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Nr. 30 / 21.7.

2018
Deutschland € 5,10

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Guten Flug! r.
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Forscher erkunden, wie Körper und Geist


Druck ertragen – und in Stärke verwandeln
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Abschiebe-Affäre Sami A. Handelskrieg, Nato-Krise etc. SPIEGEL-Gespräch


Der Sommer der Blamagen Eine Strategie für Deutschland: Wimbledon-Siegerin Kerber:
für Innenminister Seehofer Überwintern in Zeiten von Trump »Champions stehen wieder auf«
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Hausmitteilung
Steuern?
Betr.: Bergdrama, Kartelle, Venezuela, »DEIN SPIEGEL«/SPIEGEL GESCHICHTE Lass ich machen.
Anfang April verschwand der Tengelmann-
Chef Karl-Erivan Haub spurlos in den Schwei-
CLAUDIA CORRENT / DER SPIEGEL

zer Bergen, allein auf einer Skitour. Nur wenige


Wochen später verirrte sich eine Zehnerseil-
schaft nicht weit entfernt auf der »Haute Route«
in einem Sturm. Sieben überlebten das Unglück
nicht. Derlei Bergunfälle sind meist nur eine
kurze Notiz, dann geraten sie schnell in Ver-
gessenheit. Doch wie genau gerät eine Sport-
lergruppe in so eine tödliche Situation, was
lässt sich aus der Tragödie lernen? Die SPIE-
HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL

GEL-Redakteure Samiha Shafy und Hilmar


Schmundt sprachen erstmals mit allen Über-
lebenden, mit Freunden und Hinterbliebenen,
mit Rettern und Ermittlern des Dramas auf der
Haute Route. Shafy war beeindruckt davon,
dass alle Geretteten irgendwann wieder auf
einen Gipfel wollen: »Das traumatische Er-
Shafy mit Überlebendem, lebnis konnte ihre Liebe zu den Bergen nicht
Schmundt an der »Haute Route« zerstören.« Seite 46

Nach der Aufdeckung der heimlichen Absprachen der Autoindustrie über zu kleine
AdBlue-Tanks und Abgasschummeleien bei Dieselfahrzeugen geht die EU-Kommis-
sion einem neuen Verdacht nach: Manager der Autokonzerne könnten sich auch bei
der Abgasreinigung von Benzinfahrzeugen abgestimmt haben. Die Wirtschafts-
redakteure Frank Dohmen und Dietmar Hawranek, die 2017 die vielen Absprachen
des deutschen Autokartells enthüllten, konnten jetzt Protokolle und E-Mails einsehen,
nach denen die Einführung wirksamer Partikelfilter offenbar boykottiert wurde.
Die Dokumente zeigen nach Ansicht der beiden eine Grundhaltung der Branche:
»Wettbewerb ist lästig, Umweltschutz zu teuer.« Seite 54

Es fehlt an allem in Venezuelas öffentlichen


Krankenhäusern, nur an einem mangelt es
MERIDITH KOHUT / DER SPIEGEL

nicht: an menschlicher Solidarität. Kranken-


schwestern teilen ihr spärliches Mittagessen,
das sie von zu Hause mitbringen, mit Patien-
ten; Ärzte leisten schier Übermenschliches für
einen Hungerlohn; Patienten verleihen Bohr-
VLH.
maschinen für Operationen. Ein Arzt steckte
SPIEGEL-Korrespondent Jens Glüsing und
Fotografin Meridith Kohut während ihres Be- Glüsing (l.) in Venezuela
suchs in einer Universitätsklinik einen Zettel
mit den Namen dringend benötigter Medikamente zu, die im Land nicht zu be-
kommen sind. Doch Hilfe ist schwierig: Präsident Nicolás Maduro leugnet das Elend, Wir machen Ihre
er lässt keine humanitäre Hilfe ins Land. Seite 84
Steuererklärung.
Am Dienstag erscheinen gleich zwei neue Hefte
aus dem SPIEGEL-Verlag. Die jüngste Ausgabe
von »DEIN SPIEGEL« widmet sich der Frage,
wie man die eigenen Talente entdeckt. Das
neue Magazin von SPIEGEL GESCHICHTE
thematisiert den großen Umbruch des 19. Jahr-
hunderts: »Die industrielle Revolution – Deutsch-
land 1850 – 1900«.
www.vlh.de
DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 3
Wir beraten Mitglieder im Rahmen von § 4 Nr. 11 StBerG.
Inhalt
72. Jahrgang | Heft 30 | 21. Juli 2018

Titel Kommentar Wie Teile der


Linken in der Flüchtlings-
Psychologie Komm runter – debatte die Nerven verlieren 32
wie Körper und Geist
zur Gelassenheit finden, Disziplin Um billigere Flüge
nicht nur im Urlaub . . . . . . . . . 96 zu nutzen, lassen viele
Familien ihre Kinder den
Unterricht schwänzen . . . . . . 33
Deutschland
Antisemitismus Wie erleben
Leitartikel Die Große deutsche Juden den
Koalition befeuert die AfD 6 zunehmenden Hass in der
Gesellschaft? . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Meinung Im Zweifel links /
So gesehen: Wie Trump Ferien Bundesweit kämpfen
und Putin ein europäisches Bürger um den Erhalt von

PABLO MARTINEZ MONSIVAIS / AP


Rätsel lösen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 Freibädern . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42

AfD geht gegen eigene


Unterstützer vor / NRW baut Gesellschaft
Landeskriminalamt nach
Amri-Attentat um / Haushälter Früher war alles schlechter:
lassen Deutsche Umwelthilfe Abschmelzende Müllberge /
durchleuchten . . . . . . . . . . . . . . . 90 Wird Vanilleeis zum

Asyl Monatelang drängte


Die wunderbare Freundschaft Luxusgut? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44

Innenminister Horst Seehofer zwischen Trump und Putin Eine Meldung und ihre
darauf, einen Islamisten Geschichte Warum ein
loszuwerden; nun ist der Mann Der Gipfel in Helsinki wird für den US-Präsidenten türkischer Hochzeitsfotograf
in Tunis – und der Rechtsstaat zur politischen Belastung. Seine Gegner, die dem Bräutigam die Nase
beschädigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 brach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
ihm schon lange eine zu große Nähe zu Russland
Rivalen Der bittere Sieg unterstellen, sehen sich bestätigt. Aber kann Unglücke Zehn Bergsteiger
von Kanzlerin Merkel ...... 20 das Donald Trump dauerhaft schaden? Seite 72 wandern und klettern
in den Alpen – nur drei
Konservative SPIEGEL- überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Gespräch mit CSU-Veteran
Peter Gauweiler über den Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 59
Machtkampf in der Union . . . 22

Essay Warum Berlin und Wirtschaft


MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL

Brüssel Langmut im Umgang


mit Trump brauchen . . . . . . . . 26 Arbeitgeber wollen
Zuwanderung erleichtern /
Verteidigung Nach dem Baldiger Rückruf
Nato-Gipfel streitet für Porsche Panamera . . . . . . 52
die Berliner Koalition
über den Militäretat . . . . . . . . 28 Kartelle Audi, BMW,
Daimler, Porsche und VW
Diplomatie SPD-Außenexperte sprachen sich offenbar
Niels Annen will Gute Viertel, schlechte Viertel auch bei den Benzinmotoren
den Dialog mit den USA ab – zum Schaden der
weiterführen . . . . . . . . . . . . . . . 29 Durch die Städte geht ein Riss, Arm und Reich Kunden, der Politik und
leben sich auseinander. Menschen mit niedrigem der Umwelt . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
Kulturpolitik Die ehemalige
Thomas-Mann-Villa in
Einkommen ballen sich immer stärker in Konjunktur Wie gefährlich
Kalifornien sorgt für Unruhe bestimmten Stadtteilen, betroffen sind vor allem ist der Handelskrieg für
in der Berliner Politik . . . . . . . 30 Familien, Alte und Alleinerziehende. Seite 66 Deutschlands Wirtschaft? . . . 58

4 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Analyse Warum diesen Sommer Wissenschaft
so viele Flüge ausfallen . . . . . 61

SAMMY HART / DER SPIEGEL


Drohne offenbart prähisto-
Zukunft Kanzleramtschef rische Kultstätte / Was
Helge Braun (CDU) über die Kinder mit Lippen-Kiefer-
Chancen Deutschlands bei Gaumenspalte ertragen
der künstlichen Intelligenz 64 müssen / Kommentar: PRODUKT
Lizenz zum Mobben . . . . . . . . 94 DES JAHRES
Soziale Ungleichheit Arm und
Reich wohnen sich Die Tennisspielerin Debatte Gebt die Gentechnik 2 018
VON VERBRAUCHERN GEWÄHLT

immer weiter auseinander 66 Angelique Kerber frei!. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104


GOLD

siegte in Wimble-
Akustik Mit Pauken und *
don: »Ich habe
Ausland Trompeten – viele Musiker
für mich Geschichte leiden unter Hörschäden . . . 106
Der Brexit zerreißt die konser- geschrieben.«
vative Partei von Theresa Seite 90 Oldtimer Die kurioseste
May / Der blutige Kampf des Restaurierung der
Ortega-Regimes in Nicaragua Automobilgeschichte . . . . . . 107
um den Machterhalt . . . . . . . . . 70
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

USA Die Russlandaffäre Kultur


überschattet Donald Trumps
gesamte Präsidentschaft . . . . 71 Zensur an der Kunsthalle
Bremen? / Jodie Fosters Schau-
China Peking hat in der spiel-Comeback / Kolumne:
Uigurenregion Xinjiang die Besser weiß ich es nicht . . . . 108
Überwachung perfektioniert;
wer sich verdächtig macht, Komiker SPIEGEL-Gespräch
muss »studieren gehen« . . . . 76 Der Komiker mit Otto Waalkes, einem
Otto Waalkes hat Mann, den das halbe Land nur
Nahost Der Schattenkrieg beim Vornamen nennt . . . . . 110 Mit edler
zwischen Israel und Iran . . . . 81 Angst davor, Glaskaraffe
im Alter ernst zu Kunst Pussy Riots gelungene
Venezuela In der Klinik »Luis werden. Er feiert Verstörung der WM . . . . . . . 113
Razetti« operieren Ärzte mit seinen 70. Geburts-
Material aus dem Baumarkt, Literatur Arthur Koestlers
sterben Kinder an Unter-
tag. Seite 110 Meisterwerk »Sonnen-
ernährung – eine Reportage finsternis« neu entdeckt . . . 114
über Verzweiflung und
Menschlichkeit in der Not . . . 84 #MeToo Deutsche
Erzählerinnen über Sex
NATHAN MURRELL / DER SPIEGEL

und Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . 118


Sport
Debüt Eine Begegnung mit
Beste Nachwuchsspieler bei der Autorin Katharina Adler
Fußballweltmeisterschaften / in Wien – auf den Spuren
Magische Momente: Warum ihrer berühmten Familie . . . 110
dem Tennisprofi Michael Stich
die Stimme versagte . . . . . . . . 89 Buchkritik Erich Hackls O Immer frisch gesprudeltes Wasser
Die Autorin Erzählung »Am Seil« . . . . . . 113 O Kohlensäure individuell dosierbar
Tennis SPIEGEL-Gespräch Katharina Adler O Spart Geld
mit Wimbledon-Gewinnerin veröffentlicht Bestseller . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Angelique Kerber über ihren einen Roman über Impressum, Leserservice . . . 114
Sieg vor den Herzoginnen Nachrufe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
Sigmund Freuds
Kate und Meghan und die Personalien . . . . . . . . . . . . . . . . 116
Lehren aus ihrer sportlichen berühmte Patientin Briefe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118
Krise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 »Dora«. Seite 110 Hohlspiegel / Rückspiegel . . . 130 www.sodastream.de
*1. Platz von 8 Produkten in der Warengruppe „Nonfood / Elektroklein-
geräte“. Online-Befragung im August 2017 durch die Innofact AG im
Auftrag der Lebensmittel Praxis mit mindestens 400 Interviews in der
Titelfoto: [M] Henglei & Steets / Getty Images 5 Warengruppe. Mehr Infos: www.sodastream.de/produktdesjahres2018
Das deutsche Nachrichten-Magazin

Die Defensivspieler
Leitartikel Warum die schwarz-rote Regierung die AfD nicht klein, sondern groß macht

s war das große Versprechen der Großen Koalition. bis heute hat sich die Regierung auf keinen wirksamen

E So unbeliebt die Allianz von Union und SPD auch


sein mag, das verkündeten ihre Spitzen beim Amts-
antritt, so sei sie doch die richtige Antwort auf die
AfD. Nicht nur, weil sie Neuwahlen verhindere. Sondern
Plan einigen können, wie die Luft vieler Metropolen von
giftigen Dieselabgasen gesäubert werden kann. Anders
als von der Regierung versprochen, drohen nun spätestens
im nächsten Jahr Fahrverbote in mehreren Großstädten –
auch, weil die Volksparteien inzwischen gelernt hätten, wie und damit eine Wutwelle geprellter Autofahrer, von der
der Kampf gegen die Rechtspopulisten gewonnen werden vor allem eine Partei profitieren wird: die AfD.
könne: Ihren Parolen entschieden entgegentreten. Die Pro- Es gehört zu den grundsätzlichen Schwächen dieser Gro-
bleme, mit denen sie die Wähler fangen, lösen. Und ansons- ßen Koalition, dass sie Probleme nicht löst, sondern mit
ten – gut regieren. Geld zudeckt. Im Kampf gegen die Altersarmut hat die
Inzwischen sind Union und SPD vier Monate im Amt, schwarz-rote Regierung gerade die milliardenschwere Müt-
doch wer eine nüchterne Bilanz ihrer bisherigen Arbeit terrente auf den Weg gebracht, deren Wirkung auf das
zieht, könnte den Eindruck ge- soziale Gefälle in der Altersver-
winnen, dass die Große Koalition sorgung zumindest fragwürdig
das genau entgegengesetzte ist. Künftig müssen nämlich arme
Programm verfolgt. Anstatt der Mütter mit zwei Kindern die
AfD die Themen zu nehmen, Rentenbezüge wohlhabender
bläst sie Probleme künstlich auf, Seniorinnen finanzieren, die
setzt falsche Prioritäten und drei oder mehr Kinder zur Welt
folgt auf vielen Feldern jenem gebracht haben.
Hang zu teurer Symbolpolitik, der Ähnlich teuer, aber noch unsin-
schon in der vergangenen Legis- niger ist das sogenannte Baukin-
FILIP SINGER / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

laturperiode die Regierungsarbeit dergeld, mit dem Union und SPD


belastet hat. angeblich etwas gegen die hohen
Die Koalitionsparteien geben Mieten in Großstädten unterneh-
viel Geld aus, aber sie folgen kei- men wollen. Dummerweise rech-
nem Plan. Nicht die großen Zu- net sich die milliardenschwere
kunftsfragen von Digitalisierung Subvention aber vor allem für
bis Europa bestimmen ihre Agen- Bauherren auf dem Land, wes-
da, sondern die Angst vor der AfD. halb Experten nun mit folgendem
Eine Mannschaft von Defensiv- Ergebnis rechnen: Während der
spielern steht in Berlin auf dem Zuschuss in den Städten sogar zu
Platz, obwohl alle Welt weiß: So höheren Immobilienpreisen füh-
Kanzlerin Merkel nach TV-Auftritt
macht man die Populisten nicht ren könnte, schafft er neuen
klein, sondern groß. Wohnraum vor allem dort, wo
Der unionsinterne Flüchtlingsstreit hätte in den Propa- er nicht gebraucht wird, in den abgelegenen Regionen der
gandabüros der Rechtspartei kaum besser erfunden Republik, in denen schon heute viele Häuser leer stehen.
werden können. Erst redete die Union das Thema zur Widersinniger geht es kaum. Und so kommt es, dass die
Schicksalsfrage hoch, obwohl die Flüchtlingszahlen Große Koalition den Aufstieg der AfD derzeit nicht bremst,
längst gesunken sind. Dann einigte sich Schwarz-Rot auf sondern befördert. Schon die Bundestagswahl war ein
eine Lösung, nach der laut Innenminister Horst Seehofer Desaster für Union und SPD. Doch seither haben die Volks-
künftig an drei Grenzübergängen täglich maximal fünf parteien nach aktuellen Umfragen zusammen noch einmal
Flüchtlinge aufgegriffen werden könnten. Eine Lachnum- rund fünf Prozentpunkte eingebüßt, die AfD dagegen legt
mer, die darüber hinaus den schalen Eindruck hinterließ, weiter zu. In Bayern ist die CSU unter die 40-Prozent-Mar-
dass es vielen in der Union nicht um die Sache, sondern ke gerutscht, und bei den Landtagswahlen nächstes Jahr in
um die Durchsetzung eines alten AfD-Anliegens ging: Ostdeutschland könnte die Rechtspartei etwa in Branden-
Merkel muss weg. burg gar zur stärksten Kraft werden.
Die Große Koalition beschäftigt sich entweder mit dem »Populismus ist einfach, Demokratie ist komplex«,
Thema Flüchtlinge, so schien es, oder mit sich selbst. Dabei schrieb der Soziologe Ralf Dahrendorf bereits vor 15 Jah-
drücken die Bürger durchaus noch ein paar andere Sorgen. ren. Vielleicht sollten sich Union und SPD daran erinnern,
Seit drei Jahren zum Beispiel ringen Union und SPD mit wenn sie in ihren verbleibenden drei Regierungsjahren
den Folgen der Dieselkrise. Autogipfel wurden einberufen, dem Siegeszug der AfD doch noch etwas entgegensetzen
Kommissionen gebildet, Hilfsprogramme aufgelegt. Doch wollen. Michael Sauga

6 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Ford Outdoor-Wochen

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Meinung So gesehen

Unerwarteter
Jakob Augstein Im Zweifel links Gewinn
Trump und Putin beenden eine
Peng. Das saß. europäische Grübelei gütlich.
In der »Zeit«, die immer das den –, lassen uns von Digitalkritikern ● Wer wem den Vortritt lässt, wer
Ohr auf den Schienen hat, und Globalisierungsgegnern Blumen wen warten oder im Regen stehen
wenn es um heiße gesell- in die Kugelschreiber stecken und lassen darf, ist in Europa feinmaschig
schaftliche Themen geht, machen mobil für den großen Handels- geregelt: Ober vor Unter, Greis vor
habe ich neulich gelesen, krieg. Knabe, wiederum aber Greisin vor
dass das postheroische Zeital- Die Sache hat einen Haken: So ein Greis, Alter vor Schönheit und was
ter zu Ende geht. Es gebe, stand Handelskrieg ähnelt seinem größeren der Tanzstundenweisheiten mehr
da, eine neue Begeisterung für den Bruder, dem richtigen Krieg, in der sind. Die seit Bestehen dieser Reiche
Kampf. Ich habe in mich hineingehorcht Unberechenbarkeit. Er kann eskalie- virulente Frage, ob Russland und
– und tatsächlich: Auch ich bin anfällig ren. Wer weiß, wohin. Die Feindbilder, Amerika eigentlich zu Europa gehö-
für Schlachtenlärm und Kampfgebrüll. die da aufgebaut werden, sind das ren, historisch, kulturell, als Werte-
Die EU-Kommission hat gerade Google Problem. Wenn Trump eine Sache auf- gemeinschaft oder als brothers
zu einer Strafe von 4,34 Milliarden Euro bauen kann, sind es Feindbilder. »Sie in arms – diese Frage, von deren
verdonnert. Da reißt es mich vom Sitz, haben die Vereinigten Staaten wirklich
und ich rufe begeistert: Europaaaaaaaaa! ausgenutzt, aber nicht mehr lange!«,
Ist doch wahr: Trump trampelt auf twitterte er kurz nach der Ankündi-
uns herum. Er droht unserer Autoindus- gung der europäischen Strafe.
trie. Und wir sehen zu und rühren uns Twittern können wir natürlich auch.
kaum. Er zückt den dicken Zollknüppel EU-Ratspräsident Donald Tusk hat

PETTER ARVIDSON / IMAGO


– und die EU? Wedelt bislang nur mit gerade eine auf Trump gezielte Breit-
einem Zollstöckchen. Whiskey und seite abgeschossen: »Die wirklichen
Harleys? Hey, Brüssel, das macht alten Risiken für unsere Wirtschaft, Arbeits-
Männern Angst, die Bäuche haben und plätze und Wohlstand sind politische
Bock auf süßen Fusel und peinliche Unsicherheit, Zollkriege, Unberechen-
Bikes. Aber jetzt: Google. Das fordern barkeit, Verantwortungslosigkeit und
unsere Strategen schon lange! Trefft aggressive Wortwahl.« Peng. Das saß.
Amerika dort, wo es wehtut! Und nun? Ich sage nicht, dass Europa Unentscheidbarkeit viele Akade-
Eine kleine »Augustbegeisterung« nichts tun soll. Und wohin das alles mien, Stiftungsprofessuren und
macht sich also in diesem Juli in Europa führt, weiß ich auch nicht. Aber wenn Tagungstouristen seit Dekaden ein
breit. Fast muss man Trump dankbar ich es recht überlege, vermisse ich das komfortables Leben fristen, darf
sein: Europa braucht mal wieder eine Postheroische dann doch. Denn was nun als erledigt gelten.
Erfolgsmeldung, und egal wie tief die mit heroischer Begeisterung beginnt, Der Queen unter der Nachmittags-
Differenzen sonst sein mögen, der Ami endet nicht selten ganz erbärmlich. sonne den Weg zu vertreten wie
geht beinahe allen auf die Nerven. Donald Trump beim Besuch auf
Also, auf, auf, wir ziehen die Champs- An dieser Stelle schreiben Jakob Augstein, Jan Schloss Windsor, das blondgewellte,
Élysées entlang – oder Unter den Lin- Fleischhauer und Markus Feldenkirchen im Wechsel. wohlfrisierte Haar der kroatischen
Ministerpräsidentin dem Platzregen
auszusetzen wie Wladimir Putin bei
Kittihawk der WM-Siegerehrung, dies sind
Unverzeihlichkeiten, die kein Deal
und keine Erdgaslieferung aus der
Welt schaffen können. Ein Quantum
Trost können die düpierten, immer
tiefer in die Grube der von der Welt-
geschichte Vernachlässigbaren rut-
schenden Europäer allerdings aus
der Beobachtung ziehen, dass in der
internationalen Rüpelklasse der
soziale Darwinismus oberstes Gebot
bleibt, Solidarität der Barbaren mit-
einander also nicht zu befürchten ist:
Schließlich hat Putin wiederum
Trump 45 Minuten lang warten las-
sen. Viel Zeit zum Nachdenken,
sagte man gern, aber man bringt’s
nicht fertig. Elke Schmitter

8 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Mitten im
Geschehen.
Mitten aus Berlin.
Das ZDF-Mittagsmagazin
mit Jana Pareigis
live ab 13:00 Uhr
Deutschland
»Brauchst mal nicht zu sagen, dass du jüdisch bist« ‣ S. 36

GOTTFRIED STOPPEL
Weidel, Bendels (M.) bei Parteiveranstaltung in Baden-Württemberg 2017

Anonyme Spender

AfD geht gegen eigene Unterstützer vor


Bundestagsverwaltung prüft Anhaltspunkte für illegale Parteienfinanzierung aus der Schweiz.

● Die millionenschwere Wahlkampfhilfe, mit der ein ominöser Warum die AfD erst jetzt gegen ihre vorgeblich ungebetenen
Unterstützerverein seit mehr als zwei Jahren Stimmung für die Unterstützer vorgeht, hat womöglich mit einem Prüfverfahren
AfD macht, sorgt für juristischen Ärger. Offenbar müht sich die der Bundestagsverwaltung zu tun. Die untersucht derzeit mehre-
AfD erstmals um Distanz zu der Organisation, die sich »Verein re PR-Aktionen der Schweizer Goal AG und prüft, ob es
zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Frei- Anhaltspunkte für illegale Parteienfinanzierung gibt. Unter ande-
heiten« nennt und aus undurchsichtigen Quellen finanziert wird rem geht es um eine Anzeigenkampagne der Goal AG für den
(SPIEGEL 20/2018). Nach übereinstimmenden Angaben aus der heutigen AfD-Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen, der 2016 für
Parteispitze hat der AfD-Bundesvorstand dem Verein kürzlich den baden-württembergischen Landtag kandidierte und mit
untersagt, das Logo und Corporate Design der Partei zu verwen- Goal-Chef Segert privat befreundet ist.
den und unter Nennung des Parteinamens zur Wahl der AfD auf- Führende AfD-Funktionäre hatten in der Vergangenheit stets
zurufen. Eine entsprechende Unterlassungsaufforderung sei an behauptet, dass die Werbeaktionen des Vereins – darunter groß
die Postanschrift des Vereins geschickt worden, der unter einer angelegte Plakatkampagnen und Wahlkampfzeitungen in Millio-
Briefkastenadresse in Stuttgart firmiert. Auch das Schweizer nenauflage – nicht mit ihnen oder der Partei abgestimmt worden
PR-Unternehmen Goal AG, das die Wahlkampagnen des Vereins seien, und sie weder Kenntnis über Urheber noch Finanziers hät-
steuert, habe eine solche Unterlassungsaufforderung erhalten. ten. Allerdings veröffentlichten AfD-Vertreter wiederholt in
Während der Chef der Goal AG, Alexander Segert, eine Publikationen des Vereins. Die heutige Fraktionschefin Alice
SPIEGEL-Anfrage zu dem Thema unbeantwortet ließ, erklärte Weidel und mehrere Parteifreunde traten schon gemeinsam mit
Vereinschef David Bendels, dass ein solches Schreiben dem Ver- dem Vereinsvorsitzenden Bendels auf. Die Spender des Vereins
ein bislang »nicht zugegangen« sei. blieben bislang anonym. AMA, SRÖ, SVE

10 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Dieselaffäre Clan-Kriminalität Issa R. Der Eigentümer verbüßt mo-
Umweltverband im Visier Efeuberankte Gangstervilla mentan eine Freiheitsstrafe. Das Land-
gericht Berlin verurteilte ihn 2017 wegen
● Mit ihrem Prozess vor dem Bundes- ● Zu den 77 in Berlin bei einer Polizei- schweren Bandendiebstahls zu drei
verwaltungsgericht für Dieselfahrverbo- razzia am vorvergangenen Freitag Jahren Gefängnis. Ein weiterer Sohn,
te hat sich die Deutsche Umwelthilfe beschlagnahmten Objekten gehört auch Ismail R., steht gerade wegen Mord-
(DUH) den Groll der Autokonzerne eine bürgerliche Altbauvilla im beschau- verdachts vor Gericht. Er soll dabei ge-
zugezogen. Jetzt scheint auch die Gro- lichen Stadtteil Buckow. Die Razzia galt wesen sein, als ein Mann mit einem
ße Koalition den alerten Ökoverband der arabischen Großfamilie R.; einige Baseballschläger totgeprügelt wurde.
aus Radolfzell ins Visier zu nehmen. Mitglieder sollen Immobilien sowie eine Sein Anwalt bezweifelt indes, dass es
Ihre Haushaltspolitiker wollen wissen, Kleingartenkolonie mit Beutegeldern zu einer Verurteilung kommt. Inzwi-
wie viel Bundesgelder der Verein gekauft haben. In der mit Efeu berank- schen ermitteln die Fahnder gegen
bekommt. Im Auftrag des Finanzminis- ten Villa in Buckow wohnt das Clan- 16 Personen, von denen viele seit Jahren
teriums haben Regierungsbeamte Bun- mitglied Issa R. mit seinen zehn Söhnen. in Berlin, aber einige auch im Libanon
desbehörden aufgefordert, etwaige Verkauft wurde die Villa 2012 von einer leben. SPIEGEL TV sendet in Kürze eine
Zuwendungen zu melden. In einer E- landeseigenen Wohnungsbaugesellschaft Dokumentation zu den kriminellen
Mail (»EILT SEHR!«) bitten sie um für rund 150 000 Euro an den damals Machenschaften arabischer Großfami-
Rückmeldung, ob über »Förderpro- 19-jährigen Jusuf R., einen Sohn von lien in Berlin. CMH
gramme Zusagen/Bewilligungen erfolgt
sind, und wenn ja, in welcher Höhe«.
Die Informationen sollen innerhalb von
24 Stunden geliefert werden. Damit Terrorismus Innerhalb der neuen LKA-Abteilung soll
wolle sich die »Klausurtagung der AG NRW gründet eigenes ein Terrorismusabwehrzentrum entstehen
Haushalt der Koalitionsfraktionen« auf – analog zum Berliner Gemeinsamen Ter-
die Verhandlungen zum Bundesetat Terrorabwehrzentrum rorismusabwehrzentrum, kurz GTAZ, in
2019 vorbereiten. Die DUH befürchtet, dem sich unter anderem Polizeibehörden,
dass ihr Zuwendungen gekürzt werden ● Als Reaktion auf das Anis-Amri-Atten- Bundesanwaltschaft und Geheimdienste
sollen. Man gelte zunehmend als stö- tat in Berlin ordnet Nordrhein-Westfalens austauschen. In das GTAZ NRW sollen
rend, heißt es aus dem Umfeld des Ver- Innenminister Herbert Reul (CDU) den Beamte von ihren örtlichen Dienststellen
eins, der derzeit allein vom Bund 1,3 Polizeilichen Staatsschutz des Landes entsandt werden. Die hohe Gefährdungs-
Millionen Euro unter anderem für Ener- neu. Das geht aus einem aktuellen Erlass lage mache eine Neuorganisation des
giesparprojekte im Gebäudebereich seines Hauses hervor. So soll im Landes- Staatsschutzes und die Konzentration der
erhält. Öffentliche Mittel tragen insge- kriminalamt (LKA) zum 1. Januar 2019 Kräfte notwendig, heißt es in dem Erlass.
samt zu 21 Prozent zur Finanzierung eine Abteilung Terrorismusbekämpfung Nordrhein-Westfalen ist das erste Bundes-
des Verbands bei. Ein anderer Teil der eingerichtet werden, in der sich Kriminal- land, das sein LKA entsprechend neu auf-
Gelder, mit denen die DUH kostspieli- beamte intensiv mit den derzeit etwa 20 stellt. Zuvor hatte bereits das Bundeskri-
ge Klagen zu Dieselabgasen oder der gefährlichsten Islamisten des Landes minalamt angekündigt, eine eigene Abtei-
Nitratbelastung von Wasser finanziert, befassen. Bislang wurden in Nordrhein- lung für islamistischen Terrorismus zu
stammt aus Abmahnungen, die sie Westfalen die Fälle aller 272 islamisti- gründen. Die Zahl der Ermittlungsverfah-
gegen Firmen wegen des Verstoßes schen Gefährder dezentral in den Polizei- ren in dem Bereich hat sich in den vergan-
gegen Umweltgesetze erwirkt. GT behörden ihrer Wohnorte bearbeitet. genen Jahren vervielfacht. FIS, JDL

Polizei
Ciao Italia
● Die Bundespolizei sucht dringend
Beamte, die von kommender Woche an
in Italien Sicherheitsinterviews mit
Migranten führen, die im Rahmen des
»Humanitären Aufnahmeprogramms
Relocation« von Deutschland aufge-
nommen werden sollen. Die Beamten
sollen über gute Englischkenntnisse
und Erfahrungen mit Identitätsfeststel-
lungen verfügen, erwünscht sind
zudem Auslandserfahrung und Kennt-
nisse in Befragungstechniken. Bei den
Migranten handelt es sich um 50 der
450 vorvergangene Woche vor der
Küste Siziliens durch die europäische
FETHI BELAID / AFP

Küstenwache Frontex geretteten Boots-


insassen. Italien ließ die Flüchtlinge nur
unter der Bedingung an Land, dass
andere EU-Staaten einen Großteil auf-
nehmen. AUL Amri-Porträt bei seiner Familie im tunesischen Oueslatia

11
Ostdeutschland schen politischen und kulturellen Nullmeri- Gedenken
»Ein neuer Sound« dian, und der Osten sei erst auf Augenhöhe, SPD schleicht sich aus
wenn er diesen erreicht hat. Mir ist ein ent-
Der CDU-Politiker Christian Hirte, 42, spannter Blick nach vorne lieber. ihrer Geschichte
Ostbeauftragter der Bundesregierung und SPIEGEL: Wohin fließt Ihr Budget von
Parlamentarischer Staatssekretär beim knapp fünf Millionen Euro im Jahr? ● SPD-Chefin Andrea Nahles hat die
Bundeswirtschaftsminister, will sich weni- Hirte: Ich möchte dort helfen, wo wir renommierte Historische Kommission
ger um Befindlichkeiten kümmern, dafür schon mit kleinen Mitteln Stellschrauben (HiKo) der Partei aufgelöst. Man müsse
aber mehr Geld verteilen. bewegen können, um den Rückstand die »vorhandenen Ressourcen effizient
des Ostens aufzuholen. Mir geht einsetzen«, schrieb Generalsekretär
SPIEGEL: Herr Hirte, Sie waren es um konkrete Wirtschaftspro- Lars Klingbeil am 27. Juni an die HiKo-
13 Jahre alt, als die Mauer fiel. jekte, Innovationen oder span- Mitglieder. Die SPD will den HiKo-
Fühlen Sie sich als ost- oder nende Modelle, wie man den Etat – angeblich bis zu 20 000 Euro pro
gesamtdeutscher Bürger? demografischen Wandel ange- Jahr – nicht länger finanzieren. Neben
Hirte: Das eine schließt das ande- hen kann. der HiKo seien ein Dutzend weitere

JUERGEN BLUME
re glücklicherweise nicht aus. SPIEGEL: Wie können Firmen Foren, Arbeitsgruppen, Beiräte und
Man müsste es sogar noch ergän- oder Privatleute sich bewerben? Gesprächskreise eingestellt worden, so
zen, denn ich fühle mich auch als Hirte: Das genaue Prozedere ein SPD-Sprecher. Die Mitglieder um
Thüringer und Europäer. erarbeite ich gerade im Ministe- den HiKo-Vorsitzenden Bernd Faulen-
SPIEGEL: Dient das Amt des Ostbeauf- rium. Mir schwebt ein Modell vor, bei bach, Professor für Zeitgeschichte in
tragten primär dazu, noch einen Ostdeut- dem sich möglichst viele Menschen, Bochum, wollen sich allerdings nicht
schen in die Regierung zu bringen? Unternehmen oder Initiativen ziemlich fügen. Sie seien »überrascht und
Hirte: Dieser Vorwurf ist unsinnig gegen- formlos bewerben können. Ich glaube empört«, heißt es in einem Brief an die
über einer Regierung, die seit 2005 von nicht, dass man von Berlin aus immer Parteispitze, die Auflösung sei ein
einer Ostdeutschen geführt wird. Mit den besseren Blick dafür hat, wo Geld »verheerendes Symbol für Geschichts-
dem Ostbeauftragten wollen wir bedeut- vor Ort gut eingesetzt ist. So etwas muss losigkeit«. SPD-Ikone Willy Brandt
same Themen abseits des Tagesgeschäfts auch von unten wachsen. hatte das Gremium 1981 ins Leben ge-
ins Schaufenster der Politik stellen. Der SPIEGEL: Setzen Sie auch auf soziale rufen. Die 1863 gegründete SPD ist die
Osten ist ländlicher, die Wirtschaft klein- oder ideelle Projekte? älteste Partei Deutschlands – die Be-
teiliger und deshalb schwächer bei Inno- Hirte: Wir feiern im nächsten Jahr mehre- sinnung auf ihre Geschichte sollte der-
vationen, die Gesellschaft ist älter. Vor re Jubiläen, erst 30 Jahre Fall des Eiser- einst die Flügelkämpfe mildern.
allem gilt: Wenn wir die Themen des nen Vorhangs, dann 30 Jahre Mauerfall. Zugleich wollte Brandt ein Gegenge-
Ostens lösen, hilft das dem ganzen Land. Ich möchte alle ermuntern, sich mit die- wicht zur Geschichtspolitik von Helmut
SPIEGEL: Ihre Vorgängerin Iris Gleicke sen stolzen Daten unserer Geschichte zu Kohl (CDU) schaffen. Im Historikerstreit
machte Schlagzeilen mit einer Studie befassen, ob Schulen, Gemeinden, Verei- 1986/87 über die Einmaligkeit des Holo-
über die Neigung der Ostdeutschen zum ne oder Opferverbände. caust spielte die HiKo eine wichtige Rol-
Rechtsextremismus. Fühlen auch Sie den SPIEGEL: Denken Sie nicht, dass es dafür le. Prominente Mitglieder waren Hans
Sachsen oder Brandenburgern den Puls? genug private Initiativen geben wird? Mommsen, Jürgen Kocka oder Heinrich
Hirte: Rechtsextremismus darf uns in Ost Hirte: Das schon, aber vielen Initiativen August Winkler, heute sitzen Wissen-
wie West nicht egal sein. Aber ich habe stets vor Ort fehlt das Geld. Anders als im schaftler wie Peter Brandt, Sohn Willy
gesagt, dass es mir um einen neuen Sound Westen fehlen Unternehmer oder wohl- Brandts, oder Edgar Wolfrum in dem
für den Osten geht. Wir Ostdeutschen wer- habende Einzelpersonen, die ein Vorha- Gremium. Eine HiKo-Veranstaltung soll
den immer befragt, wenn es um Problembe- ben schnell privat unterstützen können. noch stattfinden, eine Tagung zum 100.
schreibungen geht; das haben wir in der Da ist viel öfter die Hilfe der öffentlichen Jahrestag der Novemberrevolution. Die
Politik mitunter auch selbst befeuert. Oft Hand nötig. Soweit möglich, kann ich Referenten sind bereits geladen – darun-
wird so getan, als gäbe es eine Art westdeut- mir hier ein Engagement vorstellen. AMA ter Hiko-Auflöserin Nahles. KLW

Ausländerzentralregister den Datenabruf im automatisierten Ver-


Digitale Kooperation fahren für alle öffentlichen Stellen zum
Regelfall machen soll. Damit könnten
● Das Umsetzen einer Vereinbarung im auch Gerichte Daten in Echtzeit aus dem
Koalitionsvertrag könnte künftig den AZR abrufen. Eine Berliner Ministeri-
Gerichten das Bearbeiten von Asylkla- umssprecherin: »Das AZR ist hinsicht-
gen erleichtern. Die Unionsparteien und lich seiner Nutzungsmöglichkeiten aus-
J. H. DARCHINGER / FRIEDRICH-EBERT-STIFTUNG

die SPD hatten sich darauf verständigt, baufähig.« Die Vorsitzende Richterin am
das Ausländerzentralregister (AZR) so Verwaltungsgericht Köln, Rita Zimmer-
zu modifizieren, dass künftig alle »rele- mann-Rohde, weist jedoch vorsorglich
vanten Behörden … belastbarere Aus- schon mal darauf hin, dass es nicht Auf-
künfte« erhalten können. Derzeit müs- gabe der Gerichte sein könne, nachzu-
sen Auskunftsersuchen in vielen Fällen prüfen, ob sich etwa ein Verfahrensbetei-
schriftlich an das Bundesverwaltungsamt ligter noch im Land befinde oder bereits
gerichtet werden, was laut Bundesinnen- abgeschoben worden sei. Es sei vielmehr
ministerium zu »Verzögerungen in Ver- »lege artis«, dass die zuständigen Behör-
waltungsabläufen« führt. Das Ministeri- den die Gerichte entsprechend informier-
um arbeitet an einem Gesetzentwurf, der ten. AUL Brandt in Köln 1972

12 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


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Deutschland

Nur schnell weg


Asyl Seit Monaten drängte Horst Seehofer darauf, einen angeblichen
Ex-Leibwächter von Bin Laden loszuwerden.
Nun hat Nordrhein-Westfalen den Gefährder in einer fragwürdigen
Hauruck-Aktion abgeschoben. Der Rechtsstaat ist beschädigt.

14 Illustration Frank Höhne / DER SPIEGEL


A
ls die Anwältin Seda Basay-Yildiz wähnte den Fall im Bundestag. Dessen Ab- Der Student aus Deutschland soll es so-
ihren Mandanten Sami A. am schiebung wird so zu einem Politikum: Es gar bis in die Leibgarde des Qaida-Führers
Freitag vor zwei Wochen in der geht um die Frage, wie weit Politik und geschafft und dabei immer eine Panzer-
Abschiebehaftanstalt Büren be- Behörden gehen wollen, aus Angst vor der faust bei sich gehabt haben. So zumindest
suchte, traf sie auf einen aufgewühlten vermeintlichen Stimmung auf der Straße. behauptete es der Mitreisende im Dezem-
Mann. Er saß in Einzelhaft, sein Bruder Die Antwort ist: sehr weit. Zu weit. ber 2002, als er von Beamten des Bundes-
und sein bester Freund durften ihn nicht Die Hauruck-Aktion passt zur bisheri- kriminalamts vernommen wurde.
mehr besuchen. Sami A. hatte Angst, nach gen Politik Seehofers als Innenminister. Demnach habe Sami A. Hintermänner
Tunesien abgeschoben zu werden. Erst holte Bundespolizeichef Dieter Ro- der Hamburger Zelle, die für die Anschlä-
»Sie müssen damit rechnen, dass die Be- mann mit seiner Rückendeckung den mut- ge vom 11. September 2001 verantwortlich
hörden versuchen werden, uns auszutrick- maßlichen Mörder der 14-jährigen Susan- war, getroffen. Sami A. bestreitet bis heute
sen«, sagte Basay-Yildiz dem Mann, der na aus dem irakischen Kurdengebiet zu- diese Vorwürfe. Richter hielten den Zeu-
seit Jahren als angeblicher Ex-Leibwächter rück. Ein »Bild«-Reporter war mit an gen in einem späteren Verfahren allerdings
des Terrorpaten Osama Bin Laden Schlag- Bord, angeblich zufällig. Die Aktion kam für »uneingeschränkt glaubwürdig«.
zeilen macht. »Sie müssen damit rechnen, bei großen Teilen der Bevölkerung gut an, Ob der 1,65 Meter große Sami A. tat-
dass sie Sie in einer Nacht-und-Nebel- sorgte aber im eigenen Ministerium für sächlich Bin Laden als Leibwächter diente,
Aktion holen kommen.« Sie gab ihm ihre Verwunderung: Ist das jetzt der neue Weg, ließ sich abschließend nicht belegen. Doch
Handynummer. Er solle sie auf jeden Fall wie Strafverfahren beschleunigt werden? das Etikett blieb an ihm kleben, auch Mer-
anrufen, falls es so kommen sollte. Dann Seehofers Belustigung darüber, kel benutzte es, als sie den Fall kürzlich in
Es kam so. dass an seinem 69. Geburtstag ausgerech- einer Regierungserklärung erwähnte.
Um drei Uhr morgens am Freitag ver- net 69 Afghanen abgeschoben wurden. Ei- Ein nach deutschem Recht strafbares
gangener Woche holte die Polizei den Ab- ner brachte sich kurz nach der Landung Verhalten konnten die Behörden Sami A.
schiebehäftling ab und setzte ihn in einen um, ein anderer muss wieder nach nicht nachweisen: 2006 eröffnete die Bun-
gecharterten Jet nach Tunesien. Deutschland zurückgeholt werden, weil desanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren
Mit ihrer Aktion tricksten die Behörden seine Abschiebung rechtswidrig war. gegen ihn, ein Jahr später stellte sie es wie-
nicht nur Sami A., 42, und seine Anwältin Und nun der umstrittene Charterflug der ein. Die Ermittler hatten keine Beweise
aus, sondern auch das Verwaltungsgericht nach Tunesien vom Freitag vergangener dafür gefunden, dass er in Deutschland
Gelsenkirchen. Die Richter hätten erst Woche. eine terroristische Vereinigung unterstütz-
noch über die Abschiebung entscheiden te. Für seine Reise um die Jahrtausendwen-
müssen. Doch die Behörden warteten ih- de konnten sie ihn nicht belangen, weil es
ren Beschluss nicht ab. Nicht aus Versehen, Sami A. wollte eine damals nicht den Straftatbestand der Mit-
nicht aus Schlamperei, wie in den vergan- Moschee aufbauen, gliedschaft in einer terroristischen Verei-
genen Tagen vermutet wurde, sondern mit nigung im Ausland gab.
Absicht, wie Recherchen des SPIEGEL zei- in einem ehemaligen Deutschland versuchte, Sami A. loszu-
gen. Man wollte Sami A. unbedingt los- Nagelstudio. werden. Die Ausländerbehörde Bochum
werden und setzte alles daran, dass die Ab- verweigerte ihm 2006 eine weitere Auf-
schiebung diesmal nicht wieder scheiterte. enthaltsgenehmigung als Student. Sami A.
Elf Jahre lang wurde Sami A. geduldet, In Zeiten erregter Debatten um Migra- musste seinen Pass abgeben und sich fort-
ein Islamist, den man nicht nach Tunesien tion und Flüchtlinge stehen Seehofer und an jeden Tag bei der Polizei melden.
schicken konnte, wo man mit ihm viel- Stamp für eine bemerkenswerte Politik, in
leicht kurzen Prozess gemacht hätte. Jetzt der der Zweck offenkundig viele Mittel Er war nun ein Gefährder. Ein Mann, bei
hat der Staat ihn ausgetrickst – und sich heiligt, auch wenn dabei der Rechtsstaat dem die Sicherheitsbehörden jederzeit da-
dabei gleich mit. Zu bedauern ist vielleicht beschädigt werden kann. von ausgehen, dass er eine »politisch mo-
weniger das Schicksal von A., zumal Tu- Sami A. trägt einen Vollbart und ist Ka- tivierte Straftat von erheblicher Bedeu-
nesien demnächst zum sicheren Herkunfts- ratekämpfer. Seit 2006 soll er das Land tung« begehen könnte. Seit 13 Jahren ist
land erklärt werden könnte. Aber dass der verlassen, eigentlich. Er ist ein Mann, der A. immer wieder Thema im Gemeinsamen
Staat Grundsätze für Tricks opfert, ist den Behörden als gefährlich gilt. Er ist das Terrorabwehrzentrum, zuletzt im Juli. Sei-
mehr Verlust, als die Abschiebung eines vielleicht beste Beispiel dafür, wie heraus- ne tatsächlichen Rechtsverletzungen be-
Gefährders wert ist. fordernd es ist, die Sicherheitsinteressen schränkten sich auf den Verstoß gegen sei-
Die Exekutive muss sich den Vorwurf eines Landes mit den Grundrechten eines ne Aufenthaltsauflagen.
gefallen lassen, die Justiz getäuscht zu ha- Einzelnen zu vereinbaren. Gerade wenn Zweifelsohne aber war oder ist A. ein
ben, um Fakten zu schaffen. Gegen sie ist dieser Mensch wahrlich kein Unbeschol- Islamist und beliebter Prediger. Er wurde
Sami A. machtlos, weil nun tunesische Be- tener ist. Abu al-Mujtaba genannt und wollte eine
hörden über sein Schicksal entscheiden. 1997 war er aus Tunesien nach Deutsch- Moschee aufbauen, in einem ehemaligen
Insbesondere der Apparat von Nord- land gekommen, an der Fachhochschule Nagelstudio. Zwei Mitglieder der 2014 ab-
rhein-Westfalens Flüchtlingsminister Joa- Krefeld studierte er Elektrotechnik. Zu- geurteilten »Düsseldorfer Zelle« lauschten
chim Stamp (FDP) agierte höchst fragwür- sammen mit vier anderen reiste er im De- einst seinen Vorträgen; anscheinend auch
dig: Obwohl die Beamten das Datum des zember 1999 nach Mekka. Eine harmlose junge Männer, die zum »Islamischen
Abschiebeflugs kannten, teilten sie es auch Pilgerreise, sagte A. später. So richtig er- Staat« nach Syrien reisten. Selbst ein Kon-
auf Nachfrage offenbar weder dem Bun- klären konnte er allerdings nicht, was er taktmann des späteren Berliner Attentä-
desamt für Migration und Flüchtlinge monatelang im Ausland getan hatte. ters Anis Amri soll zu seinen Schülern ge-
(Bamf) noch dem Gericht mit. Ein klarer Einer, der dabei war, wusste es angeblich hört haben, er war ein Informant der Poli-
Verstoß gegen die bisherige Praxis. genauer. Sami A. soll mit den anderen nach zei. Sami A. habe »weitreichende interna-
Aber die Affäre reicht weiter, bis nach Afghanistan weitergereist und in einem La- tionale Kontakte« ins salafistische Milieu,
Berlin. Bundesinnenminister Horst Seeho- ger der Qaida 45 Tage lang militärisch wie heißt es in einem Ermittlungsbericht.
fer (CSU) hatte Sami A. zur Chefsache er- ideologisch gedrillt worden sein. Der Leiter Seit Kurzem bewertet die Polizei mit ei-
klärt, selbst Kanzlerin Angela Merkel er- des Lagers war Osama Bin Laden. nem Punktesystem (»Radar-iTE«), wie sie

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 15


Deutschland

islamistische Gefährder einstuft. Sami A. Dass für den Tag darauf bereits ein walt, Seif Eddine Makhlouf, sagte dem
erreichte 11 Punkte. Ab 9 gehen die Be- Charterflug organisiert war, verschwiegen SPIEGEL: »Mein Mandant konnte bis zu-
hörden von einem hohen Risiko aus. Top- die Beamten. Nach SPIEGEL-Informatio- letzt nicht telefonieren.«
Gefährder erzielen über 20 Punkte. nen geschah dies ganz bewusst. Zu groß Um 6.54 Uhr verließ die Maschine den
war wohl die Verlockung, Sami A. nun los- Düsseldorfer Flughafen. Fotografiert von
Schon 2006 hatte Sami A. einen Asylan- zuwerden. Zu oft hatte der heutige Minis- »Bild«-Journalisten, die offenbar bereits
trag gestellt, der ein Jahr später abgelehnt ter Stamp in seiner Oppositionszeit den Tage zuvor über den Termin informiert
wurde. Bis zum vorvergangenen Freitag damaligen Innenminister Ralf Jäger (SPD) waren. Anders als die Justiz.
wehrte er sich aber erfolgreich dagegen, dafür kritisiert, dass er kein Abschiebever- Um 8.10 Uhr übermittelte das Verwal-
das Land verlassen zu müssen. Sein Argu- fahren gegen Anis Amri eingeleitet hatte. tungsgericht dem Bamf das vorläufige Ab-
ment, dem die Gerichte bislang folgten: Zu groß war wohl die Sorge, Sami A. kön- schiebeverbot. Fünf Minuten später er-
Als Terrorverdächtigem drohe ihm in Tu- ne sich wie bereits andere vor ihm aus der reichte der Beschluss die Ausländerbehör-
nesien Folter. In Länder, in denen Häftlin- Abschiebehaft absetzen. Und zu groß war de in Bochum. Sie hätte versuchen müssen,
ge misshandelt werden, darf Deutschland womöglich die Angst vor negativen Schlag- die Abschiebung zu stoppen.
nicht abschieben. zeilen, wenn es wieder nicht gelänge, den Doch offenbar hat das keine der betei-
Im Mai allerdings hatte das Bundesver- angeblichen Bin-Laden-Gefährten abzu- ligten Behörden ernsthaft versucht. Zwar
fassungsgericht im Fall eines anderen tu- schieben. meldete sich die zuständige Ausländer-
nesischen Islamisten entschieden, dass die- Das Bamf leitete die Auskunft aus Düs- behörde in Bochum im Flüchtlingsminis-
ser abgeschoben werden dürfe. Es lag eine seldorf mit dem Hinweis weiter, eine Still- terium. Bis der Beschluss dann aber voll-
generelle Zusicherung aus Tunesien vor, haltezusage sei ja nun nicht nötig. Auch ständig in Düsseldorf empfangen worden
wonach dort die Todesstrafe nicht voll- einen »Hängebeschluss« sahen die Richter sei, so heißt es in Stamps Ministerium, sei
streckt werde. Am 20. Juni widerrief das nicht mehr als notwendig an. So befasste es 9.21 Uhr gewesen. Zu spät: Um 9.14
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sich die 7a-Kammer am 12. Juli ausführlich Uhr hatte die deutsche Bundespolizei
(Bamf) dann das Abschiebeverbot für mit dem Fall und kam am Abend zu dem Sami A. den Sicherheitskräften Tunesiens
Sami A. Auch die Bundesregierung ging Schluss: Sami A. darf vorläufig weiterhin übergeben. Hat man im Ministerium be-
davon aus, dass man ihn nun endlich los- nicht abgeschoben werden. wusst auf Zeit gespielt?
werden könne. Eine individuelle Zusiche- Der Akte lag ein »Bild«-Artikel bei, in Landesminister Stamp gibt sich gelas-
rung, dass er dort nicht gefoltert werde, dem der tunesische Minister für Menschen- sen. »Ich bin mit mir und dem Handeln
hielt man in Berlin nicht mehr für zwin- des Ministeriums im Reinen«, erklärt er.
gend nötig. »Ich habe immer gesagt, dass wir alle recht-
Schon zuvor hatte das Land Nordrhein- Um 6.54 Uhr verließ der lichen Möglichkeiten ausschöpfen werden,
Westfalen bei der Bundespolizei darum Jet den Flughafen. um islamistische Gefährder außer Landes
gebeten, einen Flug nach Tunesien vorzu- zu bringen. Dass wir das wirklich tun,
bereiten, für Sami A. wurde ein Linienflug Medien waren informiert. kann niemanden überraschen.«
für den 12. Juli gebucht. Am 29. Juni aber Anders als die Justiz. Überrascht war allerdings das Verwal-
stornierte die Bundespolizei die Reservie- tungsgericht Gelsenkirchen. Noch am Frei-
rung wieder, es gab Sicherheitsbedenken. tag vergangener Woche traf es eine Ent-
Schließlich wurde am 9. Juli eine Challen- rechte versicherte, Sami A. drohe keine Fol- scheidung, wonach Sami A. »unverzüg-
ger 604 gechartert. Der Privatjet sollte am ter. Zu wenig, befanden die Richter in ei- lich« zurück nach Deutschland zu bringen
Freitag, dem 13. Juli, abheben. nem 23-seitigen Beschluss. Es brauche eine sei. Dagegen hat die Stadt Bochum zwar
Die Behörden sahen zunächst keine »individualbezogene diplomatische Zusi- Rechtsmittel eingelegt. Doch bis auf Wei-
rechtlichen Probleme: Die 8. Kammer des cherung« von tunesischer Seite. Trotz aller teres hat der Beschluss Gültigkeit.
Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen hatte Fortschritte in Tunesien müssten Islamisten
bereits bestätigt, dass die Abschiebeandro- und Terrorverdächtige dort nach wie vor Seehofer denkt nicht daran, nun dafür
hung der Ausländerbehörde formal recht- mit Folter rechnen. Auch die »teilweise sen- zu sorgen, dass der Gefährder rasch wie-
mäßig sei. Parallel war aber auch die Kam- sationslüsternen« und »reißerischen« Pres- der nach Deutschland zurückgebracht
mer 7a des Gelsenkirchener Gerichts mit seberichte begründeten diese Gefahr: Einen wird. In den Gesprächen mit den Tune-
dem Fall betraut. Sie sollte prüfen, ob eine angeblichen Ex-Bodyguard Bin Ladens siern solle zunächst nur ausgelotet werden,
Abschiebung auch aus inhaltlichen Grün- könnten die tunesischen Sicherheitskräfte zu welchen Zusicherungen diese im Fall
den möglich sei. Und diese Kammer hatte womöglich »in nicht menschenrechtskon- Sami A. bereit seien, sagte der Innenmi-
Zweifel. former Weise« verhören, so die Kammer. nister.
Vorsorglich erkundigten sich die Richter Da alle Mitarbeiter der Geschäftsstelle Tatsächlich könnte damit das Kalkül der
beim Bamf, ob der Linienflug für den 12. mittlerweile nach Hause gegangen waren, Behörden aufgehen, sagt Klaus Dienelt,
Juli noch gebucht sei. Falls ja, bitte man sollte der Beschluss erst am nächsten Tag Verwaltungsrichter aus Darmstadt und Be-
um eine sogenannte Stillhaltezusage, mit den Verfahrensbeteiligten zugestellt wer- treiber des Internetportals Migrations-
der das Bamf garantiert, Sami A. nicht ab- den. Die Richter wussten an dem Abend recht.net: »Wenn es in den nächsten Wo-
schieben zu lassen. Andernfalls werde das nicht, dass wenige Stunden später Sami A. chen keinerlei Hinweise auf Folterung des
Gericht womöglich einen »Hängebe- aus seiner Zelle geholt werden sollte. Mannes gibt, dann entfällt die Grundlage
schluss« fassen, dass Sami A. bis zur end- Im Düsseldorfer Flüchtlingsministerium des Beschlusses.«
gültigen Entscheidung nicht abgeschoben saß man an diesem Abend lange zusam- Allerdings hätten die Ämter damit »die
werden dürfe. men, doch das Gericht meldete sich nicht. vertrauensvolle Zusammenarbeit zwi-
Das Bamf leitete die Frage an das nord- Als die Polizeibeamten Sami A. abhol- schen Gerichten und Behörden« massiv
rhein-westfälische Flüchtlingsministerium ten, fesselten sie ihn, obwohl er nach Aus- erschüttert. »Und das ist nicht in Ord-
weiter. Dort witterte man offenbar eine sage von Beteiligten keinen Widerstand nung«, so Dienelt.
Gelegenheit und bediente sich eines Tricks. leistete. Beamte der Ausländerbehörde Wer dem Bundesinnenminister in den
Der Flug vom 12. Juli sei storniert, antwor- verweigerten ihm offenbar Anrufe bei sei- vergangenen Monaten zuhörte und Bou-
tete das Ressort, was ja auch stimmte. nen Anwältinnen. Sein tunesischer An- levardberichte über den Fall Sami A. las,

16 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


NRW-Flüchtlingsminister
Stamp

Innenminister
Seehofer

Abgeschobener
Sami A.

17
IN DER SPIEGEL-APP Deutschland

konnte glauben, dass es Deutschland so Afghanen und auch nicht für sein Beharren,
gut wie nie schaffe, Gefährder außer Lan- dass Flüchtlinge, die schon in anderen EU-
des zu bringen – »Abschiebe-Wahnsinn«, Staaten Asyl beantragt hatten, sofort an der
schrieb die »Bild«-Zeitung. Grenze abgewiesen werden müssten.
Tatsächlich aber gelang es seit Anfang Das Horrorszenario für Seehofer und
2017 bereits, 91 Gefährder und sogenannte Stamp ist nun nicht, dass der Vorgang recht-
relevante Personen aus der Islamistensze- lich kritisiert wird. Es lautet, dass Sami A.
ne abzuschieben – viel mehr als in den zurück nach Deutschland kommen muss.
Jahren davor. Mit den Zielländern wurden So liegen ihre Hoffnungen auf den Be-
Vereinbarungen getroffen, die Behörden hörden in Tunesien. Wie praktisch, dass
waren mutiger, die Abschiebeparagrafen diese den Mann nun unter keinen Umstän-
des Gesetzes zu nutzen. den hergeben wollen. »Sami A. hat die tu-
Gleichwohl erklärte Seehofer bald nach nesische Staatsangehörigkeit, wir sind für
seinem Amtsantritt im Frühjahr den Fall ihn zuständig und niemand sonst«, sagt
Sami A. zu einer Angelegenheit, um die Sofiane Sliti, Sprecher der Anti-Terror-Be-
er sich persönlich kümmern werde. Dass hörde. Seit Anfang 2018 ist A. in Tunesien
es dem deutschen Staat elf Jahre lang nicht wegen Terrorverdacht zur Fahndung aus-
gelinge, einen Islamisten abzuschieben, geschrieben. »Tunesien ist ein souveräner
das wolle ihm nicht in den Kopf. Staat, wir sind verpflichtet, diesen Fall
Er wolle die endlose Spirale aus Ge- jetzt hier zu prüfen.«
richtsurteilen und Verfügungen und neuen
Gerichtsurteilen durchbrechen und end- Sliti ist im Hauptberuf Richter. Er hat
lich handeln. Seehofers Staatssekretär Hel- seinen Familienurlaub unterbrochen, seit-
mut Teichmann legte sich fest: Er gehe da- dem hier die Wellen hochschlagen. Er emp-
von aus, dass Sami A. bis zum Sommer fängt in einem verspiegelten Glasbau am
nach Tunesien zurückgeschickt werde. Flughafen von Tunis, versteckt hinter ho-
Es sollte ein Signal sein, dass die Zeiten hen Hecken und Stacheldraht.
eines vermeintlich zu laschen Staates vor- Hier, in diesem Raum, hinter vergitter-
RICCI SHRYOCK

bei seien und es nun eine »Asylwende« ten Fenstern, unter einem Gemälde mit
gebe. »Wir können nicht so verfahren wie den goldenen Lettern der tunesischen Na-
in der Vergangenheit«, sagte Seehofer vor tionalhymne, wurde Sami A. am Dienstag-
Abgeordneten, »sonst verlieren wir die morgen zum ersten Mal befragt. 15 Tage
Unterstützung der Bevölkerung.« lang können ihn die Behörden in Tunis
Dem Innenminister war der Fall Sami festhalten, bei akutem Verdacht auch län-
A. so wichtig, dass er sich von seinen Leu- ger. »Er zeigte keine Spuren von Folter«,
ten ständig über die Entwicklung unter- sagt Sliti, das habe ein Arzt bestätigt; die
richten ließ. Umso erstaunlicher ist, dass Nächte verbringe er im Untersuchungsge-
Zukunft Seehofer und sein Ministerium in der ver-
gangenen Woche verschiedene Versionen
fängnis Gurjani, neben aus Syrien zurück-
gekehrten IS-Kämpfern und weiteren Ter-
aus Ruinen verbreiteten, ob der Ressortchef nun von
der Abschiebung vorab informiert war
rorverdächtigen aus Europa.
Für Slitis Behörde, die dem Justizminis-
Guinea-Bissau ist ein Kleinstaat oder nicht. terium untersteht, kommt Sami A. wie ge-
rufen. Mit diesem Fall will Tunesien be-
im Westen Afrikas und bisher nur für
Erst wusste er nichts, dann sollte er doch weisen, dass es Gefährder und Terroristen
Kokainschmuggel bekannt. Die Por- zwei Tage zuvor davon erfahren haben. nicht nur produziert, sondern ihnen auch
tugiesen haben das Land über Jahrhun- Die letzte Version lautete: Er habe kurz den Prozess macht. »Wir sind eine junge
derte geprägt: Noch heute zeugen vor einem Flug nach Innsbruck einen Ver- Demokratie«, sagt Sliti stolz, »mit einer
Prachtbauten von der kolonialen merk gelesen. In dem stand zwar, dass gut funktionierenden Justiz und fairen Pro-
Vergangenheit. Doch die Fassaden nach Informationen der Bundespolizei am zessen, ebenso gut wie unser Wetter.«
bröckeln, und die Bauten drohen Freitag die Abschiebung über die Bühne Sami A., versichert Sliti, werde in Tunis
zu verfallen. Junge Architekten kämp- gehen könnte. Es habe aber trotz Nachfra- ein faires Verfahren bekommen, sollte sich
fen dagegen an – ihr Ziel: Dem Alten, gen noch keine feste Bestätigung aus Nord- der Verdacht gegen ihn erhärten. »Er ist
der kolonialen Geschichte, wollen rhein-Westfalen gegeben. Erst nach dem in guten Händen, glauben Sie mir.«
sie ein neues Afrika, die Zukunft ent- Start des Abschiebefliegers sei er im Bilde Also haben die Richterkollegen in Gel-
gewesen, sagte der Minister. senkirchen falsch entschieden? Kann man
gegensetzen.
Seehofer wirkte angeschlagen, als er ausschließen, dass Sami A. in seiner Hei-
zum Fall Sami A. befragt wurde. Seit Ta- mat Folter droht?
Sehen Sie die Visual Story im digitalen gen wähnt er eine Kampagne gegen sich, »Bien sûr«, selbstverständlich, sagt Sliti.
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. fühlt sich missverstanden. Die Medien soll- »In Tunesien wird nicht gefoltert. Das ist
ten sich doch gefälligst an die Fakten hal- eine rote Linie, die wir nicht überschreiten.
ten, meckerte er. Was er da alles über sich Sami A. ist nicht mehr eure Angelegenheit,
lesen müsse! das ist jetzt ein tunesischer Fall.«
Aus seiner Sicht ist alles rechtmäßig ge- Jürgen Dahlkamp, Jörg Diehl, Fiona Ehlers,
laufen. Doch den Applaus, den er sich für Mirco Keilberth, Martin Knobbe, Roman
die Aktion wohl versprochen hatte, den gibt Lehberger, Fidelius Schmid, Andreas
es nicht. Es gab ihn nicht für seinen Master- Ulrich, Wolf Wiedmann-Schmidt
JETZT DIGITAL LESEN plan, nicht für seinen Spruch über die 69

18 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


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Deutschland

Bitterer Triumph
Rivalen Angela Merkel hat sich im Machtkampf mit
Horst Seehofer spektakulär durchgesetzt.
Wird sich die Union davon jemals erholen? Von René Pfister

ibt es Siege, an denen man zugrun- lag das Wort Bruch in der Luft. Doch fast Die moralische Aufladung nutzte von
G de geht? Als Edmund Stoiber im
Jahr 2003 bei der bayerischen Land-
tagswahl 60,7 Prozent holte und damit die
immer schafften es die beiden Parteien,
die Reibung für sich zu nutzen: indem die
CSU mit ihrer krachledernen Sprache jene
Anfang an vor allem der AfD, der es so
leicht gemacht wurde, Merkel als gesin-
nungsethisch verblendete Kosmopolitin
Zweidrittelmehrheit im Landtag, war dies, Wähler ansprach, die die CDU für etwas darzustellen. Die Angriffe der AfD wur-
im Rückblick betrachtet, nur die Ouver- zu fein hielten; und umgekehrt die CDU den im Laufe der Zeit so maßlos und het-
türe des Niedergangs. Drei Jahre später jene bayerischen Unionswähler anzog, de- zerisch, dass sie Merkel in ihrer Auffassung
wurde der CSU-Chef, auch wegen seiner nen die Präpotenz der Christsozialen im- bestärkten, es sei ganz und gar vergebens,
unerschütterlichen Machtarroganz, von mer etwas peinlich war. sich um die Wähler der Partei zu bemühen.
den eigenen Leuten gestürzt. Guido Wes- Erst in der Ära von Merkel und Seeho-
terwelle erreichte für die FDP bei der Bun- fer gerieten die Dinge ins Rutschen, was, Das ist nun das Dilemma: Merkel hat
destagswahl 2009 sensationelle 14,6 Pro- einerseits, natürlich an ihrem verkorksten sich mit der Existenz der AfD abgefunden,
zent, doch im Überschwang des Sieges Verhältnis liegt. Wer Seehofer kennt, der sie will die CDU als Partei der Mitte posi-
verlor die Partei jedes Maß und flog vier weiß, dass ihm der Gedanke, Merkel warte tionieren, und je klarer sie sich von der
Jahre später aus dem Parlament. nur auf den richtigen Moment, ihn ins AfD abgrenzt, so das Kalkül, umso attrak-
Nun hat sich Angela Merkel geradezu Grab zu stürzen, fast schon zur Obsession tiver wird sie für Wähler des gemäßigten
spektakulär gegen die CSU durchgesetzt: geworden ist. Andererseits fehlt Merkel linken Lagers. Die CSU aber muss die AfD
Was sie der »Schwesterpartei« abtrotzte, das Gespür für die bayerische Gemüts- bekämpfen, will sie jemals wieder die ab-
waren mehr als nur ein paar Zugeständ- verfassung, wo Aufwallung und Sentimen- solute Mehrheit in Bayern holen, doch
nisse, sie zwang Horst Seehofer dazu, sei- talität schon immer ganz nahe beieinan- wenn sie es tut, dann wird ihr von der
ne eigenen Worte aufzuessen wie trockene derlagen, weswegen es ratsam ist, nicht CDU der Vorwurf gemacht, dies mache
Knödel. Um das ganze Ausmaß der baye- jedes Wort gleich auf die Goldwaage zu nur die Populisten stark. Alles hat sich zu
rischen Niederlage zu ermessen, muss man legen. einem unentwirrbaren Knoten zusammen-
sich nur noch einmal kurz vergegenwärti- Aber es ist eben nicht nur die gegensei- gezogen.
gen, dass dieselbe Partei, die ultimativ und tige Abneigung, die den Graben so weit Es ist ja nicht so, dass Merkel sich in der
per Vorstandsbeschluss Zurückweisungen aufgerissen hat. Von Beginn der Flücht- Sache nicht auf die CSU zubewegt hätte.
an der Grenze gefordert hat, nun genau lingskrise an haben beide den Konflikt mit Sie reicht inzwischen die Hand zu Asyl-
auf jene verzichtet und der Innenminister, geradezu selbstzerstörerischer Lust ange- zentren in Europa und »Ausschiffungs-
anstelle der Kanzlerin, jene »europäische heizt. Seehofer, indem er Merkel vorwarf, plattformen« in Nordafrika, die Migranten
Lösung« verhandeln muss, die er selbst an den deutschen Grenzen eine »Herr- aufnehmen sollen, die aus dem Mittelmeer
als unrealistisch abgelehnt hat. schaft des Unrechts« zu dulden. Und Mer- gerettet wurden. Merkel findet sogar, dass
kel, weil sie den Konflikt mit der CSU zu Viktor Orbán mit dem Bau von Stachel-
Es gibt sicherlich keinen Grund für Mit- einem Kampf zwischen Humanität und drahtzäunen Europa einen Dienst erwie-
leid mit der CSU. Der Anlass der Revolte Abschottung stilisierte. In ihrer Argumen- sen habe.
war genauso nichtig wie die Umsetzung tation gab es keinen Mittelweg: Offene Das Verrückte ist, dass all dies nicht
stümperhaft, aber die Folgen der Chaos- Grenzen standen gegen Schießbefehl und durchdringt, weil Merkel die faktische
wochen, die hinter CDU und CSU liegen, Stacheldraht. Wie sollte da ein Kompro- Wende nie mit einer rhetorischen verband.
werden die Republik noch lange beschäf- miss gelingen? Sie beharrt darauf, dass alle grundlegen-
tigen. Denn unter den Trümmern des Es ist ein Muster, das sich nun wieder- den Entscheidungen ihrer Flüchtlingspoli-
Streits wurde die Frage begraben, wie sich holte. Merkel tat so, als ginge es bei dem tik richtig waren, auch wenn sie sich durch
die Union zu der neuen Konkurrenz von Streit mit Seehofer nicht um drei lächer- praktisches Handeln längst dementiert hat.
rechts verhalten soll; zur Debatte stand, liche Grenzposten, sondern um die Zu- Merkel weiß, dass die Szenen aus dem
ob man die AfD als Gegner annimmt oder kunft Europas. Ihre Generalsekretärin An- Sommer 2015, die Blumen am Münchner
rechts liegen lässt. Noch grundsätzlicher negret Kramp-Karrenbauer verfasste für Bahnhof und die Selfies mit den Flüchtlin-
formuliert: ob die Union überhaupt den die »Frankfurter Allgemeine« eine Eloge gen aus Syrien, für immer mit ihrer Kanz-
Anspruch hat, das rechte demokratische auf Helmut Kohl, bei deren Lektüre man lerschaft verbunden bleiben werden. Die-
Spektrum anzusprechen. Noch besteht die den Eindruck gewinnen konnte, in Mün- selben Bilder, die bei der AfD (und Teilen
Chance, eine Zerrüttung des konservati- chen werde schon der Austritt aus der EU der CSU) als Beleg für ihre Entrücktheit
ven Lagers zu verhindern, wie sie viele vorbereitet. »Wir werden Helmut Kohl gelten, sind im Ausland der Ausweis einer
Nachbarländer schon durchgemacht ha- und seiner historischen Leistung nicht ge- großen humanitären Geste. Als sie Ende
ben. Aber es braucht nicht mehr viel, und recht, wenn wir es bei dankbarer Erinne- Juni – auf dem Höhepunkt des Streits mit
von der Union steht nur noch eine rau- rung belassen«, schrieb sie, was nicht ohne der CSU – nach Amman und Beirut reist,
chende Ruine. Komik war, denn zu Lebzeiten Kohls ver- wird sie dort empfangen wie eine Heilige.
Natürlich ist der Streit zwischen CDU zichteten Merkel und ihre Leute liebend Am Abend ihres Besuchs im Libanon lädt
und CSU systemimmanent, schon häufiger gern auf Ratschläge aus Oggersheim. die britische Botschaft im Containerhafen

20 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


TOBIAS SCHWARZ / AFP
Parteichef Seehofer, Kanzlerin Merkel: Er musste seine Worte aufessen wie trockene Knödel

der Stadt zu einem Empfang anlässlich des Söder sagt, man müsse nun wieder »Form parteien zu Ende geht? Die SPD ist auf
Geburtstags der Queen. und Stil« wahren, dann ahnt man, wie dem Weg des Niedergangs schon weit vo-
Es ist eine Party von britischer Lässig- groß die Verzweiflung in München ist. rangekommen, und es ist eine Illusion zu
keit, unter riesigen Frachtkränen werden Es ist keine Frage, dass sich die CSU die- glauben, dass eine Union, die alle ideolo-
Drinks gereicht. Die diplomatische Szene se Blamage in erster Linie selbst zuzu- gischen Wurzeln kappt, in Zukunft so
der Stadt hat sich versammelt, und jeder, schreiben hat. Weil er im Jahr 2015 nicht stabil sein wird wie in den vergangenen
mit dem man spricht, ist voller Bewunde- die nötige Entschlossenheit aufgebracht 70 Jahren. Man muss gar nicht ins Ausland
rung für Merkel, die letzte Bastion gegen hatte, sich gegen Merkel zu wehren, zet- schauen, um zu sehen, wie schnell sich das
den Irrsinn der Weltpolitik. Wenn Seeho- telte Seehofer nun eine Art nachholende Parteiengefüge verschiebt. Ein Blick nach
fer aufgetaucht wäre, hätte man ihn wo- Revolution an, die so außer Kontrolle ge- Sachsen, wo die AfD bei der Bundestags-
möglich mit einen Stein um den Hals ins riet, dass sich am Ende auch noch der größ- wahl vor der CDU lag, genügt völlig.
Hafenbecken geschmissen. te Merkel-Hasser in der CDU gezwungen Noch ist Deutschland in einem Zwischen-
Von Winston Churchill stammt der Satz, sah, sich zur Kanzlerin zu bekennen. Aber reich, das Alte ist nicht vergangen und das
dass es im Krieg Entschlossenheit brauche, es ist zu einfach, alles auf die Tölpelhaftig- Neue noch nicht da. Noch kann die Union
in der Niederlage Trotz und im Sieg Groß- keit der CSU zu schieben: Die geradezu wählen, welchen Weg sie einschlägt. Dazu
mut. Merkel hat im Streit mit der CSU todessehnsüchtige Wut, die sich in der gehört allerdings, dass sich CDU und CSU
noch einmal ihre ganze Nervenstärke be- CSU Bahn brach, speiste sich aus der Er- darauf verständigen, wer sie eigentlich sein
wiesen und ihr taktisches Vermögen, aber kenntnis, dass Merkel nicht die geringste wollen. Merkel und Seehofer wird das nicht
sie hat dabei einen Sieg errungen, an dem Anstrengung unternimmt, auf die Nöte der mehr gelingen, das haben sie mehr als ein-
die CDU keine Freude haben wird. Er hin- CSU Rücksicht zu nehmen. mal bewiesen. Sie gehören der Vergangen-
terlässt eine gedemütigte CSU, die der Parteien können aufsteigen und verge- heit an. Dies zu verstehen wäre ein erster
AfD nichts mehr entgegenzusetzen hat. hen, das gehört zur Demokratie. Aber ist Schritt in die Zukunft.
Wenn schon der ewig streitlustige Markus es wünschenswert, dass die Ära der Volks-

21
Deutschland

DIETER MAYR / DER SPIEGEL

»Angela Merkel ist eine


Wellenreiterin,
und zwar die beste der Welt«
SPIEGEL-Gespräch Der CSU-Veteran Peter Gauweiler, 69, über die Krise seiner Partei,
die Wendigkeit der Kanzlerin und die Empfindlichkeit der bayerischen Seele

22
SPIEGEL: Herr Gauweiler, Sie sind seit genen Vierteljahr haben unsere Leute ei- zung liegt in den Händen eines Bundes-
50 Jahren in der CSU, Sie waren Minis- nen Koalitionsvertrag mit der SPD durch- innenministers und eines bayerischen In-
ter, Strauß-Intimus, Parteirebell. Können gesetzt, der klar CSU-Handschrift trägt, nenministers, die beide von der CSU sind.
Sie sich erinnern, dass die Partei je zuvor mit dem sich die Sozialdemokratie in der Die werden gut liefern können.
in einer Krise wie der aktuellen gesteckt Innenpolitik wieder in die Tradition von SPIEGEL: Nach der Bundestagswahl hatten
hat? Otto Schilys Sicherheitsgesetzen begibt. Sie Horst Seehofer noch den Rücktritt na-
Gauweiler: O ja, früher ging es noch viel Es wird ein strengeres Grenzregime und hegelegt. Mit Verlaub, haben vielleicht nur
härter zu. Nicht nur sprachlich, sondern schnellere Abschiebungen geben, und auf Sie die Wende im Kopf vollzogen?
auch was die inhaltlichen Entzweiungen EU-Ebene haben 28 Staaten auf unseren Gauweiler: »Horst, es ist Zeit«, diese Aus-
anging, vom Trennungsbeschluss in Wild- Druck hin eine neue Tonlage angestimmt. sage habe ich getätigt, weil es unumgäng-
bad Kreuth bis zur Frage von Kanzlerkan- Eine »europäische Lösung« der Migra- lich war, dass die CSU Konsequenzen aus
didaturen. Auch die Debatten der Fünfzi- tionsfrage bedeutet heute eine restriktive dem blamablen Abschneiden bei der Bun-
gerjahre zwischen kirchlich-konservativen Lösung. destagswahl zieht. Anders als die CDU ha-
und liberal-konservativen CSU-Kreisen SPIEGEL: Nur hat die CSU völlig andere ben wir diese Diskussion geführt, bekannt-
wurden mit einer Schärfe geführt, die viele Schritte versprochen und ihre Glaubwür- lich mit harten Konsequenzen für die Be-
Herrschaften heute gar nicht mehr ertra- digkeit damit verknüpft. Ständig hieß es: troffenen an der bayerischen Staatsspitze.
gen würden. Europäische Lösungen funktionieren nicht. Nur was das Parteiamt angeht, hat Seeho-
SPIEGEL: Für Ihre Beispiele muss man Wenn Angela Merkel nicht binnen zwei fer sich anders entschieden und unter Be-
schon sehr tief ins Parteiarchiv steigen. Wochen liefert, weisen wir Flüchtlinge ein- weis gestellt, dass es ein Leben nach dem
Gauweiler: Die Lage war sicher schon bes- seitig an der deutschen Grenze zurück. politischen Tode gibt.
ser. Aber die CSU ist trotzdem bis heute Nichts davon ist eingetreten. SPIEGEL: Im Asylstreit kündigte er seinen
ein Spiegelbild des Bayerischen. Gauweiler: Sie lassen sich vom Affentanz Rücktritt an, trat dann davon wieder zu-
SPIEGEL: Glaubt man den Umfragen, ist in Berlin ablenken, wie alle Hauptstadt- rück. Wie glaubwürdig ist man damit?
die CSU nur noch ein Spiegelbild von 38 journalisten. Gauweiler: Sie sprechen hier mit einem
Prozent der bayerischen Wähler. SPIEGEL: Markus Söder hat es zum »End- erfahrenen Zurücktreter. Meine Haltung
Gauweiler: Auch diese Tiefen haben wir spiel um die Glaubwürdigkeit« erklärt, ist: Man darf die Leute und sich selbst
schon bei den Wahlen in den Fünfziger- dass es Zurückweisungen an der Grenze nicht betrügen. Wenn ich nichts mehr
jahren unterschritten. geben soll. Die wird es vorerst nicht geben. durchsetzen kann, muss ich die Konse-
SPIEGEL: Dann dürfen wir also in quenzen ziehen. Aber genauso rich-
etwa 60 Jahren mit einem Come- tig ist auch, dass ein guter Politiker
back der CSU rechnen. mehrere Tode vor dem eigentlichen
Gauweiler: Da müssen Sie nicht 60 Tod sterben muss. Es wollte ja die
Jahre warten, sondern nur bis zur Mehrheit, dass Seehofer Parteichef
Landtagswahl. Ich wette, dass wir bleibt. Ich hätte mir ein Plebiszit in
die absolute Mehrheit erreichen. der CSU gewünscht, aber es fehlte
SPIEGEL: Das ist sehr wagemutig der Gegenkandidat. Also darf man
von Ihnen. sich nicht beklagen, wenn Seehofer
Gauweiler: So ängstlich kenne ich einfach stehen bleibt.
den SPIEGEL gar nicht! Dabei müs- SPIEGEL: Ging es beim Asylstreit
sen Sie nur in Ihr Archiv schauen. nicht vor allem darum, Merkel zu
RICHARD SCHULZE-VORBERG

Nach der SPIEGEL-Affäre, die stürzen?


Franz Josef Strauß das Amt des Ver- Gauweiler: Das hat sicher auch eine
teidigungsministers gekostet hat, Rolle gespielt. Merkels Alternativ-
sagten auch alle, die CSU sei am losigkeit in ihrer Partei ist ja auch
Ende. Aber dann kam einer der ein Problem. Die CDU wird in Zu-
größten Wahlerfolge. Willy Brandt kunft ein Headhunting im eigenen
sagte später in einer Mischung aus Rivalen Strauß, Kohl 1984: »Manchmal qualmt der Zorn« Laden machen müssen, damit ihr
Empörung und Resignation: In Bay- Personal endlich wieder die ganze
ern gehen die Uhren anders. Breite an Begabungen abbildet.
SPIEGEL: Mit etwas Distanz betrachtet: Gauweiler: Niemand kann bestreiten, dass SPIEGEL: Fehlt den CDU-Rebellen der
Wie konnte der Streit von CDU und CSU die vergangenen Wochen Schatten gewor- Kampfgeist?
über die Flüchtlingspolitik dermaßen au- fen haben. Wir haben aber jetzt inhaltlich Gauweiler: Klar, kämpfen muss man, aber
ßer Kontrolle geraten? eine völlig neue Debatte, einen veritablen es muss auch eine Form geben, die solche
Gauweiler: Manchmal qualmt der Zorn Mentalitätswechsel in Deutschland und demokratischen Kämpfe überhaupt zu-
mächtig, das ist nicht unbayerisch. Wenn Europa, den Horst Seehofer im Parforce- lässt. Ich habe den Bundestag verlassen,
dann auf der anderen Seite die große kühle ritt erwirkt hat. Dazu kommt die Wieder- weil ich gemerkt habe, dass durchweg alle
Maria Theresia aus dem Norden steht, die einführung der Grenzpolizei in Bayern, Entscheidungen ganz woanders getroffen
schon alles und alle überstanden hat, haben die ich schon lange fordere, deren Beamte werden. Dass das Parlament mehr und
es unsere Leute eben nicht leicht. Aber un- nun von ihrem Zentrum in Passau aus den mehr Dekoration wird, ist ein ganz großes
ser Zorn verraucht auch wieder schnell. Dienst antreten. Übel unserer Zeit.
SPIEGEL: Nachdem der Rauch sich verzo- SPIEGEL: Die dürfen freilich nur auf Berli- SPIEGEL: Die CSU-Revolte hat jedenfalls
gen hat, zeigt sich: Die CSU hat verloren. ner Weisung tätig werden. nichts gefruchtet, die Wagenburg der
Gauweiler: Keinesfalls. Eben waren wir Gauweiler: Das ist unser Schicksal seit CDU ist geschlossen und Merkel wieder
bei den Haltungsnoten, jetzt geht es an die 1871. Natürlich ist das alles mühselig, alles stark.
inhaltliche Bewertung. Gönnen Sie mir kleine Schritte, aber die sind besser als gro- Gauweiler: Das ist sicher eine gemütliche
doch das gute Gefühl, die CSU endlich ße Sprüche. Unter dem Strich erleben wir Wagenburg, wo sich Insassen wie Armin
wieder verteidigen zu können: Im vergan- eine Wende im Kopf, und deren Umset- Laschet und Jens Spahn gegenseitig bewa-

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 23


Deutschland

chen, viel Vergnügen! Ich vermute, das Gauweiler: Sie ist viel uneitler als die Ber- ein großer Biergarten die unterschiedlichs-
Thema bleibt uns erhalten. liner Mannsbilder zusammen, das ist ein ten soziologischen Gruppen zusammen-
SPIEGEL: Trotzdem erinnert der Unions- großer Vorteil, und sie kommt aus einer führt. Und da gehört die freiheitliche Rech-
Streit an ein Bonmot von Helmut Kohl: Gemeinschaft mit moralisch-protestanti- te dazu, das müsste beispielsweise Hessens
»Wenn der bayerische Löwe brüllt, verbrei- schem Violinschlüssel. So ein Leben muss Ministerpräsident Volker Bouffier von sei-
tet er nur noch Mundgeruch.« man als Familie erst mal durchstehen: in nem Ziehvater Alfred Dregger und dessen
Gauweiler: Sehr charmant! Der bayeri- die DDR rüberzugehen und dort das Evan- »Stahlhelm-Fraktion« gelernt haben. Auch
sche Löwe steht ziemlich kräftig da, mit gelische durchzuhalten, aber sich mit dem wenn er jetzt mit den Grünen koaliert.
sehr guten Zähnen. Aber was stimmt, ist: System zu arrangieren. Merkel hat damals SPIEGEL: Wenn die CDU die Rechte nicht
Seehofer ist Merkel in die Falle gegangen. Prüfungen bestanden, vor denen andere mehr will – ist es nicht Zeit, dass die
SPIEGEL: Wie sah diese Falle aus? Menschen nie stehen. Und so geht sie eben Schwesterparteien getrennte Wege gehen?
Gauweiler: Sie wurde öffentlich im Fernse- beim Mauerfall demonstrativ cool in die Gauweiler: Nein. Die Diskussion haben
hen gestellt, bei Anne Will. In dem Inter- Sauna, während alle anderen sich in den wir zweimal sehr intensiv geführt, einmal
view kam erstmals die Frage nach dem Armen liegen. Wenn ich sie Maria There- in den Siebzigerjahren und noch mal 1990.
»Masterplan«. Da gab die Kanzlerin mit lie- Ich war 1976 für die Trennung, und 1990
benswürdigstem Lächeln bekannt, dass es wollte ich, dass wir in den neuen Ländern
leider, leider noch Abstimmungsbedarf bei »Sie können sagen, Seehofer eigenständige CSU-Formationen gründen.
diesem Plan und mit dem verantwortlichen hat eine Schwäche für SPIEGEL: Was spricht dagegen, es jetzt
Innenminister gebe. Und unser Horst saß in zu tun?
der medialen Falle. Er durfte in den nächsten persönliche Eskalationen. Gauweiler: 1990 hatte sich ein weißer
Tagen niemandem seinen Plan zeigen, und Merkel spielte damit.« Fleck auf der parteipolitischen Karte auf-
Merkels Büchsenspanner sorgten dafür, dass getan. Das ist vorbei. Heute konzentrieren
sich darüber alle vor Lachen schüttelten. wir uns auf die alt-neue Kraft einer groß-
SPIEGEL: Der arme Horst. sia nenne, ist das durchaus als Kompliment artig gewachsenen Regionalität, die Bava-
Gauweiler: Es ging ja noch weiter: Am Mitt- gemeint. Aber die Wittelsbacher hatten es rität. Small is beautiful. Und Europa als
woch darauf stand der sogenannte Integra- unter Maria Theresia eben auch schwer. die Schweiz der Welt. Außerdem geben
tionsgipfel an, ein typischer Werbeagentur- SPIEGEL: Hinter dem Asylstreit stand die mir Entwicklungen wie in Italien schon zu
termin. Seehofer hatte zu Recht abgesagt, fundamentale Frage, ob die Union für den denken. Ist das wirklich die Zukunft?
weil da eine Lady auftreten sollte, die seine demokratischen rechten Rand zuständig SPIEGEL: Was genau meinen Sie?
Heimatpolitik in die Nähe von »Blut und ist. Die CDU sagt Nein, die CSU Ja. Gauweiler: Unsere einst größte und wich-
Boden« gestellt hatte. Wen sah man dann Gauweiler: Stimmt, und meine Antwort tigste Schwesterpartei, die Democrazia
abends in den Nachrichten, auf dem Ehren- kennen Sie. Es muss in einer Demokratie, Cristiana, war Italiens Stabilitätsanker. Sie
platz neben der Kaiserin? Genau: diese die von kontroversen Debatten lebt, auch ist verschwunden, es gibt sie nicht mehr.
Journalistin. Das war der nächste Pfeil. eine demokratische Rechte geben dürfen. Wo die Christlichen-Demokraten waren,
SPIEGEL: Vielleicht sollte Seehofer einfach Neulich habe ich in der »Süddeutschen klafft ein so tiefer Schlund, da erkennen
nicht so empfindlich sein. Zeitung« über eine junge lesbische Frau Sie den Boden gar nicht mehr. Stattdessen
Gauweiler: Selber schuld, sagt der sonst mit Migrationshintergrund gelesen, die in regiert dort jetzt eine Koalition quasi aus
so einfühlsame SPIEGEL. Mal ehrlich: Wie der CDU-Reformkommission sitzt. Die Piratenpartei und AfD. Lassen Sie einen
hätten Sie reagiert? wurde mit dem Satz zitiert: »Ich habe das alten Konservativen wie mich sagen: Da-
SPIEGEL: Die Falle von Merkel war also, Gefühl, ich stehe hier, und die CDU kommt für dürfen wir unsere Union nicht aufs
dass sie zu wenig Rücksicht auf Seehofers mir immer mehr entgegen.« Das ist mit Si- Spiel setzen. Das geht sonst an die demo-
Gemütslage genommen hat? cherheit so. Aber ich wünsche mir von der kratische Substanz in Deutschland.
Gauweiler: Hier wurde eiskalt emotional CDU ein Nachdenken, von wem sie sich SPIEGEL: Die CSU hat mit Ihnen als Ga-
eskaliert. Gegenüber einem Mann, der erst dabei immer mehr entfernt. Wir hatten lionsfigur bei der Europawahl 2014 eher
vor sechs Monaten einen politischen Teil- früher die Metapher von der Partei als schwach abgeschnitten. Sind die Deut-
tod erlitten hatte, der als CSU-Chef in we- »Leuchtturm«. Die CDU muss aufpassen, schen einfach zu liberal und europafreund-
nigen Wochen eine schwierige Wahl beste- dass sie kein Leuchtturm auf Rädern wird. lich für die Gauweiler-CSU geworden?
hen wird müssen. Sie können sagen, dass SPIEGEL: Vielleicht kann die Union in ei- Gauweiler: Galionsfigur, na ja, ich habe
Seehofer eine Schwäche für persönliche ner modernen, individualisierten Gesell- mich breitschlagen lassen, einige Veran-
Eskalationen hat. Abgesehen davon, dass schaft nicht mehr alle abbilden. staltungen zu machen. Bei der Bundestags-
wir das alle haben: Angela Merkel spielte Gauweiler: Wir haben doch als Union im- wahl wenige Monate zuvor waren wir mit
mit dieser Schwäche. mer alle abgebildet, wir waren keine Partei, einem EU-kritischen Programm, das ich
SPIEGEL: Trotzdem ist es kein angeneh- sondern eine Sammelbewegung, die wie maßgeblich geschrieben hatte, noch sehr
mer Gedanke, dass die Emotionen einzel- erfolgreich. Im Europa-Wahlkampf haben
ner Personen eine Regierung an den Rand die Leute uns diese Positionen nicht mehr
des Abgrunds bringen. abgenommen, weil der Spagat zur Spit-
Gauweiler: Willy Brandt ist im Streit um zenmannschaft um Jean-Claude Juncker
eine Pressereferentin zurückgetreten. zu groß war. Aber was heißt das für mich?
Auch in der Politik kann der Flügelschlag Als Politiker ist man Wellenbrecher, der sich
DIETER MAYR / DER SPIEGEL

eines Schmetterlings einen Orkan auslö- auch gegen negative Trends stemmen muss.
sen. Aber hier zählt eben auch, wer die Es sei denn, man heißt Angela Merkel, die
Ursache gesetzt hat. ist eine Wellenreiterin, und zwar die beste
SPIEGEL: Hat Merkel nicht einfach stärke- der Welt. Sie bleibt oben, völlig egal, wo
re Nerven als nahezu alle Unionsmänner? die Welle herkommt und wo sie hingeht.
SPIEGEL: Herr Gauweiler, wir danken Ih-
* Mit den Redakteuren Melanie Amann und René Gauweiler beim SPIEGEL-Gespräch* nen für dieses Gespräch.
Pfister in München. »Wie hätten Sie reagiert?«

24 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


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Fotos: Edith Paris, Fotolia, WavebreakPremium | Art.nr: 2018-06015ANZ

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die Stimmung und macht es schwerer, Gemeinsamkeiten
Dirk Kurbjuweit
zu finden. Das aber muss das Hauptziel von Außenpolitik
sein. Trump hat es nicht verstanden.

Überwintern in Was den Narzissmus angeht: Trump verwendet stän-


dig Superlative, mit denen er eigene Taten rühmt. Was er
tut, sagt, denkt, muss zwanghaft das Beste, Größte aller
Zeiten sein. An bescheidenen Tagen fügt er ein »wahr-

Zeiten von Trump scheinlich« hinzu. Man ahnt, dass hier jemand gegen
gewaltige Selbstzweifel andröhnen muss. Das macht sei-
nen Narzissmus so explosiv. Wenn Zweifel an dem Super-
idyll auftauchen, das er von sich und seinen Taten malt,
Essay Narzissmus und Vulgärkapitalismus – mit diesem ist er mehr oder weniger zu allem bereit, selbst zu Sät-
US-Präsidenten ist Politik nicht möglich. Europa zen, die ihm nicht nur von seinen Gegnern als Verrat aus-
gelegt werden.
sollte sich nicht auf ihn fixieren, sondern eigene Ziele Sein Wahlsieg ist bei Weitem nicht so glanzvoll, wie er
verfolgen. Bilanz einer verstörenden Woche. das gern darstellt. Hillary Clinton hat fast drei Millionen
mehr Wählerstimmen geholt, und Trump konnte nur
wegen einer Besonderheit des amerikanischen Wahlsys-
tems Präsident werden. Berater und Mitglieder seiner
olitiker sind es gewohnt, Politik mit oder gegen Familie stehen unter Verdacht, während des Wahlkampfs

P andere Politiker zu machen. Außenpolitik hat tra-


ditionell als Gegenüber die Außenpolitik eines
anderen Staates oder Staatenbundes. So ist das
seit Hunderten von Jahren. Derzeit ist es nicht so. Wenn
dubiose Kontakte mit Russen gepflegt zu haben.
Die Geheimdienste konnten nachweisen, dass sich russi-
sche Agenten in den Wahlkampf eingemischt haben.
Die Legitimität seines Wahlsiegs steht damit unter Ver-
es um Donald Trump geht, trifft das Politische auf das dacht, der größte Triumph dieses großen kleinen Egos.
Unpolitische, trifft das Politische auf das Bizarre. Deshalb stellte Trump in Helsinki seine Geheimdienste
In der Geschichte des Westens gibt es dafür kein Bei- bloß, verriet die Staatsräson der USA und stand da wie
spiel. Auch das macht Politik in diesen Zeiten so ein Lakai des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Alle
schwierig, weil Politiker gern in die Geschichtsbücher Versuche, das zurechtzurücken, machten es schlimmer.
schauen, sich an Vorbildern und Traditionen orientieren. Eine Lachnummer, ein Trauerspiel.
Aber soweit es um Demokratien geht, ist das Buch des Das heißt nicht, dass Trump nicht auch einmal das
Bizarren recht dünn. Ein Typ wie Trump ist ganz und gar Richtige, Vernünftige tun kann. Andrew Johnson, der im
neu und braucht einen eigenen Politikansatz. Ruf steht, einer der schlechtesten Präsidenten der USA
Daran kann es seit seiner Europareise, nach Brüssel, gewesen zu sein, hat 1867 Alaska von den Russen gekauft.
London und Helsinki, keine Zweifel mehr geben. Es Eine große Tat, aber sie kann nicht überdecken, dass
hat wenig Sinn, darauf zu hoffen, dass Trump dazulernte. Johnson nach dem amerikanischen Bürgerkrieg den
Er ist so, wie er ist. Darauf müssen sich die Politiker befreiten Sklaven die Gleichstellung verweigern wollte,
anderer Staaten nun einstellen, für die Zeit mit genau die- womit ein ewiges Desaster begann.
sem Präsidenten müssen sie eine Strategie entwickeln. Richard Nixon verfolgte zu Beginn der Siebzigerjahre
Für die Europäische Union lässt sich diese Strategie eine kluge Chinapolitik, die half, die Sowjetunion in die
in einem Wort zusammenfassen: überwintern. Aber das Schranken zu weisen, aber in Erinnerung bleibt er vor
ist nicht so leicht, wie es klingt, das ist nicht der lange, allem als Präsident der kriminellen Methoden, als Präsi-
erholsame Schlaf des Bären in der Höhle. Das Überwin- dent von Watergate, und das zu Recht.
tern in den Zeiten von Trump braucht ein komplexes Umgekehrt ist es bei Ronald Reagan. Er galt in den
politisches Konzept, das Brüssel und möglichst alle Mit- Achtzigerjahren in der Friedensbewegung und darüber
gliedstaaten konsequent verfolgen sollten. Dann gibt hinaus als ein Irrer, der mit Atomraketen fuchtelte. Aber
es Licht am Ende dieses Tunnels, im besten Fall schon Reagan hatte erkannt, dass Entspannungspolitik den Kal-
unterwegs. ten Krieg vor allem verlängert. Er fand, man müsse ihn
Trumps befremdliches Verhalten auf seiner Reise hat beenden. Sein Beitrag zum Fall der Mauer war erheblich.
vor allem zwei Grundlagen: explosiven Narzissmus und Reagan wurde als ehemaliger Schauspieler verlacht,
Strategien eines Vulgärkapitalismus. aber er war ein echter Politiker, als Gouverneur von Kali-
Im Jahr 1989, als Trump noch Immobilienmogul war, fornien geschult, in die Partei der Republikaner eingebun-
sagte er in einem Fernsehgespräch mit Larry King unver- den. Mit Trump ist er, trotz einiger bizarrer Reden und
mittelt: »Sie haben sehr schlechten Atem. Hat Ihnen das Taten, nicht zu vergleichen. Trump gehört mit seiner Irr-
schon mal jemand gesagt?« Später hat Trump diese lichterei eher in eine Kategorie mit Diego Maradona, der
Unverfrorenheit damit erklärt, dass er so seine Verhand- nun Präsident eines weißrussischen Fußballklubs ist.
lungsstrategie demonstrieren wollte: die Leute aus der Trump ist ein Sonderfall der Geschichte, und so muss
Fassung zu bringen. er behandelt werden. Aber seine Amtszeit ist endlich, in
Das scheint er auf die Politik zu übertragen, wie man zweieinhalb Jahren kann Schluss sein, im schlimmsten
in der vergangenen Woche sehen konnte. Bundeskanzle- Fall in sechseinhalb Jahren, falls er noch einmal gewählt
rin Angela Merkel zu verunsichern, indem er vor ihrer würde. Damit muss man rechnen, da er für seine Anhän-
Begegnung Deutschland zu einem Gefangenen Russlands ger auch ein quasireligiöses Phänomen ist. Sie glauben an
erklärt. Die britische Premierministerin Theresa May ihn, und Glaube stützt sich nicht unbedingt auf Fakten.
zu verunsichern, indem er vor ihrer Begegnung sagt, ihr Was also tun? Europa könnte keinen schlimmeren Feh-
Rivale Boris Johnson wäre bestimmt ein guter Premier- ler begehen, als seine Politik auf Trump zu konzentrieren,
minister. Das ist so vulgär wie fruchtlos. Es verdirbt nur sich von ihm die Agenda diktieren zu lassen. Es ist, als

26 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Deutschland

Journalist weiß man das, verführerisch, sich auf Trump zu ist Stabilisierungspolitik in Nordafrika und dem Nahen
fixieren, sich von Trump provozieren zu lassen, aber viel Osten. Von dort kommen viele Flüchtlinge, dort sind
wichtiger sind die langen Linien der Politik. Sie haben vor Heimstätten des Terrors, mit Folgen für die gesellschaft-
Trump begonnen und reichen weit über Trump hinaus. lichen und politischen Verhältnisse in Europa, zumal ein
großer Krieg zwischen Israel und Iran / Syrien droht. Um
diese Region muss sich Europa mit großer Kraft kümmern,
it Trump hört nichts auf, mit Trump fängt mit Friedens- und Entwicklungspolitik. Das ist weit, weit

M nichts an. Das muss ein Leitsatz für Europa


sein. Es ist streng zu trennen zwischen ihm und
den USA. Es gibt keine Wertegemeinschaft mit
diesem Präsidenten, aber damit ist nicht der Westen am
wichtiger als ein paar hinterfotzige Tweets von Trump.
Europas Interesse ist zudem ein gutes, aber kritisches
Verhältnis zu China. Hier sollte das Konzept der dritten
Partei gelten. Die anderen beiden Parteien sind China
Ende. Vielleicht liegt er auf Eis, ist nur eingeschränkt hand- und die USA, die sich als Supermächte gegenüberstehen.
lungsfähig, aber die USA bleiben die Begründer der Europa darf nicht wieder Anhängsel sein wie im Kalten
modernen Demokratie, mit tief wurzelnden Traditionen. Krieg, als Amerika die Politik gegenüber der Supermacht
Es wird mit ihm keine Epoche des Bizarren beginnen. Sowjetunion bestimmte.
Trumps Nachfolger wird höchstwahrscheinlich ein Politi- Europa ist nicht Teil dieses Konkurrenzkampfs, son-
ker sein. Der nimmt vielleicht manches auf, was Trump dern eigenständig. Freihandel, Fairness im wirtschaft-
ausgemacht hat, zum Beispiel den Hang zum Isolationis- lichen Austausch, ein sanftes, aber beharrliches Werben
mus, aber diese Strömung gab es schon vor Trump, sie für Freiheit, Demokratie, Rechtsstaat und Menschenrech-
gehört seit einiger Zeit zu den langen Linien der amerika- te in China sollten die europäischen Leitlinien sein.
nischen Politik. Damit kann Europa umgehen, wenn seine Ähnlich ist das im Verhältnis zu Russland, wobei hier
Politiker jenseits des Atlantiks auf Politiker treffen. Bis der Sicherheitsaspekt für Europa eine viel größere Rolle
dahin gilt: sich nicht hinreißen lassen, nichts eskalieren, spielt. Russland ist auch eine europäische Militärmacht,
schon gar nicht den Handelsstreit. Angemessene Reaktio- die auf dem Kontinent sehr schnell sehr viel Unheil
nen, aber keine Vergeltung, Politik mit kühlem Herzen. anrichten kann. Wenn sie denn wollte. Es geht darum,
Trump geht, die USA bleiben. Sie sollten Europas Freun- eine freundliche Sicherheitspolitik zu betreiben, die so
de bleiben können. optimistisch wie pessimistisch ist. Auch die Russen wollen
Es heißt jetzt oft, die Europäische Union müsse sich keinen Krieg. Aber wenn sie einen anfangen sollten, dann
wegen Trump enger zusammenschließen, wegen Trump wäre die Europäische Union vorbereitet. Langfristig muss
eine gemeinsame Sicherheitspolitik etablieren und die sie ohne den amerikanischen Schutzschirm planen.
eigenen Interessen entschiedener vertreten. Das ist zu Das sind die außenpolitischen Aufgaben für das Über-
viel der Ehre. Europa muss das ohnehin tun. Europa tut wintern und für das Danach, Aufgaben für echte Politiker.
das schon seit langer Zeit zu wenig. Trump macht die Ver- Und hier liegt auch eine Chance in den Zeiten von Trump.
säumnisse nur deutlicher. Dass die professionelle Politik sich rehabilitiert, dass die
Zum Beispiel existiert kaum ein Bewusstsein dafür, was Politiker zeigen, dass man sie braucht, weil nur sie diesen
außenpolitisch Europas oberstes Interesse sein muss. Das Aufgaben gewachsen sind.

NICHOLAS KAMM / AFP

27
Deutschland

Mühsam einigten sich die Union und


die SPD in den Haushaltsverhandlungen
darauf, den Verteidigungsetat in den
kommenden Jahren ansteigen zu lassen.
Aber mehr als 1,5 Prozent des Brutto-
inlandsprodukts würden es nicht werden,
meldete die Bundesregierung nach
Brüssel.
Zu wenig, klagte Trump. Zu wenig, mahn-
te Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg.
Zu wenig, findet auch die deutsche Ver-
teidigungsministerin. Ursula von der Leyen
hat viel vor mit ihrer schlecht ausgerüste-
ten Truppe, deren Panzer zu einem großen
Teil altersschwach und deren Hubschrau-
SEAN GALLUP/GETTY IMAGES

ber oft nicht einsatzfähig sind. Gibt es


nicht mehr Geld, steht nach Berechnungen
des Verteidigungsministeriums sogar eines
ihrer Kernprojekte auf der Kippe: die an-
gekündigte Personalerhöhung auf 198 000
Soldaten bis 2024.
Deutsche Schützenpanzer in Bayern: Altersschwach und oft nicht einsatzfähig Was also hat die Kanzlerin in Brüssel
hinter verschlossenen Türen versprochen?
Nicht nur Trump sprach anschließend von
einem Erfolg. Auch andere Teilnehmer be-

Der Fingerzeig richteten, dass es Bewegung gegeben habe.


»Vielleicht war die Sprache des amerika-
nischen Präsidenten für einige zu scharf,
aber seine Botschaft war legitim«, sagt Li-
Verteidigung Hat Kanzlerin Angela Merkel US-Präsident tauens Außenminister Linas Linkevičius.
Donald Trump mehr Geld zugesagt? Nach dem Das Zwei-Prozent-Ziel sei in der Vergan-
genheit nur von wenigen Nato-Mitglie-
Nato-Gipfel streitet die Große Koalition über den Militäretat. dern ernst genommen worden, das habe
sich durch den Gipfel geändert. »Der

D onald Trump ist guter Laune. Kurz


zuvor hat er die Nato an den Ab-
grund geführt, gedroht, sein »eige-
nes Ding« zu machen, wenn die Verbün-
bekannten, warnten einige Sozialdemokra-
ten vor einer »Rüstungsspirale«. Der frü-
here Außenminister Sigmar Gabriel läster-
te, er wisse gar nicht, wo Deutschland die
Druck von Trump hat etwas bewirkt«, so
Linkevičius.
Dabei ließ sich die Kanzlerin im Kreis
der Verbündeten zunächst ein wie immer.
deten nicht endlich mehr Geld fürs Militär vielen Flugzeugträger hinstellen solle, die Deutschland sei der zweitgrößte Truppen-
ausgeben würden. Und jetzt steht er da, man von dem zusätzlichen Geld kaufen steller der Allianz, sagte Merkel. Sie ver-
im überfüllten Pressesaal, und meldet Voll- könne. Tatsächlich forderte Trump vergan- wies auf das Engagement in Afghanistan,
zug. Neue Milliarden würden dank seiner gene Woche sogar Wehretats in Höhe von im Baltikum sei die Bundeswehr sehr aktiv.
Intervention in die Verteidigung fließen, vier Prozent der Jahreswirtschaftsleistung. Aber zwei Prozent schon Anfang 2019,
brüstet sich der US-Präsident. »Deutsch-
land hat zugestimmt, viel besser zu wer-
den als bislang«, verkündet Trump. Militärausgaben
Eigentlich hätten die Verteidigungs- 2017 und Szenarien nach Anteilen
experten der Großen Koalition nach den 4P
am Bruttoinlandsprodukt, nt roz
gleichermaßen verwirrenden wie verstö- in Milliarden US-Dollar roze en
2P t
renden Trump-Auftritten der vergangenen
,8
6

Woche zur Tagesordnung übergehen kön-


78

,4
nen. Fake News eben, kennt man ja. Statt- 393
dessen ist in Berlin der Streit um den Ver-
teidigungsetat neu entbrannt, und Sozial- 240,2 0,5
48
demokraten wie Unionspolitiker gehen
der Frage nach: Was genau hat Angela
Merkel erklärt, als sich die Staats- und Re-
gierungschefs vergangene Woche zur De- 73,9
batte im kleinen Kreis zurückzogen? 50,2
44

57,
,3

Die Vereinbarung vom Nato-Gipfel 8 30,9


(1,

(2, ,8
2014 in Wales, wonach sich die Verbünde- 147
2%

228, 66, 3%
2 (1,9 3 (4 )
)

ten bemühen, bis zum Jahr 2024 mindes- %) ,3 %


)
5
tens zwei Prozent ihrer jährlichen Wirt- 100,
schaftsleistung in die Verteidigung zu ste-
2017

609,8 (entspric
ht 3,1%)
cken, war schon vor Trumps Wahlsieg ein 61,7
Zankapfel im Regierungsbündnis. Wäh- *Schätzung
rend sich viele Unionspolitiker zu dem Ziel USA China* Russland Frankreich Deutschland Quelle: Sipri

28
wie Trump es eben gefordert hatte? Völlig Diplomatie Außen-Staatsminister Niels Annen, 45 (SPD), fordert, die
unmöglich, sagte Merkel. deutsch-amerikanischen Beziehungen neu zu definieren.
Dann kam sie auf 2024 zu sprechen, das
Ziel von Wales. Es sei sehr schwer mit »un-
serem Parlament« bis 2024 auf zwei Pro-
zent zu kommen, sagte Merkel, fügte dann
»Verkehrte Welt«
aber einen Satz hinzu, der die Runde auf-
horchen ließ. »Die Debatte dahin läuft.«
Viele Nato-Regierungschefs verstanden SPIEGEL: Der amerikanische und der rus- Annen: Nein, wir müssen den Dialog
Merkels Äußerungen als Fingerzeig, dass sische Präsident haben sich in Helsinki sogar intensivieren, aber jenseits
die Bundesregierung mehr tun will, als bis- zum Gipfel getroffen. Das müsste einem des Weißen Hauses. Wir müssen inner-
lang angekündigt. Vor allem die baltischen sozialdemokratischen Außenpolitiker halb der USA die Kräfte unterstützen,
Staaten, die seit Langem mehr Solidarität doch gefallen – oder? die an den traditionell guten Beziehun-
der westeuropäischen Verbündeten gegen Annen: Ich komme mir manchmal vor gen zu Deutschland festhalten wollen.
russische Drohgebärden fordern, zeigten wie in einer verkehrten Welt: Gerade wir In der Handelspolitik sind das bei-
sich zufrieden. Die Kanzlerin habe eine Sozialdemokraten haben immer gefor- spielsweise die Gouverneure, Abgeord-
»sehr verantwortungsvolle Position« ein- dert, dass es auf Spitzenebene einen Dia- neten und Senatoren, die in ihren
genommen, bestätigt Litauens Außenmi- log zwischen den USA und Russland Bundesstaaten deutsche Unternehmen
nister Linkevičius. »Sie sagte, sie werde geben sollte, es sind mit vielen Arbeitsplätzen
ihr Bestes tun, um die Verteidigungsaus- immerhin die beiden größ- haben.
gaben ihres Landes zu erhöhen.« Merkel ten Atommächte. Aber das SPIEGEL: Ihr Parteifreund,
selbst sagte nach dem Treffen, dass die Ber- Treffen von Helsinki hat der frühere Außenminis-
liner Koalition nun noch einmal über den mich zutiefst irritiert. Erst ter Sigmar Gabriel, hat
Etat reden wolle. erklärt Trump Deutsch- gesagt, Trump wolle einen
Die Verteidigungspolitiker in Brüssel land auf dem Nato-Gipfel Regimewechsel in
hörten es gern, daheim in Berlin aber wirk- zum Gegner, dann trifft er Deutschland. Teilen Sie
ten Merkels Einlassungen wie ein Spalt- den russischen Präsidenten diese Befürchtung?
pilz, zumal in der entscheidenden Sitzung in offenkundig sehr gelös- Annen: Ich fand es jeden-

STEFAN BONESS / VISUM


kein sozialdemokratischer Minister im ter und freundschaftlicher falls befremdlich, dass
Saal war, sondern neben der Kanzlerin Atmosphäre. Es stellt sich der US-Botschafter gegen-
lediglich Ministerin von der Leyen. die Frage, wo und wofür über der rechtspopulisti-
Trump eigentlich steht. schen Internetplattform
Die Verteidigungsexperten der Union SPIEGEL: Inzwischen hat Breitbart erklärt hat, er
fühlen sich durch den Nato-Gipfel in ihren Trump seine prorussischen wolle die konservativen
Forderungen bestätigt, die mittelfristige Aussagen aber teilweise zurückgenom- Kräfte in Europa stärken. Wir erleben,
Finanzplanung aufzuschnüren. »Deutsch- men, es habe sich um einen »Verspre- dass sich eine Reihe von Ländern in die
land muss die 1,5 Prozent schon bis 2021 cher« gehandelt. europäische Innenpolitik einmischt.
erreichen«, sagt Unions-Fraktionsvize Jo- Annen: Das ist wenig glaubwürdig. Die Das müssen wir klar zurückweisen, egal
hann Wadephul. »Das ist finanzpolitisch Überzeugungskraft des Westens hängt ob es sich dabei um Russland oder die
gut möglich und sicherheitspolitisch drin- davon ab, dass Europäer und Amerika- USA handelt. Der Zusammenhalt Euro-
gend erforderlich.« Nur so sei das Zwei- ner gegenüber Russland mit einer Stim- pas ist unser nationales Kerninteresse.
Prozent-Ziel 2024 erreichbar. me sprechen. In der Vergangenheit hat SPIEGEL: In einem Punkt scheinen die
In der SPD sieht man das anders. »Es das gut funktioniert: Wir haben nach der Fakten allerdings für Trump zu sprechen.
ist unnötig und miserables Timing, nach Annexion der Krim unsere Sanktionen Die Nato hat vereinbart, dass sich alle
den Erpressungsversuchen von US-Präsi- gegen Russland mit Washington abge- Verbündeten bis zum Jahr 2024 auf das
dent Trump auf dem Nato-Gipfel gleich stimmt. Bei Iran haben wir sogar zusam- Ziel von 2 Prozent des Bruttoinlands-
wieder die nächsten Steigerungen des men mit Russland das Atomabkommen produkts für Verteidigungsausgaben zu-
Wehretats auf den Tisch zu bringen«, kri- erreicht. Jetzt wendet sich Trump von bewegen, Deutschland hat aber nur
tisiert SPD-Experte Fritz Felgentreu. »Wir den eigenen Verbündeten ab, nicht nur 1,5 Prozent zugesagt.
haben in der Koalition einen vernünftigen rhetorisch, sondern auch in der Substanz. Annen: Deutschland hat bei Ausstattung
Plan für eine bessere Ausrüstung der Bun- SPIEGEL: Wie sollte Deutschland darauf und Einsatzbereitschaft der Bundeswehr
deswehr erstellt.« Auch sein Parteifreund reagieren? Defizite. Das haben wir aber schon vor
Niels Annen, Staatsminister im Auswär- Annen: Die deutsche Öffentlichkeit Trump erkannt. Deswegen sieht die mit-
tigen Amt, hält es »für keine gute Politik, erwartet von uns, dass wir eine selbstbe- telfristige Finanzplanung eine milliarden-
ein komplexes Problem auf eine symboli- wusste Antwort auf die ständigen Provo- schwere Erhöhung des Rüstungsetats vor.
sche Zahl zu reduzieren« (siehe Interview). kationen des US-Präsidenten geben. Es SPIEGEL: Aber 1,5 Prozent sind nun mal
Bisher sind allerdings selbst die zuge- reicht nicht, nur den Ton zu verschärfen. nicht 2 Prozent.
sagten 1,5 Prozent alles andere als gesi- Wir müssen unser Verhältnis zu den USA Annen: Im Beschluss von Wales heißt es,
chert. Zwar hat Finanzminister Scholz für neu definieren. Wir müssen unsere Inte- dass die Nato-Staaten dieses Ziel bis
das kommende Jahr eine moderate Stei- ressen und Werte verteidigen. Wir müs- 2024 anstreben. Im Übrigen ist es keine
gerung des Etats eingeplant, aber ob es da- sen Europa stärken. Und wir müssen gute Politik, ein komplexes Problem auf
nach so weitergeht, ist fraglich. Von der mehr auf andere Partner zugehen. Das eine symbolische Zahl zu reduzieren.
Leyen schwant, dass sie jedes Jahr neu um Freihandelsabkommen zwischen der EU Wir sehen ja weltweit, dass man Krisen
eine Budgetsteigerung kämpfen muss. und Japan ist dafür ein gutes Beispiel. und Konflikte nicht allein mit Militär
Es fehlt überall. Schon die Aufstellung SPIEGEL: Die Konsequenz heißt, weniger bewältigen kann.
der »sehr schnell einsatzbereiten Eingreif- Dialog mit den USA? Interview: Christoph Schult
truppe« (VJTF) für die Nato legte in den

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 29


vergangenen Monaten schmerzhafte Lü-
cken bei der Bundeswehrausrüstung offen.
In einem peinlichen Prozedere musste sich
die VJTF-Truppe Material aus der ganzen
L. A. Confidential
Bundeswehr zusammenleihen. Ähnlich Kulturpolitik Das Thomas-Mann-Haus in Los Angeles soll zum trans-
düster sieht es immer noch bei der Ein-
satzbereitschaft diverser Waffen aus. atlantischen Leuchtturmprojekt werden. Doch kurz nach der Eröffnung
Ob die bisher beschlossene Steigerung durch Bundespräsident Steinmeier gibt es hinter den Kulissen Ärger.
für eine echte Modernisierung reicht, mag
keiner der Planer der Ministerin garantie-
ren. So groß sind die Mängel, dass es wohl
Jahrzehnte dauern wird, bis die Bundes-
wehr optimal aufgestellt ist.
Doch selbst wenn der Wehretat wie ver-
V or ein paar Wochen stand Frank-
Walter Steinmeier auf einer Veran-
da in den Hügeln über Los Angeles.
Der Bundespräsident war gekommen, um
das Thomas-Mann-Haus finanziell tragen:
Auswärtiges Amt und Kanzleramt.
Über die Gründe ihres plötzlichen Ab-
gangs, der das Projekt ausbremst, noch be-
einbart auf 1,5 Prozent des Bruttoinlands- das Thomas-Mann-Haus zu eröffnen. Es vor es richtig angefangen hat, will Rupp
produkts steigt, muss von der Leyen um gab Cocktails und Fingerfood, und aus den nicht sprechen. »Zu dem ganzen Thema«,
eines ihrer zentralen Projekte fürchten. Boxen ertönten sanfte Klänge. schrieb sie dem SPIEGEL, gebe es ihrer-
Vor gut zwei Jahren hatte sie angekündigt, »Ich glaube«, rief der Präsident den 250 seits »nichts hinzuzufügen«.
die Truppenstärke der Bundeswehr von Gästen im Palmengarten der weißen Villa Es gilt als offenes Geheimnis, dass die
derzeit knapp 180 000 Soldaten auf zu, »dass es in turbulenten Zeiten ein wun- Geschäftsführerin sich aus Frust umorien-
198 000 hochzufahren. Anders seien die derbarer Moment für die Freundschaft tieren will. Bei wesentlichen Entscheidun-
Aufgaben der Landes- und Bündnisvertei- zwischen unseren beiden Ländern ist.« gen habe sie sich übergangen gefühlt, heißt
digung nicht mehr zu erfüllen. Steinmeier sprach nicht ohne Stolz: Das es unter denen, die den Vorgang kennen.
Haus am San Remo Drive Nummer 1550, Zudem habe Rupp das Gefühl gehabt, sich
Mittlerweile aber warnen von der Leyens das der vor den Nazis geflüchtete Schrift- nicht entfalten zu können, was nicht zu-
Experten vor einer sich zuspitzenden Fi- steller 1941 für sich und seine Familie im letzt an einer Reihe von Steinmeier-Be-
nanzlage. Die deutliche Aufstockung des Exil bauen ließ, wäre fast verscherbelt und kannten gelegen habe, die die Operation
Personals wird laut einer vertraulichen womöglich abgerissen worden. Jetzt, nach Thomas-Mann-Haus in die eigenen Hände
Vorlage für Staatssekretär Gerd Hoofe in einer gründlichen Sanierung, sollen Intel- nahmen – allen voran Markus Klimmer,
den Jahren 2024 und danach fast eine Mil- lektuelle dort für ein paar Monate leben einst Partner der Unternehmensberatung
liarde Euro kosten, das Geld würde dann und arbeiten. So soll das Haus zu einem Ort McKinsey und Berater in Steinmeiers
bei der Ausstattung fehlen. Daraufhin wur- des deutsch-amerikanischen Dialogs wer- Kanzlerwahlkampf 2009.
de die finale Entscheidung über die Perso- den und im Kleinen helfen, die großen trans- Klimmer ist Rupps Noch-Chef. Seit Jah-
nalaufstockung Anfang Juli erst mal auf atlantischen Irritationen zu überwinden. ren ist er Vorstandsvorsitzender der Künst-
den Herbst verschoben. Es ist ein echtes Steinmeier-Projekt: Er lerresidenz Villa Aurora in Los Angeles, die
Schon deshalb müsse sich die SPD einen war es, der als Außenminister das Objekt sich ebenfalls dem transatlantischen Dialog
Ruck geben, fordern Unions-Politiker. 2016 von der Bundesregierung kaufen ließ: verpflichtet fühlt. Der Schriftsteller Lion
»Wenn die Aufstockung auf 200 000 Sol- für gut 13 Millionen Dollar. Feuchtwanger machte die Aurora einst zu
daten die verfügbar gemachten Finanz- Doch pünktlich zur Ankunft der ersten einem Exiltreff deutscher Intellektueller
mittel aufbraucht, wird erst recht klar, wie Stipendiaten gibt es Unruhe um das Haus, wie Bertolt Brecht und Max Horkheimer.
nötig es ist, über die 1,5 Prozent hinauszu- und bis ins Präsidialamt fürchten manche, Als im Jahr 2016 durchsickerte, dass das
gehen«, sagt Roderich Kiesewetter, CDU- aus der schönen Geschichte könne womög- benachbarte Thomas-Mann-Haus zum Ver-
Obmann im Auswärtigen Ausschuss. lich noch ein Problem werden. Eine Ver- kauf stehe, schalteten sich Klimmer, der da-
Die Amerikaner machen nach dem Gip- antwortliche hat ihren Hut genommen, malige Außenminister Steinmeier, dessen
fel weiter Druck. Am vergangenen Diens- Parlamentarier interessieren sich für die Staatssekretär Stephan Steinlein sowie Kul-
tag stellte sich Trumps Botschafter in Ber- Hintergründe des Deals, das akademische turabteilungsleiter Andreas Görgen zusam-
lin, Richard Grenell, im Bundesfinanz- Programm ist umstritten, Kritiker sprechen men. Gemeinsam organisierten sie die Mil-
ministerium vor. Rund 40 Minuten dauerte von Genossenfilz. Einen Monat nach der lionen für Erwerb und Ausbau.
das Gespräch mit Vizekanzler Olaf Scholz. Eröffnung geht es plötzlich um die Frage, Klimmer ist ein Name in der Kulturszene.
Im Ton gab sich der Mann aus Amerika ob das Thomas-Mann-Haus tatsächlich zu Er ist neben seiner Unternehmertätigkeit
höflicher als sein Präsident, in der Sache einem Leuchtturmprojekt wird oder eher auch Vorstandschef des Bauhaus-Archivs.
aber blieb er hart. Die Deutschen müssten zum Beispiel dafür, welches Eigenleben Das Thomas-Mann-Haus erschien dem Ar-
sich ernsthaft an die Abmachungen im Rah- politische Netzwerke entwickeln können. chitekturfan als besonders erhaltenswert,
men der Nato halten, mahnte Grenell. gleichzeitig war es eine gute Gelegenheit,
Scholz verteidigte zunächst die 1,5-Pro- Auslöser der Unruhe ist ein Rücktritts- sein kulturpolitisches Profil zu schärfen.
zent-Marke. Das seien immerhin 62 Mil- schreiben, das den Initiatoren des Projekts Und so widmete sich Klimmer dem Projekt
liarden Euro, fast 50 Prozent mehr als der- vor einigen Wochen auf den Tisch flatterte. mit einer Entschlossenheit, die bald schon
zeit. Er schloss aber nicht aus, dass die Absenderin war ausgerechnet jene Frau, manche in seinem Umfeld irritierte.
Bundeswehr am Ende doch mehr Geld die das neue Projekt inhaltlich und orga- Der 55-Jährige flog, teils auf eigene Kos-
bekommt. Für den Fall, dass sich zusätz- nisatorisch leiten sollte: Annette Rupp, seit ten, nach Kalifornien, um den Fortschritt
liche Spielräume ergäben, so Scholz, seien 2012 Geschäftsführerin des Vereins »Villa der Instandsetzung zu begutachten. Er
Nachbesserungen denkbar. Aurora und Thomas Mann Haus«. warb zusätzliche private Gelder ein – und
Eine Zusage war das nicht, aber auch Sie kündige »fristgerecht zum 30. Sep- traf auch manche intern umstrittene Ent-
kein Fall von Fake News. tember«, schrieb sie in einem nüchternen scheidung. Weil ihm die ersten architekto-
Matthias Gebauer, Peter Müller, Dreizeiler »mit freundlichen Grüßen« an nischen Entwürfe aus dem Auswärtigen
Christian Reiermann, Christoph Schult den gesamten Vorstand ihres Vereins, der Amt offenbar nicht gefielen, stellte Klim-
bald auch in den Behörden kursierte, die mer eine persönliche Bekannte ein, um

30 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Deutschland

die Renovierung und vor allem den Innen- auf Lindners Erkundigungen. Die Frage, nun wieder sichtbar, schwärmt er. »Wir ha-
ausbau des Thomas-Mann-Hauses zu be- warum dann ausgerechnet Seeba-Hannan ben das Projekt in Rekordzeit, pünktlich
aufsichtigen und zu planen: die Berliner ausgewählt wurde, beantwortet das zu- und im vorgegebenen Budget realisiert:
Architektin Ursula Seeba-Hannan. ständige Finanzministerium nicht. Seeba- Wir sind glücklich und auch stolz darauf.«
Interessant dabei: Auch sie kennt Stein- Hannan selbst ließ eine Anfrage unbeant- Klimmers Unternehmersicht ist die eine
meier gut. Ihr Ehemann war einst dessen wortet. Das Bundespräsidialamt teilte mit, Seite, die andere ist, ob sich das Projekt
Büroleiter im Kanzleramt. Und so kommt zu keinem Zeitpunkt mit der Auftragsver- zu einem kulturpolitischen Erfolg ent-
es, dass sich inzwischen auch der Haus- gabe befasst gewesen zu sein. wickelt. Aufgrund des Zeitdrucks konnten
haltsausschuss des Bundestags für die An- sich die Beteiligten nur oberflächlich damit
gelegenheit interessiert. Vor zwei Wochen Für die Architektin war das Projekt ein beschäftigen, was die Institution akade-
mussten sich der Leiter des Bundespräsi- Erfolg. Bei der Eröffnungsfeier Mitte Juni misch eigentlich leisten soll und wie die
dialamts, Steinmeier-Intimus Steinlein, so- wurde sie gemeinsam mit dem Bundes- Strukturen so geordnet werden, dass sie
wie Außenminister Heiko Maas zur Causa präsidenten abgelichtet. Die Startseite ihrer übersichtlich sind. Ein Teil der mit jeweils
Seeba-Hannan erklären. Die Antworten Website ziert inzwischen eine Großauf- 3500 Euro monatlich dotierten Stipendien
der beiden stellten den grünen Haushälter nahme des Thomas-Mann-Hauses. wird von der Bosch- sowie der Leibinger-
Tobias Lindner nicht zufrieden. Schriftlich Verschwammen beim Thomas-Mann- Stiftung finanziert, ein anderer Teil von
hakte er daraufhin bei der Bundesregie- Haus die Grenzen zwischen Freundschafts- der Krupp-Stiftung. Das könnte sowohl in
rung nach. Er wollte wissen, ob der Auf- dienst und professionellem Auftrag? Klim- finanziellen wie in organisatorischen Fra-
trag für die Innenarchitektin eigentlich aus- mer kann nichts Anrüchiges an der Perso- gen noch zu Schwierigkeiten führen.
geschrieben worden sei, so wie das bei nalie Seeba-Hannan erkennen. Er habe die
öffentlichen Projekten Pflicht ist. Berlinerin »als persönliche Beraterin in ar- Ein Problem: Geplant war, dass die Sti-
Nein, so die Bundesregierung. Sie ist chitektonischen Fragen engagiert und aus pendiaten gleich lang in der Bauhaus-Villa
der Ansicht, der Auftrag in Höhe von eigener Tasche bezahlt«, sagt er. Das Hono- leben, und zwar für zehn Monate, um
400 000 Euro habe nicht nach den öffent- rar habe insgesamt 60 000 Euro betragen. einen möglichst intensiven intellektuellen
lichen Vergaberegeln ablaufen müssen. Er Er selbst ist höchst zufrieden mit dem Austausch zu fördern. Das hat sich rasch
werde »vollständig aus privaten Spenden- Ergebnis. Die »atemberaubende Schön- als Illusion erwiesen. Manche Bewohner
mitteln« bestritten, heißt es in der Antwort heit und Modernität« des Gebäudes sei wollen nun zwei Monate bleiben, andere
drei oder vier. Je nach Lust und Laune.
Zudem war Eile geboten, um rechtzeitig
für die Steinmeier-Zeremonie im Juni die
erste Riege vorweisen zu können. Von
August bis November wird sich etwa die
Berliner Sozialwissenschaftlerin Jutta All-
mendinger in Los Angeles als »Fellow«
aufhalten. Sie ist nicht nur Mitglied der
SPD, sondern hat in dieser Zeit eigentlich
andere Verpflichtungen: Kürzlich wurde
Allmendinger in die Kohlekommission der
Bundesregierung berufen, die bis Ende des
BERND VON JUTRCZENKA / PICTURE ALLIANCE / DPA

Jahres einen geordneten Ausstieg aus dem


umstrittenen Brennstoff entwickeln soll.
Wie die Professorin ihre Arbeit dies-
und jenseits des Atlantiks miteinander in
Einklang bringen will, ist noch nicht ab-
schließend geklärt. Sie befinde sich zu
dieser Frage noch in »intensiven Gesprä-
chen«, sagt sie. Es werde an »Skype-Zu-
schaltungen und schriftliche Stellungnah-
men« gedacht. Ganz sicher werde die
Lösung allerdings den Steuerzahler nichts
kosten, versichert Allmendinger.
In Berlin müssen die Beteiligten derweil
rasch die Nachfolge für Geschäftsführerin
Bundespräsident Rupp regeln, die Ende September ihren
Steinmeier mit Posten verlässt. Rund 70 Interessenten
Ehefrau Elke gebe es für die Stelle, heißt es.
Büdenbender, Einer der Favoriten ist in SPD-Kreisen
MIKE NELSON / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK

Mann-Enkel bestens bekannt: Berlins ehemaliger Kul-


Fridolin, Vertrau- turstaatssekretär Tim Renner. In der Bun-
tem Klimmer; desregierung hält man den Namen Renner
Thomas-Mann- allerdings aus mehreren Gründen für hei-
Haus in kel. Die einen vermissen bei dem 53-Jäh-
Los Angeles rigen kulturpolitischen Tiefgang.
Die anderen sagen schlicht: nicht noch
ein Genosse.
Veit Medick, Christoph Schult

31
Kommentar

Moral und Hypermoral


Wie Teile der Linken in der Flüchtlingsdebatte die Nerven verlieren

Es ist faszinierend, wie Standards, die man eben


noch als unverhandelbar bezeichnet hat, außer
Kraft gesetzt werden, weil es politisch opportun
erscheint. Wollte man pathetisch werden, könnte
man sagen, dass die Diskussion über die »Zeit«
(und das vornehme Hinwegsehen über die Trans-
gressionen einiger Diskussionsteilnehmer) den
Punkt markiert, an dem ein bestimmtes linkslibe-
H. POSCHMANN / REX / SHUTTERSTOCK

rales Milieu seine Unschuld verlor.


Einen Teil ihres Kredits verdankt die Linke der
Annahme, dass sie nicht so tumb und selbstgerecht
wie ihre Gegenspieler von der Rechten sei. Große
Beachtung fand kürzlich eine Auseinandersetzung
im Bundestag, bei der ein ironischer Zwischenruf
von Claudia Roth so interpretiert wurde, als hätte
sie gesagt, sie wolle in Deutschland alle Menschen
Retter, Hilfsbedürftige im Mittelmeer aufnehmen, die auf der Flucht sind. Seht her, hieß
es, so sind sie, die Rechten: unfähig, den Kontext zu
erkennen, in dem eine Äußerung steht.
ine Frau schreibt einen Text, der für Empörung Der »Zeit« wird vorgeworfen, sie habe menschenfeind-

E sorgt. Die Meinung, die sie darin vertritt, gilt in ei-


nem Teil des politischen Spektrums als so anstößig,
dass bei der Zeitung, für die sie arbeitet, wütende
Beschwerden eingehen. Es gibt Boykottaufrufe gegen das
liches Denken salonfähig gemacht, indem sie zu dem
Gedankenspiel eingeladen habe, unter welchen Umständen
es legitim sein könnte, Menschen im Meer ertrinken zu
lassen. Tatsächlich fragt Lau in ihrem Text nicht, ob man
Blatt. Die Frau selbst erhält Drohungen und Hassmails. Im Flüchtlinge ertrinken lassen soll – sie erörtert, ob die private
Netz wird ein Umfragespaß platziert, ob man auf sie und Seenotrettung möglicherweise zu mehr Nachfrage und
ihre Kollegen schießen solle. Eine knappe Mehrheit der deshalb potenziell zu mehr Toten führt, weil die Schlepper
Teilnehmer entscheidet sich dagegen. Ein Mann, ebenfalls ihr Geschäft als sicherer ausgeben können, als es in Wahr-
Journalist, schreibt auf Twitter, er wünschte, man würde der heit ist. Das ist ein großer, um nicht zu sagen wesentlicher
Redakteurin brühenden Kaffee ins Gesicht schütten. Der Unterschied. Wie lassen sich das Missverstehenwollen
Tweet wird vielfach geteilt und gelikt. und die daraus resultierende Denunziationslust von Leuten
Was wäre die Reaktion der aufgeklärten Öffentlichkeit, erklären, die schon ausweislich ihrer Bildung (Abitur/
wenn es sich bei der Frau um eine Journalistin handeln wür- Studium) und ihres Berufs in der Lage sein sollten, Texte
de, die in ihrem Text für, sagen wir, die bedingungslose Auf- zu lesen?
nahme aller Flüchtlinge aus Afrika eingetreten wäre? Wir Wir sind Zeuge einer Entwicklung, die mit dem Begriff
würden darüber diskutieren, wie verroht der Diskurs ist »Moraldebatte« nur unzureichend umschrieben ist. Viel-
und welche unheilvollen Kräfte die sozialen Medien freiset- leicht sollte man besser von moralischer Selbsterhöhung
zen. In den feministischen Zirkeln würden die Beschimpfun- sprechen.
gen und Gewaltandrohungen als Belege für die Frauen- Wir fällen laufend moralische Urteile. Wenn sich jemand
verachtung gewertet, die einmal mehr die Dringlichkeit der in der Schlange nach vorn drängelt, beurteilen wir dies Ver-
#MeToo-Debatte beweisen. Der Mann, der sich gewünscht halten aufgrund unserer Vorstellungen über das, was sich
hat, man möge die Redakteurin mit Kaffee verbrühen, geziemt und was nicht. Auch die Erwartung an einen Flücht-
stünde als abscheuliches Beispiel eines Frauenfeindes am ling, dass er die Hilfe, die man ihm zuteil werden lässt, nicht
Pranger. mit Gesetzesübertretungen vergilt, fußt auf moralischen
Es ist anders gekommen. Die Redakteurin heißt Mariam Normen.
Lau und arbeitet im Politikteil der »Zeit«. Der Text, um den Gegen diese Alltagsmoral steht das, was der Philosoph
es geht, versuchte unter der Überschrift »Oder soll man Arnold Gehlen »Moralhypertrophie« genannt hat, also der
es lassen?« Argumente zu liefern, warum es besser sei, auf Versuch, alles zu einer Entscheidung über Humanität oder
private Rettungsmissionen im Mittelmeer zu verzichten. Barbarei zu erklären. Theoretisch ist jedes Problem dieser
Wie ein Wechsel der politischen Position doch die Per- Form moralischer Aufladung zugänglich. Wer gegen die Ein-
spektive auf Hass ändert. Na ja, hieß es im Fall des Mannes richtung eines weiteren Fahrradwegs in seiner Gemeinde
mit den Gewaltfantasien, das müsse man als Satire verste- eintritt, versündigt sich am Weltklima; wer darüber nach-
hen (er arbeitet als Chefredakteur bei der »Titanic«). Außer- denkt, ob Flüchtlingshilfe auch das Gegenteil des Gewollten
dem sei die »Zeit« wirklich zu weit gegangen, kein Wunder, bewirken kann, spricht die Sprache der AfD. Der Nachteil
dass sich manche zu unüberlegten Äußerungen hinreißen dieser Art der Hypermoral ist evident: Wer überall die Inhu-
ließen. Der Rock war aber auch sehr kurz, heißt das norma- manität am Werke sieht, verliert erst den Überblick und
lerweise, wenn man dem Opfer die Schuld gibt. dann die Nerven. Jan Fleischhauer

32 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Deutschland

den Ferien einfach krank. »Wenn ich den flughäfen wie München, Frankfurt, Ham-

Strandburg Antrag auf Unterrichtsbefreiung ablehne,


zwinge ich die Familien zum Schwindeln«,
ist sich Mehl bewusst. Aber die Schul-
burg oder Berlin aus in die weite Welt auf-
brechen wollen. Dort patrouilliert und
kontrolliert nämlich die Bundespolizei.

statt Schule pflicht sei nun mal nicht verhandelbar.


Das ist eine Haltung, die aus der Mode
zu kommen scheint. Und Behörden zu här-
Deren Mitarbeiter sind nicht besonders
engagiert im Kampf gegen Eltern, die den
Horizont ihrer Kinder per Flugreise erwei-
Disziplin Um billigere Flüge zu teren Maßnahmen zwingt. Im vergange- tern wollen. »Bildungspolitik ist Länder-
nutzen, lassen viele Familien ihre nen Jahr griff die Polizei am Nürnberger sache. Wir Bundespolizisten haben gesetz-
Flughafen 279 Schulschwänzer auf, die mit lich gar keinen Auftrag, Schulschwänzer
Kinder den Unterricht ihren Eltern außerhalb der Ferienzeit ver- zu identifizieren«, sagt Christian Kögl-
schwänzen. Lehrer schimpfen reisen wollten. Das waren über 100 Kinder meier von der Bundespolizei am Münch-
über den »Egoismus der Eltern«. mehr als vor fünf Jahren. ner Flughafen. Die Reisenden kämen au-
Auch in Düsseldorf hat sich die Zahl der ßerdem aus allen Ecken Deutschlands.
Eltern, die ihre Kinder lieber Strandburgen »Welcher Beamte weiß denn auswendig,

I n einer Woche beginnen in Bayern die


Sommerferien. Doch schon jetzt sind
in den Klassenzimmern der Münch-
ner Mittelschule an der Implerstraße viele
bauen statt in der Schule schwitzen lassen,
verdoppelt. 390 Bußgeldverfahren leitete
die Behörde allein im vorigen Jahr ein.
»Wenn uns bei der Passkontrolle auffällt,
wann in welchem Bundesland gerade Fe-
rien sind?«
Klar ist: Jeder Schüler in Deutschland
hat 75 Ferientage im Jahr. Forderungen
Stühle verwaist. »Sie glauben gar nicht, dass ein Kind eigentlich in der Schule sit- wie die des Landesschülerrats in Bayern
wie viele Omas und Opas vor den Som- zen müsste, können wir nicht die Augen nach zwei »Jokertagen« im Jahr, an denen
merferien plötzlich verstorben sind«, sagt verschließen«, sagt Michael Petzold vom Erziehungsberechtigte ihre Kinder ohne
Schulleiterin Nicola Mehl. Von den insge- Polizeipräsidium Mittelfranken. Die Lan- Angabe von Gründen von der Schule be-
samt 350 Schülern hätten rund 30 vor den despolizei erstellt dann eine Meldung an freien können, scheitern bisher an der
Sommerferien einen Antrag auf vorzeitige die zuständige Schulbehörde, die in Bay- Kultusministerkonferenz. Flexible Ferien-
Befreiung vom Unterricht im Rektorat vor- ern Bußgelder bis zu 1000 Euro einfordern tage müssten von anderen Ferien abge-
beigebracht. kann. In Berlin können bei Verstößen ge- zogen werden. »Sollen die Weihnachts-
Nicola Mehl hat sie alle abgelehnt. »Ge- gen die Schulpflicht sogar 2500 Euro fällig ferien dann nur noch bis Silvester gehen?«,
genüber den Eltern stehe ich dann häufig werden. Der Preisvorteil beim Buchen der fragt der Berichterstatter der Kultusmi-
als Unmensch da«, seufzt die Rektorin. Flüge dürfte damit futsch sein. nisterkonferenz für Schulrecht Ulrich
Nicht alle Familien im teuren München Allerdings kontrollieren Petzolds Poli- Pfaff.
können sich Urlaub in der Hauptreisezeit zeikollegen nur Passagiere auf Flügen ins »Es gab schon immer günstigere Tarife
leisten. Mehl vermutet, dass die Eltern, die außereuropäische Ausland. Wer mit sei- für Urlaubsreisen außerhalb der Schul-
mit ihren Kindern mehrere Tage vor Feri- nem Nachwuchs Schwindelferien am ferien, ohne dass dies etwa noch vor
enbeginn nach Korea, Brasilien oder in die Strand auf Mallorca oder Kreta verbringen 15 Jahren zu nennenswerten Abwesen-
Türkei aufbrechen wollten, die Flugtickets will, dürfte straflos davonkommen. heiten im Unterricht geführt hat«, sagt
womöglich längst gebucht hatten. Folglich Noch leichteres Spiel haben Schul- Heinz-Peter Meidinger. Der Präsident des
meldeten viele Eltern den Nachwuchs vor schwänzer, die von Deutschlands Zentral- Deutschen Lehrerverbands führt die »Ver-
dopplung und Verdreifachung des Kran-
kenstands kurz vor den Ferien« auf einen
Mentalitätswandel der Eltern zurück. Vie-
le sähen sich nicht mehr als Erziehungs-
partner der Lehrer, sondern als »Vertreter
der eigenen Interessen und als Anwälte
ihrer Kinder«.
Meidinger kann die Rechtfertigungsver-
suche vieler Eltern, vor den Ferien würden
die Kinder doch nur noch Filme gucken
und mit den Lehrern Eis essen gehen, nicht
mehr hören: »Das sind Alibiargumente,
um die rein egoistische Motivationslage
der Eltern zu verdecken.« Gerade die letz-
ten zwei Wochen vor den Sommerferien
seien in vielen Schulen zu Höhepunkten
im Schuljahr umgestaltet worden, die viel
zur Stärkung der Klassengemeinschaft bei-
trügen.
So ist es auch an der Schule von Nicola
PETER ROGGENTHIN / DER SPIEGEL

Mehl. Die letzte Woche sei ganz ohne No-


tendruck und lästige Hausaufgaben »der
Knaller« gewesen. Die verbliebenen Schü-
ler hätten gemeinsam die Abschiedsfeier
der Schulabgänger vorbereitet, Tänze ein-
studiert oder Törtchen in Raketenform ge-
backen. Das Motto der Abschlussparty lau-
tet: »Wir heben ab«. Anna Clauß
Flughafenpolizist vor der Passkontrollstelle in Nürnberg: Bis zu 1000 Euro Bußgeld

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Deutschland

»Wo sind die Koffer?«


Antisemitismus Mehr als 70 Jahre nach dem Holocaust sind die jüdischen Gemeinden in
Deutschland gewachsen, sie öffnen Kitas und Schulen. Doch wieder blüht der
Hass. Wie erleben deutsche Juden ihren Alltag im Jahr 2018? Von Annette Großbongardt

I
m Jüdischen Museum Berlin ist neu- sich sicher gefühlt nach dem Drama in der Auf der Website der Ernst-Reuter-Schu-
erdings eine Kippa ausgestellt, sie Schulmensa. le verurteilte der Direktor den »antisemi-
ist aus Jeansstoff und gehört Adam Was dort passiert ist, erzählt Florian so: tischen Vorfall«, der sich »im Rahmen
Armoush, jenem jungen Israeli, der Er hatte gerade eine Freistunde, hörte Mu- einer Auseinandersetzung um den Nahost-
Mitte April in Prenzlauer Berg von einem sik, erledigte Hausaufgaben. »Da kam eine konflikt zugetragen« habe. Auf Nachfra-
19-jährigen Syrer mit einem Gürtel geschla- Gruppe muslimischer Mitschüler auf mich gen antwortet er nicht. Das Thema werde
gen wurde. Nun ist die religiöse Kopfbe- zu, Oberstufe. Sie sagten, sie wollten mit nun breit in der Schule aufgearbeitet, sagt
deckung eine Anklage: Seht her, wegen mir über Trumps Botschaftsverlegung nach die Antidiskriminierungsbeauftragte des
dieser Kippa wurde jemand mitten in Ber- Jerusalem reden. Schnell kam das Übliche: Senats, Saraya Gomis. Sie sieht den Anti-
lin verprügelt. Ihr habt uns das Land geklaut! Wo kom- semitismus als Teil eines offenen Rassis-
Florian, 19, Berliner Abiturient, war ge- men die Juden überhaupt her? Ihr seid Kin- mus auf Schulhöfen und in Klassenzim-
rade im Urlaub in Israel, als er von der dermörder! Ich habe ihnen alles noch mal mern, auch Lehrkräfte seien beteiligt.
Attacke erfuhr. Er bekam einen Schreck, erzählt: Der UN-Teilungsbeschluss, ihr
Prenzlauer Berg, das ist sein Viertel, da habt damals nicht zugestimmt, ihr wolltet Der Eklat in der Mensa gehört wie der
hatte er sich bislang sicher gefühlt. uns vernichten, ihr wolltet immer das gan- Kippa-Angriff zu den Fällen, die eine neue
Seine Kippa ist schwarz und Antisemitismusdebatte ausge-
gehäkelt, mit zwei Klammern löst haben. An mehreren Ber-
hat er sie auf seinem roten liner Schulen wurden jüdische
Haarschopf festgesteckt. Flo- Kinder beschimpft, bedroht
rian trägt sie weiter, aber er ist oder gemobbt. Erst vorige Wo-
vorsichtiger geworden. In der che wurde einem jüdischen
S-Bahn oder wenn er allein in Professor in Bonn die Kippa
anderen Bezirken unterwegs vom Kopf geschlagen.
ist, setzt er sie nicht auf. Er hat Die Zahl der antisemiti-
Angst, er könnte angegriffen schen Straftaten steigt, so die
werden. Weil er Jude ist. Statistik der politisch motivier-
Es war in der elften Klasse, ten Kriminalität für 2017. Da-
als sich Florian entschloss, die runter rassistische Pöbeleien,
Kippa für alle sichtbar zu tra- Angriffe, Schändung von Ge-
gen. »Da hatte es sich eh he- denkstätten, Hetze im Internet.
rumgesprochen, dass ich Jude Die Täter, sagt das Innenminis-
bin« – einer von wenigen un- terium, kämen zu 94 Prozent
ter mehr als tausend Schülern aus dem rechten Spektrum.
einer Oberschule im Wedding. Die Statistik enthält noch nicht
Das war vor zwei Jahren, und einmal alles, was passiert,
seitdem ist einiges passiert. nicht die Beleidigungen, die
Berlin, Mitte Mai, Florian nicht angezeigt werden, die Be-
hat als Treffpunkt das Restau- drohungen, die miesen Sprü-
rant »Masel Topf« ausgesucht, Schülerin Karina: »Ich will mich nicht verstecken« che, die einen Juden zum
ein Wortspiel mit dem hebräi- Fremden machen. Viele Juden
schen Mazel tov! Viel Glück! klagen vor allem über Hass-
Es liegt an einem hübschen attacken muslimischer Migran-
Platz gegenüber der Synagoge. »Sehen Sie ze Land.« Irgendwann sei die Gruppe auf- ten, die den Nahostkonflikt mit nach
die Sicherheitsleute?«, fragt Florian und gestanden, und ein libanesisches Mädchen Deutschland bringen.
zeigt zum Tor der Synagoge. »Ich bin so habe gesagt: »Wallah! Hitler war ein guter Das vielleicht Erschreckendste aber ist,
froh, dass sie da sind.« Mann, denn er hat die Juden umgebracht.« dass der Antisemitismus so alltäglich ge-
Er schreibt gerade seine letzten Abitur- Er habe unter Schock gestanden, sagt worden ist – in der Schule, in der U-Bahn,
prüfungen, dann hat er es geschafft, dann Florian, er habe doch immer versucht zu im Restaurant, auf dem Fußballplatz.
kann er die Schule verlassen, die für ihn argumentieren. »Ich rief: Dieses Mädchen Wer in diesen Wochen mit Juden in
zuletzt zur Qual geworden ist. Ein schma- glorifiziert den Holocaust, dieses Mädchen Deutschland spricht, spürt eine tiefe Ver-
ler, fast zarter junger Mann, eloquent, be- huldigt den Massenmord an über sechs unsicherung. Der SPIEGEL hat jüdische
lesen, politisch. Fünf Monate lang betrat Millionen Juden!« Da habe ihn ein arabi- Schüler getroffen, hat säkulare und from-
er die Schule nur noch durch einen Neben- scher Mitschüler gepackt und »quasi durch me Juden in Berlin, Hamburg und Düssel-
eingang, jede Pause verbrachte er allein in die halbe Mensa getragen«, während eini- dorf befragt. Viele haben schon Antisemi-
einem abgelegenen Kunstraum. Er selbst ge riefen: »Israel ist der Mörder, Israel ist tismus erlebt, auch israelfeindliche Parolen
habe es so gewollt, sagt er, nur so habe er der Mörder.« treffen sie. Sie fragen sich, warum sie so

36 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Armoush-Kippa im Jüdischen Museum Berlin: Die Zahl der Angriffe steigt

Fotos: PETER RIGAUD / DER SPIEGEL 37


anders gesehen werden, wa- liner Rabbi Daniel Alter vor
rum sich Stereotype so hartnä- den Augen seiner Tochter
ckig halten. zusammengeschlagen? Lange
Die Kippa, der Davidstern davor schon habe es Angriffe
sind zum Risiko geworden. Et- gegeben, sagt Königsberg, An-
liche Juden diskutieren schon, tisemitismus steige nicht kon-
ob es für sie in Deutschland tinuierlich, »er zeigt sich in
eine verlässliche Zukunft gebe. Wellen und Spitzen«. Er ver-
Sie hätten zuletzt das Gefühl misst einen Aufstand der Zivil-
bekommen, nicht Teil der deut- gesellschaft: »Wir müssen jetzt
schen Gesellschaft zu sein, handeln, bevor das Feuer rich-
klagte eine Mehrzahl der Be- tig brennt.«
fragten schon 2016 in einer Stu- Königsberg ist der Antisemi-
die der Uni Bielefeld. tismusbeauftragte der Berliner
Der deutsche Antisemitis- Jüdischen Gemeinde. Oft höre
mus sei vielleicht nicht so hand- er von Eltern, die ihm von An-
greiflich wie der von Migran- feindungen berichten. Meist
ten, aber deshalb »nicht weni- hätten die Kinder schon einen
ger giftig«, sagt Anetta Kahane, Leidensweg hinter sich. Inzwi-
Vorsitzende der Amadeu An- schen rieten Eltern ihren Kin-
tonio Stiftung gegen Rechts- dern: »Brauchst mal nicht zu
extremismus, Rassismus und sagen, dass du jüdisch bist.«
Antisemitismus. Kahane ist Jü- Königsberg ist kein ängstli-
din und bekommt ständig cher Mann, er ist groß und viel
Hassmails, in denen sie etwa zu Fuß unterwegs. Doch auch
als »ehrloser jüdischer Ab- er sagt: »Ich würde keinem
schaum« beleidigt wird. Auf empfehlen, allein mit Kippa
Twitter drohte ihr ein »Charlie Schulsekretärin Golan durch Berlin zu gehen.« Er
Dunkeldeutschland«: »Aus der Schock im Land der Täter trägt keine, er ist nicht religiös,
Kahane-Fresse würde ich ei- so wie die Mehrzahl der ge-
nen Lampenschirm machen.« schätzt 200 000 Juden in der
947 antisemitische Vorfälle registrierte gewachsene Selbstverständlichkeit jüdi- Republik. Rund die Hälfte von ihnen ist
die Recherche- und Informationsstelle An- schen Lebens in Deutschland«. in Gemeinden registriert. »Die meisten
tisemitismus (Rias) 2017 allein in Berlin, Junge Israelis entdeckten Berlin als hip- von uns würde man als Juden gar nicht er-
sie will auch das zeigen, was die Polizei- pe Metropole, mehr als 11 000 leben heute kennen.«
statistiken nicht erfassen. Jeden Tag, sagt in der Hauptstadt. Eine junge jüdische Au-
Rias-Leiter Benjamin Steinitz, würden ih- torengeneration macht sich bekannt, Lena Keine Synagoge, keine jüdische Schule,
nen zwei bis drei Anfeindungen bekannt. Gorelik, Jan Himmelfarb, Dmitrij Belkin, kein jüdischer Kindergarten in Deutsch-
Die Angreifer sprächen häufig Arabisch Olga Grjasnowa, Juna Grossmann mit ih- land ohne Polizeischutz. »Das bedrückt
oder Türkisch. Aber »antisemitische Hal- rem Blog »Irgendwie jüdisch«. Die Schau- uns«, sagte die Kanzlerin kürzlich dem
tungen und Äußerungen, darunter vor al- spielerin und Sängerin Sharon Brauner, israelischen Sender Channel 10. Doch tut
lem eine Dämonisierung Israels, finden Nichte des verfolgten jüdischen Filmprodu- sie etwas dafür, dass sich die Lage ändert?
sich in allen Milieus, auch in der Mitte der zenten Artur (»Atze«) Brauner, hat Erfolg Karina, 15, geht aufs Jüdische Gymna-
deutschen Gesellschaft«, sagt Steinitz. mit ihren jiddischen Liedern, in denen eine sium Moses Mendelssohn in Berlin-Mitte,
Zum Beispiel am 5. März 2018 im War- versunkene Welt wieder aufscheint, mit all nicht weit vom Hackeschen Markt. Ihre
tezimmer einer Arztpraxis in Niedersach- der Wärme dieser alten jüdischen Sprache. Schule ist von einem hohen Metallzaun
sen: Ein Patient mit Davidstern-Kette hilft »Bis in die Achtzigerjahre gab es das umgeben, in der Straße patrouillieren Poli-
zwei alten Damen aus dem Mantel. Eine Bild der gepackten Koffer. Wir hatten uns zisten. Jeden Morgen muss sie durch eine
der Frauen fragt, was für ein Symbol der hier eingerichtet, im Beruf, die Kinder gin- Sicherheitskontrolle, auch zum Sportun-
Anhänger sei. Als er es erklärt, sagt sie an- gen zur Schule, doch in gewisser Weise terricht ein paar Straßen weiter begleiten
gewidert: »Ach, hat man Sie vergessen?« blieb man reisefertig«, sagt Sigmount Kö- sie Polizisten. Selbst der Jugendklub, den
Es ist nur ein Eintrag in einer langen nigsberg, 57, von der Jüdischen Gemeinde sie besucht, wird bewacht. »Ich kenne es
Chronik, die Rias über antisemitische Vor- Berlin. Vor allem der Kurs Helmut Kohls, nicht anders«, sagt Karina, »aber wie kann
fälle in Deutschland führt. das wiedervereinigte Deutschland fest in das normal sein?«
EU und Nato einzubinden, habe Juden Ihre Schule residiert im historischen Ge-
Dabei schien jüdisches Leben endlich dann ermutigt, sich hier zu engagieren. bäude der »Knabenschule der Jüdischen
wirklich heimisch geworden zu sein in der »Die Koffer kamen in den Keller, es ver- Gemeinde«, die 1942 von der Gestapo ge-
Bundesrepublik. Die Gemeinden wuchsen breitete sich das Gefühl: Wir sind ange- schlossen und mit dem benachbarten
mit Einwanderern aus der ehemaligen kommen.« Altenheim in ein Sammellager zur Depor-
Sowjetunion. In Berlin, Hamburg, Mün- Und jetzt? »Die Koffer sind noch im Kel- tation von Juden umgewandelt wurde.
chen und Düsseldorf öffneten jüdische ler, aber viele fragen sich nun: Wo genau Karina ist in Berlin geboren. Ihre Eltern
Schulen und Kindergärten, neue Synago- haben wir sie hingepackt, sind alle in kamen 1996 aus Odessa in der Ukraine,
gen wurden geweiht. Erstmals nach dem Schuss?«, sagt Königsberg. »Man ist wach- sie wollten, sagt Karina, »eine gute Zu-
Holocaust wurden 2006 in Deutschland sam und überlegt, was man tut. Die An- kunft für uns«. Ihre Familie sei nicht
wieder Rabbiner ordiniert. Noch vergan- tennen sind ausgefahren.« religiös, aber »das Judentum ist meine
genes Jahr sah Hannelore Kraft, als dama- War die neue Normalität nur eine Täu- Identität«. An ihrer Halskette trägt Karina
lige NRW-Ministerpräsidentin, eine »neu schung? Wurde nicht schon 2012 der Ber- einen Davidstern. »Ich zeige, dass ich

38 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Deutschland

jüdisch bin«, sagt sie. Sie habe sich sogar ich die Kippa lieber in der Tasche, bis ich seien schon als »jüdische Hunde« und
einen extra großen Davidstern gewünscht. dort bin.« In der U-Bahn vermeidet er es, »Drecksjuden« beschimpft worden. Zwei-
Viele rieten ihr, den Anhänger zu verber- Hebräisch zu sprechen, wenn er mit Kol- mal kam es zum Spielabbruch, gegen den
gen. »Ich will mich nicht verstecken«, sagt legen in Israel telefoniert. »Viele Juden Weddinger Verein Meteor 06 und den
Karina. Bloß wenn sie auf arabische Män- versuchen derzeit zu erspüren, was sich 1. FC Neukölln. »Ein Meteor-Spieler kam
ner treffe, »im Aufzug oder so«, dann ste- entwickelt, um im Fall der Fälle diesmal mit einer Eckfahne auf mich zu.« Spieler
cke sie ihn weg. rechtzeitig zu gehen.« von Neukölln hätten gedroht, die Messer
Neulich in einem Café, sie wartete mit Seine Schulzeit habe er als unbeschwert rauszuholen, Kaminski sagt, er habe ge-
ihren Freundinnen auf die Getränke, da erlebt. »Für mich war es ganz selbstver- hört: »Wir stechen euch ab.« Einige hätten
bemerkten sie ein paar türkischstämmige ständlich, in Deutschland aufzuwachsen.« propalästinensische T-Shirts unter den Tri-
Mädchen, die ihren Davidstern anstarrten. Nach jüdischem Kindergarten und Grund- kots getragen, davon eines mit einer Land-
»Sie glotzten voll drauf, gingen weg, lach- schule wechselte er auf ein öffentliches karte, auf der Israel mit den palästinensi-
ten, kamen wieder«, erzählt Karina. »Was Gymnasium in Grunewald, ein Drittel sei- schen Nationalfarben übermalt war. Die
ist?«, habe sie gefragt. Da seien die Mäd- ner Klassenkameraden war jüdisch. Viel- hätten sie auf dem Spielfeld gezeigt. Beiden
chen gegangen, eine habe ihr zugezischt: leicht habe es mal einen dummen Spruch Vereinen wurden damals vom Sportgericht
»Fette Juden mag man nirgendwo.« gegeben, »aber nichts Bedrohliches«. Punkte abgezogen, Meteor ausdrücklich
Karina versucht, das locker zu erzählen, Die Probleme für Kaminski begannen, wegen »rassistischer Verfehlungen«.
doch man spürt, dass es ihr nahegeht. Was als er 2015 die dritte Herren-Fußball- Kaminski arbeitet inzwischen viel in
hat man gegen sie, eine 15-jährige Schüle- mannschaft bei Makkabi Berlin mitgrün- Paris, da findet er die Situation für Juden
rin in schwarzen Nietenjeans und hellrosa dete. »Auf unserem Trikot ist der David- »noch kritischer« als in Deutschland. We-
T-Shirt mit zwei aufgedruckten Rosen, die stern, wenn wir auf den Platz laufen, gibt gen heftigem Antisemitismus in Frankreich,
gern singt und Deutschrap hört? es manchmal heftige Reaktionen.« Spieler Anschlägen und sogar Morden hätten sich
In Berlin sieht sie ihre Zukunft, und
doch hat sie das Gefühl, »egal, wie lange
ich hier bin, egal, wie gut mein Deutsch
ist«, dass Deutschland nie ganz zu ihrer
Heimat wird. »Sagen wir mal so: Ich bin
eine Jüdin mit ukrainischen Wurzeln zu
Gast in Deutschland.«
Viele hätten »noch nie einen Juden ge-
troffen«, sagt Karina, »ich möchte ihnen
gern von uns erzählen«. Deshalb besucht
sie ein Seminar des Zentralrats der Juden.
Jugendliche werden dort vorbereitet, als
Botschafter in Schulen zu gehen und über
das Judentum zu sprechen.

Der Antisemitismus in Deutschland ruht


auf einer dicken Schicht Ignoranz und Un-
wissen über das Judentum, hartnäckig hal-
ten sich Klischees und Vorurteile. In einer
aktuellen Allensbach-Umfrage sagte mehr
als ein Fünftel, Juden seien »geldgierig«
und »raffgierig«. Lehrer von 21 Berliner
Schulen berichteten schon 2016 in einer
Dokumentation des American Jewish
Committee (AJC) über antisemitische Ste-
reotype in den Klassen: »Die Juden« kon-
trollierten die Medien und die ganze Fi-
nanzwelt, »ich mag Juden nicht«, »der Hit-
ler hat leider nicht alle umgebracht«. Ein
Lehrer sagte, wenn man über das Juden-
tum sprechen wolle, gebe es gleich »eine
kleine Intifada im Klassenraum«.
Leonard Kaminski, gebürtiger Berliner,
arbeitet für den AJC, eine Lobbyorgani-
sation, die sich für jüdisches Leben und
Demokratie einsetzt. Das Berliner AJC-
Büro ist in der Nähe des Potsdamer Plat-
zes, es gibt kein Schild im Hauseingang,
aus Sicherheitsgründen.
Kaminski, 31, hellgrauer Businessanzug,
weißes Hemd, ist ein säkularer Jude, Kip-
pa trägt er nur zu besonderen Anlässen,
doch selbst das verkneift er sich jetzt.
»Wenn ich an Yom Kippur, unserem höchs-
ten Feiertag, zur Synagoge gehe, behalte AJC-Referent Kaminski: Heftige Reaktionen auf dem Fußballplatz

Fotos: PETER RIGAUD / DER SPIEGEL 39


Deutschland

schon Gemeinden aufgelöst. »Vor 15, 20 blieben sie vor dem Tor mit dem David- Ey, du bist jüdisch, wie toll, erzähl mal.
Jahren sah die Lage dort etwa so aus wie stern stehen und grölten: Schade, dass Aber es gibt eben auch die anderen, des-
heute in Deutschland. Der Fehler war, dass nicht alle Juden vergast worden sind«. halb würde ich nie mit Davidsternkette in
man damals nichts unternommen hat.« Kinder hätten sie als »Scheiß-Jüdin« die Innenstadt gehen.
beschimpft, mehrmals wechselte sie die Yaniv: Ich fühle mich sehr frei in
Im Oktober 2000 verübten zwei arabisch- Schule. Deutschland, aber nicht als Jude.
stämmige Jugendliche einen Brandan- Ihrem Sohn wollte sie solche Erfahrun- Michelle: Das hast du gut gesagt!
schlag auf die Synagoge in Düsseldorf. Die gen ersparen. Sie lebte inzwischen in Ham- Yaniv: Viele Leute denken, dass wir
Tat löste bundesweit Entsetzen aus, Bun- burg, und als dort 2007 die Jüdische Schu- reich sind und eine große Nase haben, das
deskanzler Gerhard Schröder rief zum le öffnete, war Golan eine der Ersten, die ist echt traurig.
»Aufstand der Anständigen«. Michael ihr Kind anmeldeten. Heute geht Yaniv, Michelle: Genau! Da heißt es dann: Du
Szentei-Heise, 63, war damals schon Ver- 14, in die neunte Klasse, seine Mutter ar- siehst aber gar nicht aus wie ein Jude!
waltungschef der Jüdischen Gemeinde. Ei- beitet im Schulsekretariat. Er trägt ein Aber wie sieht denn ein Jude aus?
nen der beiden Männer, die als Jugendliche T-Shirt des jüdischen Jugendklubs, »Cha- Seht ihr eure Zukunft in Deutschland?
die Molotowcocktails geworfen hatten, sak« steht da auf Hebräisch, das heißt Michelle: Ja, ich glaube, ich habe hier
sieht er heute noch ab und zu, er wohnt in stark. Er sitzt mit Michelle, 16, im Sekre- viele Möglichkeiten.
der Nähe. Er war zu einer Bewährungsstra- tariat, auch sie ist seit der ersten Klasse Yaniv: Ich eher nicht, ich möchte nach
fe verurteilt worden und musste Sozialstun- dabei. Sie trägt schwarze Jeans mit Rissen Israel gehen. Da kann ich machen, was ich
den auf dem jüdischen Friedhof ableisten. und weiße Turnschuhe. will als Jude. Da muss ich nicht mehr hö-
Man könnte Szentei-Heise als rheinische Frage: Seid ihr schon mal antisemitisch ren: Ey, Mann, ich hab noch nie einen Ju-
Frohnatur beschreiben, er versucht, vieles beleidigt worden? den gesehen! Als wäre ich ein Alien, der
mit Humor zu nehmen. Doch auch er sagt Yaniv: Ja, beim Fußball, da heißt es »Du vom Mars kommt!
nun: »Ich bin besorgt.« Bereits vergangenes Jude!« oder »Scheiß-Jude«. Neulich hat Die jüdische Schule ist dagegen eine »klei-
Jahr häuften sich Berichte in der Gemeinde ein Kumpel, von dem ich das nie gedacht ne heile Welt«, wie seine Mutter es nennt.
über antisemitische Schmähungen an Düs- hätte, gesagt: Ihr seid doch alle reich! Morgens beten alle gemeinsam, mittags gibt
seldorfer Schulen. Er hat aufgeschrieben, Michelle: Meine jüdischen Freunde, die es koscheres Essen. Heute ist »milchig«
was sich jüdische Kinder anhören müssen: auf öffentliche Schulen gehen, erleben da dran: Kaiserschmarrn. Nur zu den Mahlzei-
»Wieso gibt es keine Gaskammern mehr?« mehr. Sie versuchen zu verbergen, dass ten und zum Gebet müssen die Jungs eine
»Du hast voll die Judennase.« »Macht ihr sie jüdisch sind. Eine Freundin sagt an den Kippa tragen, die sie aus einer Box vor dem
das immer noch, dass ihr Kinder schlachtet jüdischen Feiertagen immer, sie sei krank. Speiseraum nehmen können. Freitags wird
und das Blut für die Mazza nehmt?« Fühlt ihr euch sicher und frei in Deutsch- die Eröffnung des Schabbat gefeiert. Alle
Das Erschrecken ist auch deshalb so land? lernen Hebräisch und jüdische Religion, an
groß, weil sich die Gemeinde mittendrin Michelle: Ich fühle mich frei, würde den jüdischen Feiertagen ist schulfrei.
fühlt im Leben der Stadt, sagt Szentei- aber nicht jedem erzählen, dass ich jüdisch »Wir sind ein Ort, an dem das Judentum
Heise, »wir sehen uns als integralen Be- bin. Es gibt zwar auch Leute, die sagen: ganz selbstverständlich gelebt wird«, sagt
standteil der Düsseldorfer Ge- die Schulleiterin Franziska von
sellschaft«. Dieses Jahr hat Maltzahn, 44, die selbst nicht
sich die Gemeinde sogar mit jüdisch ist. 170 Schüler hat die
einem Heinrich-Heine-Motto- Joseph-Carlebach-Schule. Et-
wagen am Karnevalsumzug be- was mehr als die Hälfte ist jü-
teiligt, es war seine Idee. Szen- disch, die Übrigen haben ande-
tei-Heise fuhr mit auf dem Wa- re Konfessionen. Es ist Teil des
gen, neben ihm ein Vertreter Konzepts, »Normalität im Mit-
der Muslime. »Es war unglaub- einander jüdischer und nicht jü-
lich«, schwärmt der Gemeinde- discher Kinder«, sagt Maltzahn.
chef, »eine große Sympathie Die Schule ist so gefragt, dass
kam da rüber.« Statt »Helau!« der Platz knapp wird, auf dem
riefen sie »Düsseldorf Scha- Hof stehen Container als Er-
lom!« und warfen 1,3 Tonnen satzklassenzimmer. Ein Neu-
koschere Kamelle, die Szentei- bau für 500 Kinder ist geplant.
Heise in Israel bestellt hatte. In der sechsten Stunde hat
»Nächstes Jahr sind wir wie- Yaniv Geschichte bei Oliver
der dabei«, sagt er, für ihn ist Thron, einem der vielen nicht
das »auch eine Antwort auf An- jüdischen Lehrer. Häufig, sagt
tisemitismus«. Seine Mutter Thron, werde er gefragt: Wie
starb 1991 in Düsseldorf, sie hat- kommst du an eine jüdische
te Auschwitz überlebt. Schule? Dann sagte er: Im Som-
mer mit dem Fahrrad. »Wir
Liat Golan kam 1979 mit ihren sind eine Schule für alle mit ei-
Eltern aus Israel nach Minden. nem multikulturellen, interreli-
»Ich war sechs. Als ich später giösen Kollegium.«
verstand, wo wir gelandet wa- Das Thema seines Wahl-
ren, im Land der Täter, war das pflichtkurses in der neunten
ein Schock«, sagt Golan, 45. Klasse: Nationalsozialismus. Am
Die Familie wohnte über Abend hat Yaniv mit seiner Mut-
der Synagoge, »nachts zogen Schulleiterin Maltzahn ter noch ein Familienfoto betrach-
Betrunkene vorbei, manchmal »Hier wird Judentum ganz selbstverständlich gelebt« tet: Alle darauf wurden ermordet,

40 Fotos: PETER RIGAUD / DER SPIEGEL


nur der Uropa überlebte. In seinem Referat
erzählt Yaniv dann, wie der Uropa 1941 in
Holland seine Zahntechnikpraxis dem Assis-
tenten überschrieb, als die Nazis das Land
besetzten. Dafür versteckte ihn der Assistent.
»Hätte mein Uropa das nicht gemacht, gäbe
es mich jetzt nicht«, sagt Yaniv.

Auf dem Platz neben der Schule stand


einst die große Bornplatz-Synagoge, die
die Nazis 1938 verwüsteten. »Talmud-
Tora-Realschule« hieß Yanivs Schule da-
mals, der Schriftzug ist noch immer über
dem Eingang zu lesen.
1932 wurde dort der kleine Loeb einge-
schult, Sohn des Tranhändlers Markus Bi-
stritzky. Er überlebte den Holocaust, seine
Eltern flohen mit ihm in die USA, doch
die Urgroßeltern wurden in Auschwitz er-
mordet. Auch der Hamburger Landesrab-
biner heißt Bistritzky – er ist Loebs Enkel.
Shlomo Bistritzky kam 2003 als »Scha-
liach«, als Gesandter der orthodoxen Ge-
meinschaft Chabad Lubawitsch nach Ham-
burg. 2015 wurde er eingebürgert. Olaf
Scholz, damals Erster Bürgermeister, nann-
te das »eine besondere Ehre für Hamburg«.
Bistritzky, 41, trägt den langen Bart ei-
nes frommen Juden und einen schwarzen
Anzug. Seit er im Amt ist, ist es ruhiger ge-
worden um die einst zerstrittene Gemein-
de, die Konflikte sind beigelegt. Die Wie-
dereröffnung der jüdischen Schule ist ein
Erfolg mitten im Grindelviertel, früher das
Herz jüdischen Lebens in Hamburg. Gera-
de hat das Rabbinerseminar, das Bistritzky
aufgebaut hat, die ersten sechs Rabbiner
in Hamburg seit dem Krieg ordiniert.
Aus dem Regal in seinem Wohnzimmer,
das vollgepackt ist mit schweren Bänden Landesrabbiner Bistritzky: »Besondere Ehre für Hamburg«
jüdischen Schrifttums, zieht Bistritzky ei-
nen Talmud-Kommentar, »verfasst vor
250 Jahren in Hamburg«, sagt er, einer eine Frau nicht mit einem fremden Mann seine Brille zerbrach. Viel mehr als die Kin-
Zeit, in der bedeutende Rabbiner in Ham- ins Stolpern kommt«, sagt er, »keine Ab- der, die ihm »Jude« oder »Jahudi« auf Ara-
burg lebten. Der Kommentar behandelt wertung des anderen Geschlechts.« Auch bisch hinterherriefen.
religiöse Streitfragen der Zeit, Bistritzky seine Frau Chani gibt keinem Mann die
liest eine vor: Eine Frau öffnet ein Hähn- Hand. Vor Terminen meldet sich seine Mit- Im Juni hat Florian in Berlin sein Abitur
chen und stellt fest, es hat kein Herz. Ist arbeiterin und erklärt die Dinge. bestanden. Er möchte studieren, Business-
es koscher? Ein Rabbi sagt: Jedes Huhn Man müsse das nicht verstehen, »aber Administration auf einem Berliner jüdi-
hat ein Herz, dieses muss die Katze gefres- kann man es nicht wenigstens respektie- schen College, »da habe ich kein Problem
sen haben, also ist es koscher. Der andere ren?«, fragt Bistritzky. Er spüre wachsen- mit Antisemitismus«. Und dann? »Dann
sagt: Hast du das Herz nicht gesehen, ist den Unmut vor allem in liberalen Kreisen. sag ich Tschüss.« Er will nach Israel gehen,
es nicht koscher. »Keiner sagt etwas, aber ich sehe es in den »weil ich das Land liebe«, aber auch weil
Die Gemeinde damals sei mehr der ers- Blicken.« Menschen, die früher freundlich er sich da sicherer fühle. Politisch sympa-
ten Auslegung gefolgt, sagt Bistritzky, der gewesen seien, gingen nun auf Abstand. thisiert er dort mit den Nationalreligiösen.
als aufgeschlossener Orthodoxer gilt. An- Offenbar hätten doch etliche ein Problem Deutschland, meint er, müsste mehr da-
ders als er ist der Großteil seiner Ge- damit, dass er ein frommer Jude sei, »dass für tun, die »geschichtlichen Bildungs-
meinde nicht religiös, nur rund 120 der das orthodoxe Judentum wächst«. lücken« von Migranten zu schließen. Und:
2400 Gemeindemitglieder kommen regel- Für ihn sei das auch Antisemitismus, »Es geht so viel um tote Juden, man müsste
mäßig in den Gottesdienst. Er selbst darf »wenn die Religion der Juden nicht ge- mal was für lebende Juden machen.«
am jüdischen Ruhetag kein Auto fahren, wünscht wird«. Bistritzky, ein freundlicher,
kein Licht anschalten, seinen Computer kontrollierter Mann, wirkt aufgewühlt. Er
nicht benutzen und auch das Handy nicht. fragt: »Ich bin seit 15 Jahren in Hamburg, Video
Imam trifft Rabbi
Einer Frau darf er nicht die Hand geben. aber bin ich integriert?« Das treibe ihn
»Das ist eine Grenze, eine symbolische Dis- mehr um als die Schneebälle, die ihn im spiegel.de/sp302018antisemitismus
tanz, die beide Seiten schützt, damit ein Winter vor drei bis vier Jahren aus einem oder in der App DER SPIEGEL
Mann nicht mit einer fremden Frau und Hinterhalt so hart im Gesicht trafen, dass

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 41


Deutschland

trieb überwacht, die Hecken schneidet.

Die Wasserschlacht Die 53-Jährige klingt müde. Den Rest müs-


sen Spenden einspielen, Events wie Open-
Air-Kino oder Beachvolleyballturniere,
vor allem aber: Freiwilligenarbeit. »Wir
Ferien Vielen Kommunen wird ihr Freibad zu teuer. quatschen jeden an, egal ob Badegast oder
Bundesweit versuchen Bürger, mit Fördervereinen Becken Schwimmkursvater«, sagt Fiene. »Unsere
und Liegewiesen zu retten. Pumpen sind über 40 Jahre alt. Immer
muss etwas geflickt werden.« Bis zu 2500
Arbeitsstunden investieren die Beveraner
ommer! Für Taina Kammritz heißt Bundesrepublik als Weltmeister im Sport- pro Jahr ehrenamtlich in ihr Freibad.
S das: Badezeug schnappen und in
den Wald radeln. Hier, im Freibad,
trifft sich ihre Clique seit der Grundschule.
stättenbau bewundert.
Die notwendigen Milliarden mussten
die Städte und Gemeinden damals nicht
An Sonntagen schwimmen und sonnen-
baden Tausende hier. Der Großteil der Be-
sucher stammt aus den umliegenden Ge-
»Unsere ganze Klasse verbrachte hier von allein berappen; rund 40 Prozent der Kos- meinden; das Freibad Bevern lockt mit
Juni bis August die Nachmittage und die ten übernahmen die Länder und der Bund. dem einzigen 50-Meter-Becken weit und
Ferien«, sagt die 26-Jährige aus Gemün- Die Versorgung der Bürger mit Sport- und breit. Bürgermeister Stock findet, dass grö-
den im Hunsrück. Als Jugendliche seien Badestätten, befand Bundeskanzler Kon- ßere Gemeinden als seine 6000-Einwoh-
sie nachts heimlich aufs Gelände geschli- rad Adenauer (CDU), sei »billiger, als sie ner-Kommune die bei Sportschwimmern
chen, zum Mondscheinbaden und Knut- nachher wieder gesund zu machen, wenn beliebten Becken betreiben müssten, als
schen. sie einmal krank geworden sind«. Pflichtleistung, genau wie Kitas oder Klär-
Heute kämpft Kammritz als Vorsitzen- Und heute? »Das Betreiben eines anlagen. »Freibäder haben im Ländlichen
de des »Fördervereins Freibad Gemün- Schwimmbads ist rechtlich gesehen im Ge- auf Dauer keine Zukunft«, sagt Stock.
den« für den Erhalt der Anlage. Als Lo- gensatz zu Feuerwehr oder Schule eine Und das hat auch sportliche Folgen –
kalpolitiker diese im Herbst 2015 schließen freiwillige Leistung«, sagt Harald Stock, Deutschland wird allmählich zur Nicht-
wollten, versammelten sich Hunderte Ge- Bürgermeister der Samtgemeinde Bevern schwimmernation. Mindestens die Hälfte
mündener – Kinder, Eltern, Großeltern – in Niedersachsen. »Wenn Gemeinden kei- aller Zehnjährigen kann nicht sicher
mit Protestplakaten zur Demo. »Jedes ne Haushaltsüberschüsse erzielen, müssen schwimmen, wie eine Forsa-Umfrage von
Ratsmitglied musste auf dem Weg ins Rat- sie zwingend zuerst ihre Pflichtleistungen 2017 zeigt. Zwar hatten nach Elternanga-
haus an ihnen vorbei«, sagt Kammritz und bedienen.« Für marode Schwimmbecken ben drei Viertel der Kinder das »Seepferd-
strahlt. Der Aufstand hatte Erfolg; die fehlt dann schnell das Geld. chen«-Abzeichen. Das aber beweist nur,
Kommune beschloss, das Freibad weiter Erst im Dezember hat Stocks defizitäre dass die Kleinen sich 25 Meter lang über
zu betreiben, im Notmodus. Kommune den Zuschuss für das beliebte Wasser halten können, in einer Gefahren-
Dann streikte in diesem Januar die Hei- Freibad in Bevern um ein Viertel gekürzt. situation reicht das nicht aus.
zungsanlage, wieder stand das 1974 gebaute Den Betrieb hat längst ein Bürgerver- In Bevern macht sich Annegret Fiene,
Bad vor dem Aus. Ein neuer Kessel war ein übernommen. Die Ehrenamtlichen um eine ausgebildete Rettungsschwimmerin,
dem Ort zu teuer. »Wir haben die Presse Annegret Fiene müssen rund 60 000 Euro schon heute oft Sorgen. »Da springen
alarmiert«, sagt Kammritz, »und die Be- im Jahr selbst erwirtschaften. Teenager vom Dreimeterbrett – und schaf-
triebe in der Gegend angeschrieben: Helft Nur drei Viertel der Einnahmen kämen fen es gerade noch, zum Beckenrand zu
mit!« Mehr als 40 000 Euro kamen zusam- durch Eintrittsgelder zusammen, sagt Fie- paddeln«, sagt sie.
men, die Heizung wurde repariert. Fürs Ers- ne, die im Freibad kassiert, den Badebe- Rund ein Viertel aller Grundschulen hat
te können die Gemündener weiter im Wald keinen Zugang zu einem Schwimmbad;
schwimmen, auch wenn unsicher bleibt, ob sogar im finanzkräftigen Bayern mangelt
sich ihre Verbandsgemeinde die Betriebs- es an Becken. Die Gemeinde Eching ist
kosten von mindestens 100 000 Euro pro zwar an das Münchner S-Bahn-Netz an-
Saison auf Dauer noch leisten kann. geschlossen, die 440 Schüler der dortigen
Freibäder sind so beliebt wie teuer. Weil Grund- und Mittelschule bekommen trotz-
die – ohnehin meist schon hohen – Ein- dem keinen Schwimmunterricht. Keines
trittsgelder im Schnitt nur 27 Prozent der der umliegenden Schwimmbäder hat freie
Kosten finanzieren, müssen klamme Kom- Kapazitäten für sie.
munen viele Anlagen schließen. 6700 Hal- Für den Echinger Rektor Gerhard Röck,
len- und Freibäder gab es zur Jahrtausend- 57, ein unhaltbarer Zustand: »Wer sich im
wende in Deutschland, mehr als jedes vier- Wasser auf den Rücken legen und sich
te ist heute nicht mehr in Betrieb. Akut allein mit der Atmung stabilisieren kann,
droht laut Deutscher Lebens-Rettungs-Ge- ist nicht nur vor Ertrinken gefeit«, so Röck,
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO / DER SPIEGEL

sellschaft (DLRG) 105 Bädern die Schlie- »sondern gewinnt auch Vertrauen in seine
ßung. Ein Drama für den Sport – und für Kraft.« Auf Klassenfahrten sei er oft an
viele Kinder in den Sommerferien. Zahl- die Isar gefahren und habe die Jugendli-
lose Becken und Liegewiesen sind nur des- chen in die Strudel springen lassen, damit
halb noch geöffnet, weil Fördervereine wie sie die Gewalt des Wassers erlebten. »Wir
in Gemünden Spenden und ehrenamtliche werden auch in Deutschland immer mehr
Helfer organisieren. mit dieser Gewalt konfrontiert«, gibt Röck
Es war der »Goldene Plan« der Deut- mit Blick auf die jüngsten Überschwem-
schen Olympischen Gesellschaft, der von mungskatastrophen zu bedenken: »Da er-
1960 bis 1975 für einen Bauboom sorgte,
quer durchs Land entstanden neue Aktivistin Kammritz (r.)* * Mit Vereinsvorstand Elke Roos auf einer Beachparty
Schwimmbäder, im Ausland wurde die »Helft mit!« in Gemünden.

42
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO / DER SPIEGEL
Schwimmbadbesucher in Gemünden: Protest gegen die Schließung

trinken Kinder oder werden wiederbelebt Zeit in der Schule, da lohne die Öffnung nicht mehr, die Einsparungen der Kommu-
und dann zu neurologischen Pflegefällen, des Freibads nicht mehr. An dieses Argu- ne bei den Zuschüssen wettzumachen.«
nur weil sie nicht schwimmen können.« ment erinnert sich jedenfalls Norbert Wall- Die Selbstausbeutung soll ein Ende haben;
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerin- rafen, 62. Um die Schließung zu verhin- 2020 will der Verein aufgeben.
nenverband, die DLRG und der Deutsche dern, hatte Wallrafen sich mit Klappstuhl In Gemünden im Hunsrück trotzte am
Städte- und Gemeindebund (DStGB) sind und Gartentisch vor die Kirche gesetzt und vergangenen Samstag eine Beachparty
sich einig: Deutschland braucht einen neu- Unterschriften gesammelt. 6000 Bürger dem Niedergang, Motto: »Geminne goes
en Goldenen Plan, eine gemeinsame Kraft- unterschrieben, andere unterstützten die Malle«. Ballermannbrüller beschallten die
anstrengung zur Sanierung seiner in die Petition online. Genützt hat es nichts. friedliche Waldlichtung; Sangria wurde im
Jahre gekommenen Bäder. »Ohne zusätz- »Es fehlt etwas im Ort«, sagt Wallrafen, Eimer mit Strohhalmen gereicht.
liche Milliarden von Bund und Ländern »Oberbruch ist jetzt nur noch Brennpunkt.« Um den Hals von Taina Kammritz, der
wird dieses Vorhaben nicht gelingen«, sagt Früher ermöglichte der sozial schwache Be- jungen Chefin des Fördervereins, baumeln
Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer zirk, in dem das Bad liegt, seinen Einwoh- Girlanden. Diesmal haben sie es geschafft.
des DStGB. »In der im Koalitionsvertrag nern wenigstens den Sommerurlaub vor Sicher gerettet sei das Freibad aber nicht.
beschlossenen Kommission ›Gleichwertige Ort. »Das Freibad war der einzige günstige Neulich erst wurde ein Leck im Becken
Lebensverhältnisse‹ in ganz Deutschland Freizeitvertreib für die Jugendlichen«, sagt identifiziert. »Dass wir die Stelle gefunden
müssen gerade solche wichtigen Standort- Wallrafen, der selbst seine Kindheits- haben, ist gut«, sagt Kammritz. »Ob wir
fragen, wie es auch eine flächendeckende sommer hier verbracht hat. Jetzt treibt die Ausbesserung bezahlen können, wis-
Versorgung mit Schwimmbädern ist, vo- Laub im trüben Beckenwasser. sen wir nicht.«
rangetrieben werden.« Ob die besonders häufig in Nordrhein- Annette Bruhns, Miriam Olbrisch
Solange die Politik dieses Projekt nicht Westfalen gegründeten Bürgerbäder oder
in Angriff nimmt, werden jedes Jahr wei- ob Schwimmbad-Genossenschaften das
tere Bäder ihre Drehkreuze feststellen Freibadsterben stoppen können, ist frag- Video
Ein Stück Mallorca
müssen. In Heinsberg in Nordrhein-West- lich. »Uns reicht’s«, sagt Ernst Walter Siep- in Gemünden
falen schlossen Lokalpolitiker vor drei mann, 69, Vorsitzender des Trägervereins spiegel.de/sp302018freibad
Jahren das Freibad Oberbruch mit dem Schwelmebad, der das Freibad der Ruhr- oder in der App DER SPIEGEL
Hinweis, die Kinder verbrächten so viel stadt Schwelm betreibt. »Wir schaffen es

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 43


Gesellschaft
Erfrieren ist ein schleichender Tod. Das Ende spürt man kaum. ‣ S. 46

*AB FAL L N ET TOAUF KO MME N ; Q UE L L E : STAT I ST I SC H E S B UN DE SAMT


des ukts Früher war alles schlechter
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Quotienten sind tröstlich, weil sie immer etwas ins Verhältnis (relativ) weniger Dreck. Das wäre zwar auch der Fall, wenn jeder
setzen. Natürlich ahnen die Deutschen, das Volk der Sammler seinen Müll im Vorgarten vergraben oder in die Ostsee kippen
und Trenner, dass es bei der Vermeidung von Müll nicht gut um würde, aber nein: Die Statistiker stellen gesamtwirtschaftlich
sie steht. Kein anderes Land in Europa verbraucht so viel Kunst- eine »Entkoppelung des Abfallaufkommens von der Wirt-
stoffverpackungen. Aber muss man nicht das große Ganze im schaftsleistung« fest. Das liegt vor allem an der Bauwirtschaft.
Blick haben? Die »Abfallintensität« jedenfalls sinkt in Deutsch- Abbruch- und Bauabfälle werden vermehrt geschreddert und
land. Das ist der Quotient von Abfallaufkommen und Brutto- recycelt. Doch auch bei Siedlungsabfällen scheint der Gipfel
inlandsprodukt (BIP), das Verhältnis also zwischen dem, was der hinter uns zu liegen. Seit Sommer 2002 sinkt die Restmüllmenge
Warenwelt an Wert hinzugefügt wird, und dem, was dabei, lei- pro Kopf. Wer will, kann das der damaligen rot-grünen Bundes-
der, leider, an Kollateralschaden anfällt. Seit mehr als 20 Jahren regierung zuschreiben. Oder dem Einknicken der Ökonomie
nimmt sie ab, die Abfallintensität, gemessen in Kilogramm je nach dem 11. September 2001. Oder einfach der guten alten
1000 Euro. Die Wirtschaft produziert mehr, macht dabei jedoch deutschen Disziplin. alexander.smoltczyk@spiegel.de

Genuss Spekulanten haben Angst, erwischt zu


Wird Vanilleeis zum Luxusgut, Signor Ballabeni? werden.
SPIEGEL: Was verkaufen Sie in der Zwi-
Giorgio Ballabeni, 59, Inhaber der SPIEGEL: Die Ernten auf Madagaskar, schenzeit?
gleichnamigen Eisdielenkette in München, dem Hauptanbauort, fallen seit Jahren Ballabeni: Wir mischen Vanille mit Tonka-
über die Vanillekrise mager aus. bohnen, Hälfte-Hälfte. Ein Kilo Tonkaboh-
Ballabeni: Ich vermute, die aktuelle Krise nen kostet 150 Euro. Mahlt man sie richtig,
SPIEGEL: Wie viel Eis haben Sie am hat mehr mit Spekulanten zu tun als mit schmecken sie wie Vanille. Fast! Viele Kun-
vergangenen Wochenende verkauft? dem Wetter. Ein paar Leute kaufen ton- den merken keinen Unterschied. Ich schon.
Ballabeni: Das Wetter war bedeckt, das nenweise Vanille und horten sie. Einen SPIEGEL: Das ist Etikettenschwindel.
senkt den Umsatz. Andererseits war Abnehmer finden sie immer, Vanille ist Ballabeni: Der Preis ist bei uns derselbe
Straßenfest, das gleicht die Wolken aus. auch in der Parfümerie gefragt. Ich bin wie beim puren Vanilleeis, 1,60 Euro die
Wir haben sechs Läden – insgesamt etwa seit 15 Jahren im Geschäft und habe Kugel. Aber natürlich schreiben
anderthalb Tonnen. etwas Ähnliches mit der Kokos- wir »Vanille-Tonka« drauf. Die-
SPIEGEL: Wie viel davon war Vanille- milch erlebt. Da ging der Preis se Mischung macht zehn Pro-
eis? auf einmal steil nach oben, an- zent unseres Umsatzes aus.
Ballabeni: Reines Vanilleeis verkaufen geblich waren zerstörte Felder Ein bisschen Vanille kommt
wir nicht mehr. Das können wir uns schuld. Im Jahr darauf ging auch in die Haselnuss-, Scho-
gerade nicht leisten. 675 Euro pro Kilo der Preis wie magisch runter. ko- und Pistaziensorten rein.
FACE TO FACE

Vanilleschoten im Großhandel, das ist Deswegen hoffe ich, dass der Pure Vanille. Sie rundet den
teurer als Silber! Vor drei Jahren kostete Spuk auch bei Vanille spätestens Geschmack ab. Ach, sie macht
ein Kilo noch 200 Euro. in einem Jahr vorbei sein wird. den Unterschied! NES

44 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


laut Islamgelehrten für Männer zwölf Jahre und für Mädchen
Eine Meldung und ihre Geschichte
neun Jahre.« Ab diesem Büluğ-Alter trage man volle Verant-
wortung in juristischer, sexueller und religiöser Hinsicht. Man

Liebes Brautpaar … könne also heiraten, auch ohne Zustimmung der Eltern.
Diese Erläuterung löste eine Protestwelle aus, auch das
gehört zur Türkei im Jahr 2018, es gibt in diesem Land noch
Frauenverbände und Oppositionspolitiker. Die Religions-
Warum ein Hochzeitsfotograf in der Türkei verwalter sahen sich gezwungen, das Lexikon von ihrer
seine Arbeit einstellte Internetseite zu entfernen. Sie bekannten sich, mit Gottes
und dem Bräutigam die Nase brach Hilfe, zur türkischen Verfassung. Es war eine vorübergehende
Aufregung. Für Kinder, die in der Türkei verheiratet werden,
blieb sie ohne Folgen. Die Hunde bellen, die Karawane zieht
nur Albayrak ist ein Mann mit einem gemütlichen Bart, weiter, sagt ein türkisches Sprichwort.
O einem Pferdeschwanz und achtsamem Blick. Eine Er-
scheinung, die Wärme ausstrahlt und Ruhe. Er verdient
sein Geld als Hochzeitsfotograf. Er ist seit 17 Jahren im Ge-
Nachdem der Bräutigam im Turgut-Özal-Park seine Ansage
beendet hat, legt der Hochzeitsfotograf Onur Albayrak seine
Kamera ab, richtet sich auf, verpasst dem Bräutigam einen
schäft. Man vertraut ihm die besonderen Augenblicke des Kopfstoß und bricht ihm dabei die Nase. Picknickende Familien
Lebens an. und Albayraks Kollegen gehen dazwischen, man räumt den
An einem Morgen Anfang Juli blickt Onur Albayrak in Hochzeitsfotografen in ein Auto, das Auto verlässt den Park.
zwei Brautaugen voller Angst. Es ist kurz nach zehn Uhr Über Nacht wird Albayrak zum Helden: endlich einer, der
im Turgut-Özal-Naturpark östlich der anatolischen Stadt etwas unternimmt. Ein Frauenverein aus Van, einer Stadt
Malatya, 30 Grad im Schatten, für Albayrak das erste Shoo- weiter östlich in Anatolien, schickt ihm eine rührend gestal-
ting des Tages. Im Gras frühstücken Familien, ein paar Bäume tete Dankesurkunde, in Kirschrot. Jeder spürbare Einsatz im
weiter fotografieren Kollegen andere Brautpaare. Der Park Kampf gegen die Kinderehe zählt. Dabei kann Albayrak die
ist eine beliebte Kulisse, mit Vögeln und Pferdekutschen. Hochzeit des 15-jährigen Mädchens nicht verhindern. Die
Es könnte losgehen, aber diese Ehe wird geschlossen, nur ohne Bil-
Braut gefällt Albayrak nicht. Sie zit- der aus dem Turgut-Özal-Park.
tert. Sie ist klein und schmächtig wie »Wenn es wieder dazu käme, würde
ein Kind. ich es noch mal tun«, schreibt Albay-
»Wie alt sind Sie, bitte?«, fragt der rak zwei Tage danach auf Facebook.
Fotograf. »Kinderehe ist in meinen Augen Kin-
»15«, sagt die Braut. »Nein, 16.« desmissbrauch. Keine Kraft kann
Albayrak, so hat er diese Szene in mich dazu bringen, dieses Kind im
zahlreichen Interviews in türkischen Brautkleid abzulichten. Man setzt ei-
Medien geschildert, dreht sich darauf- nem Kind keinen Schleier auf, höchs-
hin zum Bräutigam und sagt: »Ich tens einen Kranz aus Feldblumen.«
fotografiere keine Kinderbräute. Aus Eine Weile müssen Albayraks Freun-
Prinzip. Wenden Sie sich an einen de vor seinem Atelier Wache halten,
anderen Fotografen.« Albayrak um möglichen Angriffen vorzubeugen.
Der Bräutigam wird ungemütlich. Vor allem aber bekommt er Zuspruch.
Nimm dein Geld, sagt er, mach deine Von Anwälten, die ihn unterstützen
Arbeit, rede nicht so viel. Nein, wie- wollen, sollte ihn der Bräutigam anzei-
derholt der Fotograf, Sie haben mich gen. Von Frauen im Alter seiner Mut-
nicht verstanden, ich mache es aus ter, die seine Hand küssen möchten.
Prinzip nicht. Der Bräutigam versteht Von der Website Hurriyetdailynews.com Von Inhabern von Hochzeitssälen, die
tatsächlich nicht. Er packt den Foto- ihre Locations nicht mehr für Kinder-
grafen am Kragen. Was dann passiert, beschäftigt bis heute hochzeiten vermieten. »Ich habe das wahre Foto dieses Landes
die sozialen Netzwerke in der Türkei. geschossen«, schreibt Albayrak, das Netz antwortet ihm: »Ech-
In der Republik Türkei, der Verfassung nach ein laizisti- ter Mann!« – »Ein Bürger mit Gewissen biegt zurecht, was der
scher Staat, werden 15 Prozent der Mädchen vor ihrem Staat verbockt hat!« – »Sollte er angezeigt werden, dann bitte
18. Lebensjahr vermählt. Das sagt eine Statistik der Vereinten nicht dafür, dass er dem Typen die Nase gebrochen hat, sondern
Nationen. Ein Prozent sogar vor ihrem 15. Geburtstag. dafür, dass er dem den Schädel nicht eingeschlagen hat.«
Es handelt sich dabei um religiöse Ehen. Standesamtlich Onur Albayrak ruft noch die türkischen Schneider dazu
darf man in der Türkei erst mit 18 Jahren heiraten. Prediger, auf, keine Brautkleider mehr an Minderjährige zu verkaufen.
die Kinderehen schließen, sind keine geheim agierenden Fa- Friseure sollen keine Kinderbräute mehr zurechtmachen, Dru-
natiker, sondern vom Staat bezahlte und kontrollierte Imame. ckereien keine Einladungen zu Kinderhochzeiten mehr dru-
Die Religionsbehörde Diyanet beschäftigt mehr als 100 000 cken. »Ignoranz ist unser größter Feind«, schreibt Albayrak.
Angestellte, mit einem Etat von einer Milliarde Euro. Das ist »Ein Feind, der eigentlich zu groß ist, um ihn zu bekämpfen.«
mehr, als der Bundesnachrichtendienst zur Verfügung hat. Und dann, nach einer Woche, verstummt Onur Albayrak.
Im Januar veröffentlichte diese Religionsbehörde ein Lexi- Er löscht von seiner Facebook-Seite alle Beiträge, die mit
kon der für sie relevanten Begriffe. Einer davon lautet »Büluğ«, dem Zwischenfall zu tun haben. Er gibt keine Interviews
ein osmanisches Wort für Geschlechtsreife. Man muss solche mehr, seinen Assistenten im Atelier lässt er ausrichten, er
Wörter den Bürgern der Republik Türkei heutzutage erläutern, wolle »mit der Sache« nichts mehr zu tun haben. Er komme
denn die wenigsten, auch die frommen, verstehen Osmanisch. vor lauter Aktivismus nicht mehr zum Arbeiten. Inzwischen
Im amtlichen Religionslexikon hieß es: »Das Alter, mit dem ist Onur Albayrak von der Polizei vernommen worden. Es
die Untergrenze für Geschlechtsreife erreicht wird, beträgt sieht so aus, als schlage da jemand zurück. Timofey Neshitov

45
Gesellschaft

Scheiße, wir sterben


Unglücke Zehn Bergsteiger, darunter ein Bergführer, brechen zu einer berühmten Tour auf, der
»Haute Route« quer durch die Alpen. Der Wetterbericht sagt für den vierten Tag schwere
Schneestürme voraus. Sie gehen dennoch weiter. Von Hilmar Schmundt und Samiha Shafy

Tourteilnehmer auf der »Haute Route« am 29. April


Sie suchen einen Weg zur Hütte, aber da ist kein Weg

46
m frühen Morgen des 29. April Was Lisa Hagen und ihre Bergsteiger- Mit einem Kleinbus und einem Auto

A 2018, einem Sonntag, erwacht


Lisa Hagen in einer Berghütte auf
2928 Metern, es ist fünf Uhr, sie
hat schlecht geschlafen. Sie denkt an das
gruppe in den Tagen vom 25. bis 30. April
erleben, lässt sich rekonstruieren aus
Gesprächen mit ihr und zwei anderen, die
dabei waren, aus Berichten von Augenzeu-
fuhren sie nach Chamonix. Gegen 17 Uhr
erreichten sie ihr Hotel, sie versammelten
sich in einem überdachten Innenhof, wo
ihnen der Bergführer die Ausrüstung für
Wetter. gen und den Erkenntnissen der ermitteln- die Haute Route vorführte: Ski, Stöcke,
Sie läuft vom Bettenlager, das sie sich den Behörden. Lisa Hagen heißt in Wirk- Steigfelle, Helm, Skibrille, Stirnlampe mit
mit drei anderen Frauen und vier Männern lichkeit anders, sie hat lange gezögert, bis Ersatzbatterien, Handschuhe, eine Ther-
aus ihrer Gruppe teilt, in den Gastraum sie bereit war, über ihre Erlebnisse zu spre- moskanne, eine Reiseapotheke und einen
der Hütte, wo es ein iPad gibt. Sie schaut chen – unter der Bedingung, dass ihre Hüttenschlafsack. Außerdem, für den Fall,
aus dem Fenster, das Tal ist noch dunkel, Identität geschützt wird. dass jemand von einer Lawine verschüttet
die Gipfel leuchten milchig im ersten Mor- würde: Funksonde, Schaufel, Stöcke. Für
genlicht. Von Süden her ziehen Wolken Sie war etwas nervös, als sie am 25. April Steilstücke: Klettergurt und Seil, Steig-
wie dunkle Finger über den Alpenkamm. auf einem Parkplatz in der Nähe von Mai- eisen, ein Eispickel. Wem etwas davon fehle,
Lisa liest auf dem iPad die Seite mit dem land ankam. Sie kannte keinen der sieben sagte Mario Castiglioni, der könne es jetzt
Wetterbericht. Eine Kaltfront strömt vom Leute, mit denen sie von hier aus auf die noch besorgen.
Atlantik heran und verdrängt die warme Haute Route gehen würde. Ein Mann und Es sprach vieles dafür, dass der Bergfüh-
Mittelmeerluft. Zu erwarten sind Schnee- drei Frauen waren schon da, Lisas Blick rer einen problemlosen Aufstieg erwartete.
fall und Sturmböen von über hundert blieb an einer der Frauen hängen, die Bril- Er verzichtete bei seinem Briefing auf Ge-
Stundenkilometern. Die Nullgradgrenze lanten an den Fingern trug und kräftig ge- genstände, die helfen können, wenn es ge-
sinkt von über 3000 Metern auf unter schminkt war. Die Frau stellte sich vor: fährlich wird. Eine Sturmhaube etwa, die
2000 Meter. Francesca aus Parma, 42 Jahre alt, Haus- den Kopf vor Auskühlung schützt; einen
Nach und nach kommen die anderen in frau und Mutter dreier Kinder. Biwaksack aus Kunststoff, in dem man zur
den Gastraum, sie wollen früh aufbrechen, Die anderen kamen aus Bozen in Süd- Not übernachten kann; oder einen kleinen
Tag vier einer gemeinsamen Bergtour, ein tirol: das Ehepaar Gabriella und Marcello, Notfallsender (»Beacon«), der selbst in
Tag mit einer schwierigen Etappe. Ihr Berg- 52 und 53 Jahre alt, er war Steuerberater, Funklöchern per Satellit ein Notsignal mit
führer und seine Frau waren als Erste auf- sie arbeitete in einer Personalabteilung. Ortsangabe absetzen kann. Aber solche
gestanden, auch er hatte sofort in das iPad Sie waren mit ihrer Freundin Betti ange- Sachen sind teuer und schwer.
geschaut, wegen der Wetterprognose. Er reist, einer 44-jährigen Lehrerin. Betti freu- Zehn Bergsteiger sind eine große Grup-
steht da und sagt nicht viel, er muss ent- te sich so sehr auf diese Tour, dass sie eine pe – und daher langsam. Dafür setzte Ma-
scheiden, ob die Gruppe die Tour fortset- Torte gebacken hatte, die sie, neben ihrem rio Castiglioni auf leichtes Gepäck. Für den
zen kann oder nicht. Wir frühstücken jetzt Trekkingrucksack und den Ski, in einer Notfall hatte er ein Satellitentelefon dabei.
erst mal, sagt er. Auf den Tischen stehen Pappschachtel mit sich herumtrug. Wie Lisa Hagen hatte auch Tommaso
Brot, Butter, Marmelade, Tee und Kaffee. Luciano, ein Schweizer, tauchte auf: Piccioli, der Italiener mit dem schweren
Er isst etwas, dann öffnet er noch mal den 72 Jahre alt und körperlich fit, einer, der Körper, viele Jahre lang von der Haute
Wetterbericht. Wir warten ab, sagt er dann, Ski- und Klettertouren auf verschiedenen Route geträumt. Er ist in Rimini aufgewach-
wir warten, wie sich das Wetter entwickelt. Kontinenten erlebt hatte. Da war Andrea, sen, aber die Strände interessierten ihn we-
ein 45-jähriger Krankenpfleger aus Como; niger als die Dolomiten, wo seine Eltern
Lisa Hagen, blond, mittelgroß, athletisch, er erzählte, dass er den Platz eines ande- ein Ferienhaus hatten. Er hatte mal in ei-
47 Jahre alt, ist in München zur Welt ge- ren Italieners eingenommen habe, der nem Architekturbüro in Hamburg gearbei-
kommen, die Berge waren ihr immer nah. kurzfristig abgesagt hatte. tet und dabei sein Leben so organisiert,
Ihre Eltern waren Skifahrer, die Großeltern Schließlich parkte Tommaso Piccioli, dass er möglichst viel Zeit in der Höhe ver-
wohnten in einem bayerischen Skigebiet. ein großer, schwerer Mann, 49 Jahre alt, bringen konnte. Mit seiner Frau, einer
Sie konnte schon als kleines Kind Ski fahren. seinen alten Subaru und kam heran, ohne Australierin, pendelte er zwischen Sydney,
Mit Mitte dreißig traf sie einen Mann, sich vorzustellen. Er gehörte zur Freun- Mailand und dem Ferienhaus im Südtirol.
der die Berge liebte wie sie. Sie unternah- desgruppe um die Tortenbäckerin Betti, er Dort, im italienischen Alpenverein, hatte
men Touren, die immer höher hinaus gin- wirkte auf Lisa weniger nahbar als die an- er sich mit Betti angefreundet und beschlos-
gen, sie fanden einen Bergführer, dem sie deren. Dann blickte sie in ein Gesicht, das sen, gemeinsam mit ihr die Haute Route
vertrauten. Der Mann, den sie liebte, starb sie kannte: Der Bergführer begrüßte die zu begehen. Er hatte Respekt vor dieser
bei einem Autounfall. Von da an zog sie Gruppe, Mario Castiglioni, 58, ein Italie- Strecke, es war das erste Mal, dass er mit
allein in die Berge. ner mit tiefen Falten im Gesicht, es war einem Bergführer unterwegs war.
In den letzten Monaten hatte sie noch derselbe Bergführer, der Lisa und ihren in- Tommaso wunderte sich, dass der Berg-
härter trainiert als sonst, sie wollte sich zwischen verstorbenen Lebensgefährten führer bei seinem Briefing kein GPS-Gerät
einen Traum erfüllen und die »Haute zuvor schon oft nach oben gebracht hatte. vorführte. Aber er dachte nicht weiter da-
Route« begehen, den »Hohen Weg«. Eine Lisa kannte auch seine Frau, die neben rüber nach, er hatte sein eigenes GPS da-
Woche auf Ski und Steigeisen. ihm stand, Kalina Damyanova aus Bulga- bei, wie immer, damit er sich jederzeit wür-
Britische Gentlemen erkundeten die rien, 52. Sie war oft dabei, wenn ihr Mann de orientieren können.
Haute Route vor rund 150 Jahren als Som- eine Gruppe anführte, auch sie war eine Die ersten Tage waren so, wie es die Bil-
merstrecke, 1911 gelang die erste winter- erfahrene Bergsteigerin. der im Katalog versprachen; Bilder, mit
liche Begehung. Wie ein Pilgerweg verbin- Mario Castiglioni hatte eine international denen auch der Bergführer Mario Casti-
det sie das französische Chamonix im Wes- anerkannte Ausbildung zum Bergführer, glioni in seinem Büro für die Haute Route
ten, im Schatten des Mont Blanc, des seine Frau nicht. Er redete nicht viel, sie warb. Blauer Himmel, weißer Schnee,
höchsten Bergs der Alpen, und das schwei- sprach fünf Sprachen. Gemeinsam führten Abfahrten ins Tal und Aufstiege bis auf
zerische Zermatt im Osten, überragt vom sie die Firma MLG Mountain Guide in 2459 Meter. Am Freitag, Tag zwei, las
hysterisch aufgereckten Matterhorn, des- Chiasso. Im Schaufenster ihren Ladens wa- Tommaso Piccioli den Wetterbericht: Der
sen erste Begehung 1865 vier von sieben ren Bilder von Bergtouren ausgestellt, tibe- Föhn, der die schönen Sonnenstunden
Alpinisten nicht überlebt haben. tische Gebetsfahnen und ein Mountainbike. brachte, würde voraussichtlich am Sonn-

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 47


tagnachmittag zusammenbrechen. Die
Temperatur würde abstürzen, ein Sturm
aufziehen. Aber der Sonntag war weit weg.
Am Samstag, Tag drei, führte der Weg
17 Kilometer weit über steiles Gelände bis
zur nächsten Hütte. Einmal verlor Tom-
maso dabei das Gleichgewicht und stürzte
ins Seil, vier oder fünf Meter tief, aber er
blieb unverletzt.
Zum Abendessen gab es Gemüsesuppe

HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL


und Nudeln mit Hackfleisch. Tommaso aß
einen großen Teller Suppe und drei Por-
tionen Nudeln. Er erhöhte damit, ohne es
zu ahnen, seine Überlebenschancen in den
nächsten 36 Stunden. Gegen 21 Uhr legte
er sich hin. Er lag lange wach, und irgend-
wann nahm er eine Schlaftablette.

Während sie beim Frühstück sitzen und Berghütte Cabane des Vignettes: Die letzten 400 Meter
auf die Entscheidung ihres Bergführers
warten, füllt sich der Speiseraum. Die rüber zur Cabane des Vignettes. Zur Not Gaspoz ist Ende vierzig und von Beruf
meisten der rund 60 anderen Gäste wer- übernachten wir auf dem Fußboden. Bergretter, er arbeitet bei der Hubschrau-
den wegen der Wetterprognose beschlie- Dass sich die anderen Gäste anders ent- berfirma Air-Glaciers. Er checkt seine Wet-
ßen, ihren Aufstieg an diesem Tag nicht scheiden, heißt nicht, dass der Plan des ter-Apps und stellt sich darauf ein, dass er
fortzusetzen. Tommaso Piccioli kommt Bergführers falsch sein muss. Der Alpinis- bald Arbeit bekommen wird.
mit einem Franzosen ins Gespräch, der mus kennt wenige starre Regeln, das Der Aufstieg zum Pigne d’Arolla ist
sagt: Das Wetter wird gefährlich. macht seine Schönheit aus und seinen nicht anspruchsvoll, nur lang. Nach viel-
Mario Castiglioni sieht das anders. Er Schrecken. Bergsteiger arbeiten eher mit leicht 20 Minuten dreht sich Lisa Hagen
ruft seine Gruppe zusammen und sagt: dehnbaren Risikoabschätzungen als mit um und blickt zur Hütte zurück. Es war
Wir werden heute auf den höchsten Gipfel Gewissheiten. richtig loszugehen, denkt sie, die Wolken
der Tour gehen, den Pigne d’Arolla, und Die Gruppe könnte das Risiko aber ver- lichten sich, die Sonne dringt durch. Sie
dort, auf 3790 Metern, entscheiden, wie ringern, indem sie an der Hütte ein GPS- macht ein Foto und geht weiter.
wir weitermachen. Gerät einschaltet und eine digitale Spur Sie steigen auf, ohne viel zu reden, sie
Laut Programm ist die nächste Unter- speichert, die, sollte die Sicht schlecht wer- wollen ihre Kräfte sparen. Sie haben keine
kunft, die Cabane des Vignettes, in rund den, den Weg zurück weist. Aber sie ver- Vorstellung davon, wie lange sie unter-
sechs Stunden erreichbar. Aber irgend- zichtet darauf. Sie folgt ihrem Bergführer. wegs sein werden. Lisa ist nicht so recht
etwas hat mit der Reservierung nicht funk- Um 6.30 Uhr gehen sie los, über eine klar, was Mario Castiglioni, an der Spitze
tioniert, die Hütte ist ausgebucht. Der Berg- sanft geschwungene, breite Schneeflanke der Gruppe, vorhat. Um mit ihm zu spre-
führer sagt: Wenn das Wetter zu schlecht in Richtung Gipfel. chen, müsste sie zu ihm aufschließen, aber
wird, können wir vom Pigne d’Arolla aus Eine halbe Stunde später macht sich Pas- das lässt sie. Sie hat Vertrauen zu ihm nach
hinunterfahren ins Tal. Oder wir gehen cal Gaspoz unten im Tal einen Espresso. den vielen gemeinsamen Touren.

Tod in den Alpen


Die »Haute Route« verbindet die berühmten Bergorte Chamonix und Zermatt. SCHWEIZ
»Haute Route«
Donnerstag, 26. April: Reisebeginn Freitag, 27. April
RockyPop Hotel Quartier Albert Premier Chamonix Zermatt
Die Reisegruppe, bestehend aus zehn Berg- Drei Tage vor dem Unglück ist bekannt, (Frankreich)
steigern, verlässt am Morgen die Unter- dass sich das Wetter auf der Gipfel-
kunft. Sie setzt auf besonders leichtes etappe verschlechtern wird.
Gepäck, unter anderem durch Verzicht auf
Sturmhauben und Biwaksäcke.

SCHWEIZ
FRANKREICH
Chamonix
I TA L I E N

Mont Blanc 4810 m

Quartier Albert Premier

Höhenprofil der eingeschlagenen Route

RockyPop Hotel Chamonix


0 km 15 km 30 km 45 km
Gesellschaft

Tommaso Piccioli geht weiter vorn, er alles besprechen. Lisa denkt daran, dass des Bergführers hat ihr den Klettergurt ab-
ist froh, dass er hat schlafen können, er sie abends in einer warmen Hütte sitzen genommen und einen ihrer Ski, einer der
hat gut gefrühstückt und fühlt sich stark. und Bier trinken wird. Mario wird wissen, Franzosen trägt den zweiten Ski.
Er rechnet damit, dass sie vom Gipfel ins was er tut, denkt sie. Er hat sie immer si- Sie könnten jetzt eine geeignete Stelle
Tal herunterfahren oder zur Hütte zurück- cher ans Ziel gebracht. suchen, um eine Höhle in den Schnee zu
gehen werden, bevor das Wetter kippt. Nach einer Weile merkt sie, dass sie am graben, die ihnen Schutz in der Nacht gibt.
Über ihnen zieht sich der Himmel zu. selben Ort aufsteigen, wo sie zuvor abge- Aber sie gehen einfach immer weiter.
Sie sind seit etwa drei Stunden unter- stiegen sind. Ich muss ruhig bleiben, sagt Die Dämmerung hat schon eingesetzt,
wegs, als der Sturm kommt, früher und ag- sie sich. Keine Panik jetzt. Sie rammt ihre als sie zwei Steinmännchen entdecken,
gressiver als erwartet. Er verwirbelt den Stöcke in den Schnee, sie macht einfach brusthoch. Die Steine markieren eine Pas-
Schnee; alles, was eben noch zu sehen war, einen Schritt auf den nächsten. Den Berg- sage, durch die Skifahrer bei klarer Sicht
die Hütte, die Spur, die sie gezogen haben, führer kann sie nicht mehr sehen. Tomma- gleiten können, die letzten 400 Meter hi-
die Berge, das Tal, verschwindet. Für die so Piccioli, der ein GPS-Gerät bei sich hat, nunter bis zur Hütte. Doch der Sturm ist
Abfahrt ins Tal ist es zu spät, die Sicht ist arbeitet sich nach vorn und fragt den Füh- zu heftig. Hier bleiben wir, sagt der Berg-
zu schlecht. Sie schnallen die Ski ab und rer: Wohin gehst du? Alles okay, ruft Ma- führer. Er sagt: Stapelt eure Rucksäcke über-
stapfen dem Bergführer hinterher, niemand rio. Sie gehen ein Stück weiter, dann zeigt einander, als Barriere gegen den Wind.
redet. Mario Castiglioni schleift ein langes, Tommaso dem Bergführer sein GPS-Gerät. Lisa Hagen hört, wie die Frau des Berg-
buntes Seil durch den Schnee, damit man Am Rand des Bildschirms kann man den führers sagt, sie suche tieferen Schnee, um
seiner Spur folgen kann. Seine Frau läuft Anfang eines Weges erkennen. sich einzugraben. Dann sieht sie sie im Ne-
am Ende der Gruppe, sie hilft denen, die Sie ändern die Richtung und gehen da- bel verschwinden. Der Bergführer selbst
weniger Kraft haben, Gabriella vor allem, hin, wo sie die Route vermuten. Dann er- bleibt bei der Gruppe. Tommaso hört, wie
die unterwegs ein Steigeisen verliert. scheint eine Hütte auf dem Bildschirm, er sagt: »Ich kann nichts mehr sehen.«
Gegen zehn Uhr tauchen vier fremde »Leute, wir sind richtig«!, ruft Tommaso Lisa weiß jetzt, dass sie nicht mehr auf
Gestalten auf, es sind französische Alpinis- Piccioli, sie gehen weiter, aber der Weg Mario hoffen kann. Sie lässt sich in den
ten, zwei Frauen und zwei Männer, die sich führt in einen Steilhang. Sie kehren um Schnee fallen und sieht, wie der Bergfüh-
verirrt haben. Lisa Hagen sieht, dass einer und suchen einen anderen Weg, der zur rer auf seinem Satellitentelefon herum-
der Männer einen Kompass und eine Karte Hütte führen könnte. Aber da ist kein Weg. drückt. Es funktioniert nicht. Sie denkt an
dabeihat, wie altmodisch, denkt sie, und Irgendwann reißt der Nebel auf, und Lu- ihr Handy, das in ihrer Hosentasche steckt.
nutzlos in diesem Sturm. Der Franzose ver- ciano, der 72-jährige Schweizer, sieht einen Sie müsste ihren Handschuh ausziehen,
sucht, mit dem Bergführer zu sprechen, er schwarzen Gummischlauch, der quer über um an das Handy zu kommen, aber das
schreit gegen den Wind an. Sie kann nicht einem Hang hängt. Luciano weiß, dass im ist in diesem Moment keine Option. Die
hören, was er sagt, aber es sieht für sie so Sommer Wasser durch diesen Schlauch fließt, Handschuhe sind ihr ein letzter Schutz.
aus, als ob die beiden Männer sich nicht ei- von einer Quelle direkt zur Cabane des Vi- Sie denkt: Scheiße, ich kann doch nicht
nig wären. Der Bergführer geht weiter, von gnettes. Er sagt: Wir müssen nur der Was- die Nacht hier draußen verbringen, wir
da an folgen ihm auch die vier Franzosen. serleitung folgen. Doch je weiter sie gehen, sterben, wenn uns niemand findet.
Lisa Hagen ist noch immer nicht klar, desto steiler fällt der Hang ab. Der Abstand Sie lehnt sich an Andrea, den Kranken-
wohin Mario sie führen will. Irgendwann zu dem Schlauch wird größer, irgendwann pfleger, der nur hier ist, weil ein anderer
sieht sie im Nebel Kalina, Marios Frau, sie hängt er so hoch, dass sie ihn im Schnee- abgesagt hat. Er hockt neben ihr und hat
ruft ihr zu: Warum sind wir nicht früher gestöber nicht mehr erkennen können. Sie einen Arm um sie gelegt. Sie schafft es, ihr
ins Tal runtergefahren? Nicht jetzt, ant- müssen umkehren. Lisa Hagen sieht, dass Brot aus ihrem Rucksack zu ziehen, ohne
wortet Kalina, heute Abend werden wir Gabriella kaum noch gehen kann. Die Frau die Handschuhe auszuziehen, sie gibt

Samstag, 28. April Sonntag, 23. April Sonntag, 23. April, Mittag
Cabane du Mont Fort Cabane des Dix Nahe des Pigne d’Arolla
Gegen 10 Uhr vormittags zieht dichter Nebel auf, ein Schneesturm
setzt ein. Die Gruppe verliert die Orientierung. Auf dem Plateau stößt
eine französische Viererseilschaft dazu, die sich ebenfalls verirrt hat.

Pigne d’Arolla 3790 m Zermatt

Matterhorn 4478 m
Rifugio Nacamuli
Grand Combin 4314 m
Südlich des Grand Combin verläuft eine Montag, 30. April
schwierigere Variante der »Haute Route«. Etwa 400 Meter vor der Cabane des Vignettes
Sie ist besonders steil, oft vereist und Erschöpft verbringen die Bergsteiger die Nacht im Schneesturm,
potenziell lawinengefährdet. mitten auf dem ausgesetzten Grat. Am nächsten Morgen
werden 14 Menschen mit schweren Unterkühlungen gefunden.
7 von ihnen werden nicht überleben.

Cabane des Vignettes


Cabane du Cabane des Dix
Mont Fort
Zermatt

60 km 75 km 90 km 105 km 114 km
Luciano erkannte noch, dass der Him-
mel heller wurde, dann schlief er ein. Er
träumte von schönen Farben und Blumen.
Als er am Nachmittag erwachte, lag er in
einem Krankenbett. Das Erste, was er sah,
waren seine schwarz verfärbten Finger auf
der weißen Bettdecke. Die Ärzte sagten ihm,
sein Körper sei auf 26 Grad Celsius herun-
tergekühlt gewesen. Ein, zwei Grad weni-
ger, und er wäre nicht mehr aufgewacht.
Im vergangenen Jahr sind in der Schweiz
154 Menschen bei Unfällen in den Bergen
ums Leben gekommen, 2015 waren es 213.
HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL

Die meisten dieser Unfälle sind kurze No-


tizen in der Tageszeitung, gelegentliche To-
desfälle sind nichts Außergewöhnliches in
den Bergen. Sieben Tote in einer Gruppe
von zehn Menschen allerdings sind eine
Katastrophe, und die Frage ist, ob jemand
dafür verantwortlich zu machen ist.
Tommaso Piccioli sagt, der Bergführer
Karabiner eines Teilnehmers der Seilschaft, elf Tage nach dem Unglück: Fatale Fehler? Mario Castiglioni habe fatale Fehler ge-
macht. Er sei mangelhaft ausgerüstet ge-
Andrea ein Stück davon, das andere isst Bald sind sieben Helikopter vor Ort, die wesen und habe die Route nicht gekannt.
sie selbst. Diagnosen der Ärzte lauten: schwere Un- Piccioli sagt, er kämpfe dafür, dass dieses
Tommaso hört, wie Marcello nach sei- terkühlungen, keine äußeren Verletzun- Unglück nicht ohne Folgen bleibe. Dass
ner Frau ruft: Gabriella! Gabriella! Aber gen, keine Knochenbrüche. Sieben sind es, zum Beispiel, in Zukunft feste Vorschrif-
Gabriella stöhnt nur. Dann hört Tommaso ansprechbar, sechs verwirrt oder bewusst- ten für Bergführer gibt. »Es strengt mich
nichts mehr. Er hält Francesca im Arm, die los. Der einzelne Bergsteiger weiter unten an, darüber zu reden«, sagt er, aber er tue
Frau mit den vielen Brillanten, die Mutter scheint tot zu sein. es trotzdem, schon wegen seiner Freundin
von drei Kindern. Sie hat eine Thermo- Sie fliegen die Menschen zur Hütte, zu- Betti. »Sie ist gestorben, weil eine andere
decke über sich gezogen. Er blickt sich erst diejenigen, die bei Bewusstsein sind. Person Fehler gemacht hat.«
nach Betti um, seiner Freundin. Er sieht, Die Bewusstlosen bekommen Herzmassa- Lisa Hagen sieht die Schuldfrage nicht
dass sie mit dem Gesicht im Schnee liegt. gen. Neun von zehn Mitgliedern der Grup- so eindeutig wie Tommaso Piccioli. Sie
Er schreit ihren Namen. Und er glaubt zu pe werden in Krankenhäuser geflogen, ei- sagt, sie habe Mario Castiglioni als verant-
hören, wie sie leise seinen Namen ruft. ner wird tot geborgen: Mario Castiglioni, wortungsvollen Bergführer gekannt. Er
Erfrieren ist ein schleichender Tod. Am der Bergführer, der 200 Meter weiter un- habe jetzt nicht mehr die Möglichkeit, sei-
Anfang wehrt sich der Körper mit hefti- ten lag. Wahrscheinlich wollte er morgens ne Sicht auf all das zu schildern. Deswegen
gem Zittern. Die Gliedmaßen kühlen aus, Hilfe suchen und stürzte vor Erschöpfung. habe sie sich entschlossen, aus ihrer Per-
werden taub und verfärben sich bläulich, Für tot erklärt werden später: das Ehe- spektive darüber zu sprechen.
während die lebenswichtigen Organe noch paar Gabriella und Marcello, ihre Freun- Die Staatsanwaltschaft des Kantons
eine Weile lang verteidigt werden. Sinkt din Betti, Andrea, der Krankenpfleger, und Wallis ermittelt, ein Strafverfahren ist er-
die Körpertemperatur unter 32 Grad, wird Kalina, die Frau des Bergführers. öffnet worden.
es erträglicher. Das Schlottern hört auf, Um das Leben von Francesca, der Mut-
man empfindet kaum noch Schmerzen, ter dreier Kinder, kämpfen die Ärzte noch Freitag, 11. Mai, knapp zwei Wochen nach
nur große Müdigkeit und den fast unwi- zwei Tage lang, dann stirbt auch sie. dem Unglück: Von der Cabane des Vignettes
derstehlichen Drang, die Augen zu schlie- Die vier Franzosen überleben. aus sieht man einen sanft geschwungenen,
ßen. Das Ende spürt man kaum. Überlebt haben auch Lisa Hagen, Tom- weißen Hang, und ganz oben zwei kleine
maso Piccioli und Luciano, der 72-Jährige. Steinmännchen. Sie sind dazu da, den Weg
Am Montagmorgen um 6.50 Uhr klingelt Lisa und Tommaso erlitten nur leichte Er- zu weisen. Noch 400 Meter bis zur Hütte.
bei Pascal Gaspoz in der Zentrale von frierungen und konnten das Krankenhaus Skifahrer brauchen nur ein paar Schwün-
Air-Glaciers das Telefon. Oben bei der nach einem Tag verlassen. ge, unter dem schwarzen Wasserschlauch
Vignettes-Hütte habe jemand Probleme, Sie waren die Einzigen, die sich wach hindurch, dann noch ein kurzes Stück
hört er. Nichts Besonderes, denkt Gaspoz halten konnten, bis es hell wurde. Am Mor- Schussfahrt, und man ist an der Hütte.
und geht zum Hubschrauber. Zur Sicherheit gen hatte Lisa gesehen, dass Tommaso Oben bei den Steinmännchen schmilzt der
nimmt er einen Arzt mit. Sie brauchen noch bei Bewusstsein war, sie hatte sich Schnee in der Sonne. Niemand achtet da-
knapp 30 Minuten zu der Stelle, von der ein zu ihm geschleppt, und ihm war es gelun- rauf, was langsam zum Vorschein kommt.
anderer Pilot später sagen wird, sie habe gen, seine Thermosflasche aus dem Ruck- Ein Eispickel, eine geborstene Thermos-
ausgesehen wie ein Kriegsschauplatz. 13 sack zu holen. Beide hatten daraus getrun- kanne, ein Karabiner, ein Klettergurt und
Menschen liegen im Schnee an einem steilen ken, der Tee war noch warm. eine Tüte mit angebissenem Brot.
Grat, keine 300 Meter Luftlinie von der Hüt- Im Morgenlicht erblickten sie die Hütte,
te Cabane des Vignettes entfernt. 200 Meter mit erleuchteten Fenstern, wie auf einer
weiter unten liegt ein einzelner Mann. Postkarte thronte sie auf dem Fels. Sie sa- Video
Warum die Wanderer
Gaspoz fordert Verstärkung an, der Pi- hen eine Gruppe, die vor die Tür trat, sie verunglückten
lot landet den Helikopter an der Unglücks- schrien und gestikulierten, und eine Vier- spiegel.de/sp302018alpen
stelle. Zwei Bergsteiger, die in der Hütte telstunde später hörten sie den Helikopter oder in der App DER SPIEGEL
übernachtet hatten, leisten Erste Hilfe. von Pascal Gaspoz.

50 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Gesellschaft

Ich beschloss, mich nicht mit dem Nachbarn anzulegen,

Nachbarn fragte den Besitzer meiner Wohnung aber vorsichtshalber,


ob der Austritt wirklich ihm gehöre. Selbstverständlich,
schrieb der Besitzer. Andererseits sei es so, dass man nur
über diesen Austritt an die Fassade des Palastes nebenan he-
Leitkultur Alexander Osang erlebt, rankomme, zum Beispiel, wenn man da ein Gerüst anbringen
wie man schon früh am Morgen wolle. Ich sei in jedem Fall im Recht, er sei den Sommer über
in weltpolitische Konflikte geraten kann. allerdings in Frankreich. Viel Glück! Die Bauarbeiten began-
nen mit Sonnenaufgang und dauerten bis Sonnenuntergang.
Angeblich gab es gesetzliche Ruhestunden um die Mittagszeit,
or ein paar Tagen, morgens um sieben, hebelte ich an aber die Bestimmungen, las ich im Internet, seien schwammig.
V meiner Espressomaschine herum, als ich im Augenwin-
kel einen Mann sah. Er stand auf dem Austritt neben
unserem Wohnzimmer und schaute mich durchs Fenster an.
Die einzige wirkliche Ruhezone ist der Schabbat.
Die Bauarbeiter allerdings waren Araber. Sie bohrten in
den Freitagnachmittag hinein.
Ausdruckslos. Ich öffnete die Tür zu dem kleinen Balkon. Ich dachte an das dritte Gebot, das ich im Religionsunter-
Da war noch ein zweiter Mann. Die Männer hatten eine Lei- richt von St. Josef in Berlin-Weißensee gelernt hatte: »Ge-
ter dabei und verschiedenes Werkzeug. Der Balkon ist zur denke, dass du den Sabbat heiligst.« Ich hatte damals nicht
Straße durch ein sehr hohes, sehr spitzes Gitter gesichert. verstanden, was das eigentlich bedeuten sollte. Aber jetzt,
Keine Ahnung, wie sie da rübergekommen waren. Sie sahen 20 Jahre nachdem ich die katholische Kirche verlassen hatte,
nicht aus, als hätten sie Lust, mir das zu erklären. begriff ich, worum es ging. Mit ganzem Herzen begriff ich
»Was machen Sie denn hier?«, fragte ich. es. Ich betrat meinen Balkon und schrie in den Lärm: »Ruhe!
Sie zuckten mit den Schultern. Es ist Schabbat!«
Der Balkon erinnerte an ein kleines besetztes Gebiet. Einer Ein ehemaliger deutscher Messdiener erinnert zwei ara-
stellte die Leiter an die Außenwand unseres Nachbarhauses bische Bauarbeiter in Tel Aviv an die Gebote des jüdischen
und setzte einen riesigen Bohrer an. Sie Ruhetages. Es klang wie eine Szene aus
bohrten da für fünf Stunden. Dann »Nathan der Weise«.
machten sie eine Pause und brüllten sich »One minute«, sagte einer der Araber,
an. Auf Arabisch. Offenbar waren sie der nun doch ein wenig Englisch sprach.
keine Siedler. Ich steckte kurz meinen Es wurden fünf, dann war Ruhe. Eine
Kopf hinaus und fragte, wer ihr Auftrag- halbe Stunde später stand der Nachbar
geber sei. Der Boss. auf der Straße unter unserem Balkon und
Der Mann zeigte in Richtung meines hielt eine Rede. Im Zentrum der Rede
Nachbarn. befand sich der Austritt, auf dem ich
»Oh«, sagte ich. stand. Es ist ein sehr schmaler Streifen,
Er lächelte. Ein bisschen. eher ein Schacht als ein Balkon, der Bo-
Den Nachbarn hatte ich in den Wo- den voller Taubendreck. Der Balkon ist
chen kennengelernt, bevor ich nach Tel höchstens fünf Quadratmeter groß, ver-
Aviv zog. Ich war mit einer Maklerin glichen damit war die Rede des Nachbarn
unterwegs, die mir verschiedene Woh- lang. Er zweifelte die Aussage meines
nungen zeigte, unter anderem die, die Vermieters an, emotional, wenn ich das
ALEXANDER OSANG / DER SPIEGEL

ich dann nahm. Wir standen auf der Stra- richtig verstanden habe. Der Balkon ge-
ße, als sich ein Mann mit einem Hund höre gewissermaßen auch ihm, jedenfalls
und einem großen Kaffeebecher näher- teilweise. Welcher Teil, konnte er nicht
te. Das war der Nachbar. genau sagen, auf jeden Fall aber der, auf
»Ziehst du hier ein?«, fragte er. dem ich gerade stand. Irgendwann hatte
»Vielleicht«, sagte ich. ich den Eindruck, wir diskutierten die
»Wenn ihr mir den Zugang zu meiner Zukunft einer Zweistaatenlösung.
Außenwand verwehrt, reiße ich die ver- Besetztes Gebiet Vielleicht schreibe ich darüber, sagte
dammte Brüstung ein. Alles. Ich komme ich. Ich bin Journalist beim SPIEGEL.
mit dem Kran. Das Gitter ist illegal. Das ist alles illegal«, »Oh«, sagte der Nachbar. »Das ist ein gutes Magazin.«
sagte der Nachbar. »Danke«, sagte ich.
»Interessant«, sagte ich. Er schwieg drei Sekunden, in denen er über seine Optionen
»Juden kannst du nicht trauen«, sagte er. nachzudenken schien. Dann schrie er: »Dann weißt du ja
Die Maklerin sagte, der Nachbar sei Jude. ganz genau, was eine Okkupation bedeutet. Das ist Okku-
Ich wackelte mit dem Kopf wie ein Idiot. pation.«
Der Nachbar bewohnt einen Palast, der an das Haus grenzt, »Was?«, fragte ich.
in dem unsere Wohnung liegt. Hohe Glasfenster, Terrassen »Alles«, sagt er. »Eine Jude stiehlt Land von einem Juden,
zum Meer und einen Swimmingpool auf dem Dach. Er sei der es zuvor von einem Araber gestohlen hat.«
Kunstdealer, erfuhr ich auf einer Party von jemandem, der Die Frage war, wie ich da reinpasste. Als Deutscher. Als
ebenfalls in der Straße lebt, russische Rockbands managt und Mieter und Nachbar und Mann mit Vergangenheit. Und wo
meinen Nachbarn gut kennt. eigentlich die Moral der Geschichte war. Offenbar fragte sich
»Er ist nicht verkehrt, aber er hatte vor ein paar Jahren das mein Nachbar auch gerade. Er machte einen Punkt.
Streit mit seinem Nachbarn, weil er irgendeine illegale Ter- »Die Bauarbeiten werden sich sehr lange hinziehen. Mo-
rasse gebaut hatte. Er musste sie wieder abreißen. Seitdem natelang«, sagte er. Dann ging er. Ich stand auf meinem hand-
rächt er sich. An allen. Unter anderem, indem er ständig sein tuchgroßen Balkon und hörte das Meer rauschen. Die Ruhe
Haus renoviert. Er will uns zeigen, dass er es darf. Gerade war himmlisch.
macht er wieder die Fassade.« Nur in der Ferne rumpelten ein paar Kampfhubschrauber.

51
Wirtschaft
»Es ist auch ein Kampf um die Würde.« ‣ S. 66

SEBASTIAN GOLLNOW / PICTURE ALLIANCE / DPA


Facharbeiter bei Kabelherstellung

Fachkräftemangel

Zuwanderung erleichtern
Arbeitgeber wollen Einreise auch ohne konkretes Arbeitsplatzangebot.
● In der Debatte um Flüchtlinge und Einwanderung fordern Aufgaben der kommunalen Ausländerbehörden in »speziali-
die Arbeitgeber, die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräf- sierten überregionalen Kompetenzzentren« zu bündeln.
te deutlich zu erleichtern. Der »Sieben-Punkte-Plan« der Generell sollten die Verfahren vereinfacht, vereinheitlicht
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und verbindlicher werden. Zugleich soll die Zuwanderung
(BDA) ist auch ein politisches Signal zum geplanten Fachkräf- von Menschen mit Berufsqualifikation »deutlich erleichtert
tezuwanderungsgesetz, das die Bundesregierung im Herbst werden«. Dazu solle auch die sogenannte Positivliste »ab-
vorlegen will. »Das bestehende Zuwanderungsrecht muss geschafft, zumindest aber flexibilisiert« werden. Auf der
besser strukturiert, transparenter, deutlich einfacher und Positivliste stehen Berufe, in denen Fachkräftemangel be-
punktuell ergänzt werden«, heißt es in dem Papier. Ein Punk- steht. Bisher dürfen vor allem Fachkräfte aus diesen Mangel-
tesystem für die Einwanderung, wie es etwa Kanada hat, berufen bei einem Arbeitsangebot zuwandern. Die BDA will,
lehnt die BDA ab. Stattdessen fordert sie etwa eine drastische dass »eine Einreise auch ohne konkretes Arbeitsplatzangebot
Vereinfachung der Bürokratie. Derzeit erteilten 600 Aus- möglich ist«. Für qualifizierte Fachkräfte ohne akademische
länderbehörden Aufenthaltstitel an ausländische Fachkräfte. Ausbildung und Ausbildungssuchende solle es künftig eine
Um Entscheidungen zu beschleunigen, sei es notwendig, die »Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche« geben. MAD

Siemens arbeiter ist wichtig für das neue Strategie- le ihrer Freizeit einbringen. Freie Stellen
Büffeln in der Freizeit konzept, das Vorstandschef Joe Kaeser müssen künftig auf allen Hierarchiestufen
am 2. August vorstellen will. Auf Druck ausgeschrieben werden. Zudem verpflich-
● Siemens-Mitarbeiter sollen sich künftig von Gesamtbetriebsrat und IG Metall hat- tet sich der Vorstand, der Belegschaft früh-
auf Firmenkosten auch in ihrer Freizeit te die Siemens-Führung dem »Zukunfts- zeitig zu signalisieren, »welche Kompeten-
weiterbilden, um sich für die Digitalisie- pakt« mit Gewerkschaft und Betriebs- zen und Fähigkeiten vom Unternehmen
rung zu wappnen. Das geht aus einer räten zugestimmt. Demnach müssen als zukunftsfähig und chancenreich«
vertraulichen Vereinbarung zwischen Führungskräfte den Angestellten künftig betrachtet werden. Als Fazit halten beide
Konzernführung und Arbeitnehmern vom erlauben, in der Arbeitszeit zu lernen und Seiten fest: »Kontinuierlicher Wandel
Mai hervor. Die Qualifizierung der Mit- sich weiterzubilden, wenn diese auch Tei- erfordert kontinuierliches Lernen.« DID

52
Greser & Lenz
Ludwig-Erhard-Preis
Wie rechts ist Tichy?
● Nach der Weigerung des CDU-Wirt-
schaftsexperten Friedrich Merz, den
renommierten Ludwig-Erhard-Preis
anzunehmen, streiten CDU und FDP
über den Vorsitzenden der gleichnami-
gen Stiftung, Roland Tichy. Es geht um
die Frage, ob dessen Internetblog die
Grenze zum Rechtspopulismus über-
schreitet. Es sei bedenklich, »dass ehr-
würdige Institutionen wie die Erhard-
Stiftung von Nationallibertären geka-
pert werden«, sagt FDP-Fraktionsvize
Michael Theurer. FDP-Generalsekretä-
rin Nicola Beer, in der Vergangenheit
selbst Autorin für »Tichys Einblick«,
hält dagegen: »Tichy ist liberal in seiner
Wirtschaftsauffassung. Konservativ in
seinem gesellschaftspolitischen Welt-
bild. Und er ist ein scharfer Kritiker
von Merkels Flüchtlingspolitik, wie wir
auch.« Auch in Erhards Partei, der
CDU, wird hitzig debattiert. In konser-
vativen Unionskreisen wird Merz
wegen der Ablehnung des Preises kriti- Diesel affäre heraus: Nach diesem Rückruf wird
siert, indes nicht öffentlich; der CDU- es kein einziges legales Dieselmodell von
Wirtschaftsrat kündigte an, weiter mit
Manipulationen auch beim Porsche geben, wie man im Haus von
der Erhard-Stiftung zu kooperieren. Porsche Panamera Bundesverkehrsminister Andreas Scheu-
Dagegen greift Oliver Wittke, Parla- er (CSU) bemerkt. Betroffen von Rück-
mentarischer Staatssekretär beim Bun- ● Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) wird rufen waren bereits die Dieselgelände-
deswirtschaftsminister, Tichy an, vor in Kürze einen verpflichtenden Rückruf wagen Cayenne und Macan. Das Unter-
allem mit Blick auf die Blogeinträge in für den Porsche Panamera verhängen. nehmen hatte vor einigen Monaten den
Sachen Flüchtlingspolitik: »Erhard hät- Bei dem Dieselmodell sei eine unzulässi- Verkauf aller Dieselmodelle gestoppt. Ein
te sich dafür eingesetzt, die positiven ge Manipulation am Abgasreinigungs- Porsche-Sprecher teilte auf Anfrage mit,
Effekte der Zuwanderung für die Wirt- system entdeckt worden, die zu einem der Abstimmungsprozess mit dem KBA
schaft und Sozialsysteme zu nutzen. erhöhten Ausstoß von Stickoxiden führe, dauere noch an, weswegen man derzeit
Hier beobachte ich bei Tichy leider zu heißt es aus dem Bundesverkehrsministe- keine Stellung zu den Vorwürfen be-
oft die gegenteilige Haltung.« AMA, CSC rium. Damit sticht Porsche in der Abgas- ziehen wolle. GT

Kommentar

Macht braucht Grenzen


Die EU-Kommission geht zu Recht hart gegen Internetkonzerne wie Google vor.

Mag sein, dass das Bußgeld der EU-Kommission gegen Google tat- Wettbewerbsrecht. Google muss deshalb 4,34 Milliarden Euro
sächlich so hoch ausgefallen ist, weil die Fronten zwischen der EU zahlen und die Praktiken abstellen.
und den USA derzeit so verhärtet sind, wie allenthalben gemut- Es ist nicht das erste Mal, dass die EU-Kommission gegen
maßt wird. Wahrscheinlich ist das nicht. Und wenn es so wäre, Google und andere Internetkonzerne vorgeht, und es ist auch
würde es dem eigentlichen Anliegen nur schaden. Denn im Ver- nicht das erste Mal, dass die USA darin eine Form des Protek-
fahren gegen den amerikanischen Internetkonzern geht es nicht tionismus sehen, der die europäische Internetwirtschaft vor der
um eine Revanche für die Strafzölle der USA gegen europäischen Übermacht der US-Konkurrenz schützen soll. Doch die EU-
Stahl und – möglicherweise schon bald – deutsche Autos. Es geht Kommission macht nur das, was eigentlich auch die Aufgabe der
um den Machtmissbrauch eines Konzerns zulasten der Konkur- US-Kartellbehörde wäre: Nie zuvor in der Wirtschaftsgeschichte
renten und der Verbraucher. Rund 80 Prozent aller Smartphones haben Konzerne in so kurzer Zeit eine solche Marktmacht er-
und Tablets sind mit Googles Betriebssystem Android ausgestat- rungen wie Google, Apple, Amazon und Facebook. Wo immer
tet. Weil Google die Hersteller dieser Geräte mit Zwang und finan- diese Macht missbraucht wird, müssen die Behörden einschrei-
ziellen Anreizen dazu bringt, die Apps und Dienste des Konzerns ten, um den Wettbewerb und die Verbraucher zu schützen. Dass
gleich vorzuinstallieren, haben Konkurrenzprodukte kaum eine die USA dies unterlassen, ist auch eine Form des Protektionis-
Chance. Die EU-Kommission sieht darin einen Verstoß gegen das mus – zugunsten ihrer Konzerne. Armin Mahler

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 53


Wirtschaft

Die Verschwörung
Kartelle Öffentlich beteuern sie, wie wichtig ihnen Umweltschutz sei. Heimlich aber verabredeten
Daimler, BMW, Porsche, Audi und VW offenbar über Jahre, bei Benzinautos keine
Partikelfilter einzusetzen. Mit ihnen hätte man Menschen vor Gesundheitsschäden schützen können.

D
as Treffen fand in Wolfsburg statt. gung bis hin zu Herz-Lungen-Krankheiten nen zehnmal höheren Ausstoß an Fein-
Angereist waren Vertreter von und Lungenkrebs führen. Verursacht wird staub genehmigten als Dieselmodellen.
Daimler, BMW, Audi und Por- Feinstaub vor allem durch Heizungsanla- Ob es sich bei der Absprache, keine
sche. Zusammen mit ihren Kolle- gen, Industrie und Autoverkehr. 2015 star- Partikelfilter einzusetzen, um einen Wett-
gen von Volkswagen trafen sich die soge- ben einer Studie des Umweltbundesamtes bewerbsverstoß oder auch um eine Ord-
nannten Antriebsleiter, jene Manager, die zufolge in Deutschland 41 500 Menschen nungswidrigkeit handelt, müssen nun die
für den Einsatz aller Motoren in ihren Un- vorzeitig, weil sie einer hohen Feinstaub- Ermittler klären. Auf jeden Fall aber war
ternehmen verantwortlich waren. Konkur- belastung in der Luft ausgesetzt waren. es eine Verschwörung gegen den Umwelt-
renten eigentlich, gerade wenn es darum Bei Autos können Partikelfilter den Aus- und Gesundheitsschutz.
geht, einen Vorsprung durch Technik zu stoß von Feinstaub reduzieren. Dieselmo- Mit einem frühzeitigen Einbau von Par-
erlangen. Und wo könnte das ein Autoher- delle werden schon seit Anfang des Jahr- tikelfiltern bei Benzinmotoren hätten die
steller besser als beim Antrieb, beim Mo- Autokonzerne den gesundheitsschädli-
tor, dem Herz eines Fahrzeugs? chen Feinstaub schon vor vielen Jahren
Doch der Arbeitskreis Antrieb war ei- deutlich verringern können. Hätten ihre
nes jener Kartellgrüppchen, in denen die eigenen Ansprüche wirklich im Vorder-
deutschen Hersteller über Jahrzehnte hin- grund gestanden, hätten sie es auch tun
weg die Konkurrenz, zumindest auf eini- müssen.
gen Feldern, ausschalteten. Er war ein Teil Denn an verbaler Umweltfreundlichkeit
der Schattenwelt, in der die Konzerne mangelte es den Autobossen ja nicht. Die
heimlich miteinander mauschelten, wäh- Zitate lassen sich beinahe beliebig aus dem
MICHAEL WALTER / DER SPIEGEL
rend die Bosse im Scheinwerferlicht die Archiv ziehen. Der langjährige BMW-
segensreiche Wirkung des Wettbewerbs Chef Norbert Reithofer versprach: »Wir
lobten. Der SPIEGEL enthüllte dieses Kar- wollen in Sachen Umweltverträglichkeit
tell vor einem Jahr (SPIEGEL 30/2017). eine Vorreiterrolle einnehmen.« Der da-
Die EU-Kommission und das Bundeskar- malige VW-Boss Martin Winterkorn sagte:
tellamt ermitteln, ob die Unternehmen ge- »Wir wollen bis 2018 ökologisch führender
gen das Wettbewerbsrecht verstoßen ha- Autobauer werden.« Und Daimler-Boss
ben. Bislang ging es dabei vor allem da- Dieter Zetsche beschwor: »Unsere Autos
rum, dass sich die Autohersteller bei der Moderner Benzinmotor (Illustration) sollen Weltmeister im ökologischen Fah-
Abgasreinigung bei Dieselmotoren abge- Grenzwerte nur mit Partikelfilter ren werden.«
sprochen hatten, etwa über die Größe der Vorreiter? Weltmeister? In der Praxis
AdBlue-Tanks, die für das Minimieren von strebten die Autokonzerne augenschein-
Stickoxiden wichtig sind. tausends mit solchen Filtern ausgerüstet. lich das Gegenteil an. Sie bremsten den
Nun sind die Wettbewerbshüter auf ei- Seit 2014 sind sie Standard. Ihren Einsatz Umwelt- und Gesundheitsschutz zumin-
nen weiteren Umweltskandal gestoßen, in Benzinmodellen aber wollten Daimler, dest bei der Bekämpfung des Feinstaubs.
der die deutschen Autohersteller in einem BMW, Porsche, Audi und Volkswagen of- Manager der fünf deutschen Marken ver-
hässlichen Licht zeigt. Es geht wieder um fenbar jahrelang verhindern. Darauf ver- einbarten, gemeinsam die neue Umwelt-
mögliche Absprachen, mit denen Daimler, ständigten sich Manager der Marken auf technik, solange es geht, zu boykottieren.
BMW, Porsche, Audi und Volkswagen da- zahlreichen Treffen ihrer Arbeitskreise. Damit sollte offenbar verhindert werden,
für sorgten, dass die Gesundheit von Mil- Erstmals festgehalten haben die An- dass einer aus der Runde sich eines Bes-
lionen Menschen jahrelang unnötig gefähr- triebsleiter der Konzerne dies bei ihrer Sit- seren besinnt, Umweltschutz als Wett-
det wurde. Diesmal jedoch steht nicht der zung am 18. Mai 2009 in Wolfsburg. Die bewerbsvorteil nutzt, seine Modelle mit
Diesel im Mittelpunkt. Diesmal geht es um Experten der fünf Hersteller fassten »fol- Partikelfiltern ausstattet und mit dieser
Benzinmotoren und den Feinstaub, den gende Beschlüsse«, wie es im Protokoll Technik erfolgreich um Kunden wirbt.
sie ausstoßen. der Sitzung heißt: »Der Einsatz eines Par- Dieses Verhalten der fünf Automarken
Der Fall zeigt eindrücklich: Die Diesel- tikelfilters soll beim Ottomotor unbedingt verstößt möglicherweise gegen Wettbe-
affäre war kein Ausrutscher. Der gemein- vermieden werden.« Und weiter: »Die An- werbsrecht. Mindestens ebenso schwer
schaftlich organisierte Kampf gegen Um- triebsleiter unterstützen eine gemeinsame aber wiegt, dass die Absprachen in Sachen
weltauflagen gehörte offenbar zur Unter- Vorgehensweise.« Partikelfilter die Glaubwürdigkeit der deut-
nehmenskultur. Die Konzernmanager verfolgten eine schen Autohersteller weiter erschüttern.
Feinstaub ist in Europa eine der größten schlichte Strategie: Sie wollten die Einfüh- Die EU-Kommission wertet derzeit die
Gesundheitsgefahren, die auf Umweltver- rung strenger Grenzwerte für Benziner so Protokolle vieler Sitzungen, zahllose E-
schmutzung zurückzuführen sind. Er kann lange wie möglich verhindern. Und mit Mails und Schriftsätze der verschworenen
zu Schleimhautreizungen, Entzündungen möglichst geringem Einsatz jene laschen fünf in Sachen Partikelfilter aus. Der SPIE-
der Atemwege, erhöhter Thrombosenei- Grenzwerte einhalten, die Benzinern ei- GEL konnte Unterlagen einsehen, aus de-

54 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


BERND THISSEN / DPA
FREDRIK VON ERICHSEN / DPA

Automobilmanager Zetsche im Februar, Winterkorn 2015: »Weltmeister im ökologischen Fahren«?

55
Wirtschaft

nen sich der verdeckte Kampf der Konzer- tigten die hierarchisch übergeordneten tikeln an, stellten Wissenschaftler des For-
ne gegen den Filter rekonstruieren lässt. Entwicklungsleiter der Konzerne kurz da- schungsinstituts Empa in der Schweiz fest.
Die Debatte um den Einsatz von Parti- rauf die Boykottstrategie. Auf ihrem Tref- So könnten »wie bei einem trojanischen
kelfiltern begann im Jahr 2001. Damals fen am 25. Juni 2009 beschlossen sie: »Das Pferd flüssige oder feste chemische Gifte
stattete Peugeot erste Dieselfahrzeuge se- Ziel einer Vermeidung einer kosteninten- aus dem Verbrennungsprozess in den Blut-
rienmäßig mit Partikelfiltern aus. Die siven Maßnahme wie Partikelfilter wird kreislauf gelangen«.
Franzosen warben damit für ihre Modelle. seitens der E-Leiter bestätigt.« Die Autohersteller waren alarmiert. Ein
Politiker forderten, dass angesichts der Und sie gingen noch einen Schritt weiter. Audi-Manager hielt am 26. Mai 2010 fest:
technischen Möglichkeiten die Grenzwer- Die Automanager verabredeten ein Vor- »Partikelemissionen stehen im Fokus (neu-
te für Feinstaub verschärft werden. Am gehen, das bei drohenden Umweltauflagen es Feindbild)«. Später notierte er: »An-
20. Juni 2007 verabschiedete die EU ei- schon oft erfolgreich gewesen war: Sie scheinend stürzen sich die Umweltverbän-
nen Fahrplan für die Reduzierung der wollten Einfluss auf die politischen Ent- de nach dem Diesel nun auf die Ottomo-
Abgase und Feinstäube, der zwischen scheidungen nehmen. Damit sie den Filter toren und wollen auch für diesen einen
Diesel- und Benzinmotoren unterschied. nicht würden einbauen müssen, sollte der Partikelfilter durchboxen.«
Dieselmodelle sollten die Feinstaubemis- Grenzwert für Feinstaub bei Benzinern Aus den Dokumenten, die der EU-Kom-
sionen von 2009 an schneller verringern. möglichst spät an den strengeren Wert für mission vorliegen, geht hervor, dass die
Es wurde aber bereits festgelegt, dass auch Dieselmodelle angeglichen werden. Die Hersteller spätestens 2011 erkannten: Die
Benziner die Grenzwerte später einmal Entwicklungsleiter der Konzerne beschlos- von der EU für die Abgasnorm Euro 6 ge-
einhalten müssten. sen: »Ein politisches Lobbying in Brüssel planten neuen Grenzwerte bei Benzinmo-
Das Umweltbundesamt stellte in einer … wird beauftragt.« dellen sind ohne Partikelfilter so gut wie
Studie fest, die Partikel aus modernen Ben- Das Protokoll dieser Sitzung des 5er- nicht erreichbar. Eine VW-Mitarbeiterin
zinmotoren seien nicht weniger gefährlich Kreises offenbart die Grundeinstellung der fasste in einer Mail am 11. Februar 2011
als jene aus Dieselmodellen: »Es gibt kei- beteiligten Automanager: Lobbying statt die Diskussion mit den Konkurrenten zu-
nen Grund, für einen direkteinspritzenden Umweltschutz. sammen: »Daimler hat gestern deutlich
Ottomotor einen höheren Grenzwert zu- Die öffentliche Diskussion über die Ge- gesagt«, dass sie die verschärften Grenz-
zulassen als für einen Dieselmotor.« fahren des Feinstaubs aber nahm Fahrt auf, werte »nur mit OPF« einhalten können.
Die Diskussion wurde auch in den »5er- vor allem, weil Benzinmodelle zunehmend OPF ist das Kürzel für Ottomotoren-Par-
Kreisen« der deutschen Automarken ge- mit Motoren ausgestattet wurden, die den tikel-Filter.
führt – allerdings mit anderem Vorzeichen. Treibstoff mit hohem Druck einspritzen. Umso wichtiger schien es den Herstel-
Die Konzerne wollten den Einsatz der Fil- Die sogenannten Direkteinspritzer haben lern, die Einführung der Grenzwerte zu
ter für Benziner verhindern. Aufwand und den Vorteil, dass sie den Verbrauch und verzögern. Ihr Argument erneut: Der Ein-
Kosten stünden in keinem Verhältnis zum damit den CO2-Ausstoß verringern, aber bau der Filter würde die Kosten erhöhen.
Nutzen, lautete ihr Argument. Dabei kos- den Nachteil, dass sie besonders viele ul- Im Dezember 2011 hatte die jahrelan-
ten solche Filter nach Angaben von Ver- trafeine Partikel ausstoßen. Diese sind be- ge Lobbyarbeit, die auch von anderen
kehrsclubs wie dem VCD in der Anschaf- sonders gefährlich, weil sie leicht in die europäischen Autoherstellern tatkräftig
fung gerade einmal 40 bis 140 Euro. Lungen geraten. unterstützt wurde, Erfolg. Der Technische
Nachdem die Antriebsleiter von Daim- Außerdem lagern sich durch den Ver- Ausschuss für Kraftfahrzeuge beschloss,
ler, BMW, Porsche, Audi und Volkswagen brennungsprozess weitere Stoffe wie das dass Autos mit direkteinspritzenden Ot-
sich im Mai 2009 geeinigt hatten, bestä- krebserregende Benzoapyren an den Par- tomotoren noch nicht die verschärften
Dieselgrenzwerte einhalten müssen. Neu
zugelassene Benzinmodelle müssen erst
ab September 2018 denselben Grenzwert
Feinstaub erreichen. Bis dahin dürfen Benziner
Mögliche Auswirkungen der Partikel zehnmal mehr Partikel als die Diesel in
auf den menschlichen Körper die Luft blasen.
1 Als das Datum 2018 feststand, wuchs
bei Daimler, BMW, Porsche, Audi und
1 Inhalierbar Volkswagen die Furcht, dass einer der Ih-
Mit der Atemluft werden winzige Teilchen (10 Mikro- ren sich nicht mehr an das gemeinsam
meter und kleiner) aufgenommen. Die größeren vereinbarte Vorgehen halten könnte. Zwar
bleiben an den Schleimhäuten des Nasen-Rachen- versicherten die Entwicklungsleiter bei ih-
2 Raums hängen und können dort zu Reizungen führen.
ren Treffen laut Protokoll: »Die weitere
2 Lungengängig offene Zusammenarbeit zwischen Exper-
ten der Häuser wird durch die E-Leiter
Kleinere Partikel (2,5 Mikrometer und kleiner) dringen
über Luftröhre und Bronchien bis tief in die Lunge vor. zugesichert.« Aber ein Audi-Manager
Dort können sie sich an der Wand der Lungenbläschen schrieb an seine Kollegen: »Wir alle ken-
festsetzen und Entzündungen hervorrufen. nen das Risiko, dass vielleicht doch ein
Kann zu kurzzeitigen akuten Atembeschwerden Hersteller irgendwann mit einem Otto-Par-
führen und bei Asthmatikern die Beschwerden tikelfilter ins Rennen geht und die Thema-
verschlimmern. Auf Dauer chronische Bronchitis tik medienwirksam ausschlachtet.«
oder Lungenkrebs möglich.
Diese Mail verrät, was der Audi-Mana-
3 Blutgängig ger von der Marktwirtschaft hält: Ihr Kern,
der Wettbewerb, ist ein »Risiko«, das es
Durchdringen ultrafeine Teilchen (0,1 Mikrometer
und kleiner) die Wand der Lungenbläschen, so
zu minimieren gilt.
3 Über viele Jahre hinweg gelang dies den
gelangen sie in die Blutbahn. Über den Blutkreislauf
können sie in jedes Organ geschwemmt werden. 5er-Kreisen von Daimler, BMW, Porsche,
Quellen: UBA, LUBW, CBC Erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Audi und Volkswagen offenbar auch. Erst

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GILLES BASSIGNAC / DIVERGENCE / STUDIOX

JAN WOITAS / PICTURE ALLIANCE / DPA


BMW-Chef Reithofer 2014, Porsche-Produktion
»Politisches Lobbying beauftragt«

2016 stattete Daimler in Europa in einem Light-Duty Vehicles Test Procedure) be- Cayenne oder der Macan. Mercedes-Benz
Modell der S-Klasse erstmals einen Ben- stehen. Er misst nicht nur den CO2-Aus- hat Varianten von CLA und GLA mit Ben-
zinmotor mit einem Partikelfilter aus. stoß realistischer als die alten Tests. Mit zinmotoren aus dem Programm genom-
Die Hersteller wollen sich wegen der ihm tritt auch die Norm Euro 6c in Kraft, men. Besonders hart trifft es Volkswagen:
laufenden Ermittlungen zu Details nicht die eine strengere Obergrenze für Fein- Selbst bei den wichtigsten Modellen wie
äußern. Daimler erklärt, es sei offen, ob staubpartikel vorschreibt. Modelle mit dem Passat sind nur einige Varianten des
die EU-Kommission ein »formelles Ver- Benzinmotor können sie meist nur mit Ottomotors lieferbar. Volkswagen muss so-
fahren einleiten wird. Wir haben einen Partikelfiltern einhalten. Auch weil die gar die Produktion stoppen. Die Bänder
Kronzeugenantrag gestellt und kooperie- deutschen Autobauer den Einsatz dieser laufen in manchen Werken nur an vier Ta-
ren vollumfänglich mit den Behörden«. Filter jahrelang boykottiert haben, sind gen pro Woche.
Gegenüber der EU argumentieren ei- sie auf die Umstellung offenbar schlecht Man könne so viele Tests in kurzer Zeit
nige Hersteller, dass Beschlüsse in den vorbereitet. Sie hatten wohl mit weiterem nicht bewältigen, klagen die Hersteller. Als
Arbeitsgruppen nicht bindend gewesen Aufschub gerechnet. hätten sie nicht seit Jahren gewusst, dass
seien und man unabhängig davon an Daimler, BMW, Porsche, Audi und Volks- vom 1. September an der WLTP-Test und
Partikelfiltern gearbeitet habe. Außerdem wagen können viele Benzinmodelle der- die strengeren Grenzwerte gefordert sind.
seien auch andere Verfahren erprobt und zeit nicht verkaufen, weil diese noch keine Und als hätten sie ihre Modelle nicht schon
angewandt worden, um Grenzwerte ein- neue Zulassung haben. Bei BMW etwa vor Jahren mit Filtern ausstatten können.
zuhalten. sind es der X5 und der X6, bei Porsche der Jetzt haben einige von ihnen sogar Pro-
Offenbar mit wenig Erfolg. Wie drin- bleme, genügend Partikelfilter zu beschaf-
gend Benzinmodelle solche Filter benö- fen. Es gibt Lieferengpässe, die Preise stei-
tigen, zeigte ein Eco-Test, den der ADAC 59 gen, weil Zulieferer von der starken Nach-
im August 2016 veröffentlicht hat. Der frage überrollt werden.
Automobilclub hatte die Partikelemissio- VW-Manager gehen davon aus, dass
nen von Benzinautos mit Direkteinsprit- Benzin- 49 den Konzernmarken Volkswagen, Audi
zung ermittelt. Die Emissionen der Mo- direkteinspritzer und Porsche ein Umsatzausfall in Milliar-
delle lagen deutlich über den ab 2018 denhöhe entsteht. Und möglicherweise
in Deutschland,
geltenden Grenzwerten. Fazit des ADAC: kommt dann noch eine Strafe der EU-
Anteil an den
»Die Messungen zeigen auch, dass die Her- Wettbewerbskommission obendrauf, falls
Benziner-
steller – wieder mal – die Ausnahmerege- die fünf Hersteller mit ihren Absprachen
Neuzulassungen
lung so lange wie möglich nutzen und gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen
in Prozent
nicht auf neueste Technik setzen, um nied- 24 haben.
Quelle: ICCT
rige Schadstoffemissionen zu erzielen.« So betrachtet ist der Kampf der deut-
In diesem Fall haben die Autokonzerne schen Autohersteller gegen den Partikel-
jedoch endgültig überzogen. So sehr, dass filter ein Lehrstück. Versuche, den Wett-
sich ihre jahrelange Abwehrstrategie nun bewerb auszuschalten, können kurzfristig
sogar gegen sie selbst wendet. Vorteile bringen. Die Abschlussrechnung
Ab September dieses Jahres gelten
7 aber kann teuer ausfallen.
neue Zulassungsregeln und Testverfahren 1 Frank Dohmen, Dietmar Hawranek
der EU. Autos müssen dann den sogenann- Mail: frank.dohmen@spiegel.de
ten WLTP-Test (Worldwide Harmonized 2003 2007 2010 2013 2016

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 57


Wirtschaft

Trumps Abschwung
Konjunktur Der amerikanische Präsident rüttelt mit seiner sprunghaften Handelspolitik die
Weltwirtschaft durch. Die neuen Zölle bremsen den Boom. Wie gefährdet ist Deutschland?

A
uch in einem Handelskonflikt Viele Unternehmen stellen derzeit ähn- Dieses Mal könnte die undurchdachte
gibt es Kriegsgewinnler. Karl liche Berechnungen an. Die Lage ist bei Politik eines Wutpolitikers der Auslöser
Haeusgen ist so einer. Er ist Chef den meisten noch gut, doch die Saat für sein, der die gesamte Weltwirtschaft auf
und Mehrheitsaktionär der Firma einen Abschwung scheint gelegt. Der seit Talfahrt schickt. Mit seinen Zöllen auf
HAWE. Das Münchner Unternehmen vielen Jahren währende deutsche Boom Stahl und Aluminium, demnächst viel-
baut Hydraulikkomponenten für Industrie- könnte durch die wirre Handelspolitik des leicht auch auf Autos sowie auf chinesische
maschinen aller Art, von der Anlage, die US-Präsidenten an sein Ende geraten. Produkte im dreistelligen Milliardenwert,
Teig knetet, bis zum Ölbohrturm. bremst Trump die Weltwirtschaft gerade-
Viele Kunden Haeusgens kommen aus Wie bedrohlich ist Trumps zu brutal aus. Er trifft damit die nach mehr
den USA. Ihnen sitzt im Augenblick das Politik für die Weltwirtschaft? als zwei Jahrzehnten der Globalisierung
Geld locker, weil US-Präsident Donald Donald Trump entwickelt sich zu einem fein austarierte, aber auch empfindliche
Trump die amerikanische Konjunktur mit Konjunkturrisiko globalen Ausmaßes. internationale Arbeitsteilung.
Steuersenkungen angeheizt hat. Sie inves- Noch zu Jahresanfang gaben sich die Öko- Die negative Wirkung der trumpschen
tieren in Maschinen und Technik. nomen und Konjunkturforscher optimis- Politik geht weit über die direkten Kosten
Haeusgen profitiert sogar von den Zöl- tisch, doch mit seinen Strafzöllen hat er höherer Zölle hinaus. Auch seine Attacken
len, die Trump verhängt hat. Weil er außer- einen fatalen Mechanismus in Gang ge- gegen die Nato sowie die Aufkündigung
halb der USA produziert, treffen ihn die setzt, der die Weltwirtschaft in eine Ab- des Iran-Abkommens und der chaotische
Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium wärtsspirale stürzen könnte. Regierungsstil wirken negativ. »Es ist Teil
nicht. Anders als seine amerikanische Anfang der Woche warnte der Interna- seiner Strategie, Unsicherheit zu stiften«,
Konkurrenz, die Stahlbauteile wie Rohre tionale Währungsfonds (IWF), dass sich analysiert Clemens Fuest, Präsident des
oder Drähte importiert und diese nun die Risiken ballen würden. Die größte Ifo-Instituts. »Diese Politik hat wirtschaft-
teuer verzollen muss. »Trump schießt sich Gefahr gehe von einer Verschärfung des liche Kosten.«
ins Knie«, sagt Haeusgen trocken. Handelskonflikts aus, sagte IWF-Chef- Noch kurbelt vor allem die anhaltend
Der Unternehmer sorgt sich trotzdem ökonom Maurice Obstfeld in Washington. lockere Geldpolitik in den USA, Europa
um die Zukunft, denn er ahnt: Kriegs- Schaukle sich der Disput hoch, falle das und Japan die Konjunktur an. »Aber die
gewinnler wird er nicht lange sein. »Es ist Weltwirtschaftswachstum im kommenden Zölle und Zollankündigungen wirken wie
bereits erkennbar, dass der Handelskon- Jahr um 0,4 Prozentpunkte niedriger aus. Ablagerungen im Blutkreislauf der Welt-
flikt die Konjunktur eintrübt, die Investi- Selten stirbt ein Aufschwung an Alters- wirtschaft, die die Leistungsfähigkeit ein-
tionsgüterbranche – also unsere Kunden – schwäche. Meist braucht es einen Auslöser, schränken und das Infarktrisiko erhöhen«,
dürfte das als Erste treffen.« Haeusgen kal- etwa massive Zinserhöhungen der Noten- sagt Uwe Burkert, Chefvolkswirt der Lan-
kuliert, dass der Umsatz im ungünstigsten bank oder eine geplatzte Spekulations- desbank Baden-Württemberg (LBBW).
Fall um bis zu zehn Prozent sinken könnte, blase, um eine oder mehrere Volkswirt- Die Mechanik der Eskalation ist im
wenn sich die Zollspirale weiterdreht. schaften Richtung Rezession zu schicken. Wochentakt zu besichtigen. Trump hat an-
gekündigt, chinesische Produkte im Wert
von bis zu 200 Milliarden Dollar mit Zöl-
Deutsche Handelsbilanz mit den USA, 2017 in Milliarden Euro (ausgewählte Güter) len zu belegen, die Chinesen wollen hart
28,6 Exporte Importe reagieren. »Wenn der amerikanisch-chine-
Kraftwagen sische Handelsstreit eskaliert, träfe das die
und -teile ganze Welt, vollständig quantifizieren las-
6,4
19,0 sen sich die Folgen kaum«, sagt Fuest.
Maschinen
5,7 Kann Europa gegensteuern?
13,5 Pharmazeutische In der europäischen Politik macht sich
Erzeugnisse kaum noch jemand Hoffnung, dass sich
7,1
9,9 eine Eskalation abwenden lässt, ja, Europa
Datenverarbeitungs-
geräte trägt derzeit selbst dazu bei. Die EU hat
8,2 angekündigt, sich mit Schutzzöllen auf
6,9 Chemische Stahlimporte aus aller Welt gegen die ame-
Deutsche Exporte Erzeugnisse rikanischen Stahlzölle zu wehren. Die Eu-
in die USA 5,9
Deutsche Importe
6,9 Elektrische ropäer fürchten, dass Hersteller nun mit
insgesamt dem Stahl, den sie in den USA nicht mehr
aus den USA Ausrüstungen
111 Mrd. € insgesamt 3,6
2,6 zu konkurrenzfähigen Preisen absetzen
Metalle können, den europäischen Markt fluten.
61 Mrd. € 1,8 Außerdem hat EU-Kommissarin Mar-
3,0 Metall- grethe Vestager den Internetkonzern
erzeugnisse Google soeben mit einer Rekordstrafe für
Quelle: LBBW 1,1 Kartellrechtsverletzungen von 4,34 Mil-

58 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


BERTHOLD STEINHILBER / LAIF
Hamburger Hafen: »Die Zollpolitik kostet die Deutschen dieses Jahr bis zu 20 Milliarden Euro«

liarden Euro belegt. Der Schritt ist zwar tiert. Führende deutsche Wirtschaftsfor- und Konjunkturforschung. Günstigere Ex-
gut begründet, dürfte aber von Trump als schungsinstitute dimmen ihre Voraussagen portaussichten würden die Unternehmen
Frontalangriff gegen Amerikas digitale In- reihenweise nach unten. Statt um rund veranlassen, mehr zu investieren. Das
dustrie gesehen werden. 2,5 Prozent werde die deutsche Wirtschaft unterbleibe nun, was Einkommen und An-
Daher wird Kommissionspräsident dieses Jahr höchstens um rund 2 Prozent zahl der Arbeitsplätze geringer ausfallen
Jean-Claude Juncker mit wenig Hoffnung zulegen. »Insbesondere die globale Inves- lässt als möglich, mit messbaren Auswir-
auf eine Beilegung des Handelskonflikts titionsdynamik, die noch im vergangenen kungen auf den Wohlstand.
zum Treffen mit Donald Trump nach Wa- Jahr die deutsche Wirtschaft befeuert hat- »Die Zollpolitik kostet die Deutschen
shington reisen. Er kommt mit leichtem te, kühlt sich im Zuge des sich zuspitzen- dieses Jahr bis zu 20 Milliarden Euro an
Gepäck, er hat kein Angebot, das er vor- den Handelskonflikts mit den USA ab«, zusätzlichem Einkommen«, rechnet Horn
legen kann, um Trump zu besänftigen. schreiben die Experten des Deutschen vor. Wenn der Handelskrieg zwischen den
»Juncker hat kein Verhandlungsman- Instituts für Wirtschaftsforschung. USA, China und der EU weiter eskalierte,
dat«, heißt es in Paris. Ähnlich klingt Bun- »Ohne Trumps Politik würde der Auf- würden Exporte und auch die Investitio-
deswirtschaftsminister Peter Altmaier. In schwung außenwirtschaftlich besser lau- nen massiv einbrechen, sagt Horn voraus.
der entscheidenden Frage aber – wie man fen«, sagt Gustav Horn, Chef des gewerk- »Das wäre der klassische Fall eines Kon-
auf Trumps Kriegserklärung reagieren soll- schaftsnahen Instituts für Makroökonomie junkturabsturzes.« Eine kräftige Binnen-
te – sind sich Deutschland und Frankreich konjunktur könne die deutsche Wirtschaft
nicht einig. jedoch davor bewahren.
In Brüssel rechnet man daher mit den Zollsätze in Prozent Auch in den Betrieben zeigen sich erste
Autozöllen noch vor den amerikanischen Europäische Importe aus den USA Anzeichen einer Flaute. »Die Unternehmen
Midterm-Wahlen im November. Die Kom- US-Importe aus Europa erwarten, dass sich die Lage wegen des Han-
mission arbeitet bereits an einem Katalog delskonflikts verschlechtert«, sagt Fuest.
milliardenschwerer möglicher Gegenmaß- Prominentestes Opfer der Auseinander-
nahmen. Auch ohne diese wäre der Scha- 10 setzung dürfte die deutsche Autoindustrie
Pkw
den erheblich, wie eine Untersuchung 2,5 werden. Trump hat Zölle auf Autoimporte
zeigt, die die EU nach Washington ge- von bis zu 25 Prozent angekündigt. Beim
schickt hat. Millionen Jobs in den USA wä- Leichte 10 Verband der Automobilindustrie heißt es,
ren in Gefahr. Die US-Wirtschaftsleistung Trucks/ man beobachte die Entwicklung der inter-
würde wegen der Strafzölle auf Autos um Pick-ups 25 nationalen Handelspolitik mit großer Sor-
13 bis 14 Milliarden Dollar schrumpfen. ge. Das Ifo-Institut hat schon einmal aus-
22 gerechnet, was die Autozölle kosten könn-
Was bedeutet der Handelskrieg Lkw
25 ten – das deutsche Bruttoinlandsprodukt
für Deutschland? würde wohl um fünf Milliarden Euro ge-
Eine solche Eskalation birgt Gefahr für die 2 bis 5 ringer ausfallen.
Wirtschaft der Exportnation Deutschland, Autoteile Für die drei deutschen Konzerne VW,
die besonders von offenen Märkten profi- 2,5 Quelle: LBBW Daimler und BMW rechnet die LBBW im

59
schlimmsten Fall mit einem senkt. »Außerdem hat der Staat
Gewinnrückgang um bis zu finanziellen Spielraum, durch
zehn Prozent. Dabei sind noch höhere Ausgaben und öffent-
nicht jene Autozölle berücksich- liche Aufträge eine geringere
tigt, die China den USA ange- private Nachfrage auszuglei-
droht hat und die auch deutsche chen«, sagt Fuest.
Hersteller träfen, weil sie China All das hilft zwar gegen kon-
zum Teil aus Amerika heraus junkturelle Rückschläge, nicht
beliefern. aber gegen die strukturellen Fol-
gen, die ein anhaltender Han-
Nutzt der Handelskrieg delskrieg hätte. »Wenn Trump
der US-Wirtschaft? mit seiner Politik dauerhaft ein
Das Gift der Zölle sickert nach protektionistischeres System
und nach in den Wirtschafts- etablierte, würden Lieferketten
kreislauf ein. Dass Trump diese sich ändern und Investitionsent-
Waffe einsetzt, weil er glaubt, scheidungen beeinflusst«, sagt
der amerikanischen Wirtschaft Familienunternehmer Haeus-
damit einen Gefallen zu tun, gen. Eine Horrorvorstellung für
steht in einer unguten Tradition den selbst erklärten »Freihan-

ZUMA PRESS / ACTION PRESS


amerikanischer Wirtschafts- dels-Freak«.
politik. Ökonomen sind sich weit-
Schon Alexander Hamilton, gehend einig, dass in einem sol-
der erste Finanzminister der chen Szenario das Wachstums-
USA, führte sie Ende des 18. potenzial sinken würde. Auch
Jahrhunderts ein, um junge In- die Zeiten niedriger Inflation
dustrieunternehmen vor der Ölraffinerie in Kalifornien: »Ein Preisschock für Amerika« könnten sich dann als Episode
überlegenen Konkurrenz aus erweisen. »Die niedrige Infla-
Großbritannien zu schützen. Zu Beginn So weit ist es noch nicht, fest steht aber, tion ist gar nicht so sehr ein Erfolg der
der Dreißigerjahre schotteten die Ameri- dass Trumps Politik die Wachstumsmög- Geldpolitik, sondern eine Folge der Glo-
kaner ihre Märkte ab, um die Folgen der lichkeiten der USA mittelfristig schwächt. balisierung«, erklärt LBBW-Chefvolkswirt
Weltwirtschaftskrise abzumildern. Sie er- »Wenn die USA deutlich höhere Zölle auf Burkert. »Dreht man das zurück, endet
reichten das Gegenteil, durch die Maß- Einfuhren aus China erheben, würde das das Zeitalter der niedrigen Inflation.«
nahmen fiel die Depression stärker aus. einen Preisschock für Amerika auslösen,
Im Unterschied zu Hamilton geht es ähnlich wie eine Mehrwertsteuererhö- Wo bleibt das Positive?
Trump und seiner Riege nicht darum, in- hung«, erklärt LBBW-Ökonom Burkert. Trumps wirtschaftspolitische Agenda ist
novative Neugründungen vor den Unbil- Die US-Zentralbank Fed müsste die Zin- ein Angriff auf die internationale Arbeits-
den des internationalen Wettbewerbs zu sen schneller anheben, gleichzeitig müss- teilung und offene Märke. Wenn sie zu
schützen. Er will vor allem klassische In- ten US-Firmen die Investitionen erhöhen, irgendetwas gut ist, dann dafür, dass Poli-
dustrien wie Stahl, Kohle und die Auto- um fehlende Zulieferungen aus China aus- tiker, Unternehmen und Beschäftigte den
mobilwirtschaft unterstützen. zugleichen. Und all das bei steigender Wert des Freihandels neu schätzen lernen
Doch Trumps Therapie ist schlimmer Staatsverschuldung. Der auf Pump verlän- und erkennen, was auf dem Spiel steht.
als die Krankheit. Den vielleicht geretteten gerte Aufschwung dürfte so ein abruptes Im Schatten von Trumps Attacken leben
oder neuen Jobs in Stahlwerken oder Alu- Ende finden. Handelsabkommen ohne Beteiligung der
miniumhütten stehen Verluste in anderen USA auf. Jüngstes Beispiel ist der Pakt zwi-
Wirtschaftsbereichen gegenüber. Weil US- Wie würde Deutschland einen schen Japan und der EU, der in dieser
Verbraucher mehr Geld ausgeben müssen Abschwung verkraften? Woche abgeschlossen wurde. Zwar war-
für Autos oder Bierbüchsen, können sie Schwächt sich die US-Wirtschaft ab, wird nen Experten davor, den konjunkturellen
sich andere Waren oder Dienstleistungen das auch an Europa nicht spurlos vorüber- Effekt des Deals zu überschätzen. »Das
nicht mehr leisten. Deshalb verlieren Men- gehen. Erst recht, wenn der Handelskon- Abkommen mit Japan ist eine gute Nach-
schen in anderen Wirtschaftszweigen ihre flikt auch die zweitgrößte Volkswirtschaft richt für die EU. Klar ist aber auch, dass
Arbeit – viel mehr, als durch Zölle ge- bremst: China. es in keiner Weise die Verluste ausgleichen
schützt werden, wie Studien nahelegen. Die Frage ist, wie Deutschland, wie kann, die durch einen harten Brexit oder
Trumps erklärtes Ziel ist es, das Han- Europa für ein solches Szenario gewapp- einen Handelskrieg mit den USA entste-
delsdefizit der USA von rund 800 Milliar- net wären. hen würden«, sagt Guntram Wolff, der
den Dollar abzubauen. Sein Handelsbera- Die Europäische Zentralbank hält bis Chef des Brüsseler Thinktanks Bruegel.
ter Peter Navarro hängt der aberwitzigen heute die Zinsen bei null und beginnt nur Immerhin dürfte der Pakt dem Handel
Theorie an, Importe minderten das Brutto- zaghaft, den Geldhahn zuzudrehen. Ei- zwischen beiden Wirtschaftsblöcken neu-
inlandsprodukt. Hätte er recht, müsste das nem neuen wirtschaftlichen Schock könn- en Schwung verleihen. Und weitere Frei-
abgeschottete Nordkorea eine blühende te sie wenig entgegensetzen. Das gilt auch handelsabkommen könnten folgen.
Volkswirtschaft sein. für die Regierungen hoch verschuldeter Es ist also noch immer möglich, dass
Letztlich könnte Trump das Handels- Staaten wie Italien und Spanien. sich Trumps Angriffe auf die Weltwirt-
bilanzdefizit auf ganz andere Art und Deutschland könnte dagegen einen schaft letztlich als vorübergehende Ver-
Weise schrumpfen, als er denkt: indem er Abschwung besser abfedern. »Die Unter- irrung erweisen. Bis dahin dürften sie aber
eine Rezession herbeiführt. Sie würde Jobs nehmen haben hohe Reserven und sind noch gehörigen Schaden anrichten.
verschwinden und Einkommen schrump- international diversifiziert«, sagt Ifo-Chef Martin Hesse, Peter Müller, Christian
fen lassen, was bedeutet, dass die Ameri- Fuest. Seit der Finanzkrise von 2008 Reiermann, Gerald Traufetter, Robin Wille
kaner weniger importieren könnten. haben viele Firmen ihre Verschuldung ge-

60 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Wirtschaft

Schlimmer als die Bahn


Analyse Nie zuvor war Fliegen ab Deutschland so nervig wie in diesem Sommer. Auf Kosten
der Passagiere tobt eine Verdrängungsschlacht in den einstigen Hochburgen von Air Berlin.

olfgang Grupp, 76, hatte noch Glück. Er kam we- hätten die Briten ihr ambitioniertes Angebot monatelang

W nigstens ans Ziel. Der schwäbische T-Shirt-Her-


steller (»Trigema«) hielt Mitte Juni einen Vortrag
in Berlin. Weil sein Eurowings-Flug verspätet war,
mussten 400 Zuhörer über eine Stunde lang auf ihn warten.
nicht abfliegen können. Der österreichische Luftfahrtunter-
nehmer Niki Lauda tat sich mit Ryanair-Chef Michael O’Lea-
ry zusammen, um sein Programm abzuwickeln. Zurzeit strei-
ten er und Ryanair sich mit der Lufthansa um rund ein Dut-
Auch sein Rückflug startete nicht pünktlich. Grupp war stock- zend Jets. Beide Anbieter würden sie gern nutzen, um Löcher
sauer und schrieb einen dementsprechend formulierten Brief im Flugplan zu stopfen. Nun trifft man sich vor Gericht. Er-
an Lufthansa-Aufsichtsratschef Karl-Ludwig Kley. Er werde satzjets oder -crews, um Passagiere bei Ausfällen doch noch
die Lufthansa und ihre Tochter künftig meiden, kündigte ans Ziel zu bringen, gibt es kaum noch. Sie werden gebraucht,
Grupp an, und auf innerdeutschen Strecken lieber die Bahn um die Konkurrenz in Schach zu halten.
und das Auto benutzen. Oder seinen Firmenhubschrauber. Zu welchen Auswüchsen das Gedränge um die beste
Diesen Luxus werden sich viele Reisende in diesem Som- Marktposition führt, lässt sich unter anderem am Beispiel
mer auch wünschen – um dem Chaos im Luftverkehr zu ent- Mallorcas besichtigen, der einstigen Domäne von Air Ber-
kommen. Dass Flüge verspätet sind oder gestrichen werden, lin. Fast alle verbliebenen großen deutschen und europäi-
gab es in der Hochsaison schon immer. Schließlich wird in schen Airlines haben dort inzwischen eigene Ableger ge-
dieser Zeit das meiste Geld verdient, gründet. Nach einer Analyse des Deut-
und das Verbindungsnetz ist enger ge- Flugausfälle in Deutschland schen Zentrums für Luft- und Raum-
knüpft als im Herbst oder im Winter. Da fahrt landen zurzeit pro Tag mehr als
kann es an der einen oder anderen Stelle hundert Jets aus Deutschland auf der
schon mal reißen. Doch so schlimm wie 2012 9660 spanischen Insel. »So viele Betten gibt’s
in diesem Jahr war es noch nie. dort gar nicht, um all die Leute unter-
Allein zwischen Januar und Ende zubringen«, mokiert sich ein Luftfahrt-
Juni haben sich die Flugausfälle mehr 2017 3920 Quelle: AirHelp, 1. Halbjahr manager.
als verdoppelt – von knapp 4000 auf Schon zeichnet sich der nächste Schau-
mehr als 9000 Stornierungen. Auch die platz ab: Wien. Neben Eurowings und
Anzahl der Jets, die mehr als drei Stun- Flüge mit mindestens dreistündiger Verspätung Lauda mit seinem Partner Ryanair hat
den verspätet abhoben, nahm drastisch sich dort der ungarische Billiganbieter
zu. Dabei hat die Hauptreisezeit gerade Wizz Air breitgemacht. Nun will auch
erst begonnen. Es sind Zustände, schlim- 1130 noch der britisch-spanische Anbieter Le-
mer noch als bei der Bahn. vel in Wien Fuß fassen. Die Günstigtoch-
Das Wetter sei zu schlecht und unbe- 260 ter der British-Airways-Mutter IAG geht
rechenbar gewesen, mit diesen Begrün- mit 4 Maschinen an den Start und will
dungen reden sich Airline-Manager he- bis zu 30 Jets betreiben.
raus. Andere verweisen auf renitente Piloten, überforderte Früher hatten die Airline-Manager bei derartigen Engpässen
Fluglotsen oder Mängel bei der Abfertigung am Boden. Das einfach zusätzliche Flugzeuge bestellt, gebrauchte Maschinen
mag alles stimmen, ist aber nur die halbe Wahrheit. Tatsäch- gekauft oder geleast. Doch das funktioniert im Moment nicht.
lich sind die Passagiere unfreiwillig zu Geiseln in einer Das Secondhandangebot ist aufgrund der großen Nachfrage
Schlacht geworden, für die sie nichts können. Es geht darum, zu gering. Boeing und Airbus heimsten auf der Luftfahrtmesse
wer den Luftverkehr in Deutschland und Europa dominiert. im britischen Farnborough diese Woche weitere Großaufträge
Ausgelöst wurde der Verdrängungskampf durch die Air- für ihre kleineren Modelle ein. Dabei sind sie schon jetzt auf
Berlin-Pleite vor knapp einem Jahr. Damals sah es zunächst Jahre ausgebucht und haben lange Lieferfristen. Allein die Luft-
so aus, als würde die Lufthansa, gebilligt von der damaligen hansa muss wegen technischer Pannen bei den Triebwerken
Bundesregierung, den größten Teil des Personals und der derzeit auf rund ein halbes Dutzend neue Maschinen warten.
Flugzeuge übernehmen. Doch auf Druck der EU-Kommission Eurowings wollte in diesem Sommer 210 Maschinen be-
kamen weitere Interessenten ins Spiel und erhielten den Zu- treiben. Tatsächlich sind es nur 185. Das hat Konsequenzen.
schlag für Maschinen und Streckenrechte. Der von Brüssel Selbst attraktive Routen wie Hamburg–Toulouse oder die
gewünschte Wettbewerb ist nun in vollem Gange – und der Strecke München–Rom wurden gestrichen. Auf Langstre-
Schaden für die Kunden ist da. cken-Verbindungen helfen Schwesterunternehmen wie Sun
Im Kampf um Fluggäste haben sich die Airlines im großen Express oder Brussels Airlines aus.
Stil Start- und Landerechte, sogenannte Slots, gesichert – Trigema-Boss Grupp wirft der Lufthansa-Führung »Gier
selbst wenn ihnen das dazugehörige Gerät und Personal fehl- und Größenwahn« vor. Trotzdem ist er neuerdings etwas
te. Denn wenn sie die Slots nicht nutzen, gehen die Rechte milder gestimmt. Lufthansa-Chefkontrolleur Kley hat ihm
verloren. Also legen die Airlines lieber aufeinanderfolgende inzwischen geantwortet und an den für Eurowings zuständi-
Verbindungen zusammen und lassen den einen oder anderen gen Vorstand Thorsten Dirks verwiesen. Der entschuldigte
Flug ausfallen, als dass sie auf die Rechte verzichten. sich in aller Form und bat um Verständnis: »De facto schul-
Wer mit Easyjet von München nach Berlin düste, fand sich tern wir gerade das größte Wachstum, das der deutsche Luft-
daher schon mal in einem Condor-Leihjet wieder. Anders verkehr erlebt hat.« Dinah Deckstein

61
Preview am 30. Juli el)
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dem 30.07.2018 stattfinden. Für
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Am Mittwoch, dem 25.07.2018
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Berlin
Zoo Palast
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THE HANDMAID’S TALE – Beginn: 20.00 Uhr

DER REPORT DER MAGD


»The Handmaid’s Tale – Der Report der Frankfurt am Main
Magd« erzählt über das Leben im Harmonie
dystopischen Gilead, einem totalitären Dreieichstraße 54
Staat, erwachsen aus den Vereinigten Beginn: 20.00 Uhr
Staaten von Amerika. Als Folge zahl-
reicher Umweltkatastrophen ist die
Geburtenrate dramatisch gefallen, und Hamburg
so hat das fundamentalistische Regime Zeise Kinos
Frauen zum Eigentum des Staates Friedensallee 7 – 9
erklärt. Desfred (Elisabeth Moss) ist Beginn: 20.00 Uhr
eine der wenigen noch gebärfähigen
Frauen und im Haushalt des ranghohen
Kommandanten Waterford (Joseph Köln
Fiennes) stationiert. Residenz
Die zweite Staffel der US-Erfolgsserie Kaiser-Wilhelm-Ring 30 – 32
rückt Desfreds Schwangerschaft in den Beginn: 20.00 Uhr
Fokus sowie ihren andauernden
Kampf, ihr ungeborenes Kind vor den
Schrecken Gileads zu bewahren. München
»Gilead ist in dir« ist Tante Lydias City Kinos
Lieblings-Dogma. Desfred und ihre Sonnenstraße 12
Weggefährten kämpfen gegen diese Beginn: 20.00 Uhr
dunkle Wahrheit oder fallen ihr zum
018
AB 02.08.2BEI
Opfer.
Stuttgart
EXKLUSIV V Die Serie wurde 2017 mit acht Emmys® Atelier am Bollwerk
T und zwei Golden Globes® ausge-
ENTERTAIN zeichnet und gewann unter anderem in
Hohe Straße 26
Beginn: 20.00 Uhr
der Kategorie »Beste Dramaserie«.
Bruce Miller kreierte die TV-Serie
basierend auf dem Bestsellerroman von
Margaret Atwood. Die zweite Staffel
der düsteren Dramaserie »The
Handmaid’s Tale – Der Report der
Magd« wird ab dem 2. August exklusiv © 2018 MGM Television Entertainment Inc. and
Relentless Productions, LLC.THE HANDMAID’S TALE
bei EntertainTV ausgestrahlt. is a trademark of Metro-Goldwyn-Mayer Studios Inc.
All Rights Reserved.
www.telekom.de/serien
SPIEGEL: Herr Braun, was überwiegt bei

»Chefsache« Ihnen, wenn Sie über künstliche Intel-


ligenz nachdenken: Faszination oder
Grusel?
Braun: Ich finde es erst einmal großartig,
Zukunft Helge Braun, 45 (CDU), Minister für besondere Aufgaben, was alles entstehen kann. Jeder erinnert
über künstliche Intelligenz, die Schwäche der Deutschen, sich doch an seinen ersten Computer. Und
radikal Neues zu erfinden, und das bedingungslose Grundeinkommen da war es so, dass man zunächst begeistert
war von dem, was er alles konnte – und
nach einer Weile merkte, was er alles nicht
konnte. Da gab es immer diesen Punkt, an
dem man dachte: Das ist doch so einfach,
warum denkt die Maschine denn nicht
mit? Mit KI erreichen wir nun diesen tech-
nologischen Meilenstein, dass der Maschi-
ne das Mitdenken und Weiterdenken in
Grundzügen gelingt.
SPIEGEL: Nehmen Sie auch die Gefahren
dieser Technologie wahr?
Braun: Ja, natürlich. Ich nehme sehr ernst,
dass selbst einer der größten Wissenschaft-
ler unserer Zeit, Stephen Hawking, kurz
vor seinem Tod warnte, künstliche Intelli-
genz sei vielleicht die größte Erfindung
der Menschheit, sie könnte aber auch die
letzte sein. Es gibt enormes Potenzial und
enorme Risiken, und natürlich müssen wir
das steuern. Und das darf uns nicht nur
am Rande, sondern muss uns im Kern be-
schäftigen. Digitalisierung insgesamt müs-
sen wir als Chefsache begreifen. Das sind
keine Dinge, die man nur den IT-Be-
auftragten überlassen darf. Das ist hohe
Politik.
SPIEGEL: Was ist Ihr ethischer Leitfaden
dabei?
Braun: Das Grundprinzip, dass Technik
immer dem Menschen dienen muss, gilt
auch für KI. Die Frage, was unser Ziel ist
und wo wir hinwollen, die kann KI nicht
lösen. Sie kann eine Aufgabe intelligenter
lösen als der Mensch, aber über die Auf-
gabenstellung muss der Mensch immer
noch selbst entscheiden.
SPIEGEL: Die Bundesregierung hat in die-
ser Woche die Eckpunkte für einen »Mas-
terplan Künstliche Intelligenz« beschlos-
sen. Im Herbst soll die gesamte Strategie
stehen. Was ist das Ziel?
Braun: In den vergangenen zwölf Mona-
ten ist klar geworden, dass KI ein Moment
im Wirtschaftsleben sein wird, der das
Spiel verändert, und darauf müssen wir
auch politisch antworten. Alle großen Län-
der arbeiten daran, KI in ihrem Sinne vo-
ranzubringen, von Frankreich bis China.
Wir müssen das schaffen, denn davon
hängt ab, ob Deutschland auch in Zukunft
wirtschaftlich erfolgreich sein kann.
HC PLAMBECK / DER SPIEGEL

SPIEGEL: Frankreich nimmt immerhin


1,5 Milliarden Euro in die Hand. China
will ein Vielfaches investieren, um bis
2030 Weltmarktführer in Sachen KI zu
werden. Wie viele Milliarden wollen Sie
lockermachen?

Kanzleramtschef Braun*: »Wir werden da etwas drauflegen müssen« * Im Bundeskanzleramt in Berlin.

64
Wirtschaft

Braun: Darüber sprechen wir gerade noch. SPIEGEL: Es bleibt aber das Problem, dass tromobilität so, auch beim autonomen
Wir fördern die Technologie bislang mit KI-Algorithmen enorme Datensets brau- Fahren.
einer Summe im dreistelligen Millionen- chen, anhand derer sie trainiert werden. Braun: Vor zehn Jahren kannte das Wort
bereich, aber ich habe den Eindruck, wir Wo sollen die hierzulande herkommen, Disruption kaum jemand. Jetzt sagt es je-
werden da etwas drauflegen müssen. wenn die Datenriesen doch fehlen? der jeden Tag fünfmal. Und diese plötzli-
SPIEGEL: Wie steht Deutschland im inter- Braun: Wir befassen uns im Masterplan che komplette Umwälzung einer Branche
nationalen Wettrennen um KI da? KI beispielsweise mit den Datenbeständen ist immer für diejenigen Unternehmen ge-
Braun: Bei Weitem nicht so schlecht, wie des Staates und wollen diesen Datenschatz fährlich, die nicht schnell genug erkennen,
viele offenbar glauben. Viele der Wissen- insbesondere der KI-Forschung kostenlos dass sich ihr eigenes Geschäftsmodell än-
schaftler, die den spannendsten Bereich zur Verfügung stellen. Wenn daraus neue dert. In Deutschland gibt es beides: Un-
der KI entscheidend vorangebracht haben, Geschäftsmodelle entstehen, mit denen ternehmen, die perfekt vorbereitet sind
das sogenannte Deep Learning, kommen Firmen durch neuartige Dienstleistungen und die Entwicklung treiben, und diejeni-
aus Deutschland, das ist also in gewissem für Bürger Geld verdienen, kann ich mir gen, die in Gefahr schweben, ohne dass
Sinne eine deutsche Erfindung. Nicht alle auch Lizenzmodelle vorstellen. Ihre Frage sie es wissen. Es mangelt gerade bestimmt
daran Beteiligten arbeiten heute noch hier, berührt aber das größere Grundproblem nicht an Veranstaltungen zum Thema Di-
was natürlich schade ist, aber in Forschung der Digitalisierung insgesamt, für das wir gitalisierung, es mangelt auch nicht am Ge-
und Entwicklung sind wir insgesamt ziem- noch nicht alle Antworten haben. spräch darüber, aber oft an dem tiefen Ver-
lich gut. Die große Aufgabe liegt nun darin, SPIEGEL: Worin sehen Sie dieses Grund- ständnis, wie und mit welchen Mechanis-
dass wir die KI in die Alltagsprodukte in- problem? men sich gerade Geschäftsmodelle ändern.
tegrieren, in unsere Autos und die Medi- Braun: Bisher zeigen die erfolgreichen di- SPIEGEL: Die Veränderungen betreffen
zintechnik bis zu Haushaltsgeräten. In all gitalen Geschäftsmodelle: Man kann klein nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den
diesen Bereichen sind wir bisher schon anfangen, muss dann aber schnell wach- Staat, die Politik. KI wird den Arbeitsmarkt
stark, deshalb wird das entscheidend sein. sen und ein globaler Riese werden, um verändern, die heutigen Sozialsysteme pas-
SPIEGEL: Auch an der Erfindung von Fax bestehen zu können. Das steht aber unse- sen dann womöglich nicht mehr. Disku-
und MP3-Format waren deutsche Inge- rer mittelständisch geprägten Wirtschaft tiert wird deshalb etwa ein bedingungslo-
nieure maßgeblich beteiligt. Das große diametral entgegen. Ich habe in den ver- ses Grundeinkommen. Was halten Sie da-
Geld haben andere damit verdient. gangenen Monaten viele Gespräche auch von?
Scheint sich das nicht gerade zu wieder- Braun: Ich trete sehr vehement gegen die
holen? Idee eines bedingungslosen Grundeinkom-
Braun: Wir sind inzwischen viel weiter. »Es entstehen neue Jobs, mens ein. Es ist die Botschaft an die Men-
Wir unterstützen innovative Unterneh- allein dadurch, dass schen im Land, dass es einen relevanten
men in der Gründungsphase. Es gibt einen Anteil von ihnen geben wird, den wir nicht
funktionierenden Risikokapitalmarkt. Menschen sich gern mit mehr brauchen. Das Versprechen lautet,
Schwierig ist es allerdings noch in der Menschen beschäftigen.« dass wir alle schon irgendwie finanziell
Wachstumsphase. Deshalb haben wir ge- über Wasser halten. Nicht sehr großzügig,
rade neue Regeln geschaffen, damit sie ihr aber so, dass man einigermaßen durch-
Eigenkapital stärken können, ohne sich mit Mittelständlern geführt, und alle sagen kommt. Ich halte dieses Gesellschaftsbild
steuerlich zu schaden. mir, dass sie bei den für KI notwendigen für absoluten Irrsinn. Ich möchte eine Ge-
SPIEGEL: Die großen Internetplattfor- Entwicklungsbudgets nicht mehr mithal- sellschaft, in der jeder gebraucht wird. Im
men – Google und Amazon in den USA, ten können. Das wird eine der wichtigsten Koalitionsvertrag ist das mit dem Verspre-
Baidu in China – entstanden allesamt au- Fragen sein: Wie können Firmen, die chen Vollbeschäftigung adressiert. Jeder,
ßerhalb von Deutschland und Europa. Die- nicht die Größenordnung von Google der sich anstrengt, kann in diesem Land
se Firmen verfügen über riesige Daten- oder Alibaba haben, im digitalen Wettbe- etwas erreichen. Wir brauchen alle.
mengen und sind nun auch Vorreiter in werb weiter erfolgreich sein – und wie SPIEGEL: Halten Sie das für realistisch?
Sachen KI. Haben sie nicht längst einen können wir das staatlich richtig unter- Durch KI könnten massenhaft Jobs weg-
uneinholbaren Vorsprung? stützen? fallen.
Braun: Ich bin da nicht so pessimistisch. SPIEGEL: Der Einfluss des Staates auf Un- Braun: Das haben wir schon einmal ge-
Bei den bisherigen datengetriebenen Ge- ternehmen ist begrenzt – wie wollen Sie schafft. Vor der Automatisation in der Au-
schäftsmodellen der großen Plattformen das Thema konkret voranbringen? tomobilindustrie wurde mit den gleichen
geht es meist um Werbung, für die man Braun: Wir planen eine Bundesagentur Argumenten gewarnt. Und jetzt haben wir
viele personenbezogene Daten braucht. für Sprunginnovationen. Dahinter steht Fachkräftemangel. Ich glaube, das geht mit
Das ist mit unserer deutschen und europä- die Analyse, dass wir Deutschen gut darin Digitalisierung genauso. Wir müssen das
ischen Vorstellung von persönlicher Daten- sind, Dinge weiterzuentwickeln, aber we- nur alles richtig machen und uns als
souveränität oft nicht vereinbar, insofern niger gut darin, radikal Neues zu erfinden Hightech-Land weiter behaupten. Natür-
gibt es hier sicher einen wirtschaftlichen und dafür ins Risiko zu gehen. Die Agen- lich wird es manche Jobs in Zukunft nicht
Nachteil, den wir aber nicht beseitigen tur soll Bereiche finden, in denen solche mehr geben. Aber es entstehen neue, al-
können. Er kann uns aber dazu inspirieren, Sprunginnovationen notwendig sind, und lein schon dadurch, dass Menschen sich
neue KI-Geschäfte zu erfinden, für die es diese Probleme dann ausschreiben: Start- gern mit Menschen beschäftigen. Und das
keine oder weniger personenbezogene Da- ups, Unternehmen oder Konsortien kön- wird immer so bleiben. Kaum jemand
ten braucht – und davon gibt es einige. Bei nen sich mit ihren Lösungsvorschlägen empfindet es als Vorteil, wenn er in einer
der Verkehrssteuerung muss man nicht un- dann um eine Förderung bewerben. In den voll automatisierten Welt alle Service-
bedingt wissen, welcher Fahrer am Steuer USA gibt es das schon, wir wollen im kom- belange und alle Antworten ausschließlich
sitzt. Und auch bei der Analyse von Rönt- menden Jahr damit starten. von der Technik bekommt. KI ist da keine
genbildern wird der Computer mit jedem SPIEGEL: Die deutsche Industrie scheint Ausnahme.
neuen Bild immer schlauer, selbst wenn er sich bei Zukunftstechnologien sehr oft Interview: Markus Brauck,
nicht weiß, von welchem konkreten Patien- erst dann zu bewegen, wenn sie von au- Marcel Rosenbach
ten die Aufnahme stammt. ßen angegriffen wird. Das war bei der Elek-

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 65


Wirtschaft

Serie (III) Kaum etwas beschäftigt die Deutschen der- Sommerserie: Wir fragen, wie die Wohnungsnot die Ge-
zeit so sehr wie die Frage nach bezahlbarem Wohn- sellschaft verändert, wie gute Wohnungsbaupolitik aus-
raum. Der SPIEGEL widmet dem Thema deshalb eine sehen sollte und wer die entscheidenden Akteure sind.

Die Kluft
Soziale Ungleichheit Arm und Reich wohnen sich immer weiter auseinander. Vor allem Menschen
mit niedrigem Einkommen leben zunehmend in eigenen Wohnvierteln.

H
eute ist ein guter Tag, Torsten aufgeregt. Nicht wegen der Probleme, die läuft sie schneller. Es gibt nicht viele Aus-
Haß hat Geburtstag. Er wird der Wissenschaftler Marcel Helbig darin nahmen.
45 Jahre alt. Schnell schaut er beschreibt, die sieht er auch. »Mich stört 36 Städte haben mittlerweile Viertel, in
noch in das Büro des Mehrgene- der negative Touch, in eine bestimmte denen mehr als die Hälfte der Kinder von
rationenhauses in der Moskauer Straße Ecke geschoben zu werden«, sagt Haß, Leistungen aus der Grundsicherung lebt.
und sagt Hallo. Er stellt Kuchen für später »nach dem Motto: Da kann man sowieso Den stärksten Anstieg gibt es vor allem in
auf den Tisch. Gleich wird er wieder sei- nichts ändern.« ostdeutschen Städten wie Halle oder Pots-
nen Stadtteil verteidigen, vehement, wie Der Sozialdemokrat lebt seit vielen Jah- dam, aber auch Kommunen im Westen
so oft in den vergangenen Wochen. ren am Moskauer Platz. Er glaubt an Ver- wie Kiel oder Köln sind betroffen. In Ros-
Es ist kurz nach 15 Uhr an einem Mon- änderung. »Wenn Sie immer nur erzählen, tock lebt jedes dritte Kind in einem eher
tag, Haß beginnt gleich seine wöchentliche wie schlimm alles ist, nehmen Sie den armen Viertel. In Berlin, Schwerin oder
Sprechstunde ein Stockwerk höher. Er ist Menschen die Hoffnung, dass es auch bes- Saarbrücken ist es jedes vierte Kind.
seit fast zehn Jahren der Ortsteilbürger- ser wird.« Er stellt auch einen zweiten Trend fest:
meister des Moskauer Platzes in Erfurt. Von Haß’ Büro sind es knapp 700 Meter Alt und Jung leben immer seltener Tür an
Rund 7800 Menschen leben am Mos- zu Fuß bis zur Straßenbahnlinie 2 und Tür. Die 15- bis 29-Jährigen wohnen zu-
kauer Platz. Er ist einer der vier Ortsteile, dann fünf Stationen bis zur Universität Er- nehmend in anderen Vierteln als die Men-
die in der Stadt zusammen »Erfurt Nord« furt. Im ersten Stock des Lehrgebäudes 2 schen über 65 Jahre.
genannt werden. Es sind Plattenbausied- hat jener Marcel Helbig sein Büro. Am Be- Nach der Wende durchliefen die Plat-
lungen aus DDR-Zeiten. Haß nennt sie lie- ginn der Strecke sieht die Welt aus wie die tenbauten im Osten im Zeitraffer die Ent-
ber »Großwohnsiedlung«. Legostadt eines Kindes, wo alles nach wicklung, die die »Wohnmaschinen« des
In den vergangenen Monaten kam Er- oben wachsen muss; Fünfgeschösser, Zehn- Westens wie die in Köln-Chorweiler oder
furt Nord und damit auch der Moskauer geschösser, Sechzehngeschösser. Mümmelmannsberg in Hamburg in den
Platz in die Schlagzeilen. Als Beispiel für Auch der Forscher Helbig ist in Erfurt Jahrzehnten zuvor durchgemacht hatten.
einen Trend, den Wissenschaftler in einer geboren. Und doch ist sein Blick auf den Wer konnte, zog aus der Platte aus, als die
Studie in Ost und West ausgemacht haben: Norden der Stadt ein anderer. »Natürlich Innenstädte saniert waren und in den Vor-
dass sich Arm und Reich, Jung und Alt in gibt es Menschen, die schon lange dort le- orten die Eigenheimsiedlungen sprossen.
Deutschland zunehmend auseinander- ben und bleiben wollen. Aber viele sind Das Ausmaß und das Tempo, mit dem
leben. Dass sich in den Städten Menschen eben auch nicht freiwillig da«, sagt Helbig. sich die Kluft geweitet hat, nennt Helbig
mit niedrigen Einkommen immer stärker »Die sind mit dem Fahrstuhl nach unten »historisch beispiellos«. Im Westen wie im
in bestimmten Wohngebieten ballen – Kin- gefahren.« Osten habe der soziale Wohnungsbau das
der und Alleinerziehende, die Grundsiche- Helbig ist 37 Jahre alt und hat eine Pro- Problem verschärft, denn Sozialwohnun-
rung benötigen, Familien, Alte. So wie am fessur für »Bildung und Soziale Ungleich- gen gebe es vor allem dort, wo viele arme
Moskauer Platz in Erfurt. heit«. Es geht ihm nicht so sehr um seine Menschen wohnen. »In vielen Städten«,
In 80 Prozent der untersuchten Groß- Heimatstadt im Besonderen. Er spricht glaubt Helbig, »ist die Idee einer sozial ge-
städte bleiben die Menschen, die auf so auch über Rostock oder Kiel. Gemein- mischten Stadtgesellschaft nicht mehr
Hartz IV angewiesen sind, zunehmend un- sam mit der Doktorandin Stefanie Jähnen Wirklichkeit.«
ter sich. Das Thema berührt eine der exis- hat er für das Wissenschaftszentrum Berlin Von der Universität sind es rund drei
tenziellen Fragen für den Zusammenhalt »die soziale Architektur« von 74 deutschen Kilometer zu Fuß zur Fachhochschule Er-
einer Gesellschaft: Wie tief ist die Kluft Großstädten untersucht. Wenn man seiner furt. Man hat die Legostadt längst hinter
zwischen den Bürgern, auch räumlich? Studie folgt, trennen sich oben und unten sich gelassen, an den Klingelschildern der
Gibt es in einem Land, wo jeder überall in Deutschland. Häuser stehen weniger Namen. Im Haus 3
hingehen kann, Orte, die Menschen den- In mehr als 60 Städten hat demnach sitzt die Fachrichtung »Soziale Arbeit«.
noch nicht aus eigener Kraft verlassen kön- zwischen 2005 und 2014 die Ballung von Jörg Fischer ist dort Professor und zugleich
nen? Kehren die Armenviertel zurück? Menschen zugenommen, die auf Sozial- Vorstand im angegliederten Institut für
Haß wehrt sich dagegen. In der Vor- leistungen wie Hartz IV angewiesen sind. kommunale Planung und Entwicklung
woche ist in der »Thüringer Allgemeinen« Am stärksten dort, wo viele Familien mit (IKPE), es berät seit 2015 Kommunen und
wieder ein Artikel zu Erfurt Nord mit der Kindern und bedürftige Menschen leben. Landkreise in Thüringen.
Überschrift »Das Kind liegt ganz tief im Und in den Kommunen, in denen die so- Im selben Jahr hat sich das IKPE im Auf-
Brunnen« erschienen. Der Text hat ihn ziale Spaltung bereits am größten ist, ver- trag der Stadt Erfurt angeschaut, wie die

66
soziale Lage in der Stadt ist. Als Fischer
Anfang 2016 den Bericht vorlegte, hatte
er zunächst eine gute Nachricht. »Erfurt
wächst wirtschaftlich, die Bevölkerungs-
zahl steigt, die Zahl der Arbeitslosen und
Hartz-IV-Empfänger sinkt, insgesamt neh-
men die sozialen Problemlagen ab.«
Doch sobald er durch die Lupe des So-
ziologen schaut, tauchen die Probleme auf.
Der Aufschwung ist nicht in allen Vierteln
und bei allen Bürgern gleichermaßen an-
gekommen. An einem Teil der Menschen
ist er grußlos vorbeigegangen. Tatsächlich
sei die Ungleichheit in der Stadt gestiegen,

MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL


sagt Fischer. Sie konzentriere sich auf be-
stimmte Viertel. »Sie können sich nahezu
alle Zahlen von der Geburten- bis zur Ster-
bestatistik anschauen: Sie sehen immer
Privilegien in den gleichen Vierteln und
die gleiche Benachteiligung in anderen.«
Seine Zahlen sind aus dem Jahr 2014,
doch an den grundsätzlichen Trends hat
sich wenig geändert. Für Erfurt Nord be-
deutete dies: Nach der Grundschule wech-
selten in Erfurt etwa 44 Prozent auf das
Gymnasium, in Erfurt Nord waren es nur
halb so viele. Die Arbeitslosigkeit ist höher.
In Erfurt Nord leben mehr alte und weni-
ger junge Menschen als im Schnitt der
Stadt. Rund 60 Prozent der Kinder unter
15 Jahren lebten in Lebensgemeinschaften,
die auf Unterstützung angewiesen waren.
74 Prozent der Alleinerziehenden bezo-
gen Hartz IV.
Es ist nicht so, dass Erfurt nichts täte.
»Es fehlt nicht an Unterstützung und Hilfe,
sie findet in den betroffenen Stadtteilen
verstärkt statt«, sagt Fischer. Es gebe ge-
nügend Kitas und Schulen, soziale Einrich-
tungen von Streetworkern bis zur Schuld-
nerberatung. Im Reagieren sei Erfurt gut,
es hapere aus seiner Sicht am Agieren. Es
ist ein Schicksal, das die Stadt mit vielen
anderen teilt.
»Das Manko ist, das Wissen in politi-
sches Handeln zu übersetzen«, sagt
Fischer. Etwa in der Wohnungsbau- oder
Bildungspolitik. Gerade da, wo die größ-
ten sozialen Probleme seien, müssten die
am besten ausgestatteten Schulen mit den
besten Lehrern stehen. Die Stadtteile
brauchten eine Imageaufwertung, um at-
traktiver zu werden. Durch Wohnungsbau
in den Vierteln oder an ihren Rändern, der
auch für die Mittelschicht attraktiv sei.
Nötig sei zudem ein breites Angebot von
Kultur- und Freizeiteinrichtungen.
Denn es gibt etwas, das ebenso schwer
MARTIN JEHNICHEN / DER SPIEGEL

wiegt wie die Fehlentwicklungen, aber


schwerer zu bekämpfen ist: die Stigmati-
sierung. »Gettoisierung«, »Segregation«,
»sozialer Brennpunkt« sind allesamt asep-
tische Wörter, doch sie besitzen die Kraft,
Kopfkino mit Bildern von brachialer Kraft
zu kreieren: von brennenden Mülltonnen
und Verwahrlosung. In der Regel haben
Ortsteil Moskauer Platz in Erfurt, Rentnerin S.: »Zu wenig Zusammenhalt« sie wenig mit der Realität zu tun, aber so

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 67


Wirtschaft
Flexibel bleiben: Lesen Sie den ein Ruf klebt wie Kaugummi. »Dort leben

SPIEGEL, solange Sie möchten! erschöpfte Familien und Menschen«, sagt


Fischer. »Es ist auch ein Kampf um die
Würde.«
Torsten Haß ist im Jahr 2000 mit seiner
damaligen Frau an den Moskauer Platz ge-
zogen. »Wir wollten preiswerten Wohn-
raum«, sagt er. Jahrelang lebten sie zu viert
in einer Dreizimmerwohnung von 60 Qua-
dratmetern. Heute wohnt er allein in einer
Zweizimmerwohnung.
Als Haß 2001 mit dem Lehramtsstudi-
um fertig war, wurden keine Grundschul-
pädagogen gebraucht. Er ging in die Er-
wachsenenbildung, heute ist er der Leiter
der Volkshochschule Erfurt. Auch in der
Politik hat er sich engagiert, ab 2006 war
er für anderthalb Jahre der persönliche Re-
ferent des SPD-Oberbürgermeisters. Er
kennt die Fehler der Vergangenheit, als es
in den Neunzigerjahren hieß, die Stadt
müsse von ihrem Kern heraus wachsen.
Keine Und als deshalb die Plattenbausiedlungen
an der Peripherie vernachlässigt und aus
Mindest- den Augen verloren wurden, sodass die
Menschen wegzogen.
laufzeit »Anfang der 2000er-Jahre haben wir ge-
merkt, dass etwas geschehen muss und
dass wir gegensteuern müssen«, sagt Haß.
Man habe die Gebiete nicht mehr sich
selbst überlassen und hoffen können, alles
werde sich schon regeln. 2009 wurde das
Amt des Ortsteilbürgermeisters auch in
den Plattenbausiedlungen eingeführt, um
den einzelnen Vierteln ein Gesicht und
eine Stimme im Rat der Stadt zu geben,
so, wie sie die nach der Wende eingemein-
deten wohlhabenderen Ortsteile bereits
hatten.
Am Moskauer Platz sind die meisten
Wohnblöcke nur viergeschossig. Es gibt
viel Platz und Grün zwischen ihnen, ein
Ärztehaus und Supermärkte in der Nähe.
An den Rändern sollen Eigenheimsiedlun-
gen entstehen, 2021 kommt die Bundes-
Der SPIEGEL jede Woche frei Haus: gartenschau, und auch der Erfurter Nor-
den soll davon profitieren.
œıōğZĴťĴłœĿğĚğš
ğĴŭłŸōĚĒćš ŋĴŭĚğŋ>0eZekZ^V0(> Haß will sein Quartier attraktiv machen.
ĬŸōťŭĴĬğšćŅťĴŋĴō
ğŅıćōĚğŅ žğšĬŸōťŭĴĬŭğeĴĔłğŭťĨŸšćųťĬğſČıŅŭğ Er will, dass Familien mit Kindern zuzie-
SPIEGEL-Veranstaltungen hen. »Ich glaube, wir haben schon einige
łœťŭğōŅœťğškšŅćųĒťťğšžĴĔğ
ſſſťŝĴğĬğŅŅĴžğĚğ Schritte voran gemacht«, sagt er. Er weiß
aber, dass der Moskauer Platz immer auch
ein Gebiet der Sozialwohnungen bleiben
wird: »Wir werden nie besser als Durch-
schnitt werden können.«

Ja, ich möchte bequem den SPIEGEL lesen!


Jede Stadt ist voller unsichtbarer Gren-
zen. Flussläufe, Bahnschienen, Straßen,
die Stadtviertel und ihre Bürger wie De-
Ich lese den SPIEGEL für nur € 4,80 pro Ausgabe statt € 5,10 im Einzelkauf markationslinien scharf voneinander ab-
grenzen.
Rosenzweig & Schwarz, Hamburg

und entscheide selbst, wie lange ich den SPIEGEL lesen möchte.
Vom Moskauer Platz sind es nur ein
paar Meter über die Straße der Nationen,
dann ist man am Berliner Platz. Es ist ein
Einfach jetzt anfordern: ähnliches Viertel, nur dass die Wohnblocks
etwas dichter stehen, viele Häuser etwas
abo.spiegel.de/flexibel höher und die Zahlen noch etwas schlech-
ter sind.
040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP18-215) 68
Arm und Reich getrennt
Städte mit abnehmender sozioökonomischer
für Senioren, ein psychosozialer Dienst
für Migranten.
Wie wird man
Durchmischung der Stadtteile Jeden Dienstag um zwölf Uhr gibt
Städte mit guter sozioökonomischer
Durchmischung der Stadtteile
es einen Mittagstisch für zwei Euro. Es
ist keine Tafel, niemand muss eine Be-
dürftigkeit nachweisen. Es ist ein An-
zum glücklichen
Flensburg gebot, das Menschen zusammenbrin-

Kiel
Lübeck Rostock
gen soll. Rentner sind gekommen,
Menschen, die schon lange hier le-
ben und gearbeitet haben. Neun
Hobby-
Portionen gehen heute raus.

Bremerhaven
Hamburg
Schwerin
Neubrandenburg
An dem kleinen Tisch am
Schaufenster, auf dem ordent-
lich sortiert Getränke, Gläser
Handwerker?
Bremen und die Kasse stehen, sitzt
Tamara S. Sie betreut den
Wolfsburg Potsdam Mittagstisch ehrenamtlich.
Osnabrück Hannover Berlin
»Wenn ich das nicht machen

esen,
Gelsenkirchen Bielefeld würde, bekäme ich einen
Jetzt l selber
Herne Braunschweig Magdeburg Koller.«
Sie ist 54 Jahre alt und
und
Paderborn Cottbus

lernen chen!
Krefeld Halle
Rentnerin. Erwerbsgemin-
Kassel Leipzig dert, mit Pflegegrad. Sie
Aachen
Dortmund Weimar
Dresden wurde in Erfurt geboren, ma
Siegen war alleinerziehende Mut-
Bonn Jena Gera Chemnitz
Frankfurt a. M. ter, und man verliert ein we-
Erfurt
Köln Offenbach nig den Überblick, wenn man über-
Koblenz
Würzburg
schauen will, was und wo sie in ihrem
Trier Mainz Leben gearbeitet hat – unter anderem
Erlangen
Darmstadt
Mannheim im Bekleidungslager des VEB Minol,
Ludwigs- Heidelberg Fürth Nürnberg bei den Erfurter Verkehrsbetrieben,
hafen
Pforzheim an einer Tankstelle.
Regensburg
Saarbrücken Vor vier Jahren ist sie an den
Stuttgart Ingolstadt Berliner Platz gezogen. Sie wohnt
Karlsruhe in der dritten Etage eines zehnstö-
Ulm
Ausgburg München ckigen Hochhauses, zwei Zimmer, Bal-
Freiburg kon. »Ich habe eine preiswerte Woh-
Konstanz nung gesucht«, sagt Tamara S. Sie be-
Quelle: WZB
kommt unter 1000 Euro Rente, ein paar
Euro zu viel, um Anspruch auf Grund-
Das Quartier hängt nach, man sieht es sicherung zu haben. Dazu kommen
ihm an. Hier gibt es keinen Geldautoma- 73 Euro Wohngeld im Monat. Sie zahlt
ten mehr und kein Café, der letzte Brief- 412 Euro Miete warm. Sie hat keinen An-
ISBN 978-3-54837-755-1

kasten wurde abmontiert. Zwischen leeren spruch auf einen Sozialausweis, der das
Ladenlokalen in der zentralen Einkaufs- Leben billiger macht. Die Befreiung vom
passage überleben ein paar kleine Läden Rundfunkbeitrag ist jedes Mal ein Kampf.
und ein Ein-Euro-Shop. Was sie störe in ihrem Hochhaus, sei
Doch auch hier gibt es Hoffnung, und der ständige Wechsel. Niemals kehre Ruhe
sie heißt Aldi. Zu Jahresbeginn hat der Dis- ein. »In den letzten zwei Jahren gab es
counter eine neue, moderne Filiale eröff- Umzüge in allen Wohnungen«, sagt sie,
net. Am Eingang des Viertels, wo vor gut »ich kenne vielleicht noch eine Nachba-
drei Jahren der letzte Supermarkt dicht- rin.« Die Isolation und die Anonymität im
gemacht wurde. Mittlerweile ist die kom- Stadtteil würden immer größer. »Es wird
plette Passage aufgerissen und wird saniert. zu wenig für den Zusammenhalt getan.«
3,5 Millionen Euro will die Stadt hier in Sie kommt zurecht, sie hat sich arran-
den nächsten Jahren investieren. giert, irgendwie auch mit dem Viertel. Sie
Der Aldi ist jetzt der Mittelpunkt des mag die Aufgabe im Stadtteiltreff. Sie
Viertels. Schräg gegenüber hatte bereits glaubt, es brauche mehr solcher Orte. Aber
im Jahr 2015 der Stadtteiltreff aufgemacht, ist das hier ihre Heimat? Sie weiß nicht, ob
er wird vom selben Verein getragen wie es nur eine Zwischenstation ist: »Angekom-
das Mehrgenerationenhaus am Moskauer men bin ich am Berliner Platz noch nicht.«
Platz. Auch er soll eine Anlaufstelle für Markus Dettmer
die Menschen am Berliner Platz werden,
sie miteinander vernetzen, ihnen bei Be- ‣ Lesen Sie kommende Woche
hördenproblemen helfen. Fetisch Eigenheim: die teure Liebe der
Noch ist das Angebot im Aufbau: Deutschen zu ihrer Immobilie
Sprechstunden und Smartphone-Schulung

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 69


Ausland
An keinem Ort der Welt wird die Bevölkerung so flächendeckend kontrolliert wie im chinesischen Xinjiang. ‣ S. 76

TIKSA NEGERI / REUTERS


Vereinigt nach 16 Jahren Trennung. Endlich kann der Äthiopier Adisalem Abu seine in Eritrea lebenden
Töchter am Flughafen von Asmara in die Arme schließen. Der 58-Jährige hat den ersten Linienflug
aus seiner Heimat ins Nachbarland genommen, nachdem die Erzfeinde nach zwei Jahrzehnten Frieden
geschlossen hatten. Vorher waren die Grenzen gesperrt, gegenseitige Besuche verboten.

Kommentar

Eingemauert
Was immer die bedrängte britische Premierministerin jetzt tut: Entweder zerreißt es ihre Partei – oder ihr Land.

Theresa May fährt demnächst wieder in die Berge. Höhenluft entfernt ist, aber einen Teufel tun wird, sie zu stützen. Wie May
atmen, morgens irgendwo losmarschieren und abends irgendwo bis Jahresende einen Brexit-Plan durchs Parlament bringen
ankommen. Eine Freiheit genießen, die die britische Premier- soll, kann sich kaum jemand vorstellen. Und dabei haben die
ministerin daheim schon lange nicht mehr hat. Dort ist sie, eigentlichen Verhandlungen mit der EU noch gar nicht begonnen,
spätestens seit dieser Woche, endgültig eingemauert. Sie hat in denen sie weitere Kompromisse wird eingehen müssen.
zwar auch diese Woche wieder mal knapp überlebt, aber sie Was bleibt ihr übrig? Im Wesentlichen hat May drei Optionen,
hat den Brexit-Hardlinern in ihrer Partei dafür maximale Zuge- die alle mit Risiken verbunden sind: Sie könnte die Führungsfrage
ständnisse machen müssen – die ihren Kompromissvorschlag in ihrer Partei erneut stellen, in der Hoffnung, gestärkt daraus
von Anfang Juli unmöglich machen. Und einen Aufstand der hervorzugehen. Sie könnte Neuwahlen anberaumen. Sie könnte
Brexit-Gegner in ihrer Partei konnte sie nur knapp niederschla- noch einmal ihr Volk befragen. Die Folge wäre in allen Fällen
gen, weil ihr einige Labour-Abgeordnete zur Seite sprangen. unerfreulich: Entweder zerreißt es ihre Partei – oder ihr Land.
Die Premierministerin ist nun handlungsunfähig, stets könnten Als May im Frühjahr 2017 aus den Bergen zurückkehrte, rief sie
ihr parteiinterne EU-Freunde oder EU-Hasser Steine in den Weg kurz danach Neuwahlen aus. Das ging schief. Der nächste Versuch
legen. Und in der Opposition sitzt eine Labour-Partei, deren muss sitzen. Sonst wird sie künftig viel mehr Zeit zum Wandern
Mehrheit von Mays Idee eines »soften Brexits« zwar nicht weit haben, als ihr lieb ist. Jörg Schindler

70 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Irak Nicaragua
»Das Volk bekommt Sieg des
gar nichts ab« Autokraten
Der Abiturient Hassan Ali Fawi, 19, aus ● Nach drei Monaten
Basra geht seit dem 15. Juli gegen Miss- blutiger Unruhen ist es
stände wie Arbeitslosigkeit, Korruption Staatschef Daniel Orte-
und Wassermangel auf die Straße. ga vorerst gelungen,
Seit Anfang Juli demonstrieren Tausende seine Macht mit
in der mehrheitlich schiitischen Stadt Gewalt abzusichern.
Basra – und inzwischen auch in weiteren Über tausend Polizis-
südirakischen Städten. Ihr Protest ten und Paramilitärs,

INTI OCON / AFP


richtet sich zunehmend gegen die Zen- die mit Maschinenpis-
tralregierung in Bagdad, die ebenfalls tolen ausgerüstet
von Schiiten dominiert ist. waren, stürmten am
Dienstag die Stadt Beerdigung eines erschossenen Studenten
»Den Menschen in Basra fehlt es an Masaya, die letzte
allem. Der Strom wird immer wieder Hochburg des Widerstands gegen den Zudem wurden Hunderte verhaftet, ver-
abgeschaltet, und das bei 50 Grad Hit- autokratisch regierenden Ex-Guerillero schleppt oder misshandelt.
ze. Und obwohl hier Euphrat und Tigris und seine Frau Rosario Murillo. Die Regimegegner hoffen, dass interna-
zusammenfließen und es Wasser im Dabei kamen mindestens zwei Men- tionaler Druck Ortega zum Einlenken
Überfluss gibt, haben wir nichts zu trin- schen ums Leben. Die teils vermummten bewegen könnte. Das ist jedoch unwahr-
ken: Das Trinkwasser ist versalzen und Sicherheitskräfte schossen auf Jugend- scheinlich: Auf Appelle der Organisation
ungenießbar. Mit dem Wassermangel liche, die sich mit selbst gebastelten Amerikanischer Staaten und der Verein-
hat der Aufstand überhaupt erst ange- Geschossen hinter Barrikaden ver- ten Nationen hat die Regierung bislang
fangen. Ein Demonstrant, der im Nor- schanzt hatten. Andere Regimegegner, nicht reagiert, und vor einer militärischen
den Basras sauberes Trinkwasser forder- die sich bereits auf den Weg nach Masaya Intervention scheuen die meisten latein-
te, wurde von der Polizei erschossen. gemacht hatten, kehrten aus Furcht vor amerikanischen Staaten zurück. Am
Wir demonstrieren jetzt gegen die den Sicherheitskräften wieder um. Montag hatten 13 von ihnen ein soforti-
politischen Parteien und die schiiti- Seit die Proteste Mitte April begonnen ges Ende der Gewalt »gegen die Gesell-
schen Milizen, die die wahren Herr- haben, sind über 300 Menschen bei schaft Nicaraguas« gefordert. Vergebens.
scher sind, sie teilen das Land und seine Zusammenstößen zwischen Demonstran- Ortega, früher einer der Anführer
Ressourcen unter sich auf. Das Volk ten und Ortega-Unterstützern ums des Aufstands der linken Sandinisten
bekommt gar nichts ab. Einige Demons- Leben gekommen. Die meisten Opfer gegen die autokratisch regierende Somo-
tranten haben daher aus Protest die waren Studenten, die von den Sicher- za-Familie, ist genau das geworden,
Parteihauptquartiere in Brand gesetzt, heitskräften teilweise mit gezielten Schüs- was er einst bekämpft hat: ein brutaler
allen voran die der schiitisch-religiösen sen auf Kopf und Brust getötet wurden. Herrscher. JGL
Parteien. So zeigen wir, dass wir nicht
mehr an die versprochenen Reformen
und Veränderungen glauben. Die Regie-
rung hat zuerst versucht, über die Chappatte
Geistlichen Einfluss zurückzugewinnen,
sie sollten die Massen beruhigen, in den
Freitagsgebeten, im Radio und im Fern-
sehen. Aber das war vergebens. Jetzt
hat Bagdad die Armee geschickt, um
die Demonstrationen brutal niederzu-
schlagen – denn die örtliche Polizei
wird der Lage nicht Herr, und manche
Polizisten weigern sich, gegen das Volk
vorzugehen. Alle Zufahrtswege wurden
gesperrt, Wasserwerfer und Tränengas
eingesetzt. Die Demonstranten wurden
regelrecht von den Straßen gedrängt
und mussten in den Fluss springen, um
zu entkommen.
Wir haben jetzt begonnen, uns zu
organisieren, überall im Land haben
sich kleine Protestgruppen gebildet. Sie
sind die Multiplikatoren des zivilen
Aufstands. Gerade ist es in Basra ruhig,
aber es ist eine angespannte Ruhe.
Wir wollen unseren Protest bald erneut
ins Zentrum der Stadt tragen. Dann
geht es wieder los.«
Aufgezeichnet von Susanne Koelbl

71
MARK WILSON / GETTY IMAGES

Präsident Trump beim Verlesen einer Erklärung im Weißen Haus: »Es könnten auch andere Leute gewesen sein – gibt viele Leute da draußen«

72
Ausland

Putins Geisel
USA Der Auftritt Donald Trumps in Helsinki zeigt, wie sehr ihn die Russlandaffäre
politisch lähmt. Der Präsident kann sich vom Einfluss Wladimir Putins
offenbar nicht mehr lösen. Wird diese Nähe den Republikanern schaden?

N
ach einer der seltsamsten Wo- schaute er hoch, und sagte, was er wohl Neonazi-Aufmarsch in der Stadt Char-
chen in der seltsamen Präsident- eigentlich dachte. »Ich akzeptiere die lottesville eine Gegendemonstrantin getö-
schaft des Donald Trump bleiben Schlussfolgerung unserer Geheimdienst- tet wurde. Auch damals sah Trump Fehler
Fragen: Was ist los mit diesem gemeinde, dass Russlands Einmischung in »auf beiden Seiten«, bei den Nazis und
Mann? Hat er etwas zu verbergen  – wenn die Wahl 2016 stattgefunden hat.« Und den Bürgern, die gegen die Rechten pro-
ja, warum verhält er sich so? Und wenn fügte hinzu: »Es könnten auch andere testierten.
nein, warum verhält er sich dann trotz- Leute gewesen sein. Gibt viele Leute da Die Charlottesville-Affäre, das war das
dem so? draußen.« letzte Mal, dass Donald Trump politisch
Es war ein unvergesslicher Auftritt, als Sein Statement, das alles richten sollte, derart in Bedrängnis geriet, seine notorisch
Donald Trump am Montag in Helsinki an war ein Glaubensbekenntnis mit hinter niedrigen Beliebtheitswerte sackten da-
einem Rednerpult im Palast des finnischen dem Rücken überkreuzten Fingern. Am mals laut Gallup auf rund 34 Prozent ab,
Präsidenten stand und neben Wladimir nächsten Tag fragte ihn eine Reporterin, doch selbst diese Affäre saß er einfach aus.
Putin schwach wirkte. Nachdem er die eu- ob Russland weiter daran arbeite, sich in Die Russlandaffäre dagegen begleitet
ropäischen Verbündeten in den Tagen zu- die US-Politik einzumischen. Trump ant- schon seine ganze Präsidentschaft, aber
vor aggressiv angegangen hatte, behandel- wortete: »Vielen Dank, nein.« Das sah so sie hat die Mehrheit der Amerikaner bis-
te er den russischen Präsidenten nun wie aus, als widerspräche er seinen Leuten her kaum tief berührt. Zwar bringt sie sei-
einen großen Bruder. Trump wirkte nicht schon wieder. ne Gegner auf die Zinne, zwar haben die
wie der mächtigste Mann der Welt, son- Ein Verdacht nagt an seiner Präsident- Mutmaßungen über Trumps Verhältnis
dern wie ein Bittsteller oder Untergebener, schaft: dass Trump Putin etwas schuldet. zu Russland die US-Verbündeten ver-
es war, als wollte er Putin gefallen, er Die Russlandaffäre hat ihn vom Wahl- schreckt – aber bei seinen Unterstützern
sprach von einer »leuchtenderen Zukunft« kampf ins Weiße Haus und bis nach Hel- hat ihm all das bisher nicht geschadet. Für
für Amerika und Russland. sinki verfolgt. Er kann sie nicht abschüt- sie war die Sache mit der russischen Ein-
Als die Journalisten Trump bei der Pres- mischung stets eine Glaubensfrage, und
sekonferenz nach der beispiellosen Ein- sie glaubten Trump. Ist das diesmal anders,
flussnahme fragten, die Putins Geheim- War die Woche sogar für war diese Woche selbst für seine Fans zu
dienst bei der letzten Präsidentenwahl or- Trump-Fans zu viel? Auch viel? In wenigen Monaten sind die Mid-
chestriert haben soll, stellte er sich auf die term-Elections, die Parlamentswahlen zur
Seite des Russen: Seine Geheimdienstleute seine liebsten TV-Mode- Halbzeit von Trumps Amtszeit. Könnte
sagten ihm, so Trump, dass Russland es ratoren kritisierten ihn. sein Auftritt Folgen haben?
getan habe – aber da sei eben auch Putin, Jedenfalls war Trumps Show in Helsinki
der »in seinem Dementi extrem stark und selbst für viele jener Republikaner zu viel,
machtvoll« gewesen sei. Er, Trump, sehe teln. Sie ist der dunkle Fleck, die Heimsu- die Trump auch dann immer verteidigen,
nicht, warum es Russland gewesen sein chung, die Trump nicht loswird. Russland, wenn seine Handlungen kaum zu vertei-
solle. Der Präsident positionierte sich öf- immer wieder Russland. Über diesem digen sind. Viele kritisierten ihn nun, nicht
fentlich gegen seine eigenen Mitarbeiter. Mann hängt ein Schatten, der von Tag zu nur die führenden Republikaner im Kon-
»Gemeinsam können wir großartige Tag größer wird, dunkler. gress, Mitch McConnell und Paul Ryan.
Dinge tun«, sagte Trump. Helsinki trug dazu bei. Schon vor der Sogar seine Lieblingsmoderatoren vom
»Ich bin Donald dankbar«, sagte Putin. verhängnisvollen Pressekonferenz unter- Frühstücksfernsehen »Fox & Friends«, die
Auch wenn dieser Satz im Laufe dieser hielten sich die beiden Männer bei ihrem ihm sonst immer nur schmeicheln, gingen
Präsidentschaft zu oft verwendet worden Treffen über zwei Stunden lang fast ganz streng mit ihm ins Gericht. Die »Vanity
ist, diesmal stimmt er: So etwas gab es allein. Bis auf die Dolmetscher weiß nie- Fair« meldete, dass Trumps eigener Stabs-
noch nie. Und dass Trump in den Tagen mand, was die wirklich besprochen ha- chef John Kelly führende Republikaner ge-
darauf die wildesten Erklärungen liefern ben – es ging angeblich um Verträge zur beten haben soll, den Mann öffentlich zu
sollte, wie er es eigentlich gemeint habe, Rüstungskontrolle, um Syrien, Genaues kritisieren, vermutlich in der Hoffnung,
und am Ende gar nichts mehr klar war – weiß man nicht. ihn zur Räson zu bringen. Barack Obamas
auch das sucht seinesgleichen. Was sich beim gemeinsamen Auftritt früherer CIA-Chef John Brennan sprach
Er habe eigentlich sagen wollen, erklär- auch zeigte: Der US-Präsident ignoriert gar von Landesverrat.
te Trump am Dienstag bei einem Auftritt beharrlich alles, was Russland in den ver- Schwäche wird einem US-Präsidenten
im Weißen Haus, dass er nicht wisse, gangenen Jahren getan hat, was den Wes- eigentlich nicht verziehen, schon gar nicht
warum es NICHT Russland gewesen sein ten provoziert hat, vom Krieg in der Ukrai- gegenüber einem geopolitischen Rivalen.
sollte. Er habe versehentlich das Wort ne bis zum Eingreifen in Syrien. Trump Aber für Donald Trump scheint das so
»would« anstelle von »wouldn’t« gesagt. sagt: Amerikaner und Russen, beide Sei- auch nicht mehr zu gelten: Mitte der Wo-
Ein Problem der doppelten Verneinung, ten sind schuld am schlechten Verhältnis. che zeigte eine Umfrage, dass 79 Prozent
ein Versehen. Er las vom Blatt ab, wirkte, Er wählt eine ähnliche Formulierung wie der republikanischen Wähler seinen Auf-
als würde er gezwungen, zwischendurch im vergangenen Sommer, als bei einem tritt mit Putin gut fanden, dagegen fanden

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 73


ANATOLY MALTSEV / EPA-EFE / REX / SHUTTERSTOCK
Staatschefs Trump, Putin in Helsinki: Wie ein Bittsteller oder Untergebener

ihn 62 Prozent der Unabhängigen und hat. Einen Triumph aus eigener Kraft, wie getragen haben. Zwei Wochen vor Trumps
91 Prozent der Demokraten schlecht. er findet, nicht mit Putins Hilfe. Er will Amtseinführung kamen die Spitzen der
Viele Demokraten hoffen dennoch, dass Putin wahrscheinlich schon aus Eitelkeit US-Geheimdienste im New Yorker Trump
der Auftritt in dieser Woche etwas verän- glauben, dass Russland nichts mit dem Tower zusammen, um ihn über die Bedro-
dert hat. Trotzdem wollen die meisten von Wahlsieg zu tun habe. hungslage zu informieren, darunter die
ihnen die Republikaner im Wahlkampf mit Wenn er gesteht, dass Moskau in die Chefs von CIA, NSA und FBI. Was sie
lebensnäheren Themen angreifen als mit Wahl eingegriffen habe, gibt er dann nicht Trump berichteten, soll an Direktheit
»Russland« – mit der Lage im Gesundheits- zu, dass ihn doch jemand von außen un- kaum zu überbieten gewesen sein: Putin
wesen, mit Trumps Steuersenkungen für terstützte? Nimmt ihm das nicht den Sieg? persönlich habe die Attacken im Vorfeld
Reiche. Das gilt auch für drei Politiker, die »Wir haben mit großem Vorsprung ge- der Wahl befohlen.
als mögliche Gegenkandidaten Trumps im wonnen«, sagte Trump in Helsinki auf eine Es gab Geheimdiensterkenntnisse von
Jahr 2020 gelten: der frühere Vizepräsi- Frage nach russischer Einflussnahme. Amerikanern, Niederländern und Briten,
dent Joe Biden sowie die beiden linken »Das war eine gut geführte Schlacht. Wir dass die Russen von Servern der Demo-
Senatorinnen Elizabeth Warren und Ka- haben das toll gemacht.« Er kann sich kraten E-Mails gestohlen hatten; es gab
mala Harris. nicht dazu bringen zuzugeben, was er mehrere hochrangige Quellen, die Putins
Die Demokraten liegen in fast allen Um- eigentlich genau wissen könnte: dass der Rolle bestätigten. Eine Quelle war offen-
fragen derzeit deutlich vorn; sie haben in russische Präsident höchstwahrscheinlich bar so nah an Putin, dass der damalige
den vergangenen Monaten mehrere Nach- den Angriff auf die US-Wahl befohlen hat. CIA-Chef Brennan deren Informationen
wahlen zum Repräsentantenhaus in tief Sicher ist, dass die Geheimdienstler nur in einem Umschlag an Präsident Oba-
republikanischen Gegenden gewonnen. Trump ausführlich ihre Belege dafür vor- ma und wenige Eingeweihte weitergab.
Die Umfragen sprechen dafür, dass sie dort Für die US-Dienste gab es keinen Zweifel,
im November eine Mehrheit erringen wer- dass der russische Präsident in die Angriffe
den – die Frage ist, ob ihnen das auch im Parlamentswahl in den USA verstrickt ist.
Senat gelingen wird. Dann könnten sie die Auswertungen mehrerer Umfragen nach Warum ist Trump dann bis heute so zö-
Ermittlungen gegen Trump auch im Kon- Parteipräferenz bei der nächsten Wahl gerlich, wenn es darum geht, seinen eige-
gress vorantreiben, sie könnten die Russ- zum US-Kongress, Angaben in Prozent nen Geheimdiensten zu folgen?
land-Untersuchung von Sonderermittler Quelle: FiveThirtyEight
Im Grunde gibt es drei mögliche Erklä-
Robert Mueller gesetzlich schützen lassen. rungen: Erstens, er fürchtet, dass die Legi-
Denn Trump hat immer wieder damit ko- 50 48,7 timität seiner Präsidentschaft in Zweifel
kettiert, dass er Mueller entlassen könnte. gerät, wenn er auch nur einen missglück-
Trump erträgt diese Untersuchung nicht, Demokraten ten Versuch der Russen bestätigt, auf die
weil er nicht in der Lage ist, zwischen dem Wahl Einfluss genommen zu haben – das
russischen Angriff auf die amerikanische wäre die harmloseste Variante. Zweitens,
Demokratie und dem Vorwurf der Ko- 40 39,4 er hat sich in seiner Karriere als Immobi-
operation mit Russen zu unterscheiden – lienentwickler in New York so sehr von
für ihn ist das ein und dasselbe Thema mit russischen Investoren abhängig gemacht,
demselben Ziel: Man will ihm schaden, dass er fürchtet, seine mögliche Verstri-
man will seiner Präsidentschaft die Legi- Republikaner ckung in Geldwäschegeschäfte könnte auf-
timität absprechen, man will ihm den Tri- 30 fliegen, wenn er sich Moskau gegenüber
umph aberkennen, den er 2016 errungen 1. Mai 18. Juli allzu hart zeigt. Und drittens, er wusste

74
Ausland

persönlich von Kontakten zwischen sei- Russen darüber diskutieren, wie sie Geld kooperieren mit dem Sonderermittler, un-
nem Wahlkampfteam und den Russen, an Trumps Kampagne schleusen können; ter ihnen Trumps früherer Nationaler Si-
und Putin hat darüber hinaus, wie von kurz darauf fährt der Chef des britischen cherheitsberater Michael Flynn. Auch
manchen behauptet, belastendes Material Nachrichtendienstes GCHQ nach Wa- Trumps langjähriger Anwalt Michael Co-
gegen ihn in der Hand. Das wäre die dra- shington, um die CIA über Nachrichten hen ist angeblich bereit, mit den Beamten
matischste, wenn auch am wenigsten wahr- zwischen Trumps Team und Russen zu in- zu reden, nachdem das FBI in seinem Büro
scheinliche Erklärung. formieren, die die Briten mitgehört haben. Millionen Akten beschlagnahmt hat.
Alle paar Tage twittert Trump über die Spätestens im März 2016 begannen die Diese Woche klagte das Justizministe-
»witch hunt«, die Hexenjagd, wie er Muel- russischen Cyber-Angriffe gegen die De- rium eine 29-jährige Russin namens Marija
lers unabhängige Untersuchung zur russi- mokraten, so ist es der neuen Anklage- Butina an, weil sie als »ausländische Agen-
schen Einflussnahme auf die US-Wahl schrift von Robert Mueller zu entnehmen. tin« versucht haben soll, die Republikaner
nennt. Wenn man die bisherigen Ergebnis- Russische Hacker drangen in E-Mail-Kon- und die Waffenorganisation NRA zu infil-
se dieser Untersuchung betrachtet, hat er ten der Demokratischen Partei ein, infi- trieren – und für einen Job angeblich sogar
Grund, deshalb beunruhigt zu sein. Kaum zierten deren Rechner mit Überwachungs- Sex angeboten habe. Sie bestreitet alle
ein Sonderermittler in der Geschichte der software und stahlen Mails. Vorwürfe, die Anklageschrift liest sich wie
USA ist bisher so schnell und effektiv vo- Die Russen suchten nach verschiedenen aus der fiktiven US-TV-Serie »The Ameri-
rangekommen. Wegen, die E-Mails, die sie gestohlen hatten, cans«, die vom Leben sowjetischer Agen-
Erst Ende vergangener Woche hat das in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Sie nutz- ten in den USA erzählt.
Team die Namen von zwölf Mitarbeitern ten Online-Identitäten wie »Guccifer 2.0« Die Zeugen Robert Muellers sind inzwi-
des russischen Militärgeheimdienstes be- oder bauten Websites wie »DC Leaks«; sie schen derart zahlreich, dass Trump selbst
kannt gegeben, laut Anklage waren sie Teil suchten Kontakte zur Plattform Wiki- kaum noch behaupten kann, er habe von
einer »groß angelegten Cyber-Operation, Leaks und ihrem Gründer Julian Assange; nichts gewusst. Seine Strategie besteht da-
um in die US-Präsidentschaftswahl 2016 und sie stellten persönliche Kontakte zu rin, die Legitimität des Sonderermittlers
einzugreifen«. Damit sind insgesamt 25 Trump-Beratern her. Ein Trump-Berater zu unterhöhlen, indem er verbreitet, des-
Russen und drei russische Firmen angeklagt, erfuhr schon im Frühjahr 2016 von den sen Team sei von Demokraten unterwan-
Hacker-Angriffe durchgeführt oder auf an- gestohlenen Clinton-Mails und erzählte dert. Seine Verteidiger argumentieren, ein
dere Weise die Wahl beeinflusst zu haben. einem australischen Diplomaten in Lon- Präsident könne von Amts wegen gar nicht
Die Russland-Affäre beginnt vor langer in einem Strafverfahren angeklagt werden.
Zeit, spätestens 1987, als Trump zum ers- Tatsächlich ist das juristisch bislang nicht
ten Mal nach Moskau fährt. Es ist dasselbe eindeutig geklärt. Letzten Endes dürfte
Jahr, in dem »The Art of the Deal« er- der Oberste Gerichtshof darüber entschei-
scheint, sein Bestseller, in dem er den My- den, ob ein US-Präsident in einer solchen
thos des besten Verhandlers der Welt er- Sache angeklagt werden kann. Dieses Ge-
schafft. Es ist das Jahr, in dem Trump seine richt will Trump in diesen Tagen gerade
politische Karriere zündet; damals atta- mit einem weiteren konservativen Kandi-
ckierte er schon per Zeitungsanzeige die daten besetzen, der ihm gewogen ist.
liberale Weltordnung, weil sie den USA In Washington wird erwartet, dass
schade und Staaten wie Japan nütze. Mueller einen ersten Bericht noch im Som-
Trumps Ansichten überschnitten sich mer veröffentlicht – womöglich zur Frage,
schon sehr früh mit denen Moskaus. ob Trump im Lauf der Untersuchung die
Dann kam Geld hinzu. Als Trumps Ver- Justiz behindert hat. Ein weiterer Bericht
AP

mögen schmolz und ihm Banken in New zum Vorwurf der Kooperation mit den
York keine Mittel mehr gewährten, musste Verhaftete Russin Butina Russen könnte folgen. Allerdings kann nie-
er sich nach anderen Quellen umsehen. Al- Sex für einen Job? mand vorhersagen, ob das noch bis zu den
lein zwischen 2003 und 2017 kauften In- Wahlen im November geschieht.
vestoren aus der früheren Sowjetunion 86 don davon – so kam das FBI auf die Fährte Der Helsinki-Schock dürfte bei vielen
Trump-Immobilien, für insgesamt 109 Mil- der Russen. Republikanern bis dahin wohl verflogen
lionen Dollar – in bar, was den Verdacht Der FBI-Chef hieß damals James Co- sein. Der Kreislauf von Empörung und
der Geldwäsche nährt. mey; ein Jahr später wurde er von Trump Desinteresse vollzieht sich in den Medien
Auch Trumps Söhnen Donald Jr. und gefeuert, damit sollten die Untersuchun- immer schneller, der Wahlkampf ist längst
Eric entging die Vorliebe der Russen für gen enden. Es war eine von vielen Aktio- im Gang. Und für die meisten Kandidaten
die Immobilien ihres Vaters nicht. »Wir nen, mit denen Trump sich selbst schadete. der Republikaner wäre es politischer
verlassen uns gar nicht mehr auf amerika- »Ich stand unter großem Druck durch Russ- Selbstmord, sich gegen den Präsidenten
nische Banken«, sagte Eric einmal. »Die land, der ist jetzt weg«, prahlte er kurz zu stellen.
gesamte Finanzierung, die wir benötigen, nach Comeys Entlassung vor dem russi- Und Trump lässt sich ohnehin von nie-
stammt aus Russland.« schen Außenminister, der ihn im Weißen mandem beirren: Im Herbst, so kündigte
Es gibt kaum ein politisches Thema, bei Haus besucht hatte. das Weiße Haus am Donnerstag an, wolle
dem Trump über die Jahre so konsistent Die Russland-Affäre ist zu verschlungen er Putin nach Washington einladen.
bleibt wie in seiner Haltung zu Russland: und komplex, mit zu vielen Namen, Daten Mathieu von Rohr,
Im Vorwahlkampf der Republikaner wirbt und Verbindungen, um sie auf Anhieb zu Christoph Scheuermann
keiner so offen für Entspannung gegen- durchschauen. Es gibt womöglich nicht
über Moskau wie Trump. Bereits 2015 fan- den einen Beweis, der Trump belastet,
gen westliche Geheimdienste Belege für aber es gibt einen Berg an Hinweisen. Ins- Video
Trumps #Russlandgate
Kontakte zwischen Leuten aus Trumps gesamt haben Rechercheure mehr als 80
Umfeld und der russischen Regierung ab; Kontakte zwischen Leuten in Trumps Or- spiegel.de/sp302018trump
im April 2016 gibt ein baltischer Dienst bit und Russen gezählt. Fünf Beteiligte ha- oder in der App DER SPIEGEL
ein Tonband an die CIA weiter, auf dem ben sich inzwischen schuldig bekannt und

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 75


Ausland

In der Strafkolonie
China In Xinjiang errichtet Peking einen Überwachungsstaat, wie ihn die Welt noch nicht
gesehen hat. Mit modernsten Methoden will das Land die muslimische Minderheit der
Uiguren kontrollieren. Eine Reise durch eine gespenstisch stille Region. Von Bernhard Zand

D
ie Stadt Kashgar im tiefen Westen kistan, Afghanistan, Tadschikistan und Wer eine Datenspur hinterlässt, die ihn
Chinas fühlt sich in diesen Tagen Kasachstan. verdächtig macht, der wird verhaftet. Die
manchmal an wie Bagdad nach Die Repression gibt es seit Jahren, doch Regierung hat ein Netzwerk von Hunder-
dem Krieg. Sirenen heulen, Pan- in den vergangenen Monaten hat sie sich ten Umerziehungslagern errichtet, Zehn-
zerwagen patrouillieren, und Kampfjets massiv verschärft. Sie zielt vor allem auf tausende sind darin allein in den vergan-
donnern über die Stadt. Die wenigen Ho- die uigurische Minderheit, Peking betrach- genen Monaten verschwunden, nach
tels, in denen noch ein paar versprengte tet sie, ein Turkvolk von etwa zehn Mil- Schätzungen des Forschers Zenz sogar
Touristen wohnen, sind blickdicht einge- lionen sunnitischen Muslimen, als Störfak- Hunderttausende. Genaue Zahlen sind
mauert. Mit groben, herrischen Gesten sor- tor beim Aufbau einer »harmonischen Ge- schwer zu ermitteln, in keiner chinesi-
tieren Polizisten in Schutzweste und Helm sellschaft«. Eine Reihe von Anschlägen, schen Provinz ist die Zensur so streng und
den Verkehr. Wer aus der Reihe tanzt, wird an denen uigurische Militante beteiligt wa- sind die Behörden so verschwiegen wie
angeschrien. ren, hat diesen Verdacht verstärkt. in Xinjiang.
Dann wieder liegt eine gespenstische Die Uiguren sehen sich als kulturell, re- Doch das Bild, das eine Reise durch Chi-
Stille über der Stadt. Am Freitagmittag, ligiös und wirtschaftlich diskriminierte nas Westprovinz und eine Vielzahl von
zur Gebetszeit der Muslime, ist der Platz Minderheit. Ihr Bevölkerungsanteil lag Gesprächen ergeben – mit Menschen, die
vor der großen Id-Kah-Moschee fast men- kurz nach der Eingliederung Xinjiangs in allesamt anonym bleiben müssen –, ist ein-
schenleer. Kein Ruf des Muezzins ist zu die Volksrepublik China 1949 bei rund 80 deutig: Xinjiang, eine der entlegensten und
hören, nur ab und zu ein leises Piepsen, Prozent. Durch die gezielte Ansiedlung rückständigsten Regionen des Wirtschafts-
wenn einer der wenigen Gläubigen den ethnischer Han-Chinesen ist er auf etwa wunderlands China, ist eine zur Wirklich-
Metalldetektor vor der Moschee passiert. 45 Prozent gesunken. Und vor allem diese keit gewordene Dystopie. Und sie bietet
Dutzende Kameras wachen über das Ge- Neuankömmlinge sind es, die vom wirt- eine Vorstellung davon, wozu ein autori-
schehen. Sicherheitsleute, teils in Uniform, schaftlichen Aufschwung der Region pro- täres Regime mit der Technologie des
teils in Zivil, streifen durch die Altstadt. fitieren, die reich ist an Öl, Gas und Kohle. 21. Jahrhunderts imstande ist.
Sie sind so still, als versuchten sie zu hören, Dagegen protestierten die Uiguren –
was in den Köpfen der Menschen vorgeht. und deshalb hat Peking ein Sicherheits- Ürümqi: Polizisten, Blockwarte
Und auch Journalisten bleiben nicht lan- regime eingeführt, das selbst im Polizei- und Denunzianten
ge unbehelligt. Gleich nach unserer An- staat China einzigartig ist. Recherchen des Die Hauptstadt von Xinjiang mit ihrer mo-
kunft drängen zwei Polizeibeamte auf ein deutschen Xinjiang-Forschers Adrian Zenz dernen Skyline aus Dutzenden Wolken-
Gespräch mit uns, den Reportern. Einer zufolge hat die Provinzregierung allein seit kratzern zählt etwa dreieinhalb Millionen
der beiden kommt am nächsten Morgen dem Sommer 2016 über 90 000 Polizei- Einwohner, drei Viertel sind Han-Chine-
aus einem Zimmer auf unserer Hoteletage. stellen ausgeschrieben, mehr als doppelt sen, die größte Minderheit stellen die Ui-
Als wir am Vormittag durch die Stadt so viele wie in den sieben Jahren zuvor. guren. Außerdem leben Kasachen, Mon-
schlendern, folgen mehrere Beamte in Zi- Mit fast 500 Beamten auf 100 000 Ein- golen und Angehörige des chinesisch spre-
vil, am Ende sind es acht Personen und wohner liegt die Polizeidichte damit an- chenden, aber muslimischen Hui-Volkes
drei Autos, darunter ein schwarzer Honda, nähernd so hoch wie im benachbarten in der Stadt. »Alle ethnischen Gruppen
dessen Kennzeichen abgeklebt sind. Das Tibet. halten zusammen wie die Kerne eines Gra-
deutet auf ein Fahrzeug der Staatssicher- Zugleich rüstet Peking seine Westpro- natapfels«, steht auf einem Transparent,
heit hin. Die Innenstadt von Kashgar ist vinz mit modernster Überwachungstech- das über die vielspurige Ringautobahn von
bis in den letzten Winkel von Überwa- nik auf: Von Millionenstädten wie Ürümqi Ürümqi gespannt ist.
chungskameras abgedeckt, sobald wir uns bis in die entlegensten Gebirgsdörfer »In Wahrheit kannst du den Uiguren
mit jemandem unterhalten, tauchen sofort leuchten Kameras jede Straße aus; an nicht trauen«, sagt ein Han-Chinese, der
Beamte auf und stellen die Gesprächspart- Bahnhöfen, Flughäfen und den überall er- früher für das Militär gearbeitet hat. »Sie
ner zur Rede. richteten Checkpoints werden Iris-Scanner tun so, als wären sie deine Freunde, aber
Schließlich, wie hier später zu erzählen und sogenannte Wifi-Sniffer eingesetzt – halten nur unter sich zusammen.«
ist, werden sie auch uns festhalten. Aber Geräte und Programme, mit denen sich Das Misstrauen zwischen den beiden
so intensiv die Behörden ausländische der Datenverkehr von drahtlosen Netz- Volksgruppen ist über Jahrzehnte gewach-
Journalisten in Xinjiang überwachen – es werken überwachen lässt. sen. 2009 brachen in Ürümqi ethnische
ist harmlos, gemessen an der Verfolgung Die Informationen laufen auf einer Unruhen aus, fast 200 Menschen kamen
der uigurischen Bevölkerung. »Integrierten gemeinsamen Operations- ums Leben, die meisten von ihnen Han-
An keinem Ort der Welt, wohl nicht ein- plattform« zusammen, wo zudem weitere Chinesen. 2014 stachen Uiguren in der
mal in Nordkorea, wird die Bevölkerung Daten der Bewohner gespeichert sind: Stadt Kunming 31 Menschen nieder, kurz
so flächendeckend kontrolliert wie im über ihr Kaufverhalten, ihre Bankbewe- darauf rasten zwei Autos durch einen be-
»Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang«, gungen, den Gesundheitszustand; dazu lebten Markt in Ürümqi, erneut starben
viereinhalb mal so groß wie Deutschland, auch das DNA-Profil von jedem Bewoh- Dutzende. Seither gab es weniger große
an acht Länder grenzend, darunter Pa- ner Xinjiangs. Anschläge, aber unter den Han-Chinesen

76
JOHANNES EISELE / AFP
Polizeipatrouille nahe der Id-Kah-Moschee in Kashgar: Überall gibt es Checkpoints, Kameras, Iris-Scanner und Wifi-Sniffer

gehen Gerüchte um: Im Süden von Xin- sagten: Du und dein Nachbar seid ab jetzt muss seinen Ausweis vorzeigen, der Zaun
jiang sei es immer wieder zu schweren, öf- füreinander zuständig. Wenn einer von ist mit Stacheldraht bewehrt. Ein gutes
fentlich nicht berichteten Zwischenfällen euch auffällig wird, machen wir den ande- Dutzend Überwachungskameras hat den
gekommen. ren dafür verantwortlich.« Der Geschäfts- umliegenden Park mit einem Teich und
Um für Ruhe zu sorgen, berief Peking mann sagt, dass er sein Land liebe. »Aber einem Kinderspielplatz im Visier.
den Parteichef von Tibet, Chen Quanguo, ich weigere mich, meine Nachbarn zu be- Die Sicherheitsleute des Museums tra-
nach Xinjiang. Hier setzte dieser binnen spitzeln.« gen Helm und Splitterschutzweste, neben
zwei Jahren um, was er in Tibet erprobt Der Vorgänger von Parteichef Chen, dem Gepäckscanner am Eingang lehnen
hatte: Er ließ die Provinz mit Tausenden sagt ein Fahrer in Ürümqi und deutet auf Nahkampfschilde an der Wand. »Kann
Polizeiwachen überziehen, bunkerhaften, die Hochhäuser im Zentrum, hätte auf den man hier alles kaufen«, sagt eine Bediens-
vergitterten und schwer bewachten Gebäu- wirtschaftlichen Aufschwung von Xinjiang tete des Museumsshops. »Gleich auf der
den, die in Städten wie Ürümqi an jeder gesetzt. Je besser es den Menschen gehe, anderen Straßenseite.«
größeren Kreuzung stehen. desto sicherer werde die Region, das war Tatsächlich, gegenüber dem Museum
Außerdem führte Chen eine Art Block- die Idee. »Daran glaubt heute keiner mehr. befindet sich ein Geschäft für Sicherheits-
wartsystem ein, bei dem Mitglieder der Die Wirtschaft wächst weiter. Aber die ausrüstung: Helme und Aufsteckbajonette
örtlichen Parteikomitees Wohnungen in- Nummer eins ist jetzt die Repression.« werden angeboten, Überwachungselektro-
spizieren und Familien aushorchen: Wer nik, Schlagstöcke in Zwölferbündeln, vor
wohnt hier? Wer war zu Besuch da? Wo- Turpan: die Pflicht, allem aber Schutzwesten. »300 Yuan das
rüber habt ihr geredet? Und als würde das sich zu bewaffnen Stück«, sagt ein Verkäufer, umgerechnet
nicht reichen, werden auch die Kontrol- Zwei Autostunden südöstlich von Ürümqi, rund 40 Euro. »Die helfen aber nur gegen
leure noch kontrolliert: Viele Wohnungen direkt an der antiken Seidenstraße, liegt Messerstiche. Wir haben auch schusssiche-
sind mit Strichcode-Aufklebern versehen, die Oase Turpan. In Jahrtausenden haben re Westen, die sind aber viel teurer. Haben
die von den Beamten zum Nachweis ihrer Chinesen, Perser und Uiguren, Buddhis- Sie denn die nötigen Dokumente?«
Besuche gescannt werden müssen – und ten, Manichäer und Muslime hier ihre Die Ausrüstung ist zum Schutz von Lä-
zwar an den Innenseiten der Türen. Tempel und Moscheen hinterlassen; es ist den und Restaurants gedacht, von Museen,
Um die soziale Kontrolle zu perfektio- ein Ort des Weinanbaus und der Kontem- Krankenhäusern und Hotels. Deren Be-
nieren, werden zudem auch noch die plation. Außerhalb der Oase liegen zwei treiber sind zu verstärkten Sicherheitsmaß-
Nachbarn als Denunzianten verpflichtet. antike Ruinenstädte, im Zentrum widmet nahmen verpflichtet. »Gerade ist wieder
»Anfang des Jahres kamen sie zu mir«, be- sich ein modernes Museum ihrer reichen eine neue Anordnung gekommen«, sagt
richtet ein Geschäftsmann in Ürümqi. »Sie Geschichte. Doch wer das Museum betritt, ein Hotelier in Turpan und hält einen ge-

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 77


Ausland

ADAM DEAN / NYT / REDUX / LAIF


Muslimische Frauen in Kashgar: Wer Kontakte ins Ausland hat oder zu häufig in die Moschee geht, ist verdächtig und wird verhaftet

stempelten Zettel hoch: Jeder Gast habe ren, schon gar nicht, um einen Ausländer »Qu xuexi«, studieren gehen, ist eine
beim Betreten eines Hotels nun seinen zu treffen. »Vielleicht in ein paar Jahren der häufigsten Wendungen im Xinjiang
Ausweis vorzulegen, egal wie oft er schon wieder«, schreibt er. Und: »Löscht diese dieser Tage. Es ist ein Euphemismus dafür,
aus- und eingegangen sei. Auch neues Unterhaltung sofort von eurem Telefon. dass jemand abgeführt wurde und seither
Sicherheitspersonal ist einzustellen. Die Löscht alles, was verdächtig sein könnte.« nicht wieder aufgetaucht ist. Die »Schu-
Aufrüstung ist in Xinjiang nicht nur eine Am Stadtrand liegt ein modernes Ein- len« sind Umerziehungslager, in denen die
Sicherheitsmaßnahme, sie ist zugleich ein kaufszentrum, kaum ein Fünftel der Ge- ohne Anklage oder Gerichtsverfahren
Jobprogramm. schäfte ist geöffnet, die meisten anderen Festgenommenen Chinesisch- und Patrio-
»30 Männer sitzen in jedem Bunker«, sind kürzlich erst geschlossen worden: tismus-Kurse absolvieren.
sagt ein Uigure mit unterdrücktem Zorn, »Maßnahme zur Sicherung der Stabilität«, Gut die Hälfte der Zufallsbegegnungen
als er an einer der neuen Polizeiwachen steht auf den Siegeln, die über die Türen auf unserer Reise berichtet von Verwand-
vorübergeht. »30 Männer, 30 Frühstücke, geklebt sind. »Alle zur Schule geschickt«, ten oder Bekannten, die »zur Schule ge-
30 Mittag- und Abendessen. Jeden Tag. sagt ein Passant leise und blickt sich um. schickt« wurden. Ein Fahrer in Hotan er-
Wofür das alles? Wer zahlt das alles?« zählt von seinem 72-jährigen Großvater,
400 km ein Geschäftsmann in Ürümqi vom Pro-
Hotan: »studieren gehen« fessor seiner Tochter, ein Reisender im
Die Oasenstadt Hotan mit ihren 300 000 Xinjiang Flugzeug von seinem besten Freund.
Einwohnern liegt im Südwesten der Takla- Peking RUSSLAND Obwohl die Geschichten unterschied-
makan-Wüste. Und weil es hier immer wie- CHINA lich sind, gleichen sie sich in wichtigen De-
MONGOLEI
der zu Anschlägen kam, ist die Überwa- Karten-
ausschnitt tails. Die meisten Betroffenen sind Män-
chung besonders streng. ner, die Festnahmen geschehen häufig
Als der SPIEGEL Hotan 2014 besuchte, K A SAC H STA N nachts oder am frühen Morgen. Als Grund
Ürümqi
gelang es noch auf Umwegen, einen Mann KIRGISIEN
werden Kontakte ins Ausland, zu häufige
zu treffen, der vom brutalen Vorgehen des Moscheebesuche oder verbotene Inhalte
Staates in den Dörfern der Umgebung er- Turpan auf Handy oder Computer genannt. Die
Kashgar Siedlungs-
akan -
zählte. An ein solches Treffen sei heute Ta k la m s te gebiete der Angehörigen hören oft monatelang nichts
nicht zu denken, schreibt er diesmal auf Shache Wü Uiguren von den Verschwundenen. Wenn es doch
einem Messenger-Dienst. Es sei nicht ein- Hotan einmal gelingt, sie wiederzusehen, dann
CHINA
mal mehr möglich, ohne schriftliche Er- nie persönlich, sondern nur auf einem Bild-
laubnis von einem Dorf ins andere zu fah- schirm im Besucherraum des Lagers.

78
Bei einem Gespräch mit einem Teppich- lager oder im Gefängnis sitzt, ist nicht zu
händler auf dem Markt in Hotan taucht ermitteln. SPIEGEL TV WISSEN
plötzlich eine Frau in einem kurzen Kleid Und dann tauchen die Polizisten auf, SONNTAG, 22. 7., 22.10 – 23.40 UHR | SKY UND
auf. Sie arbeite in einer Behörde, sagt sie, wie zu Beginn dieser Geschichte erzählt, BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
und habe sich an diesem Tag freigenom- die uns nicht mehr aus den Augen lassen.
men. Sie bietet an, das Gespräch mit dem Zum Eklat kommt es, als wir in einem
Händler aus dem Uigurischen ins Chinesi- Obstladen Aprikosen kaufen. Wir unter-
sche zu übersetzen. Nein, sagt sie später halten uns mit einer Frau, die dort sitzt
auf dem Weg über den fast menschenlee- und in einem Buch liest. Es ist eine
ren Markt, mit Umerziehungslagern habe Sprachfibel, die Frau lernt Chinesisch.
die Schließung der Läden nichts zu tun. Im Süden von Xinjiang sprechen nur we-
»Die Angestellten sind nur zu einer techni- nige Uiguren, die älter sind als 20, gut
schen Schulung geschickt worden.« Dann Chinesisch.
verabschiedet sie sich höflich. Wir wechseln nur ein paar Worte mit
Ein paar Stunden später fahren wir der Frau, aber als wir den Laden gerade
zum Bahnhof und treten eine Zugfahrt ins verlassen wollen, betreten drei unserer Be-
500 Kilometer entfernte Kashgar an. Der gleiter, darunter eine Dame mit einer roten
Bahnhof ist wie ein Militärstützpunkt ab- Jacke, das Geschäft und reden auf die Frau
gesichert, drei Kontrollen und Dutzende ein. Ich gehe zurück und filme die Szene
Überwachungskameras sind zu passieren, mit dem Handy. Überrascht brechen die
bis man am Bahnsteig steht. Beamten das Gespräch ab, tun unbeteiligt
»Ah«, sagt die Schaffnerin zu ihrer Kol- und verbergen ihre Gesichter.

TCB
legin, als wir nach unseren Plätzen fragen: Eine Stunde später kommt ein Polizist
»Das ist der ausländische Journalist.« Der mit mehreren Beamten auf uns zu, darun- Nachwuchspiloten
Zug ist mit mehreren Hundert Reisenden ter ist wieder die Frau in der roten Jacke.
fast voll besetzt. Und ein paar Abteile wei- Die Dame sei eine Touristin, behauptet Inside the Cockpit –
ter sitzt, was für ein Zufall, die Frau im ein Beamter, und sie habe gerade erfah- Die jungen Wilden am Joystick
kurzen Kleid, die sich auf dem Markt als ren, dass sie ohne ihr Einverständnis ge-
Übersetzerin angeboten hat. filmt worden sei. Gemäß chinesischem Der britische Billigfluganbieter
Gesetz sei dieser Film zu löschen. Der Easyjet startete jüngst die größte Re-
Kashgar: »allergische Bilder« Polizist führt uns auf eine Wache, wo er krutierungsoffensive der Luftfahrt-
Sechs Stunden dauert die Fahrt nach das Handy konfisziert und nicht nur den geschichte. Bis zu 450 neue Piloten
Kashgar, sie führt durch weitere Oasen- besagten Clip löscht, sondern auch wei- sollen in kürzester Zeit für den Flug-
städte, die in China als Chiffren des uigu- tere Aufnahmen, auf denen unsere staat- dienst gewonnen werden. Die drei-
rischen Widerstands bekannt sind: Moyu, lichen Aufpasser zu erkennen sind. Er teilige Reportagereihe begleitet den
Pishan, Shache, Shule. Alle Bahnhöfe sind warne uns davor, »allergische Bilder« zu Fliegernachwuchs von der ersten
von Checkpoints umgeben und mit Sta- machen, sagt ein Beamter. Dann dürfen Flugstunde über unsanfte Landema-
cheldraht umzäunt. Wenn der Zug ein- wir gehen. növer bis hin zum Premierenflug in
fährt, steht nicht nur ein Fahrdienstleiter In Kashgar ist der vorläufige Höhe- der vollbesetzten Passagiermaschine.
auf dem Bahnsteig, sondern auch ein Poli- punkt des chinesischen Überwachungs-
zist mit Schlagstock oder Schusswaffe. staates zu besichtigen. Aber an der nächs-
Kashgar ist über zweitausend Jahre alt, ten Stufe der Kontrolle arbeitet die chi- SPIEGEL TV
es war eine wichtige Station an der alten nesische Regierung bereits: Sie will im MONTAG, 23. 7., 23.25 – 24.00 UHR | RTL
Seidenstraße, einst konnte man hier eine ganzen Land ein »Sozialkredit-System«
der besterhaltenen islamischen Altstädte einführen, in dem die »Vertrauenswürdig- Gefährliche Verschwörungstheorie –
Zentralasiens besichtigen, errichtet aus keit« jedes Bürgers bewertet wird, um Die bizarre Welt der Impfgegner;
Lehmziegeln. Aber der Staat hat die meis- Linientreue zu belohnen und Fehlver- Freiheit nach 38 Jahren – Der Fall des
ten alten Häuser abgerissen und als pitto- halten zu bestrafen. Während die Umset- zum Tode verurteilten und nun be-
reskes Touristenviertel wieder aufgebaut. zung des Programms im dicht besiedelten gnadigten Joe Giarratano.
Anders als in Ürümqi und in Turpan ist Osten des Landes nur schleppend und
der Großteil der Taxis in Kashgar mit zwei punktuell vorankommt, werden viele
Kameras ausgestattet. Eine ist auf den Bei- Uiguren offenbar bereits von einem ähn- SPIEGEL GESCHICHTE
fahrer gerichtet, eine auf die Passagiere lichen Punktesystem erfasst. Es konzen- FREITAG, 27. 7., 0.25 – 1.20 UHR | SKY
auf der Rückbank. »Das wurde vor über triert sich vor allem auf Details, welche
einem Jahr angeordnet«, sagt ein Fahrer. die Polizei interessieren. Wir Geiseln der SS
»Die Kameras sind direkt mit der Öffent- Der Ausgangswert für jede Familie, be- April 1945. Es werden 139 promi-
lichen Sicherheit verbunden, sie gehen aus richtet eine Betroffene, betrage 100 Punk- nente Sonderhäftlinge der SS in die
und an, wenn die es wollen. Wir haben da- te, doch wer Kontakte oder Verwandte im Alpen verschleppt. Die Gefangenen
rauf keinen Einfluss.« Ausland hat, vor allem in islamischen Län- könnten als Faustpfand in Verhand-
An eine normale journalistische Recher- dern wie der Türkei, Ägypten oder Malay- lungen mit den Alliierten dienen.
che ist in Kashgar nicht zu denken. Nie- sia, werde mit hohen Abzügen bestraft. Auf der Fahrt erleben sie sechs Tage
mand will reden. Ein uigurischer Men- Wer weniger als 60 Punkte hat, ist in Ge- zwischen Tod und Freiheit, ihr
schenrechtler, der uns vor vier Jahren noch fahr. Ein falsches Wort, ein Gebet, ein Tele- Schicksal liegt in den Händen zu-
empfing, reagiert auf keine Nachricht, sei- fonat zu viel, und er kann jeden Moment nehmend nervöser Verbrecher. Doch
ne Telefonnummer ist abgemeldet. Wie zum »Studium« geschickt werden. die Geiseln wenden das Blatt mit
wir später erfahren, ist er vor Monaten Twitter: @bzand einer klugen List: Sie rufen die Wehr-
verschwunden, ob er im Umerziehungs- macht zu Hilfe.

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 79


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Flüchtlinge an der syrisch-israelischen
Grenze auf dem Golan

Schattenkrieg
Nahost Das Assad-Regime erobert den Süden Syriens zurück,
und Israel fürchtet iranische Milizen an seinen
Grenzen. Nahezu unbemerkt bekämpft es daher Teheran.

RONEN ZVULUN / REUTERS


U
nter denen vielen Bomben, die Teherans Revolutionswächter haben in Noch vor Kurzem drohte Israels Pre-
auf Syrien niedergehen, gibt es den vergangenen Jahren auch Raketen mierminister Benjamin Netanyahu: »We-
eine besonders rätselhafte Art: nach Syrien gebracht, dort Milizen auf- der werden wir Iran an unseren Grenzen
Sie haben keinen Urheber und gebaut und Stützpunkte eingerichtet. Und akzeptieren noch irgendwo sonst in Sy-
treffen angeblich auch niemanden. nun rücken die Iraner immer dichter an rien«. Da war er gerade auf dem Rückweg
Nach allem, was man weiß, hat Israels die Grenze Israels vor. aus Moskau, es war sein dritter Besuch bei
Militär in diesem Monat schon zweimal Dort, in Südsyrien, direkt an der Waffen- Wladimir Putin in diesem Jahr. Netanyahu
mutmaßliche Stellungen der iranischen Re- stillstandslinie zu Israel auf den Golan- hofft, dass er den russischen Präsidenten
volutionswächter in Syrien bombardiert. höhen, versucht die Regierung in Jerusa- dazu bringen kann, die Iraner in Syrien in
Höchstwahrscheinlich jedenfalls, denn Je- lem seit Jahren, ihre Pufferzone zu dem Schach zu halten. Denn Russland ist, ne-
rusalem gibt solche Angriffe nur äußerst feindlichen Nachbarn zu vergrößern. Aber ben Iran, die wichtigste Kriegspartei in Sy-
selten zu – und die Syrer und Iraner tun dieses Vorhaben scheint nun gescheitert. rien – beide unterstützen Baschar al-Assad
danach fast immer so, als sei kaum etwas Das israelische Militär lieferte in seiner und stimmen sich im Land ab. Und doch
getroffen worden. »Operation guter Nachbar« jahrelang hu- ist fraglich, wie viel Einfluss die Russen
Israel und Iran führen im syrischen manitäre Hilfe und wohl auch Unterstüt- wirklich auf die Iraner haben.
Bürgerkrieg ihren eigenen Schattenkrieg. zung für örtliche Rebellenmilizen über die Schon seit Wochen hatte Netanyahu in
Mehrmals kam es seit Dezember zum Grenze, die gegen das Regime in Damaskus Washington dafür lobbyiert, dass US-Prä-
direkten Schlagabtausch zwischen Israels und damit auch die Iraner kämpften. Doch sident Donald Trump sich bei seinem Tref-
Militär und den Revolutionswächtern. in diesen Tagen muss Jerusalem zusehen, fen mit Putin in Helsinki für Israel einset-
Kein Monat vergeht ohne neue Angriffe. wie diese Kämpfer fallen oder kapitulieren, zen möge. Er schickte sogar seinen Gene-
Selten waren die Spannungen zwischen während Irans Verbündete vorrücken: Das ralstabschef nach Washington, um dafür
den beiden verfeindeten Staaten so groß Regime eroberte vergangene Woche die zu werben. Die Russen sollten garantieren,
wie derzeit. Die Iraner haben nicht nur an- Stadt Daraa, eines der letzten Refugien der so sein Wunsch, dass sich Teheran aus dem
gedroht, nach der einseitigen Kündigung Rebellen. Westlich davon, am Golan, sitzen Grenzgebiet zu Israel zurückziehe, besser
des Nuklearabkommens durch die USA nach Uno-Angaben rund 160 000 Zivilis- noch ganz aus Syrien. Doch die Hoffnung
ihr Atomprogramm wieder aufzunehmen. ten fest; kein Land nimmt sie auf. wurde enttäuscht.

82
Ausland

Putin verkündete nach dem Treffen mit mee vermutlich umso mehr selbst dafür Viele Israelis bangten wochenlang, dass
Trump lediglich: Man werde nach der sorgen wird. Das ist ein riskantes Unter- die Iraner zurückschlagen würden – etwa
Rückeroberung Südsyriens durch das As- fangen. »Alle Seiten haben ein Interesse mit einem Angriff auf eine Botschaft oder
sad-Regime wieder zum Status des Waf- an einer Deeskalation«, sagt Zisser. »Doch ein jüdisches Ziel im Ausland. Wie 1994,
fenstillstandsabkommens von 1974 zurück- die Gefahr ist groß, dass die Lage außer als 85 Menschen bei einem Bombenan-
kehren. Das ist Netanyahu aber zu wenig – Kontrolle gerät.« schlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum
denn das Abkommen sieht nur eine kleine Vor wenigen Monaten wäre es schon in Buenos Aires getötet wurden. Aber die
entmilitarisierte Zone unter Uno-Aufsicht einmal beinahe so weit gekommen. Am Iraner entschieden sich für eine überschau-
auf dem Golan vor, an der schmalsten Stel- 10. Februar flog eine iranische Drohne aus bare Reaktion: Sie feuerten rund 20 Rake-
le nur einen halben Kilometer breit. Direkt Syrien nach Israel, sie soll mit Sprengstoff ten auf israelische Stellungen auf dem Go-
dahinter könnten dann die iranischen Re- beladen gewesen sein. Die Drohne wurde lan. Es war das erste Mal überhaupt, dass
volutionswächter Position beziehen. abgefangen, danach bombardierten israe- Revolutionswächter direkt Raketen auf Is-
Trump stand daneben und nickte, als lische Kampfjets den von Iranern genutz- rael feuerten.
ob er das alles akzeptierte; er fügte hinzu, ten Stützpunkt T-4 bei Homs, von dem Zu Schaden kam niemand, trotzdem fei-
die Israelis würden »gern gewisse Sachen aus die Drohne gesteuert worden sein soll. erten die syrischen und iranischen Staats-
machen mit Blick auf Syrien, die mit Isra- Der syrischen Luftabwehr gelang es, einen medien den vermeintlich großen Gegen-
els Sicherheit zu tun haben«. Die USA und der Kampfjets abzuschießen; erstmals seit schlag. Israel antwortete mit einer Angriffs-
Russland würden ihnen dabei helfen. welle auf iranische Ziele in ganz Syrien, es
Gemeint hatte der US-Präsident wohl war der größte Angriff auf das Nachbar-
Israels Luftangriffe auf iranische Ziele in »Die Gefahr ist land seit dem Sechstagekrieg 1967.
Syrien, die vor acht Monaten begonnen groß, dass die Israel fürchtet, dass sich in Syrien
haben. Zwar hatten die Israelis schon vor- wiederholen könnte, was den Revolutions-
her hin und wieder im Nachbarland bom- Lage außer Kontrolle wächtern im benachbarten Libanon ge-
bardiert – allerdings nicht gezielt iranische gerät.« lang. In den Wirren des damaligen Bürger-
Stellungen, sondern vor allem Waffenlie- kriegs hat Teheran vor 30 Jahren die
ferungen an die von Teheran unterstützte Iran-treue Hisbollah aufgebaut. Sie ist
libanesische Hisbollah. Jahrzehnten verlor Israel ein Flugzeug. inzwischen nicht nur die kampferprobteste
Doch die Hisbollah ist längst nicht mehr Wahrscheinlich war es ein Zufallstreffer Truppe der Region, sondern beherrscht
Israels einziges Problem an seiner Nord- der veralteten syrischen Luftabwehr; es den Libanon auch politisch.
grenze. Iran befehligt Tausende Milizio- soll erst das zweite Mal gewesen sein, dass Im Jahr 2006 führten Israel und die His-
näre in Syrien – überwiegend schiitische die Syrer ihre Flugabwehr während eines bollah zum letzten Mal Krieg gegeneinan-
Afghanen, Pakistaner und Iraker. Sie israelischen Angriffs überhaupt aktiviert der – damals war keine Seite klarer Sieger.
kämpfen aufseiten des Assad-Regimes und hatten. Zuvor hatten sie dies aus Furcht Inzwischen ist die Hisbollah deutlich stär-
sind maßgeblich an dessen Rückeroberung vor Vergeltung lieber unterlassen. ker geworden, sie soll laut israelischen
des Landes beteiligt. Revolutionswächter Am 9. April bombardierte Israel erneut Schätzungen mehr als 120 000 Raketen
sind zudem als Berater in die syrische Ar- T-4, sieben Revolutionswächter kamen besitzen, manche ihrer Raketenwerfer kön-
mee integriert und untrennbar mit dem ums Leben. Während sich Teheran sonst nen rund 200 Geschosse pro Stunde ab-
Regime verwoben. Sie sollen große Rake- über die Angriffe ausschweigt, berichteten feuern. Ein neuer Krieg würde zu vielen
ten in Syrien deponiert haben, mit denen die iranischen Staatsmedien dieses Mal aus- Toten auf beiden Seiten führen. Er wäre
sie Israel angreifen könnten. führlich. Am Tag darauf kündigte einer der für Israel aber noch viel gefährlicher, wenn
Für die Islamische Republik sind ihre wichtigsten Berater von Irans Staatsober- er nicht nur aus dem Libanon, sondern
Militäreinsätze in der Region eine Lebens- haupt Ali Khamenei bei einem Besuch in auch aus Syrien geführt würde.
versicherung: Sie sorgen dafür, dass an Damaskus an, dass »Israels Verbrechen Der Preis eines offenen Krieges zwi-
Iran im Nahen Osten kein Weg vorbeiführt nicht ohne Antwort bleiben« werde. schen Iran und Israel wäre für alle Betei-
und dass kaum einer es wagen würde, das ligten extrem hoch. Daher halten viele
Land direkt anzugreifen. Experten ihn für eher unwahrscheinlich.
50 km
Was kann Netanyahu nun tun? »Israels Iran unterstützt Stattdessen dürfte der Schattenkrieg zwi-
Optionen sind klar begrenzt«, sagt Eyal Beirut die libanesische schen den beiden Erzfeinden weitergehen,
Zisser, Syrienexperte an der Universität Hisbollah. ausgetragen auf syrischem Boden.
Tel Aviv. »Entweder es akzeptiert die Rea- Mittelmeer »Wir sind dabei, in eine neue Phase ein-
lität vor Ort – Assads Sieg über die Re- zutreten«, sagt Ofer Zalzberg, Israelexper-
bellen auf den Golanhöhen –, oder es in- LIBANON Damaskus te der »International Crisis Group«. »Süd-
terveniert direkt militärisch, und das syrien wird wieder unter der Kontrolle As-
kommt nicht infrage.« Wenn man keine Entmilitarisierte sads stehen, und Iran wird versuchen, sich
Golanhöhen Zone
anderen Optionen habe, müsse man seit 1967 von Israel dort einzunisten.« Dann könnte Teheran
schauen, dass man wenigstens kleine Zu- besetzt. stetig für »Reibung« sorgen, etwa indem
geständnisse erreiche. Dazu gehört etwa, SYRIEN seine Milizen Mörsergeschosse auf den is-
dass Moskau derzeit Israels Luftangriffe raelisch besetzten Golan abfeuern – wo
auf syrischem Gebiet akzeptiert. Es könn- In Syrien baut bis zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs
te sie einschränken – Russland und die Teheran schiitische jahrzehntelang Ruhe geherrscht hatte.
Milizen auf.
USA kontrollieren seit Herbst 2015 den Israel könnte gegen diese Provokatio-
ISRAEL
syrischen Luftraum. Daraa nen wenig ausrichten. Denn selbst wenn
Weder Putin noch Trump werden Israel es die Kämpfer angreifen würde, es kämen
allerdings dabei helfen, Irans Revolutions- wohl sofort wieder neue nach.
Westjordanland
wächter, ihre Waffen und die von ihnen seit 1967 von Israel Raniah Salloum
JORDANIEN
aufgebauten Milizen aus Syrien zu vertrei- besetzt. Mail: raniah.salloum@spiegel.de
ben. Das bedeutet, dass die israelische Ar-

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 83


Ausland

Im Land des Hungers


Venezuela In den Krankenhäusern des Ölstaats sterben Kinder, den Ärzten fehlen Medikamente –
und die Regierung verleugnet das Elend. Von Jens Glüsing; Fotos: Meridith Kohut

D
er kleine Joniel Briceño ist viel Die Regierung überweist kaum Geld an produkte empfohlen, aber wer kann sich
zu klein und zu leicht für das Le- die Krankenhäuser, sie lässt aber auch kei- das leisten?
ben. Er ist acht Monate alt, wiegt ne Hilfe ins Land. Denn damit würde Ma- Pérez hat nur eine Million Bolívar im
fünf Kilo, wenig mehr als man- duro, der autokratisch regierende Präsi- Monat, das entspricht etwa einem Euro.
ches Neugeborene. Seine Mutter hat ihn dent, eingestehen, dass seine Regierung Sie hat keine Arbeit, kein Geld, für nichts,
aus ihrem kleinen Dorf hierhergetragen, gescheitert ist. Lieber lässt er offenbar das erst recht nicht für Babynahrung. Eine
zwei Stunden Fußmarsch bis zur Bushalte- kaum fassbare Elend zu, das in seinen Kli- Dose davon kostet zwei Millionen Bolívar,
stelle, den Sohn immer auf dem Arm, zwei niken zu besichtigen ist. Nach Angaben wenn im Supermarkt überhaupt eine zu
Stunden Fahrt mit dem Bus. Nun liegt Jo- von Unicef sind 15 Prozent aller Kinder finden ist.
niel hier, in Bett Nummer zwei, unter einer in Venezuela unterernährt. Im »Razetti«, der einstigen Vorzeigekli-
Donald-Duck-Figur, die jemand an die Einige der schlimmsten Fälle kommen nik, haben sie keine Säuglingsmilch mehr,
Wand geklebt hat. hierher, ins Razetti in Barcelona, zehn seit Januar schon nicht. Manchmal kauften
Joniel ist nicht das einzige Kind mit aus- Betten in der Kindernotaufnahme, in man- die Ärzte sogar Essen für die Patienten, er-
gezehrtem Gesicht, mit geschwollenen Bei- chen liegen drei kleine Patienten nebenei- zählt eine Krankenschwester. »Aber sie
nen und aufgeblähtem Bauch in der Not- nander. Auf dem Boden tote Kakerlaken, verdienen ja selbst kaum etwas.« Und so
aufnahme der Kinderabteilung der Uni- nachts streift eine Katze durch die herun- gibt es nichts, was sie für Joniel tun kön-
versitätsklinik Luis Razetti in Barcelona, tergekommenen Räume, in denen es an nen, außer zu hoffen. Und mit einem Stück
einer Großstadt gut 300 Kilometer östlich allem fehlt, an Blutzuckerteststreifen und Pappe die Fliegen fortzuwedeln, die über
der Hauptstadt Caracas. Die Ärzte und Nährlösung, an Antibiotika und Narkose- dem Kleinen kreisen.
Pfleger nennen die Abteilung »Afrika«. mitteln. Es gibt nichts mehr im Razetti, keine
Nirgends ist die verzweifelte Lage dieses Medikamente, kein Klopapier, keine Win-
Landes deutlicher sichtbar als in den Kran- deln, keine Reinigungs- und Desinfektions-
kenhäusern. In der Klinik gibt es keine mittel, kein Bettzeug, nicht einmal Kugel-
Venezuela, das Land mit den größten Antibiotika, kein Bett- schreiber und Papier für die Ärzte. Im
bekannten Ölreserven der Welt, ist pleite. Badezimmer hängen lose Kabel von der
Einst gehörte es zu den reichsten des Kon- zeug, keine Windeln. Das Decke, die Farbe bröckelt von der Wand,
tinents, nun leiden die Menschen Hunger, Röntgengerät ist kaputt. seit Wochen gibt es kein Wasser zum Hän-
vor allem im Landesinneren. Die Wirt- dewaschen. Das Röntgengerät ist kaputt,
schaft ist seit 2014 zusammengebrochen, der Sauerstoff für die Beatmungsgeräte
immer wieder gibt es Proteste und Unru- Früher war das Haus eine Vorzeige- fehlt, die Klimaanlage steht still. Die In-
hen, weil in den Geschäften Nahrungsmit- klinik, es ist zuständig für den gesamten tensivstation ist außer Betrieb, genauso
tel fehlen, aber auch Alltagswaren wie Klo- Osten des Landes. Selbst aus dem Ama- der Operationssaal, weil Instrumente und
papier oder Waschmittel. An den Eingän- zonasgebiet und der Hauptstadt kommen Geräte fehlen. Nur ein Monitor, der die
gen von Supermärkten sind Bewaffnete Patienten hierher. Das Hauptgebäude ist wichtigsten Lebenssignale überträgt, funk-
postiert, die Hyperinflation von 42 000 neun Stockwerke hoch, ein imposanter ro- tioniert, er piepst leise. Ein letztes Signal
Prozent im Jahr frisst die Einkommen auf. ter Ziegelbau. Nebenan, im Kinderkran- aus der Zivilisation.
Die Armen hungern, die Schwachen und kenhaus, liegt »Afrika«. Jeden Tag werden Im Bett neben Joniel strampeln Zwillin-
Kranken sterben, Jugendliche schließen ein Dutzend Kinder eingeliefert, fast jeden ge, einen Monat alt, seit zwei Wochen hier,
sich kriminellen Banden an. Wer es sich Tag stirbt eines. Hier ringt nun der kleine Brechdurchfall, sie brauchten eine Blut-
leisten kann, verlässt das Land. Joniel um sein Leben. transfusion. Aber das Labor ist seit Mona-
Der 2013 verstorbene Präsident Hugo Neben dem Bett steht seine Mutter ten geschlossen, es gibt keine Blutkonser-
Chávez machte sich einst bei den Armen Yeriyoli Pérez, 25, eine junge Frau mit ven. Die Mutter könnte Blut in einer Pri-
beliebt, weil er die Öleinnahmen verwen- alten Augen, 39 Kilogramm leicht, 16 Kilo vatklinik kaufen, aber woher soll sie das
dete, um Sozialprogramme zu finanzieren. hat sie in den vergangenen sechs Monaten Geld nehmen?
Doch gleichzeitig fehlte es dem staatlichen verloren. Ihr T-Shirt schlackert um den Die Kindersterblichkeit im Land ist in
Ölkonzern an Geld für Investitionen. Kor- ausgemergelten Körper. Sie ernährt sich den vergangenen Jahren dramatisch ange-
ruption und Misswirtschaft blühten auf. und ihren Sohn hauptsächlich von Mais, stiegen. Die Regierung versucht, die Krise
Unter Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro ihre Muttermilch ist versiegt. »Wir essen, zu leugnen. Sie hält seit Jahren die meisten
fiel das Land schließlich in eine existen- was wir kriegen können«, sagt sie leise. Gesundheitsstatistiken unter Verschluss.
zielle Krise. Die Ärzte haben Fleisch oder Milch- Der letzte veröffentlichte Jahresbericht

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Großmutter, Baby Joniel im Universitätskrankenhaus Luis Razetti: Es gibt nichts, was sie tun können, außer zu hoffen

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Ausland

des Gesundheitsministeriums von 2015 zwei Euro im Monat, mit Nachtdiensten »sonst stirbt sie«, sagt eine Krankenschwes-
zeigte, dass sich die Sterblichkeitsrate bei bringt er es auf das Doppelte. Allein die ter, die die Neugeborenen betreut.
Kindern unter vier Wochen binnen drei Busfahrten ins Krankenhaus fressen sein Navas erklärt am nächsten Morgen, sei-
Jahren verhundertfacht hatte – von 0,02 Gehalt schon auf. ne Nachtschicht sei ganz normal verlaufen.
Prozent im Jahr 2012 auf mehr als 2 Pro- Die Freundin von Oscar Navas ist Ar- Es gab zwei Neuzugänge. Ein stark unter-
zent. Anfang Mai vergangenen Jahres ver- chitektin, ihre Eltern leben in den USA, ernährtes Kind, das eingeliefert wurde, war
öffentlichte das Gesundheitsministerium sie helfen dem Paar, anders ginge es nicht. bei seiner Ankunft bereits tot. »Ansonsten
plötzlich Berichte, die zeigten, dass die To- »Jeder Arzt braucht einen Sponsor, von war es ruhig«, sagt er und bricht zu seiner
desfälle bei Kindern unter zwölf Monaten seiner Arbeit kann er nicht leben«, sagt er. morgendlichen Visite auf der Unfallstation
binnen eines Jahres um fast ein Drittel zu- Er stochert in einer Plastikdose mit Reis auf. Ein Arzt muss erfindungsreich sein in
genommen hatten – auf 11 446. Seither hat und Bohnen, seinem Mittagessen. Ein Venezuela. Navas zeigt, wie er Bein und
sich die Wirtschaftskrise noch deutlich ver- Sandwich im Imbiss vor dem Krankenhaus Becken eines Verletzten mit einer Kon-
schlimmert. würde etwa ein Drittel seines Monats- struktion aus Metallrohren und Bindfaden
»Die Kinder sterben, weil korrupte Regie- gehalts kosten. Meistens isst Navas erst, ruhiggestellt hat, wie er ein Schienbein mit
rungsfunktionäre das Geld für die Kranken- wenn er zu Hause ist. »Im Krankenhaus einer ausgeliehenen Bohrmaschine aus
häuser stehlen oder zweckentfremden«, sagt vergeht mir der Appetit, weil ich Patienten dem Heimwerkerladen perforiert hat.
der Arzt Oscar Navas. Er ist 28 Jahre alt, vor Hunger sterben sehe.« Manche Ärzte, »Seit einem Jahr bekommen wir viele
trägt Stoppelbart und einen blauen Kittel. sagt er, arbeiteten 48 Stunden durch, ohne Patienten, die vom Baum gestürzt sind,
Er steckt eigentlich mitten in der Ausbildung etwas zu essen. weil sie Mangos oder Kokosnüsse pflü-
zum Orthopäden, aber weil es zu wenig Ärz- Navas will die ganze Klinik zeigen, aber cken, um ihren Hunger zu stillen«, sagt
te gibt, arbeitet er die gleichen Schichten am Eingang sind Milizionäre in olivgrünen Navas. Er schiebt einem Jungen ein Stück
wie alle anderen. Seit dem Morgen ist er im Uniformen postiert, sie wurden von der Pappe zwischen die Zähne. Er muss des-
Einsatz, in der Nacht wird er allein für das Regierung abgestellt, um unerwünschten sen gebrochenes Bein richten, und es gibt
gesamte Krankenhaus zuständig sein. Das Besuchern den Zutritt zu verwehren, Jour- keine Betäubungsmittel. Er setzt an, der
heißt in diesen Tagen, Wochen, Monaten ei- nalisten zum Beispiel. »Es gibt hier mehr Junge beißt in die Pappe, stößt vor lauter
gentlich nur: den Mangel verwalten. Milizionäre als Ärzte«, flüstert Navas hin- Schmerz gepresste Schreie aus.
»Wir müssen zusehen, wie Patienten ter vorgehaltener Hand. Als Letztes verarztet Navas den jungen
sterben, weil wir sie nicht versorgen kön- Einer der Männer stellt sich Navas und Erick Guevara, 24, er liegt neben der Tür.
nen«, sagt Navas, Sohn einer Gynäkologin, dem SPIEGEL-Journalisten in den Weg, er »Wie geht’s, Champion?«, fragt der Arzt.
Enkel eines Internisten, die ihm beide vom hat eine Schnapsfahne. Navas redet auf Kein Patient, sagt er, lasse alles so klaglos
Medizinstudium abrieten. Er solle besser ihn ein: »Ihr habt doch auch Familienan- über sich ergehen wie Guevara. Als Navas
ins Ausland gehen. Aber er blieb. gehörige, die mal ins Krankenhaus müssen, sein gebrochenes Bein richtet, verzichtet
Über 60 Patienten liegen oder sitzen oder? Ich will der Welt zeigen, wie es hier Guevara auf ein Beißholz, obwohl ihm vor
auf dem Korridor der Notaufnahme im Schmerz die Schweißperlen auf der Stirn
Hauptgebäude, jeden Tag werden es mehr. stehen.
Früher kamen nur die Armen in die staat- »Zuneigung ist das Eigentlich wollte der Patient sich wegen
lichen Krankenhäuser, heute stammen die Einzige, was wir der Krise ins Ausland absetzen, er hatte
Patienten aus allen sozialen Schichten. die Busfahrkarte nach Chile schon in der
Eine einzige Krankenschwester leistet unseren Patienten Tasche. Drei Tage vor der Abreise wurde
Dienst, es stinkt nach Urin und Erbroche- geben können.« er bei einem Autounfall schwer verletzt:
nem. Weil die Aufzüge kaputt sind, warten Dreifacher Beckenbruch, der linke Fuß
viele Kranke seit Stunden darauf, dass je- wurde abgetrennt. Weil sie ihn im örtli-
mand sie die Treppe zu den Stationen zugeht, damit endlich etwas geschieht.« chen Krankenhaus nicht versorgen konn-
hochträgt, aber dort fehlen die Pritschen. Die Milizionäre rufen ihre Kommandeu- ten, schickten sie ihn ins drei Stunden ent-
An den Wänden handgeschriebene Zettel: rin, sie berät sich mit dem Arzt, dann ge- fernte Barcelona. Als der Krankenwagen
»Es gibt kein Material.« ben die Bewaffneten den Weg frei. eintraf, stellte der Arzt fest, dass etwas
»Es gibt keine Medikamente.« Durch ein dunkles, halb verfallenes fehlte: der abgetrennte Fuß.
»Es gibt kein Blut.« Treppenhaus steigt Navas in den neunten Navas rief im Krankenhaus in El Tigre
Es gibt auch nicht genügend Ärzte und Stock, zur Neugeborenenstation. Unter- an und fragte, wo der Fuß des Patienten
Krankenschwestern, Hunderte Angestellte wegs deutet er auf einen verlassenen Flur: sei. Sie hätten ihn verbrannt, antwortete
des Krankenhauses haben sich ins Ausland »Hier war die Herzstation, wir mussten sie ein Angestellter, die Kühlung sei leider aus-
abgesetzt. »Wer geht, der unterstützt die stilllegen. Die Kardiologen haben sich ins gefallen. »Wenn sie den Fuß gekühlt und
Diktatur«, sagt Oscar Navas. »Die Men- Ausland abgesetzt.« hergebracht hätten, hätten wir ihn viel-
schen brauchen uns hier.« Unermüdlich In den drei funktionierenden Brutkäs- leicht wieder ansetzen können«, sagt Na-
läuft er zwischen den Patienten herum, sie ten der Babystation dämmern Frühchen vas. So konnten sie nur den Stumpf ver-
belagern ihn mit Fragen: Wann werde ich vor sich hin, die Schläuche, die in die Ge- sorgen. Das Becken operierte er unter lo-
endlich operiert? Werde ich wieder gehen räte führen, sind mit Klebestreifen befes- kaler Betäubung mithilfe eines Hammers
können? Geduldig antwortet er, manchen tigt. An einem der Kästen hängt ein Zettel: und etwas Draht. Jetzt hofft er, dass es wie-
streicht er über den Kopf. »Zuneigung ist »Dayana, geb. 29. 3., 30. Schwangerschafts- der zusammenwächst. »Wir würden den
das Einzige, was wir unseren Patienten ge- woche, 45 cm, 1700 Gramm. Von der Mut- Bruch gern operieren, aber wir haben kein
ben können«, sagt er. ter verlassen«. Das Kind kam per Kaiser- Material.« Sollte Guevara eines Tages
Navas trägt Turnschuhe, Jeans und ein schnitt auf die Welt, danach ging die Mut- doch operiert werden können, würde er
T-Shirt, sein Kittel ist blutverschmiert. Frü- ter aus dem Krankenhaus und verschwand. zunächst im Rollstuhl sitzen. Später könne
her trugen die Ärzte weiße Hemden und Nun bekommt die Kleine einmal die Wo- er auf Krücken gehen, mit Glück bekommt
Krawatten, aber dafür haben sie kein Geld che, immer am Freitag, Milch von einer er eines Tages eine Prothese.
mehr. Auch die Ärzte leiden unter der Hy- anderen stillenden Mutter. Aber das reicht Navas ist fertig mit der Visite, 48 Patien-
perinflation, Navas verdient umgerechnet nicht. Dayana brauche Säuglingsnahrung, ten hat er heute besucht. Es ist zwölf Uhr,

86 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Patienten in der Notaufnahme, Behandlung ohne Schmerzmittel: »Was die Ärzte hier machen, grenzt an Zauberei«

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Ausland

eigentlich ist seine Schicht seit einer Stun- len. Vor Kurzem ging eine Mutter auf die Wenn das Krankenhauspersonal öffent-
de zu Ende. Er muss noch Protokoll füh- behandelnde Ärztin los, weil sie ihr Kind lich auf die Misere aufmerksam macht, ant-
ren, für jeden Kranken hat er eine Akte verlor, die Ärzte mussten eine Abtreibung wortet die Regierung mit Repression. In
angelegt. Er setzt sich ins Ärztezimmer, einleiten. Caracas stürmte jüngst ein »Colectivo«,
auf der Rückseite von gebrauchten Zetteln Dabei leiden die Ärzte ebenso unter wie die Maduro-treuen Schlägertrupps ge-
notiert er mit einem Bleistift den Zustand dem Notstand wie die Patienten. Jüngst nannt werden, ein Hospital, weil Ärzte
der Patienten. Der einzige Computer ist wurde eine Ärztin auf dem Krankenhaus- und Krankenschwestern zum Protest auf-
defekt, der Drucker hat keine Tinte. Die gelände überfallen, der Gangster attackier- gerufen hatten. »Maduro könnte wenigs-
beschriebenen Blätter verwahrt er in ei- te sein Opfer mit einem Messer. Navas tens Russland oder China um Medikamen-
nem altmodischen Hängeregister. sagt: »Wir konnten unsere verletzte Kol- te und medizinisches Equipment bitten,
Immer öfter kommt es zu Übergriffen, legin nicht einmal röntgen, weil nicht ein wenn er schon keine Hilfe vom Westen
weil Patienten sich schlecht behandelt füh- einziger Apparat funktionierte.« will«, sagt Navas. »Aber er leugnet das
Elend einfach.«
Navas ist Präsident des Verbands der
Assistenzärzte, er beschäftigt sich mit
Gesundheitspolitik, und er verbirgt nicht,
dass er ein politischer Gegner des Präsi-
denten ist. Mehrere seiner Freunde sitzen
im Gefängnis, weil sie der Opposition an-
gehören.
Navas hat die Präsidentschaftswahl im
Mai boykottiert wie fast alle Anhänger
der Opposition. »Jede Stimme stärkt den
Diktator«, sagt er. Fast zwei Drittel der
Wahlberechtigten sind den Urnen an je-
nem Tag ferngeblieben, schätzen unabhän-
gige Beobachter. Die Legitimität der Wahl
wird international nur von Staaten wie
China, Kuba, Nordkorea und Russland an-
erkannt.
Maduro ist nicht populär, anders als
sein Vorgänger. Den mangelnden Rückhalt
in der Bevölkerung gleicht er mit einem
zunehmend autoritären Herrschaftsstil
aus. Die meisten wichtigen Oppositions-
politiker befinden sich im Exil oder im
Gefängnis.
Und so hat das Land mit der umstrit-
Flur im Krankenhaus »Luis Razetti«: Es stinkt nach Urin und Erbrochenem tenen Wahl im Mai vermutlich die letzte
Chance auf einen demokratischen Macht-
wechsel verpasst. Doch solange die Armee
zu ihm hält, hat Maduro trotz seiner
hungernden Bevölkerung wenig zu be-
fürchten. Er ist nun offiziell bis 2024
wiedergewählt und versucht, die katastro-
phale Lage der Bevölkerung einfach zu
ignorieren.
Es gebe genügend Medikamente für die
Krankenhäuser, ließ die stellvertretende
Gesundheitsministerin wenige Tage nach
der Wahl verlauten.
In Barcelona ist davon nichts angekom-
men. Dayana, dem kleinen Mädchen im
Brutkasten, geht es inzwischen besser, weil
eine Tante ein Kind gebar, sie stillt nun
beide Babys.
Erick Guevara, der junge Mann, der sei-
nen Fuß verlor, wartet immer noch auf sei-
ne Operation. Er wolle jetzt nicht mehr
Ingenieur werden, sondern Arzt, sagt er:
»Das schulde ich Dr. Navas und seinen
Kollegen. Was sie hier machen, grenzt an
Zauberei.«
Joniel, das Baby in der Notaufnahme,
ist am Tag der Präsidentschaftswahl an
den Folgen der Unterernährung gestorben.
Patient, Arzt Navas: »Ich will der Welt zeigen, wie es hier zugeht«

88 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Sport
»Ich bin immer: die Nächste nach Steffi.« ‣ S. 90

Beste Nachwuchsspieler bei Fußballweltmeisterschaften* * vor 2006 nachträglich von der Fifa ermittelt

WM: 1958 Schweden 1962 Chile 1966 England 1970 Mexiko 1974 Deutschland 1978 Argentinien 1982 Spanien 1986 Mexiko

Pelé Flórián Albert Franz Beckenbauer Teófilo Cubillas Wladislaw Żmuda Antonio Cabrini Manuel Amoros Enzo Scifo
Brasilien Ungarn Deutschland Peru Polen Italien Frankreich Belgien

1990 Italien 1994 USA 1998 Frankreich 2002 Japan/Südkorea 2006 Deutschland 2010 Südafrika 2014 Brasilien 2018 Russland

Robert Prosinečki Marc Overmars Michael Owen Landon Donovan Lukas Podolski Thomas Müller Paul Pogba Kylian Mbappé
Jugoslawien Niederlande England USA Deutschland Deutschland Frankreich Frankreich
11 X IMAGO SPORT; 2 X PICTURE-ALLIANCE / DPA; GLADYS CHAI VON DER LAAGE, ROBERT GHEMENT, MICHAEL KIENZLER / PICTURE-ALLIANCE / DPAFOTOCREDIT

Den Titel des besten Nachwuchsspielers einer WM hat die aber für alle Weltmeisterschaften seit 1958 den besten Jung-
Fifa offiziell bisher viermal vergeben: Zuletzt an die Franzosen spieler gekürt. Nicht alle hatten später glänzende Fußballer-
Kylian Mbappé und Paul Pogba, zuvor an die Deutschen Lukas karrieren. Der dritte Deutsche in dieser Liste startete indes
Podolski und Thomas Müller. Nachträglich hat der Weltverband durch: Franz Beckenbauer, bester Jungspund bei der WM 1966.

Magische Momente SPIEGEL: Sie sind seit 2009 Turnierdirek-


tor am Rothenbaum. Was bekommen die
»Die Gefühle brachen aus mir heraus« Zuschauer dieses Jahr geboten?
Stich: Mit Dominic Thiem schlägt einer
Als Tennisprofi Michael Stich, heute 49, in Hamburg die Stimme versagte der besten Sandplatzspieler der Welt bei
uns auf, und wir sind insgesamt so gut
SPIEGEL: Ihren Triumph Muster oder Emilio Sánchez. Außerdem besetzt wie noch nie zuvor.
beim Tennisturnier am gewann ich das einzige Mal überhaupt SPIEGEL: Sie greifen auch zum Schläger.
Rothenbaum 1993 haben gegen Ivan Lendl, und trotzdem wurde Stich: Im Legendenmatch trete ich
Sie mal als »emotionals- es im Finale extrem eng. gegen meinen Freund John McEnroe an.
ten Moment« Ihrer Kar- SPIEGEL: Nach dem 6:3, 6:7, 7:6 und 6:4 Wir sind beide hoch motiviert.
riere bezeichnet. Wieso versagte Ihnen bei der Siegerehrung die SPIEGEL: Am Tag zuvor werden Sie
fühlte er sich so besonders an? Stimme. in den USA in die Hall of Fame des
Stich: Weil ich schon als Achtjähriger Stich: Ich habe mich für diesen emotiona- Tennis aufgenommen.
ANDRE MISCHKE / AGENCY PEOPLE IMAGE

mit meinem Onkel dort den besten Spie- len Auftritt nie geschämt, aber ich muss Stich: Diesem elitären Kreis anzu-
lern der Welt zuschauen konnte. Jimmy zugeben, dass ich mir meine Dankesrede gehören, empfinde ich als große Ehre.
Connors, Peter McNamara, Guillermo nicht gerne angucke. Die Ich freue mich sehr da-
Vilas – ich träumte davon, eines Tages so Gefühle brachen einfach aus rüber.
gut zu sein wie sie. Wenn ich keine Karte mir heraus. SPIEGEL: Sie werden bald
für den Center Court hatte, kletterte ich SPIEGEL: Wenige Tage nicht mehr für die Organi-
mit Freunden durch die Löcher im Draht- zuvor wurde Monica Seles sation der German Open
zaun, um meine Stars zu sehen. in Hamburg mit einem verantwortlich sein. Hält
GUNNAR BRUMSHAGEN / ULLSTEIN BILD

SPIEGEL: 1992 erreichten Sie das Endspiel, Messer attackiert. Wie gingen Ihre Verärgerung über den
Sie verloren gegen Stefan Edberg. Sie damit um? Verlust der Lizenz noch an?
Stich: Das war extrem bitter, schließlich Stich: Natürlich war ich, wie Stich: Wenn eine große Ge-
erhält man nicht oft die Gelegenheit, zu die ganze Tenniswelt, von schichte zu Ende geht, stel-
Hause einen großen Titel zu gewinnen. der Attacke geschockt. Aber len sich Traurigkeit, Wehmut
SPIEGEL: Im Jahr darauf siegten Sie im Fina- diese unfassbare Tat hatte und sicher auch Enttäuschung
le gegen den Russen Andrej Tschesnokow. nichts mit mir zu tun, und ein. Aber die Entscheidung
Stich: Ich war gut in Form und schlug deshalb verspürte ich auch ist gefallen, und auf mich war-
zuvor Sandplatzspezialisten wie Thomas keine Angst. Stich 1993 ten neue Aufgaben. PK

89
Sport
SAMMY HART / DER SPIEGEL

»Ich musste lernen,


stolz auf mich zu sein«
SPIEGEL-Gespräch Wimbledon-Siegerin Angelique Kerber, 30,
über Spiele unter Beobachtung der Royals und den heimischen Empfang der Großeltern

90
SPIEGEL: Frau Kerber, 6:3, 6:3 gegen Kerber: Wir waren die Einzigen in der Um-
Serena Williams, die dominierende Spie- kleidekabine, drei Stunden vor dem Spiel
lerin der vergangenen Jahre – ein deut- haben wir uns da begrüßt. Ein kurzes Hal-
liches Ergebnis im Endspiel von Wimble- lo, kein großes Gespräch. Wir respektieren
don. Als Zuschauer hatte man keine Zwei- uns sehr.
fel, dass Sie gewinnen würden. Wie sah es SPIEGEL: Dann ging es raus auf den Center
in Ihnen aus? Court, in der Royal Box saßen die Herzo-
Kerber: Ich war davon überzeugt, dass ich ginnen Meghan und Kate. Wie konnten
sie schlage. Einen Tag vor dem Finale habe Sie ruhig bleiben?
ich mich hingesetzt und überlegt, wie es Kerber: Einen Tag vorher hatte ich erfah-
2016 war … ren, dass die beiden kommen würden. Ich
SPIEGEL: … damals verloren Sie im End- meine, vor ein paar Wochen habe ich noch
spiel gegen Williams mit 5:7 und 3:6. Meghans Hochzeit im Fernsehen verfolgt.
Kerber: Alles war damals neu für mich: der Wow. Es ist ein besonderes Gefühl zu wis-
Gang zum Center Court, die Blumen, die sen, dass solche Leute einem zuschauen.
einem vor dem Finale überreicht werden. Aber ich habe das gesamte Spiel über nicht
Diese Atmosphäre hat mich erschlagen. zu denen hochgeschaut, auch nicht in die
Dennoch habe ich gut gespielt, Serena hat Box von Serena.
dank ihres Aufschlags gewonnen, am Ende SPIEGEL: Dort saßen unter anderem der
haben zwei Breaks die Partie entschieden. Golfer Tiger Woods und Formel-1-Welt-
Ich habe viel aus dieser Erfahrung gelernt, meister Lewis Hamilton.
wusste, dass ich dieses Mal auf den Platz Kerber: Ich schaue prinzipiell nicht in die
gehen muss mit der Einstellung: Du siegst. Box der Gegnerin, sondern fokussiere
SPIEGEL: Sie wirkten völlig bei sich. mich auf mich. Wenn Serena gemerkt hät-
Kerber: Ich hatte mich im Turnier von te, dass ich von meinem Plan abweiche,
Match zu Match gesteigert, glaubte an hätte sie das bestraft, dafür ist sie zu er-
mich, ließ mich von nichts irritieren. Sere- fahren.
na hat im zweiten Satz alles probiert, sich SPIEGEL: Nach dem Spiel gratulierten Ih-
angefeuert, krasse Schläge ausgepackt. Im nen Meghan und Kate.
vorletzten Aufschlagspiel servierte sie drei Kerber: Als sie mir die Hand gaben, dachte
Asse, da dachte ich schon: Puh. Aber ich ich: Die haben dir wirklich gerade zugese-
sagte mir: Bleib bei dir. Keine Zweifel. hen, wie du Wimbledon gewinnst.
SPIEGEL: Was war anders als 2016? SPIEGEL: Viele waren gekommen, um das
Kerber: Ich war entspannter, schon in der »Mum-back« zu sehen, einen Sieg von Wil-
Vorbereitung. Damals habe ich direkt nach liams nach der Geburt ihrer Tochter. Füh-
dem Halbfinale an das Finale gedacht, die- len Sie sich als Spielverderberin?
ses Mal habe ich nach dem Halbfinale den Kerber: Ich wusste, dass das die Geschich-
Rest des Tages genossen, mir gesagt: Okay, te war, auf die alle gewartet haben: Serena,
in zwei Tagen kommt das nächste Spiel. die Mama, kommt zurück und gewinnt
SPIEGEL: Wie haben Sie sich vorbereitet? Wimbledon. Aber auch ich habe eine Ge-
Kerber: Ich habe am Vortag nur 40 Minu- schichte: noch mal gegen sie zu spielen
ten trainiert, das Tennis ist ja da, vor einem nach der Niederlage 2016, meine zweite
solchen Finale geht es nur noch um das Chance. Jetzt habe ich auch für mich Ge-
Mentale, darum, nicht nervös zu sein, schichte geschrieben.
schnell den Weg zu finden. Während des SPIEGEL: Sie sind die erste deutsche Sie-
Matches darf man nicht lange brauchen, gerin in Wimbledon seit Stefanie Graf
um reinzukommen – wenn du ein, zwei 1996.
Aufschlagspiele zu spät auf dem Platz bist, Kerber: Diese Geschichte wird ja nach je-
hast du keine Chance mehr gegen Serena. dem Grand-Slam-Sieg von mir erzählt. Ich
SPIEGEL: Haben Sie auch mal nicht an bin immer: die nächste nach Steffi.
Tennis gedacht vor dem Finale? SPIEGEL: Wie ist Ihre Verbindung?
Kerber: Wir haben am Abend vor dem Fi- Kerber: 2015 war ich zweimal bei ihr in
nale Karten gespielt, ich habe mit meiner Las Vegas, wir haben miteinander gespielt,
Schwester telefoniert und über den Urlaub sie hat mir gezeigt, wie fit sie noch ist. Sie
nachgedacht, den ich für die Zeit nach hat mir nichts Neues gesagt, aber wenn
Wimbledon geplant habe, eine Auszeit für man von einer wie Steffi gesagt bekommt:
mich. »Du bist auf dem richtigen Weg, gib dir
SPIEGEL: Wie war es unmittelbar vor dem mehr Zeit«, ist das was anderes, als wenn
Spiel? dir das eine Freundin sagt, die mit Tennis
Kerber: Wir mussten warten, hatten keine nichts am Hut hat. Da habe ich mir ge-
feste Startzeit, da vor uns noch das Halb- dacht: Vertrau dir, bleib ruhig.
finale der Männer lief. Irgendwie war ich SPIEGEL: Wie ist heute Ihr Verhältnis?
locker drauf, schon morgens beim Aufste- Kerber: Sie hat mir nach dem Finale eine
hen, ich wollte es genießen. Es sollte ein SMS geschrieben. Wir tauschen uns nicht
ganz normaler Tag sein. jede Woche aus.
SPIEGEL: Haben Sie mit Williams vor dem SPIEGEL: Jetzt sind Sie Wimbledon-Sie-
Match gesprochen? gerin wie Ihr Idol. Ihr Kindheitstraum ist

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 91


erfüllt. War dieser Sieg so, ist, ging auch schon die
wie Sie ihn sich als Mädchen nächste Saison los. Die Pause
in einer Kieler Tennishalle war viel zu kurz, ich hatte
ausgemalt hatten? nur zwei Wochen Urlaub
Kerber: Schon, ja. Diese und keine Zeit, das Jahr
Schale zu bekommen und Revue passieren zu lassen.
hochzuheben, die Ehrenrun- Ich wollte es weiter allen be-
de zu drehen – auf diesen weisen, aber es ging nicht.
Moment habe ich jahrelang Ich war leer, psychisch, auch
hingearbeitet, von ihm ge- physisch.
träumt. SPIEGEL: Wie kam diese Lee-
SPIEGEL: Welches Bild ist re zum Ausdruck?
am stärksten in Ihrem Kopf? Kerber: Ich merkte: Da stimmt
Kerber: Der Matchball. Zu was nicht. Ich fuhr zu Turnie-
wissen, es ist vorbei. ren und hing in Gedanken
SPIEGEL: Was macht diesen noch zwei, drei Monate hin-
Titel so besonders? terher. Die Triumphe von

TOBY MELVILLE / REUTERS


Kerber: Er macht mich als 2016, als ich jede Woche eine
Spielerin vollständig. Ich bin Topleistung abgerufen habe,
froh, dass ich Wimbledon hatte ich noch gar nicht ver-
als Drittes gewonnen habe, arbeitet. Ich war vom Kopf
nach den Australian Open her nicht da, wurde schnell
und den US Open 2016. Ich Herzoginnen Kate, Meghan: »Nicht zu denen hochgeschaut« müde, langsamer zu den Bäl-
war jahrelang in den Top len. Der Spaß fehlte.
Ten, stand bei Grand Slams SPIEGEL: Sie verloren 2017
im Halbfinale, dann kam bei zehn Turnieren Ihr Auf-
2016, das beste Jahr und ei- taktmatch. Was haben diese
nes, das sich wohl nicht wie- Niederlagen mit Ihnen ge-
derholen lässt mit zwei macht?
Grand Slams und Olympia- Kerber: Die Selbstzweifel
silber. Wimbledon hat mir kommen schnell. Ich bin sehr
noch gefehlt. kritisch mit mir, will alles per-
SPIEGEL: Was nimmt man fekt machen, habe nach 2016
mit aus großen Spielen? noch mehr von mir erwartet.
Kerber: Den Glauben. Die Das war ein Fehler.
Motivation. Nach dem Sieg SPIEGEL: Aus dem Sie ge-
bei den Australian Open lernt haben?
wusste ich: Ich kann Serena Kerber: Mittlerweile weiß
in einem großen Match schla- ich, wie man mit vielem um-
gen. Und es sind Kleinigkei- zugehen hat. Mit den Anfra-
ten. Wie organisierst du den gen, den Interviews, den ne-
Tag? Wann nimmst du dir gativen Schlagzeilen.
LACI PERENYI / IMAGO

Zeit für dich? Diese Puzzle- SPIEGEL: Sind Sie eigentlich


teile muss man in zwei Tur- ein Sensibelchen?
nierwochen zusammenset- Kerber: Nein, aber getroffen
zen. Das ist die Kunst. haben mich Leute, die sagen:
SPIEGEL: Puzzeln Sie allein? Wie kannst du nur gegen
Kerber: Ja, das muss man für Kerber nach Matchball: »Jahrelang auf diesen Moment hingearbeitet« die und die verlieren? Man
sich allein machen. Motiva- merkt ja selbst, dass es ge-
tion kann dir niemand ein- rade nicht gut läuft. Ich wuss-
reden. Es gibt Millionen, die Tennis spielen jahr, 2017 dann eine Seuchensaison. Was te, dass ich aus diesem Hamsterrad raus-
können, aber mit dem Druck können nicht war passiert? muss, aber es ging immer weiter bergab.
viele umgehen. Kerber: Ich hatte mir als Jugendliche Ziele Ich experimentierte herum, wollte mich
SPIEGEL: Es heißt, Champions zeichnen gesetzt: einen Grand-Slam-Sieg. Nummer als Spielerin neu erfinden.
sich durch ihren Selbstzweifel aus. eins der Welt. Olympia. 2016 habe ich die- SPIEGEL: Wie zum Beispiel?
Kerber: Champions lernen aus Niederla- se Ziele nach und nach abgehakt: die Er- Kerber: Mitte 2017 fing ich an, mir mehr
gen, stehen wieder auf. Natürlich hat man folge in Australien und New York, Silber Zeit für mich zu nehmen, Turniere auszu-
Selbstzweifel, aber warum? Weil man in Rio, Nummer eins, Wimbledon-Finale. lassen. Nach einem Turnier beginne ich
weiß, dass man es kann, im Training alles Es war das Jahr meines Lebens. Dass aber nun erst wieder mit dem Training, wenn
beherrscht. Das muss man aber auch im so viel auf mich zukommt, damit hatte ich ich mich bereit dafür fühle, auch wenn das
Match abrufen. Oft entscheiden ein, zwei nicht gerechnet. mal zwei Tage länger dauert als gewöhn-
Punkte den Spielausgang – Champions SPIEGEL: Was meinen Sie? lich. Ich brauche das. Starte ich zu früh,
gewinnen deshalb Turniere, weil sie in die- Kerber: Es entstand ein Hype. Jeder kennt kann das der Tod sein.
sen Momenten wissen, was sie zu tun dich auf einmal, aber ich wusste nicht, wie SPIEGEL: Haben Sie sich als Person ver-
haben. ich damit umgehen soll. Ende 2016 fiel ich ändert?
SPIEGEL: Ihre Karriere verläuft in Wellen- in ein Loch: Als ich das erste Mal anfing, Kerber: 2017 kam ein Moment, in dem ich
bewegungen: 2016 spielten Sie ein Traum- darüber nachzudenken, was alles passiert realisiert habe: Du musst dich als Person

92 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Sport

von dir als Tennisspielerin trennen. Ich SPIEGEL: Das heißt, Sie werden in Zukunft
musste lernen, stolz auf mich zu sein. Ich weniger spielen?
sagte mir: Du hast doch alles schon Kerber: Ich denke schon, dass ich den
geschafft, kannst in 20 Jahren deinen Spielkalender umstrukturieren werde, mit

SAMMY HART / DER SPIEGEL


Kindern davon erzählen, hast deine Fokus auf die Grand Slams und andere
Freunde und Familie, so viel mehr als Ten- große Turniere wie Indian Wells oder
nis. Heute definiere ich mich nicht mehr Miami, dazwischen lege ich mehr Pausen
nur über den Job, sondern sehe mich als ein.
Menschen. SPIEGEL: Was machen Sie in den Aus-
SPIEGEL: Sind die Konkurrentinnen auf zeiten?
der Tour anders mit Ihnen umgegangen, Kerber, SPIEGEL-Redakteure* Kerber: Kein Tennis spielen. Ich gehe lau-
als es nicht so lief? »Mehr Aggressivität als früher« fen, mache Fitness, um ein bisschen zu
Kerber: Der Respekt, den ich mir erarbei- schwitzen. Versuche, lange zu schlafen,
tet hatte, war weiter da. Jede Gegnerin nicht auf die Uhr zu schauen, gut zu essen,
wusste, dass ich schon mal gegen sie ge- auf der Tour analysieren mich und wissen, ins Kino zu gehen, alles so normal wie
wonnen hatte. Aber mir war auch klar, was wie ich spiele. Deshalb versuche ich, Dinge möglich.
mich erwartet: Wer gegen die Nummer zu verändern und meine Gegnerinnen zu SPIEGEL: Andere deutsche Wimbledon-
eins spielt, hat nichts zu verlieren. Wenn überraschen. Sieger wie Boris Becker wurden bei ihrer
du gewinnst, ist es eine Sensation. Ich SPIEGEL: Was heißt das genau? Rückkehr auf Rathausbalkonen empfan-
kannte das ja von früher von mir selbst. Kerber: Wir haben etwa die Fußstellung gen. Warum Sie nicht?
SPIEGEL: Woran merkt man, dass die Geg- bei meinem Aufschlag verändert. Ich stehe Kerber: Ich habe meinen Weg gefunden,
nerinnen Respekt haben? nun leicht offen, wodurch ich mehr Winkel wie es für mich am besten ist. Ich weiß ja,
Kerber: Man spürt die Nervosität der an- spielen kann, in der Ausholbewegung dy- dass viele vor dem Fernseher saßen und
deren, wenn man auf den Platz geht. namischer bin. Zudem spiele ich mit mehr zugeschaut haben, erst in Australien, dann
Wenn sie einen Doppelfehler machen zum Aggressivität als früher. in New York und jetzt natürlich erst recht.
Beispiel. Ich merke, wenn sie Angst haben, SPIEGEL: Tiger Woods brauchte Jahre, um Und obwohl die Fußball-WM noch lief,
nachdenken, wackeln, wenn ich führe. seinen Golfschwung umzustellen. Und haben Millionen eingeschaltet. Das sind
SPIEGEL: Ende 2017 beendeten Sie nach Sie? die Momente, für die ich spiele. Für die
langen Jahren auch die Zusammenarbeit Kerber: Bei mir geht es schnell. Wahr- Leute, die sich mit mir freuen. Ich bin
mit Trainer Torben Beltz. Wie kam es scheinlich habe ich ein Talent dafür. Ich dankbar, dass ich das alles erleben darf.
dazu? habe den Aufschlag in der ersten Woche Und dennoch muss ich für mich eine Gren-
Kerber: Es war ein Neustart. Ich wusste, der Vorbereitung umgestellt, und bei mei- ze ziehen, um in Ruhe realisieren zu kön-
dass ich die Motivation wiederfinden muss. nem ersten Turnier in Australien habe ich nen, was ich eigentlich erreicht habe.
Ich brauchte eine neue Struktur in dem mich gefühlt, als wenn ich schon immer Auch mal Nein sagen, das habe ich 2017
ganzen Plan, eine neue Stimme, neue Im- so aufschlagen würde. Zwei, drei Wochen, gelernt.
pulse. Nach dem letzten Turnier 2017 war dann war ich sicher. SPIEGEL: Sie leben im polnischen Puszczy-
der Punkt, an dem ich gesagt habe: Ich SPIEGEL: Welche Ziele haben Sie jetzt kowo, bei Ihren Großeltern. Wie verlief
möchte nochmals alles aus mir heraus- noch? die Rückkehr nach dem Sieg in London?
holen, möchte 2018 bei null anfangen. Kerber: Wimbledon war das Ziel meiner Kerber: Die beiden haben mich Montag-
SPIEGEL: Wie haben Sie das mit ihm be- Ziele. Jetzt geht es um die großen Matches, abend am Flughafen empfangen, danach
sprochen? Center Court, gegen die besten Spielerin- haben wir noch eine Kleinigkeit gegessen,
Kerber: Ich habe im Urlaub überlegt, wie nen, nicht mehr um Ranglistenplatzierun- es war leider schon spät. Dienstag gab es
es weitergeht, und habe danach das Ge- gen. Roger (Federer –Red.), Serena, die einen Grillabend, so hatte ich es mir ge-
spräch mit ihm gesucht. Wir haben uns haben so viele Grand Slams gewonnen wünscht.
hingesetzt und offen und ehrlich darüber und spielen immer noch. Was sind deren SPIEGEL: Der große Auftritt scheint Ihnen
gesprochen, wie immer. Es war keine Ent- Ziele? Die gleichen wie meine, die großen nicht zu liegen. Sie werden in den Medien
scheidung gegen ihn, sondern für mich. Matches zu spielen. als Star ohne Glamourfaktor dargestellt.
Wir sind weiter befreundet. Stört Sie das?
SPIEGEL: Ist es schwer, den eigenen Trai- R BER Kerber: Es stimmt, dass ich nicht jeden
U E KE
ner rauszuschmeißen? LIQ Tag auf dem roten Teppich bin. Trotzdem
Kerber: Natürlich ist es nicht leicht, es war E Preisgelder mag ich Glamour. Ich ziehe mich ja nicht
G
AN

eine emotionale Entscheidung. Ich kenne 26,5 Mio. Dollar komplett zurück, sondern suche mir meine
Torben Beltz seit über zehn Jahren, war Sachen bewusst aus, mache nur, was mir
Grand-Slam-Turnier-Siege
16, als wir zum ersten Mal zusammen auf auch Spaß macht. Es geht für mich um
dem Platz standen. 3 Qualität, nicht Quantität.
SPIEGEL: Mit dem neuen Trainer Wim Fis- Wochen als Nr. 1
STEFAN SPIEGEL: 2016 nach dem Sieg bei den
sette scheinen Sie Ihr Spiel verändert zu 34 IE Australian Open haben Sie noch ausgelas-
haben. G sen getrunken, wirkten am folgenden Tag
RA

Kerber: Das geht nicht von heute auf mor- Preisgelder angeschlagen. Haben Sie etwa auch beim
F

gen, ich habe schon mit Torben über Jahre 21,9 Mio. Dollar Feiern dazugelernt?
daran gearbeitet. Alle meine bisherigen Kerber: Ich wusste nach Australien ja, dass
Grand-Slam-Turnier-Siege
Trainer haben einen Anteil an der Spiele- ich noch einen 24-Stunden-Flug vor mir
rin, die ich heute bin. Mit Wim habe ich 22 habe und schlafen kann. Diesmal dauerte
mich in mein Spiel reingearbeitet, es wei- Wochen als Nr. 1 der Rückflug nur zwei Stunden.
terentwickelt. Die jungen Spielerinnen 377 SPIEGEL: Frau Kerber, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
* Lukas Eberle und Thilo Neumann in Stuttgart.

93
Wissenschaft+Technik
Warum ist Gentechnik in die Adern gespritzt akzeptabel, gegessen jedoch Teufelswerk? ‣ S. 104

G. LACZ / JUNIORS@WILDLIFE
Orcas, hier eine Mutter mit Kalb, gehören zu den wenigen Tieren, deren Weibchen in die Wechseljahre
kommen, sonst nur zwei weitere Delfinarten und der Mensch. Die Evolution hat das Ende der Fruchtbarkeit
wohl begünstigt, das legt jetzt eine US-Studie mit Weibchen des Großen Tümmlers nahe, weil ältere
Mütter schwächere Junge gebären. Diese kleinen Nachzügler können sie dank Menopause länger päppeln.

Medizin SPIEGEL: Einige Betroffene müssen in


oder nach der Pubertät dann noch einmal
»Die Kinder müssen viel durchmachen« operiert werden …
Vinzenz: … ja, mitunter fangen die Proble-
Der Mund-Kiefer-Gesichtschirurg Kurt in dem die Fachrichtungen zusammen- me da erst an, weil durch das unregelmäßi-
Vinzenz, 63, vom Evangelischen Kranken- arbeiten. ge Knochenwachstum Kiefer und Nase
haus Wien, über die Probleme mit SPIEGEL: Und dort wird überall die glei- asymmetrisch und Gesichtsweichteile wie
Lippen-Kiefer-Gaumenspalten, einer der che Behandlung angeboten? Wangen und Lippen verzogen sind. Leider
häufigsten Fehlbildungen beim Menschen Vinzenz: Leider nein. An manchen Zen- gibt es auch hier keine einheitliche Behand-
tren wird zum Beispiel die Gaumenspalte lungsstrategie. Entscheidend ist meiner
SPIEGEL: Eines von 500 Babys kommt gemeinsam mit der Lippenspalte in einer Meinung nach, dass ein Operateur immer
in Europa mit einer Lippen-Kiefer- einzigen Operation im Säuglingsalter beides im Blick behält: die Ästhetik und
Gaumenspalte zur Welt. Viele Eltern verschlossen. An anderen Zentren wird die Funktion. Und dass er so nah an der
stehen erst einmal unter Schock. Was dafür eine zweite OP meist vor dem natürlichen Anatomie bleibt wie möglich.
raten Sie ihnen? zweiten Lebensjahr eingeplant. SPIEGEL: Wie überstehen es die Kinder?
Vinzenz: Es gibt wohl kaum ein medizi- SPIEGEL: Wieso diese unterschiedlichen Vinzenz: Bei einer schweren Lippen-
nisches Problem, das eine so breite inter- Ansätze? Kiefer-Gaumenspalte müssen die Kinder
disziplinäre Behandlung erfordert, es Vinzenz: Ein früher Verschluss des Gau- und Jugendlichen schon viel durchmachen.
braucht über 20 Jahre hinweg Mund-Kie- mens ist gut für die Sprachentwicklung, Dann aber kann das Ergebnis sehr gut
fer-Gesichts-Chirurgen, HNO-Ärzte, dafür droht dann aber später eine stärkere sein. Manchmal habe ich den Eindruck,
Phoniater, Logopäden, Kieferorthopäden, Deformierung des Kieferknochens. Wel- die wahren Probleme liegen weniger
Wiederherstellungschirurgen – alle che Methode wirklich die bessere ist, in der Operationstechnik als in der ge-
müssen helfen. Daher ist es auf jeden weiß derzeit niemand. Das müsste drin- sellschaftlichen Akzeptanz dieser Fehl-
Fall gut, sich an ein Zentrum zu wenden, gend systematisch untersucht werden. bildung. VH

94
Internet Archäologie einem Durchmesser von etwa 150 Metern
Verwirren, vertuschen, Dronehenge hob sich deutlich vom Untergrund ab –
wohl eine bislang unbekannte Anlage aus
verhetzen ● Anthony Murphy, ein Fotograf und Au- vorgeschichtlicher Zeit. Möglich wurde
● Internetpropaganda wandelt sich tor, traute seinen Augen kaum, als er am diese Entdeckung einer alten Kultstätte
von einer Nischentaktik zum weitver- 10. Juli mit seiner Drohne über ein Feld im nur durch die trockene Hitze, die seit
breiteten Werkzeug der Wahl. Vor irischen Boyne-Tal sirrte. Seit Jahrzehnten Wochen über Irland brütet und am Fund-
einem Jahr noch ließen sich große So- schreibt er über die prähistorischen Kult- ort das Grün ausdörrt, wodurch die Boden-
cial-Media-Manipulationskampagnen stätten in der Gegend: riesige kreisförmige merkmale klarer zutage treten. Das Droh-
von politischen Akteuren, die auf Bots, Anlagen ähnlich wie im britischen Stone- nenbild elektrisiert die Fachwelt. Michael
Big Data oder aufwendige Nutzerana- henge, die vor rund 5000 Jahren errichtet MacDonagh, Irlands Chefausgräber, hofft,
lysen setzen, in nur 28 Ländern nach- worden waren. Nun fand er die Spuren dass der Fund »das Wissen über diese
weisen. Mittlerweile hat sich diese Zahl eines solchen Gebildes aus rund hundert magische archäologische Landschaft er-
fast verdoppelt auf 48. Zu diesem Er- Meter Höhe: Ein kreisrundes Muster mit heblich verbessern« könnte. HIL
gebnis kommt eine Studie des Oxford
Internet Institute. »Die Manipulation
von Social Media ist Big Business«,
warnt Philip Howard, Institutsleiter
und Mitautor der Forschungsarbeit:
»Wir schätzen, dass zig Millionen Dol-
lar für Manipulationskampagnen aus-
gegeben werden.« In einem Viertel der
Länder werden dabei auch Chatsyste-
me wie WhatsApp genutzt. Großmäch-

ANTHONY MURPHY / MYTHICALIRELAND.COM


te wie China verfügen dabei laut
Howard über bis zu zwei Millionen
Mitarbeiter. Aber auch in Iran, Aser-
baidschan oder Vietnam arbeiten
angeblich jeweils 10 000 Social-Media-
Manipulateure – mindestens. Das
Perfide: Oft werden diese Einheiten
unter dem Vorwand aufgebaut, gegen
Fake News vorzugehen, dienen dann
aber dazu, Meinungsfreiheit und
Demokratie zu untergraben. HIL Drohnenfoto der vermuteten prähistorischen Kultstätte im irischen Boyne-Tal

Kommentar

Dunkle Seite der Vergötterung


Wie ein überkommener Geniekult das Mobbing an Max-Planck-Instituten befördern kann

Ein Skandal zieht seit Monaten Kreise in der Max-Planck-Gesell- die MPG nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist: Jeder
schaft (MPG): Am Institut für Astrophysik in Garching bei Forschungsbereich ist um einen Superwissenschaftler herum
München, einer der weltweit angesehensten Institutionen des angelegt – und wird mit dessen Ausscheiden oft neu ausgerichtet.
Fachs, fühlten sich Mitarbeiter gemobbt und gegängelt. Schon Die Institute seien nichts als »Arbeitsinstrumente qualifizierter
2016 waren die Probleme intern bekannt geworden. Im Februar Persönlichkeiten«, sagte der damalige MPG-Präsident 1963, um
berichtete SPIEGEL ONLINE darüber, Ende Juni sind neue »Forscherpersönlichkeiten das Erreichen ihrer wissenschaftlichen
Details aufgetaucht. Die Max-Planck-Gesellschaft gibt sich in Ziele durch speziell ihren Bedürfnissen dienende personelle
einer Pressemitteilung geläutert: Man habe »damals umgehend und apparative Ausstattung zu ermöglichen«. Nun begehrt die
reagiert und dafür gesorgt, dass sich die betroffene Direktorin »personelle Ausstattung« auf, die Mitarbeiter rebellieren gegen
im beruflichen Alltag durch ein professionelles Coaching beglei- den muffigen Geniekult. Bislang handelt es sich wohl eher um
ten lässt (was sie bis heute tut)«. Außerdem hat das Institut eine einen Einzelfall, viele andere Direktoren haben uneingeschränkt
anonymisierte Mitarbeiterbefragung durchführen lassen. Das Großartiges geleistet. Aber natürlich ist da, bei den Gottkönigen
Ergebnis klingt zunächst beruhigend: »Zwei Drittel aller Befrag- des Geistes, auch immer die Verführung, sich noch ein bisschen
ten bewerten das soziale Umfeld positiv.« mehr Freiheiten nehmen zu können.
Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die Scheinheiligkeit: Weniger als die Hälfte der Befragten kenne die Anlaufstellen
Wieso hat die Befragung nicht gleich 2016 stattgefunden, son- für Beschwerden hinreichend, räumt die MPG ein. Noch schlim-
dern erst zwei Jahre später, nachdem Medienberichte öffent- mer: Mehr als die Hälfte habe Zweifel, dass ihnen die Beratung
lichen Druck aufgebaut hatten? Und wie sollte das persönliche durch Betriebsrat oder Ombudsperson in Mobbingfällen helfen
»Coaching« einer Direktorin ein institutionelles Problem lösen? können. Höchste Zeit, der »personellen Ausstattung« eine
Hinter dieser abwegigen Vorstellung steckt der alte Geniekult stärkere Stimme zu geben. Und ein paar alte Zöpfe aus dem
(»Harnack-Prinzip«) der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aus der Kaiserreich abzuschneiden. Hilmar Schmundt

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 95


Puh.
Psychologie Am liebsten lebte der Mensch ohne Stress.
Denn Stress setzt unter Druck, Stress macht krank.
Dachte man lange. Nun finden Wissenschaftler Belege,
dass der tägliche Kick für die Nerven auch guttun
kann. Er motiviert, macht fit – und sogar glücklich.
JUAN MOYANO / PLAINPICTURE

96 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Titel

ochen Baumgarten dirigiert 40 Flug-

J zeuge pro Stunde durch die Luft.


Macht an einem normalen Arbeits-
tag jetzt im Sommer, Pausen einge-
rechnet: 260 Flugzeuge. In jedem sitzen
Menschen, mal sind es 2, mal 3, mal 180,
die sich auf Baumgartens Arbeit verlassen.
Menschen, die sterben würden, wenn
er versagte.
Baumgarten, 50 Jahre alt, groß, schlank,
ist Fluglotse. Piloten in seinem Luftraum
müssen Kurs, Geschwindigkeit und die
richtige Höhe halten, dafür ist er ver-
antwortlich. Die Maschinen sollen sicher
ans Ziel kommen. Er darf nicht einen Feh-
ler machen.
Der Gedanke an all die Menschenleben,
die in seinen Händen liegen, könnte ihn
martern. Könnte ihn hadern lassen, fertig-
machen. Aber solche Ängste sind das Letz-
te, was der Fluglotse bei seiner Arbeit ge-
brauchen kann. Für ihn gilt: nicht stressen
lassen. Nie. Nur: Wie schafft man das?
Baumgarten führt durch das Kontroll-
zentrum der Deutschen Flugsicherung in
Langen bei Frankfurt am Main. Ein hoher
MARKUS HINTZEN / DER SPIEGEL

Raum, groß wie eine Sporthalle, keine »Wenn der Puls hochgeht,
Fenster. Die Arbeitsplätze – eine Ansamm-
lung von Monitoren, Kopfhörern, Mikro- wird der Fokus enger.«
fonen – sind in langen Reihen angeordnet.
Zu jeder Zeit kontrollieren hier an die hun- Jochen Baumgarten, Fluglotse
dert Lotsen den Luftraum über dem Wes-
ten Deutschlands. 550 Fluglotsen zählen
zur Belegschaft. Langen ist eines der größ-
ten Flugkontrollzentren Europas.
Baumgarten ist für den Himmel über
Baden-Württemberg verantwortlich. Ge- klärungen bliebe. Bei dem, was sie tun, der Schicht aufs Rad zu steigen und die
rade befindet sich eine Passagiermaschine sind Lotsen auf sich gestellt. 17 Kilometer nach Hause zu fahren.
aus Antalya im Landeanflug auf Stuttgart. Wie geht Baumgarten also mit Stress Das Baumgarten-Rezept also: durch Er-
Auf dem Monitor bewegt sich eine Kom- um? Hat er Angst beim Arbeiten? fahrung sicherer werden, die eigenen
bination aus Buchstaben, Zahlen und Pfei- »Nein«, sagt er. »Wenn der Puls hoch- Grenzen kennen und wissen, was man
len auf einen Strich zu: die Landebahn. geht, wird der Fokus enger.« Hinter ihm braucht, um abschalten zu können? Laut
Vor Baumgartens innerem Auge ent- könne eine ganze Schulklasse stehen, er Expertenrat sind das sehr gute Mittel ge-
steht dabei ein dreidimensionales Bild. Er arbeite sich einfach durch seine Aufgabe gen Stress.
sieht, wie sich die Maschine über die Land- hindurch. Wenn es immer so einfach wäre.
schaft, die Berge, Täler, Ballungsräume be- Gegen den Stress, erzählt der Fluglotse, Die wenigsten Menschen wissen mit
wegt. Welcher Flugzeugtyp mit welcher würden ihm drei Dinge helfen: das Wissen, dem Stress in ihrem Leben umzugehen.
Geschwindigkeit wie hoch steigen oder sin- jede Situation zu einem guten Ende bringen Im Gegenteil, kaum ein anderes Leiden
ken wird, das hat er verinnerlicht, Wind zu können, das habe er sich in 25 Jahren setzt dem modernen Menschen so zu. Die
und Wetter addiert er dazu. als Lotse angeeignet. In ruhigeren Momen- Weltgesundheitsorganisation bezeichnet
Dieses innere Bild nennen Lotsen ihr ten während seiner Schicht stellt Baumgar- Stress als eines der größten Gesundheits-
»picture«. Die Kontrolle darüber dürfen ten sich vor, es kämen noch ein, zwei Pro- risiken des 21. Jahrhunderts.
sie nicht verlieren, komme, was wolle. blemfälle zu den aktuellen Kalamitäten hin- Laut einer Stressstudie der Techniker
Es kommt immer etwas: Ein Flugzeug zu. Im Kopf spult er dann Notfallpläne ab. Krankenkasse haben 61 Prozent der Deut-
aus Moskau auf dem Weg nach Westen Zum anderen kennt der Lotse seine schen das Gefühl, ihr Leben sei in den ver-
muss notlanden, ein Passagier liegt be- Grenzen sehr gut. Er bleibe mit seiner Leis- gangenen drei Jahren noch stressiger ge-
wusstlos an Bord. Eine Gewitterfront nörd- tung immer ein wenig darunter, erklärt worden. Stressfaktor Nummer eins ist Job
lich von Stuttgart zieht tiefrot über die Baumgarten, um Kapazität für unerwarte- oder Ausbildung: Davon fühlt sich fast die
Wetterkarte. Ein Kleinflugzeug, das nur te Ereignisse zu haben. Wenn er sieht, dass Hälfte der Befragten belastet.
auf Sicht fliegt, hat sich über die Wolken- seine Fähigkeit, das »picture« im Kopf zu Auf Platz zwei folgen mit 43 Prozent
decke verirrt. behalten, zu sehr beansprucht ist, lehnt er die »hohen Ansprüche an sich selbst«.
Was, wenn es kritisch wird? Kann ihm Sonderwünsche ab. Dann darf das nächste Und gleich darauf kommt die Klage über
jemand helfen? Baumgarten sagt: »Wenn Kleinflugzeug nicht seinen Sektor queren. »zu viele Verpflichtungen und Termine in
ich hier in einer schwierigen Situation bin, Sport hilft. Baumgarten ist Triathlet, hat der Freizeit«. Viel von diesem Stress
muss ich das selbst zu Ende bringen.« Die schon am Ironman-Wettbewerb auf Ha- scheint hausgemacht.
Abläufe, die er unter Kontrolle hat, sind waii teilgenommen. An einem stressigen Auch der Umgang damit ist wider-
so komplex, dass keine Zeit für lange Er- Tag, sagt er, tue es ihm besonders gut, nach sprüchlich. Einerseits wollen wir uns ent-

97
Titel

wie viel Stress bin ich bereit, dafür in Kauf


zu nehmen?
»Wenn ich Freizeit hatte, Es gab Zeiten, da hatte Arthur Thie-
mann keine Muße, groß übers Leben
blieb keine Kraft mehr, etwas damit zu philosophieren. Er dachte vielmehr je-
den Morgen aufs Neue: »Schaffste schon.
anzufangen.« Muss ja.«
Thiemann, der in Wahrheit anders
Arthur Thiemann, Feuerwehrmann
heißt, pflegte zu Hause die schwer kranke
Schwiegermutter, wechselte die Infusion,
gab künstliche Nahrung. Seine Frau ist
krank, verbringt mit einem Muskelleiden
immer wieder Wochen in Kliniken.
Als hätte er nicht genug Stress in seinem
Beruf gehabt: Thiemann arbeitet bei der
Feuerwehr. Mit dem Rettungswagen rück-
te er damals oft zwölfmal in zwölf Stunden
aus: Herzinfarkte, Verkehrsunfälle.
Thiemann sagt, er sei damals in man-
chen Nächten aufgewacht und habe nicht
gewusst, in welchem Bett er liege: daheim?
Im Ruheraum der Wache?
Arthur Thiemann ist Mitte vierzig. Er
sitzt an einem Sommertag im Garten sei-
ner Feuerwache in Berlin und dreht sich
eine Zigarette. Ein großer Mann, hager, er
lacht jetzt wieder viel.
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL
Thiemann sagt, es sei ihm damals keine
Minute für sich geblieben. Er habe oft
versucht, alles schneller zu machen, um
ein wenig Freizeit rauszuschlagen. »Aber
wenn ich die dann hatte«, erzählt er,
»blieb keine Kraft mehr, etwas damit an-
zufangen.«
Im vergangenen Januar streikte dann
sein Körper. Plötzlich. Von einem Tag auf
schleunigen: weniger Handy, Digital De- hört es zum guten Ton, gestresst zu sein«, den anderen aß er nichts mehr, blieb im
tox, Achtsamkeit. Schön langsam das Es- sagt Mazda Adli, Psychiater an der Charité Bett liegen. Hat er den Zusammenbruch
sen kauen, genießen. Steigt der Blutdruck, und Chefarzt der Fliedner Klinik Berlin. nicht kommen sehen?
meint man, schon wieder etwas falsch ge- Da traut sich kaum jemand zu sagen: Thiemann nickt, erklärt. In den Neun-
macht zu haben. »Mein Job? Ich lese meistens, beantworte zigerjahren habe er lange als Handwerker
Andererseits: Vergeht die Zeit nicht viel ein paar Mails und gucke ansonsten zum gearbeitet, er wisse eigentlich: »Nach fest
schneller, wenn etwas los ist? Wenn aus Fenster raus.« Wer nicht gestresst ist, von kommt lose.« Was Thiemann meint: Die
der Arbeit ein Tanz wird, Rhythmus, Ge- dem will niemand etwas. Im Job, im Freun- Schraube, an der man zu fest dreht, fällt
danken, Bewegung, alles fließt und wird deskreis. Stress bringt uns, so gesehen, irgendwann ab. Nur hat Thiemann bei
ein Ganzes? Dieses Hochgefühl, wider ei- soziale Anerkennung. sich selbst nie gemerkt, wie fest er zuge-
genes Erwarten etwas geschafft zu haben? dreht hat.
Forscher wie die Zürcher Psychologie- Weil wir Stress, den guten wie den Damals, im Januar, ist er in eine psycho-
professorin Ulrike Ehlert sagen, dass Stress schlechten, nie ganz vermeiden können, somatische Klinik gegangen. Dort hat er
eine der wichtigsten Triebfedern in unse- fordern Forscher wie Adli, ihn zu einer ge- gelernt, dass er, der Helfer, sich helfen las-
rem Leben sei. »Ohne den Mix aus Hor- sundheitspolitischen Aufgabe zu machen. sen kann. Er sagt jetzt zu Freunden und
monen, der ausgeschüttet wird, wenn wir Denn der schädliche Stress überfalle Kollegen auch mal: »Nein, tut mir leid, das
unter Druck stehen, fehlt uns der Antrieb, seine Opfer nicht mit lautem Geschrei. Er schaffe ich nicht.« Und ein paarmal am
die Anregung, die Energie, die wir zum krieche den Menschen langsam und un- Tag stellt er sich selbst die Frage: »Wie
Überleben brauchen.« merklich in die Seele. »Mit Stress umge- geht es mir? Und: Wenn es mir nicht gut
Seit der österreichisch-kanadische Me- hen zu können«, sagt Adli, »das sollte man geht, was brauche ich jetzt?«
diziner Hans Selye in den Siebzigerjahren schon Kindern beibringen.« So, wie man Seinen Job würde Thiemann für alle
erstmals den positiven »Eustress« vom ne- sie das Zähneputzen lehrt. Ruhe der Welt nicht aufgeben. Er liebt es,
gativen »Disstress« unterschied, ist das Es lohnt, sich darüber Gedanken zu ma- derjenige sein zu können, der anpackt und
Bild der Forscher differenzierter gewor- chen. Am besten, bevor Überforderung, hilft. Der im Chaos die Ruhe ausstrahlt.
den: Der gute Stress trägt uns durchs Le- Schlafstörungen und anderes Unglück ei- Er nickt in Richtung der Rettungswagen
ben. Motiviert, begeistert. Bringt Glücks- nem das Leben vergällen. Denn der Stress und sagt: »Das hier, das ist guter Stress.«
momente hervor. Der schlechte schlaucht, zwingt den Menschen nicht nur, besser Er müsse nur lernen, die Balance zwischen
überfordert. Setzt unter Druck. zu planen, koordinieren, organisieren. Er dem guten und dem schlechten besser zu
Was wir auch auf eine Weise begrüßen, lässt sich nicht immer wegatmen und weg- finden.
denn wer sind wir schon, wenn wir nicht meditieren. Stress stellt die Sinnfrage: »Furchtbar langweilig« fände die Psycho-
gestresst sind? »In unserem Kulturkreis ge- Wozu das alles? Was zählt im Leben? Und logieprofessorin Ulrike Ehlert ein stress-

98
fernes Leben. »Ohne Stress würden wir
krank werden und sterben.«
Ehlert steht unter einer riesigen Palme »In unserem Kulturkreis
in ihrem Büro an der Universität Zürich.
Um an ihren Schreibtisch zu gelangen, gehört es zum guten Ton,
muss sie sich unter die Blätter ducken. gestresst zu sein.«
Ehlert leitet das Psychologische Institut.
Sie untersucht seit 25 Jahren die Auswir-
Mazda Adli, Psychiater
kungen von Stress auf den menschlichen
Körper.
Stress, sagt Ehlert, sei »erst einmal et-
was Gutes«. Als Stress könne man jede
Aktivierung des Körpers bezeichnen. »Die
brauchen wir, damit unsere Physiologie
anspringt.« Steigt der Kortisolspiegel, wird
mehr Zucker bereitgestellt, der Körper
wird fit, der Geist kann Neues aufnehmen.
Wie viel Stress ist gut?
»Was stressig ist und was nicht, wird von
jedem Menschen anders wahrgenommen«,
erklärt Ehlert. Nur bezeichneten wir den
Stress, der belastet, eben gern als »Stress«.
Und den positiven Druck als »Herausfor-
derung« oder »Abenteuer«. Grundsätzlich
gebe es aber zwei Eigenschaften, die Men-
schen vor dem schädlichen, dem negativen
Stress schützten.
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL

Besonders immun zeigen sich laut Ehlert


Menschen, die über ein hohes Maß an »he-
donistischer Emotionsregulation« verfü-
gen: die also fähig seien, sich in schwieri-
gen Situationen wieder aufzubauen, an-
statt in ihrem Elend zu versinken.
Zweitens schütze einen das Vertrauen
darauf, dass man Belastungen nicht hilflos
ausgesetzt ist. Das sah Ehlert, als sie vor »Der Kohärenzsinn ist eine Art von Ver- voriges Jahr Wissenschaftler der Columbia
einigen Jahren die Auswirkungen von trauen in sich selbst, das besagt: Die An- und der Stanford University gezeigt. Sie
Stress auf Berufsgruppen erhoben hat, die forderungen des Lebens lassen sich bewäl- teilten Probanden in zwei Gruppen. Eine
extrem belastende Situationen im Alltag tigen«, sagt Ehlert. »Deshalb kann man sah einen kurzen Film, in dem die Bot-
erleben. Sie untersuchte dazu Feuerwehr- sie als Herausforderung sehen.« Die Berg- schaft vermittelt wurde: »Stress macht
männer in Rheinland-Pfalz und Bergfüh- führer packten lebensbedrohliche Situa- krank«. Die andere sah den Film mit der
rer in der Schweiz. tionen schlicht anders an. Tatkräftiger. Botschaft »Stress macht stark«.
Wer extremen Stress erlebt, kann eine So gesehen sei der Umgang mit Stress Danach mussten die Teilnehmer ein
sogenannte posttraumatische Belastungs- bis zu einem gewissen Grad auch eine Fra- fiktives Bewerbungsgespräch führen, da-
störung (PTBS) entwickeln. »Man weiß«, ge der eigenen Einstellung. bei wurden sie gehörig unter Stress ge-
sagt Ehlert, »dass die Häufigkeit in der Be- Vor einigen Jahren wollte die University setzt.
völkerung bei etwa 6 Prozent liegt, jemals of Wisconsin von rund 29 000 Personen Als die Forscher den Speichel der Pro-
eine PTBS zu bekommen.« Bei den unter- wissen, wie viel Stress sie im Jahr zuvor banden testeten, sahen sie, dass die Werte
suchten Feuerwehrmännern lag sie bei erlebt hatten – und ob sie den Stress für des Stresshormons Kortisol nach oben ge-
mehr als 18 Prozent. Bei den Schweizer schädlich hielten oder nicht. Neun Jahre schossen waren. Doch nur bei denen, die
Bergführern bei nur 2,7 Prozent. Woher später ermittelten die Wissenschaftler die den Film über positiven Stress gesehen
der Unterschied? Todesfälle unter den Befragten. Das Risiko, hatten, ging auch der Wert eines zweiten
»80 Prozent der Bergführer sind einem vorzeitig zu sterben, lag um 43 Prozent Hormons nach oben: Dehydroepiandros-
Trauma ausgesetzt gewesen. Haben Un- höher bei den Menschen, die gestresst wa- teron (DHEA).
fälle, Abstürze oder Herzinfarkte erlebt«, ren – und das Geschehen als negativ erlebt DHEA wirkt als eine Art Puffer gegen
sagt Ehlert. »Aber nur 40 Prozent erlebten hatten. Stress und schützt womöglich vor Depres-
das überhaupt als traumatisch.« Die meis- Diejenigen, die angegeben hatten, den sionen und Herzkrankheiten. Die Proban-
ten gaben an, in den Situationen nicht Hilf- Druck stark zu empfinden, diesen aber den, denen der Stress als positiv vermittelt
losigkeit, Furcht oder Entsetzen verspürt nicht für schädlich hielten, hatten dagegen worden war, erlebten damit auch körper-
zu haben. Am Ende entwickelten nur we- das niedrigste Sterberisiko. Sie lagen damit lich eine gesündere Stressreaktion.
nige eine Belastungsstörung. Warum? noch unter denjenigen, die sich für gar
Ehlert sah, dass die Bergführer in viel nicht gestresst hielten. Ob wir Stress eher als Herausforderung
höherem Maße als die anderen Berufs- Viele Studien haben nachgewiesen: Un- oder als Bedrohung erleben, hängt für Ul-
gruppen eine Eigenschaft entwickelt hat- sere Einstellung zum Stress beeinflusst, rike Ehlert also nicht allein von der inne-
ten, die Psychologen den »Kohärenzsinn« wie unser Körper darauf reagiert. Auf wel- ren Einstellung ab. Es habe auch viel damit
nennen. cher Ebene das im Körper passiert, haben zu tun, wie wir aufgewachsen seien: »Es

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 99


Kortisol. Es mobilisiert den Blutzucker,
Energiereserven werden wieder aufgefüllt.
Über ein Feedbacksystem beendet es an-
schließend die Stressreaktion, die es zuvor
selbst aufrechterhalten hat.
Diese Stressreaktionen können pro-
blemlos mehrmals am Tag herauf- und
wieder heruntergefahren werden. Sie scha-
den dem Körper nicht.
Kommt der Mensch aber gar nicht mehr
zur Ruhe, versagt irgendwann die hor-
monelle Rückkopplung, und das Kortisol
wird weiter ausgeschüttet. Der Stress wird
chronisch.
Ein dauerhaft erhöhter Kortisolspiegel
schwächt das Immunsystem, erhöht den
Blutdruck und das Risiko für Herzkrank-
heiten. Schlafstörungen und Depressionen
können folgen.
Welche Ereignisse es sind, die uns unter
Stress setzen, das ist von Mensch zu
Mensch verschieden. Die Art und Weise,
wie wir auf Stress reagieren, kann aber
womöglich in einem höheren Maß von
unseren Eltern und Großeltern vererbt
worden sein als bisher angenommen.
Isabelle Mansuy ist Professorin für
VAN SANTEN & BOLLEURS
Neuroepigenetik an der Universität Zürich
und an der Eidgenössischen Technischen
Hochschule. Sie beschäftigt sich mit der
Frage, ob sich die Folgen von Trauma, von
Unglück und Verbrechen in unserem Kör-
per einnisten. Und ob wir sie an unsere
Kinder weitergeben.
Mansuy blickt von ihrem Büro auf dem
Campus ins Grüne. Die Protagonisten ih-
gibt Lebenserfahrungen und Persönlich- Woran merkt man, wann der Stress ge- rer Forschung leben ein paar Stockwerke
keitsmerkmale, die einen dazu prädesti- fährlich wird? Wann wird aus einer Heraus- tiefer: Im Keller des Gebäudes befinden
nieren, Stress als belastender zu erleben forderung ein Ding der Unmöglichkeit? sich die Labore, in denen Mansuy und ihre
als andere Menschen«, sagt Ehlert. »Schlafstörungen sind meist das erste Kollegen mit Mäusen arbeiten.
Wachse ein Mensch in einer Umgebung Anzeichen«, sagt Ehlert. Hinweise auf Begonnen hat Mansuy ihre Forschung vor
auf, in der sehr viel Wert auf Vorsicht und Stress gäben aber mehrere sogenannte 17 Jahren: Sie wollte die Ursprünge des Bor-
Anpassung gelegt werde, sei er, wenn sich Lifestyle-Faktoren: »Schlechte Ernährung, derline-Syndroms ergründen. Die Betroffe-
später im Leben unbekanntes Terrain auf- viel Junkfood, Alkohol«, sagt Ehlert. nen leiden unter starker Impulsivität und ra-
tue, von vornherein unsicherer. »Oder auch extrem wenig zu essen.« schen Stimmungswechseln. Den Druck, den
Auch neurotisch veranlagte Menschen Eine hohe Rate von »passiven Freizeit- das Durcheinander in ihrer Gefühlswelt
neigten eher zu Stress. »Wer ständig nach verhaltensweisen« deute auf chronischen schafft, bauen sie oft über Selbstverletzun-
Schwierigkeiten und Problemen sucht, Stress hin: ewiges Fernsehen, Serien-Strea- gen oder risikoreiches Verhalten ab.
wer sich immer fragt, wo er gerade wieder men. »Das sind alles Indikatoren dafür, Mansuy war beauftragt, das Syndrom
zu kurz kommt, kann schlechter abschal- dass jemand gestresst ist. Der bringt über- am Tiermodell zu untersuchen. Wie aber
ten«, erklärt Ulrike Ehlert. haupt nicht mehr die Energie auf, etwas stellt man eine psychische Krankheit an
Und schließlich suchten Menschen, die zu unternehmen.« Tieren nach?
als Kind vernachlässigt oder missbraucht Gerät der Mensch unter Druck, weil ihn Mansuy sah sich die Ursachen an: Es wa-
wurden, oft länger nach Orientierung im etwas psychisch belastet oder weil er einen ren vor allem traumatische Erfahrungen in
Leben. Für sie entstehe auch in normalen riskanten Sport betreibt, setzt sein Körper der Kindheit. Sie kam nicht darum herum:
Alltagssituationen schneller Stress. zwei verschiedene Systeme in Gang – die Sie musste Mäuse traumatisieren. Mansuys
Natürlich halte vor allem das Berufs- sogenannten Stressachsen (siehe Grafik Versuche sind immer vom kantonalen Ve-
leben jede Menge Möglichkeiten bereit, Seite 102): Zunächst alarmiert das Gehirn terinäramt genehmigt und freigegeben.
sich gestresst zu fühlen. Autonomie und das sympathische Nervensystem. Das Ne- Sie arbeitet jeweils mit etwa 40 Mäuse-
viel Freiheit im Beruf zu haben ist laut Eh- bennierenmark setzt die Stresshormone paaren: Wenn die Weibchen Junge geboren
lert dagegen ein guter Schutz. Adrenalin und Noradrenalin frei, Kreislauf haben, wächst die Hälfte der Tiere in nor-
Aber auch ein wohlmeinendes Ar- und Atmung werden angekurbelt, der Kör- malen Verhältnissen auf. Die andere Hälfte
beitsumfeld sei wichtig: »Studien zeigen, per stellt Energie bereit für die Kampf- wird traumatisiert: Einen Tag nach der Ge-
dass bei der Bewältigung von Stress am oder die Fluchtreaktion. burt nehmen die Forscher den Mäuschen
Arbeitsplatz am meisten die Unterstüt- Genügt diese erste Reaktion nicht, weil die Mutter weg, zu willkürlichen Zeitpunk-
zung von Chefs und Kollegen hilft«, sagt der Stress länger anhält, kommt die zweite ten am Tag. In dieser Zeit, zwei Wochen
Ehlert. Stressachse ins Spiel: das Stresshormon lang, werden auch die Mäusemütter unter

100 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Titel

Stress gesetzt, man sperrt sie beispielsweise


für einige Minuten in eine schmale Röhre.
Mansuy schafft so Bedingungen, die ei-
nem Trauma in der Kindheit gleichen: Un-
vorhersehbarkeit, Unsicherheit, Vernach-
lässigung.
Die Forscher konnten sehen: In diesen
zwei Wochen versorgt die Mutter ihre
Nachkommen zwar mit dem Notwendigs-
ten, ist dabei aber hektisch und gestresst.
Die letzte Woche verbringen die Mäuse
unter normalen Bedingungen. »Die Weib-
chen sind sehr gute Mütter, sie versorgen
ihre Babys wieder gut«, sagt Mansuy. Ab
dann werden die Jungen, wie in der Natur
auch üblich, von der Mutter getrennt.
Die Forscher testeten ihr Verhalten und
beobachteten, dass die traumatisierten
Mäuse impulsiver reagierten und in riskan-
ten Situationen eher ihre angeborene Vor-
sicht aufgaben. Stresste man sie und ließ
sie etwa in Wasser schwimmen, kämpften
sie wesentlich kürzer um ihr Leben und
zeigten depressive Verhaltensweisen. »Ich sehe mir bei dem,
Mansuy züchtete die gestressten Mäuse
einige Generationen weiter. Bereits bei der was ich tue, über die Schulter.
ersten Versuchsreihe konnten sie und ihre Aber ich habe dabei
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL

Kollegen kaum glauben, was sie sahen: Ob-


wohl nur die erste Generation der Mäuse keinen Bezug zu mir selbst.«
traumatisiert war, vererbten sich deren Ver-
haltensweisen über Generationen hinweg. Sookee, Rapperin

Wie schreibt sich der Schrecken in die


Erblinie ein? Die Erklärung musste in den
Keimzellen der Tiere liegen.
»Um eine Gensequenz zu verändern«,
sagt Mansuy, »braucht es sehr starke Um- sprechen. »Aber wir wissen, dass wir auf Das Vertrauen in das, was sie gut kann,
welteinflüsse.« Stress oder Trauma reichen der richtigen Spur sind.« verschwindet. Was bleibt, ist die Angst,
dafür nicht aus. Also betrachteten die For- In Berlin-Kreuzberg betritt die Künstle- nicht zu genügen. Der Stress, den sie dann
scher das Epigenom: das, was um die Gene rin Sookee, mit bürgerlichem Namen Nora erlebt, führt bisweilen in eine Phase der
herum wirkt – sozusagen die Software der Hantzsch, ein Café. Sie trägt ein schwarzes Leere. Seit Jahren leidet Sookee immer
DNA. Sie steuert die Aktivität der betrof- T-Shirt, in lila Schrift steht darauf: »Alles wieder unter depressiven Episoden.
fenen Gene und beeinflusst damit zahl- ist kaputt, aber Hoffnung ist da«. Sookee ist 1983 in Mecklenburg gebo-
reiche Körperfunktionen. Sookee ist als Rapperin seit mehr als ren. Ihr Vater saß im Gefängnis, weil er in
Stress, so zeigte Mansuy, verändert jene zehn Jahren in der Berliner Hip-Hop-Sze- der DDR den Dienst an der Waffe verwei-
Steuerung der Gene im Gehirn und in den ne aktiv. Sie engagiert sich in Geschlech- gert hatte. Die Eltern stellten einen Aus-
Spermien männlicher Mäuse. Das Trauma terfragen, für linke Politik. Stress machen reiseantrag, zogen 1986 nach West-Berlin.
schreibt sich in das Erbgut ein: genau in ist ihr Beruf. Unter Stress leiden? Auch da- Die Angespanntheit, die Verunsiche-
»das Gen für den Rezeptor, der Stresshor- mit kennt sie sich aus. rung in der Familie, sagt Sookee, habe sie
mone wie Kortisol bindet«, erklärt Mansuy. Sookee sagt: »Mich hat die Bundestags- immer gespürt.
Die Wissenschaftlerin hat aber auch fest- wahl gestresst.« Als politisch denkender Die Eltern trennten sich, die beiden
gestellt: »Wenn man die Mäuse unter an- Mensch – aber auch, weil ihr Termin- Töchter blieben bei der Mutter. Die ar-
genehmeren Bedingungen hält, verschwin- kalender seither rappelvoll ist. Allein an beitete oft 40 Stunden im Schichtdienst,
den die Symptome. Sie vererben sich nicht einem Wochenende spielte sie auf drei als Erzieherin und Pflegerin. Die Mädchen
mehr auf die nachfolgenden Generatio- Festivals, in Bremen, Osnabrück, Bochum. besuchten eine Waldorfschule, lernten In-
nen.« Ein größerer Käfig, ein Dutzend Art- Sie sagt, sie könne lange gut funktionie- strumente. »An unserer Entfaltung durfte
genossen, viele Spielsachen – ein reicheres, ren: Konzerte, Interviews, auf Podien spre- nicht gespart werden«, sagt Sookee.
stressärmeres Leben konnte bei den Mäu- chen. Aber wenn sie das Gefühl habe, es Doch das Miteinander als Familie, die
sen die Folgen des Traumas stoppen. gehe um mehr, das Wahlvolk müsse seine Ruhe im Umgang kamen über das Geld-
An Blut- und Speichelproben von Wai- Stimme erheben, und sie sei elementarer verdienenmüssen zu kurz. Für Sookee als
senkindern aus schwierigen Verhältnissen Bestandteil dieses Widerstands, dann gebe Künstlerin gehört deshalb eine Kritik am
in Pakistan hat Mansuy bereits gesehen, es für sie kein Ausruhen mehr. Das über- Gesellschaftssystem, an den Werten, die
dass die epigenetischen Marker, die sie aus wältige sie mitunter. Es kommt dann zu es vermittelt, immer dazu.
dem Tiermodell kennt, ähnliche Verände- dem, was Sookee das »Entfremdungsmo-
rungen beim Menschen zeigen. ment« nennt: »Ich sehe mir bei dem, was Tatsächlich belaste »das Gefühl, nicht
Davon, dass sie einen Biomarker fürs ich tue, über die Schulter. Aber ich habe dazuzugehören, uns so schwer wie fast
Trauma gefunden hat, will Mansuy nicht dabei keinen Bezug zu mir selbst.« nichts anderes«, sagt Mazda Adli. Der Ber-

101
Titel

liner Psychiater wuchs als Kind iranischer


Diplomaten in Bonn auf, zog 1977 nach
Teheran. Zwei Jahre später kehrte die Fa-
milie während der Wirren der Revolution
nach Deutschland zurück.
Als Mensch weiß Adli, was es heißt,
Stressreaktionen um Zugehörigkeit ringen zu müssen; als
des Körpers Psychiater weiß er, dass es vor allem so-
zialer Stress ist, der die Menschen belastet:
»Je mehr der Eindruck entsteht, es fehle
Gerät der Mensch in eine an Einfluss und Anerkennung, desto mehr
als aufregend oder gefähr- leidet die Gesundheit.«
lich empfundene Situation, Einer der besten Beweise dafür sei die
so werden nacheinander Tatsache, dass es Wissenschaftlern so lan-
zwei verschiedene Abläufe
in Gang gesetzt, die so- ge schwergefallen ist, einen Test zu finden,
genannten Stressachsen. mit dem sie Stress in einer Laborsituation
zuverlässig erzeugen können.
Über den Blutkreislauf Bei vielen Aufgaben, von denen man
werden die Muskeln intuitiv annimmt, dass sie stressig sind,
Hypothalamus vermehrt mit Sauerstoff wie etwa das Rechnen unter Zeitdruck,
Hypophyse und Energie versorgt. sprang die zweite Stressachse nicht an.
Die Kortisolausschüttung kam nicht ver-
lässlich in Gang. Der Druck, den ein paar
Aufgaben am Bildschirm ausübten, reich-
te nicht.
Die Bronchien
weiten sich, Atmung
Psychologen und ein Arzt entwickelten
und Herzschlag sind deswegen in den Neunzigerjahren den
beschleunigt. »Trier Social Stress Test«. Er gilt weltweit
als Standardtest, wenn es darum geht, die
Kortisolausschüttung anzukurbeln.
Die Probanden werden dazu vor Publi-
Nebenniere kum gefordert. Sie müssen sich bei einem
fiktiven Auswahlgremium auf einen Pos-
Sympathikus ten bewerben. Die Prüfer sind dabei ange-
wiesen, so neutral wie möglich, keinesfalls
mitfühlend zu reagieren. Darauf folgt
Kopfrechnen.
Die Forscher stellten fest: Kortisol
schnellt in die Höhe, wenn unser Status
bedroht ist, wenn wir uns blamieren kön-
nen, wenn sich zur Furcht die Scham ge-
sellt. Den größten Stress bereiten wir Men-
schen uns gegenseitig.
Adli fordert deshalb, dass wir lernen
Adrenalin sollten, wie viel wir uns zumuten können,
Das Gehirn alarmiert das sympathische welche Konflikte wir lösen, welche wir ak-
Nervensystem. Das Nebennierenmark setzt zeptieren sollten – und wie wir uns entlas-
daraufhin die Stresshormone Adrenalin und ten können. »Stress folgt simplen Wenn-
Noradrenalin frei. Kreislauf und Atmung dann-Regeln: Wenn das Maß voll ist, läuft
werden angekurbelt, um den Körper maxi- es über«, sagt Adli. »Das sollte man schon
mal mit Sauerstoff zu versorgen.
Schülern beibringen.«
Man könne sich körperlich austoben,
im Sport zum Beispiel. »Wenn man dann
aber wieder im ständigen Wettbewerb ge-
gen sich selbst steht, geht es nicht darum,
sich wirklich zu erholen.« Wer noch die
Gelegenheit durchzuschnaufen in den
Kortisol Entspannung Dienst der Selbstoptimierung stellt, dem
Hält die Anspannung länger an, wird die zweite Über ein Feedbacksystem sorgt bleiben irgendwann wenig Möglichkeiten,
Stressachse eingeschaltet: Hormone im Hypo- das Kortisol anschließend selbst wirklich abzuschalten.
thalamus und in der Hypophyse sorgen dafür, dafür, dass die auslösenden Auf dem Sofa liegen und nichts tun?
dass das Stresshormon Kortisol in der Neben- Botenstoffe wieder gedrosselt Auch das funktioniere, sagt Adli. »Und es
nierenrinde ausgeschüttet wird. Es bewirkt, werden und die Stressreaktion gibt sinnstiftende Aktivitäten: Musik ma-
dass der Blutzuckerspiegel steigt und so Energie endet.
bereitgestellt wird. chen, singen, durch eine Galerie laufen,
sich ehrenamtlich engagieren.«
Adlis Rat lautet, jeden Tag für einen
Moment zu prüfen, was man eigentlich

102
heute am besten gebrauchen kann: faul
sein? Sport treiben? Etwas Gemeinschaft-
liches unternehmen?

Die Heiligenfeld Klinik Berlin liegt weit


»Der klassisch gestresste
im Osten der Hauptstadt: ein ockerfarbe- Mensch ist meist
ner Klinkerbau, umgeben von viel Grün.
Chefarzt Sven Steffes-Holländer wartet im
ein Perfektionist.«
Garten. Aus den Fenstern hört man jeman-
den auf dem Saxofon üben. Sven Steffes-Holländer, Chefarzt
Steffes-Holländer leitet diese Klinik für
psychosomatische Störungen. Das sind Be-
schwerden, die sich auf den Körper aus-
wirken, ihren Ursprung aber in der Psyche
haben – oder umgekehrt. Er erklärt, wie
er und seine Kollegen hier den Patienten
helfen, die, von Stress geplagt, kaum mehr
zum Leben fähig sind.
Viele der Patienten kommen aus unfall-
trächtigen Berufen, sind Polizisten, Feuer-
wehrleute. Aber auch Lehrer, Ärzte, An-
wälte lassen sich hier behandeln.
Wie lernt man, mit Stress umzugehen?
Steffes-Holländer erzählt, dass viele
Menschen ihren Stress gern an äußeren
Faktoren festmachen. Um daraufhin stetig
ihr Zeitmanagement zu perfektionieren.

JESCO DENZEL / DER SPIEGEL


Irgendwann würden sie dann auch Erho-
lung und Genuss optimieren: den Mara-
thon planen. Oder mit der Ernährung
zwanghaft umgehen. Alles durchtakten.
»Der klassisch gestresste Mensch«, sagt
Steffes-Holländer, »ist meist ein Perfektio-
nist.« Den mache ein noch höherer Grad
an Optimierung nicht zufriedener.
Seine Kollegen und er konzentrieren
sich deshalb vor allem auf die inneren Fak- verschwänden, gebe es Raum für Verän- »Der Sinn des Lebens liegt meistens
toren. Auf das, was die Patienten mit sich derung. nicht darin, ein besonders guter Verwal-
und im Zusammenleben mit anderen Men- Für so eine Auszeit können verschiede- tungsbeamter oder eine gute Schuldirek-
schen beeinflussen können. ne Entspannungstechniken sorgen. Dabei torin gewesen zu sein«, sagt Steffes-Hol-
Genau wie Adli sieht Steffes-Holländer, ist es völlig egal, ob Yoga, Qigong, Medi- länder, »sondern in der Zeit, die man mit
dass vor allem der soziale Stress seinen tation oder Muskelentspannung. »Wenn den eigenen Kindern verbracht hat. Mit
Patienten zusetze. »Das Erleben von Aus- ich mich zum Beispiel auf meinen Atem den Eltern.« Neurobiologisch sei das ein-
grenzung stresst enorm«, sagt er. »Das ist konzentriere, bin ich im Hier und Jetzt«, fach zu erklären: Es sind die intensiven
für Menschen ganz schwer zu ertragen: sagt Steffes-Holländer. »Nicht in der Ver- emotionalen Erlebnisse, die wir uns am
nicht geschätzt zu werden.« Gerade Poli- gangenheit oder Zukunft. Genau dort aber besten merken.
zisten oder Lehrer würden selten gelobt. liegen auch meine Belastungen.« Die kön- Niemand muss deshalb gleich sein Le-
Wichtig ist es für seine Patienten des- ne man dann für eine Weile vergessen. ben umkrempeln. Doch die Perspektive
halb, erst einmal zu erfahren, welche Am Ende landen seine Patienten immer gelegentlich zu wechseln, Abstand zu
Kämpfe sie im Leben wirklich austragen wieder bei einer Frage, der sie nicht ent- bekommen – darüber werden die aktuel-
müssen. Wo sie, wie Steffes-Holländer es gehen können. Sie lautet: Wofür das alles? len Probleme kleiner. »Das hilft auch«,
nennt, eine »Beziehungsklärung« in An- Warum? »Die Sinnfrage eben«, so Steffes- sagt Steffes-Holländer. »Es schenkt Ge-
griff nehmen sollten. Holländer. Die stelle man sich oft erst lassenheit.«
»Konflikte in der Partnerschaft, mit den dann, wenn man merke, dass es nicht Wer diese Art Weitblick herstellen kön-
Kindern, mit einem Kollegen zu lösen, mehr weitergehen könne wie bisher. ne, der schaffe es, den Stress zu vergessen
das ist wichtig«, sagt Steffes-Holländer. Und? Seine Antwort? Die Antwort sei- und sich im Augenblick wohlzufühlen. »Es
»Ich kann mich aber nicht mit jedem ner Patienten? geht darum, dass es einem im Hier und
Busfahrer, der mir auf den Geist geht, auf Steffes-Holländer sagt, es seien selten Jetzt gut geht«, sagt Steffes-Holländer,
diese Art auseinandersetzen. Da verzettelt große metaphysische Erkenntnisse, auf die »und nicht erst irgendwann.«
man sich.« seine Patienten stießen. Aber zu unter- Kerstin Kullmann
Manche Situationen müsse man so zu scheiden: Was ist wichtig? Was ist nur
akzeptieren lernen, wie sie sind. Dazu ge- scheinbar wichtig in meinem Leben? – da-
höre auch, nicht gemocht zu werden. rum komme niemand herum. Animation
Die Deutschen und
»Hier haben manche Patienten 24 Stun- Eine einfache Übung für seine Patienten der Stress
den am Tag Sorgen«, erklärt Sven Steffes- bestehe darin, sich vorzustellen, wie sie ein- spiegel.de/sp302018stress
Holländer, »ohne Pause.« Wenn man nun mal auf ihr Leben zurückblicken werden. oder in der App DER SPIEGEL
ein Fenster schaffe, in dem diese Sorgen Und sich zu fragen: Was wird bleiben?

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 103


lich ist. Dem Verbraucher könnte das eigentlich gleichgül-
Johann Grolle
tig sein. Denn eine Kreatur, die von der Natur hervorge-
bracht wird, ist per se weder sicherer noch gesünder oder

Wer hat Angst vorm sonst wie besser als ein Gentech-Gewächs.
Juristen indes sehen hier einen elementaren Unter-
schied. Denn die maßgebliche EU-Richtlinie legt fest, dass
als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) nur sol-

Blumenkohl? che zu betrachten sind, deren »genetisches Material so


verändert worden ist, wie es auf natürliche Weise« nicht
möglich ist. Dass es dereinst eine Technik geben würde,
mit der die Natur so originalgetreu simuliert werden kann
Debatte Der Europäische Gerichtshof entscheidet, wie wie mit Crispr, konnten die Autoren der Richtlinie nicht
naturähnlich Pflanzen sind, deren Erbgut mit neuen ahnen, als sie diese vor 17 Jahren verfassten.
Nun aber gibt diese Formulierung den EuGH-Richtern
Verfahren wie Crispr verändert wurde. Die Gentech- die Gelegenheit, eine Fehlentwicklung umzukehren,
Gegner könnten nun endlich ihren Hass aufgeben. die den technischen Fortschritt auf dem Acker in Europa
seit vielen Jahren massiv behindert. Jetzt die neueste
Erfolgsmethode aus dem Genlabor zu einer nicht gen-
technischen Form der Gentechnik zu deklarieren würde
eine Debatte befrieden, die viel Unheil, bürokratischen
uf jedem Wochenmarkt liegen in den Auslagen der Aufwand und keinerlei Nutzen gebracht hat.

A Ökobauern Monstrositäten. Als Beispiel seien


hier nur die Variationen von Brassica oleracea
genannt. Es handelt sich um ein unscheinbares, gelb
blühendes Kraut mit fleischigen Blättern, aus dem im Ver-
Züchter können traditionell, um neue Sorten zu erzeu-
gen, mit der Mutagenese arbeiten: Sie setzen das Saatgut
DNA-schädigenden Substanzen oder radioaktiver
Strahlung aus. Schrotschussartig wird so das Erbgut bom-
lauf jahrhundertelanger Zucht ein ganzes Bestiarium von bardiert. Die Folge sind unzählige Zufallsmutationen.
Missgeburten hervorgegangen ist: der Blumenkohl, der mit Einige wenige davon verbessern die Eigenschaften der
seinen weißen Beulen aussieht, als wäre er vom Pilz be- Pflanzen, die überwältigende Mehrzahl jedoch schadet
fallen; der Rotkohl, der an einen großen Furunkel erinnert; ihr und muss anschließend in jahrelanger Zuchtarbeit wie-
oder der erbarmungswürdig zerknitterte Grünkohl. der herausgekreuzt werden.
Feilgeboten wird all das als biologisch, organisch, Das gelingt nicht immer. Stets bleiben einige der Defek-
ökologisch. Doch nichts davon ist der Natur entsprossen. te in der Kulturpflanze erhalten. Im Voraus weiß nie-
Allesamt sind dies Kreaturen von Menschenhand. mand, welche Risiken das bergen könnte. Aber weil es in
Demnächst könnte sich das Angebot menschengemach- der Praxis nie zu schwerwiegenden Zwischenfällen kam,
ter Pflanzen auf dem Markt noch vergrößern. Es würden dürfte die Gefahr nicht allzu groß sein.
dann glutenarmer Weizen, nicht faulende Kartoffeln und Beim Crispr-Verfahren werden, genau wie bei der Muta-
nahrhafteres Sojaöl in den Handel gelangen, entstanden tionszüchtung, einzelne Bausteine im Erbgut verändert,
dank sogenannten Gene Editings: Mithilfe molekularer nur dass dies nicht zufällig geschieht. Die Forscher steuern
Scheren wie Crispr/Cas9 gelingt es, das Erbgut und damit ihre molekularen Scheren präzise an die gewünschte Stelle
die Eigenschaften von Kulturpflanzen schnell, billig, ge- im Erbgut und bauen diese in der gewünschten Weise um.
zielt und nebenwirkungsarm zu verändern. Daher geht mit Crispr nicht nur alles viel schneller als
Am Mittwoch wird der Europäische Gerichtshof bei der Mutagenese – es ist obendrein wesentlich sicherer.
(EuGH) in Luxemburg über das Schicksal der neuen Deshalb müsste, wer die Mutagenese für vertretbar hält,
Methode urteilen. Entweder wird das Urteil der Richter das Crispr-Verfahren erst recht für unbedenklich erklären.
bedeuten, dass Crispr-Pflanzen fortan als Gentech- Doch davon wollen die GVO-feindlichen Naturfreunde
Gewächse zu gelten haben. Dann wird die kopfstarke nichts wissen. Es scheint, als hätten sie in diesem Fall
Gentech-Bürokratie neue Arbeit bekommen und unter plötzlich Frieden mit Radioaktivität und Chemie geschlos-
den Ökobauern die Angst vor Gentech-verseuchtem Pol- sen – zumindest solange ihnen das erlaubt einzudämmen,
len umgehen. Oder aus dem EuGH-Urteil folgt, dass es was sie offenbar für ein ungleich größeres Übel halten:
sich bei Crispr nicht um Gentechnik handelt. Dann wer- die Gentechnik.
den die neuen Gewächse schlicht als das durchgehen, was
sie sind: Nahrungsmittel, Tierfutter, pflanzlicher Rohstoff.
Die Diskussion darum mutet gespenstisch an. Auf ie konnte sich die Angst vor diesem Übel in
der einen Seite stehen die Crispr-Verfechter, die mit allen
Mitteln versuchen, die Eingriffe, die sie an den Pflanzen
vornehmen, kleinzureden. Sie sagen, sie veränderten die
Pflanzen ja nur in einer Weise, wie es die Züchter schon
W den Köpfen festsetzen, ohne dass sie je Bestä-
tigung durch eine Katastrophe fand? Die
Atomkraft hatte ihr Tschernobyl, die Chemie
ihr Seveso, die Luftfahrt eine Vielzahl aufsehenerregen-
seit Jahrhunderten tun. der Flugzeugabstürze. Und die Gentechnik? Nichts. In
Auf der Gegenseite stehen Umweltschützer, die der 40 Jahren praktischer Erfahrung ist es nicht zu einem ein-
Industrie Etikettenschwindel vorwerfen. Die Crispr-Sche- zigen nennenswerten Zwischenfall gekommen. Die Über-
ren, so argumentieren sie, griffen ins Erbgut ein. Und zeugung vieler Menschen, dass die Gentechnik bedroh-
wo mutwillig Gene verändert werden, da müsse es sich ja lich, ja sogar dämonisch sei, ist trotzdem geblieben.
wohl um Gentechnik handeln. In der Medizin, immerhin, ist der Widerstand irgend-
Dass die Diskussion so verfahren ist, liegt daran, dass wann in sich zusammengebrochen. Der Nutzen gentech-
vor dem EuGH gar nicht die Frage verhandelt wird, ob nisch hergestellter Medikamente war wohl zu groß, als
Crispr schädlich oder gefährlich, sondern ob es naturähn- dass sich weiter Angst hätte schüren lassen. Inzwischen

104 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Wissenschaft

PIERRE GLEIZES / REA / LAIF


Gentech-Mais

fragt kein Patient mehr danach, ob das Mittel, das der Wie schön wäre es, wenn nun endlich Vernunft ein-
Arzt injiziert, aus dem Genlabor kommt oder nicht. kehrte im unseligen Streit um die Gentechnik. Es
Zwar ist es nicht ganz leicht zu verstehen, warum Gen- liegt in der Hand des EuGH, den Weg dahin zu ebnen.
technik in die Adern gespritzt akzeptabel, gegessen Gewiss, die Hardliner werden sich auch von den
jedoch Teufelswerk sein soll. Zumal nicht eine seriöse Stu- Luxemburger Richtern nicht überzeugen lassen. Sie
die diesen Verdacht stützt. Doch die Widerständler ver- haben sich in einem Hass gegen die Gentechnik ver-
teidigen den Lebensmittelmarkt gegen alles, was auch nur schanzt, der keiner Vernunft zugänglich ist. Ganz gleich,
entfernt wie Gentechnik anmutet. welchen Beleg für die Unbedenklichkeit der Crispr-
Manch ein Forscher glaubte, dass rigorose Sicherheits- Technik deren Verfechter auch immer erbringen mögen,
prüfungen helfen könnten, der Bevölkerung ihre Ängste die Gegner werden stets neue offene Fragen finden, die
zu nehmen. Deshalb begrüßten es viele, dass in der EU noch unbeantwortet seien.
die Gentechnik streng reguliert wurde. Dreierlei ließen
die Verfechter dieser Regeln jedoch außer Acht:
‣ Es hat sich herausgestellt, dass die Gefahr, vor der die och es besteht Hoffnung. Denn in die Reihen der
Regeln schützen sollen, nicht existiert. Nach 25 Jahren
kam das Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen
zu dem Fazit: »Mit den bisher ins Freiland gebrachten
GVO waren keine Gentechnik-spezifischen Risiken
D Grünen, wo die kategorische Absage an die
Gentechnik bisher zum Glaubensbekenntnis ge-
hörte, ist Bewegung gekommen. Die Partei-
vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck for-
verbunden.« Und die Weltgesundheitsorganisation dern in einem »Impulspapier« die Parteimitglieder dazu
konstatiert: Dort, wo derart veränderte Pflanzen zuge- auf zu hinterfragen, »ob bestimmte neue Technologien
lassen wurden, seien »keine Effekte auf die mensch- nicht helfen könnten, die Versorgung mit Nahrungs-
liche Gesundheit dokumentiert«. Was also tun mit mitteln auch dort zu garantieren, wo der Klimawandel für
Schutzregeln, wenn es nichts zu schützen gibt? immer weniger Regen oder für versalzenen Boden sorgt«.
‣ Die Kontrollgesetze haben die Angst nur größer ge- Noch deutlicher wurde die grüne Wissenschaftsministerin
macht. Denn die Menschen glauben: Wo Schutzgesetze Baden-Württembergs, Theresia Bauer, in einem Gast-
gelten, muss auch etwas zu schützen sein; wo biologi- beitrag auf »Spiegel Online«: »Die Grünen«, schrieb sie,
sche Sicherheit geprüft wird, müssen biologische Gefah- sollten »der Gentechnik eine Chance geben«.
ren drohen. In der Tat fragt sich: Warum sollte es nicht möglich
‣ Die Regelungen der Gentechnik haben den unheilvol- sein, die Ziele der Ökobauern mit denen der Genforscher
len Trend zur Konzentration in der modernen Land- zu versöhnen? Es gibt so viele Probleme, die sich am
wirtschaft noch verschärft. Der Saatgutmarkt, der einst besten gemeinsam angehen ließen: die Überdüngung der
von mittelständischen Firmen bestimmt war, wird zu- Felder, die Nährstoffbelastung der Gewässer, der Verlust
nehmend von großen Konzernen beherrscht. Das führt biologischer Vielfalt, das Auslaugen der Böden und natür-
zur Monopolbildung und zur genetischen Verarmung lich der Klimawandel. Keines dieser Probleme wird
der Äcker. Wer nun die Hürden zur Markteinführung die Gentechnik lösen können, doch zur Lösung jedes von
neuer Sorten erhöht, beschleunigt diese Entwicklung. ihnen kann sie einen Teil beisteuern. ■

105
Wissenschaft

Düsenflieger
in der Oper
Akustik Orchester sind laut, viele
Musiker leiden deshalb
unter Hörschäden. Aber darüber
reden sie nicht gern – was es
schwer macht, ihnen zu helfen.

F reude, schöner Götterfunken, Tochter


aus Elysium – so beglückt fühlt sich

EISELE PHOTOS
das Publikum bei einem gelungenen
Konzert. Doch für viele Musiker gleicht die
eigene Darbietung eher dem Martyrium in
einer scheppernden Klanghölle. Pauken und Bläser: Martyrium in scheppernder Klanghölle
Christopher Goldscheider kennt das: Im
August 2012 erlitt der Bratschist am re-
nommierten Royal Opera House in Lon- Doch damit ist der Fall noch längst nicht sal: Wer nicht hören kann, muss trotzdem
don einen schweren Hörschaden bei einer erledigt, denn er führt weltweit zu Dis- spielen.
Probe von Richard Wagners »Walküre«. sonanzen, vor allem im Orchesterland Doch vor zehn Jahren begann Lehan,
Die »Walküre« gilt als eine der wuchtigs- Deutschland mit seinen 130 professionel- sich zu wehren. Nächtelang schraubte er
ten Kompositionen der Musikgeschichte, len Klangkörpern. an immer neuen Schallschutzwänden he-
auch Klassikverächtern bekannt durch den »Viele Kollegen leiden an Hörschäden«, rum, er tauschte sich mit Fachleuten von
Film »Apocalypse Now«, in dem sie einen sagt Christof Lehan, Soloposaunist beim der Physikalisch-Technischen Bundes-
Hubschrauberangriff untermalt. Osnabrücker Symphonieorchester: »Aber anstalt in Braunschweig aus. Den Proben-
Bei der Probe saß der Bratschist vor mehr bislang war das ein Tabuthema, auch weil raum unter dem Dach baute er komplett
als einem Dutzend Blechbläser, die ihm mit Hörgeschädigte Angst haben um ihren Ar- um, heute sitzen die Pauker und Blech-
einem Schalldruckpegel von teils mehr als beitsplatz.« bläser hoch oben auf einem Podest hinter
135 Dezibel in die Ohren tröteten, vergleich- Rund 15 Prozent der befragten Orches- einer Schallschutzwand aus Plexiglas, die
bar einem Düsentriebwerk in 30 Meter termusiker leiden an chronischem Tin- die anderen Musiker abschirmt. Zusätzlich
Entfernung. Goldscheider er- nitus, hat eine finnische Stu- tragen viele Musiker Ohrschützer, die wei-
litt laut Gutachter einen Schalldruckpegel die ergeben. Und mehr als tere 25 Dezibel Lärm wegfiltern können.
»akustischen Schock«: Ohren- in Dezibel (dB) 40 Prozent der Musiker sind Alle paar Wochen reist Lehan quer
schmerzen, Tinnitus, Schwin- Logarithmische Werte: Einen um 10 dB betroffen von Hyperakusis, durch Deutschland, um seine Schallschat-
del. Der Mittvierziger musste gesteigerten Pegel nimmt das Ohr als einer krankhaften Überemp- tenspender vorzuführen. Oft stößt er auf
Verdoppelung der Lautstärke wahr.
seinen Job aufgeben und ver- findlichkeit. Skepsis, denn viele Musiker sind nicht mit
klagte das Opernhaus auf Der Grund: Viele Orches- der Musikmedizin vertraut, die erst all-
Schadensersatz von umge- ter sitzen dicht gedrängt in mählich Eingang in die Lehrpläne findet.
rechnet rund 850 000 Euro. Düsentriebwerk engen Probenräumen und Wer sich damit beschäftigt, findet
Viele Orchester liegen in 30Meter Entfernung Orchestergräben. Und das schnell heraus: Uns Menschen fehlt ein Au-
weit über der Obergrenze Publikum will etwas ge- dio-Alarmsystem – wir fühlen anders, als
von durchschnittlich 87 De-
zibel. Dieser Richtwert ba-
140 boten bekommen, auch
ganz hinten noch, auf den
wir hören. So muss der reale Schalldruck
zehnmal so stark sein, damit der Mensch
siert auf einer Arbeitsschutz- billigen Plätzen. Also drehte einen Ton als doppelt so laut wahrnimmt.
richtlinie der EU. Doch die die Klassikbranche immer Was aber die feinen Sinneshärchen im In-
Oper verteidigte sich mit Presslufthammer weiter auf, Instrumente wur- nenohr schädigt, ist nicht der Eindruck,
dem Argument, dass Lärm- den lauter, warm tönende sondern der ganz reale Druck, für den uns
schutzregelungen nicht auf Darmsaiten durch Stahl er- das Gespür fehlt. Zudem treten die Schä-
Kulturinstitutionen zuträfen, 110 setzt. den oft mit Verzögerung auf.
da für sie Schall nicht Ab- »Schon als Schüler habe »Hörschäden im Orchester, das ist ein
fallprodukt, sondern Luxus- Musik im Orchestergraben ich in einer Big Band ge- ganz emotionales Thema«, sagt Lehan.
gut sei. Kultur kann ja wohl spielt, da hat mein Gehör ei- Teilweise fühlen sich die Blechbläser aus-
nicht krank machen. 85 bis 100 nen ersten Knacks bekom- gegrenzt, wenn sie hinter eine Schall-
Doch, kann sie, vermerk- men«, sagt Lehan. Anfäng- schutzwand verbannt werden. Nicht leicht,
te die Richterin in ihrem schleudernde Waschmaschine lich nahm er es hin wie ein Takt und Ton zu treffen, wenn es um Risi-
83 Seiten umfassenden Ur- 75 Bergmann die Staublunge, ken und Nebenwirkungen der Musik geht.
teil: »Die Vorschriften tref- schließlich kannte er das Viele können den Gedanken nicht er-
fen keine Unterscheidung Problem von seinem Vater, tragen, dass ausgerechnet ihre geliebte
zwischen einer Fabrik und normale Unterhaltung der als Posaunist an einer Klassik sie krank machen kann.
einer Oper.« Sie gab dem »Senke« des Gehörs litt, weil Hilmar Schmundt
Musiker recht.
50 bis 60
er vor der Pauke saß. Schick-

106 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Technik

Startjahr 1951 wurden 269 Exemplare Als ausführenden Handwerker hat Kalff

Heiliges gebaut. Weltweit sind einschließlich des


Neufunds fünf davon bekannt. Sie haben
keinen Preis.
den Briten Mark Spicer auserwählt, einen
Kunstschweißer mit morbidem Hang zum
naturbelassenen Altfahrzeug. Für eine

Gerippe Als die Kunde von der Entdeckung in


der Eifel durch die Fachwelt ging, kamen
»verrückte Angebote«, erinnert sich Kalff.
fahrbare Interimsversion stellte Spicer
bereits einen Rahmen fertig. Der 25-PS-
Motor ist wieder startklar und installiert.
Oldtimer Gibt es ein Autoleben Was ihm dabei besonders missfiel: Keiner Kalff tuckerte auf einem Szenetreff in den
wollte die eigentliche Trouvaille, alle wa- Niederlanden bereits mit dem Autogerip-
nach dem Rosttod? Die ren nur am Typenschild interessiert. pe herum. Als Sitzbank dient ein Holz-
Auferstehung eines VW-Bullis Kalff kennt sich gut genug aus, um zu brett, die Blechteile hängen an dem Git-
aus Fragmenten setzt neue wissen, was hier gespielt werden sollte. Er tergestell wie ein mottenzerfressener Rock.
weiß, dass es einfacher wäre, ein neues Die Restaurierung dürfte gut 100000 Eu-
Maßstäbe der Restaurierkunst. Altauto rund um eine Fahrgestellnummer ro kosten und soll in etwa fünf Jahren mit
zu bauen, als die rotten Rudimente kunst- einer TÜV-Abnahme enden. Die rostigen
ass seine Produkte biologisch ab- reich zu ergänzen. Etliche solcher Klone Patchworkelemente des sonst tadellos er-
D baubar seien, hat der VW-Konzern
nie behauptet. Er wäre sicher nicht
gut beraten, mit solch einer These die
verschiedener Marken fahren in der Lieb-
haberszene bereits herum. Es ist nicht ein-
mal verboten, wohl aber verpönt – aus
neuerten Fahrzeugs werden von einer lan-
gen Zeit stiller Verwitterung zeugen. »Das
Auto soll eine Geschichte erzählen«, sagt
nächste Mogelpartie zu eröffnen. Womög- Kalffs Sicht Hochverrat. Kalff. Verkaufen will er es nie.
lich aber läge sie näher an der Wahrheit Der Herr der Entfallteile ist ein kauziger Er selbst würde gern noch mehr von
als die Mär vom sauberen Diesel. Gralshüter mobilen Kulturguts. Nach ein dem Wagen erfahren, der mit dem amt-
Die Natur holt sich jedes Industriepro-
dukt zurück. Sie braucht nur eines: Zeit.
Einen eindrucksvollen Beleg für die
Kompostierbarkeit von Kraftfahrzeugen
lieferten die im April vergangenen Jahres
entdeckten Überreste eines VW-Busses.
Vor mehr als einem halben Jahrhundert
hatte dieser auf einer Wiese in der Eifel
seinen letzten Parkplatz gefunden (damals
keine unübliche Entsorgungsmethode)
und sich, bald von Gestrüpp umwuchert,
an seinem schattig-feuchten Ruheort in-
zwischen weitgehend mit der Krume ver-
einigt.
»Etwa 25 Prozent der Fahrzeugsubstanz

ANNABELL BROCKHUES / DER SPIEGEL


sind noch übrig«, sagt Florian Kalff, der
die Reste erwarb und gründlich examinier-
te. Der Bonner Unternehmer ist vom Fach.
Seine Firma nennt sich Entfallteiledienst
(eine Originalvokabel aus der Wolfsburger
Vertriebssemantik) und versorgt Groß-
händler der Oldtimerszene mit Ersatztei-
len historischer VW-Modelle.
Dass Kalff in der Lage ist, aus den Frag- Eigner Kalff, VW-Fundstück von 1951: Kauziger Gralshüter
menten wieder ein Auto entstehen zu las-
sen, mag weniger verwundern als die
Nachricht, dass er es tatsächlich macht. paar Schnuppervorlesungen in Germanis- lichen Kennzeichen K-ER 571 – es blieb
Der Entschluss, den Bus wieder aufzu- tik gründete Kalff mit seinem Vetter vor lesbar erhalten – auf dem Feld bei Mayen
bauen, fiel beim Auffinden des Typen- 22 Jahren seinen Handelsbetrieb. Neben abgestellt wurde. Es muss in den frühen
schilds und der damit verbundenen Er- Punkrock und Poetry Slam zelebriert er Sechzigerjahren gewesen sein. Das lässt
kenntnis: Dieses Wrack ist ein Heiligtum. den VW-Spleen als tägliche Aktionskunst. sich an Details rekonstruieren. Der Wagen
Es handelt sich um einen Samba-Bus Mit dandyhafter Fünfzigerjahrefrisur und hatte schon Blinker (Einführung um 1960),
des ersten Produktionsjahrs, am 27. Au- historischen Transportern geht Kalff auf jedoch noch keine TÜV-Plakette, die ab
gust 1951 unter der Bezeichnung »Achtsit- Teilejagd. Die heiligen Samba-Brocken 1961 Pflicht war.
zer Sondermodell« aus den Wolfsburger reisten auf einem VW-Pritschenwagen der Was immer sich die Person dachte, die
Fertigungsanlagen gerollt – knapp zwei Siebziger aus der Eifel nach Bonn. Jemand, ihn zuletzt abgestellt hat – sicher nicht,
Jahrzehnte bevor der Hippiekult den der so stilsicher ans Werk geht, lötet kei- dass dieses Auto sie überleben könnte.
Kleintransportern mit den Dachfenstern nen Frankenstein-Klassiker aus lauter Neu- Christian Wüst
aus Plexiglas ewige Zauberkraft verlieh. teilen zusammen.
VW-Busse dieses Typs zählen heute zu Sein Samba soll ein Artefakt erdiger
den begehrtesten Oldtimern der Welt, gut Symbolkraft werden. Sämtliche Altteile Video
Testfahrt mit
erhaltene Samba-Varianten werden zu bleiben, und zwar im Zustand, in dem der einem Rosthaufen
Preisen jenseits von 100 000 Euro gehan- Wagen aufgefunden wurde: rostig. Die Er- spiegel.de/sp302018bulli
delt; die Modelle der ersten Serie dürften gänzungen bekommen die Originalfarben oder in der App DER SPIEGEL
bald mehr kosten als neue Ferraris. Im Siegellackrot und Kastanienbraun.

107
Kultur
»Ja, ja, die Ida war ja bei Freud, aber der Otto …« ‣ S. 120

Kunst

Bremer
Freiheit
● »What is Love? Von Amor bis
Tinder« nennt die Kunsthalle
Bremen ihre aktuelle Ausstel-
lung; den begleitenden, für jun-
ge Künstler angesetzten Wett-
bewerb dürfen die US-Betreiber
der Dating-App Tinder spon-

© TOM WOOD, COURTESY OF THE ARTIST


sern – und auch sittenstreng mit-
gestalten. Rund tausend Künst-
ler reichten zum Wettbewerbs-
thema »Liebe und Dating im
digitalen Zeitalter« Arbeiten ein.
Fast alle werden auf der Website
des Hauses gezeigt, nicht aber
die Videoarbeit der Münchner
Künstlerin Agnes Jänsch, 38.
Sie zeigt im Wesentlichen eine Tom-Wood-Fotografie »B & W Kiss«, 1982, in »What is Love«-Ausstellung
sich selbst umarmende Frau mit
nacktem Oberkörper, ihr Werk heißt »Me and my new boyfriend«. explizite Inhalte auf der Wettbewerbswebsite präsentiert werden.
»Ich wurde informiert, dass man mein Video entfernt hat, weil es Jeder Teilnehmer konnte online Bilder hochladen, die Galerie der
wegen der Darstellung weiblicher Brüste als pornografisch ein- Werke ist öffentlich einsehbar.« Deshalb habe man sich mit Spon-
gestuft worden sei«, sagt Jänsch. »Hier lässt sich eine öffentliche sor Tinder tatsächlich geeinigt, dass »keine realen Brüste und kei-
Kulturinstitution von einem Unternehmen die Zensur der Kunst ne realen Penisse gezeigt werden dürfen«. Gemalte Geschlechts-
diktieren.« Kunsthallensprecherin Jasmin Mickein sagt über die organe hingegen, wie sie parallel in der »What is Love?«-Schau im
rüde Streichung: »Uns ging es darum zu vermeiden, dass sexuell Museum zu sehen sind, sind auch auf der Website erlaubt. HÖB

Kommentar

Schule des Denkens


Dürfen städtische Theater zu einer Demonstration aufrufen?

»Ausgehetzt« heißt der Schlachtruf, mit dem Tausende Münchner bieten, politisches Theater zu machen. Das wäre empörend. Nie-
am 22. Juli in eine Anti-CSU-Demonstration ziehen wollen: »Wir mand will den Mitarbeitern verbieten, privat an einer Demo teilzu-
wehren uns gegen die verantwortungslose Politik der Spaltung von nehmen. Auch das wäre empörend. Die CSU besteht lediglich
Seehofer, Söder, Dobrindt und Co. Wir setzen ein Zeichen gegen darauf, dass städtische Institutionen nicht zu einer Demo aufrufen,
den massiven Rechtsruck in der Gesellschaft.« Die Gesichter der die eine parteipolitische Zielrichtung hat. Das ist verständlich. Man
CSU-Männer prangen auf den Plakaten wie auf einem Steckbrief. mag den Verbotsantrag unsouverän finden. Aber ist es nicht eben-
Zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs zählen die Münchner Kam- so unsouverän, dass Intendanten auf plakative Mittel wie eine Demo
merspiele, auch das Volkstheater gehört zu den Unterstützern. setzen, statt politische Kunst zu ermöglichen? Dass sie daran mit-
Eine Provokation für die CSU im Münchner Stadtrat. wirken, Konflikte noch weiter zu personalisieren und Komplexität
Sie klagt, die städtischen Theater würden gegen das Gebot par- zu reduzieren, statt sie in all ihren Ambivalenzen zu beleuchten?
teipolitischer Neutralität verstoßen, und fordert deshalb den Ober- Es gab einmal eine Zeit, da sahen Theater ihre Aufgabe nicht
bürgermeister auf, den Theatern die Beteiligung an der Demo zu darin zu predigen, sondern politische Gewissheiten aufs Spiel zu
untersagen und »dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen die setzen. In einem Gemeinwesen, dessen Debatten zur Polarisierung
Verantwortlichen« zu ergreifen. Nun sind alle Wohlmeinenden tendieren, wäre das noch immer eine vornehme Aufgabe – und ein
mächtig empört und schreien: Kunstfreiheit! Grundgesetz! Demo- wirksames Mittel gegen Hetze jeder Art. Das Theater als Schule
kratie! Zu Recht? Niemand will den Mitarbeitern der Bühnen ver- des Denkens, nicht des Meinens. Tobias Becker

108 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Subkultur leistung. Hahn fand einen Statiker, der Elke Schmitter Besser weiß ich es nicht
Schiff der Träume ausrechnete, dass die Brücke auch halten
werde, wenn sich auf dem Schiff mehrere Wir auch
● So ähnlich muss die »Arche Noah« Hundert Menschen befänden, und dann
ausgesehen haben, als das Wasser wieder geschah ein weiteres Wunder: Die
gesunken war. Aber keine Sintflut, son- Münchner Behörden genehmigten Nun hat sich »Die Zeit« also
dern akuter Platzmangel hat der Stadt das abgedrehteste Bauprojekt seit entschuldigt, auf der Seite
München ihr spektakuläres Schiff auf der Errichtung des Olympiadachs. eins, für ein missratenes
dem Trockenen beschert: In der Groß- Als hätten sie danach Angst vor der »Pro und Contra« zum The-
stadt mit den höchsten Immobilienprei- eigenen Courage bekommen, nahmen ma private Seenotrettung. Vie-
sen Deutschlands ist die stillgelegte sie es mit den Sicherheitsauflagen beson- le kluge, engagierte Menschen
Eisenbahnbrücke in Sendling einer der ders genau; die Kluberöffnung zog sich haben eine Woche damit verbracht, zu
wenigen Orte, an denen kein Investor hin. Hahn bleiben nun erst einmal drei diskutieren, Unterstellungen zu machen
Interesse hatte. Und so gibt es hier hoch Jahre Zeit, das investierte Geld wieder und zurückzunehmen, sich einerseits
über der Lagerhausstraße Platz für Sub- reinzuholen – die Stadt hat den Mietver- vom Mob zu distanzieren, andererseits
kultur. Ende Juli, nach rund anderthalb trag befristet. Die Wahrscheinlichkeit, aber selbst Verwünschungen auszusto-
Jahren Vorarbeit, soll es auf der »Alten dass ihr eine bessere Nutzung der Brücke ßen und so weiter. Es werden oft diesel-
Utting« endlich losgehen mit Musik. einfällt, ist allerdings gering. AND ben Menschen sein, die sich über das
Ursprünglich wollte der 28-jährige Be- Sommertheater des Herrn Seehofer auf-
treiber Daniel Hahn einen Eisenbahn- geregt haben, der mit seinen infantilen

STEPHAN RUMPF / PICTURE ALLIANCE / SZ PHOTO


waggon auf die Brücke stellen. Der Plan Ich-pikse-Merkel-bis-sie-schmeißt-
zerschlug sich, irgendjemand kam auf Aktionen erfolgreich davon ablenken
die irre Idee, stattdessen ein Schiff zu kann, worum es eigentlich geht.
nehmen – und Hahn und sein Team lie- Im Mittelmeer, unserem Meer, ertrin-
ßen von ihrer Vision auch dann nicht ab, ken Menschen, Tag für Tag, für die
als sie einen Dampfer angeboten beka- Europa noch immer ein Kontinent der
men, der weit größer war als ihr Schiff Verheißung ist: entkommen vom Vege-
der Träume. 144 Tonnen schwer ist die tieren und Gefoltertwerden, wofür afri-
»Alte Utting«, die einst auf dem Ammer- kanische Potentaten die Verantwortung
see verkehrte, schon der Transport nach tragen, und von Armut und Aussichts-
Sendling war eine logistische Meister- Dampfer »Alte Utting« in München losigkeit – woran wir Europäer mit
unseren Exporten aus subventionierter
Landwirtschaft, unseren Waffenliefe-
rungen und unserer Unterstützung
Kino einen schnell vergessenen Spielfilm mit übler Systeme beteiligt sind und wozu
Zurück im Dienst George Clooney, »Money Monster«. wir mit etlichen Konsumentscheidun-
Entsprechend groß sind nun die Erwar- gen beitragen. Das alles wissen wir seit
● Ihren ersten Auftritt vor der Kamera tungen an Fosters Schauspiel-Comeback Langem. Und seit Dekaden gibt es in
hatte sie in einem Werbespot für Sonnen- im Actionkrimi »Hotel Artemis«, dem Deutschland kein Erkenntnisdefizit,
creme, als Dreijährige. Mit zwölf ver- Regiedebüt des Drehbuchautors Drew sondern einen Handlungsstau, was das
körperte sie eine Prostituierte in »Taxi Pearce (Kinostart: 26. Juli). Erste Über- Asyl- und das Einwanderungsrecht
Driver«, mit 29 gewann sie ihren zweiten raschung: Im Film wirkt Foster, im wah- betrifft.
Oscar für die Hauptrolle im Thriller »Das ren Leben 55 Jahre alt, durch aufwendi- Die Verschiebung der Diskursenergie
Schweigen das Lämmer«. Doch in den ges Alters-Make-up wie Mitte, Ende sieb- vom Eigentlichen zum Appendix, von
vergangenen Jahren hat sich Jodie Foster zig. »Hotel Artemis« spielt in einer nicht der Tragik zum rhetorischen Scharmüt-
als Schauspielerin rargemacht. Stattdes- allzu fernen Zukunft, Los Angeles wird zel und von der Politik zur sozialen
sen arbeitete sie als Regisseurin, sie in- von Gangsterbanden beherrscht. Foster Erregung ist eine Unterlassungssünde;
szenierte Episoden von »House of Cards« verkörpert die einzige Krankenschwester sie lässt sich regelmäßig beobachten,
oder »Orange Is the New Black« und einer Klinik, die auf verletzte Kriminelle wenn etwas, das nach Handlung ver-
spezialisiert ist, auf Schuss- langt, unerledigt bleibt und, weil es an
und Stichwunden. Die Entsetzlichkeit nicht abnimmt, an
Schwester ist immer im den Rand des Bewusstseins geschoben
Dienst, sie lebt im und für wird – oder transformiert in eine De-
das Krankenhaus. Das batte, die sich stellvertretend an Petites-
Gebäude hat sie seit Jahren sen erhitzt. Millionen Deutsche sind in
nicht verlassen. Mit kleinen der Flüchtlingshilfe und -integration
Schritten trippelt sie durch engagiert. Wenn ein paar Hunderttau-
düstere Gänge, ab und zu send aller anderen für die Seenotret-
nimmt sie einen Schluck tung auf die Straße gingen, für eine
aus dem Flachmann, wäh- Luftbrücke für Kriegsopfer aus Syrien
rend sich die Patienten – oder auch nur für ein Ende der zerstö-
CONCORDE FILMVERLEIH

in grotesk überzeichneten rerischen europäischen Agrar- und


Gewaltszenen – gegen- Fischereipolitik, wäre der Druck mal
seitig an die Gurgel gehen. da, wo er hingehört.
Diagnose: Diesen Film
kann auch Jodie Foster nicht An dieser Stelle schreiben Elke Schmitter und
Foster in »Hotel Artemis« mehr retten. MWO Nils Minkmar im Wechsel.

109
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL

Alleinunterhalter Waalkes: »Haben Sie heute Abend schon was vor?«

110 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Kultur

»Ich antworte gerne,


aber ich brauche gute Fragen«
SPIEGEL-Gespräch Der Komiker Otto Waalkes über Journalisten,
Political Correctness und die Angst, ernst zu werden

Otto Waalkes löffelt Kartoffelsuppe. Am SPIEGEL: In Ihrer Autobiografie listen Sie Waalkes: Journalisten sind jedenfalls ein
Tisch neben ihm sitzt Bernd Eilert, einer Fragen auf, die Journalisten Ihnen wieder schwieriges Publikum. Ich versuche ja
der Köpfe der Neuen Frankfurter Schule, und wieder gestellt haben. nicht, sie aufzuheitern oder zu unterhalten,
Mitgründer des Satiremagazins »Titanic«. Waalkes: Am Anfang meiner Karriere bin ich versuche, ihnen keine Steine in den
Seit den Siebzigerjahren lässt Waalkes ich davon ausgegangen, Journalisten woll- Weg zu legen und ihre Fragen zu beant-
sich von ihm mit Gags beliefern, auch an ten in Interviews was Neues erfahren. worten, ehrlich und aufrichtig. Das protes-
seiner Autobiografie, die seit Wochen auf Aber sie stellen immer dieselben Fragen. tantische Ethos.
der Bestsellerliste steht, hat er gemeinsam SPIEGEL: Was waren die drei häufigsten? SPIEGEL: Da schlägt Ihre Mutter durch,
mit Eilert gearbeitet*. Im gedruckten In- Waalkes: Wollen Sie nicht langsam mal eine fromme Baptistin.
terview möchte Eilert nicht zitiert werden. aufhören? Waalkes: Sie wissen Bescheid, Sie haben
Hin und wieder wirft er eine Bemerkung SPIEGEL: Wir fangen doch gerade erst an. mein Buch gelesen.
ins Gespräch, die Waalkes in Otto-Stimm- Waalkes: Das sage ich auch immer: Ich SPIEGEL: Besonders aufmerksam die Pas-
lage und mit Otto-Mimik zu einem Otto- hab doch gerade erst angefangen, das ist sagen über Journalisten. Im Prinzip müss-
Witz veredelt, ein Diamantenschleifer für für mich alles Neuland. Und es ist wirklich ten Sie gar keine neuen Interviews mehr
Pointen. Waalkes wird am Sonntag 70. alles Neuland, es ist alles ein Experiment. geben: Alle Standardfragen und -antwor-
Aber er ist noch immer der Mann, den Plötzlich schreibe ich ein Buch, ein richti- ten aus fünf Jahrzehnten Otto stehen im
das halbe Land nur beim Vornamen ges Buch, meine anderen waren ja eher Buch. Ein Interviewbaukasten.
nennt, ein Kindskopf im Rentenalter, fast Sammlungen aus Cartoons, Karikaturen, Waalkes: Deshalb habe ich sie reinge-
kahl inzwischen. Als der Fotograf dazu- Showeffekten. schrieben. Aber es scheint nichts gebracht
tritt, reicht ein Assistent eine Baseballkap- SPIEGEL: Das klingt wie die Standardant- zu haben: Jetzt sind wir auf der Meta-
pe. »Aus künstlerischen Gründen«, sagt wort auf die Standardfrage. Was wäre die ebene, führen ein Interview über Inter-
Waalkes. Das orangefarbene Logo auf der ehrliche Antwort? views – und die Fragen sind alle wieder
Mütze passe so gut zum Orange der alten Waalkes: Dass ich es mir schon leisten da. Geschickt von Ihnen.
SPIEGEL-Kantine, die hier im Hamburger könnte aufzuhören. SPIEGEL: Vielleicht hätten Sie die Fragen
Museum für Kunst und Gewerbe ausge- SPIEGEL: Finanziell. reinschreiben sollen, auf die Sie gern mal
stellt ist. Waalkes: Menschlich. Aber ich möchte antworten würden.
nicht. Waalkes: Das kommt dann im nächsten
SPIEGEL: Herr Waalkes, langweilen Sie SPIEGEL: Antworten Sie in Interviews ehr- Teil, nach »Kleinhirn an alle« folgt »Leber
sich in Interviews? lich? an Großhirn«. Fragen Sie: Darf ich Sie
Waalkes: Das kommt auf die Fragen an. Waalkes: Meistens schon. Zu lügen wäre nach diesem Gespräch zu einem Glas Bier
30 Minuten können einem sehr lang oft witziger. Aber sich im nächsten Inter- einladen? Das wäre eine gescheite Frage.
werden. view an die eigenen Lügen zu erinnern ist SPIEGEL: Sie gelten als schwieriger Inter-
SPIEGEL: Wir hätten gern viel länger mit fast unmöglich. viewpartner.
Ihnen gesprochen, zwei Stunden. Aber die SPIEGEL: Was ist die zweithäufigste Frage? Waalkes: Gelte ich?
Pressesprecherin Ihres Verlages sagte: So Waalkes: Verliebt? Verlobt? Verheiratet? SPIEGEL: Sie schreiben das selbst im Buch.
lange kann Otto unmöglich still sitzen. Die Frauenzeitschriftsfrage. Waalkes: Da werde ich wohl überschätzt.
Waalkes: Echt wahr? So einen Ruf habe SPIEGEL: Wie antworten Sie? Aber es stimmt, ein Interview begann
ich. Dafür beantworte ich die Fragen in Waalkes: Ja, haben Sie heute Abend schon mal mit den Worten: »Herr Waalkes, ha-
einem gewissen Tempo, da ist nach einer was vor? Die dritthäufigste Frage ist die ben Sie davon gehört, dass Menschen, die
halben Stunde alles erledigt. Vergleichen klassische Frage an alle Komiker, die Frage mit Ihnen zu Interviewterminen verab-
Sie das mal mit einem Komiker wie Emil nach der Identität: Sind Sie privat eigent- redet sind, in der Nacht zuvor ungemein
aus der Schweiz. Oder auch Gerhard Polt. lich genauso komisch wie auf der Bühne? schlecht schlafen?« Mir ist das ein Rätsel.
Ehe der mal anfängt … Ich brauche für Journalisten können sich gar nicht vorstel- Vielleicht liegt es daran, dass der Inter-
eine halbe Stunde achtmal so viel Material len, dass jemand über 50 Jahre lang immer viewer etwas enthüllen möchte, den
wie er. lustig und gut gelaunt sein kann. Und sie Schmerz hinter dem Scherz, dass es bei
SPIEGEL: Sie sprechen gerade tatsächlich haben natürlich einen gewissen Ehrgeiz, mir aber nichts zu enthüllen gibt: Hinter
sehr schnell, so wie auf der Bühne. endlich mal was Neues herauszufinden, der grinsenden Maske des ewigen Spaß-
Waalkes: So wie im Leben. Ich spreche eine dunkle Seite, eine geheime Traurig- machers steckt bei mir das lächelnde Ant-
auf der Bühne wie im Leben. keit. Immer nur zu schreiben, ich sei genau litz des notorischen Narren. Was würde
wie auf der Bühne, ist langweilig. einen Journalisten mehr freuen, als eine
* Otto Waalkes: »Kleinhirn an alle. Die große Ottobio- SPIEGEL: Fehlt Ihnen in Interviews das Legende zu entlarven? Apropos: Gelte ich
grafie«. Heyne; 416 Seiten; 22 Euro. Publikum? als Legende? Bin ich schon so weit?

111
SPIEGEL: Sie werden 70. Wenn nicht jetzt, die kleinen Filme, die ihre Hilfe brauchten.
wann dann? Gebraucht zu werden ist ja was Schönes.

MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL


Waalkes: Merkwürdigerweise wird in SPIEGEL: Wer mit Popkultur aufgewach-
Interviews mit mir wenig übers Alter sen ist, hält Popularität nicht mehr für
gesprochen. einen Makel.
SPIEGEL: Nicht mal jetzt, so kurz vorm Waalkes: Das stimmt, die alte Generation,
70. Geburtstag? die scharf getrennt hat zwischen E und U, ist
Waalkes: Fragen Sie, fragen Sie. kaum noch im Dienst. Jüngere Kritiker be-
SPIEGEL: Ihr Komikerkollege Didi Haller- urteilen komische Produkte vorurteilsfreier.
vorden ist auf seine alten Tage ernst ge- SPIEGEL: Kritiker sind nicht mehr böse,
worden – und dafür sehr gelobt worden Waalkes beim SPIEGEL-Gespräch* sondern gut gelaunt und lustig.
im Feuilleton. »Niemand ernstelt« Waalkes: Wenn sie über Komik schreiben,
Waalkes: Davor habe ich Angst. schreiben sie oft in einem komischen Ton.
SPIEGEL: Vor Lob im Feuilleton? die alten Meister waren offensichtlich kei- Das finde ich auch schwierig, das mag ich
Waalkes: Vorm Ernstwerden. Das ent- ne Kostverächter. Wenn sich damit jemand gar nicht gerne. Niemand würde über ein
spricht nicht meinem Wesen. Ich müsste unwohl fühlt, würde ich ihm raten, nicht Schiller-Drama in Blankversen schreiben.
mich sehr verstellen. Didi Hallervorden mehr in Museen zu gehen. Niemand ernstelt, aber zu witzeln ist an-
kommt aus einer anderen Szene, der Ka- SPIEGEL: Sie raten empfindlichen Seelen scheinend jedem erlaubt.
barettistenszene, er hat ein politisches Sen- vom Besuch einer Comedy-Show ab? SPIEGEL: Woran liegt es, dass Kritiker den-
dungsbewusstsein, das war immer sein An- Waalkes: Auf jeden Fall. Es gibt nur weni- ken, lustig seien sie selbst?
spruch. »Palim Palim« war nie seine Welt. ge Witze, die ganz ohne Opfer auskommen. Waalkes: Ach, eigentlich ist es ja schön,
SPIEGEL: Politisches Sendungsbewusst- Wer das dann immer gleich als rassistisch wenn sie sich angeregt fühlen, aber es macht
sein war nie Ihre Welt. bezeichnet, verharmlost den echten Rassis- den Dialog schwierig. Das sind alte Komik-
Waalkes: Das habe ich denen überlassen, mus. Das halte ich für gefährlich. gesetze. Wenn zwei Leute gleichzeitig ver-
die mehr Ahnung haben als ich. Wen inte- SPIEGEL: Sie zitieren im Buch seitenweise suchen, komisch zu sein, müssen sie so gut
ressiert denn meine politische Meinung? Sätze aus Kritiken zum ersten Otto-Film aufeinander eingespielt sein wie Laurel und
SPIEGEL: Sind Sie in Interviews nie da- 1985. Können Sie gut mit Kritik umgehen? Hardy. Sonst muss einer den Straight Man
nach gefragt worden? Waalkes: Die Sätze hat Robert Gernhardt geben, das ist der Kritiker, und dann kann
Waalkes: Ich bin ständig gefragt worden, mal für mich zusammengestellt, er war der Komiker komisch sein. Wenn Dean
aber ich habe nie geantwortet. Ich gehe ein fleißiger Kritiker der Kritik. Schön Martin versucht hätte, genauso komisch zu
auch nicht in politische Talkshows. Was zu sehen, wie sehr sich die Kritiker wi- sein wie Jerry Lewis, wären ihre Filme nie
soll ich da? Ich bin Alleinunterhalter, Spe- dersprechen, teilweise bis ins Detail. Die gelaufen. Witzelnde Journalisten sind sehr
zialist für wertfreie Unterhaltung. »Kölnische Rundschau« beschrieb eine schwierig, auch in Livesendungen.
SPIEGEL: Moralistische Zeiten wie unsere »Nummernrevue«, der »Evangelische Pres- SPIEGEL: Der Moderator liefert eine Vor-
müssten ideale Zeiten sein für Sie und sedienst« »keine Nummernrevue«. Die lage, die Sie dann verwandeln sollen.
Ihren Humor. »Süddeutsche Zeitung« mäkelte, der Film Waalkes: Das ist Faulheit, besonders
Waalkes: Das stimmt, das hat sich seit den leide an drei Problemen: Dramaturgie, wenn der Moderator nur Stichworte gibt.
Siebzigern nie geändert, ganz merkwürdig. Rhythmus, Timing. Die »Stuttgarter Zei- Ich antworte gerne, aber ich brauche gute
Tabus, die sich brechen lassen, gibt es im- tung« lobte »gutes Timing, witzige Dialo- Fragen dafür.
mer. Wenn die einen gehen, kommen neue. ge, hervorragende Schauspieler«. SPIEGEL: Das wievielte Interview Ihrer
Irgendeines bricht jeder Komiker, ob er SPIEGEL: Man nennt das wohl Meinungs- Karriere war das nun, was schätzen Sie?
will oder nicht. pluralismus. Waalkes: Ich weiß ja nicht mal, wie viele
SPIEGEL: Ist Political Correctness ein The- Waalkes: Von dem Zeitpunkt an habe ich Ottifanten ich gezeichnet habe.
ma für Sie als Komiker? mir kaum noch Gedanken gemacht über SPIEGEL: Waren es mehr Ottifanten oder
Waalkes: Sollte es eigentlich nicht sein. einzelne Kritiken. mehr Interviews?
Aber wenn selbst die Sprache bereinigt SPIEGEL: Vorher schon? Waalkes: Jeder Ottifant ist ein Statement.
werden soll, können sich auch für Wort- Waalkes: Ich war schon eher sensibel, es Wenn du ein Buch rausbringst oder plötzlich
spieler wie mich Probleme ergeben. hat sich angefühlt wie in der Schule, wenn 70 wirst, führst du tagelang nur Interviews,
SPIEGEL: Könnten Sie heute noch solche der Lehrer eine Zensur unter die Hausarbeit manchmal zehn am Tag, immer wieder von
Nummern bringen wie in den Siebzigern schreibt. Ich werde nie vergessen, dass die vorne, immer wieder durch. Da weißt du ir-
in »English for Runaways«? Sie übersetz- »Frankfurter Rundschau« nach einem tollen gendwann nicht mehr, ob du den Satz, den
ten »This is Alice Schwarzer« mit »Das Abend in der Jahrhunderthalle Hoechst mal du sagen willst, gerade schon gesagt hast
sind alles Neger« und »This is Roy Black« schrieb, der Abend sei eine »herbe Enttäu- oder ob das im Interview davor war.
mit »Das ist der König der Neger«. schung« gewesen. Es hatte Zugaben gege- SPIEGEL: Andererseits sitzt eine Antwort
Waalkes: Das waren damals harmlose ben, das Publikum war begeistert. Bernd vielleicht beim zehnten Mal besser. Wie
Wortspiele und im Zusammenhang mit Eilert hat immer gesagt: Du weißt, wer die eine Pointe.
ähnlichen Kalauern große Lacher. Heute Kritiken schreibt. Ich hab gesagt: Ja, das Waalkes: Lassen Sie uns das auschecken!
wird in dieser ganzen Diskussion meist weiß ich, aber warum macht er das? Wir führen das Interview noch mal.
vergessen, mit welcher Absicht solche Be- SPIEGEL: Ja, warum? SPIEGEL: Herr Waalkes, wir danken Ihnen
griffe verwendet werden, ob es sich nur Waalkes: Letztlich sind auch Kritiker für dieses Gespräch.
um einen Kalauer handelt oder ein poli- Menschen. Aber solche, die ihre Vorurteile
tisches Statement, mit dem jemand rassis- mehr oder weniger gut begründen können.
tische Vorurteile aufbauen oder bedienen Kritikern im Feuilleton war der Main- Video
Ottos
will. Und manche wollen ja nicht bloß die stream stets verdächtig. Sie mochten lieber Klassiker
Sprache bereinigen, sondern am liebsten spiegel.de/sp302018otto
die ganze Kunstgeschichte. Schauen Sie * Mit dem Redakteur Tobias Becker im Museum für oder in der App DER SPIEGEL
sich klassische Aktgemälde in Museen an, Kunst und Gewerbe Hamburg.

112 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Kultur

Glückliche Tage
Kunst Pussy Riot rettet die russische Fußball-WM.

ktionskunst und Fußball haben edelt. Und weil Russland ein Polizeistaat Stimme nochmals das Manifest mit seinen
A eines gemeinsam: Sie schaffen
Kunstwerke, die den Augenzeugen
überfordern. Erst in der Wiederholung
ist, wirken Bilder, auf denen Polizisten von
anderen Sicherheitskräften zu Boden ge-
rungen werden, verstörend.
Gedanken über die metaphysische Rolle
der Polizei: »Der himmlische Polizist or-
ganisiert den schönen Karneval der Welt-
begreift der Fußballfan, wie das entschei- Was die Urheber nicht beeinflussen meisterschaft. Der irdische Polizist fürchtet
dende Tor eigentlich gefallen ist; erst im konnten: Auch ihr Verhör in der Polizei- die Feier.«
Nachhinein erfährt der Betrachter, dass wache am Stadion wurde gefilmt, ein Video Einfacher formuliert, zielt es auf ein
dieser oder jener Vorgang Kunst gewesen gelangte an die Öffentlichkeit. Man sieht Hauptproblem dieser Weltmeisterschaft:
sein soll. die aufgeregten Pussy-Riot-Aktivisten und dass man dem freundlichen Gesicht, das
Am letzten Tag der Putins Staat einen Monat
Fußball-WM wurden die lang zeigte, nicht trauen
Zuschauer im Luschniki- kann. Dass die plötzlich
Stadion gleich doppelt so hilfsbereiten Polizisten,
überfordert: Sie sahen wenn die WM zu Ende ist,
Aktionskunst und Fuß- sich wieder zurückver-
ball auf demselben Feld. wandeln werden in Instru-
Gerade hatte der Fran- mente der Repression.
zose Kylian Mbappé im Dass der himmlische Poli-
Finalspiel das Tor der zist sich Schlag Mitter-
Kroaten verfehlt, da nacht wieder in den irdi-
rannten plötzlich vier schen verwandeln wird.
Personen in Polizeiuni- Verglichen mit ihren
form auf den Rasen und Vorgängern, kamen Wer-
mischten sich unter die silow und seine Kollegin-
Spieler. Der Fernseh- nen mit milden Strafen
zuschauer bekam davon davon (zwei Wochen Ar-
wenig mit – die Fifa will rest, drei Jahre Stadion-
»Flitzer« nicht mit Live- verbot). Man kann ihnen
bildern belohnen. Die nur gratulieren. Den für
Zuschauer im Stadion Luschniki zuständigen
sahen mehr, verstanden Polizeioffizier über Sta-
aber nicht, was die Ein- lins Repressionen zum
lage sollte. Sie pfiffen. Sprechen zu bringen, wäh-
ELMAR KREMSER / SVEN SIMON

Aber jetzt, da alles vor- rend nebenan im Stadion


bei ist, kann die Rezep- ein heiteres Sportfest mit
tion der Aktionskunst be- Putin und zig Staats-
ginnen. Die Gruppe Pus- gästen zu Ende geht –
sy Riot – die 2012 mit wenn das keine gelun-
einem »Punk-Gebet« ge- gene Performance ist!
gen Wladimir Putin in Ihre Aktion hat das Bild
Moskaus Christ-Erlöser- Aktionskünstler bei Finale*: »Der Polizist kommt ins Spiel« von der erfolgreichen
Kathedrale berühmt wur- Weltmeisterschaft nicht
de – bekannte sich zur ruiniert, sie hat es in
Aktion. Sie hat der Performance einen Na- hört die Stimme eines Polizei-Obersten, der Wahrheit gerettet. Weil sie ergänzt hat,
men gegeben (»Der Polizist kommt ins sie befragt. »Schade, dass jetzt nicht das was bis dahin nicht zu sehen war.
Spiel«) und ihr ein überdrehtes Manifest Jahr 1937 ist!«, donnert der Mann. Er meint: Die Nachwelt, so hat der Journalist Oleg
gewidmet, das den 2007 verstorbenen Kon- Schade, dass man die Missetäter nicht er- Kaschin prophezeit, werde im Nebenein-
zeptualisten Dmitrij Prigow zitiert (ein Idol schießen kann wie zu Stalins Zeiten. ander von Pussy Riot und Putin auf dieser
der Aktionskünstler). Sie fordert: Freiheit Wie üblich im russischen Aktionskunst- WM gar keinen Gegensatz sehen. Die rus-
für alle politischen Gefangenen. genre endete die Performance vor Gericht, sische Aktionskunst ist die große Erfolgs-
Vor allem aber gibt es im Nachhinein wo der Künstler seine Aktion interpretie- geschichte dieses Jahrzehnts, sie überstrahlt
Fotos, die das vergängliche Kunstwerk für ren, ausschmücken, vervollständigen darf. in ihrer Wirkung alle anderen Kunstformen.
die Ewigkeit gerettet haben. Da sieht man, Im selben Chamowniki-Bezirksgericht, wo Ohne sie wird man die Geschichte dieser
wie Mbappé eine lachende Politesse mit einst Marija Aljochina und Nadeschda To- russischen Epoche nicht erzählen können.
den Händen abklatscht oder wie der Mit- lokonnikowa für ihr Punkgebet von 2012 Im Rückblick, der stets anderes zeigt, als das,
telfeldspieler Marcelo Brozovic sich eine drakonische Haftstrafen erhielten, wurden was die Augenzeugen sehen, wird deshalb
Schirmmütze aufsetzt, die Pussy-Riot- am Montag auch ihre Nachfolger von 2018 der kurze Auftritt von Pussy Riot im Finale
Veteran Pjotr Wersilow bei der Aktion auf befragt. Die Richter verlasen mit tonloser so selbstverständlich sein wie der der Sport-
dem Spielfeld verloren hat. So wird die ler oder der von Putin selbst. Christian Esch
Störaktion erst im Standbild zur Kunst ver- * Mit Spielern und Ordner am 15. Juli in Moskau.

113
Kultur

Zum Teufel mit der Mäßigung


Literatur Was für ein Leben! Weil Arthur Koestler ständig irgendwo
in Haft saß, ging das deutsche Manuskript der »Sonnenfinsternis« verloren. Bis jetzt.
Von Volker Weidermann

E
r war kein Mensch. Er war ein nen Jahrhunderts. Aber was soll das schon terschied. Er war überzeugt von Joseph
Maschinengewehr. So hat ihn ein sein, ein Renegatenroman? Koestler war Roths Überzeugung, der schrieb: »Ein
junger Kollege bei der Zeitung für eine Weile Kommunist, dann war Journalist aber kann, er soll ein Jahrhun-
beschrieben. Das war Ende der er keiner mehr. In »Sonnenfinsternis« dertschriftsteller sein.«
Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhun- kommt das Wort Kommunismus nicht ein- Das Bewegendste in diesem frühen Buch
derts in Berlin, im Ullstein-Haus. Koestler, mal vor, »Sowjetunion« auch nicht. Ja, die sind die Beschreibungen der Todesangst.
1905 in Budapest geboren, Jude, in Baden Menschen haben russische Namen, und Wenn die Wärter den Gang ablaufen und
bei Wien aufgewachsen und von dort aus sie folgten alle einer Massenbewegung, die Gefangenen mit stockendem Atem
in die Welt aufgebrochen, hatte kurz zuvor welche die Welt verbessern wollte und auf darauf warten, vor welcher Zelle sie dies-
einige Jahre in Palästina verbracht, in dem Weg dorthin viele Menschen sterben mal halten. Wenn ein Todgeweihter hin-
einem Kibbuz gearbeitet, sich für einen ließ. Für den großen, guten Zweck: »Wir ter seiner Zellentür wimmernd die Inter-
Judenstaat eingesetzt, arabische Limonade reißen der Menschheit die alte Haut ab nationale anstimmt – und Koestler steht
verkauft, mittellos am Strand von Tel Aviv und machen ihr eine neue Haut. Das ist hinter seiner Zellentür, hört zu, sein Herz
geschlafen und erste Texte für Zeitungen kein Verfahren für Leute mit schwachen krampft sich zusammen, er hebt die Faust
des Ullstein-Verlags geschrieben. Er war hinter der Tür, aber mitzusingen traut er
schnell, arrogant, kämpferisch, blitzklug, sich nicht. »Ich stand auf und stellte mich
aufbrausend, neugierig, schrieb Texte als »Er sang und sang. gegen die Tür und stand gelähmt und zäh-
Waffe und konnte rasend schnell die Denk- Wie wir ihn liebten. neklappernd mit der zeremoniell erhobe-
richtung wechseln. Damals schon. Und nen Faust, wie ich es in Versammlungen
sein Leben fing da gerade erst an. Aber keiner sang mit. in Madrid und Valencia gelernt hatte. Und
Wir schauen jetzt auf dieses verrückte, Aus Angst.« ich fühlte, dass in allen Nachbarzellen die
todesmutige Leben zurück, weil sein anderen ebenso dastanden, mit der zere-
Hauptwerk, der Roman »Sonnenfinster- moniös erhobenen Faust, und Abschied
nis«, ins Englische übersetzt, im Dezem- Nerven; aber es gab eine Zeit, da es dich nahmen.
ber 1940 in London erschienen, in diesen mit Begeisterung erfüllte.« Er sang und sang. Ich sah ihn vor mir:
Tagen zum ersten Mal im Original auf So der verhörende Funktionär zu dem unrasiert, das Gesicht zerschlagen, die Fol-
Deutsch zu lesen ist*. Das klingt wie ein zweifelnden Parteifreund Rubaschow im ter in den Augen.
schwer verständlicher Witz – und doch er- Gefängnis. Rubaschow ist aus der Begeis- Er sang und sang. Sie mussten ihn doch
zählt die Editionsskurrilität dieses Welt- terung gefallen. Auch er hatte den Men- draußen hören. Sie werden kommen und
bestsellers, in 30 Sprachen übersetzt und schen durch die Menschheit ersetzt, den ihn in Stücke schlagen.
von der Redaktion der amerikanischen Einzelnen durch die Abstraktion des Gan- Er sang und sang. Es war ganz un-
»Modern Library« in die Bibliothek der zen. Er will nicht mehr. Er ist dem Mitleid menschlich. Wie wir ihn liebten.
wichtigsten Romane des Jahrhunderts auf verfallen. »Ich habe dem Wimmern der Aber keiner sang mit. Aus Angst.«
Platz acht gewählt, so viel über die lang Geopferten mein Ohr geliehen und wurde Koestler selbst hat in dieser ständigen
anhaltende Wirkung der Ausbürgerung dadurch taub gegen die Argumente, die Todesnähe nicht den Verstand verloren,
der deutschen Literatur. Einer der wirk- zu ihrer Opferung zwangen«, sagt er. weil er den Schatz seiner Lektüren bei
mächtigsten deutschen Romane des vori- Das Buch, neu gelesen, ist wirklich ein sich trug, den er nach und nach aus dem
gen Jahrhunderts war auf Deutsch nur in Blitzschlag der Erkenntnis. Über die kalte Gedächtnis hervorholte. Eine Passage ei-
der Rückübersetzung aus dem Englischen Macht der Ideologien, getötete Selbstzwei- nes Buches hat er speziell als Rettung
zu lesen. In einer Übersetzung – Koestlers fel, das Gehen auf schwankendem Boden empfunden: das Kapitel »Über den Tod«
deutschsprachiges Originalmanuskript war der Geschichte, vor allem: Todesangst. aus Thomas Manns »Buddenbrooks«, in
auf der Flucht verschollen –, die Daphne Koestler hatte es selbst erlebt. In den Spa- dem Thomas Buddenbrook in der Scho-
Hardy, die Freundin Koestlers, in Eile auf nischen Bürgerkrieg hatte er sich 1936 als penhauer-Lektüre eine Art Erlösung er-
der Flucht nach England angefertigt hatte. Berichterstatter geworfen. Als Beobachter fährt. So geht es nun in der Todeszelle
Bis eben, vor drei Jahren, der Kasseler und natürlich als Parteigänger der Kämp- Koestler mit Thomas Mann. »Wunder-
Germanist Matthias Weßel in Zürich den fer gegen Franco. Er kam in Haft, wurde balsam« nennt er diese Stelle. »Es ist die
deutschen Urtext gefunden hat, den jetzt mit dem Tode bedroht und musste mona- Gebetsmühle, der Rosenkranz, die mo-
der Elsinor Verlag publiziert. telang jeden Moment mit seiner Hinrich- notone Urwaldtrommel, die archaische
Das Gute daran: Wir haben Anlass, den tung rechnen. Seine Erfahrungen schrieb Wortmagie. Aber obgleich ich es wusste,
frischen alten Text ganz frisch und neu zu er direkt auf; das Buch heißt »Ein spani- half es dennoch.«
lesen. »Sonnenfinsternis« gilt als bedeu- sches Testament«, 1937 erstmals und ge- Koestler hat das Erlebnis seiner Le-
tendster Renegatenroman des vergange- rade im Europa Verlag neu erschienen**. bens- und Verstandesrettung nach der
Für das Publikum war das Buch damals Haftentlassung gleich an Thomas Mann
* Arthur Koestler: »Sonnenfinsternis«. Elsinor; 256 Sei-
ten; 28 Euro.
die Entdeckung des Schriftstellers Koestler, geschrieben. Der war doppelt erschüttert,
** Arthur Koestler: »Ein spanisches Tagebuch«. Euro- den man bislang nur als Journalisten ge- erstens darüber, dass »Kunst einen derart
pa; 264 Seiten; 19,90 Euro. kannt hatte. Für ihn selbst war da kein Un- drastischen Einfluss auf das Leben ge-

114
SAMMLUNG MEGELE / SZ PHOTO
Autor Koestler um 1935: »Eine einzige Dosis Mitleid und du bist verloren«

winnen kann«. Er habe das früher nicht mietete sich in dasselbe Hotel wie Mann der »Sonnenfinsternis«. Koestler schrieb
für möglich gehalten, schrieb er in sein ein, sie gingen am Morgen spazieren, den Roman, als der übermächtige Gegner
Tagebuch. Noch mehr erstaunt war Mann Mann lud Koestler zum Lunch ein, danach für Europas Intellektuelle vor allem Hitler
aber über die Tatsache, dass am selben zum Kaffee in den Salon – und ließ den war, nicht Stalin und der Kommunismus.
Tag, an dem er den erschütternden Brief jungen Kollegen am Ende erschüttert zu- Aber infolge der Moskauer Schauprozesse
von Koestler erhielt, er gerade selbst, zum rück. Mann habe die ganze Zeit nur von und des gnadenlosen Verhaltens, das auch
ersten Mal seit 35 Jahren, ebenjenes Ka- seinen Joseph-Romanen geredet, an denen Schriftstellerkollegen gegenüber abtrün-
pitel aus den »Buddenbrooks« noch ein- er gerade arbeitete, und keinerlei Interes- nigen Parteigenossen an den Tag legten,
mal gelesen hatte. Verrückter Zufall oder se an Koestler gezeigt, nicht an dessen Per- lässt Koestler, zeitweise in Haft im fran-
metaphysische Gedankenverbindung un- son, nicht an den Hafterlebnissen. Mann zösischen Internierungslager Le Vernet,
ter Künstlern? fand den jungen Überlebenskünstler, so eine Romanfigur sagen: »Wenn ich nur
Jedenfalls, so beschreibt es Christian notierte er danach in sein Tagebuch, »sym- ein Fünkchen Mitleid mit dir hätte, würde
Buckard in seiner fantastischen Koestler- pathisch«, aber auch »angegriffen und ver- ich dich jetzt alleine lassen. Ich habe aber
Biografie »Ein extremes Leben« (eine neue- stimmt«. Und Koestler schrieb später über kein Fünkchen Mitleid. Ich saufe, ich habe
re, noch umfangreichere ist von Michael Mann, dieser sei zwar Humanist, lasse es eine Zeit lang Morphium gespritzt, aber
Scammell auf Englisch erschienen), haben jedoch an Mitleid, Menschenfreundlichkeit dieses Laster konnte ich bislang von mir
die beiden, Mann und Koestler, sich kurz und echter Sympathie für die Schwachen fernhalten. Eine einzige Dosis Mitleid und
darauf in Locarno getroffen. Doch: Litera- fehlen. Humanismus und du bist verloren.« Und
tur mag revolutionär, lebensrettend und Die Kraft des Mitleids, die ideologien- der Mann fährt fort: »Unsere größten
weltverändernd sein, Literaten sind oft ein- zerstörende und lebensrettende Kraft des Dichter gingen an dieser Intoxikation zu-
fach monomanische Hohlköpfe. Koestler Mitleids ist eines der zentralen Themen grunde. Bis zu vierzig, fünfzig waren sie

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 115


Kultur

in Nordafrika, Zypern oder Kenia. Im Lau-


fe des Jahres 1942 verdichteten sich die
Berichte von der planmäßigen Vernich-
tung der europäischen Juden, seine Ver-
zweiflung wuchs und wuchs, auch ange-
sichts der Gleichgültigkeit der Weltöffent-
lichkeit. Im Januar 1944 schrieb er im
»New York Times Magazine«: »Bis jetzt
sind drei Millionen gestorben. Es ist der
größte uns überlieferte Massenmord der
Geschichte; und es geht täglich, stündlich
weiter, so regelmäßig wie das Ticken einer
Uhr … Ein Hund, der von einem Auto über-
fahren wird, erschüttert unser emotionales
Gleichgewicht und unseren Verdauungs-
apparat, doch eine Million in Polen er-
mordeter Juden verursachen nichts als

KEYSTONE PRESSEDIENST
ein leichtes Unwohlsein. Statistiken bluten
nicht, es ist das Detail, was zählt.« Und
im Juli 1944 schreibt er erbittert in sein Ta-
gebuch: »Für fünf Millionen Juden gibt es
keine Zeitungsschlagzeile, aber was für ein
Zerstörtes Stalin-Denkmal in Budapest 1956: »Statistiken bluten nicht« Geschrei wegen 50 brit. Offiziere!«
Einige Jahre nach dem Krieg hat sich
Koestler langsam aus der Politik und den
Revolutionäre – dann wurden sie mitleid- Buch, es ist ein antitotalitäres Buch von tagespolitischen Kämpfen zurückgezogen.
süchtig, und die Welt sprach sie heilig.« ungeheurer Kraft, ein Buch über die kalte Sein frühester Kampf hatte der Gründung
Wir sind dabei, wie ein Mensch alle Macht der Abstraktion. Über die tödliche Israels gegolten, das war nun, nach all den
Überzeugungen verliert, alle Wortver- Macht von Regimen, die ihre Kontrolle bis unvorstellbaren Opfern, erreicht. Er kämpf-
schanzungen, hinter denen er sich zuvor in die Schädel ihrer Untertanen hineintrei- te gegen die Todesstrafe und für die Lega-
verstecken konnte. Seine Wahrheiten wa- ben wollen. Über das Pendel der Geschich- lisierung von Sterbehilfe und wandte sich
ren Lügen. Er hat Menschen, Freunde, die te, das immer wieder von Demokratie zu mehr und mehr der Parapsychologie zu,
auf ihn vertrauten, verraten und in den Totalitarismus zurückschlägt. Über den einem Gebiet, in das ihm viele seiner An-
Tod geschickt. Das Todesurteil, das ihn Schrecken von Träumen, in dem Moment, hänger nicht mehr folgen wollten.
erwartet, hat er längst über sich selbst in dem sie sich in Wirklichkeit verwandeln. Aber sein Kämpferherz blieb ihm erhal-
gesprochen. Es ist ein Kafka-Roman aus Und das Grauen, niemals mit Sicherheit ten. Als er im Oktober 1956 vom Aufstand
der Wirklichkeit: »Diese klaren Sätze, die zu wissen, was wahr ist, was gut, was rich- in Ungarn erfuhr, rief er noch in der Nacht
er vor fast einem Menschenalter in einer tig und was falsch. Hat er nicht vielleicht einen Freund an, um ihn aufzufordern, ihn
Polemik gegen die ›Gemäßigten‹ geschrie- doch einfach recht? Er, der im Roman nur zu begleiten. Es war halb drei in der Frühe,
ben, enthielten sein eigenes Urteil.« No. 1 genannt wird, der absolute Herr- Koestler berichtete, er habe sich bei einer
Der Tod rückt immer näher. In der Zelle scher in seinem Reich: »Das Grauen, das nahe gelegenen Baustelle ein paar Ziegel-
neben der Hauptfigur Rubaschow ist ein von No. 1 ausging, bestand vor allem darin, steine besorgt, die wolle er jetzt zusam-
Aristokrat, politischer Feind von einst, dass er möglicherweise recht hatte – dass men mit dem Freund in die Fenster der
eingesperrt. Die beiden unterhalten sich alle, die er umbrachte, sich noch mit der ungarischen Gesandtschaft in London wer-
klopfend, mit kurzen Morsesätzen an der Kugel im Nacken sagen mussten, dass er fen. Sofort. Der Freund wiegelt ab, das
Wand. Sie klopfen von Ehre und von ei- möglicherweise recht hatte. Es gab keine bringe nichts, sei der falsche Weg und so
nem falschen Leben. Rubaschow hat sich Gewissheit, nur die Berufung auf das höh- weiter. Er schlägt vor, zu Bett zu gehen
gerade erinnert, dass er als Knabe eigent- nische Orakel, das sie Geschichte nannten und am nächsten Tag einen besseren Plan
lich Astronomie studieren wollte, Koestler und das seinen Urteilsspruch erst sprach, zu ersinnen. Er berichtet: »Es gab eine kur-
fügt hinzu: »Und nun hatte er vierzig Jahre wenn die Kiefern dessen, der fragte, längst ze Stille. Dann brüllte (Koestler): ›Zum
lang etwas anderes getan.« zu Staub zerfallen. Komm, süßer Tod.« Teufel mit deiner Mäßigung!‹ und schlug
Jetzt kommen sie ihn holen. Der Nach- Dass der Schriftsteller Koestler in der den Hörer auf die Gabel.«
bar klopft: »Sie haben noch zehn Minuten. Folge trotz aller Selbstverzweiflung weiter- Kann sein, dass das Orakel der Ge-
Wie ist Ihnen zumute?« Er will ihn ablen- schrieb und weiterkämpfte, ist ein weiteres schichte immer erst später spricht. Manch-
ken, die letzte Zeit vertreiben. Rubaschow Kunststück seines Lebens. Ihm gelang die mal aber muss man einfach Steine werfen.
klopft dankbar zurück: »Ich hätte es gerne Flucht von Frankreich über Portugal nach Manchmal ist die Geschichte egal, und nur
schon hinter mir.« Der Nachbar: »Was England, wo er auch gleich wieder als die Gegenwart zählt.
würden Sie tun, wen man Sie begnadigen feindlicher Ausländer inhaftiert wurde. Auch sein allerletzter Plan ging auf.
würde?« Rubaschow: »Astronomie studie- Dennoch, er wanderte in Land und Spra- Koestler war Vizepräsident der 1980 for-
ren.« Dann kommen sie, und der Nachbar che ein und nahm schon bald den publi- mierten britischen Freitod-Vereinigung
klopft: »Schade. Wir haben gerade so nett zistischen Kampf für die Rettung der Ju- Exit. Er war an Parkinson und Leukämie
geplaudert.« Und schließlich, als die Hand- den Europas auf. Seit 1941 wusste er von erkrankt. Er wollte selbst über sein Leben
schellen angelegt werden: »Ich beneide der Deportation deutscher Juden in Lager und über seinen Tod bestimmen. Am
Sie. Ich beneide Sie. Leben Sie wohl.« in Polen, Ende 1941, Anfang 1942 ent- 1. März 1983 ist er, zusammen mit seiner
Das Buch war eine Erschütterung, als wickelte er einen Rettungsplan für die Ehefrau Cynthia Jefferies, aus dem Leben
es erschien, und ist es heute noch. Es ist Juden in den von Deutschland besetzten geschieden.
eben nicht bloß ein antikommunistisches Gebieten in provisorische Auffanglager

116 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Im Auftrag des SPIEGEL wöchentlich ermittelt vom Fachmagazin »buchreport« (Daten: media control);
nähere Informationen finden Sie online unter: www.spiegel.de/bestseller

Belletristik Sachbuch

1 (1) Robert Seethaler 1 (2) Richard David Precht


Das Feld Hanser Berlin; 22 Euro Jäger, Hirten, Kritiker Goldmann; 20 Euro

2 (2) Frank Schätzing 2 (1) Bas Kast Der Ernährungskompass


Die Tyrannei des Schmetterlings C. Bertelsmann; 20 Euro
Kiepenheuer & Witsch; 26 Euro
3 (3) Christopher Schacht
3 (3) Maxim Leo / Jochen Gutsch Es ist Mit 50 Euro um die Welt adeo; 20 Euro
nur eine Phase, Hase Ullstein; 12 Euro
4 (4) James Comey
4 (4) Maja Lunde Größer als das Amt Droemer; 19,99 Euro
Die Geschichte der Bienen btb; 20 Euro
5 (7) Peter Wohlleben Das geheime
5 (5) Volker Klüpfel / Michael Kobr Leben der Bäume Ludwig; 19,99 Euro
Kluftinger Ullstein; 22 Euro
6 (5) Jaron Lanier Zehn Gründe, warum du
6 (7) Jojo Moyes Mein Herz deine Social Media Accounts sofort
in zwei Welten Wunderlich; 22,95 Euro löschen musst Hoffmann und Campe; 14 Euro
7 (9) Maja Lunde 7 (6) Otto Waalkes
Die Geschichte des Wassers btb; 20 Euro Kleinhirn an alle Heyne; 22 Euro

8 (14) Francesca Melandri 8 (9) Peter Hahne Schluss mit euren


Alle, außer mir Wagenbach; 26 Euro ewigen Mogelpackungen! Lübbe; 10 Euro
9 (6) Donna Leon 9 (18) Franz Keller Vom Einfachen das Beste
Heimliche Versuchung Diogenes; 24 Euro Westend; 24 Euro

10 (12) Mariana Leky Was man von hier 10 (17) Jan Frodeno
aus sehen kann DuMont; 20 Euro Eine Frage
der Leidenschaft
11 (10) Laetitia Colombani Ariston; 20 Euro
Der Zopf S. Fischer; 20 Euro
Der Triathlet erklärt, wie
12 (11) Paluten / Klaas Kern Freedom. man den inneren Schweine-
Die Schmahamas-Verschwörung hund besiegt – nicht
nur beim Ironman auf Hawaii
Community Editions; 12 Euro

13 (8) Bill Clinton / James Patterson 11 (–) Wolfram Eilenberger


The President Is Missing Zeit der Zauberer Klett-Cotta; 25 Euro

Droemer; 22,99 Euro


12 (8) Gerald Hüther
14 (13) Ferdinand von Schirach Würde Knaus; 20 Euro

Strafe Luchterhand; 18 Euro


13 (10) Yuval Noah Harari
15 (15) Daniel Kehlmann Homo Deus C. H. Beck; 24,95 Euro

Tyll Rowohlt; 22,95 Euro


14 (15) Hans Rosling
16 (20) Marc-Uwe Kling Factfulness Ullstein; 24 Euro

QualityLand Ullstein; 18 Euro


15 (16) Rolf Dobelli Die Kunst
17 (18) Lucinda Riley des guten Lebens Piper; 20 Euro

Die Perlenschwester Goldmann; 19,99 Euro


16 (14) Ingo Zamperoni
18 (17) Bernhard Schlink Anderland Ullstein; 18 Euro

Olga Diogenes; 24 Euro


17 (12) Manfred Lütz
19 (16) Bodo Kirchhoff Dämmer und Aufruhr Der Skandal der Skandale Herder; 22 Euro

Frankfurter Verlagsanstalt; 28 Euro


18 (–) Axel Hacke Über den Anstand
20 (–) Lee Child in schwierigen Zeiten und die Frage,
Im Visier wie wir miteinander umgehen
Blanvalet; 20 Euro Kunstmann; 18 Euro

Thriller-Routine für den


19 (11) Thea Dorn
Serienhelden Jack Reacher: deutsch, nicht dumpf Knaus; 24 Euro
Ein Killer versucht, den
französischen Präsidenten 20 (–) Steven Levitsky | Daniel Ziblatt
zu ermorden Wie Demokratien sterben DVA; 22 Euro

117
Kultur

Dann ist es besser, wenn es keinen Streit

Mandala-Literatur gegeben hat in der Nacht zuvor. Klassisch


»he said, she said«. Man kann sich gut
vorstellen, wie er das rekapitulieren
#MeToo Ein Band mit Kurzgeschichten widmet sich der würde: Tollen Abend gehabt, die heiße
Mitarbeiterin hat mit ihm geflirtet, endlich,
weiblichen Perspektive auf Sex und Macht. als sie sich geküsst haben, war sie etwas
Der Leser wird zum Richter. Beobachtungen aus dem Prozess. überrascht, aber egal, ist immer so, spä-
testens als er sie befingert hat, war sie
voll dabei, danach ist sie ausgestiegen, ist

A ls alles noch ganz hektisch war, da-


mals, im vergangenen Winter, als
quasi täglich Urteile gefällt wurden
über Männer und Frauen und wie sie sich
Einverständnis nennt, nicht versucht wur-
de zu beantworten, sondern in ihrer Viel-
schichtigkeit ausgebreitet wurde. Kurz:
einfach gute Literatur. Und literarische
wohl schüchtern. Alles in allem ganz gut
gelaufen.
Das Fehlen der männlichen Perspektive
ist der Witz an allen Geschichten, was
warum verhalten hatten, als von »media- Figuren macht man nicht kaputt, man den Mann oft zur Witzfigur werden lässt:
len Hinrichtungen« und von »Hexenjagd« greift sie nicht an, man findet sie interes- »Ich hasste ihn dafür, dass er nicht merkte,
die Rede war, als vieles durcheinanderging sant oder nicht. Man macht sie weder zu dass ich nicht wollte, was er tat, und be-
und sich ein Graben auftat, den man leicht- Schlampen noch zu Opfern, weder zu schimpfte in Gedanken ihn und sein lä-
fertig »Kampf der Geschlechter« nannte Triebtätern noch zu verleumdeten Un- cherliches Geschlecht, seine lächerliche
und der einen zwang, sich auf die eine schuldigen. Normalerweise. Imitation von geilem Spontansex im Taxi,
oder die andere Seite zu stellen – als also »Bitte ziehen Sie sich also das hier seine lächerliche Performance von einem
das passierte, was man gemeinhin in die- kurz rein, werte Zuschauer und Richter, Mann.«
sem Land eine Debatte nennt, tat sich auf die ich nun darum bitte, in meinem Ge- Baums Geschichte ist allerdings in eine
einmal eine andere Tür auf. Hinter dieser hirn Platz zu nehmen.« Sagt die Erzäh- Rahmenhandlung eingebaut: Die Frau er-
Tür war es schummrig, die Lichtquelle war zählt diese Geschichte einem Publikum,
nicht auszumachen, von irgendwoher ka- wir als Leser wohnen also einer Lesung
men Stimmen, die weder »schrill« noch »Glauben Sie denn, Sie bei. Es gibt Kommentare der Zuhörer
»abwiegelnd« waren, sondern einfach et- und Ihre Opfermentalität (»Glauben Sie denn, Sie und Ihre Opfer-
was weiter weg. Die Luft war ganz klar, mentalität gehen uns nicht auf die Ner-
man konnte gut atmen. Hinter dieser Tür gehen uns ven?«), die natürlich unsere Fragen sind,
wartete nämlich eine Geschichte. Keine, nicht auf die Nerven?« die Fragen der Gesellschaft an eine Frau,
die unter dem solidarischen Hashtag er- die ihre Geschichte erzählt. Als Leser wird
zählt wurde, sondern eine, die in der Zeit- man also zum Richter, wird dazu animiert,
schrift »New Yorker« erschien, unter der lerin in Antonia Baums Geschichte »Set- die Figuren und das, was sie sagen, was
Rubrik »Fiction«. zen Sie sich!«. sie tun und unterlassen, zu hinterfragen
Eine Geschichte also, die ausgedacht Es ist der Anfang einer Reihe von 17 Er- und zu beurteilen. Was in Baums Ge-
war, die im Bereich des Möglichen spielte, zählungen von 17 Schriftstellerinnen. Das schichte noch ein erzählerischer Kniff ist,
die plausibel war und die, wie es heißt, Buch heißt »Sagte sie«, und der Untertitel um die gesamte Dynamik der #MeToo-
einen Nerv traf. Was nicht besonders stellt klar, was einen erwartet: »Erzählun- Debatte als Kurzgeschichte widerzuspie-
schwer war, weil die Nerven blank lagen. gen über Sex und Macht«. Der Titel bezieht geln, wird aber auf die Länge gestreckt zu
In der Geschichte lernt eine Frau einen sich auf die englische Redensart »he said, einer Tortur.
Mann an der Kinokasse kennen, sie flirten, she said«, also »sagte er, sagte sie«, die Si- Denn es gelingt nicht, was im Vorwort
sie gehen aus, der Abend ist weder mise- tuationen bezeichnet, bei denen nicht mehr noch als Vorhaben ausgegeben wird: »die
rabel noch fantastisch, der Sex ist schlecht, als zwei Personen anwesend sind. Und Zukunft des Miteinanders von Männern
sie will eigentlich nicht, lässt es aber ge- wenn solche Situationen im Nachhinein dis- und Frauen« neu auszuhandeln. Stattdes-
schehen, um ihn nicht unangenehm kon- kutiert werden müssen, gibt es eben genau sen gibt es ein einziges großes Gegeneinan-
frontieren zu müssen. zwei Sichtweisen, die sich auch diametral der. Die Figuren sind größtenteils klischee-
Das Interesse an dieser Geschichte war entgegenstehen können. Was dem einen haft, die Männer weinerlich bei Schnupfen,
enorm, in den sozialen Medien wurde sie ganz normal erscheint (der Mann überredet die Frauen nicht solidarisch miteinander.
schnell und vielfach verbreitet, man sprach die Frau zum Sex, komm schon, so hat man Es wird ausbuchstabiert, was selbstver-
mit Freunden darüber, »hast du gelesen«, das schließlich gelernt), ist der anderen, im ständlich ist: Mandala-Literatur, die eine
»ja klar, der Typ ist doch unmöglich!«, »wa- schlimmsten Fall, eine Vergewaltigung. Überzeugung ausmalt. Die lautet, Männer
rum hat sie das gemacht?«. Wenn es das »He said, she said« ist daher zur Chiffre sind Tiere (in Annett Gröschners »Maria
Buch der Stunde gibt, wie häufig gesagt für unentscheidbare Prozesse geworden. im Schnee« wird eine Frau vergewaltigt),
und geschrieben wird, dann war »Cat Per- Nun also 17-mal »sagte sie«, 17-mal ihre oder Männer verstehen Frauen nicht (in
son« die Erzählung der Sekunde. Sie hatte Sicht der Dinge. Julia Wolfs »Dickicht« fühlt sich eine Frau
etwas Erlösendes, weil weder die Frau Zum Beispiel die Sicht der Frau in »Set- von ihrem Mann alleingelassen).
noch der Mann wirklich greifbar wurden zen Sie sich!«. Sie findet ihren Chef ganz Manchmal blitzt etwas auf. Margarita
in ihren Handlungen, weil da viel Spiel- okay, irgendwie auch attraktiv, nach der Iov erzählt von einer Frau, die einen alten
raum war. Weil die Frage, ob es sich um Arbeitsparty geht sie mit ihm noch woan- Freund in Frankreich besucht; eine Ge-
unfreiwilligen oder um schlechten Sex han- dershin, ihr gefallen seine Komplimente, schichte, die derart uneindeutig ist, so be-
delt und wo die Grenze zwischen beidem dann sitzen sie im Taxi, und er küsst sie, ängstigend und verführerisch zugleich,
ist – die Frage also nach dem, was man fasst sie an. Ihr gefällt das nicht. Sie wehrt dass man, am Ende angekommen, gleich
sich nicht, lässt es über sich ergehen, weil wieder von vorn anfangen will. Mercedes
Lina Muzur (Hg.): »Sagte sie. 17 Erzählungen über Sex
sie schon die Situation des Wiedersehens Lauenstein schreibt einen Dialog zwischen
und Macht«. Hanser Berlin; 224 Seiten; 20 Euro. Er- antizipiert, wenn man sich im Büro gegen- zwei Freundinnen, er ist »Die Wahrheit«
scheint am 23. Juli. übersitzt, er Chef, sie nicht. betitelt und deutet damit schon auf seinen

118
ROY LICHTENSTEIN 'UNTITLED', 1963 / © ESTATE OF ROY LICHTENSTEIN NEW YORK / VG BILD-KUNST, BONN 2018 CLICHÉ : BANQUE D'IMAGES DE L'ADAGP
Roy-Lichtenstein-Werk »Untitled (Pair)«, 1963: »Das Phantastische, das Schönste und Schrecklichste durch die Macht der eigenen Gedanken«

doppelten Boden hin. Und Fatma Aydemir, werde, sich auch tatsächlich so zugetragen In der Geschichte »Die kurze Zeit der
mit der die Anthologie schließt, behandelt habe. Wichtig sei nur, dass es sich so zuge- Magischen Logik« charakterisiert die Au-
ihre Figuren nicht wie eine Schachspiele- tragen haben könnte. torin Kristine Bilkau jene Phase im Leben
rin, sondern schafft es, ihnen Leben ein- Ein klassischer Realismus also, und dass von Jungen und Mädchen, in der noch
zuhauchen. Dass die Protagonistin Elif man so einen Disclaimer vorwegschieben vieles offen und nichts geklärt ist: »Für sie
missbraucht wurde und sich deshalb so muss, in dem man eigentlich Selbstver- ist alles möglich, das Phantastische, das
verhält, wie sie es tut, ist wichtig für die ständliches erklärt, sagt viel über die Lite- Schönste und Schrecklichste, und zwar nur
Geschichte, aber eben keineswegs alles. ratur und die Gesellschaft aus, die sich durch die Macht der eigenen Gedanken
Da ist noch viel mehr. Hier entsteht Raum mehr und mehr nach »echten«, »authenti- und Handlungen.« Ist das nicht genau das
zum Denken, Raum für Ambivalenzen, schen« oder »wahren« Geschichten sehnt Versprechen der Literatur? Hinter die Tür
Energie für ein offenes Gespräch. und sich offenbar schwertut mit Ambiva- zu treten und den Möglichkeitsraum zu er-
Im Vorwort schreibt die Herausgeberin lenzen. Viel wird dafür getan, eine litera- kunden? Vielleicht findet man dort den
Lina Muzur, dass es sich bei den Texten rische Mauer zu bauen, während gleich- anderen, der auch im Dunkeln tappt.
»wohlgemerkt um Literatur« handle und zeitig alles dafür getan werden soll, diese Xaver von Cranach
es »irrelevant« sei, ob das, was erzählt Mauer wieder einzureißen.

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 119


Kultur

Das große »Aha«


Debüt Katharina Adler erzählt in ihrem Roman »Ida« die Geschichte ihrer Urgroßmutter. Sigmund
Freud spielt dabei eine Rolle, aber viel mehr geht es um weibliche Courage. Von Claudia Voigt

S
echsmal die Woche ging sie durch geschichten, die Freud ausführlich be- ist überliefert, nach dem sie eine der »ab-
den Eingang in der Berggasse 19. schrieb, sie sollte seine Behauptungen zur scheulichsten Hysterikerinnen« gewesen
Zehn Steinstufen hinauf, wieder Hysterie erhärten. Die junge Patientin litt sein soll. Andere betrachteten sie als star-
eine schwere Tür aus dunklem unter nervösem Husten und Stimmlosig- ke, unabhängige Frau, die es wagte, die
Holz, klingeln, warten. Manchmal öffnete keit. Freud, der damals noch Doktor und Analyse bei Freud gegen dessen Willen
Sigmund Freud ihr persönlich. Sie legte nicht Professor war, wollte sie ein Jahr abzubrechen. »Diese gegensätzlichen Ein-
sich auf den Diwan, wunderte sich über lang behandeln. Doch »Dora« brach die schätzungen haben mich neugierig ge-
die seltsamen Methoden des Arztes, aber Therapie aus eigenem Willen nach elf Wo- macht«, sagt Adler.
sie stand ihm Rede und Antwort, Ihr Roman trägt den schlichten Ti-
denn ihr Vater wollte es so. Sie war tel »Ida«, und bei der Lektüre wird
gerade mal 18 Jahre alt, in seinen schnell deutlich, dass die drei Mona-
Schriften hat Freud ihr später den te, in denen Ida Bauer sechsmal die
Namen »Dora« gegeben. Woche zu Freud ging, wirklich nur

ABDRUCK ERFOLGT MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON KURT ADLERS WITWE NANCY ADLER-MONTGOMERY
Es ist ein heller Sommertag in eine Episode im Leben dieser Frau
Wien; die Touristen, die sich im küh- waren.
len Treppenhaus des Freud-Hauses Der Roman setzt 1941 in New
drängen, um die Wohnung des Er- York ein; Ida Bauer ist 58 Jahre alt
finders der Psychoanalyse zu besich- und kommt als jüdische Emigrantin
tigen, sprechen neben Deutsch auch mit einem einzigen Koffer auf Ellis
Spanisch, Englisch, Französisch oder Island an. In der Menge am Fuß der
Japanisch. Freuds Popularität hält Gangway erwartet sie ein fremder
fast 80 Jahre nach seinem Tod an. Mann, ihr Sohn Kurt hat ihn ge-
Die Schlange der Wartenden reicht schickt, der Mann hält ein Schild mit
zwei Treppen hinunter. ihrem Namen in der Hand. »Wer
Die Schriftstellerin Katharina Ad- sind Sie genau, wenn ich fragen
ler verzieht ihr Gesicht zu einem lus- darf? Ein Freund, aha.«
tigen Ausdruck des Erstaunens, gro- Katharina Adler wollte aus der
ße Augen, offener Mund, so voll hat Perspektive Idas erzählen. Sie woll-
sie es hier bei keinem ihrer Besuche te »einer Frau, die an Stimmlosigkeit
in den vergangenen Jahren erlebt. gelitten hat, eine Stimme verleihen«.
Und sie war oft hier, denn sie hat Dieser Satz sei früh da gewesen, sagt
einen anschauungsreichen Roman die Autorin. Deshalb habe sie sich
über Freuds berühmt gewordene Pa- auch für die Form des Romans ent-
tientin »Dora« geschrieben. schieden.
Von den Touristen schenkt nie- »Ida« ist ihr Debüt. Zehn Jahre
mand der Tür im Hochparterre lang habe das Projekt in ihrem Kopf
Beachtung. In der Wohnung, die herumgespukt, ihr sei immer klar
dahinterliegt – etwas dunkler und Ehemalige Freud-Patientin Adler, Sohn Kurt 1916 gewesen, sagt sie, was für ein großer
verwinkelter als jene berühmte im Paradefall einer Hysterikerin Stoff das Leben ihrer Urgroßmutter
ersten Stock, in die Freud umzog, sei, doch sie zögerte, sich daran-
als sein Erfolg zunahm und er es sich leis- chen ab. Es war das Jahr 1900, der Bart zuwagen. Stattdessen schrieb sie Theater-
ten konnte, die Praxisräume neben seiner des Arztes war noch braun und nicht grau. stücke, Drehbücher und kürzere Texte.
Wohnung anzumieten –, haben die Be- Es war nicht absehbar, welchen Ruhm »Dann kam ich an den Punkt, an dem es
handlungsstunden von »Dora« stattgefun- Freud einst erlangen würde, als die junge mir nicht mehr möglich war, etwas anderes
den. Katharina Adler, 38, steht vor einer Frau den Zigarre rauchenden Mann in der zu schreiben.« Sie hat recherchiert und ge-
weißen Wand, schräg über ihrem Kopf ist Berggasse aufsuchte. Ida Bauer, so hieß schrieben, beides gleichzeitig, dabei geriet
als Teil einer Kunstinstallation das Wort die Patientin tatsächlich, gilt durch Freuds sie in einen Erzählfluss, der den Leser ihres
»Aha« zu lesen. Sie ist die Urenkelin von Schriften bis heute als Paradefall einer Romans von Anfang an mitnimmt.
»Dora«, und hier, in dem Raum mit dem Hysterikerin. Die Bauers sind eine großbürgerliche
»Aha«, hat ihre Urgroßmutter auf dem »Freud hat die Deutungshoheit über die Familie, der Vater besitzt größere Manu-
Diwan gelegen. Geschichte meiner Urgroßmutter über- fakturen. Doch er ist auch ein kränklicher
Der Fall »Dora« spielt eine entscheiden- nommen«, sagt Katharina Adler. »Ihr Fall Mann. Ida ist gerade zehn Jahre alt, als sie
de Rolle bei der Entwicklung der Psycho- ist vielfach kommentiert und auch instru- ihn über Wochen pflegen muss, während
analyse. Es war eine der ersten Kranken- mentalisiert worden, weil Freud über sie ihr Bruder Otto die Schule besuchen und
geschrieben hat.« Dabei galt Ida Bauer studieren darf. Weil es der Gesundheit
Katharina Adler: »Ida«. Rowohlt; 512 Seiten; 25 Euro. mal als Opfer, mal als Heldin. Doch immer des Vaters zuträglich ist, lebt die Familie
Erscheint am 24. Juli. blieb sie die Patientin. Ein anonymes Zitat in Meran. Es sind die letzten Jahre des

120
sie macht sich frei und stürmt aus dem
Laden.
So wie Katharina Adler sie entwirft, hat
sie schon als Mädchen einen eigenen Kopf.
Die Vorschriften, Übergriffe und Deutun-
gen der Männer um sie herum engen sie
ein. Ihr Charakter entspricht nicht den
Erwartungen der Zeit an eine junge Frau.
Doch die Ida in diesem Roman bleibt
wehrhaft. Sie lässt die Zellenkas hinter
sich, sie lässt Freud hinter sich. Da ist sie
gerade 18, ihr Leben beginnt erst.
Adler gibt den Jahren nach den Besu-
chen in der Berggasse viel Raum. Mit ih-
rem Mann Ernst führt Ida, die nun Ida Ad-
ler heißt, vor dem Ersten Weltkrieg einen
Salon in Wien, doch der Tod ihres Vaters,
der Krieg bedeuten das Ende des luxuriö-
sen Lebens. Sie wird Bridgelehrerin, um
etwas hinzuzuverdienen. Der zweite große
Bruch kommt mit dem sogenannten An-
schluss Österreichs an Nazideutschland;
als Jüdin wird sie von der Wiener Gesell-
schaft erst geschnitten, dann muss sie flie-
hen. Mit viel Glück gelangt sie nach New
York, ihr Sohn war schon zuvor emigriert
und hatte an der Oper von Chicago eine
Anstellung gefunden. Ihr Entkommen und
ihre Ankunft in den USA stimmen Ida
aber keineswegs friedlich. In ihren letzten
Lebensjahren schimpft sie über die neue
Frau des Sohnes, wirklich recht machen
kann es ihr niemand. Die anonyme Ein-
schätzung, sie sei eine der »abscheulichs-
ten Hysterikerinnen« gewesen, stammt
aus dieser Zeit – in der die Tochter eines
Manufakturbesitzers ihr Geld als Kranken-
schwester und Fabrikarbeiterin in einem
fremden Land verdienen muss.
Katharina Adler erzählt das Leben ihrer
NATHAN MURRELL / DER SPIEGEL

Urgroßmutter nicht chronologisch. Früh


macht sie den Leser vertraut mit der er-
wachsenen Ida, Erzählungen aus den spä-
teren Jahren ergänzen das Bild des jungen
Mädchens. Die Vielschichtigkeit dieser
eigenwilligen Frau rückt so in den Mittel-
punkt des Romans. Sie erscheint als zu
Schriftstellerin Adler im Flur von Freuds ehemaliger Praxis: »Eine große Lücke« quecksilbrig und auch geistig zu rege für
ihre Zeit. Wäre sie hundert Jahre später
geboren worden – ein Jahrhundert, in dem
19. Jahrhunderts; man ist befreundet mit »Im Laden« heißt das Kapitel bei Adler. sich für Frauen vieles verbessert hat –, hät-
einer Kaufmannsfamilie Zellenka, Idas Va- Es beschreibt einen sonnigen, aber kühlen ten ihr die gleichen Möglichkeiten offen-
ter ist der Frau der Familie namens Pepina Tag im Juni, Fronleichnam. Ida sucht den gestanden wie ihrem berühmten Bruder
besonders zugetan. Stoffladen der Zellenkas auf, um von dort Otto Bauer.
Noch in Meran kommt es dann zu je- die Feiertagsprozession zu beobachten. Nach ihm ist heute in Wien eine Straße
nem Zwischenfall, der später im Mittel- Sie nimmt an, dass auch Hanns’ Frau Pe- benannt, die Otto-Bauer-Gasse im 6. Be-
punkt von Freuds Analyse stehen wird: pina da sein wird sowie die Kinder. Doch zirk. Er war ein österreichischer Sozial-
Hanns Zellenka erzwingt von der 13-jäh- der Mann ist allein im Laden. »Er öffnete demokrat, politischer Theoretiker und ab
rigen Ida einen Kuss. Bei Freud heißt die Holzklappe der Theke und kam auf November 1918 für kurze Zeit Außen-
Hanns Zellenka Herr K., und Ida ist in sei- sie zu, drückte ihre Schulter zur Begrü- minister von Deutschösterreich, wie das
nen Aufzeichnungen 14 Jahre alt. Doch ßung. Das Rasierwasser, das sie an ihm Land nach dem Ersten Weltkrieg vorüber-
Katharina Adler ist sich nach ihren Recher- roch, und den kalten Zigarettenrauch in gehend hieß.
chen fast sicher, dass Freud ihre Urgroß- seinen Kleidern mochte sie nicht. Sie trat »Er war die strahlende Figur in unserer
mutter ein Jahr älter gemacht hat, damit einen Schritt zurück, sah sich noch mal Familie«, sagt Katharina Adler. »Wenn bei
der Übergriff von Herrn K. nicht nachträg- um.« Als er sie an den Hüften zu sich zieht uns über die Vergangenheit geredet wurde,
lich noch strafbar gewesen wäre. Auch und ihr mit »harten, feuchten Lippen« hieß es, ja, ja, die Ida war ja bei Freud, die
Freud war ein Literat. einen Kuss aufdrückt, wehrt sich Ida, ist ja der ›Fall Dora‹, aber der Otto, was

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 121


JETZT IM HANDEL:
hat der für ein unglaubliches Werk hin-

BESSER BRAINSTORMEN terlassen, und wie tragisch ist es, dass er


vertrieben wurde.« Die Gesamtausgabe
seiner Schriften, in Orange gebunden,
leuchtete sichtbar aus dem Bücherregal
ihrer Eltern. Von der Existenz Idas erfuhr
die Autorin erst, als sie schon ein Teenager
war. An den genauen Zeitpunkt erinnert
sie sich nicht; es sei keine Kind-setz-dich-
mal-wir-müssen-dir-was-sagen-Situation
gewesen, es wurde halt so nebenbei er-
wähnt, dass Otto Bauer auch eine Schwes-
ter hatte. »Ida war die große Lücke in un-
serer Familiengeschichte«, sagt Adler.
Idas Sohn Kurt, der nach Kriegsende in
den USA blieb und fast 30 Jahre lang die
Oper in San Francisco leitete, hat so gut
wie nie über seine Mutter gesprochen. Erst
der Anruf eines britischen Psychoanalyti-
kers setzte wiederum Kurts Sohn – Katha-
rina Adlers Vater – zufällig davon in Kennt-
nis, dass der »Fall Dora« eine Geschichte
aus seiner Familie erzählt. Das war Ende
der Siebzigerjahre, Adlers Vater war da-
mals längst erwachsen. Er hatte Freuds
»Bruchstück einer Hysterieanalyse« auf
dem College gelesen, doch ohne den Anruf
harvardbusinessmanager.de

hätte er den Text niemals mit seiner Groß-


mutter in Verbindung gebracht.
Die Schriftstellerin kann nur darüber
spekulieren, warum die Erinnerung an ihre
Urgroßmutter in ihrer Familie so vernach-
lässigt wurde. Scham mag eine Rolle ge-
spielt haben und dass Ida als Tochter, Pa-
tientin, Ehefrau, Mutter, Bridgelehrerin,
Emigrantin, Fabrikarbeiterin nichts hinter-
lassen hat, das etwas gegolten hätte.
Weitere Themen: Vom Freud-Haus zur Otto-Bauer-Gasse
sind es zehn Minuten mit dem Taxi. Vor
Kurzem hat in dieser Straße ein Otto-Bau-
DIGITALISIERUNG er-Café eröffnet, und an der Ecke zur Gum-
pendorfer Straße steht noch das Haus, in
Marketing im Zeitalter von Alexa & Co. dem der Sozialdemokrat einst wohnte. Ein
großes Gemälde, das seine Schwester zeig-
te, hing in der Diele dieser Wohnung. Auch
CHEFSACHE dieses Detail erzählt Adler in ihrem Roman
»Ida« und dass sich die Geschwister zeit
Wie Sipgate erfolgreich agiles Management lebt ihres Lebens nah waren, Briefe belegen das.
Katharina Adler ist in Wien eine Tou-
ristin, nicht anders als die Wartenden im
SELBSTMANAGEMENT Freud-Haus. Sie wuchs in München auf,
studierte am Literaturinstitut in Leipzig,
So bitten Sie andere richtig um Hilfe kehrte dann nach München zurück. Ein
großer Teil ihrer Familie lebt nach wie vor
in den USA. Vielleicht brauchte es Ab-
stand, den räumlichen und den zeitlichen
von drei Generationen, um das Leben Ida
Bauers in den Blick zu nehmen. Vielleicht
brauchte es auch die Neugier einer weib-
lichen Verwandten, um sich für die Stimm-
losigkeit der jungen Frau zu interessieren.
Der Roman »Ida« jedenfalls schließt eine
Lücke – nicht nur in der Familie der
Schriftstellerin. Wo steht geschrieben, dass
Sigmund Freud das letzte Wort haben
muss?

122 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Kultur

der Wiener Juden begannen, versteckte er Mutter und Toch-

Verbürgtes ter in seiner Werkstatt und versorgte sie vier Jahre lang bis
zum Ende des Krieges, Lucias Vater überlebte in Australien.
Hackl hat die alte Dame gründlich befragt, auch Duschkas

Knieschlottern Nachfahren erzählten ihm manches Detail. Und doch blieben


viele Lücken, die der Autor nicht einfach ausschmücken wollte,
jedenfalls nicht ohne darauf hinzuweisen, dass er hier nur ei-
nen von vielen möglichen Verläufen dieser Geschichte erzähle.
Buchkritik In seiner Erzählung »Am Seil« So mussten Regina und Lucia gegen Ende des Kriegs in
erinnert Erich Hackl an einen Wiener Duschkas Gartenhaus flüchten, weil die Werkstatt aus-
Judenretter – ein Lob der Zivilcourage. gebombt worden war. Die beiden gerieten an eine Straßen-
sperre; was damals genau geschah, weiß Lucia heute nicht
mehr. Hackl schildert einen scharfen Wortwechsel zwischen
um Glück war der Kletterer angeseilt, als er ausrutschte Lucias Mutter und dem Kontrollposten, fügt dann aber so-
Z und über eine Felskante in die Tiefe stürzte. Sofort ver-
suchte sein Bergkamerad, das Seil zu halten, doch es
spulte sich rasend schnell ab. »Bis es ihm gelang, den Sturz
gleich hinzu: »Reginas beherzte Widerrede ist ebenso erfun-
den wie sein barscher Ton.« Verbürgt sei nur »das Knie-
schlottern, das so heftig war, dass sich beide, sie und
zu stoppen«, so berichtet der Wiener Autor Erich Hackl, »hat- Regina … hinter der Sperre erst einmal auf eine Bank oder
te er sich beide Handteller verbrannt.« Böschung setzen mussten«.
Der Retter, Reinhold Duschka, zog sich mit dieser Aktion Hackl reflektiert stets die Grenzen zwischen Erinnerung
eine lebensgefährliche Blutvergiftung zu. Hackl erzählt und Fiktion, er verwischt sie nicht, seine Erzählung strebt
dessen Bergabenteuer jedoch nur nach Ehrlichkeit, nach Authentizi-
beiläufig in seiner neuen Erzählung tät. Nur der Titel »Am Seil« beruht
»Am Seil« – gewissermaßen zur Er- auf einer Mutmaßung, nämlich auf
läuterung und als Metapher einer der Annahme, dass es eine Analo-
ganz anderen, viel größeren Hel- gie gegeben haben könnte zwi-
dentat: Duschka rettete während schen dem Einsatz des Bergsteigers
des Zweiten Weltkriegs eine Jüdin Duschka für seinen Bergkamera-
und ihre Tochter vor dem Zugriff den und dem für die Familie des
der Nazis. Freundes. Hackl zitiert Duschkas
Warum er das machte, warum Enkel mit der Bemerkung, dass
er sich so mutig und entschlossen Duschka »es als Bergsteiger ge-
der Gefahr aussetzte, diese Frage wohnt war, auf andere angewiesen
wird im Subtext des neuen Hackl- und für sie verantwortlich zu sein«.
Buches immer wieder gestellt. Klar Bis heute können die Historiker
oder eindeutig kann sie bis zum nicht erklären, wie es den Nazis ge-
Schluss nicht beantwortet werden. lungen ist, die Menschen in weni-
»Am Seil« liest sich wie ein span- gen Jahren so zu radikalisieren und
nender Indizienprozess zur Aufklä- ihren humanen Traditionen zu ent-
rung eines Falls von Zivilcourage. fremden. Zivilcourage zeigten nur
PRIVATBESITZ FAMILIE JANOUS

Hackl, 64, gilt seit Langem als wenige, und wenn, dann meist nicht
Experte für die literarische Auf- aus politischen Gründen. Von Rein-
arbeitung dramatischer Ereignisse. hold Duschka ist jedenfalls kein
Wie ein Journalist rekonstruiert er systemkritisches Wort überliefert,
die Fakten, wie ein Schriftsteller aber vielleicht gehörte auch das zu
erzählt er dann die Geschichte, in seiner Tarnung und zu den Grün-
einer klaren, makellosen Sprache. den des Erfolgs seiner Hilfsaktion.
In seiner Erzählung »Abschied von Alpinist Duschka um 1960 Er galt als großer Schweiger, als
Sidonie« etwa beschrieb er das Großer Schweiger Freund der Kinder und Frauen.
Schicksal eines Roma-Mädchens, Hackl hat sein Buch mit dem
das seinen Pflegeeltern entrissen und nach Auschwitz in den Untertitel »Eine Heldengeschichte« versehen. Aber was
Tod geschickt wurde. In »Sara und Simón« berichtete er von überhaupt ist ein Held? Ein Mensch, der unter Inkaufnahme
der Suche einer Frau nach ihrem Sohn, der während der Mi- eines gewissen Risikos Gutes tut, ohne dabei leichtsinnig
litärdiktatur in Argentinien verschleppt und mit einer neuen zu werden?
Identität versehen worden war. Mit dieser Definition wäre Duschka wohl zu beschreiben.
Nun also die Geschichte von Reinhold Duschka, oder bes- Als er Mitte der Sechzigerjahre von der Gedenkstätte Yad
ser: die Geschichte von Regina, der Wiener Jüdin, und ihrer Vashem als »Gerechter unter den Völkern« ausgezeichnet
Tochter Lucia, die von Duschka gerettet wurden. Der Fall werden sollte, weigerte er sich zunächst, weil er – wie Hackl
selbst ist in Wien bekannt, seit ihn die bald 89-jährige Lucia schreibt – »einen Rückgang seines Kundenstocks befürchtet
Heilman 2013 in der Burgtheater-Inszenierung »Die letzten habe«. Erst 1991, mit 91 Jahren, nahm er die Ehrung in
Zeugen« erzählt hat. Duschka war ein Freund und Berg- Empfang, also zu einem Zeitpunkt, als sein geschäftlicher
kamerad des Vaters von Lucia gewesen und verdiente sein Geld Erfolg keine Rolle mehr spielte. Duschka verhielt sich damit
mit der Anfertigung von Vasen und anderen Gefäßen aus so pragmatisch wie immer: Eine mahnende Erinnerung an
Kupfer, Messing und Zinn. Als die Nazis mit der Deportation den Antisemitismus seiner Landsleute wäre im Nachkriegs-
österreich zwar nicht so lebensgefährlich gewesen, wie es
Erich Hackl: »Am Seil. Eine Heldengeschichte«. Diogenes; 128 Seiten; 20 Euro. der offene Widerstand gegen die Nazis gewesen war. Doch
Erscheint am 25. Juli. immerhin schädlich. Martin Doerry

123
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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Christine Nöstlinger, 81
Nachrufe Als die Kinderbuchautorin
selbst noch ein Kind war,
Bücher wie »Wir pfeifen auf
den Gurkenkönig« verehrt.
Sie beschrieb ihren Stil mit
liebte sie die Farbe Rot. den Worten: »Ich hüte mich
Doch alles, was sie bekam, vor Rührseligkeit.« Chris-
so erzählte sie in einem tine Nöstlinger starb, wie
Interview, sei braun, grau erst jetzt bekannt wurde, am
oder schwarz gewesen. Es 28. Juni in Wien. CLV
waren die späten Dreißiger-,
die frühen Vierzigerjahre, Erardo Cristoforo
die Nazizeit. Christine Nöst- Rautenberg, 65
linger wurde in einer Fami- Die schönen Vornamen hat-
lie von Antifaschisten groß, te er aus Argentinien. Dort
gut ging es ihr damit nicht. wurde er geboren, als Sohn

SIPA PRESS / ACTION PRESS


Ihr Vater, den sie bis ins deutschstämmiger Eltern,
hohe Alter verehrte, musste die 1954 in die Bundesrepu-
als Soldat nach Russland, blik zogen. In Northeim
mit ihrer Mutter und ihrer machte er Abitur. E. C. Rau-
Großmutter hatte sie viele tenberg wurde 1996 Gene-
Reibereien. Sie lebten in ralstaatsanwalt des Landes
einem Arbeiterviertel von Brandenburg und blieb es
Nancy Sinatra, 101 Wien, als eine von wenigen 22 Jahre lang. Er war nicht
Nanicia »Nancy« Rose Barbato war 17 Jahre alt, als sie die aus ihrer Nachbarschaft nur Spitzenbeamter, son-
Liebe ihres Lebens traf. Er hieß Frank, stammte wie sie aus kam Nöstlinger aufs Gym- dern auch Staatsbürger im
einer amerikanisch-italienischen Familie und wollte Sänger nasium und verlor ihre besten Sinne. Er engagierte
werden. Knapp fünf Jahre später, 1939, heirateten sie. Die Freundinnen. Nicht dorthin sich dafür, Jugendliche für
seidenen Fliegen, die Mrs Sinatra ihrem Mann für seine zu passen, wo man sich die liberale Demokratie
Auftritte nähte, rissen ihm bald hysterische Fans vom Hals. zugehörig fühlen sollte, und zu gewinnen und vor dem
Nancy und er zogen nach Los Angeles, das dritte Kind kam unerfüllte Wünsche mit Rechtsextremismus zu be-
zur Welt. Eigentlich hätte alles so schön sein können. sich herumzutragen, diese wahren. Als er im SPIEGEL
»Leider ist meine Ehe mit Frank sehr unglücklich, fast un- eine Geschichte über Carl
erträglich geworden«, sagte Mrs Sinatra 1950 in einem Schurz las, nahm er den
ihrer seltenen Statements. Ein Jahr später willigte sie in die letzten Satz sehr ernst. Dort
Scheidung ein. Mr Sinatra heiratete kurz darauf den Holly- hieß es, Schurz und anderen

PAUL SCHIRNHOFER / AGENTUR FOCUS


woodstar Ava Gardner. Weitere spektakuläre Verlobungen Forty-Eighters sollte ein
(Lauren Bacall) und Hochzeiten (Mia Farrow) folgten. Denkmal gebaut werden.
Insgesamt war »Ol’ Blue Eyes« viermal verheiratet. Nancy Sie waren Revolutionäre
hingegen blieb allein. An Sinatra, so gab sie einmal zu von 1848/49, die danach in
verstehen, komme niemand heran. Die Verbindung der die USA auswanderten.
beiden hielt bis zu seinem Tod 1998; es wurde gemutmaßt, Schurz wurde später dort
dass sie sich nach der Scheidung öfter sahen als zuvor. Innenminister. Rautenberg
Nancy erhielt Anteile an Sinatras Einkünften und konnte fand auch, dass diese Män-
sich Familie, Freunden und Wohltätigkeitsarbeit widmen. ner ein Denkmal verdient
Gemeinsam kümmerten sie sich um die Kinder, feierten Grundstimmung spricht aus haben, und startete eine
Familienfeste, und sie instruierte seinen Butler, wie Frank allen Büchern Nöstlingers. Kampagne. 2017 trat
sein Steak mochte. Bis kurz vor ihrem 100. Lebensjahr Ihr erstes, »Die feuerrote er für die SPD bei der Bun-
empfing sie jeden Sonntag ihre Kinder und Enkel und koch- Friederike«, hatte sie destagswahl an, scheiterte
te für alle. Nancy Sinatra starb am 13. Juli. KS geschrieben, um der Tris- aber, auch weil er wegen
tesse des Hausfrauen- und einer schweren Krankheit
Mutterdaseins zu entkom- kaum noch Wahlkampf
William McBride, 91 men; ihrer Heldin dichtete machen konnte. E. C. Rau-
Er wurde als Held gefeiert, weil er als einer der Ersten sie Zauberhaare in ihrer tenberg starb in der Nacht
den Wirkstoff Thalidomid als gefährlich identifizierte. In Lieblingsfarbe an. Schon zum 17. Juli. DK
Deutschland hieß die Katastrophe Contergan-Skandal. hier betörte der störrische
Das Medikament wurde Schwangeren empfohlen; bis es Unterton, der ihre Literatur
vom internationalen Markt genommen wurde, kamen Tau- auszeichnen sollte. Er pass-
sende schwerbehinderte Babys zur Welt. Der Australier te perfekt zur antiautori-
arbeitete als Gynäkologe in Sydney, als innerhalb kurzer tären Erziehung der frühen
Zeit mehrere missgebildete Babys geboren wurden, deren Siebzigerjahre. Darüber
Müttern er das Mittel verabreicht hatte. Er schlug Alarm. hinaus konnte Nöstlinger
RALF HIRSCHBERGER / DPA

Nach dem Ruhm, dem Geld, der Anerkennung kam der tie- die Stärke in menschlichen
fe Fall: 1993 gab McBride zu, Forschungsergebnisse mani- Schwächen erkennen und
puliert zu haben. Wieder ging es um ein Mittel für Schwan- war völlig unkorrumpierbar
gere. Für mehrere Jahre verlor er seine Approbation; er durch Erfolg. Vielleicht
war überzeugt, Opfer der internationalen Pharmaindustrie stellte er sich genau deshalb
zu sein. William McBride starb am 27. Juni. KS ein. Bis heute werden ihre

DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038 125


Personalien

Ehre in XXL
● Übergroße Helden wollen übergroß ge-
feiert werden. So schmückte lange Zeit ein
Riesenbild des französischen Fußballidols
Zinédine Zidane eine Hausfassade in der
Hafenstadt Marseille. Gleiches widerfährt
nun dem neuen französischen Superstar der
Fußballweltmeisterschaft: Kylian Mbappé,
19. Die Ehrung verlief allerdings nicht ohne
Hindernisse und Streitereien: Bereits wäh-
rend der WM hing in Mbappés Geburtsstadt
Bondy – mehr oder weniger beachtet – ein
Riesenbild des jungen Sportlers an der Fas-
sade eines zehnstöckigen Sozialwohnungs-
baus nahe einer Autobahn. Als das Bild vor
dem Finale von einer Werbung für den Bau-
markt Castorama ersetzt wurde, bestürzte
das nicht nur eingefleischte Fußballfans.
Viele Bürger von Bondy, einem für Krimina-
lität und hohe Arbeitslosigkeit berüchtigten
Vorort von Paris, forderten lautstark ihr
Mbappé-Bild zurück. In den sozialen Netz-
werken protestierten sie gegen den Baumarkt,
dieser beugte sich dem Druck und erklärte
den vorläufigen Verzicht auf sein Werbepla-
kat. Ab Donnerstag hängt wieder ein Bild

YARD
mit Kylian Mbappé an der Hausfassade. PET

Alles nur Kulisse Meryl Streep, heute 69, Studio. Die griechische Insel gezogen, irgendwie fühlten
spätestens vor zehn Jahren. Skopelos, auf der sie mit sie sich mitverantwortlich für
● Dass sie nicht nur eine Nicht zuletzt dank ihres ihren Kollegen Pierce Bros- den Erfolg des Films – und
prägnante Charakterdarstelle- Mitwirkens war das Filmmusi- nan, Colin Firth, Amanda am Dreh verdient haben auch
rin ist, sondern auch fürs ganz cal »Mamma Mia!« 2008 ein Seyfried und anderen wäh- viele. Kitschige Abba-Sou-
leichte Fach taugt, bewies großer kommerzieller Erfolg. rend der Dreharbeiten zum venirs oder Dancing-Queen-
In der Werbung für die Fort- ersten Teil damals offenbar Cocktails hätten aber nie
setzung »Mamma Mia! Here viel Spaß hatte, ist ohnehin zur Debatte gestanden, sagt
We Go Again« kam Streep aus dem Spiel. Die Geschich- eine Hotelbetreiberin, die
wieder als Zugpferd zum Ein- te spielt zwar am selben fik- Leute seien wegen der unver-
satz. Tatsächlich taucht sie tiven Ort, gedreht wurde je- dorbenen Schönheit der Insel
aber nur mit drei Gesangsein- doch dieses Mal in Kroatien, gekommen, die der Film
lagen auf, am Ende des Films, auf der ebenfalls malerischen gezeigt habe. Ein Mann habe
20TH CENTURY FOX

der seit Donnerstag in den Insel Vis. Die Bewohner von mal ein Mamma-Mia-Café
Kinos läuft. Es handelt sich Skopelos sind traurig. Als die aufgemacht, nach nur einem
um Innenaufnahmen, Streep Mamma-Mia-Insel hatte ihre Jahr musste er es wieder
absolvierte ihre Auftritte im Heimat einige Besucher an- schließen. KS

126 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


KGB im Kino Ferrell eine Komödie über
Reagans beginnende Alzhei-
● Als er das höchste Amt mer-Erkrankung drehen. Der
antrat, hielten ihn viele für Quaid-Film will Reagan nun
unberechenbar und gefähr- Gerechtigkeit widerfahren
lich. Heute gilt er als einer lassen und auch seinen Bei-
der größten Präsidenten der trag zum Fall der Berliner
USA – zumal Donald Trump Mauer würdigen. Das Dreh-
Tag für Tag zeigt, was ein buch von »Reagan«, wie das
echter Querschläger ist. Projekt schlicht betitelt ist,

JENS SCHWARZ / DER SPIEGEL


Ronald Reagan, 2004 ver- basiert angeblich auf Inter-
storben, wird nun Held eines views mit über 50 Zeitzeu-
Kinofilms, der ab Herbst gen, politischen Weggefähr-
gedreht werden soll. Dennis ten und Reagans Leibarzt.
Quaid, 64, der schon mehr- Pikanterweise soll der Film
fach amerikanische National- aus der Sicht eines KGB-
helden wie zum Beispiel Sam Agenten erzählt werden.
Houston gespielt hat, soll ihn Auch im Kino kommt ame- Der Augenzeuge
verkörpern. Schon zu Leb- rikanische Politik ohne den
zeiten Reagans gab es Versu-
che, seine Vita zu verfilmen.
Hollywood hatte ein ge-
russischen Geheimdienst
offenbar nicht aus. LOB »Druck am Berg«
spanntes Verhältnis zu dem Nicolas Gareis, 29, beim Deutschen Alpenverein
Präsidenten, der Schauspie- (DAV) in München für die Mountainbiker zuständig,
DOUG PETERS / INTERTOPICS

ler gewesen war, bevor er in über den Platzkampf von Radfahrern und Wanderern:
die Politik wechselte. Der
WHITE HOUSE / DPA

konservative Republikaner
war für viele Filmschaffende ● »Mountainbiker und Bergwanderer geraten bisweilen
lange ein Feindbild. Noch aneinander, wenn sie sich den Platz teilen müssen. Eigentlich
vor zwei Jahren wollte Will 1976 sollte jedem klar sein, dass auch andere Menschen in der
Natur unterwegs sind. Doch gerade auf schmalen Wegen
geht es darum: Wer weicht aus, wer macht auf sich aufmerk-
sam, muss der Mountainbiker absteigen? Ich fahre seit mei-
2014. Nun haben spanische ner Jugend Mountainbike, da bleiben Konflikte im Gelände
Dame, König, Onlinemedien den Mit- nicht aus. Zum Beispiel, wenn ein Wanderer partout nicht
Spion schnitt eines Gesprächs ver- nachgeben will, weil er denkt, der Weg sei nur für ihn reser-
öffentlicht, das die enttäusch- viert. Auch scheinbar lustige Kommentare können für den
● Die deutsch-dänische te Begleiterin angeblich 2015 Moment ärgerlich sein, zum Beispiel beim Bergauffahren: ob
Geschäftsfrau Corinna zu in London mit dem spani- es nicht schneller gehe oder ob ich keine Kondition hätte.
Sayn-Wittgenstein, 54, schen Polizeioffizier José Mir ist auch schon passiert, dass zusätzlich der Ellenbogen
die den Adelstitel einer Manuel Villarejo geführt ausgefahren wurde. Ein Bekannter ist auf seiner Hausstrecke
inzwischen geschiedenen haben soll. Darin heißt es, einmal in ein ausgelegtes Nagelbrett gefahren, danach war
Ehe verdankt, bringt den frü- Juan Carlos habe für die Ver- der Reifen platt. In Oberösterreich wurde gerade ein Jäger
heren spanischen König Juan mittlung eines Auftrags 80 verurteilt, der aus Ärger über Mountainbiker einen Draht
Carlos, 80, erneut in Schwie- Millionen Euro Provision über den Weg gespannt hatte. Insgesamt kommen die ver-
rigkeiten. 2012 war seine von Saudi-Arabien genom- schiedenen Nutzer gut miteinander aus, sie eint die Begeiste-
»innige Freundin« aufgeflo- men und auf ihr Schweizer rung für die Natur. Am vergangenen Wochenende hat mich
gen, als sie ihn auf eine Ele- Konto transferiert. Auch ein zum Beispiel ein Wanderer detailliert nach der Gangschal-
fantenjagd in Botswana Grundstück in Marokko tung meines Fahrrads befragt. Viele Mitglieder des Alpenver-
begleitete, bei der sich der habe er ihr überschrieben, eins betreiben mehrere Bergsportarten. Ansonsten hilft es,
Monarch die Hüfte brach. um den Fiskus zu umgehen. sich in die Perspektive des anderen zu versetzen: Der Rad-
Der Skandal und andere Ob die Aufnahmen im Ein- fahrer kann in einer engen Passage nur schwer absteigen.
Eskapaden des Staatsober- vernehmen oder heimlich Oder eine Wandergruppe hat ein kleines Kind dabei und
haupts waren mitverantwort- gemacht wurden, ist nicht möchte in der Mitte des Pfades bleiben.
lich für seine Abdankung bekannt. Der pensionierte Der Druck am Berg und im Wald steigt, weil immer mehr
Polizist sitzt seit November Leute in ihrer Freizeit aktiv sein wollen. Das ist im Groß-
in Haft. Er wird beschuldigt, raum München besonders spürbar, mit seiner Nähe zu den
mithilfe von Kollegen ein Alpen: Der Platz für die Erholungssuchenden dort lässt sich
SCHROEWIG / PICTURE-ALLIANCE / DPA

Spionagenetz aufgebaut zu ja nicht beliebig vergrößern. Die DAV-Sektion München hat


haben, um Prominente zu gerade entschieden, vorerst keine Ladestationen auf ihren
erpressen. Nun fordern Berghütten zu installieren. Durch den E-Bike-Boom begin-
Gegner der Monarchie eine nen auch Leute mit dem Sport, die wenig Erfahrung haben
parlamentarische Unter- und den Knigge im Umgang mit Wanderern noch nicht so
suchung gegen Juan Carlos, gut kennen. Da hilft nur das Gespräch miteinander – am bes-
der nicht länger Immunität ten natürlich in freundlichem Ton.«
2006
genießt. HZU Aufgezeichnet von Jan Friedmann

127
»Merkel inspiziert einen Hohlraum.«
Günther Feld, Köln

Wie ein Hai gisch, »den Kopf der Schlange zu zertre- nach Europa verhökern. Dass dieses Öl
ten«, um diese zu vernichten oder wenigs- nur unter größter Umweltzerstörung ge-
Nr. 29/2018 Zerrüttung – Was es für Deutsch-
tens kleinzuhalten. Die Attacken gegen fördert werden kann, interessiert ihn nicht.
land heißt, Donald Trumps Feind zu sein
Deutschland haben eine andere Zielset- Weswegen er das Klimaabkommen mit
Allein das Titelbild bot mir Anlass, diese zung, nämlich die Zerschlagung der nach einem Federstrich aufgekündigt und seine
Ausgabe zu kaufen. Die Lektüre hat mich den USA größten wirtschaftlichen Macht Umweltbehörde mithilfe der Freunde aus
glücklicherweise auch nicht enttäuscht. des Westens. Somit ist es für ihn durchaus der Öl- und Gasindustrie bis zur Unkennt-
Matthias Feltz, Marburg (Hessen) sinnvoll, bei dieser Unfrieden zu stiften, lichkeit zerfleddert hat. Andererseits be-
indem er gegen Deutschland hetzt und die klagt er, Deutschland mache sich total
Ich fasse es nicht: schon wieder Trump auf kleineren Staaten im Bündnis hofiert. Hilf- abhängig von Russland durch das Nord-
dem Titel! Habe das Heft liegen gelassen. reich ist hierbei die traditionelle Uneinig- Stream-2-Projekt. Vielleicht sollte er ein-
Anton Widmann, Au i. d. Hallertau (Bayern) keit der Mitgliedstaaten. mal darüber nachdenken, dass Russland
Hans Peter Autenrieth, Ubstadt-Weiher (Bad.-Württ.) einmal geschlossene Verträge einhält, egal
Kommentare unseres zweieinhalb Jahre ob die Stimmung mal gut oder weniger
alten Sohnes Magnus beim Betrachten gut ist. Mit einem latent wort- und ver-
Ihres Titelbildes, zu Trump: »Schlange tragsbrüchigen Trump möchte dagegen
mit großem Maul«. Zu Merkel: »Kleine wohl kaum ein Land in ein Abhängigkeits-
schwache Frau«. Treffender hätten wir die verhältnis treten.

REINHARD KRAUSE / REUTERS


derzeitige Lage und die Beziehung zwi- Peter Trauden, Heilbach (Rhld.-Pf.)
schen den USA und Deutschland auch
nach Lektüre Ihres Artikels nicht formu- Donald Trump vollzieht als Immobilien-
lieren können. unternehmer, der er nun einmal ist und
Dr. Lena Mesenbrink, Dr. Lars Mesenbrink, Düsseldorf bleiben wird, nur, was schon lange über-
fällig war: die europäischen Staaten aus
Warum redet nicht endlich einmal einer US-Präsident Trump ihrem Paradies zu verstoßen, dem von den
unserer Politiker Klartext mit Herrn USA nach dem Zweiten Weltkrieg organi-
Trump? Wenn der Präsident meint, die Rüstung treibt Arbeitsplätze treibt Wie- sierten und auch zu ihrem eigenen Nutzen
USA hätten durch die Mitgliedschaft in derwahl. Das weiß Trump. Rüstung treibt dominierten Wohlfühl-Spa mit Rundum-
der Nato viel zu hohe Kosten zu tragen, Krisen treibt Krieg. Das weiß Kant. Groß- sicherheitsversorgung inklusive Atom-
dann kann man ihn doch höflich bitten, artig, sagt Trump: Krieg treibt Wiederauf- schirm. Es ist ein psychologisch-diploma-
alle Atomwaffen, die in Deutschland la- bau-Deals und Rüstung. Und so weiter … tisches Meisterstück, was Jahr für Jahr von
gern, wieder mit nach Hause zu nehmen. Dr. jur. Karl Ulrich Voss, Burscheid (NRW) Deutschland im Interesse Europas gefor-
Auch das Bedienungspersonal brauchen dert wird: ein dezenter Hegemon zu sein,
wir hier nicht mehr, und die USA können Die Beziehungen zwischen den USA und der in Absprache mit den anderen Euro-
ihre Kosten enorm senken. Deutschland, von der »Stunde null« bis päern führt und angesichts der Historie
Wilfried Jarchow, Siegen (NRW) heute, waren immer etwas Besonderes, fast demütig ist, ohne kraftlos zu sein.
aber niemals ein Verhältnis auf Augenhö- Dr. Klaus Neumann, München
Ohne den Kalten Krieg wäre die Nato he. Die USA waren und sind ein Imperium,
wohl nie entstanden. Mit seinem Ende hät- eine ökonomische und eine militärische Wir tun gut daran, angesichts dieser Ver-
te demnach auch die Nato verschwinden Supermacht. Deutschland ist zwar ökono- balinjurien Ruhe zu bewahren und die auf-
müssen. Mit welchen amerikanischen Fan- misch stark geworden, aber militärisch ein kochende Spannung auszuhalten. Zappelt
tasienamen neue Militärstrategien auch Papiertiger geblieben. Donald Trump deshalb so, weil er das
belegt wurden, am Ende stand der Feind Raffaele Ferdinando Schacher, Rorschach (Schweiz) Wasser Oberkante Unterlippe hat? Wie
immer wieder im Osten. Warum sollten ein Hai umkreist er die Länder, stupst und
die Europäer Donald Trump ständig die Was der amerikanische Präsident an Un- schubst sie – als ob er sich ein Opfer zum
Rolle des Enfant terrible überlassen und verschämtheiten vom Stapel lässt, sollten Zustoßen aussuchte.
nicht auf den amerikanischen Beitrag unsere Politiker nicht mehr so sanft hin- Gundula Engstner, Berlin
verzichten? Eine »europäische Nato« mit nehmen. Bei allem Bestreben, ein gutes
einer neuen Militärdoktrin, ohne die Verhältnis zu den USA zu haben – so darf Ik bün een echten Plattdüütschen und mit
geostrategischen Interessen der USA – eine Regierung, die noch ernst genommen Herz und Verstand ein überzeugter Euro-
»Europe first« sozusagen. werden will, nicht mit sich umspringen las- päer. Aber wenn dieser Rotzlöffel, der
Rüdiger Lüttge, Altlandsberg (Brandenb.) sen. Trump will gar keine Politik machen, unter den Schurken der Welt selbst zum
sondern ausschließlich Geschäfte, und die großen Halunken avanciert, Deutschland
Der US-Präsident sieht den wahren Kon- nur zu seinen und seiner Freunde Gunsten, zu seinem persönlichen Feindbild erklärt,
kurrenten innerhalb des westlichen Bünd- verbunden mit großer Show, in der na- bin ich plötzlich mächtig stolz, Deutscher
nisses wohl weniger in Deutschland als in türlich er der bewunderte Held ist. Er zu sein.
der EU. Demzufolge ist es für ihn nur lo- möchte das amerikanische Fracking-Öl Frank Lüdeke, Königslutter (Nieders.)

128 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038


Briefe

Mittel der Regierungskritik Dass Sie die Undenkbarkeit der Unter- kanzlerin hat 2015 absolut richtig gehandelt,
scheidung zwischen dem Antisemitismus weil menschlich! Außerdem: Wurde sie nicht
Nr. 28/2018 Die israelfeindliche
und einer israelkritischen Haltung suggerie- von den Regierungen Österreichs und Un-
BDS-Bewegung kämpft um die Meinungs-
hoheit auf deutschen Kulturfestivals ren, ist höchst bedenklich. Im Übrigen: garns gebeten zu helfen? Und was würde
Was spricht völkerrechtlich und moralisch der wohlsituierte Herr Professor Miller
Die Einstufung der Kampagne »BDS« dagegen, die Politik eines Staates (Israel) schreiben, wenn er selbst Flüchtling wäre?
(Boycott, Divestment and Sanctions – Boy- zu sanktionieren, der die Rechte eines be- Hermann Kast, Speyer
kott, Abzug von Investitionen und Sank- setzten Volkes (Palästinenser) mit Füßen
tionen) als antisemitisch greift zu kurz und tritt und große Teile seiner Territorien ab- Zärtliches Gefühl
zeigt, dass es wie so oft nicht gelingt, den riegelt beziehungsweise dort im exzessi-
Nr. 28/2018 Die Irrfahrt des Rettungsschiffs
Unterschied zwischen Kritik am Staat Is- ven Maße auf Kosten der autochthonen
»Lifeline« über das Mittelmeer
rael und einer – klar antisemitischen – Ver- Bevölkerung Siedlungen errichtet? Warum
leugnung des Existenzrechts Israels zu er- sind Sanktionen gegen Russland und Iran Es erscheint unverantwortlich, wenn deut-
kennen. Der Artikel lässt außerdem eine legitim, im Falle Israels jedoch verpönt, sche Rettungsschiffe wie die »Lifeline« die
Differenzierung zwischen dem Mittel des weil sie womöglich antisemitisch oder ras- von ihnen im Mittelmeer Geretteten ohne
Boykotts als Form der politischen Teilhabe sistisch sein könnten? Im Übrigen richten Auftrag oder Vertrag den Mittelmeer-
und der bloßen Diffamierung Israels in sich die Boykottaufrufe maßgeblicher ländern vor die Tür setzen. Vielmehr wäre
der Öffentlichkeit vermissen. Der dort be- BDS-Aktivisten nicht gegen »israelische« es Aufgabe der Bundesrepublik, sie um-
schriebene kulturelle und akademische Waren, sondern gegen solche Waren, die gehend weiter nach Deutschland zu brin-
Boykott durch Künstlergruppen ist zudem aus den völkerrechtswidrigen Siedlungen gen – ein einfaches Transport- und Betreu-
nur ein Teil von BDS; ausgeblendet wird stammen. Dies ist ein substanzieller Un-
leider, dass Konsumenten auch israelische terschied, der in Ihrem Artikel wenig Be-
Exportprodukte boykottieren beziehungs- achtung findet.
weise dezidiert jene Produkte, die in israe- Dr. Aref Hajjaj, Bonn
lischen Siedlungen im Westjordanland her-
gestellt werden. Unter dem Namen BDS Der Satz ist unglaublich

HERMINE POSCHMANN
finden sich keinesfalls nur antiisraelische
Nr. 28/2018 SPIEGEL-Gespräch mit
Hardliner mit dem Gespür für die große
Ex-Außenministerin Madeleine Albright über
mediale Bühne, sondern auch politisch dif- Trumps Wut auf die EU und ihre Angst
ferenzierende Menschen mit der Bestre- vor einem Rückzug Amerikas aus der Welt
bung, den Boykott als Mittel der Regie-
rungskritik zu nutzen, keinesfalls aber der Dieser Satz ist unglaublich: Wenn Ameri- Flüchtlinge auf der »Lifeline«
Existenzrechtverleugnung. Schade, dass ka sich nicht in der Welt einmischte, ge-
dies im Artikel nicht zur Sprache kam. schähen furchtbare Dinge. In welcher ungsproblem. Im Fall der »Lifeline« hatten
Ben Brandwein, Hannover Blase hat die Frau gelebt, die auch noch sich zum Beispiel die Bundesländer Berlin,
Außenministerin gewesen ist? Es wäre eine Niedersachsen und Schleswig-Holstein
In Ihrem Beitrag heißt es: »›Kauft nicht verdammt lange Liste, wenn man alle Ein- ohne Zögern zur Aufnahme der Gerette-
beim Israeli‹ – das klingt in vielen Ohren mischungen der USA mit ihren furcht- ten bereit erklärt.
fast wie ›Kauft nicht beim Juden!‹.« Diese baren Folgen aufschreiben würde, Aggres- Robert Hübner, Lüneburg (Nieders.)
Gleichstellung ist plakativ und dazu geeig- sionen mit Millionen Toten, mörderische
net, unbestrittene Fakten auszublenden. Diktatoren von Indonesien bis Chile, die Von der Waterkant in Hamburg aus ge-
Die Palästinenser werden heute nun mal die Unterstützung der USA erfuhren. sehen ist es selbstverständlich, dass die
vom israelischen Staat drangsaliert und Wieland Becker, Berlin »christliche Seefahrt« in Seenot Geratenen
unterdrückt, wie Sie es auch andeuten. hilft, egal ob diese Situation willkürlich
Dass dieser Staat »zufällig« jüdisch ge- Richtig, weil menschlich! oder nicht herbeigeführt wurde. Es ist aber
prägt ist, rechtfertigt in keiner Weise, die unverständlich, warum »Lifeline«-Kapitän
Nr. 28/2018 SPIEGEL-Gespräch mit dem
Position der Palästinenser und ihrer För- Reisch stur der Meinung ist, dass es ein
britischen Philosophen David Miller
derer als antisemitisch zu diffamieren. über die moralischen Widersprüche der Anrecht der Migranten auf dann sichere
Wäre dieser Staat englisch oder maltesisch, europäischen Flüchtlingspolitik Überfahrt nach Südeuropa gebe. Würden
die Geretteten konsequent nach Afrika zu-
In einer offenen, moralischen Welt sollte rückgebracht, würde das Geschäftsmodell
jeder Mensch seinen Lebensmittelpunkt der Schlepper langsam sterben.
frei wählen können. Allerdings steht dieses Dr. Sigmund Blank, Hamburg
Recht ebenso dem Alteingesessenen zu,
was zu Konflikten führt. Diese ließen sich Von Herman van Veen stammt das wun-
zwar bei beiderseitigem gutem Willen lö- dervolle Chanson »Ich hab ein zärtliches
sen, aber der Mensch ist nicht so gut, wie Gefühl«. Dessen Text und Melodie kam
PICTURE PRESS

es wünschenswert wäre. Im Gegensatz zu mir in den Sinn, als ich in Ihrem Beitrag
Professor Miller halte ich daher das gegen- von Claus-Peter Reisch las. Ich umarme
wärtige Flüchtlingsproblem für unlösbar – ihn! Voller Hochachtung!
Protest auf Radiohead-Konzert 2017 weder moralisch noch faktisch. Es kann Eberhard Fritz Wolckenhaar, Emkendorf (Schl.-Holst.)
nur darum gehen, einen Modus Vivendi
würden sich die Palästinenser dementspre- zu finden, was schwer genug sein dürfte.
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
chend antienglisch beziehungsweise anti- Prof. Dr.-Ing. Peter Koeppe, Berlin
(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
maltesisch verhalten. Daraus ergäbe sich sowie digital zu veröffentlichen und unter
nicht der Vorwurf des Rassismus oder Auch ein renommierter Professor redet man- www.spiegel.de zu archivieren.
einer menschenverachtenden Ideologie. ches Mal dummes Zeug. Unsere Bundes-

129
Hohlspiegel Jetzt mit- Rückspiegel
machen beim
Wettbewerb Zitate
2018! Die »Süddeutsche Zeitung« erinnert
anlässlich der WM an das schon
GUTE IDEEN 1980 im SPIEGEL berichtete Staunen
über Moskau (»Das ist kein Urlaub –

Aus der »Rhein-Zeitung«


FÜR EINE das ist Maloche«, Nr. 32/1980):

LEBENDIGE Auch Leute, die nicht (Lothar –Red.) Mat-


thäus sind, hypen die 24 Stunden geöffne-
Aus einem Werbeflyer des Autohofs Bad NACHBARSCHAFT ten Luxusläden Moskaus und die pünktli-
Rappenau Nord: »Gerne senden chen und für Fußballfans sogar kostenlos
wir Ihnen unsere Tagesangebote und nutzbaren Nachtzüge, weil sie offenbar
den Mittagstisch per Mail oder Fax zu.« vor Antritt der Reise überheblich davon
ausgegangen waren, Russland sei eine Art
riesiger, begehbarer Kühlschrank mit pelz-
mützentragenden Menschen und vielen
Bären drin. Das war übrigens 1980 wäh-
rend der Olympischen Spiele in Moskau
genauso … Jürgen Leinemann, damals
Anzeige im »Diepholzer Wochenblatt« Olympiareporter des SPIEGEL: »Die Men-
schen so freundlich, das Essen so reichlich,
die Metro so reinlich. Am allerschönsten
Aus einer dpa-Meldung: »Weil sich der aber war die Ordnung. Diese Disziplin,
Mann nicht beruhigte, behandelte diese Pünktlichkeit, diese Sauberkeit, die-
ihn der Notarzt mit gefesselten Händen.« se Perfektion, diese Organisation. Nein,
ehrlich, so deutsch hätten sich die Deut-
schen die Sowjetunion nicht vorgestellt.«
Worum geht es?
Wenn Nachbarn sich füreinander Die »Frankfurter Allgemeine« über ein
engagieren, sich helfen, gemeinsame SPIEGEL-Gespräch mit Horst Seehofer
Aktionen entwickeln – dann wird aus (»Halt den Mund«, Nr. 50/2013):
einem Neben-einander ein Miteinan-
der. Wir suchen die besten Ideen und So gerne Seehofer andere Politiker hart
Projekte, die aus einem Viertel eine kritisiert – der Flüchtlingspolitik der Bun-
lebendige Nachbarschaft machen. deskanzlerin gab er die Überschrift »Herr-
schaft des Unrechts« –, so empfindlich rea-
Wie kann man teilnehmen?
giert er, wenn es gegen ihn geht. Als die
Mitmachen kann jeder! Die Einreichungs-
»Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung«
phase für den Social Design Award läuft
Aus der »Hannoverschen Allgemeinen« bis zum 31. August 2018. Die Wettbe-
ihn vor sechs Jahren in Anspielung auf den
werbsunterlagen und das Onlinefor- großen Indianerführer »Crazy Horse« als
mular für die Beiträge gibt es unter »Crazy Horst« bezeichnete, versicherte er
Von der Website der Restaurantkette www.spiegel.de/socialdesignaward anschließend im kleinen Kreis, dass ihm
»Block House«: »Wussten Sie das nichts ausmache. Doch noch andert-
schon, dass … Sie im Block House am Wie läuft der Wettbewerb ab? halb Jahre später beklagte er sich in einem
Jungfernstieg nicht nur zarte Steaks, Aus den Beiträgen wählt die Jury die Interview mit der Zeitschrift SPIEGEL bit-
sondern auch mitten in der Stadt sind?« besten Ideen aus, diese werden ter über dieses Wortspiel, mit dem eine
Anfang Oktober 2018 auf SPIEGEL Grenze überschritten worden sei. In dem
ONLINE vorgestellt. Die Leser können Interview hatte er dagegen für den
dort ihren Favoriten wählen. Die Schmäh von Politikern gegen ihre Konkur-
Gewinner geben wir am 11. Dezember renz jedes Verständnis.
2018 in SPIEGEL WISSEN 6/2018 und
Aus dem Katalog von Walz-Reisen auch auf SPIEGEL ONLINE bekannt.

Was gibt es zu gewinnen?


Der SPIEGEL berichtete …
Aus einem Brief des Jobcenters Lippe: Vergeben werden ein Jurypreis und … in Nr. 19/2018 »Das ›Bärchen‹«
ein Publikumspreis. Beide Preise sind
»Auch ist fraglich, ob Ihr Umzug über den WDR-Fernsehfilmchef
jeweils mit 2500 Euro dotiert.
erforderlich war, da ein Verkauf Ihrer Gebhard Henke, dem mehrere Frauen
Der Rechtsweg ist ausgeschlossen.
Schwester gemäß §566 BGB nicht die sexuelle Belästigung vorwarfen.
Auflösung Ihres Mietvertrages bedingt.«
Der WDR kündigte Henke Mitte Juni frist-
los; es habe kein Vertrauensverhältnis
mehr bestanden. Henke ging zunächst
rechtlich gegen die Kündigung vor. Am
vergangenen Montag einigten sich die Par-
teien außergerichtlich. Henke wird nicht
Aus dem »Achimer Kreisblatt« mehr zu der ARD-Anstalt zurückkehren.
In Kooperation mit
130 DER SPIEGEL Nr. 30 / 23. 7. 2038
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Die genannten Ausstattungen sind teilweise optional bzw. in höheren Ausstattungslinien verfügbar.
2
Optional. Das System ist zwischen 8 km/h und 80 km/h aktiv. Um bei einem möglichen Unfall die Aufprallgeschwindigkeit zu reduzieren, bremst das System das Fahrzeug zwischen 8 km/h und 40 km/h mit einer Bremskraft
von bis zu 1 g ab. Zwischen 40 km/h und 80 km/h reduziert das System die Aufprallgeschwindigkeit um maximal 15 km/h. Über diese Schwelle hinaus muss der Fahrer selbstständig bremsen, um die Geschwindigkeit noch
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