Mode
und Moral scheinbar nur wenig miteinander zu tun haben, zeigt sich an der Ent-
stehungsgeschichte der Mode, welche Provokation von ihr auf die moralische
Ordnung der Gesellschaft ausgegangen ist. Die Erfolgsgeschichte der Mode lässt
sich parallel erzählen zu einer Krisengeschichte der Moral, so die These dieses Bei-
trags. Beide Geschichten stehen am frühen Beginn dessen, was wir als ‚Moderne‘
beschreiben.
Folgt man Niklas Luhmann, so lässt sich die Moderne nicht durch ein historisches
Ereignis, etwa die Französische Revolution, oder eine technische Erfindung, etwa
den Buchdruck, charakterisieren, sondern allgemeiner durch die Differenzierungs-
form der Gesellschaft. Für ihn zeichnet sich die moderne Gesellschaft in erster Li-
nie durch ein Primat funktionaler Differenzierung aus. Sind vormoderne Gesell-
schaften noch durch Stratifizierung, also die Möglichkeit einer Hierarchiebildung
innerhalb der Gesellschaft, gekennzeichnet, lässt sich die Einteilung in oben/unten
nicht ohne weiteres auf die moderne Gesellschaft übertragen; was sich vielmehr
herausbildet, ist das Nebeneinander unterschiedlicher und voneinander unabhän-
giger Funktionssysteme (vgl. Luhmann 1997, S. 743 ff.).
Wer das für eine abstrakte und rein analytische Beschreibung hält, übersieht
leicht die empirischen Problembezüge, die Luhmann dabei im Blick hat. In der
Soziologie kursiert bisweilen ein regelrechtes Zerrbild der luhmannschen Differen-
zierungstheorie, als bestünde die Gesellschaft aus verschiedenen Abteilungen mit
je verschiedenen Zuständigkeiten, und während die Politik Steuerungsprobleme
löst, wird die Gesellschaft von der Wissenschaft mit immer neuem Wissen ver-
sorgt, die Wirtschaft kümmert sich um Knappheitsprobleme und die Kunst sorgt
für die Einsicht, dass die Welt nicht nur aus Knappheitsproblemen besteht – und
so weiter. Am Ende sammelt man diese verschiedenen Teile wieder ein und nennt
das Ganze ‚funktional differenzierte Gesellschaft‘. Und genau das meint die luh-
mannsche Differenzierungstheorie nicht. Sie stellt sich die Gesellschaft nicht als
„Setzkasten“ (Nassehi 2003, S. 159) vor, vielmehr geht es ihr um empirisch-histo-
160 J. Müller
rische Problembezüge. Luhmann nimmt hier – das zeigen gerade seine Studien zu
Gesellschaftsstruktur und Semantik – Erfahrungen ernst, die von der Gesellschaft
selbst registriert und problematisiert wurden. Wenn etwa der Romanist Gerhart
Schröder an den Schriften Baltasar Graciáns im 17. Jahrhundert die unübersehba-
re Entwicklung einer „allmählichen theoretischen und praktischen Dissoziierung
von ‚pulchrum‘, ‚verum‘ und ‚bonum‘“ (1985, S. 112) abliest, dann beschreibt er
mit ganz anderen Begriffen doch etwas Ähnliches wie Luhmann auch. Die mo-
derne Gesellschaft muss man sich als eine fragmentierte Gesellschaft vorstellen, in
der das Schöne, das Wahre und das Gute begonnen haben, sich allmählich von-
einander wegzubewegen, was allerdings auch heißt, dass diese Entwicklungen kei-
neswegs schlagartig waren, dass es sehr wohl Übergänge, Abstufungen, Unterbre-
chungen und Rückwärtsbewegungen gab.
Ein weiteres Dokument, an dem sich dieser unaufhaltsame Differenzierungs-
und Diversifizierungsprozess veranschaulichen lässt, sind die Pensées von Blaise
Pascal. Aus heutiger Sicht erstaunt vor allem, wie scharf Pascal bereits Mitte des 17.
Jahrhunderts das Auftreten unterschiedlicher Perspektiven in der Gesellschaft be-
obachtet und die Unversöhnlichkeit dieser unterschiedlichen Perspektiven betont
hat2: „Man teilt verschiedenen Verdiensten verschiedene Pflichten zu, die Pflicht
zur Liebe der Anmut, die Pflicht zur Furcht der Gewalt, die Pflicht zur Glaubwür-
digkeit der Wissenschaft. Man muss jene Pflichten erfüllen, man ist im Unrecht,
wenn man sie verweigert, und ebenso im Unrecht, wenn man nach anderen ver-
langt. Daher sind diese Reden falsch und tyrannisch: Ich bin schön, also muss man
mich fürchten, ich bin stark, also muss man mich lieben, ich bin …“ (Pascal 1987,
S. 58); Pascals Diagnose der Inkonvertibilität von Pflichten ist vielleicht eine der
eindrucksvollsten Diagnosen der beginnenden Differenzierung und Autonomi-
sierung unterschiedlicher Funktionslogiken innerhalb der Gesellschaft. Politische
Macht lässt sich nicht einfach in wissenschaftliche Wahrheit übersetzen oder gar
durch Anmut begründen; und umgekehrt. Was heute unter den Schlagworten
‚Multiperspektivität‘ oder ‚Polykontexturalität‘ diskutiert wird, findet bei Pascal
bereits eine frühe Ausformulierung.
In der Tat muss man sich die moderne Gesellschaft als eine radikal multipers-
pektivische und polykontexturale Gesellschaft vorstellen, als eine Gesellschaft, in
der heterogene Weltentwürfe unversöhnlich nebeneinander existieren, ohne dass
es die Verbindlichkeit und Gewissheit einer gemeinsamen Zentralperspektive gäbe.
Kein Problem und auch kein Konflikt lassen sich fortan eindeutig lösen, denn es
macht nun einen Unterschied, ob man im Namen der Wahrheit, der Schönheit
oder der Macht spricht. Weder innerhalb noch außerhalb der Welt gibt es einen
2
Siehe dazu genauer den Aufsatz „Pascal und die Soziologie“ von Alois Hahn (2002).
Modische Moderne, moderne Moral 161
Ort, von dem aus einwandfrei gesprochen werden könnte. Nicht die Religion, nicht
die Kunst und auch nicht die Wissenschaft können einen derartigen Ort für sich
beanspruchen, und selbst die Politik kann diesen Ort allenfalls simulieren. Es wäre
daher auch falsch zu behaupten, funktionale Differenzierung spalte die Welt, eher
multipliziert sie die Welt in unterschiedliche Welten.
Welchen dramatischen Einschnitt diese Entwicklungen – in Bezug auf die Ge-
sellschaft, aber auch auf Mentalitäten – hinterlassen haben, lässt sich in der sozial-
historischen Rekonstruktion nur erahnen. Luhmann spricht vom Zusammenbruch
des Essenzkosmos als Folge funktionaler Differenzierung: „Wenn man in vormo-
dernen Gesellschaften sich dem Druck gesteigerter Variationsmöglichkeiten ausge-
setzt sah, konnte man immer noch davon ausgehen, dass die Selektion sich an dem
Einen, dem Wahren, dem Guten zu orientieren habe. Man konnte sich in einem Es-
senzkosmos gehalten glauben. […] Aber dies Vertrauen in einzig-richtige, letztlich
Perfektion, Ruhe, Stabilität bewirkende Selektion hatte in der Stratifikation […] des
Gesellschaftssystems eine heimliche Rückversicherung gehabt, die heute entfallen
ist“ (Luhmann 1997, S. 472). Die moderne Gesellschaft wird also nicht nur mit dem
Verlust einer Einheitsvorstellung von Welt, sondern auch mit dem Einbruch von
Unruhe konfrontiert, sie muss feststellen, dass Wahres, Gutes und Schönes zeit-
licher Veränderung unterliegen. Was heute politisch richtig ist, kann sich morgen
schon als Fehler erweisen. Was heute schön ist, ist morgen vielleicht schon wieder
hässlich. Konnten vormoderne Gesellschaften Irritationen immer schon durch den
Primat der Sachdimension auffangen, kennzeichnet die Moderne das, was Arthur
Lovejoy als das Eindringen der Zeit in die Kette der Wesen bezeichnet hat (vgl. 1985,
S. 292 ff.). Kein Wesen, kein Ding bleibt mehr fest an seinem Platz, alles befindet
sich in Bewegung, im Lauf der Zeit und innerhalb der Gesellschaft. Wer heute recht
hat, liegt morgen vielleicht schon falsch. Wer heute die Wahrheit spricht, mag mor-
gen bereits als Lügner entlarvt worden sein. Als Folge dieser Verunsicherung lässt
sich beobachten, dass Wertungskriterien für das Schöne, das Wahre und das Gute
immer stärker dazu tendieren, variabel zu werden.
Die Gesellschaft hat diesen doppelten Prozess der Ausdifferenzierung unter-
schiedlicher Logiken und einer gleichzeitigen Variabilität von Wertungskriterien
sehr wohl registriert und reflektiert. Liest man heute etwa Niccolò Machiavellis
Principe, stößt man nicht in erster Linie auf ein Dokument der Unmoral, sondern
viel eher auf ein Dokument der Amoral. Es ist der vielleicht spektakulärste Beweis
der einsetzenden Emanzipation des Politischen vom Moralischen. Dieser Emanzi-
pationsprozess des Politischen geht aber – und das ist an dieser Stelle entscheidend
– mit einer unterschwelligen Verschiebung einher. Machiavelli ist der Agent einer
radikalen Flexibilisierung politischer Klugheit (vgl. Schulz-Buschhaus 1996). Die
klassische politische Tugend wird bei ihm durch eine flexible virtú ersetzt, die als
162 J. Müller
oberste Norm befiehlt, sich den Zeitumständen anzupassen, denn alles andere wäre
politisch unklug. „[F]erner glaube ich, dass der Glück hat, der seine Handlungswei-
se den Zeitumständen anpasst, und ebenso jener ins Unglück gerät, dessen Hand-
lungsweise nicht den Zeitumständen entspricht“, heißt es bei Machiavelli (2004,
S. 195). So gesehen mangelt es seinen Schriften keineswegs an Normen oder gar
an Normativität, vielmehr lässt sich dort studieren, wie einer zeitlosen und univer-
sellen Normativität eine „Norm zweiten Grades“ (Schulz-Buschhaus 1996, S. 80)
entgegengesetzt wird, die vom Fürsten und vom politischen Personal vorrangig die
geschickte Anpassung an Veränderungen und wechselnde Umstände verlangt.
Vergleichbares lässt sich historisch etwas später auch im Bereich des Ästheti-
schen feststellen. Baltasar Gracián wird hier erstmals den Versuch unternehmen,
das Phänomen des Schönen unabhängig von den Dingen zu bestimmen (vgl.
Schröder 1966, S. 138). Bei ihm wird Schönheit jenseits der Objekte, allein durch
die dahinter liegende Denkbewegung zu fassen versucht3. Auch hier lässt sich, da-
rin Machiavelli durchaus vergleichbar, eine entscheidende Verschiebung festma-
chen. Schönheit ist nicht länger etwas, das den Dingen anhaftet, vielmehr wird hier
von Gracián erstmals eine „Prozessualisierung des Ästhetischen“ (Schröder 1985,
S. 30) vorangetrieben: ebenso wie politische Klugheit ist nun auch die Schönheit
der permanenten Veränderung unterworfen. „Was gestern Erstaunen hervorrief,
heute wird es verächtlich, nicht etwa, weil es bei sich an Vollkommenheit, nein, weil
es bei uns an Ansehen eingebüßt hat; nicht weil es sich gewandelt, eher weil es das
nicht getan hat und uns nicht neu vor Augen tritt“, heißt es im Criticón (Gracián
2001, S. 36). Schönheit muss sich also der Zeit anpassen und nicht umgekehrt. Sie
ist also zu einer Variable geworden.
Und auch im Bereich der Wissenschaft vollzieht sich Analoges. Hier muss man
in erster Linie an die epistemologische Zumutung denken, die mit dem wachsen-
den Erfolg von Wahrscheinlichkeitstheorien seit dem 17. Jahrhundert einhergeht.
Nicht nur wird Wahrheit mit der Etablierung von Wahrscheinlichkeitstheorien in
immer bloß vorläufige Wahrheit transformiert, sie wird auch einem unabschließ-
baren Falsifikationsprozess ausgesetzt (vgl. Esposito 2007, S. 19 ff.). Einmal in Gang
gesetzt, lässt sich dieser Prozess nicht mehr aufhalten und, was noch schlimmer ist,
auch nicht mehr umkehren.
Diese drei Beispiele sollen an dieser Stelle auf geringfügige, aber überaus folgen-
reiche Verschiebungen aufmerksam machen. Seit der Frühmoderne kommt es zu
einer unübersehbaren Destabilisierung vormaliger Gültigkeiten, in Politik, Kunst
und Wissenschaft gleichermaßen. Dass nebeneinander disparate Weltbeschreibun-
3
Zu dieser historisch neuen Akzentuierung von Neuheit gegenüber Perfektion bei Gracián
siehe ausführlicher Schulz-Buschhaus (1990).
Modische Moderne, moderne Moral 163
4
Siehe hierzu ausführlicher Müller und Groddeck 2013.
164 J. Müller
Wenn hier von Mode die Rede ist, dann soll es nicht in erster Linie um Kleidungs-
mode gehen5. Vielmehr möchte ich Mode als eine spezifische Beobachtungsform
verstehen und daher mit der Frage beginnen, was eigentlich beobachtet wird, wenn
etwas als Mode beobachtet wird? Dass man es bei Mode immer mit Veränderung
zu tun hat, ist zunächst einmal eine Banalität. Aber die Mode darf nicht selbst mit
Veränderung gleichgesetzt werden, vielmehr handelt es sich bei Mode um eine Be-
obachtungsform von Veränderung. Mode ist aus soziologischer Sicht nichts ande-
res als die Antizipation zukünftigen Wandels. Als Beobachtungsform gelingt es ihr
sogar, Veränderung Struktur zu verleihen und erwartbar zu machen – ein Gedanke,
der die soziologische Beschäftigung mit Mode seit jeher bestimmt hat. Max Weber
hat ihre „Regelmäßigkeit“ (1976, S. 15) hervorgehoben, Herbert Blumer hat sie als
„a continuing pattern of change“ (1968, S. 342) beschrieben und René König hat ihr
„einen Platz im Gesamthaushalt geregelter sozialer Verhaltensweisen“ (1971, S. 23)
eingeräumt. Und in der Tat versorgt die Mode die Gesellschaft erwartungsstabil mit
Kontingenz. Sie informiert die Gesellschaft über eine Welt, in der kein Wert, kein
Ding und keine Meinung einen festen Platz hat, sie informiert über eine Welt, in
der nichts vor Variation geschützt ist.
Für Luhmann, in dessen Werk die Mode erstaunlich häufig und an wichtigen
Stellen auftaucht6, geht es bei der Erfindung von Mode letztlich darum, „das nur
Mögliche mit Form zu versorgen“ (Luhmann 1999, S. 79). Die Beobachtungsform
Mode ist offenbar imstande, in die Zukunft die Möglichkeit der Veränderung hinein
zu projizieren. Sie malt das Bild einer Zukunft, die nicht besser, nicht schlechter, we-
der katastrophal noch zur Erlösung wird. Die Mode malt das Bild einer Zukunft, die
anders wird – auch das ist bereits eine wichtige Information. Um es pointiert zu sa-
gen: Mode ist ein Medium der Institutionalisierung von Unbestimmtheiten. Sie ist die-
jenige Beschreibungsformel, die es erlaubt, Unbestimmtheit in Form zu bringen. Das
betrifft in der Zeitdimension die Zukunft und in der Sachdimension die Themen.
Weder trifft die Mode feste Aussagen über die Zukunft noch kennt sie feste Inhalte;
im Grunde ist sie vollkommen unsachlich. Georg Simmel hat das als erster erkannt,
und auf die „Gleichgültigkeit der Mode als Form gegen jede Bedeutung ihrer beson-
deren Inhalte“ (1911, S. 30) hingewiesen. Ähnlich spricht auch Roland Barthes von
der Mode als „Schauspiel ohne Inhalt“ (1985, S. 294) und betont also, dass die Mode
5
Zum Unterscheid von Mode und Kleidungsmode siehe Schnierer (1995).
6
Ich muss daher Bjørn Schiermer vehement widersprechen, der Luhmann jüngst eine „Acht-
losigkeit der Systemtheorie gegenüber der Mode“ (2010, S. 121) vorgeworfen hat.
Modische Moderne, moderne Moral 165
gerade deshalb den Umgang mit Unbestimmtheit ermöglicht, weil sie von jeglichem
Inhalt befreit ist. Alles kann zur Mode werden und in dieser genuinen Unsachlich-
keit und Inhaltslosigkeit liegt ihre enorme Leistung. Luhmann bezeichnet die Mode
interessanterweise als „Formel der Legitimation des Jeweiligen“ und vergleicht sie
mit anderen modernen Einrichtungen wie dem Markt oder der Demokratie (1993,
S. 269). Als Modell ermöglicht der Markt für das Ökonomische, ebenso wie die De-
mokratie für das Politische, Stabilität bei gleichzeitiger inhaltlicher Offenheit in der
Sachdimension sowie Sensibilität für Veränderungen in der Zeitdimension. Diese
Verknüpfung von Stabilisierung und inhaltlicher Unbestimmtheit, „dieses Zusam-
menspiel zwischen Kontingenz und Nicht-Beliebigkeit“ (Esposito 2004, S. 10) stellt
eine Problemkonstellation dar, die sich als signifikant für die Moderne erweist und
als überaus aufschlussreich für eine Beschreibung der modernen Gesellschaft er-
weist. Unbestimmtheit ist das Signum der Moderne7. An keinem anderen Phänomen
lässt sich das in dieser Deutlichkeit zeigen wie an der Mode. Sie ist „eine Art Maschi-
ne, die den Sinn in Gang hält, ohne ihn jemals zu fixieren“ (Barthes 1985, S. 194).
Es greift daher nicht nur zu kurz, Mode als bloß randständige und oberflächli-
che Erscheinung einzustufen, es ist aus soziologischer Sicht auch schlichtweg falsch.
Mode und modeförmige Beobachtungen lassen sich an ganz unterschiedlichen Or-
ten und in unterschiedlichen Kontexten antreffen. Ob in Form von Zyklen, in Form
von Trends, Plausibilitäten oder im Wandel bestimmter ästhetischer Inszenierun-
gen, die moderne Gesellschaft ist immer schon mit einer Zukunft vertraut, die sich
bereits geändert haben wird, das gilt für die Wissenschaft8 wie für die Politik, für
die Ökonomie wie für die Kunst. Nichts anderes soll gemeint sein, wenn hier von
Mode die Rede ist. Sie ist die Chiffre für den Vertrauensverlust in Eindeutigkeit und
Stabilität. Sie hat das moderne Bewusstsein für die Variabilität der Dinge provoziert
und ist in Form von Mentalitäten und Beschreibungen in sämtliche Bereiche der
Gesellschaft diffundiert.
Man darf Mode daher nicht losgelöst von ihrem historischen Entstehungs-
hintergrund betrachten. Erst in einer Welt, in der unterschiedliche Perspektiven
unversöhnlich aufeinanderprallen und sich durch keine gesellschaftliche Instanz
7
An dieser Stelle muss auf die Arbeiten Gerhard Gamms hingewiesen werden, der mit dem
Schlagwort ‚Unbestimmtheit‘ nicht nur eine philosophisch-historische Konstellation fasst,
sondern damit ein ganzes Forschungsprogramm bezeichnet (vgl. 1994, 2000).
8
Den Zusammenhang wissenschaftlicher Wahrheit und wissenschaftlicher Moden hat Jür-
gen Kocka jüngst in einem lesenswerten Aufsatz über den Wandel historiographischer Dar-
stellungen des Ersten Weltkriegs betont: „Die Historiker formen Trauben und Schwärme,
und die wechseln sich im Laufe der Zeit ab. […] Vielleicht sollte man nicht erstaunt sein, dass
Veränderungen in unserem Fach bis zu einem gewissen Grad dem Muster der Mode folgen“
(Kocka 2010, S. 221).
166 J. Müller
Den Einbruch der Mode in den semantischen Haushalt der Gesellschaft datiert
man auf den Beginn des 17. Jahrhunderts. Abgeleitet vom lateinischen Begriff ‚mo-
dus‘, der zunächst ganz allgemein die Art und Weise von etwas bezeichnet, taucht
das Wort ‚mode‘ erstmals im 15. Jahrhundert im Französischen auf (vgl. Brink-
mann und Konersmann 1984; Wehinger 2002, S. 169). Etwa seit 1600 tritt neben
das maskuline ‚le mode‘ vermehrt auch das feminine ‚la mode‘, wobei die Hin-
tergründe dieser Genusänderung nicht vollends geklärt sind. Fest steht allerdings,
dass durch diese Akzentuierung weniger die Art und Weise als vielmehr der verän-
derliche Charakter von etwas in den Vordergrund gerückt wird. Es scheinen also,
wo von ‚mode‘ die Rede ist, immer andere Möglichkeiten mit im Spiel zu sein. Spä-
testens in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts wird die Mode dann zu einem un-
übersehbaren gesellschaftlichen Phänomen, ja zu einer wirklich ernstzunehmen-
den gesellschaftlichen Instanz in Fragen der Lebensführung. Berühmt geworden
ist eine Formulierung John Lockes aus seinem 1690 erschienenen An essay concer-
ning human understanding: Er spricht von den „laws of fashion“ (1894, S. 479), die
nicht selten die Gesetze Gottes und die Gesetze des Rechts überragen und denen
sich die Menschen „chiefly, if not solely“ (ebd.) unterzuordnen beginnen. Auch die
Literatur, insbesondere Verhaltensliteratur und Moralistik Michel de Montaignes,
Modische Moderne, moderne Moral 167
Baltasar Graciáns oder Jean de La Bruyères9, entdeckt die Mode als Thema ihrer
Zeit. Hierzu gibt es detailreiche und fundierte literaturwissenschaftliche und sozio-
logische Forschungsarbeiten von Ulrich Schulz-Buschhaus (1989, 1996) und Elena
Esposito (2004), auf die ich mich in meinen Ausführungen beziehe.
Der entscheidende Referenztext, wenn es um Mode geht, und aus soziologischer
Sicht sicherlich einer der faszinierendsten Texte der Frühmoderne10, ist das Kapitel
„De la mode“ aus den Caractères von La Bruyère. Er beschreibt dort sich ankün-
digende gesellschaftliche Veränderungen und Umbrüche in der zweiten Hälfte des
17. Jahrhunderts. Im Mittelpunkt seiner Betrachtungen steht dabei die Mode:
Früher trug der Höfling seine natürlichen Haare, kleidete sich mit Hosen, Wams und
Stulpenstiefeln und war ein Freigeist. Das schickt sich nicht mehr: heute trägt er eine
Perücke, eng anliegende Kleidung, glatte Strümpfe und ist ein Frömmler. Alles richtet
sich nach der Mode. (La Bruyère o. J, S. 337)
Der Wirkungsbereich der Mode beschränkt sich also längst nicht nur auf Ober-
flächliches, auf Schmuck, Stil oder Kleidung, nein, auf alle Lebensbereiche: „Tout se
règle par la mode“ (La Bruyère 1969, S. 403), ist der empörte Vorwurf an die eigene
Epoche und die wohl berühmteste Formel der Caractères.
Eine Narrheit, die recht von unserem erbärmlichen Wesen zeugt, ist die Abhängig-
keit von der Mode, sobald wir uns auch in Fragen des Geschmacks, der Nahrung,
der Gesundheit und des Gewissens nach ihr richten. Schwarzes Fleisch ist aus der
Mode und darum fade; es wäre ein Verstoß gegen die Mode, durch einen Aderlaß
vom Fieber zu genesen. Die Zeiten sind vorüber, wo man durch Theotim zur Selig-
keit gelangte; seine rührenden Ermahnungen vermochten nur noch gemeinen Leuten
zum Heil zu verhelfen, er hat einem anderen weichen müssen. (Ebd., S. 325)
Wie vielleicht an keinem anderen Dokument lässt sich hier ablesen, wie sehr die
moralische Ordnung der Gesellschaft durch die Provokation des Phänomens Mode
ins Wanken gerät. La Bruyère konnte diese Anmaßung der Mode noch bedauern,
aufhalten ließ sich diese Entwicklung nicht mehr. Nicht einmal existenzielle Fra-
gen der Gesundheit und des Gewissens sind vor dem Einfluss der Mode geschützt,
9
Bei Montaigne gilt das sicherlich am deutlichsten für den Essay „Über die alten Bräu-
che“ (2000, S. 446 ff.), bei Gracián für dessen 120. Aphorismus des Handorakels „Sich in
die Zeiten schicken“ (1986, S. 58), der maßgeblichen Einfluss auf La Bruyère ausgeübt hat
(vgl. Schulz-Buschhaus 1996, S. 93). Dieser Einfluss hat sich bei La Bruyère vor allem auf das
Kapitel „De la mode“ seiner Caractères niedergeschlagen, um das es im Weiteren gehen soll.
10
Soweit ich das überblicken kann, war es Luhmann, der als erster die Bedeutung dieses
Kapitels für die Soziologie hervorgehoben hat (vgl. 1999a, S. 79).
168 J. Müller
nicht in der Natur des Menschen, nicht in der Tradition der mores und auch nicht
in der auf Gott bezogenen ordo vivendi findet die Moral ein unumstößliches, zeitlos
gültiges Fundament. „Wie in einem Choc wird die Erfahrung manifest, dass in die-
ser Epoche kein Wert – und sei sein Anspruch noch so universal gesetzt – vor der
Bedrohung durch zeitliche Kontingenz bewahrt bleibt.“ (Schulz-Buschhaus 1989,
S. 184) Es ist tatsächlich der darin artikulierte Choc, der dieses Kapitel so lesenswert
macht, die Sensibilität des Autors für sich beschleunigende Prozesse der Moderni-
sierung, insbesondere für die in der Frühaufklärung zunehmende Zeitabhängigkeit
und Historizität der Moral (vgl. Schulz-Buschhaus 1996, S. 79). Kein Bereich des
Lebens – und vor allem nicht die Moral – scheint sich der sich ausbreitenden Macht
des Instantanen und des Vergänglichen entziehen zu können. Eine universalistisch
und zeitlos konzipierte Moral kann als Letztbegründungsinstanz nicht länger über-
zeugen. Weder auf der Ebene von Interaktionen noch auf gesamtgesellschaftlicher
Ebene garantiert sie sicheren Halt. Moral muss fortan damit rechnen, auf andere
Moralen zu treffen; sie beginnt, verhandelbar zu werden. „Für komplexer werden-
de Gesellschaften wird eine Gesamtprogrammierung der Sozialdimension in der
Form von Moral zunehmend inadäquat […] alle Moral findet sich letztlich in Ho-
rizonten relativiert“, heißt es bei Luhmann (1984, S. 121).
Was sich also seit der Frühmoderne deutlich abzeichnet, ist ein unaufhaltsamer
Prozess der Relativierung und Kontextualisierung von Moral, eine Entwicklung,
deren Folgen bis in die Gegenwart reichen. Was sich heute als Moral beobachten
lässt, ist im Grunde das Nebeneinander unterschiedlicher Partikularmoralen. Da-
bei geht es weniger darum, gesamtgesellschaftliche Orientierung zu stiften, son-
dern eher darum, Distinktion zu ermöglichen; für Berufsgruppen, Subkulturen,
ethnische Minderheiten oder Milieus. Es lohnt sich, La Bruyère vor dem Hinter-
grund dieser Entwicklungen neu zu lesen. Er ist der Autor einer Gesellschaft im
Übergang, die mit dem Verlust von Moralsicherheit zurechtkommen muss. Dass
sie mit einer starken Beunruhigung reagiert, zeigt sich nirgendwo so deutlich wie
in der Diskussion um die Mode. Es ist daher auch kein Zufall, dass die Literatur die
Mode ausgerechnet zu einem Zeitpunkt entdeckt hat, an dem die Überzeugungs-
kraft der Moral abzunehmen beginnt, denn mit dem Erfolg der Mode geht eine
Krise der Moral einher, mit ihm hat die Moral „ihre außersoziale Absicherung“
(Luhmann 1993, S. 405) verloren.
Vielleicht liegt darin sogar die bündigste Beschreibung der Moderne und auch
der modernen Gesellschaft versteckt. Nicht nur auf dem Gebiet der Moral muss die
Gesellschaft auf außersoziale Absicherungen verzichten, ebenso auch im Hinblick
auf politische Autorität, Schönheit oder Wahrheit. Der modernen Gesellschaft ste-
hen fortan nur noch soziale Absicherungen zur Verfügung. Dass diese aber immer
bloß temporär, kritisierbar, uneindeutig, also unsicher sind, ist das Schicksal und
Modische Moderne, moderne Moral 169
gleichzeitig auch das Kennzeichen der modernen Gesellschaft, die lernen muss,
sich auf Unbestimmtheit einzustellen und beginnen wird, Begründungen, Kri-
terien und Werte flexibel zu denken und zu konzipieren. An der Entstehungsge-
schichte der Mode lässt sich studieren, mit welchen dramatischen Veränderungen
die moderne Gesellschaft konfrontiert wird und wie sie darauf reagiert hat. Die
Beschreibungsformel ‚Mode‘ hat diese Veränderungen nicht nur beschrieben, son-
dern gleichzeitig auch vorangetrieben und strukturiert. Das macht sie für die So-
ziologie zu so einer interessanten Figur und ohne jede Übertreibung auch zu einem
der „Zentralbegriffe europäischer Kultur“ (Schulz-Buschhaus 1997, S. 341).
Nun hat dieser Beitrag aber nicht nur mit Mode und Moral begonnen, sondern
auch mit einer aktuellen soziologischen Zeitdiagnose. Selbst die gegenwärtige Ethi-
sierung der Gesellschaft kann und muss auf die beschriebenen historischen Ent-
wicklungen seit dem 17. Jahrhundert bezogen werden. Die derzeitige Ethisierung
der Moral ist also selbst schon die Konsequenz einer Schwächung des Moralischen
(siehe hierzu genauer den Beitrag von Armin Nassehi in diesem Band). Zweifels-
ohne reagieren die Form des Ethischen und ihr Erfolg auf den Vertrauensverlust
in eine universale und zeitlose Moral, denn nur diejenigen Fragen, die sich nicht
eindeutig moralisch beantworten lassen, müssen ethisiert werden. Sie werden dann
entweder, wie im Falle der philosophisch-akademischen Ethik, in Begründungs-
fragen überführt und in den Kontext einer unabschließbaren wissenschaftlichen
Praxis eingebettet. Oder sie werden, wie im Falle des politischen und praktischen
Rückgriffs auf Ethik etwa im Nationalen Ethikrat oder in klinischen Ethikkomitees,
durch eine Kommunikationsanordnung ersetzt, die verfahrensförmig organisiert
werden muss. In beiden Fällen allerdings wird die Frage nach Moral zur Frage ihrer
kommunikativen Bearbeitung. Interessant ist daran, dass das Label ‚Ethik‘ nicht in
erster Linie mehr Klarheit und Eindeutigkeit garantiert, sondern selbst wiederum
Unbestimmtheiten produziert. Nicht nur die Vielzahl an heterogenen und zum Teil
sich widersprechenden Bereichsethiken ist ein deutliches Anzeichen dafür, son-
dern auch die spezielle Form ethischer Rede, die an anderer Stelle in diesem Band
genauer untersucht wird (siehe hierzu den Beitrag von Irmhild Saake & Dominik
Kunz diesem Band). Dem Soziologen geht es dann weniger um den denotativen
Gehalt starker ethischer Sätze als vielmehr um Ethik als eine sehr moderne und
sehr erfolgreiche Kommunikationsanordnung, die selbst Effekt einer Verunsiche-
rung der Moral ist. Die Verschiebung des Moralischen ins Ethische muss daher
auch jenem Dynamisierungs- und Flexibilisierungsprozess zugeordnet werden, um
den es in diesem Beitrag gehen sollte und der die Moderne und auch die moderne
Gesellschaft so deutlich kennzeichnet.
170 J. Müller
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Luhmann, N. (1997). Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Modische Moderne, moderne Moral 171
Jasmin Siri
Meine von mir verfasste Dissertation ist kein Plagiat, und den Vorwurf weise ich mit
allem Nachdruck von mir. Sie ist über etwa sieben Jahre neben meiner Berufs- und
Abgeordnetentätigkeit als junger Familienvater in mühevoller Kleinstarbeit entstan-
den und sie enthält fraglos Fehler. Und über jeden einzelnen dieser Fehler bin ich
selbst am unglücklichsten. (…) Ich werde selbstverständlich aktiv mithelfen fest-
zustellen, inwiefern darin ein wissenschaftliches, ich betonte ein wissenschaftliches
Fehlverhalten liegen könnte. (Karl-Theodor zu Guttenberg Februar 2012, dpa, Hervor-
hebungen durch Verf.)
Für hilfreiche Hinweise und Diskussion des Textes danke ich Irmhild Saake, Armin Nassehi
1
J. Siri ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München,
München, Deutschland
E-Mail: jasmin.siri@soziologie.uni-muenchen.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik – Normen – Werte, Studien zu einer 173
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_8,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
174 J. Siri
verdeutlicht, dass Politik und Demokratie ebenso wenig eins sind, wie Moral und
Demokratie. Politik ist nämlich erstens auch ohne Demokratie zu haben. Mit Luh-
mann gesprochen: Politik braucht keine Demokratie, um ihren Code zu vollzie-
hen. Macht-haben oder keine-Macht-haben kann man auch in protofaschistischen,
kommunistischen oder diktatorisch regierten politischen Systemen. Gleicherma-
ßen hat die historische Entwicklung zweitens gezeigt, dass der moralische Zugriff
auf die Bürger nicht in Demokratien, sondern in Diktaturen besonders umfassend
war und ist.
Diesen Argumenten sollten zunächst auch Beobachter folgen können, die apoli-
tischen Theorien der Politik kritisch gegenüberstehen, ist doch die demokratiethe-
oretische Betrachtung des Politischen erst eine Konsequenz aus der Einsicht über
die Möglichkeit genuin amoralischer Politik. Rangdifferenzierte Gesellschaften
hatten sich Moral und die Politik identitär vorgestellt. Der Körper des Königs war
nicht nur ein politischer Körper, sondern auch ein von Gott geheiligter Körper. In
dem Maße, da Politik sich als ein gesellschaftliches Funktionssystem neben ande-
ren Funktionssystemen wie Religion oder Wirtschaft ausdifferenziert, entsteht erst
eine Kritik der Politik, die deren Selbstbezüglichkeit und Unabhängigkeit von der
Moral zu beklagen vermag. Jedoch: Auch wenn es unmöglich geworden ist, die
moderne Gesellschaft als eine moralisch integrierte Gesellschaft zu beschreiben,
so gibt es dennoch Moralkommunikation – und diese ist nicht einfach nur naiv.
Sie wird gebraucht, auch wenn sie stets damit rechnen muss, dass an anderer Stelle
etwas anderes als gut oder falsch beschrieben wird.2
Im Folgenden werde ich also die möglichen Leistungen einer systemtheoreti-
schen Betrachtung des Politischen herausarbeiten. Hierzu sollen zunächst für die
folgenden Überlegungen wichtige Begriffsklärungen erfolgen (1.). Anschließend
werde ich Überlegungen über die Funktionalität von Skandalkommunikation an-
stellen. Ich werde im Anschluss an prominente Beschreibungen der politischen
Öffentlichkeit argumentieren, dass Skandalkommunikation nicht als Indikator für
einen Verfall der politischen Kultur gelesen werden muss, sondern auch als demo-
kratische Errungenschaft verstanden werden kann (2.). Im dritten Kapitel werde
ich an empirischen Beispielen die Dynamik und Funktion politischer Skandale ge-
nauer in den Blick nehmen (3.). Abschließend wird die These der Funktionalität
von politischen Skandalen gebündelt dargestellt und soziologisch diskutiert (4.).3
2
Dieser Paradoxie verdankt sich die Ethik (vgl. Saake und Nassehi 2004).
3
Die empirischen Beispiele für diesen Aufsatz entstammen einer Erhebung für eine Disser-
tation über den Wandel der Parteiorganisation und der Parteimitgliedschaft, die im Jahre
2011 an der LMU München angenommen wurde (Siri 2012) und Folgestudien zu Politik im
digitalen Medium von 2011–2013 (vgl. Siri et al. 2012).
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 175
Bevor ich herausarbeite, inwiefern ein systemtheoretischer Blick auf den politi-
schen Skandal innovative Beschreibungen zu erzeugen vermag, sollen zunächst die
Begriffe Politik, Macht und Moral genauer definiert werden. Folgt man, wie ich es
im Folgenden zum Zwecke einer Untersuchung des Verhältnisses von amoralischer
Politik und moralischer Betrachtung des Politischen tun werde, Dezisionisten wie
Carl Schmitt und Niklas Luhmann, so dreht sich die politische Kommunikation
vor allem und zuerst um Macht und darum, wie diese verteilt wird. Luhmann be-
schreibt die Funktion der Politik als die „Bereithaltung der Kapazität zu kollektiv
bindendem Entscheiden“ (Luhmann 2002, S. 84). Das Medium der Politik sei die
Macht (ebd., S. 18 ff.). Carl Schmitt formuliert, dass die „spezifisch politische Unter-
scheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen
lassen (…) die Unterscheidung von Freund und Feind“ sei (Schmitt 1932, S. 14). In
der Demokratie, so wiederholt Luhmann diese schmittsche Unterscheidung in sei-
ner Politik der Gesellschaft, wird das Schema des Politischen (Macht-haben/keine-
Macht-haben) durch die Unterscheidung von Regierung und Opposition recodiert
(Luhmann 2002, S. 97). Luhmann beschreibt die Unterscheidung von Regierung
und Opposition hierbei als Präferenzcodierung: „Man ist lieber an der Regierung
beteiligt als an der Opposition. Nur die Regierung besetzt Ämter, in denen kollektiv
verbindlich entschieden werden kann. Die Opposition kann nur lamentieren, Kritik
üben, Forderungen artikulieren und generell: die Kontingenz aller politischen Ent-
scheidungen reflektieren.“4 (ebd., S. 99) Gemein ist Schmitt und Luhmann, dass sie
4
Es lässt sich sicher darüber streiten, ob eine solche institutionengebunden-dezisionistische
Beschreibung für die politische Welt abseits der Volksparteien funktioniert. Dass Luhmann
Parteien, die dem Regieren (auch) skeptisch gegenüberstehen, tentativ nicht recht ernst
nahm, ist bspw. der Fußnote 26 auf Seite 102 der Politik der Gesellschaft zu entnehmen. Dort
beschreibt der die (jungen) Grünen als „unreif “. Nach dem Begriffsverständnis seines Textes,
so Luhmann, sei die Übernahme der Reflexion (also der Oppositionshaltung) „symptoma-
tisch für ein nicht ganz geglücktes Verhältnis zur Demokratie“. Diese normativ begründete
Perspektive, die die Regierung als „Designationswert“ annimmt und die Rolle der Opposi-
tion auf die Reflexion beschränkt, übersieht jedoch, dass das Zustandekommen politischer
Entscheidungen vielleicht weniger vom ,tatsächlich‘ (also per institutioneller und/oder ju-
ristischer Regelung abgeordneten) Entscheidenden abhängt als von einer komplexen und
unüberschaubaren Lage, in der die Darsteller-Entscheider und Organisationseinheiten nicht
unbedingt mehr Einfluss auf sich vereinen als andere gesellschaftliche Gruppen oder Lobbys.
Gerade die Entstehung der europäischen Piratenparteien scheint zudem darauf hinzuweisen,
176 J. Siri
die Macht nicht als ein Vermögen des Machthabers verstehen, sie nicht als an einen
handelnden Akteur gebunden begreifen. Außerhalb echtzeitlicher Operationen des
politischen Systems gibt es für Luhmann keine Mächtigen und keine Macht (ebd.,
S. 32). „Die Macht muß ständig in Formen gebracht, muß ständig gezeigt werden;
sonst findet sie niemanden, der an sie glaubt und ihr von sich aus, Machteinsatz
antizipierend, Rechnung trägt.“ (ebd.)5 Mit Luhmann gesprochen: Da die Macht
in der Moderne nicht von einem Menschen besessen, nicht inkorporiert werden
kann, muss sie ständig symbolisiert und re-aktualisiert werden. Daher unterschei-
det sich der Körper des Königs in einer ständischen Gesellschaft beträchtlich vom
Amtskörper der Bundeskanzlerin Angela Merkel. Macht wird zu einem Medium,
dass sich von den Körpern der Machthaber löst. Wenn das einzige Medium des
Politischen also die Macht ist, dann muss Moralkommunikation für das politische
System Ausnahmekommunikation bedeuten. Die Moral ist laut Luhmann mit dem
Ende der ständischen Gesellschaftsform nicht mehr Teil der Politik. Aber erleben
wir in öffentlichen und politischen Diskursen nicht ständig moralische Kommuni-
kation über Politik, politische Entscheidungen und politisches Personal? Wenn es
in der Politik nur um Macht geht, wieso formuliert sich dann bspw. ein #aufschrei,
wenn ein Politiker sich an einer Bar gegenüber einer Journalistin unanständig ver-
hält? Warum spielt es dann eine Rolle, ob Ministerinnen und Minister in ihrer Dis-
sertation plagiiert haben?
Aus einer lebensweltlichen Perspektive scheint Luhmanns Behauptung, dass die
Moral sich aus der Politik entfernt habe, zunächst kontraintuitiv, denn die Rede
von der Moral ist nie weit, wenn es um die Beobachtung des Machtgebrauchs geht.
Politiker oder Topmanager, eben jene, von denen wir denken, sie besäßen Macht,
werden öffentlich auf ihre moralische Integrität hin abgeklopft und massenmediale
Empörung äußert sich, wenn ein Makel sichtbar wird. Und doch zeigen die vie-
len Skandale, die ‚ausgesessen‘ werden, dass Moral kein Kriterium mehr ist, nach
dem kollektiv bindend politisch entschieden wird. Nichts anderes meint Luhmann.
Freilich kann ein Skandal einem Politiker schaden. Und doch zeigt die Skandal-
forschung, dass vor allem die Unterstützung im eigenen Lager darüber bestimmt,
ob der oder die Skandalisierte zurücktreten muss. Der Ausgang des Skandals sei
wesentlich davon abhängig, welche politischen Interessen die unterschiedlichen
Akteure verfolgten, so Hitzler (1989). Es gibt keinen direkten Zusammenhang zwi-
dass der Designationswert „Regierung“ für Parteien mit hohen Partizipationsansprüchen bis
heute nur bedingt attraktiv ist.
5
In dieser wichtigen Einsicht liegt die starke Beobachtung politischen Personals – also jenen,
die die Macht ad personam symbolisieren sollen – ebenso begründet, wie eine spezifische
Dynamik des politischen Skandals in der Demokratie. Ich komme darauf im dritten Kapitel
zurück.
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 177
schen der moralisch negativen Bewertung einer Person und dem Verfall ihrer po-
litischen Macht. Wie ein Skandal für Betroffene ausgeht, ist kontingent. Und eben
darum sind Skandale so spannend.
Skandale begleiten also den politischen Alltag, finden aber aus einer differenzie-
rungstheoretischen Perspektive in erster Linie im System der Massenmedien statt.
Wie und ob überhaupt aus einem Fehlverhalten ein Skandal entsteht, ist allerdings
ebenso wenig vorentschieden, wie die Frage, ob der Skandal zum Verlust einer poli-
tischen Position führt. Bei weitem nicht alle skandalisierbaren und empörungsfähi-
gen Vorkommnisse in einer modernen Gesellschaft werden skandalisiert. Dies liegt
zum einen daran, dass es nicht Wahrheit ist, die das Geschäft der Medien bestimmt.
„Wahres interessiert die Massenmedien nur unter stark limitierten Bedingungen,
die sich von denen der wissenschaftlichen Forschung stark unterscheiden. Nicht
in der Wahrheit liegt deshalb das Problem, sondern in der unvermeidlichen, aber
auch gewollten und geregelten Selektivität.“ (Luhmann 2009, S. 41) Vielmehr geht
es im System der Massenmedien um Überraschungen (ebd., S. 42), Konflikte (ebd.,
S. 43), Quantitäten (ebd.) und Normverstöße (ebd., S. 44). „In der Darstellung
durch die Medien nehmen Normverstöße häufig den Charakter von Skandalen an.
Im Falle von Skandalen kann es ein weiterer Skandal werden, wie man sich zum
Skandal äußert.“ (ebd.) Es entspricht also der Logik der Massenmedien, Aufmerk-
samkeit auf skandalträchtige Vorkommnisse zu lenken, die immer eine Bewertung
nach dem Schema ‚richtiges‘/‚falsches‘ Verhalten ermöglichen. „Die Massenme-
dien können durch solche Meldungen von Normverstößen und Skandalen mehr
als auf andere Weise ein Gefühl der gemeinsamen Betroffenheit und Entrüstung
erzeugen. Am Normtext selbst könnte man dies nicht ablesen, der Verstoß erzeugt
eigentlich erst eigentlich die Norm, die vorher in der Masse der geltenden Normen
eben nur ‚gilt‘.“ (ebd., S. 45)
Während die ‚nur geltende‘ Norm also passiv ist, ist die Norm, die im Skandal
verhaftet wird aktiv. An anderer Stelle bemerkt Luhmann, dass ausdifferenzierte
Macht stets ein Bündnis mit dem Rechtssystem eingeht (Luhmann 2002, S. 55), was
die Aufmerksamkeit für ‚rechtes‘ und ‚unrechtes‘ Verhalten zusätzlich erhöht und
damit Skandale erst möglich macht. Der König der ständischen Gesellschaft konnte
sich viel mehr Normverstöße leisten als seine demokratischen Erben. Er verkörper-
te das Recht – und weil er es (meist religiös abgesichert) verkörperte, konnte er es
auch nach Belieben formen. Das bedeutet, dass seine Entscheidungen willkürlich
und normbrechend sein konnten und dabei doch stets rechtens waren. Die Norm
selbst aktualisierte sich gewissermaßen anhand seines Verhaltens. Zwar wurden
auch die Entscheidungen des Monarchen auf Logik oder Konsistenz hin beobach-
tet (man denke nur an die zeitgenössischen Kommentierungen der Heiraten und
‚Trennungen‘ Heinrich VIII. Tudors von England), jedoch wurde aus der negativen
178 J. Siri
6
Dass nicht einmal die vielleicht autonomste und politisch selbständigste Organisation der
Welt, die katholische Kirche, frei ist von derlei Berücksichtigungen medialer Skandalisierung
zeigen die katholischen PR-Anstrengungen im Umgang mit dem Missbrauch von Kindern
in katholischen Schulen oder der Abweisung einer vergewaltigten Frau in zwei katholischen
Krankenhäusern in Köln im Frühjahr 2013. In TV-Talkshows und Bekanntmachungen be-
mühten sich Vertreter der Kirche in letzterem Falle bspw., das religiös begründete Verhalten
der Ärztinnen und Ärzte zu verurteilen und erwogen ‚sogar‘ den Einsatz der aus katholischer
Perspektive problematischen „Pille danach“.
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 179
Es lohnt sich nun, genauer zu fragen, welche Funktion normative Bewertungen und
Skandalisierungen für das politische System und die demokratische Öffentlichkeit
erfüllen. Erfüllen Skandalisierungen überhaupt eine öffentliche Funktion, wenn sie
doch für Politik systemfremde Kommunikationen darstellen? Ist ein Shitstorm in
den Social Media ‚nur‘ ein mediales Gewitter ohne Konsequenzen – oder mehr
als das? Dies werde ich nun im Anschluss an prominente Beschreibungen der po-
litischen Öffentlichkeit diskutieren. Ich werde zunächst einleitend auf den Begriff
180 J. Siri
der Öffentlichkeit eingehen. Dabei wird sich zeigen, dass sowohl am Journalismus
als auch an der Politik Kritiken ansetzen, die die Entstehung politischer Skanda-
le und normative Begründungen wahrscheinlich, und für die Bestandserhaltung
demokratischer Organisationen und Staaten geradezu notwendig machen. Dann
sollen mit Jürgen Habermas und Kurt Imhof zwei Kommentatoren der politischen
Öffentlichkeit der BRD zu Wort kommen die für zwei diskursmächtige Traditionen
der Beschreibung der Öffentlichkeit stehen. Anschließend sollen diese Betrachtun-
gen durch die differenzierungstheoretische Fassung der Öffentlichkeit im nassehi-
schen Arenamodell kontrastiert werden.
Der Begriff der Öffentlichkeit steht offenbar zwischen jenem der Massenme-
dien und der Politik. Gleichzeitig ist der Begriff in aktuellen philosophischen und
soziologischen Diskussionen alles andere als eindeutig gefasst (vgl. für viele Ger-
hard 2012, S. 79 ff.). Ich werde hier daher auch gar nicht versuchen, die vielfälti-
gen Bezüge und Beschreibungen der Öffentlichkeit aus soziologischer Perspektive
darzustellen. An dieser Stelle daher nur der kurze Hinweis, dass der Begriff der
Öffentlichkeit aus soziologischer Perspektive eng mit jenem der Bürgerlichen Ge-
sellschaft verbunden ist. Im Entstehen der Bürgerlichen Gesellschaft verleiht sich
die Unterscheidung privat/öffentlich ihren Sinn und strukturiert das Verhältnis der
Personen zur Gesellschaft neu. Die Unterscheidung wird nicht nur die kapitalisti-
schen Reproduktionsmechanismen und Geschlechterverhältnisse bestimmen, (in-
dem Frauen nun für die unbezahlte Pflege des Privatlebens zuständig sein sollen
und Männer für Erwerbsarbeit und die Vertretung der bürgerlichen Familie im
öffentlichen Raum) (Bock und Duden 2000, S. 125 ff.). Auch die Vorstellungen und
die Entwicklung der Massenmedien und der Politik als parlamentarischer Demo-
kratie sind eng mit der Unterscheidung des Privaten vom Öffentlichen verbunden.
Wenn aber die bürgerliche Gesellschaft als ‚gute‘ Gesellschaft an ihr Ende ge-
nommen ist (Kieserling 2001), wer oder was ist dann heute ‚die Öffentlichkeit‘, die
sich über ein moralisches Fehlverhalten so heftig zu empören vermag? Skandale,
so Ronald Hitzler, sind „in modernen Gesellschaften grosso modo nicht Skandale
für alle, sondern immer ‚nur‘ Skandale für mehr oder minder bestimmte Grup-
pierungen und Konstellationen. […] Skandalpublika in modernen Gesellschaften
sind demnach immer Teil-Kollektiva – oft ‚vernachlässigbar‘ kleine, gelegentlich
fast allumfassend große (deren Definitionsmacht man sich dann allenfalls noch
klammheimlich entziehen kann).“ (Hitzler 1989, S. 335)7 Wenn auch die Idee der
7
In der Konsequenz sei der Ausgang des Skandals vor allem davon abhängig, wie die po-
litischen Interessen der politischen Akteure sich der Skandalisierung bedienen. Auch kön-
nen auf den Skandal kleine Subskandale aufsetzen. (ebd.). Ausführlich zur Dramaturgie des
Skandals aus der Perspektive verschiedener politischer Darsteller und zu deren Handlungs-
motiven vgl. Ebd.
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 181
Jürgen Habermas hat im „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ den Wandel des Pu-
blikums von einem (bürgerlichen) kulturräsonnierenden zu einem vor allem kul-
turkonsumierenden Publikum beschrieben. Der Wandel von der Versammlungs-
zur massenmedialen Öffentlichkeit ermögliche die Vermachtung der Medien
durch Staat, Parteien und wirtschaftliche Interessen (Habermas 1990, S. 278 ff.).
Habermas verteidigt die Idee einer vernunftgeleiteten Diskussion, in welcher der
Zusammenhang zwischen Menschenrechten und Volkssouveränität durch ver-
nünftige und freie Kommunikationsformen gewährleistet werde. Gerade weil in
einer modernen Gesellschaft Ideologie und Wahrheit nur im Plural denkbar seien,
könne nur der Austausch von guten Gründen in einer möglichst freien und brei-
ten Öffentlichkeit die Legitimität der politischen Entscheidung begründen (1994,
S. 623 ff.). Statt einer Elitentheorie (wie bspw. Schumpeter) oder einer kantischen
Kritik, die „Publizität als Prinzip der Vermittlung von Politik und Moral“ (Haber-
mas 1990, S. 178 ff.) begreift und dann meist mit einer Verfallsdiagnose endet (wie
bspw. Sennett), schreibt Habermas darum eine deliberative und operative Demo-
182 J. Siri
kratietheorie, die größtmögliche Partizipation fordert (vgl. ebd., S. 17, 38 ff.) und
die Pluralisierung von Werten und Publika nicht beklagt, sondern zur Geschäfts-
grundlage ihrer Schlussfolgerungen macht.
Gerade weil normative Gründe stets durch Gegengründe entwertet werden
können, ist der praktische Prozess der Diskussion für Habermas also so ungemein
wichtig. Die „rechtlich eingerichteten demokratischen Verfahren“ (Habermas
1994, S. 624) könnten nur in dem „Maße zu einer rationalen Willensbildung füh-
ren (…), wie die organisierte Meinungsbildung, die innerhalb des Rahmens staat-
licher Organe zu verantwortlichen Entscheidungen führt, durchlässig bleibt für die
frei flottierenden Werte, Themen, Beiträge und Argumente einer sie umgebende
politischen Kommunikation, die als solche und im ganzen nicht organisiert wer-
den kann.“ (ebd., S. 624 f. Hervorhebung im Original). Habermas interessiert sich
daher auch wenig für den in die Wahl projizierten volonté générale oder die poli-
tische Organisation: die Identität von Mehrheits- und Gesamtwillen im Plebiszit
sei fiktional, denn die „plebiszitärdemokratische Identität“ „hängt wesentlich auch
davon ab, wer über die Zwangs- und Erziehungsmittel verfügt, den Willen des Vol-
kes manipulativ oder demonstrativ zu bilden. Die Parteien sind Instrumente der
Willensbildung, aber nicht in der Hand des Volkes, sondern derer, die den Partei-
apparat beherrschen“ (Habermas 1969, S. 29).
Welche Konsequenzen erwachsen daraus, der Öffentlichkeit die Funktion des
nicht-organisierten Themenfilters für rationale Entscheidungen zuzuweisen? Zum
einen kann die Notwendigkeit der Vergrößerung und Verstetigung der Öffentlich-
keit in den Blick geraten, die wir mit dem Wachsen der digitalen Öffentlichkeiten
womöglich gerade erleben. Jürgen Habermas lotet im Spätwerk auch die Bedingun-
gen einer europäischen und einer Weltverfassung aus (Habermas 2005), zählt dabei
aber vor allem auf die Bindungswirkungen ihrer Rechtsform (ebd., S. 231 ff.). Zum
anderen kann die Gefährdung der Öffentlichkeit von Seiten des medialen Systems
und seiner etablierten Organisationen zum Thema werden. Während Habermas
die Kolonialisierung der Medien durch politisches Establishment beklagt, kritisiert
Kurt Imhof die Kolonialisierung des Politischen durch die Medien.
jener Gesetze und Institutionen betrachten können, denen sie sich selbst unter-
werfen. […] In dieser Öffentlichkeit, und nur in dieser, ist das, was wir im po-
litischen Sinne Gesellschaft nennen, beobacht- und qua Intervention gestaltbar“
(Imhof 2003, S. 401). Imhof diagnostiziert unter anderem aufgrund der Beschleu-
nigung medialer Berichterstattung und nachlassender Professionalisierung eine
Veränderung politischer Selektions- und Interpretationslogiken. Aus Sorge um
die deliberativen Potentiale der Öffentlichkeit kommt Imhof zu einer Krisendia-
gnose der Informationsgesellschaft, die sich empirisch bszw. am „Gratisjournalis-
mus“ im Internet ablesen lasse. „Demokratische Gesellschaften brauchen Gene-
ral-Interest-Medien, die sich wechselseitig beobachten. Ihre Vermittlungsleistun-
gen sorgen für eine permanente Agendabildung der Probleme sozialer Ordnung
bzw. gesellschaftsweiter Aufmerksamkeit. Nur dadurch lässt sich Koorientierung
auf relevante Themen erzeugen. Themenzentrierte Blogs und Special-Interest-
Publikationen können diese Koorientierung nicht leisten, sie erfüllen weder die
demokratienotwenige Forums- noch die Kritik- und Kontrollfunktion und schon
gar nicht die Integrationsfunktion. Die Blogs und Special-Interest-Publikationen
haben einen ergänzenden und vertiefenden Charakter, sie bilden keine öffentliche
Arena wechselseitiger Beobachtung.“8 Hinweise auf den „neuen“ Strukturwandel
sind, so Imhof, die Entstehung medienorientierter Sozialer Bewegungen in den
1990er Jahren, Erosion der Parteipresse und Zunahme medienpolitischer Logiken,
Skandalisierung und Personalisierung als Indikator eines neuen Strukturwandels:
„Die Personalisierung des Politischen findet hingegen im Fernsehen ihr wichtigs-
tes Medium: Politikdarstellung gleicht sich strukturell der Unterhaltung an, und
politische Argumente werden durch Charakterdarstellungen im privaten Lebens-
raum und medienattraktive Konfliktinszenierungen ergänzt. […] Damit manifes-
tiert sich im diachronen Vergleich ein Wandel in der medialen Kreation von Pro-
minenz. Die Darstellung von Vertretern des politischen Personals gleicht sich der
Darstellung der Gesellschaftsprominenz an: Neben dem Machtstatus entscheidet
die telegene Inszenierung privater Lebensstile und Selbstdarstellungskompetenzen
über mediale Resonanz“ (Imhof 2003, S. 405). Auch in der Politik entstehe also
ein „Starsystem“ und die Kommunikation von Gruppenpositionen nehme dadurch
ab (vgl. ebd.). Politische Positionen würden immer mehr auf Individuen denn auf
Verbände und Parteien zugerechnet. Zwar weist Imhof selbst auf die Notwendigkeit
solcher „neuer“ Formen der Politikvermittlung hin und beschreibt sie als „notwen-
dige Komplexitätsreduktion“, jedoch als nur soziale und nicht sachliche, nämlich
als Entscheidung über die Form „Sympathie oder Antipathie“ (ebd., S. 406). Auch
8
Zitat entnommen aus: http://carta.info/33311/kurt-imhof-interview-online-journalismus/
Zugegriffen: 18.9.2012.
184 J. Siri
Imhof geht also davon aus, dass rationale politische Auseinandersetzungen im Sin-
ne Habermas’ nötig und schützenswert sind und hält die ‚emotionale‘ Ansprache
über Charisma und das ,Politainment‘ für eine mangelhafte Form des Politischen
(ebd.). Alleine die Schuld am Zustand der Demokratie wird unterschiedlich zuge-
rechnet. Für Habermas haften die etablierten politischen Akteure, für Imhof die
Medienmacher. Beide Autoren wünschen sich sachliche Auseinandersetzungen.
Habermas lokalisiert jene aber in der deliberativen Öffentlichkeit, während Imhof
die Leistung von Organisationen hervorhebt. Aus einer differenzierungstheore-
tischen Perspektive sind beide Theoretiker spannend, weil sie die Pluralisierung
politischer Publika in der Moderne thematisieren und damit den Finger in eine
offene Wunde politischer Organisation und Repräsentation legen: Demokratische
Politik hat die paradoxe Aufgabenbeschreibung, die ganze Gesellschaft zu steuern
und zu integrieren, kann dies aber angesichts der funktionalen Differenzierung der
Gesellschaft gar nicht leisten, weil konkurrierende Systemlogiken große Bereiche
der Gesellschaft steuern. In der Konsequenz sind massenmediale Symbolisierun-
gen die Regel und Krisendiagnosen und Kritik an diesem Vorgehen die Folge.
Armin Nassehi beschreibt mit seinem Arenamodell der Gesellschaft dieselbe Sym-
ptomatik. „Es scheint eine Basiserfahrung der gesellschaftlichen Moderne zu sein,
dass sie es mit auseinander strebenden Momenten zu tun hat, und zwar mit einem
Auseinanderstreben, das keineswegs wechselseitige Independenz erzeugt, sondern
das krasse Gegenteil: radikale Interdependenz der Teile, die nicht aufgrund ihrer
Ähnlichkeit, sondern aufgrund ihrer Verschiedenheit abhängig voneinander sind.“
(Nassehi 2006, S. 328 f.) Integration wird eben in dem Moment zum soziologischen
Gegenstand, da sie nicht selbstverständlich ist und der Begriff der „Gesellschaft“
zum Sammel- und Zielbegriff (ebd., S. 329 f.). Mit dem „Referenten Gesellschaft“
entstehe ein „Horizont, in dem ein analytisches und normatives Muster, man könn-
te sagen: ein präskriptiver Idealtypus gelungener Gesellschaftlichkeit erscheint,
den solche Gesellschaften dann an sich wahrgenommen haben.“ (ebd., S. 331) Da
Nassehi die Ausdifferenzierung der Gesellschaft zum Ausgangspunkt für die Er-
findung des Subjekts und den Wunsch nach rationaler Diskussion und Integration
macht, formuliert er anders als Habermas und Imhof weder ein grundsätzliches
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 185
9
Vgl. für eine ausführliche Ausarbeitung dieses Gedankens, die hier nicht geleistet werden
kann Siri 2012, Kap. 6.2, 8.2, 9.2.
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 187
Die Selbstdarstellung politisch Tätiger muss sich also anschlussfähig für Projektio-
nen eines unbekannten Publikums und medialer Organisationen halten, Kriterien
für Erfolg sind dabei auch durch gute PR nicht kontrollierbar (vgl. Hitzler 1994).
Dabei spielt die Vermittlung von Authentizität über den Umweg medialer Techno-
188 J. Siri
10
Sendung vom 18.2.2010, Transkript abrufbar unter: www.rbb-online.de/…/thomas_steg.
listall.on.printView.on.html. Zugegriffen: 1.4.2010.
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 189
Zum Einstieg in die konkrete Betrachtung von Skandalfällen bietet sich ein amü-
santes Beispiel aus dem Rheinland der 1990er Jahre an: Im schönen Köln hatten
zwei um ein Amt rivalisierende CDU-Funktionäre schriftlich vereinbart, eine ge-
meinsame Liste abzustimmen. „Dieser Vertrag wurde ausnahmsweise bekannt,
weil einer der Führer die Abmachungen verletzte“, schreibt Uwe Koch, dem wir
dieses Beispiel verdanken (Koch 1994, S. 131). Zum Skandal wird, dass zwei ri-
valisierende Politiker das Verfahren durch eine Absprache der Inszenierung des
Kampfes beschädigen. Statt ‚wirklich‘ gegeneinander anzutreten, sprechen sie das
Ergebnis ihres fingierten Machtkampfes ab – und beschädigen damit aus Sicht der
getäuschten Mitglieder und der Öffentlichkeit den Wahlakt, den demokratischen
Konflikt und seine Entscheidung. Die Verschriftlichung der Abmachung – also die
Simulierung eines Vertragscharakters des Illegalen – verdoppelt die Moralisierbarkeit
des Vorgangs. Die Beteiligten nehmen das demokratische Verfahren (und ihre je-
weiligen Mitstreiter) nicht nur nicht ernst, sie ersetzen das Verfahren ausgerechnet
durch die Aufsetzung einer schriftlichen, also quasi zivilrechtlichen Regulierung.
Dieses Beispiel ist auch aufgrund der juristischen Dimension des Normverstoßes
so eindeutig, dass es wenig Erklärung oder Interpretation bedarf. In anderen Fällen
ist die Frage, ob es sich um einen veritablen Skandal handelt und wie er auszuge-
hen mag, nicht so einfach zu beantworten. Bevor ich zum zweiten Beispiel komme,
bleibt festzuhalten: Wenn das politische Handeln und das private Verhalten laut der
innerorganisationalen oder medialen Beobachtung nicht in eins greifen, beschädigt
das Politiker nicht moralisch oder menschlich, sondern politisch (vgl. Eppler 2000,
S. 26 ff.). Medial erzeugt die kontrastierende Darstellung von gespeicherten Sätzen
der Politiker und faktisch anderen Verhaltens eine Nachricht mit hohem Informa-
tionswert. Deshalb ist der Umgang von (Spitzen-)Politikern, (denn vor allem diese
stehen unter professioneller medialer Beobachtung) mit Social Media wie Face-
book und Twitter oft sehr vorsichtig. Und aus demselben Grunde bietet es sich in
politischen Kämpfen an, auf das inkonsistente Verhalten des politischen Gegners
zu verweisen. Mediale Kampagnen der politischen Gegner greifen scheinbar wi-
dersprüchliche Selbstdarstellungen auf oder versuchen, Eindrücke von Inkonsis-
tenz, Widersprüchlichkeit oder auch Bigotterie erst zu erzeugen. Dabei ist nie klar,
wie ein Skandal ausgehen wird, wie das folgende Beispiel zeigt.
blika hält. Im Skandal werden die Inszenierungsmuster ‚geprüft‘, hier vermag eine
bisher funktionale Darstellung zu kippen. Die Skandalisierung legt es darauf an,
eine Selbstdarstellung zu dekonstruieren.11 Damit komme ich zum zweiten Bei-
spiel. Im Sommer 2010 wurde in deutschen Tages- und Wochenzeitungen darü-
ber geschrieben, dass der damalige Parteivorsitzende der Partei Die LINKE, Klaus
Ernst, eine Berghütte gepachtet habe und einen Porsche fahre. In verschiedenen
Zeitungen diskutierten die Medienvertreter, ob das Porschefahren und die gemie-
tete Berghütte Anzeichen eines dekadenten Lebensstils seien und wenn ja, ob dies
bedeute, dass Klaus Ernst sich als Vorsitzender einer linken Partei unglaubwürdig
mache. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, dass kritische Kreise in Ernsts Partei
dieses Thema erst als Thema der Berichterstattung lancierten, die aber womöglich
anders ablief, als von den Skandalisierenden intendiert. So diskutiert die Süddeut-
sche Zeitung vom 13. August 2010, ob die Debatte über den Lebensstil des Linken-
Chefs denn ehrlich geführt werde: „Mein Haus, mein Porsche, mein Problem“ titelt
die Zeitung. Der Artikel beschreibt Ernst als einen, der sich durchgebissen habe:
„Wer mit 15 Jahren daheim auszieht, weil er es mit dem prügelnden Stiefvater
nicht aushält, muss zäh sein, stark und ehrgeizig. So einer will nicht bis zur Rente
als Elektromechaniker in einer Firma für Messtechnik arbeiten. 1979 geht Ernst
nach Hamburg, studiert Volkswirtschaft und Sozialökonomie“ (Ritzer 2010, SZ Nr.
185 vom 13.8.2010, S. 5).
Die Referenz auf den Lebenslauf Ernsts, der sich durchgebissen habe, wird ge-
gen den Vorwurf der Dekadenz abgewogen. Dann wird die Gewerkschaftskarriere
des Linken-Chefs beschrieben. „Er ist ein Genie darin, sich Feinde zu machen“,
wird ein Weggefährte zitiert. Ernst sei ein poltriger und polarisierender Charakter
(ebd.). Das Verhalten Ernsts wird als authentisch und mit dem Lebenslauf dessen,
der sich hochgearbeitet habe, konsistent beurteilt. Folgerichtig formuliert der Arti-
kel abschließend eine Kritik an den Motiven der Kritiker:
„Die Kritik vieler Genossen an seinem Lebensstil ist Folge all dessen, aber auch
verlogen. Schließlich lebt der linke Säulenheilige Oskar Lafontaine bis heute auf viel
protzigerem Fuß als Ernst, ohne dass sich ein Linker daran stört. Ernsts Ko-Partei-
chefin Gesine Lötzsch kommt momentan auch deshalb so gut weg in der Partei,
weil sie demonstrativ in einem Plattenbau in Berlin-Lichtenberg wohnt. Klaus Ernst
käme es nie in den Sinn, in einen Plattenbau zu ziehen. Dann schon lieber in eine
Berghütte.“ (ebd., Hervorhebungen durch Verf.)
Die moralische Bewertung wird gegen die Kritiker selbst in Stellung gebracht,
indem deren Zielsetzung durch einen Vergleich der Ungleichbehandlung mit Os-
11
Vgl. für den Fall Guttenberg den Band von Oliver Lepsius und Reinhart Mayer-Kalkus
(2011).
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 191
kar Lafontaine hinterfragt werden. Die Authentizität12 Ernsts, welche sich eben
auch durch Porschefahren und Berghütten-Pachten Ausdruck verleihe, wird dem
„demonstrativen“ Wohnen im Plattenbau im Berliner Osten als einer möglicher-
weise guten PR-Strategie vorgezogen. Statt einem PR-Desaster erlebte Klaus Ernst
also hier eine sehr freundliche Bewertung seiner Karriere als Mann „aus kleinen
Verhältnissen“, der sich hochgearbeitet habe und legitimer Weise der selbstgewähl-
ten Armut akademischer Linker, so das antagonistische Stereotyp, wenig abgewin-
nen könne. Dieses Motiv des „kleinen Mannes“ hatte bereits die Berichterstattung
über den ehemaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder aufgenommen. In diesem
Fall erleichterte es den Umgang mit ‚PR-Problemen‘ wie antifeministischen Äu-
ßerungen („Gedöns“) und maßgeschneiderten, sehr teuren Anzügen. In diesem
Zusammenhang macht die Berichterstattung über den SPD-Kanzlerkandidaten
Peer Steinbrück zu Beginn des Jahres 2013 gleichermaßen deutlich, dass es bei
Skandalen eben nicht nur ‚um die Sache‘ geht, sondern in der Personalisierung des
Skandals die Wirkung der Person, dessen soziale Herkunft und Habitus und der
Umgang mit dem Skandal zählt. Peer Steinbrücks eher ‚harmlose‘ Äußerung über
seine Preisvorstellungen für guten Weißwein wirkten sich bspw. medial sehr viel
negativer aus als das eben bereits erwähnte ‚Gedöns‘.
12
Zur Begriffsgeschichte der „Authentizität“ vgl. Wörterbuch Ästhetische Grundbegriffe
von Barck et al. 2004, S. 44–65. In diesem Text wird Authentizität nicht als Wahrheitsbegriff
gefasst, sondern als ein Effekt der Kommunikation. Authentizität wird dann beobachtbar,
wenn z. B. Journalisten eine Person daraufhin prüfen, ob diese sich authentisch darstellen.
Authentizität ist eine Chiffre, anhand derer Individuen sich selbst und andere beobachten.
Zu den Folgen der Authentizitätspraxen für Subjekt- und Körperpraxen vgl. Foucault (1987),
Villa (2006) und Bublitz (2010), in diesem Band vergleiche außerdem für eine Untersuchung
von Praktiken der Authentizität den Text von Saake und Kunz (Kaptiel „Von Kommunikation
über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“. Symmetrisierungsprozesse in diskursiven Verfah-
ren“).
192 J. Siri
ser Kopplung von Politik und Massenmedien an, sie kritisiert Personalisierung
und ‚Amerikanisierung‘ als Verfall demokratischer Kultur. Dieselbe Kopplung be-
grenzt, hierauf weisen die Verfallsdiagnosen nicht hin, jedoch auch die Macht stän-
discher Traditionen und Organisationen. Abseits von Pathologisierungen geht es
mir nun darum, den Effekt politischer Skandale nicht nur negativ zu beschreiben,
sondern ihre positive(n) Funktion(en) zu betrachten. Auch wenn wir nicht davon
ausgehen können, dass im Skandal verbindliche und gefestigte normative Werte
einer ‚Gesamtgesellschaft‘ verteidigt werden, haben wir es also nicht ‚nur‘ mit un-
spezifischen, soziologisch irrelevanten Medienereignissen zu tun, sondern es lohnt
sich, aus ganz unterschiedlichen Perspektiven auf Skandale zu schauen.
Praxis selbst kein Problem darstellt, Einhalt gebietet. Skandale ermöglichen es der
Politik, sich selbst mit den Blicken der Umwelt zu sehen und tragen so durchaus zur
Lösung eines politischen Problems moderner Massendemokratien bei: nämlich der
ständigen Symbolisierung einer Verbundenheit von Regierenden und Regierten.
Und nochmals anders stellt sich die Funktion des Skandals für Organisationen
dar. Luhmann weist uns darauf hin, dass in der modernen Gesellschaft vor allem
„Organisationen mit Organisationen“ kommunizieren, so auch in den Massenme-
dien (Luhmann 2009, S. 51). Da Organisation das Gegenteil von dem sei, was ein
„Nachrichtenwert“ bedeute, brächten die Massenmedien nicht nur Varianz, son-
dern auch Struktur und Änderungsresistenz in die Gesellschaft ein: Zum Beispiel
durch das Präsenthalten der Bilder von Personen und deren Charakterbeschrei-
bung (ebd.). Skandale ermöglichen den Austausch oder die Neudefinition von Per-
sonen, deren Anblick das Publikum ermüdet und über die man nicht mehr viel zu
schreiben weiß. Aus Sicht der politischen Organisation, zum Beispiel einer Partei
oder einem Ministerium, ist ein Skandal außerdem dazu geeignet, sich durch die
Opferung eines ‚Haupttäters‘ zu entlasten, wenn Strukturen nur schwer zu ändern
sind. Aber auch Reformen – zum Beispiel in der Art und Weise, wie Ämter be-
setzt werden oder durch das Austauschen ganzer Gruppen von Personen oder die
Änderung wichtiger Programme werden möglich. Man denke an die schwarzen
Kassen der CDU, das Ende der Karriere Helmut Kohls und die Umbrüche in der
CDU-Programmatik und Organisationskultur mit Angela Merkels Vorsitz. Das
Überleben eines Skandals wiederum macht Politikerinnen und Politiker durchaus
attraktiv für Organisation und Teile des Publikums: Es werden ‚Nehmerqualitäten‘
diagnostiziert und – man denke an Wolfgang Schäuble – fast mythische Überle-
bensgeschichten erzählt.
Auf Kosten des Skandalisierten können sich nicht nur einzelne politische Or-
ganisationen reformieren, sondern es können vielmehr alle adressierten Funk-
tionssysteme über ihre Organisationen am Skandal andocken, um an ihrer Selbst-
beschreibung zu arbeiten und Werte zu reflektieren und zu re-aktualisieren. So
brachte beispielsweise der Skandal um die Dissertation des ehem. Ministers zu
Guttenberg wissenschaftliche Organisationen dazu, neue Leitlinien für den Um-
gang mit Doktorandinnen und Doktoranden zu entwerfen. Der Skandal um Gut-
tenberg hatte aber auch Reflexionen über journalistischen Ethos zur Folge. Selbst-
kritisch reflektierten Journalisten darüber, wie ein dem Skandal vorangegangener
Guttenberg-Hype eigentlich zustande gekommen war. Aufgrund dieser speziellen
Engführung unterschiedlicher funktionssystemischer Reflexionsmodi in der Skandal-
kommunikation vermochte der flapsige Hinweis Kanzlerin Merkels, sie habe keinen
wissenschaftlichen Mitarbeiter, sondern einen Minister eingestellt, den Skandal
um das Plagiat auch nicht zu beenden, sondern befeuerte ihn und wurde selbst zu
einem kleinen Skandal des Kanzleramts (vgl. Gehring 2011).
194 J. Siri
Skandalöse Funktionalität
Im Anschluss an Armin Nassehi und Ronald Hitzler habe ich zuvor den Gedanken
entwickelt, dass der sprichwörtliche Fall einer politischen Person im Skandal nichts
Verwunderliches sei. Die Anforderung an Politiker, stets ganz unterschiedliche
Kollektivitäten zu balancieren und zu re-aktualisieren, können auf individueller
Ebene eigentlich nur ein Scheitern nach sich ziehen. Der Skandalfall bezeichnet die
Normalität des Scheiterns einer Inszenierung als ‚everybody’s Darling‘. Unter dem
Brennglas der etablierten Massenmedien und angesichts der Emergenz digitaler
Medien ist eine fehlerfreie Inszenierung nicht zu leisten. Allerdings wird durch die
mediale Inszenierung des Skandals durchaus der Eindruck der Besonderheit und
Einzigartigkeit eines Vorfalls erweckt und damit davon abgelenkt, wie wahrschein-
lich das Scheitern ist. Dies stabilisiert gleichsam die Darstellungsformen der Demo-
kratie. Aktuelle Kritiken an der Skandalempfindlichkeit von Twitter oder Facebook
thematisieren deshalb, dass die Skandalisierung in diesen Medien zu schnell erfol-
ge. Sie thematisieren die Sorge, dass durch ‚Alarmismus‘ die Stabilisierungsfunk-
tion von Skandalkommunikation überbeansprucht werde. Diese Sorge ist verständ-
lich. Zahlreiche Forschungen der letzten Jahrzehnte haben allerdings gezeigt, dass
es noch nie klar war, wann ein Skandal entsteht – und wann nicht. Es gibt hierfür
keine eindeutigen, sachlichen Kriterien (vgl. Imhof 2002; Thompson 2000; Beule
und Hondrich 1990). Skandale sind Kontingenzmaschinen, nicht nur in der Emp-
findung der Skandalisierten, sondern weil der Skandal quer zu den Logiken liegt,
in denen die moderne Gesellschaft sich ihrer Selbst vergewissert. Weder Personen
und ihre Selbstbeschreibungen, noch Organisationen, noch Funktionssysteme ver-
mögen Skandale einfach zu durchschauen oder ihren Fortgang zu prognostizieren.
Aus differenzierungstheoretischer Perspektive ist der politische Skandal gleichsam
ein Effekt funktionaler Differenzierung, ein Effekt der Gleichzeitigkeit der Abhän-
gigkeit und Unabhängigkeit der Funktionssysteme voneinander (vgl. Nassehi 2004,
S. 28). Zwar gibt es seit der Antike historische Beispiele für politische Skandale und
deren Verbindung mit Herrschaftskritik (vgl. z. B. Schuller 1989; Münkler 1989),
aber erst in der modernen Demokratie entfalten Skandale ihre Eigendynamik voll-
ends. Nur in einer differenzierten, pluralistischen Gesellschaft, die kein Zentrum
für sich benennen kann und keinen Ort, der die Selbstbeschreibung der ganzen
Gesellschaft liefern könnte, werden politische Skandale zu eigendynamischen,
Systemgrenzen übergreifenden Ereignissen und damit aus ganz unterschiedlichen
Gründen und für ganz unterschiedliche gesellschaftliche Einheiten nützlich.
Die Amoralität der Politik und die Moralität ihrer Skandale 195
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Teil III
Die Ethisierung der Moral
Von Kommunikation über Ethik
zu „ethischer Sensibilisierung“.
Symmetrisierungsprozesse
in diskursiven Verfahren
Es handelt sich bei diesem Text um einen Wiederabdruck des gleichnamigen Textes in der
Zeitschrift für Soziologie aus dem Jahre 2006 (Jg. 35, Heft 1, S. 41–56).
I. Saake ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
E-Mail: Saake@soziologie.uni-muenchen.de
D. Kunz
Institut für Soziologie der LMU, München, Deutschland
E-Mail: doek@gmx.ch
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik – Normen – Werte, Studien zu einer 199
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_9,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
200 I. Saake und D. Kunz
man sich auf die ‚Währung‘ der Ethik, die Argumente, dann findet sich im Haber-
masschen Programm der Diskursethik ein zusätzlicher Hinweis darauf, wie sich
aus soziologischer Perspektive die Idee einer systematischen Begründbarkeit ent-
faltet. Systematisch ist sie, insofern sie die Kohärenz der Begründungen zum Maß-
stab macht. Ob die Teilnehmer eines ethischen Diskurses wollen oder nicht, unter
der Bedingung von Teilnahme entsteht, was Habermas kommunikatives Handeln
nennt, und die Lösung bestünde nun – der Universalisierungsregel entsprechend
– darin, möglichst viele in diese Form von diskursethischer „Anwesenheit“ zu brin-
gen. Eine zunehmende Anzahl von Ethikkommissionen, Ethikkomitees und Ethik-
räten spricht für die Plausibilität dieser Annahme.
Mit Habermas ließe sich also an dieser Stelle von der „Produktivkraft Kommu-
nikation“ (Habermas 1990, S. 36) sprechen, mit deren Hilfe sich solidarische Struk-
turen – gegen Systemimperative – durchsetzen. Resultat ist die Unvermeidlichkeit
einer Zunahme von ethisch-politischen Diskursen, in deren Verlauf kulturelle
Muster und Fragen der persönlichen Lebensführung zunehmend auf Selbstver-
ständigungsdiskurse umgestellt werden. „Ein Pluralismus von Lesarten grundsätz-
lich ambivalenter Überlieferungen gibt immer wieder Anlass zu Selbstverständi-
gungsdiskussionen, die deutlich machen, dass den streitenden Parteien zugemutet
wird, bewusst zu entscheiden, aus welchen Kontinuitäten sie leben, welche Tradi-
tion sie abbrechen oder fortsetzen wollen. Und in dem Maße, wie sich kollektive
Identitäten nur noch in der zerbrechlichen, dynamischen und zerfaserten Gestalt
eines solchen dezentrierten öffentlichen Bewusstseins ausbilden können, werden
ethisch-politische Diskurse, die in die Tiefe reichen, sowohl möglich wie unver-
meidlich“ (Habermas 1997, S. 126).
Es ist nur folgerichtig, entsprechend eine Abnahme von Anwesenheitskontexten
zu bedauern und stattdessen eine Zunahme an partizipatorischen Verfahren zu for-
dern (vgl. Bora 1999, S. 52). An dieser Stelle schließen sich die Untersuchungen von
Wolfgang van den Daele zur Funktionsweise partizipatorischer Verfahren an. Seine
Theorie der Deliberation, die von hypothetischen Anwesenheitskontexten auf reale
Anwesenheitskontexte umstellt, gründet auf drei Prämissen:
1. „Denn gute Gründe sind solche, die einer vorurteilsfreien Prüfung im Lichte
aller verfügbaren Einwände und Kritiken (also einem Diskurs) standhalten“
(van den Daele 1999, S. 323).
2. „Lernleistungen sind eher von Diskursverfahren zu erwarten, die Interaktion
unter Anwesenden herstellen“ (van den Daele 1999, S. 324).
3. Diskurse funktionieren im Sinne der Partizipation besser als massenmediale
Öffentlichkeit. Aber diese Diskurse werden dann zu „argumentativen Inseln im
Meer einer öffentlichen Kontroverse“ (van den Daele 1999, S. 324).
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 201
Auf der Grundlage dieser Diagnose ergibt sich zunächst eine skeptische Einschät-
zung dessen, was eine Zunahme partizipativer Verfahren leisten kann. Einbezogen
sind dann immer nur diejenigen, die gerade einbezogen sind, aber drumherum
regieren die Massenmedien und verhindern Lernleistungen. Es ergibt sich inter-
essanterweise aus diesen Untersuchungen aber auch eine skeptische Einschätzung
zum Umgang mit jenen neuen (Gen-)Technologien, die in der öffentlichen Kritik
stehen. Das Diskursverfahren ermöglicht zwar eine Befreiung der Diskussion von
nur moralischen Annahmen, aber es legt – folgt man van den Daele – auch die
Grenzen wissenschaftlicher Argumentation frei. In der Konfrontation mit Ökolo-
gen, die die immer richtigen Fragen nach den Folgen stellen können, finden die
Naturwissenschaftler keine wahren Antworten. Van den Daele nennt diese Fragen
„transscientific“ und zeichnet überzeugend nach, wie sich aus diesen unbeantwort-
baren Fragen nur politische Antworten „of how to deal with uncertainty“ (van den
Daele 1999, S. 70) ergeben.
In der vorliegenden Untersuchung zu medizin-ethischen Fallbesprechungen
wird nun die Frage nach der Funktionsweise von ethischen Diskursen, partizipa-
tiven Veranstaltungen und guten Gründen noch konkreter als bei van den Daele
gestellt. In dieser Studie zu ethischen Fallbesprechungen in Krankenhäusern geht
es grundsätzlich nur um medizinische Fragen und es sind nur Experten versam-
melt. Auf diese Weise ist die Forschungssituation maximal qua Thema und qua
Teilnehmer auf die Produktion guter Gründe festgelegt. Die Erwartung erscheint
plausibel, dass funktionierende Fallbesprechungen die Legitimität ihrer Entschei-
dungen mittels guter Gründe sichern und dass sie auch daraufhin beforscht werden
können. Exakt diese Erwartungen wurden aber in der vorliegenden Fallstudie zu
Kommunikation in ethischen Fallbesprechungen enttäuscht.
Im Mittelpunkt unserer Untersuchung stehen Interviews mit Teilnehmern ethi-
scher Fallbesprechungen. Dabei wurden – im Rahmen einer Lizentiatsarbeit – zehn
Experteninterviews durchgeführt, transkribiert und mit den Methoden der system-
theoretischen Hermeneutik (vgl. Kneer und Nassehi 1991; Nassehi und Saake 2002;
Saake 2003, 2004) ausgewertet. Das Systemtheoretische dieser Methodik besteht
in dem Interesse an Kommunikation als Anschlussoperation, nicht an Sprache als
Verständigungsmechanismus. Folgerichtig beschränken sich unsere hermeneu-
tischen Interpretationsleistungen auf die Untersuchung von sozialen Adressen
(Fuchs 1994) und möglichen Themen, die als Resultat von selbstreferentiellen Me-
chanismen der Strukturbildung begriffen werden. Welches Bild eines möglichen
„Sprechers“ schält sich eigentlich in einer solchen Interaktionssituation heraus?
Welche anderen Sprecher – Experten? Patienten? Menschen? – werden darüber hi-
naus für möglich gehalten? Der Blick auf diese Konstruktionsleistungen ermöglicht
einen Einblick in sozialstrukturelle Voraussetzungen einer Interaktionssituation,
202 I. Saake und D. Kunz
I: Ist das denn eine ganz spezielle Art von Argumentation, die man da geltend machen
kann?
Pflegefachkraft: [Keine Antwort] (B210)
I: Ich kann mir vorstellen, dass es Gründe geben kann, die man dann gar nicht zählen
lassen kann? Oder gibt’s das nicht?
Pflegefachkraft: Nein, das gibt es eigentlich nicht. Also, wenn da nun jemand käme
und einfach sagte, überhaupt sollte man bei diesen Kindern gar nichts machen. Aber
solche haben wir nicht. (B278)
Es fällt den Interviewten offenbar schwer, das zu benennen, was typischerweise als
guter Grund gilt. An dieser Stelle kann man noch einwenden, dass man vielleicht
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 203
falsch gefragt hat oder den falschen Interviewpartner gefunden hat. Aber auch
dann bleibt doch der Eindruck, dass die Frage nach den Argumenten und Grün-
den nicht sofort als plausible Frage von den Interviewpartnern verstanden wird. Im
Folgenden wird zu zeigen sein: In ethischen Fallbesprechungen wird zwar argumen-
tiert; das, was sich aber in den Interviews beobachten lässt, scheint sich jedoch wider
Erwarten zunächst nicht über „gute Gründe“ zu erschließen. Beispielhaft die Worte
einer Krankenhausseelsorgerin:
Es ist oft, wenn man sich an dieses Verfahren hält, und deshalb finde ich es auch
so überzeugend, dann ist es einsichtig, dass man die Dialysepatientin nicht zwingen
kann. Das weiß man vielleicht auch vorher, wenn man zum Thema Autonomie arbei-
tet. Aber nachher weiß man es nochmals mit einer anderen Begründung. (C209)
der auf das klassische Ethikkomitee (vgl. Lilje 1995), auf das Ethik-Forum, wie es von der
Trägerschaft Dialog-Ethik initiiert und betreut wird (vgl. Medizin-ethischer Arbeitskreis
Neonatologie des Universitätsspitals Zürich 2002) oder auf das Klinische Ethikkonsil (vgl.
Reiter-Theil 1999). Unsere Untersuchung hat mit dem Modell interdisziplinärer Urteilsfin-
dung der Neonatologie auch Fallbesprechungen miteinbezogen, welche von Stationsteams
durchgeführt werden und deren Beschlüsse unmittelbar therapierelevant sind. Es spielt für
die vorliegende Darstellung aber keine Rolle, ob die Entscheidung in der Praxis bereits gefasst
wurde und sich die Fallbesprechung also retrospektiv mit einem Fall beschäftigt, oder ob dies
prospektiv geschieht, denn die Vergleichbarkeit der Aussagen wird durch die Fokussierung
auf die praktische Diskursivität gewährleistet.
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 205
Anhand dieser drei Kategorien, so die hier vertretene These, lässt sich darstellen,
inwiefern ethischen Fallbesprechungen diskursiv gelingt, was dem autonom ent-
scheidenden Arzt zunehmend verwehrt bleibt: die Legitimation medizinischer
Entscheidungen.
Nicht von konkreten oder typischen Gründen sprachen die Experten in den Inter-
views, sondern lieber davon, was aus ihrer Sicht eine richtige Fallbesprechung ist,
und was es dazu für Voraussetzungen zu erfüllen gilt. Im Folgenden soll deutlich
werden, wie sich diese Voraussetzungen als normative Verhaltensanforderungen
plausibel erzählen ließen. An prominenter Stelle rangiert dabei das Bild einer em-
pirisch funktionierenden, quasi „herrschaftsfreien“ Diskussion, in der es keine Hie-
rarchien gibt.
Pflegefachkraft: Da sehe ich eben eine absolute Gleichstellung. Also ich denke, wenn
jemand nicht wüsste, in welcher hierarchischen Position man ist, würde man das
nicht bemerken. Muss ich also sagen. (D215)
Gerne wird hervorgehoben, dass man einander zuhört, gerade auch dann, wenn
Nicht-Mediziner Voten einbringen. Man akzeptiert einander also unabhängig von
Position, Berufsdisziplin oder Erfahrung.
Pflegefachkraft: Sonst ist es absolut nicht schwer in diesem Forum. Ich habe das erlebt.
Wir haben immer wieder Leute, die die Institution verlassen, und Neue, die kommen.
Das ist nie ein Problem. Ja, wenn sie sich äußern, dann sind sie drin und werden akzep-
tiert von Anfang an. Das ist völlig egal, aus welcher Richtung sie kommen. (D251)
Die gute Diskussion zeichnet sich weiter dadurch aus, dass man nicht einfach etwas
behauptet, sondern Gründe angibt.
Ethiker: Es sind einfach gute Diskussionen. Das läuft insofern gut, als es sehr sach-
liche Gespräche sind. Man tauscht die Gründe aus und sucht letztlich eine begründete
Annahme darüber, was zu tun ist. Das Entscheidende ist ja, man muss eine begründete
Antwort haben, die man dieser Person [dem Patienten, d.A.] auch erzählen kann.
(K166)
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 207
Die Diskussionen fordern von den Teilnehmern gutes bzw. diszipliniertes Verhal-
ten, ansonsten wäre die ethische Fallbesprechung gar nicht als solche erkennbar.
Pflegefachkraft: Man muss sich immer wieder disziplinieren, dass man diese Schritte2
in einem Fall ganz konkret durchdiskutiert, nicht dass man ins Uferlose hüpft. Ich
bin nicht immer ganz zufrieden, wie es läuft. Muss ich ehrlich sagen. Denn um das
immer wieder zu disziplinieren, also die Moderatorin versucht schon immer wieder,
halt, was heißt das? Also anhand dieser sieben Schritte. Nicht dass es einfach eine wilde
Diskussion über ein verrücktes Thema ist. (D66)
Obwohl die Diskussionen nicht zu „wild“ sein dürfen und man sich diszipliniert
zeigen muss, soll aber trotzdem alles ausgesprochen werden können.
Ethiker: Dass nichts unausgesprochen bleibt, dass man wirklich auch sagen kann: Du
bist kaltherzig, du denkst nur mit dem Kopf. Dass man Sachen einfach aussprechen
darf. Dass alles wirklich ausgesprochen wird und nicht so in sich hineingefressen wird.
(K215)
Pflegefachkraft: Man muss sich z. T. fast wehren, dass man wieder zu Wort kommt.
Es ist eine lebhafte, sehr lebhafte Diskussion. Das habe ich eigentlich jedes Mal erlebt.
[…] Und man kann wirklich reden, wie einem der Schnabel gewachsen ist, das muss ich
also sagen. Und es wird einem zugehört, das spürt man. Man kann ausreden, es wird
einem zugehört, es wird reagiert auf das, was man gesagt hat. (D172)
Eine gute Diskussion zeichnet sich demnach dadurch aus, dass es keine Hierar-
chien gibt, jeder akzeptiert wird, man sich zuhört, Gründe angibt, sich diszipliniert
zeigt und alles sagt bzw. sagen kann. Das gleiche Bild entsteht auch, wenn die Rede
davon ist, wie es eben nicht laufen sollte. Persönliche Angriffe z. B. will man ver-
meiden:
I: Was heißt das dann für die Diskussion, wenn es emotional wird?
Arzt: Also das ist dann die Aufgabe des Moderators. Emotionen sind nicht schlecht
per se. Aber es darf dann nicht irgendwie, Schlechtmacherei, eben dass man einander
dann an den Karren fährt, das geht effektiv nur um das Kind und darum, Handlungs-
vorschläge zu diesem Kind zu diskutieren. Nicht irgendwie, dass es dann persönlich
würde, oder dass man jemand quasi als schlecht darstellte, wenn er jetzt etwas so vor-
schlägt. Rein einfach nüchterne Vorschläge argumentativ anzugehen und zu werten.
(H280)
2
Der Interviewte verweist hier auf einen Gesprächsleitfaden, welcher in Fallbesprechungen
des Modells „Ethik-Forum“ zur Anwendung kommt. Dieser Gesprächsleitfaden sichert an-
hand von sieben Verfahrensschritten die Vollständigkeit des Verfahrens. Zusätzlich wird hier
deutlich, dass ethische Fallbesprechungen in der Praxis in unterschiedlichen organisatori-
schen Zusammenhängen praktiziert werden.
208 I. Saake und D. Kunz
Hier zeigt sich überzeugend, was van den Daele als „moralischen Takt“ (van den
Daele 2001b) beschreibt: Das Argument muss explizit als sachliches Argument dar-
gestellt werden. Der Grat zwischen der Idee, man solle alles sagen können, und der
Vermeidung von moralischer Kommunikation ist allerdings sehr schmal. Während
Kontroversen gefordert bzw. geboten sind, muss sichergestellt werden, dass Kon-
frontationen ausbleiben. Emotionen seien nicht schlecht, kann man dann sagen,
während zwei Sätze weiter bereits wieder nüchterne Vorschläge gefordert werden.
Insofern ergibt sich aus der Gegenüberstellung von Gebotenem und Verbotenem
eine spezifische Uneindeutigkeit.
Aus der Perspektive von Nichtmedizinern scheint das größte Hindernis guter
Diskussionen das Ausspielen medizinischer Macht zu sein.
Auffallend ist, dass primär Ärzte wegen Verstößen gegen das gute Verhalten ge-
nannt werden. Das Missachten von medizinischer Autorität und die Negation von
hierarchisch sanktioniertem Wissen erscheinen vor diesem Hintergrund dann
praktisch als Lösung eines Missstandes und in diesem Sinne als gutes Verhalten.
In der ethischen Fallbesprechung scheint es dann vor allem darum zu gehen, die
Allmacht der Medizin zu brechen bzw. zu relativieren.
Im Bezug auf die Teilnehmer wird klar, dass deren moralische Position offen sein
muss. Es darf nie im Voraus klar sein, wer was sagt.
3
Die Anspielung auf ein Training verweist auf den Grad der Institutionalisierung ethischer
Fallbesprechungen. Mitunter können Fallbesprechungen – als eine unter anderen Aufgaben
eines klinischen Ethikkomitees – erst trainiert werden, um eine gewünschte Diskussions-
kultur zu erreichen.
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 209
Pflegefachkraft: Wir hatten mal einen Assistenzarzt dabei, der war zwar in der Psych-
iatrie tätig, aber ein strikter Gegner von Zwangsbehandlungen. […] Da habe ich mich
mal wirklich geärgert und gedacht: Jetzt kommen wir einfach nicht mehr weiter. Weil
das war nun einfach seine persönliche Meinung, dass man nicht zwangsbehandeln
sollte in der Psychiatrie, aber darum ging es gar nicht. Weil das ist dann mehr, das
gehört nicht hierhin in ein Ethikforum. (D146)
Personen werden untragbar, wenn sie dieser Form der zur Schau getragenen Of-
fenheit der Argumentation nicht genügen. Gründe dürfen in diesem Sinne nicht
als unbedingte Gründe geäußert werden, sonst werden sie sofort automatisch zu
schlechten Gründen. Vielmehr sollen Austausch, Reflexion und Kritikfähigkeit die
Diskussionsteilnehmer dazu bringen, fremde Perspektiven zu übernehmen.
Pflegefachkraft: Jeder kann absolut alles sagen und es wird ihm zugehört. Es ist eine
sehr lebhafte Diskussion. Nicht jeder erzählt einfach seine Position, sondern ein wirk-
licher Austausch, ein gemeinsames Hintersinnen und Fragen: Was ist für den Patient
das Richtige? Diese Perspektivenübernahme. (D172)
Die ethische Fallbesprechung setzt Diskutanten voraus, die offen für neue Argu-
mente sind und die die Perspektiven ihrer Gesprächspartner übernehmen kön-
nen, letztlich mit der erklärten Intention (s. Passage oben), sich die Perspektive
des Patienten anzueignen. Die detaillierten Verhaltensanforderungen profilieren
somit einen Teilnehmer ethischer Fallbesprechungen, welcher vor allem ethisch
sensibilisiert ist. Dies kommt nicht von ungefähr, wird doch verschiedentlich be-
tont, dass die Teilnehmer ethischer Fallbesprechungen ausgebildet und trainiert
werden sollen. Ethisch sensibilisiert meint hier in Bezug auf das „gute Verhalten“,
dass man nicht eine substantielle Moral vertritt, sondern eine pluralistisch verhan-
delbare, und dass man mit den angesprochenen Uneindeutigkeiten der Diskussion
umgehen kann.
Dass die ethische Sensibilisiertheit nicht nur ein abstrakter Begriff ist, sondern
sich letztlich konkret in der Diskussionsperformanz zeigen muss, lässt sich am bes-
210 I. Saake und D. Kunz
Pflegefachkraft: Am Schluss war ich dann wieder in dieser Position, in der ich am
Anfang war. Zwischendurch muss ich sagen, konnte ich gewissen Ansichten, gewissen
Einwänden absolut auch zustimmen, aber im Endeffekt hat dann meine anfängliche
Überzeugung schon überwogen. (D108)
Die Teilnehmer sollen sich zwar in den Diskussionen engagiert zeigen, gleichzeitig
aber müssen sie immer auch über der Sache stehen.
Ethiker: Also es wird heikel, […] wenn die Persönlichkeit der Kommissionsmitglieder
zu stark reinkommt. Wenn man merkt, das geht denen zu sehr an die Nieren: Jetzt
reden sie nicht mehr über Herrn X, der das und das will, oder über die Pflegerin A, die
das und das Problem hat, sondern jetzt reden sie über sich. Dann wird’s heikel. Dann
kommen die ganzen Sachen, wo man in die Fälle etwas hineinliest, was man selbst
ist. Wenn das zu häufig geschieht bei Leuten, sind die für Kommissionen auch nicht
tragbar und sollten abgelöst werden. (K375)
Teilnehmer ethischer Fallbesprechungen dürfen als Ziel nie aus den Augen ver-
lieren: Die eigenen Handlungsweisen in Frage zu stellen und immer wieder zu
reflektieren. Die ethische Reflektiert- und Aufgeklärtheit zeigt sich auch an einer
spezifischen Bescheidenheit.
Pflegefachkraft: Es gibt auch Punkte, die überhaupt nicht mehr in unserer Macht ste-
hen, weil wir nicht mehr sagen können, so ist es gut, so falsch und so ist es besser.
Wir machen es besser oder andere machen es besser. Diesen Anspruch habe ich auch
nicht. Ich weiß nicht, vielleicht ist das schon wieder ein bisschen ein verminderter
Idealismus in Bezug auf diese Gespräche. Aber das glaube ich einfach nicht. Ich glaube
nicht, dass alles so zu steuern ist und man alles richtig machen kann. (E328)
Reflektiert und ethisch sensibel ist jemand, der seine Position ändern kann, der kri-
tikfähig ist und Unzulänglichkeit markiert. Die Teilnehmer in der Fallbesprechung
sollen sich der Partikularität ihrer Perspektive bewusst sein und somit quasi das
Gegenteil eines allwissenden Arztes abgeben.
Ethiker: Nicht nach dem Motto: Ich hab das ja immer gewusst. Das scheint mir auch
ein Problem zu sein, dass in den Ethikkommissionen die ganzen Fachärzte die Foren
leiten. Weil das sind Leute mit starken Vorstellungen, was richtig ist. Und das scheint
mir heikel zu sein. (K269)
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 211
Experten, die bereits wissen, wie man vorzugehen hat, sind untragbar, verletzen die
Vorstellung der Offenheit und somit das Gefühl für eine gute Entscheidung. Was
man will, sind Teilnehmer, die aktiv „gutes Verhalten“ zeigen, indem Perspektiven
des anderen übernommen werden, indem Fehler eingestanden werden. In diesem
Sinne sollte klar geworden sein, wie sich Kommunikation in ethischen Fallbespre-
chungen als Verhaltensanforderung einer ethischen Diskursperformanz äußert.
Arzt: Danach kommt es eigentlich in einem nächsten Schritt dazu, dass man schaut,
was können wir jetzt diesem Kind vorschlagen. Was ist jetzt von uns abgesehen, von
den Eltern abgesehen, für dieses Kind das Beste. Weil das Kind ist ein bisschen in einer
komischen Situation. Es kennt die Eltern nicht, es kennt uns nicht. Es kennt sich selber
und doch ist es sehr abhängig von-, und einfach das zu einem Teil heraus kristallisieren.
Das ist einfach ein anderer Blickwinkel. Für dieses Kind, langfristig gesehen, was ist das
Beste. Und aus dem kommt dann ein Handlungsvorschlag heraus. (H114)
Das kaum überlebensfähige Kind wird hier als völlig ebenbürtiges Individuum an-
gesprochen und ernst genommen. Auch die folgende Äußerung einer Ethikerin
zeigt, dass in ethischen Fallbesprechungen nicht über medizinische Probleme ver-
handelt wird, sondern Entscheidungen getroffen werden, die „Menschen“ betref-
fen.
Ethikerin: Jetzt also in der Kinderheilkunde werden in der Regel die Kinder nie die
Initianten sein, aber ich gehe eigentlich nie aus einem Konsil, ohne den Patienten
gesehen zu haben. Jetzt bei einem Neugeborenen hat das natürlich weniger Wirkung
auf das Neugeborene, aber es hat natürlich auch einen Einfluss darauf, wie ich das
Problem wahrnehme, das gehört einfach zur Vollständigkeit. […] Ich schaue es mir
nicht medizinisch an, sondern ich schaue es mir von Mensch zu Mensch an. (G75)
Die ethische Fallbesprechung versucht – folgt man dieser Semantik – explizit, dem
Menschen in seiner Menschlichkeit gerecht zu werden. Beispielhaft dazu eine Ethi-
kerin:
Dann sitzen mal alle zusammen, nicht nur der Herzspezialist oder nur der Spezialist,
und man schaut im Gesamten: Was heißt das, und was will dieser Mensch? Wie ist sein
Lebensentwurf? (A172)
212 I. Saake und D. Kunz
Pflegefachkraft: Manchmal in Diskussionen hat man ja das Gefühl, dass jeder nur
gerade das sagt, was er im Kopf hat: Da komme ich jetzt und erzähle mein Zeug! So
ist es aber eben nicht, sondern es ist ein Hin und Her, es ist ein Austausch und es ist
wirklich ein Hintersinnen und Fragen. Was ist nun wirklich vom Patienten her das
Richtige. Wirklich auf die andere Seite auch zu gehen. (D179)
Für das umfassende Verständnis der Problemlage ist es also wichtig, dass nicht
„nur“ medizinisches Wissen zur Anwendung gelangt. In den Interviews wird viel
davon gesprochen, dass das Wissen, das die medizinische Perspektive übersteigt,
von der Pflege bereitgestellt wird.
Es sind aber nicht nur Pflegekräfte, sondern auch die Seelsorger, Sozialarbeiter
oder Psychiater, die Aspekte in die Diskussion hinein bringen, welche dem Patien-
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 213
ten in der Rolle des „Menschen“ gerecht werden sollen. Generell scheint sich für die
Nicht-Mediziner eine spezifische Expertenrolle in Bezug auf die „Ganzheitlichkeit“
des Mensch-Seins zu ergeben, sozusagen für die „weichen“ Faktoren der Problem-
analyse.
Interessanterweise muss sich diese Expertenschaft nicht zwingend mit Hilfe guter
Argumente ausweisen. Mitunter reicht bereits die Präsenz der nicht-medizinischen
Professionen aus, damit das Verständnis wächst, wie die folgende Passage zeigt.
Pflegefachkraft: Dass der Sozialarbeiter vielleicht sagt, mit dem bin ich gar nicht kon-
frontiert, mit dem habe ich gar nie was zu tun, da kann ich gar nicht mitreden. Wobei
er es auch sehr interessant findet: Was läuft denn bei euch und wie geht ihr damit um?
Und was tut das mit euch und was könnte das für den Patient heißen und z. T. kennen
sie ja die Patienten, von denen wir sprechen, und dann sehen sie, das ist so und so und
aus dem und dem Grund. Das sind die Hintergründe und Überlegungen, die man
macht, wenn man so was durchführt. Also ich denke, so wie das bis anhin geäußert
wurde, profitieren auch andere Berufsgruppen, die damit nichts zu tun haben, davon.
Dort kommen dann mehr nochmals Ansichten, wo ich dann wie die Gesellschaft zu
vernehmen meine, das ist nun der Normalbürger draußen außerhalb der Mauern.
Und dann kommt das unsere dazu. Was haben wir denn für Beweggründe, die wir
mittendrin stehen. Wie entscheiden wir da, aber für den Patienten, wo dann das Ver-
ständnis einfach wächst, finde ich. Wenn man sich so offen austauschen und erklären
kann. (D195)
Krankenhausseelsorgerin: Es ist auch eine Frage: Die Männer sind die Ärzte bis auf
die eine Ausnahme. Und die Frauen sind in der Pflege oder in meinem Fall in betreu-
enden Berufen. Daher ist ein Bild gezeichnet. Pflegende argumentieren viel mehr auf
Beziehungsebene, sowohl was die Patienten und Angehörigen betrifft aber auch, dass
sie einen persönlichen Dialog wiedergeben oder sogar wagen, ein Gefühl zu formulie-
ren. Das wird von Ärzten nie kommen, also das ist sehr viel mehr-, die sind einfach
anders sozialisiert. Die argumentieren sachlich. (C245)
214 I. Saake und D. Kunz
In dieser Passage zeigt sich deutlich, inwiefern Pflegende prädestiniert zur Über-
nahme von Verantwortung für den Patienten als Menschen erscheinen. Diese be-
sondere Position lässt sich daran erkennen, wie Pflegende in die Diskussion ein-
bezogen werden. Es scheint, als verfügten Pflegende nicht nur tendenziell eher
über das wichtige Wissen betreffend der sozialen und psychischen Situation des
Patienten, sondern als hätten Pflegende generell auch eine „menschlichere“ Art,
Gründe geltend zu machen. An dieser Stelle nun verweist das Material auf eine
große Distanz zu van den Daeles Auswertung. Auch die Darstellung als „sachliches
Argument“ kann sich als Problem herausstellen, wenn die Darstellung als Festle-
gung erscheint, als wiederholtes Kennzeichen, gar als „Männlichkeit“. Das Etikett
‚Ethik‘ erzwingt hier explizit auch eine Akzeptanz nicht-sachlicher Formen der Ar-
gumentation!
Die Auswertung zum Thema „Patient als Mensch“ zeigt, inwiefern der „Mensch“
in der ethischen Fallbesprechung das Zentrum der Bemühungen ist und wie die all-
gemeine Figur des Menschen aus der spezifischen Patientenrolle herausgelöst wird.
Dabei wird deutlich, dass der „gute Grund“ jener ist, welcher sich für den Patienten
geltend machen lässt. Der Patient als „Mensch“ wird so zum letzten unhintergeh-
baren Fluchtpunkt der ethischen Fallbesprechung. An der Kategorie des „Men-
schen“, der in diesem Falle ja immer ein Patient ist, lässt sich ablesen, wie sehr sich
ethische Fallbesprechungen als Symmetrisierungsveranstaltungen begreifen lassen.
Deutlich wird dabei aber auch, wie sehr sich diese Symmetrisierungsbemühungen
auf die medizinische Argumentation konzentrieren. Ethische Beratungen sind –
wenn man diese Interviewpassagen liest – eigentlich an die soziale Adresse des
(konventionellen) männlichen Arztes gerichtete Disziplinierungsveranstaltungen.
Oder allgemeiner: sie reiben sich an jedem, der distanziert, sachlich und konsistent
argumentiert. Symmetrisierungsveranstaltungen lassen sich aus dieser Perspektive
heraus als Emanzipationsprozesse begreifen, insofern sie von dem emanzipieren,
was klassisch als „guter Grund“ galt. In der gemeinsamen Argumentation mit den
anderen Nicht-Medizinern lernt der Arzt, dass eben die Gründe, die aus seiner
speziellen Perspektive heraus als die besten gelten müssten, die schlechtesten sind.
Es sind Gründe, die sich einer Expertenrolle verdanken und die insofern eigentlich
auch aus einer diskursethischen Perspektive heraus als gute Gründe gelten müssten.
Problematisch an diesen guten medizinischen Gründen ist nicht – wie es van den
Daele (1990) herausgestellt hat –, dass sie vielleicht Forschungs- und Karriereinte-
ressen mehr verpflichtet sind als dem Wohl des Patienten. Problematisch an ihnen
ist, dass sie überzeugend sind, und genau das dürfen sie nicht sein. Der Emanzipa-
tionsprozess, der hier beschrieben wird, lässt sich überspitzt als Emanzipation von
alldem beschreiben, was dem Diskurs einmal als Vernunft galt. Vernunft wird auf
diese Weise zum Ausweis von „Unmenschlichkeit“ bzw. umgekehrt: Die Berück-
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 215
sichtigung des Patienten als Menschen zeigt sich in der Abwertung von solchen
Gründen, die eigentlich als Inbegriff von vernünftigen Gründen entstanden sind.
Dass das „menschliche“ Argument nicht nur aus seiner propositionalen Eigen-
schaft triftig und einsichtig wird, sondern sich aus der spezifisch sozialen Logik der
Fallbesprechung ergibt, wurde bereits gezeigt. Im Folgenden ist aber an weiterem
empirischem Material die Frage zu klären, wie die Fallbesprechung es schafft, dem
Patienten als „Menschen“ dann auch gerecht zu werden.
Das Verfahren spielt in den Ausführungen der Experten eine wichtige Rolle. Es
fällt dabei auf, dass die ethische Fallbesprechung je nach Konnotation entweder als
kontrolliertes Verfahren mit einer gewissen Verfahrensgerechtigkeit beschrieben
wird oder dass sie ihre eigentümliche Plausibilität gewinnt, indem ihre spezifische
Offenheit sie gerade nicht als ein Verfahren sichtbar macht.
Die ethische Fallbesprechung braucht in der Regel ein Verfahren, um zu einer
Konsensentscheidung zu gelangen. Dieses Verfahren soll garantieren, dass die Dis-
kussion überhaupt auf eine Entscheidung hinausläuft. Da nicht irgendeine Ent-
scheidung getroffen werden kann, sondern es sich um einen – wie ein Interviewter
betont – „wirklichen Konsens“ handeln muss, hat das Verfahren so angelegt zu sein,
dass die einzelnen Verfahrensschritte die wichtigsten Funktionen abdecken, die die
Diskussion erfüllen soll. Sowohl die ärztliche als auch die pflegerische Sichtweise
sollen z. B. ausführlich thematisiert werden. Alle wichtigen Fragen müssen gestellt
und alle Zweifel angebracht worden sein.
Arzt: Der erste Vorteil ist der Kulturwechsel und der zweite Vorteil ist der verfah-
rensethische Aspekt, den wir haben. Das heißt, wir hängen nicht einer bestimmten
Philosophie nach, sondern wir sagen, wir möchten einen reproduzierbaren, wiederhol-
baren, immer gleichen, ethischen Entscheidungsfindungsprozess, so dass etwa bei jedem
Kind nach gleichem Maß, wir haben bei jedem Kind dieselben Fragen gestellt. Mehr oder
weniger. Es sollte vergleichbar sind. Nicht dass ein Gesprächsleiter findet: Das Leben
ist heilig und unantastbar und der nächste vielleicht völlig utilitaristisch, nur hoch-
qualitatives Leben ist wertvoll. Sondern der ethische Aspekt ist diese Struktur und
das Einhalten dieser Struktur ist der Moderator. Und wenn er das nicht macht, gibt
es Probleme. (H480)
Hier wird klar, dass die ethische Fallbesprechung strukturiert sein soll, damit
sie – wie wir bereits gehört haben – nicht zu einer „wilden Diskussion über ein
verrücktes Thema“ verkommt. Dazu braucht es immer eine Moderation, welche
216 I. Saake und D. Kunz
die Verfahrensstruktur durchsetzen muss und die insofern eine – hier legitime –
Machtfunktion innehat.
Pflegefachkraft: Ja, sie [die Moderation, d.A.] muss das immer wieder bündeln und
fragen, was heißt das jetzt? Jetzt sind wir an diesem Punkt. Man ist so, weil es ja so
spannend ist, es geht mir selber auch so, dass man plötzlich wieder abschweift und ein
spannendes Detail im ganzen Fall bringt, das dann eigentlich gar nicht dahin gehört.
Sondern dass man wirklich themenbezogen an einem Fall arbeitet. (D166)
In seiner Funktion ist der Moderator gewissermaßen ein Bestandteil des Verfah-
rens. Insofern sollte er sich möglichst neutral bzw. ergebnisoffen einbringen.
Diese kontrollierte Struktur bei gleichzeitiger Offenheit gilt eben auch für das ge-
samte Verfahren. Offenheit heißt weg von der „Eindimensionalität“ der Medizin
und hin zu einer „ganzheitlichen“ Betrachtung. Dazu scheinen sich unterschied-
liche Sichtweisen aus verschiedenen Hierarchiestufen und verschiedenen Fachdis-
ziplinen zu eignen. In der nächsten Passage wird in diesem Sinne viel Wert auf
Perspektiven „schwacher“ Positionen gelegt:
ren, was er aussagt (Gründe), sondern vor allem auch dadurch, dass er etwas ande-
res aussagt, dass er eben eine unterschiedliche Perspektive zum Ausdruck bringt.
Die geforderte Offenheit zeigt sich aber auch darin, dass die Diskussion neue,
unübliche Aspekte eines Problems zutage fördert:
Hier wird eine Form von Offenheit deutlich, welche neuen Argumenten einen be-
sonderen Status verleiht. Es entsteht der Eindruck, dass es weniger um gute, als um
neue Argumente geht. Dieser Eindruck bestätigt sich in der Inversion. Im Gegensatz
zu neuen Argumenten scheinen „alte“ Argumente sehr ungern gehört zu werden:
I: Gibt es in diesem Prozess eine Phase, eine Situation, die sehr konfliktreich ist? Kön-
nen Sie eine Phase benennen, wo man besonders stark aneinander gerät?
Ethiker: Ja, das gibt’s schon. Das ist natürlich dadurch, dass diese Kommissionen
immer dieselben Personen haben und dann bestimmte Personen immer dasselbe
sagen, in jeder Sitzung, bei jedem Fall. Das ergibt dann dieses Jetzt-kommt-der-
schon-wieder-damit-Gefühl oder Jetzt-kommt-sie-schon-wieder-damit-Gefühl. Und
das sind so heikle Situationen. Das sind dann Situationen, wo der Moderator auch
wieder gefordert ist, das zu umschiffen. Und wenn der Moderator es nicht tut, dann
sind die anderen Mitglieder der Kommission verpflichtet, es zu umschiffen. (K368)
Offenbar ist es in der Logik der Fallbesprechung besser, wenn die „gleichen Argu-
mente“ von unterschiedlichen Teilnehmern geäußert werden. Und darüber hinaus:
Argumente wirken am plausibelsten, wenn sie von den Personen geäußert werden,
von denen man sie nicht erwartet. Die ethische Fallbesprechung ist eben ein Ort, an
dem man Routinen bewusst durchbricht:
Ethikerin: Man will diese Muster möglichst durchbrechen, damit nicht solche Auto-
matismen bestehen, sondern eine gewisse kritische Distanz zum eigenen Handeln
entsteht. (A185)
Die Offenheit bewährt sich auch darin, dass man nicht gleicher Meinung ist, son-
dern dass man die Fälle kontrovers diskutiert:
Pflegefachkraft: Es ist interessant, weil heftig, weil ehrlich diskutiert wird, weil man
sich nichts schenkt. Man schenkt sich wirklich nichts, muss ich wirklich sagen. Und
was mir auch sehr gefällt. Ob jetzt das ein Oberarzt ist und da ist eine Sozialarbeiterin
oder jemand von der Pflege, der im Prinzip hierarchisch weiter unten ist, da wird sich
also nichts geschenkt. Da wird zugehört und man lässt einander ausreden. Das wird
wirklich, es wird hart gefightet und es ist eine ganz große Offenheit und Ehrlichkeit
auch zugegen. Das muss ich also sagen. (D114)
Pflegefachkraft: Ich denke, man kann das extrem verbessern, aber ich glaube, es gibt
keine ultimative Lösung. Da kann man noch so tüfteln. Ich finde einfach, dass wir das
schon irgendwo den Kindern schuldig sind, uns damit auseinander zu setzen und nicht
einfach aus dem Bauch heraus, auf die Schnelle zu entscheiden. Sondern dass man
sich das wirklich ganz ehrlich zu überlegen sucht, einfach das Beste herauszuschälen
versucht. (E337)
Das Gefühl dafür, dass man das „Beste herausgeschält“ hat, scheint sich also vor-
zugsweise in kontroversen, heftigen und letztlich ungewöhnlichen Diskussions-
situationen einzustellen. Mit dieser sozialen Dynamik scheint es der ethischen
Fallbesprechung zu gelingen, eine Entscheidung zu fällen, die dem Patienten als
„Menschen“ gerecht wird. Der problemlösende Charakter dieser Darstellung von
Offenheit überzeugt aber erst vor dem Hintergrund einer festgelegten Verfahrens-
struktur und der Kontrolle dieser durch den Moderator. In dieser Ambivalenz
scheint am ehesten das aufgehoben zu sein, was sich so plausibel als bester Grund
herausgestellt hat: Der Mensch.
Ein „Mensch“, so lässt sich nun genauer bestimmen, ist nicht etwas, was sozu-
sagen als Unterbau allen gemeinsam verfügbar ist, sondern eine soziale Adresse,
die mühsam hergestellt wird. Die hervorstechendste Eigenschaft des „Menschen“
ist zunächst sein Nicht-medizinisch-Sein. Es geht weniger um eine gemeinsame
Betroffenheit aller vom behandelten Problem, als darum, dass eine medizinische
Perspektive aus der Problemlage herausoperiert werden soll – auch wenn im Wei-
teren dann doch oft die medizinische Entscheidung die beste ist.4 Genauer kann
man nun auch noch sagen, dass nicht das Medizinische das Problematische ist, son-
dern die Konsistenz, die Sachlichkeit, die Erwartbarkeit dieses Verhaltens ist es, die
Probleme bereitet. Mit einem Wort: Der Hinweis auf den „Menschen“ dient dazu,
den Diskurs von vernünftigen kohärenten Gründen zu emanzipieren. Die ethische
Sensibilisierung besteht exakt darin, sich der Einsicht in vernünftige Gründe mit
legitimen Mitteln verweigern zu können. Warum?
4
Zu dieser Behauptung, die sich hier nur vage im Anschluss an die Sätze der Interviewten
formulieren lässt, müssten sich weitere Untersuchungen anschließen.
220 I. Saake und D. Kunz
Diagnosen der Medizinsoziologie beginnen zumeist mit dem Hinweis auf die bloße
Inszeniertheit ärztlicher Dominanz und sie blenden aus, was sich als Funktionali-
tät einer speziellen Kommunikationslogik rekonstruieren lässt (vgl. Saake 2004).
Wenn man beides auseinanderhält, die Beobachtung medizinischer Dominanz und
die Funktionalität medizinischer Dominanz, entstehen Fragen, die den medizini-
schen Alltag in ein neues Licht rücken. Zunächst ist zu vermuten, dass die Dauer-
haftigkeit des Problems der medizinischen Dominanz eventuell darauf verweist,
dass die Funktionalität der Medizin nicht ohne ihre asymmetrische Inszenierung
zu haben ist.5 Und darüber hinaus: Wie lässt sich eine Infragestellung ärztlicher
Dominanz von einer Infragestellung ärztlicher Expertise trennen? Unsere Antwort
lautet: Durch ethische Sensibilisierung. Genauer könnte man nun sagen, dass nicht
die medizinische Expertise selbst in Frage steht, sondern die Legitimation ihrer Be-
gründungen.
Bis zu diesem Punkt verträgt sich eine systemtheoretische mit einer vernunft-
theoretischen Argumentation. Eine vernunfttheoretische Argumentation würde
jedoch an dieser Stelle mit dem Hinweis auf Asymmetrien und verhinderte Par-
tizipationsmöglichkeiten anschließen. Matthias Kettner formuliert beispielsweise:
„Die hochgradig arbeitsteiligen Bedingungen des modernen Gesundheitswesens
fordern Ärzte und Patienten zur Revision überkommener Rollenvorstellungen he-
raus“ (Kettner 1999, S. 336). Wer sich wie Kettner für das universalisierbare Ar-
gument interessiert, kann folgerichtig daneben nur problematische Asymmetrien
beobachten und für ein Mehr an Diskursarenen plädieren. Entsteht dadurch jedoch
auch schon ein Mehr an Partizipation? Wolfgang van den Daele und Friedhelm
Neidhardt gelangen zu folgender Einschätzung: „Der wesentliche Legitimations-
gewinn ergibt sich auf der Beobachterebene, nicht auf der Teilnehmerebene. Dis-
kursive und inklusive Verfahren der politischen Deliberationen können aus der
Perspektive des unbefragten Bürgers, der sie beobachtet, als Indiz dafür genommen
werden, dass im politischen Prozess das Mögliche getan worden ist, ein gemeinsa-
mes angemessenes Ergebnis zu finden, und dass nunmehr zu Recht entschieden
wird“ (van den Daele und Neidhardt 1996, S. 47).6.
5
Eine funktionalistische Medizinsoziologie stößt an dieser Stelle schnell auf Kontexte, in
denen die Asymmetrie der Arzt-Patienten-Interaktion einer Zeitperspektive geschuldet ist,
die den Patienten auf eine hoffnungsvolle Zukunft festlegt, die also explizit „schamanische“
Anteile enthält, um einen Patienten behandlungsfähig zu machen, um seine „compliance“ zu
gewinnen. Jenseits eines Diskurses der bloßen Inszeniertheit ärztlicher Expertise lässt sich an
dieser Stelle besser von der „Performanz des Medizinischen“ sprechen, um der Funktionalität
der Dramaturgie ärztlichen Handelns gerecht zu werden. (vgl. Saake 2004).
6
Der überzeugende Einwand von van den Daele und Neidhardt lautet: Öffentlichkeit/Mas-
senkommunikation produziert Inszenierungsdruck, denn die Sprecher „kommunizieren
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 221
An dieses Argument schließt sich eine ganze Kette von Erklärungen zum Erfolg
bzw. Misserfolg von beispielsweise solchen Einrichtungen wie einem Nationalen
Ethikrat (NER) an.7 Ein genauer Blick auf die Legitimationstexte zum NER ver-
deutlicht, wie sehr sich ein Verdacht der Illegitimität des guten Arguments bereits
im Bewusstsein der ethischen Experten niedergeschlagen hat. Kirsten B. Endres
erklärt die Ausgangssituation folgendermaßen: „Die Fragen stellen sich, da es im
Bereich des Moralischen natürlich oft keine eindeutigen Antworten gibt. Das heißt
aber nicht, dass alle moralischen Einschätzungen gleichberechtigt sind und nicht
zwischen mehr oder weniger überzeugenden, begründeten und durchdachten Be-
wertungen unterschieden werden kann. Vielmehr bedeutet es folgendes: Es wird
immer wieder vorkommen, dass verschiedene und teilweise nicht miteinander zu
vereinbarende Bewertungen als wohlbegründet und auch – abhängig vom eigenen
moralischen Standpunkt – als plausibel gelten“ (Endres 2002, S. 3). Und etwas spä-
ter geht es dann darum, die Autorität der Expertenmeinung nicht einzuschränken,
sondern sie als hypothetisch kritisierbare darzustellen. „Die Urteile der Kommis-
sionsmitglieder zeichnen sich gegenüber den Urteilen anderer Personen meist da-
durch aus, dass sie besonders überlegt und durchdacht sind. Die Mitglieder haben
sich über einen längeren Zeitraum intensiv mit einer moralischen Frage auseinan-
dergesetzt und die Argumente für und gegen bestimmte moralische Bewertungen
diskutiert. Hier setze ich allerdings voraus, dass die Mitglieder offen gegenüber
Argumenten sind und nicht auf vorgefassten Meinungen beharren“ (Endres 2002,
S. 3 f.). Man könnte etwas überspitzt zusammenfassen: Wichtiger als den Experten
zu sagen, dass ihre Urteile reversibel sein könnten, ist es, sie darauf hinzuweisen,
dass sie sich reversibel darstellen sollen. Kettner und May werden noch deutlicher,
wenn sie darauf hinweisen: „Strittigen Moralfragen ihrerseits ist unter den werte-
pluralistischen Bedingungen liberaler Gesellschaften nur gemeinsam, dass sie nicht
autoritär (z. B. durch eine religiöse Zentralinstanz oder eine homogene eingeleb-
te Sozialmoral) gelöst, sondern nur durch einen relativ öffentlichen (nämlich auf
alle von diesen Fragen betroffenen Personen bezogenen) Vernunftgebrauch und
gewissermaßen ‚zum Fenster hinaus‘“ (van den Daele und Neidhardt 1996, S. 19). Deshalb
empfehlen sie, das Publikum auszuschließen. „Auf diese Weise wird die Zentrierung der
Kommunikation unterstützt“ (van den Daele und Neidhardt 1996, S. 23). Und mit der fol-
genden Diagnose sind van den Daele und Neidhardt sehr viel skeptischer als Kettner: „Nach
unseren Untersuchungen kann weder von einer massenmedialen Debatte noch von diskur-
siven Verfahren politischer Deliberation eine Konvergenz der Meinungen oder ein Entschei-
dungskonsens mit einiger Sicherheit erwartet werden“ (van den Daele und Neidhardt 1996,
S. 46).
7
Die Homepage des NER macht entsprechende Selbstbeschreibungen zugänglich: www.
ethikrat.org.
222 I. Saake und D. Kunz
8
Es verwundert nicht, dass es dann im Folgenden wiederum nur um Hierarchien geht: „Die
Einrichtung von KEKs verspricht allemal die Bewusstmachung, womöglich sogar die Lösung
von schwerwiegenden Moralproblemen, die durch Stations-, Disziplin- und Statusgrenzen
im modernen Klinikbetrieb entstehen“ (Kettner und May 2002, S. 39). Hierarchien werden
dadurch nicht abgeschafft, denn – so die Autoren – es wäre eine unrealistische Hoffnung,
„dass aus der Einrichtung von KEKs starke Impulse für die ‚Demokratisierung des Kran-
kenhauses‘ ausgehen“ (Kettner und May 2002, S. 39). Aber: „Nicht unrealistisch, das zeigen
amerikanische Erfahrungen, ist die Erwartung, dass die Präsenz eines Ethikkomitees in der
Klinik die Arbeitszufriedenheit erhöht, weil es durch Partizipation die Möglichkeiten zur
Bewältigung von ‚moralischem Stress‘ verbessert“ (Kettner und May 2002, S. 39). Ob die
Entstehung von ‚moralischem Stress‘ auf die falschen Argumente oder auf asymmetrische
Strukturen hinweist, ist dabei zunächst unklar.
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 223
sibilisiert“ darzustellen. Die Grundlage für diese Erwartung findet sich einerseits
in der Vermutung der Illegitimität reiner Expertise, andererseits aber auch in der
Relativierung der moralischen Laienmeinung, die sich nun als nur noch lebenssta-
dienspezifische Aussage, als Resultat einer jeweils kontextabhängigen mehr oder
weniger großen Betroffenheit wiederfindet. Die Personschablone „Mensch“ als
kleinster gemeinsamer Nenner steht im Mittelpunkt, aber der Mensch ist nur noch
eine Momentaufnahme, wenn er um seine Meinung gebeten wird. Es ist nicht ganz
richtig, wenn van den Daele im gleichen Tonfall formuliert: „Die Dynamik bioethi-
scher Kontroversen rührt daher, dass die Beteiligten nicht nur Fragen des Umgangs
mit anderen Menschen (Status von Embryonen, Abtreibung, Behandlungsabbruch
bei schwerstbehinderten Neugeborenen und Sterbenden) im Sinne strikter Regeln
moralisieren, sondern auch Fragen der Verfügung der Menschen über sich selbst
(künstliche Befruchtung, gentechnische Eingriffe und prädiktive Gendiagnostik,
Sterbehilfe) und des technischen Umgangs mit Natur überhaupt (‚Würde der Kre-
atur‘, Integrität von Leben)“ (van den Daele 2001a, S. 483). All diese Themen sind
Themen nur noch von Lebensstadien, von Betroffenengruppen, die selber an sich
lernen können, dass sie in der konkreten Situation alles anders sehen als vorher. In
diesen Sätzen finden sich Partizipationsangebote wieder, die Beteiligte erzeugen,
die sich selbst als unzuverlässige Urteiler, als Urteiler, die sich verändern, erkennen
sollen. Nur wer das weiß, urteilt als „Mensch“. Umso dringender wird der Ruf nach
dem Experten, der nun seine Argumente – fast möchte man sagen strategisch, und
etwas Schlimmeres könnte man sich im Habermasschen Sinne nicht vorstellen –
verkauft.
Während es bei Habermas um gute Gründe geht, mit deren Hilfe Asymmetrien ab-
gebaut werden, geht es in den Beispielen, die wir gerade vorgestellt haben, um Sym-
metrisierungsprozesse, die sich ganz explizit zunächst allem verweigern, was ein
guter Grund sein könnte. Sehen kann man dies nur, wenn man die andere Seite des
Habermasschen Diskursarguments explizit sichtbar macht: „Diskurse herrschen
nicht“ (Habermas 1990, S. 44). An die Stelle einer nichtlegitimierten Machtaus-
übung sollte „die Aussicht auf eine selbstbewusste Praxis (treten), in der sich die
solidarische Selbstbestimmung aller mit der authentischen Selbstverwirklichung
eines jeden einzelnen sollte verbinden können“ (Habermas 1991, S. 391). Diese As-
soziationen von Freien und Gleichen gibt es nun – in ethischen Fallbesprechungen
Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 225
– tatsächlich, aber sie beginnen mit der Angst vor Asymmetrien, nicht mit der vor
Macht. Dass es Asymmetrien geben könnte, hier die eines besseren Arguments,
scheint den ethischen Diskurs mehr zu beschädigen, als die ebenfalls praktizier-
te Form der Disziplinierung des männlichen Arztes. Wenn sich hier medizinische
Ethik gerade als nicht-medizinische Ethik wiederfindet, ist das zwar interessant, be-
stätigt aber auch wiederum, dass es vor allem darum geht, medizinische Expertise
besser zu verkaufen.
Dass es dabei auf Ethik ankommt, ist nicht überraschend. Thomas Osborne hat
in einer Studie zur Ausbildung von Allgemeinmedizinern überzeugend demonst-
riert, dass „ethical stylizations of expertise are central to the exercise of power by
medical (and other) authorities“ (Osborne 1994, S. 515). Und darüber hinaus be-
tont er, dass – wenn es dabei um den Patienten geht – als Ziel der ethischen Über-
legungen eben nicht der Patient im Vordergrund steht, sondern „the persona of the
doctor as an ethical construction“ (Osborne 1994, S. 517).9 Ethik hieß allerdings
unter diesen Bedingungen noch: „practices, ideals, norms and techniques through
which agents seek to ‚stylize‘ their attributes such as to make themselves coherent
subjects of conduct“ (Osborne 1994, S. 517). Und genau an der Stelle müsste man
nun auf der Grundlage unserer Ergebnisse ergänzen: Eine ethisch sensibilisierte
Kommunikation ist eine solche, die sich kohärent so stilisiert, dass sie nicht als ko-
härent erscheint.10
9
Und noch einmal: „… it is that, with Balint, the doctor’s personal status is specifically gi-
ven a kind of epistemological grounding, i.e. the ethical cultivation of the personality of the
doctor is decisive in a directly therapeutic sense, it becomes a component internal to good
practice itself “ (Osborne 1994, S. 521). Ärzte sind selbst Drogen, sagt folgerichtig Balint (vgl.
Osborne 1994, S. 521).
10
Vielleicht ist es nicht untypisch, dass für Vernunfttheoretiker vieles an der Konsumgesell-
schaft zu scheitern scheint. Habermas hat in seiner Revision der Thesen zum Strukturwandel
der Öffentlichkeit die „Umstellung auf Massenkonsum bei wachsender arbeitsfreier Zeit“
(Habermas 1990, S. 25) als entscheidendes Problem herausgestellt. Während es den bürgerli-
chen Subjekten gelang, die Vorstellung von Freiheit und Gleichheit in ihrem Alltag als privat-
autonome Subjekte, als Eigentümer, mit einem Gefühl von Legitimität auszustatten, bleiben
die heutigen Angestellten und Arbeiter als Klientel des Wohlfahrtsstaates auch in ihrer all-
täglichen Praxis abhängig. Man kann – folgt man diesen Sätzen – nicht jemanden emanzi-
pieren, in dessen Horizont die Erfahrung von Souveränität nicht auftaucht. Was man aber
offensichtlich kann, ist, die Erfahrung der Illegitimität von Asymmetrien zu konservieren.
226 I. Saake und D. Kunz
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Von Kommunikation über Ethik zu „ethischer Sensibilisierung“ . . . 227
1 Problemaufriss
G. Atzeni () · K. Mayr
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
E-Mail: gina.atzeni@soziologie.uni-muenchen.de
K. Mayr
E-Mail: Katharina.Mayr@soziologie.uni-muenchen.de
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Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_10,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
230 G. Atzeni und K. Mayr
Vor allem der Bereich Biomedizin und -technik wirft Fragen auf, die einen an-
deren Modus der Problembearbeitung erforderlich machen. Das zeigt sich etwa
angesichts neuer technischer Möglichkeiten, aber auch angesichts einer Vielfalt
möglicher Perspektiven und Anschauungen, die nicht mehr allein durch das Ethos
der medizinischen Profession aufgefangen werden können. Der Habitus des klassi-
schen Arztes erlaubte aufgrund seiner Professionalität latent moralische Urteile in
Form von normativen Sätzen, die den Anschein sachlicher Feststellungen hatten.
Erst das Auseinanderfallen von sachlicher Expertise und professioneller Urteils-
kraft ermöglicht eine Reflexion, in der andere Perspektiven in Konkurrenz zu vor-
mals unhinterfragten Plausibilitäten treten und somit eine ethische Perspektive
überhaupt erst möglich machen (vgl. Nassehi 2009). Gründe für die scheinbare
Erosion des professionellen Expertenstatus in der modernen Gesellschaft sind we-
niger in der faktischen Veränderung professioneller Expertise zu suchen, als viel-
mehr in einer veränderten Erwartungshaltung ihrer Umwelt: „The traditional stra-
tegies of professionalization and the core values of professions are no longer able to
satisfy the new demands and needs of patients in knowledge-based societies. Nor
do traditional strategies serve the physicians’ aim to reduce uncertainty in medical
decision making and to build justified trust“ (Kuhlmann 2006, S. 615). Man muss
im Auseinanderfallen von sachlicher Expertise und professioneller Urteilskraft je-
doch nicht den Beleg für das Scheitern des professionellen Projekts sehen, sondern
gerade den Ausdruck seines Erfolgs. Wenn man der Idee folgt, dass die radikale
wissens- und statusmäßige Asymmetrie zwischen Professionen und ihrer Klientel
„keineswegs nur einen passiven, unselbständigen Laien hervorgebracht [hat], son-
dern gerade auf Grund ihrer gesellschaftlichen Bedeutung und Überzeugungskraft
eine der Quellen dafür [war], dass die Laien selbst wollen, was Professionelle und
Experten als ein Sollen ausbuchstabieren“ (Nassehi 2008, S. 348), erweist sich die
Konjunktur ethischer Praxisformen, die gegen die autoritäre Entscheidungsgewalt
von Experten auf Partizipation und Diskurs setzen, ironischerweise gerade als Er-
folgsbeweis professioneller Bemühungen um die Vermittlung von Vernunft.
Bemerkenswert ist hierbei die zunehmende Verschiebung ethischer Betrach-
tung von Fragen der privaten Lebensführung zu Fragen nach den Folgen organi-
sationalen Entscheidens, weshalb die empirischen Orte ethischer Betrachtung und
ethischer Entscheidung zumeist in organisationsgestützten Instanzen in Form von
Ethik-Gremien, wie etwa Arbeitsgruppen in Berufs- und Fachverbänden, Ethikrä-
ten, parlamentarischen Enquete-Kommissionen, Ethikkommissionen oder Klini-
schen Ethik-Komitees zu suchen sind.
Ziel all dieser Gremien ist es, ethisch fundierte Entscheidungen bzw. Stellung-
nahmen zu erarbeiten, wobei eine spezifische Form von ethischer Expertise in An-
spruch genommen wird. Interessanterweise setzen sich solche Gremien keineswegs
Ethische Expertise. Ethikkommissionen und Klinische … 231
Formen ethischer Expertise etablieren, wie dabei unterschiedliche Stile der Refle-
xion und unterschiedliche ethische Sprecher hervortreten – und doch ganz ähn-
liche Probleme damit gelöst werden (vgl. dazu auch die Gegenüberstellung dieser
Gremien in: Atzeni/Wagner 2010; Wagner/Atzeni 2011, 2013). Um zu verstehen,
welche organisationellen und rechtlichen Konstitutionen die unterschiedlichen
Ausprägungen ethischer Experten und ethischer Rede in Ethikkommissionen und
Klinischen Ethik-Komitees mit hervorbringen, stellen wir zunächst die historische
Genese und aktuelle Verfasstheit beider Typen ethischer Beratungsorganisationen
knapp vor (2.), um anschließend darzustellen, welche gesellschaftlichen Verände-
rungen überhaupt erst die Notwendigkeit ethischer Expertise für Fragen der (Bio)
Medizin entstehen lassen und welche Rolle diskursethische Ideale für diese „Ethi-
sierung“ der Medizin spielen (3). Vor diesem Hintergrund erörtern wir am em-
pirischen Material, wie sich der Umgang mit Wissen verändert, wenn fachliche,
professionelle Expertise nicht mehr alleiniger Garant für unhinterfragte autoritäre
Entscheidungen ist, und wie sich die diskursethische Forderung nach Begründung
von Positionen unter pluralistischen Bedingungen praktisch aber doch ganz anders
realisiert (3.1) und schließlich, warum die Idee konsensueller Einigung, die Idee des
zwanglosen Zwangs des besseren Arguments für die ethischen Gremien so wichtig
ist, wenngleich sie praktisch doch immer verfehlt werden muss (3.2). Anschließend
an Armin Nassehis Diagnose einer Gesellschaft der Gegenwarten fragen wir nach
den Leistungen, die Ethikkommissionen und Klinische Ethik-Komitees für eine
solche Gesellschaft erbringen (4.). Abschließend fassen wir zusammen, wie wirk-
mächtig diskursethische Ideale in den von uns beobachteten Gremien sind, wobei
diese ihre Kraft jedoch ganz anders entfalten, als sich dies eine akademische Ethik
vorstellt (5.).
Ethikkommissionen
1
Eine Ausnahme bildet hier die rechtliche Vorgabe des Landes Berlin, das anstelle des Ethi-
kexperten zwei Laien vorsieht.
234 G. Atzeni und K. Mayr
Klinische Ethik-Komitees
Die beiden von uns untersuchten Gremien zeichnen sich dadurch aus, dass die
klassische Form monoprofessioneller Entscheidungskompetenz nicht mehr aus-
zureichen scheint, um Entscheidungen zu legitimieren – im einen Fall wird dem
Ethische Expertise. Ethikkommissionen und Klinische … 235
Wenn wir also sehen, dass das grundsätzlich medizinisch und grundsätzlich juris-
tisch sozusagen legitim ist [I: mh] äh dann äh melden sich andere. Also ich würde
dann sagen: wie war das Studiendesign, ist das überhaupt adäquat, kann man
damit Erkenntnisse gewinnen, denn ohne sicheren Erkenntnisgewinn: Chancen
236 G. Atzeni und K. Mayr
wenigstens – äh – dürfen sie ja gar ned forschen. Sie dürfen ja überhaupt nur mit
Menschen forschen, wenn sie anders die Erkenntnisse die sie erbringen können,
sie diese Erkenntnisse aber brauchen. Wenn aber schon vom Versuchsdesign klar
ist, dass sie die Erkenntnisse gar ned gewinnen können, wäre die Studie schon
unethisch. (Guth, Z. 173–180)
Die disziplinäre Aufteilung ergibt sich hier direkt aus der Komplexität der For-
schungsanträge und der rechtlich bedingt kurzen Zeitspanne, in der die Voten
abgegeben werden müssen. Genauso eingespielt wie die Aufgabenverteilung sind
dabei typische interprofessionelle Konfliktlinien. Fast schon ironisch scheint die
Abgeklärtheit, in der ein Jurist die unvermeidbaren Perspektivendifferenzen zwi-
schen rechtlicher und medizinisch-wissenschaftlicher Betrachtungsweise von Pla-
ceboversuchen inklusive der eigenen Rolle als „böser Mahner“ beschreibt. Ganz
offensichtlich sind die Konfliktlinien und die Positionen der einzelnen Beteiligten
in den Verhandlungen robust und eingespielt. Nicht jedoch die Darstellung des
eigenen überlegenen Wissens gegenüber nichtwissenden Medizinern, sondern die
Unvermeidlichkeit differenter, gleichberechtigter Wissensformen wird hier reflek-
tiert. Interdisziplinarität wird nicht naiv als Mittel zur Auflösung professioneller
Differenzen gesehen, es wird nicht eigenes Wissen gegen die vermeintliche Unwis-
senheit anderer ins Feld geführt; der Eigenwert unterschiedlicher Wissensformen
und die prinzipiell unauflösbare Differenz wird anerkannt, ohne dadurch die Funk-
tionalität des Verfahrens in Frage zu stellen:
Ja, ja, es ist also, äh, es is a gewisse Arbeitsteilung. Also die Ärzte schaun sich jetzt
nicht die Versicherungsbedingungen und solche Sachen an (I: Mhm) des schaun halt
wir Juristen uns. Wir machen uns dann eher mal so laienhafte Gedanken und stellen
eben Fragen an die Mediziner, ob des jetzt wirklich medizinisch vertretbar ist die Risi-
ken und so weiter – ähm, also von daher (zögerlich) den, den, den Prüfplan muss ich
jetzt ned im einzelnen, äh, durchlesen und verstehen, welche Moleküle jetzt auf was
irgendwie da ansprechen – […] geht ja auch gar ned von der Ausbildung. Aber des,
des übernehmen die Mediziner und wir machen eher formale Geschichten und
(zögerlich) was sehr beliebt ist Placeboversuche, also dass eben damit man bessere
Ergebnisse erhält das Ganze über Placebo läuft, und da sind wir immer die bösen
– Mahner, die dann sagen, des geht nicht. Wenn eben etablierte Behandlungsmög-
lichkeiten da sind. – Also da sind die Mediziner eher geneigt zu sagen, im Interesse
der Wissenschaft passt schon und da kommen dann eher wir daher und sagen, also
ham ma Bedenken. (Jung, Z. 34–47)
seits lässt sich dadurch, dass die verschiedenen Professionen aufeinander Bezug
nehmen müssen, die Differenz der Perspektiven nicht einfach aufheben, sondern
sie tritt erst in voller Deutlichkeit hervor. Aus wissenschaftlichen Überlegungen he-
raus verspricht ein Untersuchungsdesign, das den Vergleich der Versuchsgruppe
mit einer Placebo-Kontrollgruppe ermöglicht, den größten Erkenntnisgewinn. Aus
juristischer Perspektive stellt sich ein solches Vorgehen problematisch dar.
Bei aller Pragmatik fällt auf, dass sich die professionelle Expertise in Ethikkom-
missionen über die sachliche Komponente auch als ethische Expertise präsentiert.
Das professionsspezifische (medizinische, juristische, statistische) Fachwissen ist,
in allgemeinverständlicher Darstellung, Entscheidungsgrundlage und eben durch
diese kommunikative Verflüssigung wechselseitig als nicht nur fachliche, sondern
auch ethische Expertise anzuerkennen.2 Die Kompetenzen und Expertisen sind
in Ethikkommissionen somit klar an die beteiligten Professionen verteilt, wobei
die Anerkennung fachlichen Wissens als ethisches Wissen eine Verhandlungsbasis
schafft, in der die Geltung fremder Expertise leichter anerkannt werden kann. Dies
zeigt sich etwa dann, wenn ein Jurist die seiner fachlichen (auf Individualrechte
bezogenen) Logik an sich fremde Anforderung der statistischen Verwertbarkeit
von Forschungsergebnissen im Interview von sich aus als ethisch bedeutsames Wis-
sen darstellt, so dass er ganz selbstverständlich von der „sogenannten statistischen
Ethik“ sprechen kann:
Und da kommt eben der Statistiker und sagt: wie wollen Sie bei dem Risiko, bei dem
Risiko und den möglichen, rein theoretisch, möglichen Schäden auf Dauer, wollen
Sie wirklich 20 Patienten zu – - zu einem Zwischenergebnis kommen? Ne, machen
wir nicht. dann kommt er ja, des is aber dann die sogenannte statistische Ethik.
(Veith, Z. 883–886)
Vor diesem Hintergrund ist auch die Rolle der sogenannten Ethikexperten, häufig
Theologen oder Philosophen, in den Kommissionen interessant. Sie treten dort ge-
rade nicht in der Rolle des ethischen „Bescheidwissers“3 auf. Von ihnen sind nicht
in erster Linie normative Argumente zu erwarten, vielmehr erklären sie ihre Posi-
tion als die eines exemplarischen Laien4, dessen Kompetenz sich nicht in einem
speziellen Sonderwissen zeigt, sondern darin, dass sie sich komplementär zu den
fachlichen Expertisen verhält. Indem, etwa im Hinblick auf die Verständlichkeit
der schriftlichen Aufklärungsformulare, die fiktive Position des Probanden über-
nommen wird, leisten die Ethikexperten ihren Beitrag.
2
Zur Form ethischer Rede in Ethikkommissionen vgl. Atzeni 2010.
3
Vgl. Rendtorff 2002.
4
Vgl. Atzeni und Voigt 2010, S. 219 f.
238 G. Atzeni und K. Mayr
Betrachtet man nun die Klinischen Ethik-Komitees mit einer ähnlichen Erwar-
tungshaltung wie die Ethikkommissionen, was professionelle Arbeitsteilung und
professionsspezifisch-konsitente Argumentationsweise angeht, ist man zunächst
erstaunt. Ein Medizinethiker, der Mitglied eines Ethik-Komitees ist, beschreibt:
I: Wie würden Sie denn in diesen diversen Arbeitsgruppen, […] Ihre spezielle Rolle als
Medizinethiker sehen? Also, ja, wo sehen Sie da Ihre Aufgabe, was da drinnen tun?“ B:
„Also zunächst einmal, unabhängig von irgendwelchen beruflichen Hintergründen,
oder Ausbildungshintergründen, denke ich, kann sich jeder einbringen insofern er
sich mit dem Thema schon beschäftigt hat und dazu Erfahrungen gesammelt hat, und
in dem er sich Gedanken gemacht hat dazu. Und meine Erfahrung ist, dass ich dann
auch relativ schnell so diese Rollen ver-, verwischen in diesen Gremien, also auch
der Arzt plötzlich sehr theoretisch argumentiert, der Medizinethiker dann aber
auch dann plötzlich medizinische Aspekte vorbringt, die er auch schon mitbekom-
men hat und so. Und dass-, ich will nicht sagen, dass sich das völlig aufhebt in diesen
Gruppen, aber, relativ schnell, wenn man zusammenarbeitet auch sehr fließend […].
(E-HB-29, 168–179)
Persönliche Einstellungen ebenso wie die professionelle Haltung dürfen nicht als
Unbedingtheiten in den Diskurs eingeführt, sondern müssen als prinzipiell verhan-
delbar dargestellt werden. Zum einen muss der Hintergrund, vor dem argumentiert
wird, sichtbar gemacht werden, um damit die eigene Perspektive als eine Perspek-
tive unter anderen auszuweisen. Zum anderen gilt es aber auch, allzu rollenkonfor-
me Muster der Argumentation zu durchbrechen, um sich als ethisch kompetenter
Sprecher auszuweisen, wie ein Oberarzt im Folgenden darstellt:
[…] aber wie gesagt, das ist eine ganz persönliche Einstellung und es ist auch eine
Herausforderung, die nicht bestimmend werden zu lassen, dass die immer mit-
schwingt, dass man die immer hat, bei der Entscheidungsfindung, gerade dann, wenn
es schwierig ist, das ist selbstverständlich, nur wir müssen da sehr struktu-, also sehr
transparent vorgehen und quasi auch die beteiligte Pfarrerin zum Beispiel […] die
hat das klar formuliert, für sie ist das einfach eine Tötung, und der Wert des-, und
so weiter, und sie kann da nicht stimmen, und dann hat sie dagegen, und das finde
ich-, ja? So. Das finde ich gut, dass sie das klar sagt, das ist natürlich schwierig,
wenn man sagt, Ihr könnt mir hier bieten, was Ihr wollt, ich werde immer Nein
sagen aus meinem Hintergrund, ne? Dann ist natürlich eine schwierige Situation
da. Aber, wenn sie im Einzelfall sagt, [zitiert] ich kann jetzt aus meiner Rolle auch als
Pfarrerin-, hier auf den Lebensschutz muß ich hinweisen, ne? Dann ist es ja transpa-
rent, ne? Nur dieses ‚Immer‘, das wäre schwierig. (E-HB-19, 302–314)
fessionalität darin, dass die eigene Position gestärkt wird, indem sie geschwächt
wird. Gründe verlieren hier an propositionalem Gehalt und gewinnen an perfor-
mativem Gewicht, wenn sie austauschbar erscheinen.
In den klinischen Komitees wird es offenbar als geradezu problematisch wahr-
genommen, wenn man z. B. aufgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten Pro-
fession schon wissen kann, wie jemand seine Position begründen wird. Ein guter
Diskurs lässt sich dann nicht mehr daran messen, dass unterschiedliche Disziplinen
konsistent über die Zeit hinweg argumentieren, sondern daran, dass rollentypische
Erwartbarkeiten systematisch enttäuscht werden. Man kann hier beobachten, was
Irmhild Saake und Dominik Kunz für ethische Fallberatungen konstatieren: „Eine
ethisch sensibilisierte Kommunikation ist eine solche, die sich kohärent so stilisiert,
dass sie nicht als kohärent erscheint“ (Saake und Kunz 2006, S. 55, vgl. entspre-
chend für Ethik-Komitees Nassehi et al. 2008). Ethisches Gewicht kann hier nicht
in erster Linie die fachliche Expertise für sich beanspruchen, im Gegenteil wird das
Verlassen gewohnter und erwartbarer Argumentationslinien als Ausweis ethischer
Kompetenz gewertet. Ganz praktisch bedeutet das, dass ein medizinisches Argu-
ment dann an Überzeugungskraft gewinnt, wenn es von einem Nicht-Mediziner
vorgebracht wird; der Mediziner überzeugt dann, wenn er aus einer fremden Pers-
pektive heraus argumentiert. Redundanz in der Argumentation bzw. die Festlegung
einzelner Teilnehmer auf eine spezifische Sichtweise hingegen schwächt den Wert
eines Beitrags, was für professionelle Argumente ebenso gilt wie für die Beiträge
der beteiligten Laien, die, anders als in den Ethikkommissionen, prinzipiell etab-
lierte Mitglieder in Komitees sind:
I: Mhm. Wie beurteilen Sie denn, äh, dass jemand dabei ist, der eigentlich kein Experte
in dem Sinne ist, sondern eben selbst eine ehemalige Patientin?
B: Ja, äh, das finde ich im Prinzip gut, ähm, allerdings ist es jetzt, äh, wir haben ja da
einen konkreten Fall im Auge, äh, da so, dass die, dieses Kommissionsmitglied, äh, ´n
bisschen sehr stark auf eigene Erfahrung, auf eigene Person abhebt und, äh, dass ist
manchmal ´n bisschen redundant, […]. (E-HT-6, 364–369)
B: „Also das-, ich finde das schon, ich, ähm, für mich ist es so, dass ich, ähm, auch da,
dass hab’ ich ja vorhin schon gesagt, wirklich oft, mich selber über mich wundere,“
I: „Mhm“. B. „dass ich durchaus auf-, doch immer wieder noch hingucken muss,
immer wieder revidieren muss, immer wieder dazulernen muss, dass alles gar
nicht so ausschließlich ist,“ (E-HT-2, 642–646)
Es wird eine Haltung postuliert, die ständiges Lernen, ständiges Revidieren ge-
wohnter Sichtweisen impliziert. Jedes Argument, jede Lösung erscheint als vor-
läufig, jede Entscheidung soll gleichzeitig mitkommunizieren, dass sie auch irren
kann. Für einen an Rationalität orientierten Blick kann eine solche Diskurskultur
als Unentschlossenheit erscheinen (vgl. Reamer 1987), für die Teilnehmer der
Klinischen Ethik-Komitees zeigt sich aber gerade darin die ethische Kompetenz
eines Sprechers. In diesem prinzipiell endlosen Prozess des ständig erneuten Ab-
wägens, des Überdenkens und des Widerrufens liegt hier gerade die eigentümliche
„Rationalität des Ethischen“. Begründet wird hier um der Begründung willen. Die
Pluralität von guten Gründen wird anerkannt und die Fähigkeit, eigene Gründe
zugunsten fremder zu überdenken, um dann genau diesen Begründungen wieder
zu misstrauen, stellt die ethische Kompetenz der Beteiligten dar.
Ethische Expertise. Ethikkommissionen und Klinische … 241
Ja, das ist-, ich meine, Frauenklinik ist natürlich nochmal ein eigenes hochbrisantes
Problem, der späte Schwangerschaftsabbruch gehört sicherlich zu den schwierigsten
Entscheidungen, die dann der Arzt fällen muß und da gibt es keine Lösung, das ist
eine Aporie, in der man letztendlich sich tragischerweise immer schuldig macht. So.
Und was notwendig ist, und was das Ethikkomitee und diese Arbeitsgruppe gewähr-
leistet ist, dass solche Entscheidungen, so schlimm sie sind, zumindest transparent
sind und einer gewissen Struktur obliegen, das heißt, es ist nicht so, dass das im
Kämmerchen geschieht, von einem, der letztendlich willkürlich oder autoritär ent-
scheidet, sondern es wird diskutiert vor externen Mitarbeitern, oder, oder Komi-, wir
sind ja nicht nur das Ethikkomitee dabei, da sind ja auch Genetiker dabei und Psy-
chosomatiker, Psychiater, im Falle einer Suizidgefährdung, oder so, so, und da wird
das sehr transparent gemacht und es muß argumentiert werden. Und das halte ich
für ein adäquates Vorgehen, wenn man ein Problem natürlich nicht lösen kann,
im Sinne von wir haben jetzt die beste Lösung gefunden, und wir sind alle einver-
standen, dann ermöglicht einem so ein Verfahren zumindest einen Diskurs, einen
transparenter Diskurs und damit das Beste, was man aus einer Situation machen
kann. Und die Entscheidung ist dann eine begründete, eine abgewogene, begrün-
dete Entscheidung, die gleichwohl weiß, dass sie natürlich auch irren kann. Und
das empfinde ich als sehr sehr positiv, auch an diesen manchmal wirklich schlimmen
Entscheidungen, an denen wir, das kam gestern raus, ja auch zu tragen haben! (E-HB-
19, 227–245)
Richtig, ich sag ja, wir wollen uns ja nicht äh wir wollen ja nicht in Haftung genom-
men werden und äh dazu müssen wir nachweisen, dass wir nicht grob fahrlässig
oder intentional gehandelt haben – und des ähm – und – deshalb achten wir da
sehr drauf und wir können eben auch und würden auch einen Juristen nicht über-
stimmen [I: mhm]. Man würde mit dem Juristen schon natürlich fragen, ob es wirk-
lich ein ethisches Problem damit hat also es ist nicht so, dass einer sagt (murmelt
muffelig) nö nicht, geht [I: lacht] und dann äh sagt man OK, nehm mas auf ins Votum.
Sondern – wir stellen da durchaus Fragen, äh ob es nicht doch n Weg gäbe oder so.
Oder ob wie hart das eingeschätzt wird, – und dann gibt’s eben oft typischerweise
die Diskussion zwischen Medizinern […] und den Juristen und wenn dann der
Jurist sagt, also er sieht da eigentlich kein Möglichkeit, aus dem und dem Grund,
– äh selbst wenn es einem ned passt, sagt man dann OK; der weiß wie’s ist. (Guth,
Z. 769–770)
Es lässt sich also feststellen, dass beide Gremientypen durchaus von der Kraft des
Arguments, der prinzipiellen Begründbarkeit und Begründungsnotwendigkeit
von (ethischen) Positionen ausgehen. Was jedoch jeweils als gutes Argument, als
geltungsberechtigter Grund im Verfahren funktioniert, unterscheidet sich nicht
nur zwischen den Gremien, sondern realisiert sich auch gegen die diskursethische
Idee, dass durch den Austausch rationaler Argumente Konflikte über Tatsachen
gleichsam weggearbeitet werden können. Eine systemtheoretische Perspektive
fragt deshalb nach den Formen geltungsberechtigter Gründe und deren Funk-
tion für diskursive Verfahren und geht nicht wie die Habermassche Diskursethik
(vgl. Habermas 1981; 1991). Für die Interpretation des Habermasschen Arguments
aus systemtheoretischer Perspektive s. Saake 2014) davon aus, dass der diskursive
Ethische Expertise. Ethikkommissionen und Klinische … 243
Austausch von Gründen, sofern nur die Rahmenbedingungen stimmen, aus sich
selbst schon zur Durchsetzung der rationalsten Lösung führt. Gilt den Klinischen
Ethik-Komitees nur der Grund als guter Grund, der selbst seine Veränderbarkeit
schon mittransportiert und somit einen Abschluss des Diskurses, die rationale
Durchsetzung eines Arguments per se verunmöglicht, muss in den Kommissionen
hingegen anerkannt werden, dass nicht alle Gründe mit dem selben Geltungsan-
spruch versehen sind, dass es prinzipiell Gründe gibt, die zwar diskursivierbar, aber
dadurch gerade nicht in ihrem Geltungsanspruch aufhebbar sind. Der zwanglose
Zwang des besseren Arguments als diskursethisches Ziel ist in beiden Fällen un-
erreichbar und spielt doch als idealer Horizont der Beratungen eine wichtige Rolle,
wie wir im Folgenden erörtern wollen.
Vielleicht könn’ Sie das in Ihren Arbeiten auch ma äh überlegen, es ist sozusagen
das Grundgesetz – Grundverfahrensregel für die Ethikkommission muss Konsens
sein! (Roth, Z. 925–927)
244 G. Atzeni und K. Mayr
Wenngleich wir oben gesehen haben, dass die Kommissionsdiskurse durchaus nicht
dem herrschaftsfreien Diskurs entsprechen, in dem jedes Argument ohne Ansehen
des Sprechers prinzipiell gleich geltungsberechtigt ist, scheint das normative Ziel
schon darin zu liegen, Entscheidungen weder auf Grundlage der Expertise Einzel-
ner noch aufgrund einfacher Mehrheitsverhältnisse zu fällen. Wie ein Befragter es
ausdrückt: „denn eigentlich sollte das ethische Argument zählen und nicht äh das
Prinzip: wir sind zwar die Dümmern dafür samma die Mehran“ (Roth, Z. 866–876).
Sowohl in Ethikkommissionen als auch in Klinischen Ethik-Komitees muss Pers-
pektivenvielfalt und die Erfahrung ihrer Unvermittelbarkeit praktisch handhabbar
gemacht werden. Der normative Appell und die Konsensfiktion reagieren dabei
gerade auf die Erfahrung, dass Konsens praktisch gar nicht herstellbar ist. Unter-
schiedliche Plausibilitäten lassen sich nicht gegeneinander ausspielen und schon
gar nicht argumentativ ineinander überführen. Dass mit der praktischen Herstel-
lung von Konsens gar nicht gerechnet wird, zeigt sich besonders deutlich an der
Verfahrensweise der Ethikkommissionen, die zu ihren Ergebnissen durch formelle
Beschlüsse kommen. Ließe sich tatsächlich Konsens herstellen, würde das von der
Notwendigkeit, ja von der Möglichkeit zu entscheiden, suspendieren. Die Redukti-
on von Positionen erfolgt nicht in Form einer argumentativ vermittelten Perspek-
tivenübernahme, sondern durch einen Entscheidungsprozess, der sich selbst noch
als ethisch reflektiert darstellen muss:
Nicht wahr, jedes Mitglied – gibt unter Umständen andere, äh,eine andere Stel-
lungnahme ab und dann setzn wa uns zusammen und überlegen wir uns, äh, wo
das Gewicht liegen muss. Es ist ein im Grunde genommen so etwas wie ein Norm-
entstehungsprozess nur eben, dass es nicht um Rechtsnormen sondern um ethische
Normen geht. Aber ganz wichtig ist, dass man nicht reingeht und sagt: nur so kann
es sein! Nicht, also alles Schwarz-weiß denken, äh, is verfehlt, sondern man muss
wirklich abwägen und versuchen möglichst viele Gesichtspunkte einzubeziehen (I:
mhm) also, äh, sozusagen die Komplexität zunächst mal aufarbeiten und dann red-
reduzieren auf eine Regel. (Roth, Z. 222–230)
Und dass das, dass [seufzt], dass da zu wenig Fortschritte halt, zu wenig Greifbares
letztendlich dabei rauskommt, denn diese Art Erörterung immer nur weiterzutreiben
in Details, ist ja nicht sehr produktiv und so. Und hat glaube ich auch die meisten
eher ein bisschen gelangweilt, also den Eindruck habe ich dann schon gehabt, es gab
schon immer Stimmen, die gesagt haben [zitiert] jetzt müssen wir aber mal Schluß
machen, und man muß es auch in Gottes Namen das Thema jetzt vorläufig been-
den, wenn es denn nicht endgültig zu beenden ist, und welches Thema ist, gerade
solche Sachen, ist denn schon endgültig? Das ist immer letztendlich überarbeitungs-
bedürftig dann noch, muß sein, entwicklungsbedürftig, eine Lösung kann immer nur
eine vorläufige Lösung sein und nicht eine endgültige. Und insofern war da die Ten-
denz auch da, mal Schluß zu machen mit dem Thema, um wieder frei zu werden,
um sich anderen Themen zuzuwenden. (E-WG-12, 507–517)
Während hier das Fehlen der Entscheidungsnotwendigkeit und der zeitlichen Be-
grenzung zwar eine detaillierte Erörterung der ethischen Probleme erlaubt, das
dem Ideal eines herrschaftsfreien Diskurses entspricht, erschweren diese Eigen-
schaften der Komitee-Diskurse jedoch den Abschluss des Diskurses. Auch hier
werden letztlich organisationale Ressourcen in Anspruch genommen, um mit
Verweis auf Knappheit eine Entscheidung zu treffen, nämlich die Ergebnisse des
Diskurses als vorläufige zu akzeptieren und die Diskussion zu beenden, zugunsten
anderer Themen.
vor welchem gesellschaftlichen Hintergrund sich ethische Formen nicht nur be-
währen müssen, sondern welche Lösung sie bei der Bearbeitung von Differen-
zierungsfolgen darstellen. Eine funktional differenzierte Gesellschaft stellt keine
einheitlichen Bezugspunkte und Kriterien zur Beantwortung schwieriger Fragen
bereit, weder klare Hierarchien noch gesellschaftsweit verbindliche Entscheidungs-
und Steuerungsinstanzen integrieren die disparaten Perspektiven. Die Ordnung
einer solchen Gesellschaft zeichnet sich auch nicht durch säuberlich getrennte,
sich wechselseitig ergänzende Funktionssysteme aus, sondern dadurch, dass ra-
dikal differente, eigenbezügliche Funktionslogiken in konkreten Situationen, wie
den von uns beschriebenen, aufeinanderprallen und eine einheitliche Perspekti-
ve verunmöglichen. Mit der Umstellung auf funktionale Differenzierung wird
die Möglichkeit der gesamtgesellschaftlichen Integration und Koordination über
moralische Regelwerke zunehmend unwahrscheinlich, da sich ganz unterschied-
liche Anschlussfähigkeiten etablieren, deren Leistungsfähigkeit gerade darauf be-
ruht, sich voneinander abgekoppelt zu haben. Die Multiinklusion von Personen in
unterschiedliche Funktionssysteme verlangt geradezu einen moralischen Oppor-
tunismus oder besser gesagt eine Amoralität, die darauf reagiert, dass auf Märkten
andere Regeln herrschen als im wissenschaftlichen Diskurs und umgekehrt. Die
funktional differenzierte Gesellschaft zerfällt in ein Nebeneinander unterschiedli-
cher inkommensurabler Logiken, wobei der Begriff des „Nebeneinanders“ irrefüh-
rend sein mag. Vielmehr handelt es sich um eine „Gleichzeitigkeit“, in der verschie-
dene Perspektiven in der Praxis aufeinander stoßen und sich in die Quere kommen.
Hierin begründet sich Armin Nassehis Diagnose einer „Gesellschaft der Gegen-
warten“ (Nassehi 2003, S. 159 ff., 2006, S. 375 ff.). Die moderne Gesellschaft ist
charakterisiert durch die „Gleichzeitigkeit der Ungleichzeitigkeit“ verschiedenster
Sachlogiken, die nur echtzeitlich operieren können. Differenziertheit zeigt sich in
der Multiplikation von Anschlussmöglichkeiten, die eben gleichzeitig als mögliche
und legitime Perspektiven auf ein und denselben Gegenstand erscheinen. Ob etwa
bestimmte Formen medizinischer Forschung angemessen sind, stellt sich sowohl
als wissenschaftliche als auch als medizinische, ökonomische und nicht zuletzt als
juristische Frage, ohne dass eine Einigung möglich wäre, bei der etwa zugunsten
ökonomischer Aspekte juristische vernachlässigt werden könnten. Exakt darin
zeigt sich die Inkommensurabilität der unterschiedlichen Perspektiven, die einan-
der nicht ersetzen können und sich dabei teilweise radikal widersprechen. Moder-
nität scheint gerade darin zu bestehen, mit Differenziertheit und deren Ambiguität
umzugehen, ja sogar Formen zu finden, die in der Lage sind, daraus Sicherheiten
und Eindeutigkeiten zu generieren.
Ethikgremien als Orte praktischer Interdisziplinarität, an denen unterschiedli-
che Logiken aufeinander treffen, bzw. das Aufeinandertreffen verschiedener Sicht-
Ethische Expertise. Ethikkommissionen und Klinische … 247
Die Frage nach der Leistung von Ethikkommissionen klingt zunächst banal, han-
delt es sich doch um eine Behörde, deren Leistung gesetzlich auf die Entscheidung
über die Zulässigkeit medizinischer Forschung am Menschen festgelegt ist. Wenn
wir jedoch nach der Leistung der Ethikkommissionen in einer Gesellschaft der
Gegenwarten fragen, geht es um mehr. Diskursive Verfahren wie das der Ethik-
kommissionen stellen eine mögliche und verbreitete Form dar, auf die Zumutung,
unter der Bedingung radikaler Differenzierung dennoch entscheiden zu müssen,
zu reagieren. Erwartet man unter dem bedeutsamen Titel Ethikkommission eine
Veranstaltung, in der diese Perspektivendifferenzen weggearbeitet werden können
und sich der clash of perspectives durch diskursive Kräfte in selbstverständliche
Eindeutigkeiten verwandelt, scheint nicht viel gewonnen. Man sieht, wie sich in
einem Punkt Juristisches, ein andermal Medizinisches durchsetzt und eben nichts
dazwischen und man sieht, wie sich (professionelle) Positionen – und zwar gerade
im Plural – nicht zugunsten einer übergeordneten Metaperspektive auflösen, son-
dern sogar noch verfestigen. Und dennoch „funktionieren“ diese Kommissionen
erstaunlicherweise. Es bilden sich Strukturen, Abstimmungsregeln heraus, es eta-
blieren sich Lösungen für das Problem zumindest punktueller, temporärer gesell-
schaftlicher Koordination über den Verweis auf Ethik. Für die multidisziplinären
Kommissionen erfüllt das Ethik-Label eine Art Übersetzerfunktion (vgl. Atzeni
und Wagner 2010). Es wird möglich, die verschiedenen inkongruenten Perspekti-
ven zwar nicht ineinander zu überführen, aber doch aufeinander einzustellen. Es
248 G. Atzeni und K. Mayr
5 Fazit
Welche Schlüsse legen die dargestellten empirischen Daten nun für die Frage nach
den Formen und Orten ethischen Argumentierens in der modernen Gesellschaft
nahe? In den beschriebenen Ethik-Gremien realisiert sich eine diskursive Ethik,
die sich zumindest implizit an den theoretischen Idealen der Diskursethik orien-
tiert und gemessen daran fast zwangsläufig enttäuschen muss. Zwar werden gemäß
eines diskursethischen Programms (vgl. etwa Kettner 2005) Sprecher etabliert und
Perspektiven als symmetrische Positionen anerkennungspflichtig, jedoch lassen
sich die Argumente gerade wegen der als gleichberechtigt erfahrenen Perspektiven
nicht durch die Asymmetrie des besseren Arguments verknappen.
Jedes vorgetragene Argument erhält seine Würde dadurch, dass es gemäß dem
jeweiligen ethischen Format performativ eingebracht wird. Der Diskurs in den Kli-
nischen Ethik-Komitees produziert dabei Gründe, die sich losgelöst von erwart-
baren Rollenmustern als vorläufig und revidierbar präsentieren, während in den
Ethikkommissionen Argumente an professionelle Expertise gebunden bleiben, de-
ren ethische Qualität aber aus der Orientierung an einem Verständlichkeitspostulat
resultiert. In beiden Fällen wird die Anerkennung verschiedenartiger aber prinzipi-
ell gleichwertiger Positionen eingeübt. Das klingt zunächst banal, erweist sich aber
bei genauerer Betrachtung als geeignet, die grundsätzliche Zumutung einer plural
verfassten Gesellschaft zu bearbeiten.
Auch wenn beide Gremien aufgrund ihrer Organisationsformen mit unter-
schiedlichen Ressourcen und Restriktionen ausgestattet sind, wird mit Hilfe des
Labels Ethik auf dasselbe Problem reagiert, nämlich, dass die gesellschaftliche
Gleichzeitigkeit von Ungleichzeitigkeiten monoprofessionelle Entscheidungsla-
gen problematisch werden lässt. Ethische Expertise ersetzt professionelle Expertise
nicht, sondern stellt einen Modus dar, in dem die radikale Unterschiedlichkeit der
Perspektiven handhabbar gemacht wird. Nur durch organisationales Entscheiden,
das auf Ressourcen zurückgreift, die geradezu unethisch erscheinen müssen, das
aber dennoch als ethisches Verfahren darstellbar sein muss, kann dies gelingen.
Diese Beschreibung wollen wir explizit nicht als Mangeldiagnose verstanden wis-
sen. Wir wollen damit nicht sagen, dass die dargestellten Gremien ein „Domes-
tikationsinstrument der Expertokratie“ (vgl. Mieth 2001) sind oder dass es dort
nur um strategische Akzeptanzbeschaffung unter dem Deckmantel der (Diskurs-)
Ethik geht. Auch wenn die Gremienethik als soziale Praxis durch andere struktu-
relle Merkmale geprägt ist, geht es in den Gremien tatsächlich um die Idee von Ver-
ständigung und Konsens. Diese macht ethische Expertise erst möglich und nötig
und stattet die Entscheidungen mit einer besonderen, einer ethischen Qualität aus.
Ethische Expertise. Ethikkommissionen und Klinische … 251
Solche Formen praktischer Ethik produzieren zwar nicht per se moralisch bes-
sere Entscheidungen, aber sie ermöglichen den Umgang mit gesellschaftlicher Dif-
ferenz, also mit einer Perspektivenvielfalt, die sich nicht wegdiskutieren lässt. Vor
dem Hintergrund eines Gesellschaftsverständnisses, das die wesentlichen Heraus-
forderungen der Moderne nicht darin sieht, allgemein verbindliche Eindeutigkei-
ten zu generieren, sondern darin, die verschiedenen Eindeutigkeiten aufeinander
beziehbar zu machen, ist es eine nicht zu unterschätzende ethische Errungenschaft,
dass gerade in Organisationen Orte etabliert werden können, an denen sich die
Anerkennung anderer Perspektiven praktisch einüben lässt. Das befreit zwar nicht
von den Notwendigkeiten der jeweiligen organisationalen Entscheidungspraxen,
dennoch stellen sich dadurch auch monoprofessionelle Entscheidungen in einen
anderen Horizont.
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252 G. Atzeni und K. Mayr
Elke Wagner
Jedes denkbare Ereignis ist moralisierbar. Umso mehr stellt sich für die Soziolo-
gie die empirische Frage, wann welche Sachverhalte auf welche Weise moralisiert
werden. Diese Frage lässt sich auch angesichts der aktuellen medizinethischen
Diskussion stellen. Was ist in dieser vielfältigen und prominent geführten öffent-
lichen Diskussion zur Medizinethik ein ethischer Fall? Dass es hier Unterschiede
gibt, zeigt bereits ein erster vorsichtiger Blick auf die medizin- resp. bioethische
Beratungslandschaft: während sich Nationale Ethikgremien vorwiegend damit
beschäftigen politische Entscheidungen vorzubereiten, befassen sich Forschungs-
Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes (AMG) mit rechtlich klar definier-
ten Prüfvorgaben, die eingehalten werden müssen, wenn klinische Forschung am
Menschen durchgeführt wird. Klinische Ethik-Komitees (KEKs) schließlich lassen
den Referenzrahmen nahezu völlig offen: dass ethisch beraten werden soll, wird in
Satzungen und Selbstbeschreibungen von Klinischen Ethik-Komitees klar heraus-
gestrichen – in welchen Problemlagen der ethische Gehalt aber gefunden werden
soll, darüber verbleiben die Angaben relativ offen. Die Antwort auf die Frage, was
ein ethischer Fall ist, wird im Falle Klinischer Ethik-Komitees offenbar vorwiegend
in der Verfahrensform gesehen, nicht so sehr in der vorab erfolgten Bestimmung
konkreter Fallkonstellationen. Drei Aufgaben werden den Klinischen Ethik-Komi-
tees in der Literatur klassischerweise zugeschrieben: Beratung in konkreten ethi-
schen Entscheidungssituationen, die Entwicklung von Richtlinien für ethisch pro-
blematische Entscheidungen und die Bildung über bioethische Sachverhalte (vgl.
auch Simon 2000; Spicker 1998; Lilje 1995).1 Die Satzungen Klinischer Ethik-Ko-
1
Joerden (2005) erweitert diese Liste. Er geht von folgenden zehn Funktionen aus: Kon-
sensfindungsfunktion, Streitentscheidungsfunktion, Demokratisierungsfunktion, Norm-
E. Wagner ()
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Mainz, Deutschland
E-Mail: wagnere@uni-mainz.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik – Normen – Werte, Studien zu einer 255
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_11,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
256 E. Wagner
Ethik als Begriff findet sich aktuell in unterschiedlichsten Formen sozialer Praxis
wieder. Die Zunahme bereichsspezifischer Ethiken demonstriert diesen Zusam-
menhang. Sei es nun die Medienethik, die Wirtschaftsethik, die Rechtsethik, die
Sportethik, die Umweltethik, die Tierethik, die Entwicklungsethik, um nur einige
Beispiele zu nennen – zusehends häufiger scheint es für die Gesellschaft notwendig
zu werden, auf ethische Selbstbeschreibungen zurück zu greifen. „Ethisch codierte
Kommunikation ist mittlerweile in fast alle gesellschaftlichen Subsysteme diffun-
diert“ (Bogner et al. 2008, S. 245; siehe auch Krohn 1999). Die Frage, die sich vor
diesem Hintergrund aufdrängt ist, warum es hierzu kommt. Was macht die Ethik
so anschlussfähig? Und: Was meint überhaupt der Verweis auf Ethik? Die Pluralität
der Anschlüsse scheint zumindest einen Hinweis darauf zu geben, dass es sich bei
der Ethik um ein relativ offenes Format handelt, das überall verwendet werden
kann. Bei der empirisch vorfindbaren Ethik geht es ganz offensichtlich nicht dar-
um, an systematische Ethiken der (angewandten) Philosophie anzuschließen. Zwar
greifen Klinische Ethik-Komitees in ihren Satzungen auf die Einsicht der Diskurs-
theorie in die verfahrensmäßige und interdisziplinäre Organisation von ethischer
Argumentation zurück. Gleichzeitig versucht sich eine an der Praxis klinischer
Ethik-Komitees ausgerichtete Perspektive von der Festlegung auf eine bestimmte
ethische Theorie abzugrenzen. So heißt es etwa in einer KEK-Satzung:
Im praktischen Diskurs der Komitees spielt die Frage nach der philosophischen
Zuordnung der Ethik Klinischer Ethik-Komitees überhaupt keine Rolle mehr. Der
Verweis auf Ethik im praktischen Kontext löst vielmehr ganz eigene, praktische
Probleme. Im Falle klinischer Ethik-Komitees besteht die Lösung darin, unter-
schiedliche Perspektiven aufeinander einstellen zu helfen und einem gemeinsamen
Diskurs zuzuführen. In medizinethischen Diskursen werden unterschiedlichste
Publika sichtbar, die über den Rückgriff auf den gemeinsamen ethischen Rahmen
füreinander anschlussfähig werden. Ähnlich einem Label oder einem leeren Signifi-
258 E. Wagner
kanten (Laclau 1996, S. 65 ff.) nimmt Ethik hier die Gestalt eines Gemeinschaft stif-
tenden Rahmens an, der Vergleichsarrangements eröffnet. Ähnlich wie für Laclau
der Begriff der Gesellschaft eine Unterbestimmtheit ausweist, die dann diskursiv
(politisch) ausgefüllt und praktisch immer wieder neu weggearbeitet wird, erweist
sich der Begriff der Ethik als ein funktional unterbestimmter, dessen Bedeutung je-
weils praktisch hergestellt werden muss. Das Label der Ethik bündelt Diversitäten,
macht diese füreinander sichtbar und ermöglicht Vergleichbarkeit, ohne selbst et-
was zu meinen. Eben weil Ethik im praktischen Diskurs nahezu nichts meint, kön-
nen diverse Sprecher hieran anschließen und in den Diskurs eintreten. Insofern
erweist sie sich gerade in ihrer Unterbestimmtheit für ein pluralistisch-liberales
Paradigma als funktional. Die so betrachtet richtige Beobachtung einer Margina-
lisierung der Ethik im ethisierten Verfahren (Bogner 2009) erweist sich damit nicht
als Problem sondern als Lösung für die Herstellung von Diskursbedingungen, an
die unterschiedlich angeschlossen werden kann: eben genau in der Unterbestim-
mung eines möglichen ethischen Gehalts zeigt sich die Ethik des Verfahrens: nun
kann potentiell jeder an die Verfahrensform anschließen und partizipieren – bei
einer konkreteren Bestimmung von Ethik wäre dies womöglich ein Problem. Ich
habe dies an anderer Stelle gemeinsam mit Gina Atzeni bereits ausgeführt (Wagner
und Atzeni 2011).
So sehr sich die Unbestimmtheit des Labels der Ethik als praktikabel für die An-
schlussmöglichkeit unterschiedlicher Perspektiven erweist: sie erzeugt gleichsam
Folgeprobleme. Die praktische Ethik Klinischer Ethik-Komitees impliziert trotz
aller Unbestimmtheit einen spezifischen Diskurs mit eigenständigen Schemata der
Thematisierung, Rollenvorgaben und Zeitstrukturen, die nicht ohne weiteres in
den Organisationskontext eines Krankenhauses eingebaut werden können. Sicht-
bar wird, wie die Etablierung einer eigenständigen und neuartigen Kontextur des
Ethischen im Krankenhaus praktisch hergestellt werden muss. Das Problem besteht
dabei darin, dass Klinische Ethik-Komitees mit all dem brechen, was die Organi-
sation eines Krankenhauses zur Vorgabe macht: asymmetrische Rollenstrukturen,
eindimensionales Entscheidungsverhalten, Routinen, knappe Zeitstrukturen. Die
empirisch spannende Frage ist vor diesem Hintergrund, wie es den interaktions-
nah gebauten Klinischen Ethik-Komitees gelingt, sich innerhalb den Strukturen
eines Krankenhauses zu bewähren. Hieran wird sichtbar, dass sich der praktische
ethische Diskurs nicht in jener konsistenten Welt bewegt, die vom theoretischen
Diskurs einer angewandten Ethik offenbar stets angenommen zu werden scheint
Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer … 259
Die praktische Ethik plausibilisiert ihr eigenes Selbstverständnis über das Moment
der Versprachlichung: ethisch zu reden, bedeutet in erster Linie: zu reden – und
eben dies soll in Klinischen Ethik-Komitees in Gestalt einer symmetrischen Ge-
sprächssituation zwischen unterschiedlichen Klinikmitarbeitern (Ärzten, Pflege-
kräften, Theologen, Mitgliedern der Krankenhausverwaltung) verwirklicht wer-
den.4 In diesem Sinne folgen Klinische Ethik-Komitees den Prämissen der Haber-
masschen Diskursethik: „Der Diskursethik zufolge darf eine Norm nur dann Gel-
tung beanspruchen, wenn alle von ihr möglicherweise Betroffenen als Teilnehmer
eines praktischen Diskurses Einverständnis darüber erzielen (…), dass diese Norm
gilt“ (Habermas 1983/1999, S. 76). Eben jene Prämisse der Diskursivierung wird in
Klinischen Ethik-Komitees aber zunächst zum Problem. Ein Blick auf das empiri-
sche Material zeigt, dass es für die Mitglieder klinischer Ethik-Komitees hinsicht-
lich der Fallbesprechungen anfänglich schwierig ist, miteinander ins Gespräch zu
kommen. Zur Illustration sei auf zwei unterschiedliche Situationen verwiesen.
Löwe (Theologe, Moderator) hat sein Arbeitspapier vorgestellt und will nun wissen,
was die Komitee-Mitglieder davon halten. Er sagt, es sei wichtig, sich hinsichtlich
ethischer Beratung im Klinikum auf eine einheitliche Vorgehensweise zu einigen.
,Können Sie was damit anfangen? Halten Sie es für übertrieben?‘, fordert Löwe die
Komitee-Mitglieder zur Diskussion auf. Diese verharren in Schweigen. Keiner mel-
det sich, worauf Löwe dazu übergeht, das von ihm vorgestellte Konzept noch ein
wenig zu erläutern. (T-EH-6, Z. 81–87)
4
So lesen sich etwa die Ausführungen in der Begründungsschrift der konfessionellen Kran-
kenhausverbände zu klinischen Ethik-Komitees: „Im Namen der Ethik heißt: Unparteilich-
keit und Universalisierbarkeit. Die Rolle der allgemeinen Ethik ist es dann, dafür zu sorgen,
dass das, was aus den verschiedenen Fachbereichen als fachlich richtig erkannt wurde, wahrzu-
nehmen und die unterschiedlichen Standpunkte gerecht und ausführlich zu Wort kommen zu
lassen, so dass diese für die anderen auf ihrem jeweiligen Hintergrund plausibel und einsichtig
werden. Bei dieser unparteilichen und formalen Moderation wird es darum gehen, allge-
meine ethische Werte wie Wahrhaftigkeit, Respekt vor dem Anderen, Freiheit und Selbstbe-
stimmungsrecht vor dem Hintergrund des konkreten Konfliktes zu entfalten und mit in den
Entscheidungsfindungsprozess einzubringen.“ (Katholischer Krankenhausverband Deutsch-
lands/Deutscher Evangelischer Krankenhausverband 1997, S. 10, Hervorh. E.W.).
260 E. Wagner
Die Schwester: ‚Und muss man da keine Repressalien fürchten, wenn man da ein-
fach anruft?‘ Stern: ‚Ihre Angst ist unter Umständen vielleicht berechtigt, das kann
natürlich sein. Das sollte man vielleicht eher vor Ort auf Station klären.‘ Prof. Nie-
mann (Mediziner), wohlmeinend: ‚Ich finde, Sie sollten dieses Problem erst einmal
auf Station zur Sprache bringen und versuchen zu klären. Da muss bei allen Beteilig-
ten ein Lernprozess einsetzen. Ich möchte nur davor warnen, die Ethikberatung bei
Konflikten als Schlichter anzurufen, das ist so nicht gedacht!‘ Die Schwester: ‚Es ist
halt so, auf einer gewissen Ebene, sag ich mal, da herrscht die gleiche Meinung über
5
Insofern lässt sich aus dem hier zur Darstellung gebrachten empirischen Material eine Er-
gänzung der Argumentation von Alexander Bogner vornehmen, wenn dieser beobachtet,
dass in Bürgerkonferenzen keine ethische Argumentation zustande kommt: „Ein freies Flot-
tieren ethischer Argumente lässt sich nicht beobachten, jedenfalls nicht im Plenum. Die ethi-
sche Debatte blieb der Selbstorganisation der Bürger überlassen; sie fand in Kleingruppen
und in privaten Treffen am Rande der Veranstaltung statt.“ (Bogner 2010, S. 101). Bogner
scheint damit davon auszugehen, dass Bürger immer schon wüssten, was ethische Argumen-
tation meinen könnte. Diese ergibt sich jedoch nicht einfach von selbst, sondern muss je nach
Problembezug der Situation erst praktisch erzeugt werden.
Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer … 261
solche Sachen, eben zum Beispiel auf Station, aber weiter oben, da sieht das dann
anders aus. Und wenn man jetzt damit ankommt, also ich muss schon sagen, da
hat man auch Angst vor Entlassung!‘. T-HB-9, Z. 220–248)
In der Diskussion, die sich hier abbildet, wird das Problem, ethisch miteinander ins
Gespräch zu kommen, vordringlich als Hierarchieproblem dargestellt. Und man
kann das Problem, ethisch über medizinische Sachverhalte zu sprechen, durchaus
als Hierarchieproblem begreifen. Werner Vogd (2008) hat etwa sehr eindrücklich
in seiner Studie über medizinisches Entscheidungsverhalten im Krankenhaus dar-
gelegt, wie schwierig es ist, über Hierarchiegrenzen hinweg ins Gespräch zu kom-
men. Auch Kettner erklärt die Genese klinischer Ethik-Komitees unter anderem
mit Autonomiebestrebungen, die der hierarchischen Ordnung des Krankenhauses
zuwider laufen: „Unsere Krankenhäuser sind in der Regel auf vielfältige Weise hier-
archisch organisiert. Das macht die Anerkennung und Ausbalancierung von Auto-
nomie im Plural so schwierig. Es sind vor allem die mit (unvermeidlichen) Hier-
archien einhergehenden Grenzziehungen bzw. Wahrnehmung der oft mit ihnen
verbundenen moralischen Kosten, die KEKs sowie (…) Ethikberatung auf Station
attraktiv machen: Diese neuen moralischen Institutionen versprechen allemal die
Bewusstmachung, womöglich sogar die Lösung von schwerwiegenden Moralpro-
blemen, die sich von Stations-, Disziplin-, Status-, Kompetenz- und Kommunika-
tionsgrenzen im modernen Klinikbetrieb herschreiben.“ (Kettner 2005, S. 10). Und
auch weite Teile der medizinsoziologischen Literatur sind durchzogen von dem
Verweis auf die hierarchisch organisierte Arzt-Patienten-Interaktion im Kranken-
haus, die durch eine Autonomisierung des Patienten gelöst werden soll (Parsons
1951/1968; Siegrist 1977; Freidson 1979; im Überblick Lachmund und Stollberg
1992; Stollberg 2001).
Die vorliegende Analyse nimmt das Phänomen aus einer alternativen Perspek-
tive in den Blick. Hierarchien erscheinen deswegen als Problem der Verständigung
weil sich mit klinischen Ethik-Komitees eine separate Gegenwart (Nassehi 2003,
2006, 2008) im Krankenhaus ausmachen lässt, die einer eigenständigen Logik und
einem eigenständigen Zeitmuster folgt – diese eigenständige ethische Gegenwart
ermöglicht einen Rahmen, in dem die herkömmlichen Rollenerwartungen einer
Organisation überhaupt erst als Problem erscheinen können. Das Bezugsproblem
besteht sowohl auf Station als auch im Ethik-Komitee in riskanten Entscheidungs-
lagen. Sie werden aber jeweils unterschiedlich bearbeitet. Während es auf Station
um eine Verknappung von an der Entscheidung beteiligten Sprechern geht, und am
Ende die Entscheidung des Mediziners steht, zielt die Beratung im Ethik-Komitee
auf eine Beteiligung unterschiedlicher, pluraler Sichtweisen ab, die die medizinische
Alleinentscheidung zunächst einmal in Frage stellen. Und genau deshalb tauchen
Hierarchien als Problem auf: weil nun in einem anderen Kontext anders miteinander
262 E. Wagner
gesprochen werden kann. Dass der Arzt in bestimmten Situationen das Sagen hat,
dürfte innerhalb von Krankenhausroutinen oftmals weitgehend unproblematisch
sein. Erst innerhalb des Ethik-Komitees erscheinen diese als Problem, weil sich hier
eine alternative Kontextur des Sozialen etabliert – das derart identifizierte Problem
stellt sich insofern gleichsam als Lösung dar für die Frage danach, worüber man
eigentlich sprechen kann und soll im Rahmen eines ethisierten Verfahrens. Dass
diese Frage satzungsmäßig offen gelassen wird, ist zwar im Hinblick auf Partizipa-
tionsmöglichkeiten funktional – in sachlicher Hinsicht stellt die Offenheit indes ein
Problem dar, dass praktisch gelöst werden muss. Unter anderem auch deshalb mag
die Verfahrenspraxis klinischer Ethik-Komitees Juristen mit einem unwohlen Ge-
fühl hinterlassen und zu einem Rückbezug auf das Recht motivieren, wie man an
der Genese der Forschungs-Ethikkommissionen des Arzneimittelgesetzes (!) sehr
schön sehen kann (vgl. hierzu Fateh-Moghadam und Atzeni 2009) – was klinische
Ethik-Komitees eigentlich tun, bleibt einer an Entscheidungen orientierten juristi-
schen Sicht deshalb relativ fremd, weil es in klinischen Ethik-Komitees vorwiegend
nicht um Entscheidungsverhalten geht. Und auch die Komitee-Mitglieder selbst
scheinen deshalb zunächst mit Befremden auf die geforderte Kommunikationspra-
xis zu reagieren: Klinische Ethik-Komitees sprechen vordringlich nicht die Sprache
der Entscheidung sondern jene der Verflüssigung von Entscheidungen, die oftmals
bereits auf Station oder seitens der Verwaltung getroffen worden sind. Festgehalten
werden kann bis hierher jedenfalls, dass ohne Bezug auf das Entscheidungsverhal-
ten auf Station die kommunikative Praxis im Ethik-Komitee nicht denkbar wäre.
Die ethische Rede ist unmittelbar hierauf bezogen – und will sich ihrer gleichsam
entziehen.
Die Lösung für den kommunikativen Umgang mit riskanten Entscheidungs-
lagen wird im Ethik-Komitee im Einbezug weiterer Stellungnahmen gesehen. Da
die Krankenhausmitarbeiter aufgrund ihres Klinikalltages aber an vordringlich
medizinische Entscheidungsmodi gewöhnt sind, wird die ethische Form der Ver-
sprachlichung und gegenseitigen Verständigung zunächst zum Problem: wie lässt
sich über ethisch problematische Fälle vor einem Publikum als symmetrischer Teil-
nehmer sprechen? Und lässt es sich wirklich umgehen, dass die entscheidungsferne
und symmetrische Sprache im Ethik-Komitee nicht trotzdem durch die Organisa-
tion als Entscheidung zumindest zugerechnet wird? Die Frage der oben zitierten
Krankenschwester zielt darauf ab, wie die ethische Kommunikation im Komitee
durch die herkömmlichen Rollenvorgaben einer Organisation zum Problem wer-
den kann. Obwohl eine symmetrische Kommunikation im Komitee angestrebt
wird, sieht die Krankenschwester sehr wohl, dass eine Organisation offenbar gar
nicht daran vorbei kann, selbst diese Art der Kommunikation nach den herkömm-
lichen Mustern der Hierarchisierung und Entscheidungsbasiertheit zu beobachten.
Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer … 263
Es ist dann gerade von Interesse, wie sich trotz hierarchischer Grenzen ein Diskurs
etabliert, der auf Symmetrie abstellt. Und wie sich trotz dieses symmetrischen Dis-
kurses ein Krankenhausalltag fortsetzt, der weiterhin – aus funktionalen Gründen
– auf Hierarchie bauen kann. Die Hoffnung einer angewandten Medizinkritik, wie
sie etwa Matthias Kettner vertritt, im Krankenhaus Hierarchien abzubauen oder
gar ganz zu vermeiden, ist aus soziologischer Sicht einerseits zunächst erklärungs-
bedürftig und weiterhin fraglich. Soziologisch erklärungsbedürftig daran ist, wie
eine sozialpolitische Forderung nach Symmetrie nun nahezu selbstverständlich
Einzug in Organisationen hält: wie kommt es dazu, dass die klassischen Bilder
vom Organisationsmitglied – der Fachmensch ohne Geist (Weber) – im Organi-
sationskontext verdächtig werden? Fraglich ist die Hoffnung auf Hierarchieabbau
im Krankenhaus deswegen, weil sie den funktionalen Ablauf medizinischer Praxis
gefährden würde (vgl. Saake 2003): Wer würde schon gerne von einem Mediziner
operiert werden, der sich vor jedem Arbeitsschritt mit der Intensivpflegekraft auf
gleicher Augenhöhe zu verständigen suchen würde?
Die Debatte im ethischen Verfahren geht davon aus, dass mehr beteiligte Sprecher
zu besseren Ergebnissen führen. Je mehr Personen mitreden können, umso besser
hält sich der ethische Diskurs am Laufen, so die Vermutung.
(…) Dr. Linger (Arzt): ‚Es ist gut, unterschiedliche Argumente zu sammeln, die zei-
gen, dass es auch andere Meinungen gibt als die des Arztes. Wir können nicht aus
dem Bauch raus entscheiden. Die Argumente müssen gut sein.‘ Und hiermit meint
Dr. Linger, dass die Entscheidungsfindung anders verlaufen müsse als in Arztbe-
sprechungen. Dort herrsche Diktatur, so Dr. Linger: ‚Das ist die Denkweise der
Ärzte und das macht das Ganze schwierig.‘ Hier im Komitee sei hingegen Refle-
xion und Beratung gefragt, keine eindimensionale Art der Entscheidungsfindung.
(T-WG-14, Z. 179–208)
Gut im Sinne von ethisch ist es, aus Sicht der Teilnehmer im Diskurs Klinischer
Ethik-Komitees, wenn plurale Sichtweisen in den Diskurs eingebracht und diese
der einzelnen Meinung des Mediziners gegenübergestellt werden. Ganz ähnlich
stellt sich die Rede in einem weiteren Ethik-Komitee dar. Diesmal geht es um die
Ausweitung von Sprechern hinsichtlich ihrer religiösen Prägung:
264 E. Wagner
Es geht um die Besetzung des Komitees, die nicht von der Krankenhausleitung son-
dern von den Komitee-Mitgliedern selbst vorgenommen werden soll. Angesprochen
wird der Fall, dass wenn der Anteil der Muslime im Krankenhaus hoch ist, von
dieser Religionsgruppe auch jemand im Komitee sitzen müsste. Bzgl. Trauerarbeit
und in medizinischen Fragen würden hier andere Verhältnisse bestehen, so Löwe
(Theologe, Moderator). (…) Die Besetzung des Komitees mit Muslimen könne aber
eine Fallkonstellation darstellen, die die Krankenhausleitung nicht mitmachen kön-
nen würde. Auch Frau Kant (Medizinerin) meint, dass die Mitglieder des Komitees
vom Komitee selbst bestimmt werden sollten. Bezüglich der Benennungskompetenz
durch die Krankenhausleitung besteht offenbar Misstrauen. Kant: ‚Wenn die Leute
durch die Krankenhausleitung benannt werden, könnte es sein, dass das nicht inno-
vativ ist.‘ Was die Besetzung des Komitees mit Muslimen betrifft, stimmt Kant zu:
‚Das sollte ruhig sein. Wir haben zwar keine, aber…‘. (T-EH-3, Z. 51–65)
Wie die beiden Protokoll-Auszüge zeigen, wird ein Mehr an beteiligten Sprechern
am Diskurs für gut im Sinne von ethisch befunden (Wagner 2008). Im Hinblick
auf Ratschläge und Empfehlungen, die das Klinische Ethik-Komitee den Mitarbei-
tern auf Station anbieten kann, erweist sich das Prinzip der Jedermannbeteiligung
(Abels und Bora 2004) indes als Problem – mit jedem erneuten Beteiligten wird es
schwieriger, einen gemeinsamen Nenner zu finden. Es geraten mit jedem weiteren
Satz immer wieder neue Problemlagen ins Blickfeld, die man so vorher noch nicht
gesehen hat und nun aber berücksichtigen muss. Dies wird am folgenden Beobach-
tungsprotokoll zu einer Gremiumssitzung sichtbar, in der über die Durchführung
einer Spätabtreibung beratschlagt wurde:
Dann erzählt sie etwas zum biografischen Hintergrund des Paares, nämlich dass beide
Kinder aus vorherigen Partnerschaften hätten, wobei er sein Kind nicht sehen dürfe,
sie wiederum von ihrem vormaligen Partner keine Alimente bekomme, die ihr eigent-
lich zustünden. Eine ganz neue Dimension der Betrachtung dieses Falles, wie ich
finde. (T-HB-27, Z. 286–291)
Was der soziologische Beobachter hier registriert, dürfte auch für die beteiligten
Komitee-Mitglieder gelten. Jede weitere Information stellt den Fall noch einmal
in ein anderes Licht. Jeder weitere Satz führt noch einmal zu einer ganz anderen
Sichtweise, die die weitere Debatte über den Fall komplexer macht. Der Diskurs
erweist sich als unabschließbar, weil beständig neue Einwände vorgebracht werden
können, die sich nicht über den Verweis auf das beste sachliche Argument aus der
Welt schaffen lassen. Und er erzeugt gleichzeitig eine neue Form der Legitimation
von Entscheidungsfindung. Es ist nicht mehr länger das medizinische Argument,
das hier als vernünftiger und bester Grund angeführt werden kann. Alternative
Formen der Rechtfertigung gelangen zur Anwendung und erzeugen für denjeni-
gen, der sich rechtfertigen muss, das Problem, alternative Gründe vorbringen zu
Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer … 265
müssen, die oftmals gar keine Gründe im Sinne von Argumenten sind, sondern
Emotionen und Stilfragen – klinische Ethik-Komitees bringen eher authentische
Selbstbeschreibungen hervor, die nicht an einen letzten besten Grund zurückge-
bunden werden können (Wagner 2008, vgl. auch Hucklenbroich 2005, S. 37; Kno-
epffler 2005, S. 44).
Die veränderte Form der Legitimation wird spätestens dann sichtbar, wenn Ent-
scheidungsträger des Klinikums innerhalb des Gremiums erklären müssen, wie sie
zu ihrer Entscheidung im Organisationsalltag gelangt sind. In den Blick gerät dabei
nicht nur ein verändertes Publikum, das nun angesprochen sein will. Gefordert
ist ebenso eine veränderte Art der Rede. Im folgenden Fall wird dies auf relativ
drastische Weise deutlich: Die verwaltungstechnisch begründete Entscheidung der
Klinikleitung gegen die Anbringung eines Fliegengitters am Fenster eines krebs-
kranken Patienten wurde seitens der Pflegekräfte emotional diskutiert. Schließlich
wurde die Entscheidung als ethischer Fall beim Klinischen Ethik-Komitee zur Be-
ratung eingereicht. Der Vertreter der Krankenhausverwaltung ist nun gezwungen
sich für die Entscheidung vor dem Ethik-Komitee zu rechtfertigen – der Verweis
des Vertreters der Klinikleitung auf verwaltungstechnische (gute) Gründe über-
zeugt indessen nur bedingt – zur Verwunderung des Vertreters der Klinikleitung:
Es geht, das sei Düwels (Vertreter der Klinikleitung) feste Überzeugung, nicht an,
dass in aller Öffentlichkeit Entscheidungen der Klinikleitungen in Frage gestellt
und mit moralischer Entrüstung quittiert werden. Deshalb (…) hätte er sich
gewünscht, dass sich das Pflegeteam an ihn persönlich gewandt hätte, um gemeinsam
über alternative Lösungsvorschläge zu beraten. Als entscheidende Abschlussbemer-
kung fügt Herr Düwel ein bisschen auf beiläufig getrimmt hinzu, das Ganze sei
für ihn im strikten Sinne eigentlich kein Fall für das Ethik-Komitee. (T-HAT-9,
Z. 191–204)
Der Vertreter der Klinikleitung trifft mit seiner Kritik den zentralen Kern der Pro-
blematik: die mit verwaltungstechnisch guten Gründen ausgestattete Entscheidung
der Klinikleitung überzeugt im Rahmen des klinischen Ethik-Komitees deshalb
nicht, weil hier andere Formen der Rechtfertigung gefragt sind. Dass ein Theolo-
ge gegenüber Medizinern in der folgenden Weise auftreten kann, wird vor diesem
Hintergrund als plausible Reaktion auf den veränderten Kontext lesbar:
Peter Löwe (Theologe, Moderator) wurde von der Pflege (…) zu einer Patientin geru-
fen, die nach Sterbehilfe verlangt habe. Die Pflege habe ein Kreischen gehört und
die Patientin beim Versuch, sich zu strangulieren, angetroffen. Die Patientin konnte
umgestimmt und zur Alternative Patientenverfügung überredet werden (…). Prob-
lematisch an diesem Fall sei vor allen Dingen das schnelle Eingreifen gewesen.
Die Oberärztin Nina Haff (Medizinerin) fragt, nach dem Grund der Krankheit der
266 E. Wagner
Patientin. ‚Ist sie depressiv?‘ Peter Löwe: Nein – zuvor sei alles absolut normal ver-
laufen. Willi Winkel (Mediziner) fragt ebenfalls, ob nicht eine Verwirrtheit festgestellt
worden sei. Peter Löwe: Nein – auch dies sei nicht der Fall gewesen. ‚Ich bin hier Laie
– Man hatte den Eindruck, dass sie einsam ist.‘ (T-EH-1, Z. 68 ff.)
Der Theologe muss seine bereits getroffene Entscheidung unter anderen Kontext-
bedingungen rechtfertigen. Die Fragen, die die Mediziner an den Theologen stel-
len, dürften sich einer Logik verdanken, die auf Station funktioniert. Im Rahmen
der ethischen Debatte kann hierauf als Laie reagiert werden. Es muss keine medi-
zinische Antwort gegeben werden – vielmehr ist nun eine dezidiert andere Rede-
weise gefragt, wie im nun folgenden Protokollauszug sichtbar wird, in dem eine
Medizinerin den Abbruch der Therapie einer Krebspatientin darstellt:
Gisela Kant (Medizinerin): Im Juni sei eine 63jährige Frau als Patientin (Krebs) auf
Station gekommen. (…) Die Schmerzen der Krebspatientin seien so stark gewesen,
dass sie den Wunsch nach Sterbehilfe geäußert habe. ‚Ich will nicht an Kabeln sterben,
eigentlich zu Hause. Keine Chemotherapie‘, sei der Wunsch der Patientin gewesen,
so Gisela Kant. ‚Das habe ich eine Nacht überschlafen‘, erklärt Kant den Komitee-
Mitgliedern ihr Vorgehen. Die Patientin habe auch im weiteren den Wunsch zu ster-
ben (also den Wunsch nach Abbruch der Therapie) geäußert. ‚Ich fühlte mich damit
überfordert‘, sagt Kant und sie wirkt auch während ihres Berichts noch immer
emotional berührt von dem Fall. Deshalb habe sie mit dem Theologen Peter Löwe
gesprochen. (…) Die Therapie wurde dann umgestellt. Gisela Kant habe zur Patien-
tin gesagt: ‚Wir hängen da jetzt Morphin dran.‘ Es sei gut gewesen, dass man dies so
klar mit der Patientin besprechen habe können, sagt Gisela Kant. (T-EH-1, Z. 129 ff.).
(T-EH-1, Z. 129 ff.)
Die Entscheidung wird nicht für ein dezidiert medizinisches Publikum erzählt. Es
geht auch nicht um medizinische Probleme, die nun entschieden werden müssten,
sondern vielmehr darum, wie man als Medizinerin mit einer nichtmedizinischen
und bereits getroffenen Entscheidung umgehen kann. Somit entsteht im Rahmen
des Ethischen ein anderer Fall als auf Station. Beobachten lässt sich eine andere
Gegenwart, in der sich Sachverhalte neu und anders bewähren müssen.
Im Rahmen der ethischen Beratung entsteht häufig der Eindruck, es stünde nicht
genug Zeit für die ethische Rede zur Verfügung:
Letzter Punkt: Was heißt Ethik? Schade, dass hierfür nur mehr ein paar Minuten
Zeit bleiben. (T-WG-11, Z. 314–315)
Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer … 267
Auch im Hinblick auf Fallbesprechungen fällt auf, dass es immer wieder für gut
befunden wird, noch eine Nacht darüber zu schlafen, wenn es um die Formulierung
von Entscheidungshilfen und Leitlinien für den Mediziner auf Station geht:
‚Keine Chemotherapie‘, sei der Wunsch der Patientin gewesen, so Gisela Kant (Gynä-
kologin). ‚Das habe icheine Nacht überschlafen‘, erklärt Kant den KEK-Mitgliedern
ihr Vorgehen. (T-EH-1, Z. 129 ff.)
Dann ist auf einmal die Diskussion da, wie man weiter verfahre, und es wird für gut
befunden, ‚nochmal eine Nacht drüber zu schlafen‘. Es ist fast, als höre man die
Runde ausatmen. (T-HB-460)
Unter Zuhilfenahme von Zeit, so ist die Vermutung, fallen Beratungshilfen für an-
dernorts zu treffende Entscheidungen überlegter aus. Mögliche Risiken könnten
besser überdacht und abgewogen werden. Dieser Einschätzung folgt auch der so-
ziologische Beobachter des ethischen Diskurses, wie im Falle einer Beratung über
eine Mehrlingsreduktion deutlich wird:
Zunächst berichtet Petra Stern (Medizinerin, Moderatorin) von dem Fall einer 30jäh-
rigen Schwangeren von Vierlingen. Die Schwangere sei bereits Mutter einer zehn-
und einer dreijährigen Tochter gewesen, wobei letztere nach einer Sturzgeburt solche
Schäden am Hirn erlitten habe, dass sie nun behindert ist – ob körperlich oder geis-
tig, oder beides wird mir nicht so ganz klar-, und eine entsprechend umfangreiche
Betreuung benötigt. PetraStern trägt ihren Text in fachmännischem Tempo vor,
Fachtermini werden nicht näher erläutert (…): ‚Die Patientin hat sehr schwer mit
der Entscheidung gerungen. Sie hat sehr darunter gelitten.‘ Fertig. Nächster Fall.
(…) Ich frage mich noch, ob es nicht in ethischer Hinsicht problematisch gewe-
sen ist, welche der Vierlinge nun abgetrieben wurden und welche nicht. Können
Ärzte die Wahl selbst treffen? Müsste da nicht die Schwangere entscheiden? Auf
welcher Grundlage wird hier bei der Entscheidungsfindung beraten? Aber da ist
PetraStern schon längst bei der nächsten Fallschilderung angelangt und hat hier-
für das Wort an Dr. Hübner übergeben. (T-HB-17, Z. 37–67)
Wenn man nur mehr Zeit gehabt hätte, hätten sich aufkommende Ungereimtheiten
und Verständnisprobleme womöglich (besser) lösen lassen; stünde noch mehr Zeit
zur Verfügung, so hätten sich mehr Stimmen zum betreffenden Fall einholen und
(womöglich mehr) Transparenz erzeugen lassen – so könnte man die am Proto-
koll ablesbare Einstellung des soziologischen Beobachters paraphrasieren. Und die
Knappheit von Zeit kann sich gar als ethisches Problem erweisen – Entscheidun-
gen, die zu schnell getroffen werden, könnten an der Wahrung von Rechten vorbei-
gehen, die aus ethischer bzw. rechtlicher Sicht gewahrt werden müssten. Ein Mehr
an Zeit ermöglicht es also, die ethische Rede zu etablieren und ethische Probleme
268 E. Wagner
überhaupt sichtbar zu machen. Der vorliegende Fall zeigt indes noch mehr: durch
die Eröffnung eines anderen Zeithorizonts können nun alle möglichen Einwän-
de und Bedenken vorgetragen werden – am Ende steht aber eine Beratungshilfe
für den Entscheidungsträger, an die der ethische Diskurs wieder zurück gebunden
werden muss, wenn das Ethik-Komitee im Krankenhaus als eigenständige Instanz
der Beratung sichtbar werden will. Ein Mediziner und Komitee-Sprecher fasst im
Rahmen einer Komitee-Sitzung das Problem zusammen:
Im weiteren plädiert Linger (Mediziner, Moderator) für mehr Systematik in der ethi-
schen Beratung, um damit letztlich auch die Außendarstellung optimieren zu kön-
nen. Linger: ‚Moralische Vorstellungen hat jeder. Die Reflexion darüber ist eigentlich
die Ethik, die wir machen. Es geht nicht an, aus dem Bauch heraus zu sagen: Das kann
man nicht machen, weil ich da nicht hinschauen kann.‘ (T-WG-13, Z. 27–35)
Die Argumente verknappen und strukturieren sich indes nicht von alleine, wie
Habermas dies im Rahmen seiner Diskursethik erwartet hat, und wie dies auch
der hier zitierte Komitee-Sprecher hofft. Vielmehr entstehen immer neue Fragen
und Probleme. Der Diskurs erweist sich als unabschließbar. Es zeigt sich damit
empirisch das, was Luhmann generell für Diskurse angenommen hat: „Sprache
ist indifferent gegen Wahrheit und Falschheit; sie hat (…) vielmehr die Funktion
einer Steigerung des Auswahlbereichs möglicher Wahrheiten und damit einer Er-
schwerung selektiver Wahrheitsfindung (…). Es gibt keine logische Hierarchie von
Gründen. Es besteht demnach auch keine Hoffnung auf ein Ende der Diskussion;
sie hört irgendwann nur auf. Für ihre Beendigung muss es soziale, nicht logische
oder semantische Regeln geben“ (Luhmann 1972, S. 337 ff.).
Worauf der eben zitierte Komitee-Moderator indes abzielt, ist das entscheiden-
de Dilemma, in dem sich klinische Ethik-Komitees befinden: Um innerhalb von
der Organisation eines Krankenhauses sichtbar zu werden, müssen sie eine ent-
scheidungsförmige Rede produzieren – genau dies aber läuft ihrem normativen
Selbstverständnis zuwider: ethisch soll es in klinischen Ethik-Komitees ja gerade
nicht um die Ausgabe klarer Direktiven und konkret zu entscheidender Sachfragen
gehen sondern um die Öffnung eines zugegebenermaßen relativ vage abgesteckten
Diskursraumes, in dem zunächst einmal alles sagbar sein soll. Weil sich Klinische
Ethik-Komitees von der Entscheidungsförmigkeit der Rede distanzieren, ergibt
sich das Problem der organisationsinternen Anschlusskommunikation (Wagner
und Atzeni 2013; Sulilatu 2008). Die von uns untersuchten Gremien haben bestän-
dig das Problem zu bearbeiten, ihre Arbeit der Organisation plausibel zu machen
– was dann häufig über Sonderveranstaltungen (Tag der offenen Tür), Seiten im
Intranet oder Aushänge im Krankenhauseingang gelöst werden soll – oder über
die Forderung nach einer stärkeren Systematisierung der Rede wie am Beispiel des
Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer … 269
6
„Mediating […] conflicts and facilitating decision making for incapacitated patients are
among the most frequent and effective interventions by the ethics committee.“ (Farber Post
et al. 2007, S. 30 f.)
270 E. Wagner
3 Ethisierte Rechtfertigung
Die bisherigen Ausführungen haben sich streng auf die empirischen Bedingun-
gen der echtzeitlichen Herstellung von Situationen konzentriert, in denen ethische
Praktiken sich als solche hervorbringen und bewähren können. Es ging darum,
ethische Deliberation als eine Vollzugspraxis zu begreifen, deren Funktionsweise
nicht schon immer klar gegeben ist, sondern die zunächst mit der Unwahrschein-
lichkeit rechnen muss, für ein Publikum in einem bestimmten Problemzusam-
menhang anschlussfähig zu sein. Diese praktische Selbstplausibilisierung erfolgt
dann im Moment, in einer Gegenwart (Nassehi 2006), die immer auch schon
andere Bezüge kennt: etwa, dass es in Krankenhäusern professionelle Mediziner
gibt, die Entscheidungen treffen und verantworten können; oder, dass es kosten-
sensible Krankenhausverwaltungen gibt, die umfassende Finanzprojekte skeptisch
macht, oder, dass es Instanzen der Rechtsprechung gibt, die auf die ethische Exper-
tise in wiederum veränderter Form (juristisch) zurückgreifen können; oder dass
es einen massenmedialen Diskurs gibt, der sowohl die ethische Rede als auch die
medizinisch orientierten Praktiken des Krankenhauses skandalisieren kann. Inso-
fern unterscheidet sich der hier vollzogene Zugriff auf Situationen von jener einer
strengen ethnografischen Perspektive, die vorgibt, jeweils nur einen Kontext zu
kennen, aus dem heraus alles was geschieht erklärbar sein soll. Die Ethik Klinischer
Ethik-Komitees wird einem soziologischen Beobachter nur dann plausibel, wenn
er weiß, dass sich diese innerhalb von Organisationen etabliert und von einem brei-
ten gesellschaftlichen Diskurs zum Thema Medizinethik begleitet wird. Es sind also
7
Vgl. typisch: „One Flew Over The Cuckoo’s Nest“, Regie: Miloš Forman, 1975.
Was ist ein ethischer Fall? Zur Gegenwart ethischer … 271
gerade jene differenten Bezüge, die als Horizont (Nassehi 2004) der Situation im
Klinischen Ethik-Komitee aufscheinen, die erklärbar machen, warum Organisa-
tionsmitglieder beschließen ein bis zwei Mal im Monat miteinander einen sym-
metrischen Diskurs der Authentizität zu führen. Dass die ethische Deliberation im
Gremium so funktioniert wie sie funktioniert, wird damit vor allen Dingen erklär-
bar über das was außerhalb der beforschten Situation existiert, diese aber gleichsam
irritiert und hervorbringt. Die solchermaßen emergierende Praxis der Rechtferti-
gung, lässt deshalb eine Ergänzung jener kritischen Soziologie zu, die Boltanski
& Thévenot (2007) mit ihrer Schrift „Über die Rechtfertigung“ anhand von Bera-
tungsliteratur konzipiert haben. Sichtbar wird im Falle klinischer Ethik-Komitees,
dass sich ein eigenständiger Kontext des Normativen (vgl. Forst 1994) etabliert,
der nur mittelbar den theoretischen Vorgaben einer akademischen Ethik folgt und
sich innerhalb einer zutiefst asymmetrischen Krankenhauswelt bewähren muss.
Die Rechtfertigungsmuster einer akademischen Ethik weichen systematisch von
jenen der praktischen Ethik klinischer Ethik-Komitees ab (siehe auch Nassehi i. d.
Band). Das methodische Unterfangen von Boltanski und Thévenot, aus politischer
Theorie ein Modell der Rechtfertigung zu erarbeiten, dass dann letztlich auch in
zeitgenössischer Beratungsliteratur aufscheint, erweist sich aus der hier vorgeschla-
genen Perspektive als nicht haltbar:8 praktische Kontexte implizieren eigenständige
Problemlagen und produzieren individuelle Lösungsmuster, die nur bedingt im
Sinne einer differenten Wiederholung (Tarde 1883/2009; Deleuze 1968/1992) auf
theoretische Rechtfertigungsmodelle verweisen. Theoretisch mag sich das Verfah-
rensmodell klinischer Ethik-Komitees zwar an den Einsichten der verfahrensmä-
ßigen Organisation von Kritik der Habermasschen Diskursethik orientieren. Das
Rechtfertigungsmodell der Diskursethik sieht sich aber offensichtlich einer Welt
ausgesetzt, in der sich sein Publikum verändert hat und die Überzeugungskraft von
Argumenten sich nicht mehr ohne weiteres so einstellt, wie dies vielleicht einmal
der Fall war. Das Ergebnis der ethisierten Debatte Klinischer Ethik-Komitees be-
steht in erster Linie nicht in besser begründeten Entscheidungen, sondern in der
Genese alternativer Sprecherpositionen im Krankenhaus, die sich nicht mehr län-
ger mit der Rolle als Mitarbeiter auf Station zufrieden geben wollen. Hinsichtlich
seiner Überzeugungskraft befragt wird damit aber nicht so sehr die Entscheidungs-
macht des Arztes auf Station sondern eher die Gültigkeit der Konzeption von (ethi-
scher) Deliberation im Sinne eines bürgerlichen Meinungsstreits. Die Gegenwart
des Ethischen in Klinischen Ethik-Komitees erzeugt Kulturen authentischen Spre-
chens, an die freilich wiederum unterschiedlich angeschlossen werden kann. Zum
Diese hier formulierte Kritik folgt damit den Einwänden von Axel Honneth, der dafür im
8
Übrigen die Zustimmung von Luc Boltanski erhielt (Boltanski und Honneth 2009, S. 98, 100).
272 E. Wagner
Beispiel durch einen soziologischen Beobachter, der dabei vielleicht das Problem
zu lösen hat, ein Publikum für das Unterfangen zu finden, über Ethik zu schreiben
ohne selbst Ethik zu sein.
Literatur
Wagner, E., & Atzeni, G. (2011). Risiko und Verfahren. Zur Legitimationsfunktion der Ethik
am Beispiel von Ethik-Komitees und Ethikkommissionen der Arzneimittelforschung.
Dickel, Sascha/Franzen,Martina/Kehl, Christoph (Hrsg.): Herausforderung Biomedizin.
Gesellschaftliche Deutung und soziale Praxis. (S. 67-86). Bielefeld: transcript.
Wagner, E., & Atzeni, G. (2013). Zwischen Ethik und Recht. Zum Umgang mit medizini-
scher Ungewissheit am Beispiel von Klinischen Ethik-Komitees und Ethikkommissio-
nen der Arzneimittelforschung. in C. Peter & D. Funcke (Hrsg.), Wissen an der Grenze.
Zum Umgang mit Ungewissheit und Unsicherheit in der modernen Medizin (S. 367-382).
Frankfurt/New York, Campus.
Kontexte der Rationierungsdebatte –
Die Thematisierung von
Mittelknappheit in der akademischen
und der klinischen Ethik
Florian Süssenguth
F. Süssenguth ()
Institut für Soziologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, München, Deutschland
E-Mail: florian.suessenguth@soziologie.uni-muenchen.de
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik – Normen – Werte, Studien zu einer 275
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_12,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
276 F. Süssenguth
ben kann. Statt der Suche nach objektiv vorliegenden ethischen Einstellungen und
Wertungen kann sie die Position der Medizinethik als einer ethischen Praxis unter
anderen in der Gesellschaft zu reflektieren helfen.
Was zeichnet den Rationierungsdiskurs aus, wenn er nur – wie in diesem Text ge-
zeigt werden soll – eine Art des Sprechens über die mögliche Mittelknappheit im
Gesundheitswesen unter anderen darstellt? Das erste Merkmal ist die Lokalisierung
des Problems. Geht es um Rationierung, so werden nationalstaatlich begrenzte
Arrangements der medizinischen Versorgung1 als abstrakte Modelle und in Fall-
studien/Ländervergleichen sichtbar (vgl. Busse und Hoffmann 2010; Deutscher
Ethikrat 2011). Die medizinischen Leistungen werden über Versicherungen finan-
ziert, wodurch die Eingriffe sowohl zeitlich als auch hinsichtlich der beteiligten
Personen von der Erhebung der Beiträge in einem Maße entkoppelt werden, wie es
z. B. bei dem anderen großen Knappheitsdiskurs der Medizinethik, der Organspen-
dedebatte, nicht möglich ist. Erst diese über das Medium Geld geleistete Trennung
zwischen der Finanzierungs- und der Leistungsseite eines Gesundheitswesens er-
möglicht der medizinethischen Analyse eine gesonderte Betrachtung der jeweili-
gen Seite für sich. Geldmangel ist aus dieser Perspektive dann sowohl ein ethisches
Warnsignal für die Brüchigkeit solidarischer Arrangements (Finanzierungsseite)
als auch ein Mittel zur Konditionierung medizinischen Handelns (Leistungssei-
te). In der Rationierungsdebatte werden so ethische Probleme und Lösungen im
Medium des Geldes und seiner Allokation formuliert2 (zur volkswirtschaftlichen
Einordnung des Gesundheitswesens vgl. Henke 2009). Rationierung wird so als
ein Problem definiert, dessen Ursache den Handlungsbereich einzelner Akteure
übersteigt, da die ökonomische Verfassung des Gesundheitswesens ihre Hand-
1
Die Leistungsfähigkeit, aber auch das Abstraktionsniveau solcher radikal modernen For-
men des sozialen Ausgleichs hat Niklas Luhmann herausgestellt. Über Geld vermittelte So-
lidarität ist unabhängiger gegenüber sachlichen, zeitlichen, sozialen und auch räumlichen
Fluktuationen, wird damit planbar und vor allem auch zwischen Fremden auf Dauer gestellt
(Luhmann 2005).
2
In diesem Zusammenhang findet sich statt dem Begriff des Gesundheitswesens auch der,
des Gesundheitsmarkts (vgl. Flenker 2005), welcher zwar bereits eine präzisere Funktions-
bestimmung enthält, durch diese Zuspitzung aber weitere für den akademischen Rationie-
rungsdiskurs relevante Aspekte ausblendet.
278 F. Süssenguth
lungsräume selbst konditioniert und damit als eine inakzeptable Quelle morali-
scher Dilemmata für Ärzte identifiziert werden kann (vgl. Friedrich 2010, S. 288;
Marckmann 2008, S. 892)3. Es sei an dieser Stelle bereits verraten, dass Ärzte diese
Überforderungsthese in Klinischen Ethikkomitees aufgreifen, dann aber in ihren
Selbstbeschreibungen heroisch wenden.
Verstanden als ein nationales Problem der Mobilisierung und Allokation von
Ressourcen ist die für die Lösung verantwortliche – und bislang weitgehend untäti-
ge – Instanz schnell identifiziert: die Politik (vgl. Friedrich 2010; Jachertz und Rie-
ser 2007; Lübbe 2010; Raspe 2010). Wenn sie für die Implementierung verantwort-
lich ist, so gilt es, ihr die optimale Lösung aufzuzeigen. Die Suche nach dem Opti-
mum wird dabei als Gerechtigkeitsfrage (und nicht z. B. als Frage der parlamenta-
rischen Mehrheitsbeschaffung) in den akademischen Problemhorizont eingeführt.
Gerade weil die Umsetzung auf die Politik ausgelagert werden kann, nimmt die
Rationierungsdebatte die Form einer unparteiischen Suche nach gerechten Gestal-
tungsmöglichkeiten der nationalen Finanzierungs- und Leistungsarrangements an,
die sich jenseits partikularer Interessen als objektiver Betrachter verstehen kann,
der besorgt die aktuellen Trends beobachtet. Der Rationierungsdiskurs bringt also
Sprecher hervor, deren Entwürfe sich weder konkret am Krankenbett oder in der
politischen Arena bewähren müssen, noch auf persönliche Interessen oder gar Be-
troffenheit stützen können.
Aus dieser neutralen Beobachterposition heraus legitimieren dann zwei krisen-
hafte Entwicklungen die Notwendigkeit der Beschäftigung mit dem Thema: die
Bevölkerungsentwicklung und der Fortschritt der Medizin (vgl. Deutscher Ethikrat
2011, S. 9; Fuchs 2010, S. 435; Raspe 2010, S. 874; kritisch dazu Straub 2006, S. 74).
Durch die gesteigerte Lebenserwartung steigt der individuelle Bedarf an medizini-
schen Leistungen und damit auch die Kosten im Lebensverlauf. Gleichzeitig führt
die anhaltend niedrige Geburtenrate in Deutschland (wie auch in vielen anderen
Industrienationen) zu einer Alterung der Gesellschaft, in der sich das Verhältnis
von Leistungsempfängern und Beitragszahlern in Richtung einer steigenden Be-
lastung letzterer verschiebt. Es ist nun wichtig festzuhalten, dass diese doppelte Al-
terung (vgl. Schroeder und Neumann 2009, S. 95 ff.) der Gesellschaft in der Ratio-
nierungsdebatte als ein externer Faktor thematisiert wird, der als Randbedingung
berücksichtigt werden muss, nicht aber selbst als zu lösendes Problem verhandelt
wird.
3
Niklas Luhmann (1983, S. 171) weist dagegen darauf hin, dass in der funktional differen-
zierten Gesellschaft gerade Geld in seiner Eigenschaft der Knappheit den Ausweitungsten-
denzen der einzelnen Funktionslogiken (auch der Wirtschaft) eine Schranke setzt.
Kontexte der Rationierungsdebatte – Die Thematisierung … 279
gern, Kranken und Gesunden sowie Politikern und Vertretern der Krankenkassen
in Deutschland – fiktive Dilemmata. In allen Fällen sollten die Befragten anhand
von einigen Informationen über die Patienten entscheiden, welcher Kranke eine
knappe Gesundheitsleistung erhalten soll und wer stattdessen leer ausgeht. Die ers-
ten Vignetten der Studie präsentierten den Probanden Fälle mit je zwei Patienten,
die sich hinsichtlich einiger weniger Kriterien voneinander unterscheiden. Die ge-
gebenen Antworten enthüllten den Forschern eine gleichermaßen verwirrende wie
soziologisch spannende Unübersichtlichkeit an Kriterien, Begründungsmustern
und Stellungnahmen im Material (vgl. Heil et al. 2010, S. 23 ff.). Die letzte Vignet-
te zeigte dies besonders deutlich, denn sie forderte die Interviewpartner auf, sich
zwischen einer kranken Mutter und hundert Unbekannten zu entscheiden (ebd.,
S. 34 ff.). Einige Befragte verweigerten hier eine Entscheidung aus ethischen Grün-
den. Die Forscher überraschte dies zwar, mehr noch aber die Tatsache, dass es der
Mehrheit der Probanden auch bei dieser letzten Vignette gelang, sich zu entschei-
den. Mehr noch: sie taten dies ohne erkennbare, über die Entscheidungssituationen
hinweg stabile Begründungsmuster (ebd., S. 35 f.). Die Autoren stehen dieser Tat-
sache ohne klare Interpretation gegenüber und verfolgen auch die ethisch begrün-
deten Verweigerungen nicht weiter. Nur der Bedarf an weiteren, ausführlicheren
Studien scheint klar: „Die Notwendigkeit, Priorisierungskriterien zu spezifizieren,
um ein transparentes und zielführendes Vorgehen in konkreten Fällen zu gewähr-
leisten, wird somit deutlich. In dieser Hinsicht können qualitative Studien (z. B.
Interviews und Fokusgruppen) mit verschiedenen Stakeholdergruppen durchaus
hilfreich sein“ (ebd., S. 64). Aus den Interviews lesen die Autoren aber keinen Hin-
weis auf eine stabile, formalisierte Hierarchiebildung und eine darauf aufbauende
Urteilsfindung heraus (als weiteres Beispiel siehe auch Schleger und Reiter-Theil
2007, S. 118). Inwiefern weitere Studien im selben Framework hilfreich sein könn-
ten, um doch noch stabile Begründungsmuster zu entdecken, bleibt unbeantwortet.
Soziologisch gesehen ist am Vorgehen der Studien der Bremer Forschergruppe
um Adele Diederich vor allem die Kohärenzerwartung gegenüber den interviewten
Personen problematisch. Geplant ist mit dem Design, die tatsächlichen, unverzerr-
ten Motive, Einstellungen und Werte der Interviewten zum Thema Rationierung
und Priorisierung zu erheben. Unbeleuchtet bleiben dabei die Frage nach dem Ver-
hältnis der erhobenen Meinung der Bevölkerung und der öffentlichen Meinung
sowie die Frage nach dem Verhältnis der professionellen und persönlichen Mei-
nung der befragten Stakeholder, an dem ja die gesamte externe Validität der Studie
hängt. Bei der Lektüre bleibt der Eindruck impliziter Gleichsetzungen zurück (vgl.
Diederich und Schreier 2009; 2010, S. 901 f.), was aber z. B. auf die Frage nach den
Gründen für die schwache Rezeption des Rationierungsdiskurses in der Politik kei-
ne Antwort liefen kann. Denn vollkommen ausgeblendet bleibt die Frage danach,
282 F. Süssenguth
hinter verschlossenen Türen tun können. Die empirische Medizinethik geht aber
den vorliegenden Studien nach genau davon aus. Ein für diesen Forschungsmodus
noch problematischerer Verdacht lässt sich aus soziologischer Sicht vorbringen: ein
und dieselbe Person kann je nach Kontext variierende Begründungsmuster zum The-
ma der Mittelknappheit im Gesundheitswesen vorbringen. Genau diese Einsicht
findet sich in der Rationierungsdebatte aber nur äußerst selten wieder und wenn,
dann z. B. nur im Vorwurf der Feigheit an Politiker.
Nimmt man dieses Argument aber methodologisch ernst, gilt es zu prüfen, wel-
che Zugzwänge und semantische Vorprägungen in Studiendesigns angelegt sind,
die die Antworten der Befragten und ihre Sprecherposition präformieren. Die Ein-
sicht, dass empirische Daten – wozu auch der bekundete Wille des Subjekts zu zäh-
len hat (vgl. Armin Nassehi in diesem Band) – in medizinethischen Studien nicht
einfach die Wirklichkeit darstellen, sondern im Forschungsprozess erst praktisch
hervorgebracht werden, ist somit der entscheidende Beitrag der Soziologie zu einer
gehaltvollen empirischen Medizinethik. Kontextsensitivität erschöpft sich damit
also nicht in der Differenzierung zwischen einer Lebenswelt und einer wissen-
schaftlichen Sphäre, wie z. B. bei Tanja Krones (2008) vorgeschlagen. Zwar betont
ihr Ansatz die historische Variabilität der Verhältnisse, die Idee der Kontextualität
ethischer Handlungs- und Argumentationsformen wird aber durch die starke Be-
tonung eines allgemeinen, nicht weiter differenzierten Alltagswissens sowie eine
Engführung soziologischer Konzepte auf die Frage der Sozialisation von immer
schon vorausgesetzten Akteuren nicht eingelöst. Albert Musschengas (2005) Re-
konstruktion und Erweiterung von Dieter Birnbachers Konzeption einer ethischen
Kontextsensitivität geht darüber bereits hinaus und betont die Notwendigkeit, die
praktische Umsetzbarkeit ethischer Vorschläge zu berücksichtigen. An die Stelle ei-
ner allgemeinen Alltagsmoral tritt hier ein Gespür für kontextgebundene Kriterien
ethischer Stellungnahmen und Handlungen. Aber auch in diesem Fall bleiben die
Herkunft dieser Kriterien und die Frage nach den Konsequenzen der Eigenlogik
verschiedener sozialer Settings zu Gunsten einer akteurszentrierten und damit all-
zu starr gedachten Perspektive auf Sprecherpositionen weitgehend ungeklärt.
Die hier vertretene Idee von Kontextsensitivität geht dagegen auf Basis aktuel-
ler Weiterentwicklungen der Systemtheorie nach Niklas Luhmann (vgl. Saake und
Nassehi 2007) davon aus, dass sowohl Kontexte als auch die darin sichtbar werden-
den ethisch oder auch unethisch handelnden Akteure und sprechenden Personen
nur als kontingente Produkte gesellschaftlicher Differenzierung verstanden werden
können. Mit Armin Nassehi und Irmhild Saake (2002) lassen sich die Kontexte
erforschen, in denen die Stakeholder des Gesundheitswesens mit Mittelknappheit
konfrontiert werden. Anstatt die Vorstellungen angemessener Stellungnahmen,
guter Gründe, Konsenskriterien und Entscheidungen aus dem akademischen Feld
284 F. Süssenguth
4
Ausführliche Hintergründe und Erläuterungen zur Geschichte, intendierten Funktion und
Organisationsform Klinischer Ethikkomitees finden sich bei Friedrich Ley (2004, 2008).
5
Das Interesse an den Entwicklungen klinischer Ethik motivierte auch das interdisziplinäre
DFG Projekt Ethik und Organisation, das gemeinsam von den Theologen Reiner Anselm
und Michael Schibilsky und dem Soziologen Armin Nassehi geleitet wurde und dessen Ma-
terial hier hinsichtlich der Thematisierung von Knappheit analysiert wird. Vier Klinische
Ethik-Komitees (im Folgenden kurz: KEKs) an deutschen Krankenhäusern unterschiedli-
cher Trägerschaft wurden durch teilnehmende Beobachtungen begleitet und die Komitee-
mitglieder biografisch und als Experten interviewt.
Kontexte der Rationierungsdebatte – Die Thematisierung … 285
Pfeffer bittet nun Petra Stern, ihr Material zum Thema Rationierung vorzustel-
len. […] Stern bittet die Anwesenden ihre nun folgenden Ausführungen ‚nicht als
Angriff‘ zu verstehen; ‚es muss nicht dasselbe sein für Hochburg‘. Und dann liest
sie die Thesen des Herrn Wehkamp vor […]. Rationierung würde von Klinikmit-
arbeitern als ‚bedrohlich‘ empfunden; ‚übermüdete und ausgebrannte Ärzte sind
gefährlich‘, erklärt Stern in Anlehnung an Autor Wehkamp. Irgendwie scheint Stern
auch den Eindruck zu haben, dass diese Thesen noch zu verfeinern sind. Irgendwann
unterbricht sie sich selbst und sagt beschwichtigend in die Runde: ‚Es nähert sich dem
Ende.‘ […] Als sie ihren Vortrag beendet hat, herrscht erst einmal Schweigen. Pfeffer
sagt: ‚Vielen Dank für diese Einführung‘, und wirkt dabei etwas hilflos. (H-HB-29,
Z. 65–79)
Es gelingt den Teilnehmern nicht, aus den formalen Darstellungen eine für die
eigene Komitee- und Krankenhaussituation spezifische und relevante ethische
6
Das Material wurde in einem ersten Schritt nach allen Passagen durchsucht, in denen öko-
nomisch verursachte Knappheit thematisiert wurde. In den nächsten Schritten wurden die
Passagen mit dem Ansatz der systemtheoretischen Hermeneutik hinsichtlich ihrer sachli-
chen, zeitlichen und sozialen Sinnkonstitution aufgeschlüsselt und auf wiederkehrende Mus-
ter untersucht (vgl. Saake und Nassehi 2007). Während in den Beobachtungsprotokollen
nachvollzogen wurde, welche Zurechnungen und Anschlussmöglichkeiten die (Nicht-)The-
matisierung der Rationierung in den Sitzungen hervorbrachte, waren die Experteninterviews
vor allem hinsichtlich der beobachtbaren Selbstbeschreibungen und -positionierungen in
der Klinik und dem Gesundheitswesen allgemein aufschlussreich. Die Namen von Personen,
Kliniken sowie alle weiteren Daten, die eine Identifizierung der Studienteilnehmer erlauben
würden, wurden durch Pseudonyme ersetzt. Die Hervorhebungen in den Materialausschnit-
ten wurden vom Verfasser nachträglich eingefügt. Die Kürzel am Ende der zitierten Passagen
weisen die Fundstellen in der Form Beobachtungsprotokoll: Zeilennummern nach.
286 F. Süssenguth
‚Benennen sie doch auch die eigenen Entscheidungskriterien, in Fällen wo man einem
den Vorzug geben muss.‘ Klein antwortet nicht sehr ausführlich, wiederholt eigent-
lich nur, dass es eben kein Bett gegeben habe, weil alles über Monate mit kurati-
ven Patienten ausgebucht war und merkt noch an, dass sich dieses Problem mit der
zunehmenden Rationalisierung der Krankenhausstrukturen noch verschärfen
wird. Pfeffer startet einen neuen Versuch zu polarisieren und eine Diskussion anzu-
regen und stellt die Frage an alle: ‚Wie stehen sie dazu? Finden sie es richtig, dass
kurativ vor palliativ geht?‘ Frau Degen (Schwester Gynäkologie) wirft ein, dass ihr
das ganz unverständlich sei, dass dieser Patient abgewiesen worden sei, auf der Gynä-
kologie nehme man immer Palliativpatienten auf, worauf Klein nur feststellen kann,
dass das in dem von ihm geschilderten Beispiel eben leider nicht der Fall gewesen sei
[…]. Frau Bauer sieht sich daraufhin genötigt, mitzuteilen, dass Patienten normaler-
weise amTag ihrer Einweisung anrufen und nachfragen, ob ihr Bett noch frei sei.
Ich verstehe diesen Einwurf dahin gehend, dass man ja geplante Behandlung kurativer
Patienten auch einmal kurzfristig für Palliativpatienten zurückstellen könnte. (T-HB-
10, Z. 157–172)
dabei die Pflegenden den Eindruck haben, dass sie oftmals auf der Strecke bleiben,
sei das schon mal eine Reflexion wert. Grauwald zeigt Zustimmung für die Analyse
Frau Gärtners. Auch er diagnostiziert ein Kommunikationsproblem. Vor allem auch
hierarchische Konstellationen haben seiner Ansicht nach zu dem Konflikt geführt.
Er selbst hätte es sinnvoll gefunden, wenn man zu einer Kompromiss- oder Ausnah-
meregelung gelangt wäre. (T-HT-9, Z. 231–240)
‚Das stimmt‘, schließt sich Frau Baldauff an, ‚die Mitarbeiter hätten mehr tun müs-
sen‘. Insgesamt aber besteht in dem Ethik-Komitee Einigkeit darüber, dass es gut
war, dass die Station IV das Thema noch einmal angesprochen hat und es nicht
bei einem untergründigen Grummeln geblieben ist. Auch Herr Düwel möchte sich
nun einmal in den Strom der Wohlmeinenden einfädeln und bekennt, dass ihm selbst
290 F. Süssenguth
die Möglichkeit, einfach ein Moskitonetz über dem Bett anzubringen, gar nicht in
den Sinn gekommen ist. ‚Das hab ich mir vorhin gleich mal aufgeschrieben‘. (T-HT-9,
Z. 398–401)
Für das KEK liegt die Lösung – welche in ihrer Form weder die Krankenhaus-
hierarchie wirklich in Frage stellt noch die problematisierte Entscheidung selbst
verändert – in einem zu steigernden ethischen Problembewusstsein aller Kran-
kenhausmitarbeiter. Die Begrenzung auf den eigenen Klinikalltag und gerade die
Ablehnung universell verbindlicher und formalisierter Lösungen zu Gunsten einer
Sensibilität für den Einzelfall und die eigene Position in Differenz zu den Positio-
nen der Anderen unterscheidet die KEKs deutlich von den Anforderungen und
Zielsetzungen des akademischen Rationierungsdiskurses. Was ein ethischer Fall
ist, muss in sozialen Praxen erst plausibel gemacht werden (vgl. Elke Wagner in
diesem Band). Dabei können aus anderen Kontexten Themen, Begriffe und sogar
Ansprüche an gelungene Kommunikation einfließen, ihr Sinn und ihre Ordnungs-
leistung verschieben sich jedoch in solchen Übersetzungsprozessen.
Ebenfalls treten die akademische Konzeption ärztlicher Professionalität im Ra-
tionierungsdiskurs und ihr Auftreten in den KEKs auseinander. In den Sitzungen
der Komitees wurde eine Konfrontation professioneller Sprecher mit einer Praxis
sichtbar, in der ihre Perspektive symmetrisch nur als eine unter mehreren sichtbar
wird. In der Folge entwickeln sich Formen des Sprechens, die sich an diese Bedin-
gungen anpassen müssen und z. B. nicht mehr auf Hierarchie vertrauen können.
Die allgemeine Form dieser Domestizierung von Sprechern wurde an anderer Stel-
le bereits ausführlich dargestellt (vgl. Wagner 2008; sowie Gina Atzeni und Ka-
tharina Mayr; Irmhild Saake in diesem Band). An dieser Stelle soll nun gezeigt
werden, wie die Mittelknappheit im Gesundheitswesen auch als Professionskritik
thematisiert werden kann:
Nun wird Herr Dr. B., der Vertreter für Dr. Berg, aus der Tagesklinik aufgerufen,
konkrete Beispiele zum Thema Rationierung im Klinikalltag zu erzählen. Der junge
Mann […] berichtet von einem vor Schmerz schreienden Patienten, der von seinem
Hausarzt nicht mehr behandelt werden würde mit der Begründung: ‚Ich kann ihnen
nichts mehr verschreiben. Das überschreitet mein Budget.‘ Prof. Arenz kommen-
tiert dieses Beispiel kühl: ‚Dann soll er seine Approbation zurückgeben.‘ Dr. B.
meint hierzu: ‚Ja, ich hatte mir am Telefon auch einiges überlegt, was ich diesem
Arzt sagen könnte. Das sind unglaubliche Zustände. In dieser Härte habe ich das
noch nicht erlebt.‘ (T-HB-29, Z. 79–87)
Der mehr als deutliche Rationierungsvorwurf löst sich auch hier wieder beinahe
umgehend in eine andere Deutung auf. Was in der Medizinethik als Problem einer
Kontexte der Rationierungsdebatte – Die Thematisierung … 291
Nun meldet sich Prof. Arenz zu Wort, er wolle ‚etwas Grundsätzliches‘ sagen. Trocken
stellt Arenz fest: ‚Ressourcenverknappung schadet Patienten nicht.‘ Den vom jun-
gen Mediziner geschilderten Fall des behandlungsunwilligen niedergelassenen Arztes
halte er zur Illustration des Problems der Rationierung für ungünstig. ‚Es gibt Fälle,
die schlecht laufen; aber die haben nichts mit der Diskussion um die Verknappung
im Gesundheitswesen zu tun.‘ Grundsätzlich sei die bislang geführte Debatte zur
Rationierung falsch gelaufen, meint Arenz: ‚Es ist ein Fehlschluss. Es ist mir in neun
Jahren nicht passiert, dass ein Patient Einschränkungen hat hinnehmen müssen.
Wir haben gelernt, viele Therapien zu hinterfragen. Ehemals teure Therapien haben
für Patienten nichts gebracht. Wir haben keine guten Beispiele dafür, dass wir durch
Rationierungsmaßnahmen ethische Probleme bekommen.‘ (T-HB-29, Z. 164–174)
Der Fehler liegt nach dieser Deutung nicht im nationalen Gesundheitswesen, son-
dern am zu ächtenden Fehlverhalten eines Kollegen. Hinter dieser Dynamik nur
eine Fehlwahrnehmung der Situation, eine Verschleierungstaktik oder Schutzbe-
hauptung zu vermuten läge zwar nahe, verfehlt aber die hier gestellte Frage nach
der Funktionalität dieser Form von Knappheitsthematisierung. Obgleich eine
solche Stellungnahme wenig zur Klärung der Rationierungsfrage akademischer
Provenienz beitragen will oder kann, erweist sie sich dennoch in der Gegenwart
der KEKs als ethisch anschlussfähig: sie reproduziert das normative Ideal der Leis-
tungsrollenträger für diese selbst und für ihr Publikum. So gelingt es auch einem
292 F. Süssenguth
[N]aja, gut, man soll das jetzt nicht verallgemeinern und sagen, dass die klinischen
Abläufe:unethisch sind, das ist schon-, das wäre gefährlich. Insgesamt gibt es natür-
lich trotz allen:Unmöglichkeiten, die hier so reingeführt werden so nach und nach
aufgrund der politischen Situation und wie auch immer, und vor allem der finanziel-
len Situation, gibt es immer noch Möglichkeiten, seinen ethischen Idealen nachzu-
kommen und vor allem auch doch noch dem Patienten etwas zu vermitteln, was halt
in diese Richtung geht. Also wir sind natürlich auch jetzt noch weit davon entfernt,
dass wir hier dem Patienten nicht zuhören oder dem Patienten kein Mitspracherecht
geben, also es gibt noch relativ enge Kontakte zwischen Arzt und Patient, oder Patient
und Pflegepersonal, wie auch immer. Aber die Situation ist trotz allem heutzutage
wesentlich schlechter als früher, das ist absolut Fakt. (E-EH-11, Z. 175–185)
Der Mediziner wird genau dadurch als Experte sichtbar, dass er Deutungshoheit für
die Zustände im Gesundheitswesen beanspruchen und darüber entscheiden kann,
worin die Probleme überhaupt bestehen (Sachdimension), dass fehlendes ethisches
Handeln nicht in der Sache selbst, sondern in falschen Einstellungen zu begründen
ist (Sozialdimension) und die veränderten Rahmenbedingungen die Notwendig-
keit professioneller Akteure nur noch unterstreichen (Koppelung der Sach- an die
Zeitdimension). Sprecher in den KEKs und als Interviewpartner erlernen so die
Kunst, gerade als Professionelle authentisch zu sprechen7. Asymmetrien zu Guns-
ten des Arztberufs, gemeinhin als Paternalismus gegeißelt, finden sich bei Debatten
zu Knappheit in einer neuen Form der Professionalität aufgehoben, deren Leistung
sich in der Bewältigung uneindeutiger und multireferentieller Ansprüche zeigt.
Der Arzt tritt hier genau nicht in der Form auf, die ihm in den Entwürfen der
akademischen Rationierungsdebatte – im Zweifelsfalle auch gegen seinen Willen –
zugedacht wird (vgl. Wiesing und Marckmann 2009). Statt einem „Doppel-Agent“
(ebd., S. 52), der im Dienste von Medizin und Wirtschaft zerrieben wird, zeigt sich
ein Sprecher, der die Kunst beherrscht, sich auch in schwierigen Zeiten Freiheits-
grade zu erhalten und gerade so seine Professionalität unter Beweis stellen kann.
Die akademische Idee einer nur offen normativ zu rechtfertigenden Rationierung
ist mit der hier empirisch vorgefundenen Selbstbeschreibung nur schwer vereinbar.
Seine Professionalität und sein Ethos machen den Arzt weder zum offenkundigen
Fürsprecher des Patienten noch zum Transmissionsriemen formaler Vorgaben hi-
Auch andere Professionen sind von der Eigenwirkung des Kontexts der Ethikkomitees
7
nicht ausgenommen. Beispielhaft sei hier für Theologen in KEKs auf die Professionalisie-
rung durch De-Professionalisierung (Lück 2008) verwiesen, allgemeiner auf Elke Wagners
Ausführungen (2008).
Kontexte der Rationierungsdebatte – Die Thematisierung … 293
nunter ans Krankenbett. Zumindest in den KEKs ist die Selbstbeschreibung des
guten Arztes eine, die ihre moralische Qualität auch aus dem gekonnten Ausnutzen
oder Umgehen der offiziellen und eindeutigen Regeln zum Wohle des Patienten
begründet. Dies umfasst im Zweifelsfalle auch die institutionalisierten Formen des
ärztlichen Ethos in den Gremien und Organen der Ärzteschaft. Den weitreichen-
den Ideen einer Organisierbarkeit ärztlichen Verhaltens, auf die viele Vorschlä-
ge zur Gestaltung und Umsetzung von Rationierungsmodellen aufbauen (ebd.,
S. 69 ff.), ist zumindest auf Basis der hier vorliegenden Beobachtungen mit mehr
Skepsis zu begegnen. Luhmanns 1983 gestellte Frage: „Aber werden die Ärzte ko-
operieren? Und warum sollten sie es?“ (Luhmann 1983, S. 169), bleibt aktuell, kann
nun aber ergänzt werden: Wie geht eine Medizinethik damit um, dass Ärzte ihre
Subversion der Regeln und die Ablehnung der Kooperation ethisch und mit guten
Gründen rechtfertigen können?
konstant und extern vorgegeben ansetzen. Bei den Lösungsangeboten wäre dann
im optimistischen Falle eine unterkomplexe Idee einer Arbeitsteilung zu vermuten,
denn andernfalls bliebe nur eine lähmende Konkurrenz der Deutungsangebote. Die
hier angewandte beobachtungsleitende These einer Gesellschaft der Gegenwarten
versucht dagegen, sowohl Problem als auch Lösung kontingent zu setzen (vgl. Nas-
sehi 2008, S. 96). Die verschiedenen Perspektiven auf die Knappheit im Gesund-
heitswesen stellen nicht einfach nur verschiedene Lösungen für ein Problem dar,
auch die Probleme selbst sind nicht identisch. In einem solchen Schema wird dann
verständlich, warum der akademische Rationierungsdiskurs in den Verhandlungen
der KEKs nur als Echo unter der Maßgabe der Zugzwänge des Komitees themati-
siert und dann verworfen wird. Blickt man in die andere Richtung so wird auch
soziologisch die Form des Beobachtens verständlich, die sich die empirische Medi-
zinethik zu Eigen macht. Die von ihr bevorzugten sozialwissenschaftlichen Metho-
den stellen Daten bereit, die dem akademischen Schema vom Bezugsproblem der
Konsensfindung und der Lösung über gute Gründe so nahe sind, dass sie ihren ei-
genen Erzeugungskontext unsichtbar machen können. Sigrid Graumann und Gesa
Lindemann (2009) haben dies in ihrer methodologischen Kritik der empirischen
Bioethik deutlich herausgestellt. Der hier nun stark gemachte soziologische Hin-
weis auf die impliziten gesellschaftstheoretischen Annahmen der Ethik unterläuft
dabei aber die dabei von Graumann und Lindemann vorgenommene Ebenenun-
terscheidung einer sozialtheoretischen, einer gesellschaftstheoretischen und einer
Ebene der Theorien mittlerer Reichweite (ebd., S. 237). Eine operativ gewendete
Gesellschaftstheorie wie die Systemtheorie, die sich nicht nur als Geschichtsschrei-
bung versteht, ist zugleich Sozialtheorie und ein empirisches Instrument zur Erfor-
schung konkreter Fragestellungen. Den philosophischen Anteilen der gemischten
bioethischen Urteile (vgl. Düwell 2009, S. 207 ff.) kann so ein sozialwissenschaftli-
ches Komplement zur Seite gestellt werden, das den Spezifika des jeweiligen The-
mas genau deswegen Rechnung tragen kann, weil es sie als kontingenten Vollzug
von Gesellschaft in konkreten aber inkommensurablen Gegenwarten begreift.
Es sind unterschiedliche gesellschaftliche Horizonte, innerhalb derer Knapp-
heitsprobleme bei der Bereitstellung und Durchführung medizinischer Handlun-
gen thematisiert werden. Die untersuchten Felder nehmen dabei keine Plätze auf
einer Rangordnung ein, sie stehen als eigenständige gesellschaftliche Gegenwarten
im Sinne Armin Nassehis (vgl. 2006b, S. 375 ff.) nebeneinander. Füreinander sind
sie Irritationsquellen, sei es als Interventionsfeld, Forschungsgegenstand oder auch
konkurrierendes Deutungsangebot. Irritationen und Reaktionen erfolgen selektiv
nach Eigenlogiken und Probleme müssen nur in speziellen Gegenwarten, nicht für
ein umfassendes Ganzes gelöst werden (vgl. Nassehi 2008). Das ist kein Defizit,
sondern eine unschätzbare Stärke moderner Gesellschaftsformen, in denen Verän-
296 F. Süssenguth
derungen in einem Bereich nicht automatisch das Ganze destabilisieren oder mit
verändern müssen. Nur so kann der Rationierungsdiskurs verschiedene Optionen
und Modelle durchspielen, ohne diese gleich umsetzen zu müssen oder hinsichtlich
ihrer politischen Mehrheitsfähigkeit zu prüfen. Und nur unter dieser Bedingung
können in den Verhandlungen der KEKs problematische Aspekte der Organisation
Krankenhaus aufgeworfen und ein Zukunftshorizont erarbeitet werden, ohne ihn
sofort mit den restlichen Zugzwängen des Klinikalltags abzustimmen. Nur so kann
sich individuelles ärztliches Handeln und seine Rechtfertigung am Krankenbett
wie in Gremien über Räume der Unbestimmtheit und die kreative Adaption for-
maler Vorgaben anstatt universaler und starrer Regeln als professionell behaupten.
Auf dieser Basis könnte sich die Medizinethik explizit und vor allem durch em-
pirische Sozialforschung gestützt den Übersetzungsproblemen ihrer Anliegen in
der Öffentlichkeit widmen. Eine von persönlich gegenüber Rationierung aufge-
schlossenen Politikern an James Raftery als Vertreter akademischer Rationierungs-
konzepte herangetragene Aufforderung bringt die Diskrepanz der internen und
externen Kriterien für die Anschlussfähigkeit medizinethischer Forschung noch
einmal auf den Punkt: „find me an economist who can explain QALYs on TV“
(Raftery 2011, S. 34) und der das Publikum von seiner Position überzeugen kann,
obwohl die Gegenseite durch einen persönlich betroffenen Patienten und seinen
Arzt vertreten wird. Eine im hier vorgeschlagenen Sinne empirisierte Ethik könnte
die Reichweite medizinethischer Forschungsfelder und Konzeptionen an die opera-
tiven Referenzen jeweiliger Gegenwarten zurückbinden und in der Folge dann eine
kritische Verschiebung dieser Referenzen in der Reflektion und der Kontrastierung
mit anderen Gebieten austesten. Statt ethischer Schablonen wäre die Chance auf
Resonanz einer solchen Ethik die Bereitstellung von effektiven Chiffren, mit denen
die Heterogenität gesellschaftlicher Gegenwarten und ihre ethischen Herausforde-
rungen problematisiert und (neu) verhandelt werden können.
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298 F. Süssenguth
Mikko J. Virtanen
Cardiologists and public health experts in Finland recently debated the start
threshold of cholesterol medication. Cardiovascular medical specialists would like
to stretch the newest care practices based on the latest research results as far as
possible in order to prevent cardiovascular disease, for which the Finnish popula-
tion has a relatively high risk. Public health specialists, for their part, warn about
medicalization and point to rising figures in medical care costs in general. Which of
these experts, trained in the same medical schools, should we believe and rely on?
Advancements in the field of transplantation surgery, for example, have led to
a situation in which a clear demarcation between life and death is blurred. When
should a human being be declared dead? When the brain ceases to operate? When
the heart stops pumping blood? Or when there is irreversible lung failure? Which
of these would be a (medically) comprehensively reasoned answer?
A child born in the 22 week of pregnancy can be saved, thanks to practices
based on current advanced and highly differentiated medical science. At the same
time a medically safe termination of a pregnancy can be made up to the 24 week if
serious impairment is found in the fetus through amniocentesis or ultrasound scan.
Moreover, the heart of fetus starts to beat, on average, in the twelfth week. In view
of the above-mentioned cases, the question arises of how to make rational demar-
cations based on the very principles of medical science that are blurring the issues.
M. J. Virtanen ()
Universität Helsinki, Helsinki, Finland
E-Mail: mikko.jz.virtanen@helsinki.fi
A. Nassehi et al. (Hrsg.), Ethik − Normen − Werte, Studien zu einer 299
Gesellschaft der Gegenwarten, DOI 10.1007/978-3-658-00110-0_13,
© Springer Fachmedien Wiesbaden 2015
300 M. J. Virtanen
practices are firmly rooted in current medical research has been a central source of
inspiration for my study. Why is the number of problems labelled ‘ethical’ rising at
the same time as the readiness and capabilities of medical specialists to solve these
problems is apparently declining? Ultimately, what is the role of academic ethics in
the practices of organizations, such as health care ethics committees, whose partici-
pants mostly lack ethics education in the academic sense? And what is the concrete
‘ethics’ of such committees and advisory boards?
My examination of these questions proceeds from the tradition of sociological
systems theory. I argue that the emergence of these committees, as well as the con-
crete actions taken by them cannot be fully understood by limiting the inquiry to
the phenomenon itself. Instead, the underlying idea of my systems theoretical exa-
mination is to illuminate the ‘ethical’ practices taking place in committee and board
meetings by situating the phenomenon in its wider societal context and vice versa,
namely examining the wider context as a means of understanding the phenomenon
being studied.
In the tradition of the Luhmannian systems theory this means keeping an eye on
the continuous chaining and un-chaining, thickening and un-thickening of com-
munication via certain historically moulded logics, which seem to have branched
off from each other over the centuries. Economics, law, politics and science, for
example, are constituted differently through distinct criteria, both historically and
currently, owing to constantly changing practice. These evolving logics of com-
munication chaining can appear simultaneously in the same concrete locations,
especially in the contexts of organizations. In this regard the basic challenges in
the work of ethics committees become clearer when examined through a systems
theoretical lens.
The basic challenge of current health care ethics committees is thus obvious:
Committee participants come from and represent different areas of society, yet the
ideal of committee work is based on a symmetrical round-table discussion rather
than on segmentation and the dominant expertise of certain fields, discourses and
rationales. The central question inspired by the systems theoretical point of view
is as follows: How does the round-table model work in practice? Moreover, what
kinds of arrangements are required to balance the various logics brought by the
members of organizations from different fields? The exact role of ‘ethics’ is of ut-
most interest here as well. If committee and advisory board meetings are to be held
on a round-table basis, then academic ethics cannot be the dominating discourse.
The ethics in the context of the committee meetings, which emerges in such mee-
tings, thus presumably differs from mere academic ethical reasoning.
In this essay I consider these questions by moving from the highly general and
theoretical to the more particular and empirical. In the following section the focus
302 M. J. Virtanen
The field of health care in its various forms is no doubt one of the most remarkable
and influential in contemporary society: Health-related communication resona-
tes throughout society, and health-related issues are broadly and deeply connec-
ted with many central organizations and their decision-making processes. When
health care is observed by means of systems theory, a central question still concerns
the role of medicine as a potential system: Are systems characteristics found in the
field sphere of medicine? Is it possible to locate an Eigenlogik in health care practi-
ces, with which it would be possible to construct a system of health care or medi-
cine? Luhmann’s own observations (1983a, b, as well as 1990) on this ‘odd system’
have been exiguous, but lately the discussion seems to be heating up (see Bauch
2000; Vogd 2005; Hafen 2007; Stollberg 2009; Pelikan 2007a, b as well as 2009; also
Saake and Vogd 2008). Even so, there is no consensus on a systemic character of the
field of medical care.
1
My own empirical research (started in 2009) concentrates on a national Finnish ethics
board, the National Advisory Board on Social Welfare and Healthcare, ETENE (www.etene.
fi/en). The empirical interpretations are preliminary at this point.
From Square Problems to Round Reasoning 303
At this stage my working hypothesis is as follows: In recent decades there has been
a shift in the (scientific) rationale underlying medical practice. This shift, gradu-
al rather than swift, can be formulated in various ways depending on one’s point
of view and emphasis: from particular treatment to universal medical knowledge;
from craftsmanship to formulas; from individual and precise diagnostics to cura-
tive and preventive therapy, for example. A common denominator among these is
the umbrella label of evidence-based medicine (EBM), a new approach—or even,
since the early 1990s, a new paradigm– both in research and clinical work, as well
as in teaching medicine.
These are the opening lines of the text that initiated the EBM-era in Anglo-Ame-
rican medicine, written by a group of eminent medical specialists and published in
2
The term evidence-based medicine first appeared in the published literature the previous
year, in 1991. It was evidently this particular JAMA publication that brought both the term
and the general idea of EBM to a wider medical public and started the triumphal march of the
new paradigm (Montori and Guyatt 2008; see also Liberati and Vineis 2004 for a more critical
summary). It is also possible to trace the roots of EBM back to Archie Cochrane’s lectures in
epidemiology and research methods from 1972 (see Ashcroft 2004, S. 131).
304 M. J. Virtanen
the high-ranking Journal of the American Medical Association ( JAMA) in 1992. The
article was quickly followed by a burst of publications, ranging from the influential
series of The User’s Guides to the Medical Literature, also published in JAMA, to
various articles, textbooks and lay publications. The new and growing paradigm
quickly and effectively achieved status as the true paradigm in medical science ac-
ross the English-speaking medical community.3
Even though all of the new features of EBM, which have since caught on, men-
tioned in the opening paragraph of the original JAMA article are important advan-
ces in recent medical research and clinical practice, a wider perspective is needed in
order to analyze and summarize the new and deeper tenets of the EBM paradigm.
The assumed change in rationale is formulated most precisely in epistemological
terms: Pathology is no longer king; rather, epidemiology and population health
reign. As two American sociologists of health and illness, Stefan Timmermans and
Emily S. Kolker (2004, p. 183), aptly put it:
In Finland EBM orientation began to take took root shortly after the original JAMA article
3
and the first official EBM guidelines were published in Finnish in 1997 by the Finnish Medi-
cal Society Duodecim.
From Square Problems to Round Reasoning 305
‘without evidence there will never be good clinical decisions’. Moreover, to base
clinical decisions on evidence also has a strong ethical emphasis: Causing patients
unnecessary harm can be avoided, and health care in general can be improved.
No money is wasted on ineffective treatment. This deeply ethical core of EBM is
repeated often in texts considering the main goals of medicine and was recently
summarized by a professor of pediatrics, Mariana Kruger (2010, p. 69):
Evidence-based medicine enables the health care practitioner to strive for a clinical
ideal, which addresses our ethical responsibility towards the best interest of our pati-
ent. For this purpose health care professionals should pursue health. This should be
done through the pursuit of the most effective ways of achieving health, which is a
generally acceptable value shared by most people. As professionals it is through the
pursuit of truth, that we will find most effective means to health.
The need for evidence converges in daily clinical practice with the principle of ne-
cessity for the physician, as a decision maker, to ‘trade the benefits and risks, incon-
venience, and costs associated with alternative management strategies, and in doing
so consider patient’s values’ (Evidence-Based Medicine Working Group 2002, p. 5).
But to absorb these rather vague categories of values and preferences, an ever-gro-
wing number of EBM-tools is at the physician’s disposal in clinical encounters with
patients. As the authors of The User’s Guides to the Medical Literature continue: ‘The
explicit enumeration and balancing benefits and risks that is central to EBM brings
the underlying value judgments involved in making management decisions into
bold relief ’ (ibid., p. 6). Who wants to make (unethical) clinical decisions based on
weak or no scientific evidence?
The crucial point in current medicine is thus the move from ‘evidence to action’.
The clinical practice (‘the action’) has to be solidly based on evidence, no question.
But only based on evidence, not reduced to it—and by this, uncertainty and con-
tingency tend to remain persistent bothers for medical care, despite all the formal
tools and instruments developed to hide them. Also the intensification of medical
treatment today is made possible by concealing and restraining various forms of
inescapable contingencies intrinsic to medical work. Observed empirically, the ha-
bitual fixity and time limitations of diagnosis and therapy practices, for example,
play a central role in this regard by securing the constant chaining of medical com-
munication (to medical communication) and thus holding back uncertainty and
contingency.
The systems theoretical concepts of the symbolically generalized communication
medium of a system, by which the (certain) chaining of communication is enabled
in the first place and also made more probable during the continuous chaining of
communication, provides an important insight here. If, for example, we consider all
306 M. J. Virtanen
4
The Finnish EBMG-pages in English, based on the colossal international Cochrane-databa-
se (http://www.thecochranelibrary.com) can be found at the website http://www.terveysport-
ti.fi/pls/ebmg/ltk.koti and include almost one thousand care guidelines, over 3,500 evidence
summaries and over one thousand pictures, all of which can be downloaded onto mobile
phones and hand-held computers, thus enabling physicians to use them during treatment.
From Square Problems to Round Reasoning 307
‘scientifically proved’ background for everyday clinical practice. From the point of
view of responsibility, evidence-based medicine thus produces a remarkable broa-
dening of collegiality. Once again, who wants to make clinical decisions on less
research-based and less collegial grounds?
But these instruments do not completely succeed. To understand why this is,
their role in medical practice has to be contextualised. There is no escaping con-
tingency in the field of medicine. Contingency can even be interpreted as a uni-
versal component of medicine in general and of clinical work in particular. The
attempts to suppress this intrinsic character have varied through history, but the
basic dilemma is hard to avoid: the application of general, standardized or other-
wise compressed knowledge, whatever its source, to particular objects, contingent
in their physiology and behaviours. As a group of influential medical experts put
it, ‘A continuing challenge for EBM—and for medicine in general—will be to better
integrate the new science of clinical medicine with the time-honored craft of caring
for the sick’ (Evidence-Based Medicine Working Group 2002, p. 9). This fluidity
cannot—and according to some medical experts, should not (e.g. Vineis 2004)—be
dichotomized and thus instrumentalised away.
The transition from pathophysiology to epidemiology and clinical epidemiolo-
gy (see e.g. Sackett 2002) as a cornerstone of medical reasoning aided by EBM-sta-
tistics and guidelines does not truly change things, despite the hopes of advocates
(e.g. Armstrong 2007; Jensen 2007; Timmermans and Mauck 2005; Timmermans
and Kolker 2004; cf. Hacking 1975 and 1990). Moreover, the standardization move-
ment reveals the heterogeneity of the whole field; there is actually a huge variation
in the experiences of utilizing evidence-based knowledge in relation to specialties,
as well as in the types of education and the years of service of physicians (Timmer-
mans and Berg 2003, p. 142–165).
Besides, the rise of the EBM paradigm and the use of various guidelines can be
interpreted as posing major challenges to the medical profession (see e.g. Timmer-
mans and Mauck 2005; Haug 1988; Ritzer and Walczak 1988; Vogd 2002; Sulilatu
2008). One challenge stems from the view that, even though evidence-based medi-
cine is effective in clinical practice, this ‘effectiveness’ can be evaluated by many dif-
ferent criteria. Some critics thus see EBM as a lightning rod bringing foreign logics
to the field of medicine (e.g. Kristiansen and Mooney 2004). Rather than an effecti-
ve means of improving medicine, evidence has also been used as ‘an ideology’, ‘as a
justification for many agendas in health care, ranging from crude cost cutting to the
promotion of extremely expensive technologies with minimal marginal returns’.
(Evidence-Based Medicine Working Group 2002, p. 10–11). Above all, there is the
logic of economy, as a general principle of organizational management connected
with the rise of the monetary calculation of inputs and outcomes. These calculati-
ons can be characterized by an informative trisection of rationalization, rationing
and prioritization (see e.g. Fuchs et al. 2009). In everyday medical practice these
308 M. J. Virtanen
practices (see e.g. Mol 2002 and 2008). Secondly, some remarkable epistemological
and methodological problems can be traced back to the research that provides ‘the
evidence’, such as the inconsistencies between theory and evidence in the first place
(see Worrall 2010), as well as the problematic nature of and relations between evi-
dence, clinical effectiveness and inference and the crucial point of elaborating on
causal mechanisms from correlations (e.g. Ashcroft 2004; Vineis 2004).
Thirdly, EBM can be seen as a demarcation principle between true evidence-
based scientific medicine and other types of curing practices or quackeries. Yet
simultaneously, the emphasis on epidemiological and population health seems to
widen the scope of ‘medical’ prevention: Physicians are encouraged to consider the
overall well-being of patients. Broader issues of societal health and health policy
thus cannot be dismissed from consideration by definition. If a strong and consis-
tent association between socioeconomic status and health, for example, does exist,
should physicians then consider how these factors could contribute to reducing
poverty? Or should physicians be ‘concerned with the polluted air that patients are
breathing? We believe they should’. ( User’s Guides 2002, p. 9). In the era of EBM, if
a strong correlation between x and health exists, then physicians cannot close their
eyes to x, no matter how vague or how far from principles of traditional medical
treatment and prevention x may be.
Is there more room for ethics in current medicine then? To put it broadly, the
shift in the core of medical rationale and style of reasoning—from epistemologi-
cally realist, pathophysiological and diagnostics centred towards RCT-based em-
pirical evidence as the sine qua non for medical treatment—leaves less room for
consideration of scientifically-backed issues. Moreover, the logic of EBM offers an
overall societal justification distinct from other ‘unscientific’ forms of treatment
and provides strong support psychologically and in concrete—especially juridi-
cal—problem cases by widening collegiality. EBM’s strong science connection thus
constitutes the medical profession’s self-understanding as having science-based cli-
nical expertise capable of using the newest healing techniques, which are carefully
RCT-tested for effectiveness. This understanding is manifested in the emphasis on
an inseparable ‘ethical’ component of evidence-based medicine along with the de-
marcations from former, questionably paternalistic rationales (e.g. Kruger 2010; see
also Ashcroft 2004).
From the point of view of theory of society, the most pertinent point in regard to
ethics, understood as a reflection theory of morality, is the relation between ethics
considerations and connections in current medical practice: Ethics does not reso-
nate with the bio-statistical and epidemiological research agendas that are behind
current medical practice, even though these agendas fundamentally follow current
ethical standards. Nor does ethics resonate with logics foreign to medicine, especi-
310 M. J. Virtanen
ally those of economy or law. If clinical decisions are based on research evidence as
much as possible, then ethics issues cannot play a central role in everyday clinical
practice. This is not because of some general aversion to ethics in medicine, but
rather because of the emphasis on efficacy in all medical practice in terms of being
evidence-based. No evidence, no use; a-medical issues are outsourced first. The ethics
of medicine is thus of a different kind from ethics problems and moral reasoning.
It is likelier to be found deeply interwoven in the self-understanding of the medical
profession: Medicine as the practice of healing is intrinsically ethical.
‘It is a physician’s duty to protect human life and alleviate suffering. The main goal
of her work should be the enhancement of health and its attainment’ ( Suomen Lää-
käriitto 2005, p. 10)5. This duty-ethical principle of protecting life and relieving
human suffering is a cornerstone of all medical practice. Because of the characte-
ristics of its objects, human beings suffering from or being threatened by bodily
pathologies, medicinewill never be without ethical content. ‘Ethicality’ is, along with
‘respect for life’, ‘humanity’, ‘high vocational proficiency’ and ‘collegiality’, one of
the five ‘basic values of a doctor’ (ibid., p. 13).
An ethical aspect can thus be seen as being intrinsic to all care-related practice
and as an ever-present element in the physician’s work. During the interaction bet-
ween a doctor and a patient, there is a social dimension, the ‘humane level’, present
as well, in addition to the merely professional, structural-dimensional ‘doctoring’,
This humane aspect is formulated in the above-cited Finnish handbook of physici-
an’s ethics as follows: A physician’s goal is ‘to perceive the inner world of a human
being who is suffering and to consider her as a unique person. A physician is thus
simultaneously a distant expert and a close, understanding human being’, (Ibid.,
p. 17.)
However, this vocational ethicality of the physician’s daily work and the intrin-
sic ethicality of all healing differs from the ethics problems and ethical reasoning
involved in intractable moral issues. The key question relating to the rise of organi-
zations which deal with problems perceived as ‘ethical’ concerns the actual ‘ethica-
lity’, that is, the nature of the ethical component of medical problems: What kinds
of questions are labelled problematic in the ethical sense and relegated to the tables
5
All translations from Finnish to English are the author’s.
From Square Problems to Round Reasoning 311
of ethics committees, and how do these ethical problématiques relate to—and stem
from –recent advancements in medical care and research?
Novel openings in new areas, both in medical research and in clinical practice,
abound, and these call for reflections on ethics. In addition, the pace of different
technologies—above all, in the fields of diagnostics and risk assessment—began
to accelerate in the last decades of the twentieth century. The increase in the pos-
sibilities of utilizing advancements in biotechnology, most recently, in the field of
molecular genetics, has been a crucial development from the viewpoint of recent
ethics-related issues (cf. the ‘geneticization’ of society as early as Lippman 1991; see
also ten Have 2001). For example, the problem related to the inescapably ‘decisioni-
stic’ nature of issues in determining the actual limits of human life, made possible,
above all, by the use of DNA analyses, has led to an increase in problems perceived
as deeply ethical (see e.g. Jallinoja 2002a; also Meskus 2009, p. 138–150).
Two salient points relating to the kind of persistent problématique often per-
ceived as ethical6, such as issues of defining human life and its boundaries, the
termination of active treatment and the prioritization of care, can be highlighted.
Firstly, the problems run deep and concern basic values and principles, not only in
medicine, but also for humanity in general. A second and related point is that these
issues resonate through all of society. Along with general, scholarly and theological
reflections, these issues have a clear impact on such areas as law, economics, poli-
tics and education. Hence, the discussions and deliberations of the problems—both
deep and wide in their nature and ramifications—reach across their fields of origin
to current medical research and practice.
Some connection among ‘the scientification of medical care’, especially in the
form of EBM, the production of persistent problématiques with broad, non-medical
repercussions, their labelling as ‘ethics’, above all, by physicians themselves, and
their outsourcing to problem-based organizations7 operating mostly outside daily
medical practice, be it medical research or clinical practice, seems rather likely.
In the Finnish context8 the medical profession took part in the ethics discussions
6
The demarcations of ethical problems are flexible as a matter of course and the gamut of
issues described as ‘ethical’ by doctors seems to be fairly wide (see DuVal et al. 2001 and 2004)
and differs from the definitions of professional ethicists (see Self et al. 1993).
7
Ethics agencies are not the only ones on the receiving end of the emerging biomedical pro-
blems. In the case of fetal screenings, for example, parents carry the burden of particularly
troublesome ethical decisions; medicine produces only (publicly expressed) value neutral in-
formation (Jallinoja 2002b; Helén 2004, S. 30–35).
8
Various agencies that focus on medical ethics cover the whole field of medicine. They ex-
tend from the multifaceted, often legislation-informing, nationwide advisory boards (e.g. in
Finland, the National Advisory Board on Social Welfare and Healthcare, ETENE) to int-
312 M. J. Virtanen
from the outset of the rise in ethics agencies during the late 1990s (see Meskus
2009, S. 146). This does not, however, change the fact that even when physicians
participated in ethics discussions, inside or outside the medical organizations, is-
sues of ethics were dealt with predominantly outside actual medical practice in the
problem-based committees—and framed as problems demanding, above all, a pro-
blem-solution constellation.
My train of thought here runs partially counter to views of the loss of the profes-
sion’s closure, mostly due to intruding foreign logics whittling away at ‘the medical
ethos’ (see e.g. Sulilatu 2008; Vogd 2002). The ethos, however, can still be found,
but less as a form of medical craftsmanship and more as pure scientific expertise
backed up by recent results in highly specialized biotechnological research. For me,
this currently serves as the foundation for constantly making closure in the medical
profession.9 This is by no means open-access knowledge, and, as stated before, it
cannot be accomplished with standard formulas either; hence, some kind of profes-
sional magic remains also in the era of EBM.
Without a doubt, recent developments in bio-scientific research have produ-
ced novel demands for establishing the borders of medical care and its targets,
for example, in the demarcation between life and death,10 which potentially raises
profound ethical issues in medical practice. On a general level these developments
can be interpreted as relating to the tendency to increase so-called ‘non-knowled-
ge’ ( Nichtwissen). ‘Je mehr man weiβ, desto mehr weiβ man, was man nicht weiβ’
(Luhmann 1991, p. 37). Medicine does not demarcate itself through the expansion
of its store of knowledge, but instead, invariably finds itself at the forefront of new
research and treatment possibilities. In regard to concrete medical practice, as sta-
ted before, non-knowledge also relates to the practical implementation of research
findings: The discrepancy between the (vast) amount of knowledge potentially on
hand and the lack of congruent embedding possibilities, as well as the skill and time
ra-professional committees (the Committee for Ethical Matters of Principle of the Finnish
Medical Association) to general forums (the Physicians’ Ethics Forum) to various intra-orga-
nizational commissions and more free-forming local discussions (see Lötjönen 1999; Fuchs
2005, p. 28–29; Halila 2003, S. 357–361; cf. Kappel 2008, S. 25–27 and Kettner 2005, S. 4–5).
On the early stages of hospital ethics committees, see Rosner 1985.
9
The symptoms of the scientific self-understanding of the medical profession is easily found,
especially in efforts to close off all non-biomedical ways of healing from the medical sphere
and from the focus on evidence-based diagnoses, treatment and prevention early on in me-
dical training.
10
74 % of 344 American physicians who took part in a telephone interview stated that their
last dilemma ending in ethical consultation was related to questions of the end-phase of life.
These same dilemmas led to ethical consultations in every group of physicians interviewed.
(DuVal et al. 2001 and 2004, cf. Saarni et al. 2008.)
From Square Problems to Round Reasoning 313
There is no integrative centre or top in the current societal form; none of its ele-
ments represents the (imaginary) whole, dictates the viewpoint or establishes all the
expectations. From the vantage point of a theory of society, there is no guarantee
of societal cement left for morality or religion, both of which have been connected
with individual lives and theories of academic reflection in the form of ethics and
university theology. However, there seems to be a constant need for deliberating
on more general, ethics-labeled problems and for defining issues with profound
ethical ramifications (cf. Høyer 2008). In concrete considerations of various ethics
organizations, ethics seems to be rather practical and partial, but as a (processual)
mediator of mutually incommensurable logics rather than as a universal grounding
or meta-rationale. The question is not about proving who is ultimately right mo-
rally, but, above all, it is about ‘wie verfahren werden soll, wenn in der Gesellschaft
inkompatible moralische Ansprüche konkurrieren’ (van den Daele 2001, p. 18).
These mostly problem-based processing practices have increased in biomedi-
cal research and practice in recent decades. Although the concrete workings and
policies of various ethics committees may differ significantly, the common deno-
From Square Problems to Round Reasoning 315
minator can be found in how ethics issues are considered. Ethics dealt with and
produced by committee differs clearly from philosophical ethics, whether in the
form of practical ethics or more universal moral philosophy, and regardless of com-
mittee members’ education in the field of academic ethics (ibid., van den Daele
2008; Bogner 2009; also Saake and Kunz 2006). The question is more about de-
cision-making practices, which are influenced—and also restricted—by various
forms and contents of societal communication along with ethics. Thus, the ethics
of ethics committees seems to be rather an ‘ethicalizing’ process connected with
various procedures, tacks and etiquettes formal and informal, which function pri-
marily as mediators between different positions. Armin Nassehi, Irmhild Saake and
Katharina Mayr (2008, p. 134) speak about a gradually established, ‘unique form of
communication […], which of itself has taken on a kind of ethical quality’.
This ethical quality, emerging in the work of committees, does not achieve so-
cietal-wide resonance, however, if the communication cannot be moulded into a
form that enables decision-making in practice. And it is the demand for just this
kind of communication that strikes the imaginary agora of free ethical considera-
tion and brings a host of organizational features to committee work. The result is
most visible in regards to temporality. Time limits, related to all decision-making
processes, are the worst enemy of (an illusion of) unrestrained consideration and
deliberation. But there are also other forms in which the impossibility of amalga-
mating different views is embedded during committee meetings.
The essential starting point for committee work is the necessity of moderating
the moral stances of the committee members. According to Wolfgang van den Dae-
le (2001, p. 8–10), who has examined various ethical boards in Germany at length,
this toning down is produced in diskursiver Takt: ontologizing tones of moralizing
and deep personal convictions are framed outside the discussion in the practices of
committee work (see also Bogner 2009). A shift from personal moral convictions
to ‘the compulsions of society’ has to be made if the broader significance of ethi-
cal reasoning is to be a viable target. This shift is produced in committee practice
through tact, discretion and respect, as well as through a general orientation to
decision-making, which demands, above all, time limits. And ‘[e]xakt in diesem
Sinne sind Ethik-Gremien Veranstaltungen zur Verhinderung von Moral und zur
Generierung von Entscheidungen’ (Nassehi 2006, p. 375). There are, however, dis-
tinctions in the degree of this shift between different ethics organizations.
Issues considered a-medical and thus outsourced from the core of medical prac-
tice often have implications that reach far beyond their original context. This is one
central feature of the a-medical nature of these issues; there is no medical ground
or rationale on which they can be controlled or decided. The medical advantages
of new technologies, for example, might be indisputable, but the ramifications, the
316 M. J. Virtanen
concrete by-products, assumed risks and bafflement about the experience of blur-
red demarcations cannot be ‘medicalized’, and these kinds of issues are framed as
‘ethical problems’.
If these resonate strongly with law communication, for example, in the form of
a compulsory ethical evaluation of biomedical research, then the case is clear: ‘et-
hical’ is that which is legal, and vice versa. As Bijan Fateh-Moghadam, who has
observed research ethical commissions from a jurisprudential point of view, writes
together with sociologist Gina Atzeni (2008, p. 119): ‘[d]ie Bezugnahme auf Ethik
soll in medizinrechtlichen Kontexten offenbar nicht von Moral unterscheiden, son-
dern vom Recht, als konkurrierendem normativen Bewertungsmaβstab’.
On the other hand, the ethics references of commissions dealing with research
permits can be interpreted as potentially operating in competition with—or at least
in a different way than—the legal references. This ‘Renaissance der Ethik im Recht’
(ibid., p. 120) is, however, a half-measure, because the dominance in society of a
more deeply established law communication compared to philosophical or general
ethical deliberation is clear, at least in research ethical agencies:
The ethical consideration within these types of organizations with clear practical
decision-making tendencies (applied permission ‘approved’ or ‘declined’) seems to
be ethics rather in quotation marks: the practical bringing up of the matter in a
commission is performatively ‘ethical’ per se. Most of those who attend the meetings
of such organizations represent their own fact-dimensional expertise and profes-
sions (ibid, p. 132–140), and the dominance of law communication, for example,
becomes obvious. In the work of strongly fact-related research ethical commissi-
ons, ‘ethicality’ shrinks in practice easily to the legal implementation of research
permissions on hand, and the possibility of ethical consideration, be it more or less
philosophical in nature, is automatically pushed to the margins (cf. Bora 2009).
This is also the point made by Klaus L. Høyer and Richard Tutton, who have
observed language games with the ethics label in the context of the United King-
dom Biobank project. They speak of (2005, p. 386) ‘“ethics was here” ethics’, a kind
of ethical stamp of approval, which is a ‘kind of assurance that potential or actual
ethical problems have been identified, attended to and resolved’. Høyer’s and Tut-
ton’s description of ethics, which bears a ‘Kilroy was here’ connotation, joins the
same group of former ‘ethics’ characterizations, as ‘empty ethics’ or ‘catwalk ethics’,
From Square Problems to Round Reasoning 317
because ‘the ethics encountered in these various biomedical contexts […] involves
little if any in-depth analysis’ by ‘academic standards’ (ibid.). In the context of a
more general university research ethics, Rebecca Boden, Debbie Epstein and Joan-
na Latimer (2009, p. 734) for their part speak of ‘new ethical bureaucracies’, which
‘reduce and codify ethics into sets of highly scripted rules, procedures and behavi-
ours’. Alfons Bora (2009, p. 18), for one, warns of an ‘apolitical vacuum’ produced
by the process of legal-bureaucratic administration, which he calls the ‘iron cage
of law’. In the Finnish context Mianna Meskus (2009, p. 150), who has examined
problématiques relating to the rise of medical genetics, stresses a critical view of
research ethics as well and highlights the functionality of open ethics discourse
for medical science. By demanding ethical discussions and ethical actions, we can
be assured that a particular kind of medical research is regulated and collectively
controlled, and this is often visible to a wider public as well. This type of highly
institutionalized ‘ethical consideration’ and active informing about the work of such
organizations in my view functions to assure moral competence in biomedical re-
search and as a source of information about the consideration of moral questions,
especially to wider publics (cf. Sulilatu 2008, p. 290).
Does the practice of ethical organizations that concentrate mainly on broad,
principal issues differ from the practice of the above-mentioned law-domina-
ted research permission commissions? On the basis of empirical observation of
committee work in nation-wide boards and in the context of hospital operating
committees, the answer is positive. The most explicit differences between these
organizations and the research ethical commissions stem largely from the more
open-ended nature of the issues considered and from looser organizational regula-
tions; in other words, there is a lower level of bureaucratization. There is thus more
space—and often also a bit more time—for (ethical) considerations and reflection
in general ethics committees. This does not mean, however, that the ethical charac-
ter of boards and committees empty to academic-philosophical reasoning about
the moral foundations of issues on hand. The question continues to be more about
softening the edges of different perspectives, as well as about respecting different
speaker positions and producing mutual symmetry in committee practice. A phy-
sician, lawyer, economist, Member of Parliament, ethicist, theologian and patient
spokesman seems somehow to advance, despite the diverging starting points.
From a systems theoretical point of view, current societal form must proceed wi-
thout a part or a logic capable of representing the whole, without an all-encompas-
sing binding moral or universal ethics as its reflection theory. It is hard to imagine
that a societal amalgamation, and especially one based on ethical reasoning, could
be found in ‘a miniature form of society’ either. Ethics as an academic-philoso-
phical reflection theory of morality cannot function—and as observed empirically,
318 M. J. Virtanen
References
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cine is and what it is not. Journal of Medical Ethics, 30(2), 120.
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