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2018
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Hausmitteilung
Steuern?
Betr.: Bergdrama, Kartelle, Venezuela, »DEIN SPIEGEL«/SPIEGEL GESCHICHTE Lass ich machen.
Anfang April verschwand der Tengelmann-
Chef Karl-Erivan Haub spurlos in den Schwei-
CLAUDIA CORRENT / DER SPIEGEL
Nach der Aufdeckung der heimlichen Absprachen der Autoindustrie über zu kleine
AdBlue-Tanks und Abgasschummeleien bei Dieselfahrzeugen geht die EU-Kommis-
sion einem neuen Verdacht nach: Manager der Autokonzerne könnten sich auch bei
der Abgasreinigung von Benzinfahrzeugen abgestimmt haben. Die Wirtschafts-
redakteure Frank Dohmen und Dietmar Hawranek, die 2017 die vielen Absprachen
des deutschen Autokartells enthüllten, konnten jetzt Protokolle und E-Mails einsehen,
nach denen die Einführung wirksamer Partikelfilter offenbar boykottiert wurde.
Die Dokumente zeigen nach Ansicht der beiden eine Grundhaltung der Branche:
»Wettbewerb ist lästig, Umweltschutz zu teuer.« Seite 54
Innenminister Horst Seehofer zwischen Trump und Putin Eine Meldung und ihre
darauf, einen Islamisten Geschichte Warum ein
loszuwerden; nun ist der Mann Der Gipfel in Helsinki wird für den US-Präsidenten türkischer Hochzeitsfotograf
in Tunis – und der Rechtsstaat zur politischen Belastung. Seine Gegner, die dem Bräutigam die Nase
beschädigt . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 brach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
ihm schon lange eine zu große Nähe zu Russland
Rivalen Der bittere Sieg unterstellen, sehen sich bestätigt. Aber kann Unglücke Zehn Bergsteiger
von Kanzlerin Merkel ...... 20 das Donald Trump dauerhaft schaden? Seite 72 wandern und klettern
in den Alpen – nur drei
Konservative SPIEGEL- überleben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46
Gespräch mit CSU-Veteran
Peter Gauweiler über den Kolumne Leitkultur . . . . . . . . . 59
Machtkampf in der Union . . . 22
siegte in Wimble-
Akustik Mit Pauken und *
don: »Ich habe
Ausland Trompeten – viele Musiker
für mich Geschichte leiden unter Hörschäden . . . 106
Der Brexit zerreißt die konser- geschrieben.«
vative Partei von Theresa Seite 90 Oldtimer Die kurioseste
May / Der blutige Kampf des Restaurierung der
Ortega-Regimes in Nicaragua Automobilgeschichte . . . . . . 107
um den Machterhalt . . . . . . . . . 70
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL
Die Defensivspieler
Leitartikel Warum die schwarz-rote Regierung die AfD nicht klein, sondern groß macht
s war das große Versprechen der Großen Koalition. bis heute hat sich die Regierung auf keinen wirksamen
1
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Meinung So gesehen
Unerwarteter
Jakob Augstein Im Zweifel links Gewinn
Trump und Putin beenden eine
Peng. Das saß. europäische Grübelei gütlich.
In der »Zeit«, die immer das den –, lassen uns von Digitalkritikern ● Wer wem den Vortritt lässt, wer
Ohr auf den Schienen hat, und Globalisierungsgegnern Blumen wen warten oder im Regen stehen
wenn es um heiße gesell- in die Kugelschreiber stecken und lassen darf, ist in Europa feinmaschig
schaftliche Themen geht, machen mobil für den großen Handels- geregelt: Ober vor Unter, Greis vor
habe ich neulich gelesen, krieg. Knabe, wiederum aber Greisin vor
dass das postheroische Zeital- Die Sache hat einen Haken: So ein Greis, Alter vor Schönheit und was
ter zu Ende geht. Es gebe, stand Handelskrieg ähnelt seinem größeren der Tanzstundenweisheiten mehr
da, eine neue Begeisterung für den Bruder, dem richtigen Krieg, in der sind. Die seit Bestehen dieser Reiche
Kampf. Ich habe in mich hineingehorcht Unberechenbarkeit. Er kann eskalie- virulente Frage, ob Russland und
– und tatsächlich: Auch ich bin anfällig ren. Wer weiß, wohin. Die Feindbilder, Amerika eigentlich zu Europa gehö-
für Schlachtenlärm und Kampfgebrüll. die da aufgebaut werden, sind das ren, historisch, kulturell, als Werte-
Die EU-Kommission hat gerade Google Problem. Wenn Trump eine Sache auf- gemeinschaft oder als brothers
zu einer Strafe von 4,34 Milliarden Euro bauen kann, sind es Feindbilder. »Sie in arms – diese Frage, von deren
verdonnert. Da reißt es mich vom Sitz, haben die Vereinigten Staaten wirklich
und ich rufe begeistert: Europaaaaaaaaa! ausgenutzt, aber nicht mehr lange!«,
Ist doch wahr: Trump trampelt auf twitterte er kurz nach der Ankündi-
uns herum. Er droht unserer Autoindus- gung der europäischen Strafe.
trie. Und wir sehen zu und rühren uns Twittern können wir natürlich auch.
kaum. Er zückt den dicken Zollknüppel EU-Ratspräsident Donald Tusk hat
GOTTFRIED STOPPEL
Weidel, Bendels (M.) bei Parteiveranstaltung in Baden-Württemberg 2017
Anonyme Spender
● Die millionenschwere Wahlkampfhilfe, mit der ein ominöser Warum die AfD erst jetzt gegen ihre vorgeblich ungebetenen
Unterstützerverein seit mehr als zwei Jahren Stimmung für die Unterstützer vorgeht, hat womöglich mit einem Prüfverfahren
AfD macht, sorgt für juristischen Ärger. Offenbar müht sich die der Bundestagsverwaltung zu tun. Die untersucht derzeit mehre-
AfD erstmals um Distanz zu der Organisation, die sich »Verein re PR-Aktionen der Schweizer Goal AG und prüft, ob es
zur Erhaltung der Rechtsstaatlichkeit und der bürgerlichen Frei- Anhaltspunkte für illegale Parteienfinanzierung gibt. Unter ande-
heiten« nennt und aus undurchsichtigen Quellen finanziert wird rem geht es um eine Anzeigenkampagne der Goal AG für den
(SPIEGEL 20/2018). Nach übereinstimmenden Angaben aus der heutigen AfD-Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen, der 2016 für
Parteispitze hat der AfD-Bundesvorstand dem Verein kürzlich den baden-württembergischen Landtag kandidierte und mit
untersagt, das Logo und Corporate Design der Partei zu verwen- Goal-Chef Segert privat befreundet ist.
den und unter Nennung des Parteinamens zur Wahl der AfD auf- Führende AfD-Funktionäre hatten in der Vergangenheit stets
zurufen. Eine entsprechende Unterlassungsaufforderung sei an behauptet, dass die Werbeaktionen des Vereins – darunter groß
die Postanschrift des Vereins geschickt worden, der unter einer angelegte Plakatkampagnen und Wahlkampfzeitungen in Millio-
Briefkastenadresse in Stuttgart firmiert. Auch das Schweizer nenauflage – nicht mit ihnen oder der Partei abgestimmt worden
PR-Unternehmen Goal AG, das die Wahlkampagnen des Vereins seien, und sie weder Kenntnis über Urheber noch Finanziers hät-
steuert, habe eine solche Unterlassungsaufforderung erhalten. ten. Allerdings veröffentlichten AfD-Vertreter wiederholt in
Während der Chef der Goal AG, Alexander Segert, eine Publikationen des Vereins. Die heutige Fraktionschefin Alice
SPIEGEL-Anfrage zu dem Thema unbeantwortet ließ, erklärte Weidel und mehrere Parteifreunde traten schon gemeinsam mit
Vereinschef David Bendels, dass ein solches Schreiben dem Ver- dem Vereinsvorsitzenden Bendels auf. Die Spender des Vereins
ein bislang »nicht zugegangen« sei. blieben bislang anonym. AMA, SRÖ, SVE
Polizei
Ciao Italia
● Die Bundespolizei sucht dringend
Beamte, die von kommender Woche an
in Italien Sicherheitsinterviews mit
Migranten führen, die im Rahmen des
»Humanitären Aufnahmeprogramms
Relocation« von Deutschland aufge-
nommen werden sollen. Die Beamten
sollen über gute Englischkenntnisse
und Erfahrungen mit Identitätsfeststel-
lungen verfügen, erwünscht sind
zudem Auslandserfahrung und Kennt-
nisse in Befragungstechniken. Bei den
Migranten handelt es sich um 50 der
450 vorvergangene Woche vor der
Küste Siziliens durch die europäische
FETHI BELAID / AFP
11
Ostdeutschland schen politischen und kulturellen Nullmeri- Gedenken
»Ein neuer Sound« dian, und der Osten sei erst auf Augenhöhe, SPD schleicht sich aus
wenn er diesen erreicht hat. Mir ist ein ent-
Der CDU-Politiker Christian Hirte, 42, spannter Blick nach vorne lieber. ihrer Geschichte
Ostbeauftragter der Bundesregierung und SPIEGEL: Wohin fließt Ihr Budget von
Parlamentarischer Staatssekretär beim knapp fünf Millionen Euro im Jahr? ● SPD-Chefin Andrea Nahles hat die
Bundeswirtschaftsminister, will sich weni- Hirte: Ich möchte dort helfen, wo wir renommierte Historische Kommission
ger um Befindlichkeiten kümmern, dafür schon mit kleinen Mitteln Stellschrauben (HiKo) der Partei aufgelöst. Man müsse
aber mehr Geld verteilen. bewegen können, um den Rückstand die »vorhandenen Ressourcen effizient
des Ostens aufzuholen. Mir geht einsetzen«, schrieb Generalsekretär
SPIEGEL: Herr Hirte, Sie waren es um konkrete Wirtschaftspro- Lars Klingbeil am 27. Juni an die HiKo-
13 Jahre alt, als die Mauer fiel. jekte, Innovationen oder span- Mitglieder. Die SPD will den HiKo-
Fühlen Sie sich als ost- oder nende Modelle, wie man den Etat – angeblich bis zu 20 000 Euro pro
gesamtdeutscher Bürger? demografischen Wandel ange- Jahr – nicht länger finanzieren. Neben
Hirte: Das eine schließt das ande- hen kann. der HiKo seien ein Dutzend weitere
JUERGEN BLUME
re glücklicherweise nicht aus. SPIEGEL: Wie können Firmen Foren, Arbeitsgruppen, Beiräte und
Man müsste es sogar noch ergän- oder Privatleute sich bewerben? Gesprächskreise eingestellt worden, so
zen, denn ich fühle mich auch als Hirte: Das genaue Prozedere ein SPD-Sprecher. Die Mitglieder um
Thüringer und Europäer. erarbeite ich gerade im Ministe- den HiKo-Vorsitzenden Bernd Faulen-
SPIEGEL: Dient das Amt des Ostbeauf- rium. Mir schwebt ein Modell vor, bei bach, Professor für Zeitgeschichte in
tragten primär dazu, noch einen Ostdeut- dem sich möglichst viele Menschen, Bochum, wollen sich allerdings nicht
schen in die Regierung zu bringen? Unternehmen oder Initiativen ziemlich fügen. Sie seien »überrascht und
Hirte: Dieser Vorwurf ist unsinnig gegen- formlos bewerben können. Ich glaube empört«, heißt es in einem Brief an die
über einer Regierung, die seit 2005 von nicht, dass man von Berlin aus immer Parteispitze, die Auflösung sei ein
einer Ostdeutschen geführt wird. Mit den besseren Blick dafür hat, wo Geld »verheerendes Symbol für Geschichts-
dem Ostbeauftragten wollen wir bedeut- vor Ort gut eingesetzt ist. So etwas muss losigkeit«. SPD-Ikone Willy Brandt
same Themen abseits des Tagesgeschäfts auch von unten wachsen. hatte das Gremium 1981 ins Leben ge-
ins Schaufenster der Politik stellen. Der SPIEGEL: Setzen Sie auch auf soziale rufen. Die 1863 gegründete SPD ist die
Osten ist ländlicher, die Wirtschaft klein- oder ideelle Projekte? älteste Partei Deutschlands – die Be-
teiliger und deshalb schwächer bei Inno- Hirte: Wir feiern im nächsten Jahr mehre- sinnung auf ihre Geschichte sollte der-
vationen, die Gesellschaft ist älter. Vor re Jubiläen, erst 30 Jahre Fall des Eiser- einst die Flügelkämpfe mildern.
allem gilt: Wenn wir die Themen des nen Vorhangs, dann 30 Jahre Mauerfall. Zugleich wollte Brandt ein Gegenge-
Ostens lösen, hilft das dem ganzen Land. Ich möchte alle ermuntern, sich mit die- wicht zur Geschichtspolitik von Helmut
SPIEGEL: Ihre Vorgängerin Iris Gleicke sen stolzen Daten unserer Geschichte zu Kohl (CDU) schaffen. Im Historikerstreit
machte Schlagzeilen mit einer Studie befassen, ob Schulen, Gemeinden, Verei- 1986/87 über die Einmaligkeit des Holo-
über die Neigung der Ostdeutschen zum ne oder Opferverbände. caust spielte die HiKo eine wichtige Rol-
Rechtsextremismus. Fühlen auch Sie den SPIEGEL: Denken Sie nicht, dass es dafür le. Prominente Mitglieder waren Hans
Sachsen oder Brandenburgern den Puls? genug private Initiativen geben wird? Mommsen, Jürgen Kocka oder Heinrich
Hirte: Rechtsextremismus darf uns in Ost Hirte: Das schon, aber vielen Initiativen August Winkler, heute sitzen Wissen-
wie West nicht egal sein. Aber ich habe stets vor Ort fehlt das Geld. Anders als im schaftler wie Peter Brandt, Sohn Willy
gesagt, dass es mir um einen neuen Sound Westen fehlen Unternehmer oder wohl- Brandts, oder Edgar Wolfrum in dem
für den Osten geht. Wir Ostdeutschen wer- habende Einzelpersonen, die ein Vorha- Gremium. Eine HiKo-Veranstaltung soll
den immer befragt, wenn es um Problembe- ben schnell privat unterstützen können. noch stattfinden, eine Tagung zum 100.
schreibungen geht; das haben wir in der Da ist viel öfter die Hilfe der öffentlichen Jahrestag der Novemberrevolution. Die
Politik mitunter auch selbst befeuert. Oft Hand nötig. Soweit möglich, kann ich Referenten sind bereits geladen – darun-
wird so getan, als gäbe es eine Art westdeut- mir hier ein Engagement vorstellen. AMA ter Hiko-Auflöserin Nahles. KLW
die SPD hatten sich darauf verständigt, baufähig.« Die Vorsitzende Richterin am
das Ausländerzentralregister (AZR) so Verwaltungsgericht Köln, Rita Zimmer-
zu modifizieren, dass künftig alle »rele- mann-Rohde, weist jedoch vorsorglich
vanten Behörden … belastbarere Aus- schon mal darauf hin, dass es nicht Auf-
künfte« erhalten können. Derzeit müs- gabe der Gerichte sein könne, nachzu-
sen Auskunftsersuchen in vielen Fällen prüfen, ob sich etwa ein Verfahrensbetei-
schriftlich an das Bundesverwaltungsamt ligter noch im Land befinde oder bereits
gerichtet werden, was laut Bundesinnen- abgeschoben worden sei. Es sei vielmehr
ministerium zu »Verzögerungen in Ver- »lege artis«, dass die zuständigen Behör-
waltungsabläufen« führt. Das Ministeri- den die Gerichte entsprechend informier-
um arbeitet an einem Gesetzentwurf, der ten. AUL Brandt in Köln 1972
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Deutschland
islamistische Gefährder einstuft. Sami A. Dass für den Tag darauf bereits ein walt, Seif Eddine Makhlouf, sagte dem
erreichte 11 Punkte. Ab 9 gehen die Be- Charterflug organisiert war, verschwiegen SPIEGEL: »Mein Mandant konnte bis zu-
hörden von einem hohen Risiko aus. Top- die Beamten. Nach SPIEGEL-Informatio- letzt nicht telefonieren.«
Gefährder erzielen über 20 Punkte. nen geschah dies ganz bewusst. Zu groß Um 6.54 Uhr verließ die Maschine den
war wohl die Verlockung, Sami A. nun los- Düsseldorfer Flughafen. Fotografiert von
Schon 2006 hatte Sami A. einen Asylan- zuwerden. Zu oft hatte der heutige Minis- »Bild«-Journalisten, die offenbar bereits
trag gestellt, der ein Jahr später abgelehnt ter Stamp in seiner Oppositionszeit den Tage zuvor über den Termin informiert
wurde. Bis zum vorvergangenen Freitag damaligen Innenminister Ralf Jäger (SPD) waren. Anders als die Justiz.
wehrte er sich aber erfolgreich dagegen, dafür kritisiert, dass er kein Abschiebever- Um 8.10 Uhr übermittelte das Verwal-
das Land verlassen zu müssen. Sein Argu- fahren gegen Anis Amri eingeleitet hatte. tungsgericht dem Bamf das vorläufige Ab-
ment, dem die Gerichte bislang folgten: Zu groß war wohl die Sorge, Sami A. kön- schiebeverbot. Fünf Minuten später er-
Als Terrorverdächtigem drohe ihm in Tu- ne sich wie bereits andere vor ihm aus der reichte der Beschluss die Ausländerbehör-
nesien Folter. In Länder, in denen Häftlin- Abschiebehaft absetzen. Und zu groß war de in Bochum. Sie hätte versuchen müssen,
ge misshandelt werden, darf Deutschland womöglich die Angst vor negativen Schlag- die Abschiebung zu stoppen.
nicht abschieben. zeilen, wenn es wieder nicht gelänge, den Doch offenbar hat das keine der betei-
Im Mai allerdings hatte das Bundesver- angeblichen Bin-Laden-Gefährten abzu- ligten Behörden ernsthaft versucht. Zwar
fassungsgericht im Fall eines anderen tu- schieben. meldete sich die zuständige Ausländer-
nesischen Islamisten entschieden, dass die- Das Bamf leitete die Auskunft aus Düs- behörde in Bochum im Flüchtlingsminis-
ser abgeschoben werden dürfe. Es lag eine seldorf mit dem Hinweis weiter, eine Still- terium. Bis der Beschluss dann aber voll-
generelle Zusicherung aus Tunesien vor, haltezusage sei ja nun nicht nötig. Auch ständig in Düsseldorf empfangen worden
wonach dort die Todesstrafe nicht voll- einen »Hängebeschluss« sahen die Richter sei, so heißt es in Stamps Ministerium, sei
streckt werde. Am 20. Juni widerrief das nicht mehr als notwendig an. So befasste es 9.21 Uhr gewesen. Zu spät: Um 9.14
Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sich die 7a-Kammer am 12. Juli ausführlich Uhr hatte die deutsche Bundespolizei
(Bamf) dann das Abschiebeverbot für mit dem Fall und kam am Abend zu dem Sami A. den Sicherheitskräften Tunesiens
Sami A. Auch die Bundesregierung ging Schluss: Sami A. darf vorläufig weiterhin übergeben. Hat man im Ministerium be-
davon aus, dass man ihn nun endlich los- nicht abgeschoben werden. wusst auf Zeit gespielt?
werden könne. Eine individuelle Zusiche- Der Akte lag ein »Bild«-Artikel bei, in Landesminister Stamp gibt sich gelas-
rung, dass er dort nicht gefoltert werde, dem der tunesische Minister für Menschen- sen. »Ich bin mit mir und dem Handeln
hielt man in Berlin nicht mehr für zwin- des Ministeriums im Reinen«, erklärt er.
gend nötig. »Ich habe immer gesagt, dass wir alle recht-
Schon zuvor hatte das Land Nordrhein- Um 6.54 Uhr verließ der lichen Möglichkeiten ausschöpfen werden,
Westfalen bei der Bundespolizei darum Jet den Flughafen. um islamistische Gefährder außer Landes
gebeten, einen Flug nach Tunesien vorzu- zu bringen. Dass wir das wirklich tun,
bereiten, für Sami A. wurde ein Linienflug Medien waren informiert. kann niemanden überraschen.«
für den 12. Juli gebucht. Am 29. Juni aber Anders als die Justiz. Überrascht war allerdings das Verwal-
stornierte die Bundespolizei die Reservie- tungsgericht Gelsenkirchen. Noch am Frei-
rung wieder, es gab Sicherheitsbedenken. tag vergangener Woche traf es eine Ent-
Schließlich wurde am 9. Juli eine Challen- rechte versicherte, Sami A. drohe keine Fol- scheidung, wonach Sami A. »unverzüg-
ger 604 gechartert. Der Privatjet sollte am ter. Zu wenig, befanden die Richter in ei- lich« zurück nach Deutschland zu bringen
Freitag, dem 13. Juli, abheben. nem 23-seitigen Beschluss. Es brauche eine sei. Dagegen hat die Stadt Bochum zwar
Die Behörden sahen zunächst keine »individualbezogene diplomatische Zusi- Rechtsmittel eingelegt. Doch bis auf Wei-
rechtlichen Probleme: Die 8. Kammer des cherung« von tunesischer Seite. Trotz aller teres hat der Beschluss Gültigkeit.
Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen hatte Fortschritte in Tunesien müssten Islamisten
bereits bestätigt, dass die Abschiebeandro- und Terrorverdächtige dort nach wie vor Seehofer denkt nicht daran, nun dafür
hung der Ausländerbehörde formal recht- mit Folter rechnen. Auch die »teilweise sen- zu sorgen, dass der Gefährder rasch wie-
mäßig sei. Parallel war aber auch die Kam- sationslüsternen« und »reißerischen« Pres- der nach Deutschland zurückgebracht
mer 7a des Gelsenkirchener Gerichts mit seberichte begründeten diese Gefahr: Einen wird. In den Gesprächen mit den Tune-
dem Fall betraut. Sie sollte prüfen, ob eine angeblichen Ex-Bodyguard Bin Ladens siern solle zunächst nur ausgelotet werden,
Abschiebung auch aus inhaltlichen Grün- könnten die tunesischen Sicherheitskräfte zu welchen Zusicherungen diese im Fall
den möglich sei. Und diese Kammer hatte womöglich »in nicht menschenrechtskon- Sami A. bereit seien, sagte der Innenmi-
Zweifel. former Weise« verhören, so die Kammer. nister.
Vorsorglich erkundigten sich die Richter Da alle Mitarbeiter der Geschäftsstelle Tatsächlich könnte damit das Kalkül der
beim Bamf, ob der Linienflug für den 12. mittlerweile nach Hause gegangen waren, Behörden aufgehen, sagt Klaus Dienelt,
Juli noch gebucht sei. Falls ja, bitte man sollte der Beschluss erst am nächsten Tag Verwaltungsrichter aus Darmstadt und Be-
um eine sogenannte Stillhaltezusage, mit den Verfahrensbeteiligten zugestellt wer- treiber des Internetportals Migrations-
der das Bamf garantiert, Sami A. nicht ab- den. Die Richter wussten an dem Abend recht.net: »Wenn es in den nächsten Wo-
schieben zu lassen. Andernfalls werde das nicht, dass wenige Stunden später Sami A. chen keinerlei Hinweise auf Folterung des
Gericht womöglich einen »Hängebe- aus seiner Zelle geholt werden sollte. Mannes gibt, dann entfällt die Grundlage
schluss« fassen, dass Sami A. bis zur end- Im Düsseldorfer Flüchtlingsministerium des Beschlusses.«
gültigen Entscheidung nicht abgeschoben saß man an diesem Abend lange zusam- Allerdings hätten die Ämter damit »die
werden dürfe. men, doch das Gericht meldete sich nicht. vertrauensvolle Zusammenarbeit zwi-
Das Bamf leitete die Frage an das nord- Als die Polizeibeamten Sami A. abhol- schen Gerichten und Behörden« massiv
rhein-westfälische Flüchtlingsministerium ten, fesselten sie ihn, obwohl er nach Aus- erschüttert. »Und das ist nicht in Ord-
weiter. Dort witterte man offenbar eine sage von Beteiligten keinen Widerstand nung«, so Dienelt.
Gelegenheit und bediente sich eines Tricks. leistete. Beamte der Ausländerbehörde Wer dem Bundesinnenminister in den
Der Flug vom 12. Juli sei storniert, antwor- verweigerten ihm offenbar Anrufe bei sei- vergangenen Monaten zuhörte und Bou-
tete das Ressort, was ja auch stimmte. nen Anwältinnen. Sein tunesischer An- levardberichte über den Fall Sami A. las,
Innenminister
Seehofer
Abgeschobener
Sami A.
17
IN DER SPIEGEL-APP Deutschland
konnte glauben, dass es Deutschland so Afghanen und auch nicht für sein Beharren,
gut wie nie schaffe, Gefährder außer Lan- dass Flüchtlinge, die schon in anderen EU-
des zu bringen – »Abschiebe-Wahnsinn«, Staaten Asyl beantragt hatten, sofort an der
schrieb die »Bild«-Zeitung. Grenze abgewiesen werden müssten.
Tatsächlich aber gelang es seit Anfang Das Horrorszenario für Seehofer und
2017 bereits, 91 Gefährder und sogenannte Stamp ist nun nicht, dass der Vorgang recht-
relevante Personen aus der Islamistensze- lich kritisiert wird. Es lautet, dass Sami A.
ne abzuschieben – viel mehr als in den zurück nach Deutschland kommen muss.
Jahren davor. Mit den Zielländern wurden So liegen ihre Hoffnungen auf den Be-
Vereinbarungen getroffen, die Behörden hörden in Tunesien. Wie praktisch, dass
waren mutiger, die Abschiebeparagrafen diese den Mann nun unter keinen Umstän-
des Gesetzes zu nutzen. den hergeben wollen. »Sami A. hat die tu-
Gleichwohl erklärte Seehofer bald nach nesische Staatsangehörigkeit, wir sind für
seinem Amtsantritt im Frühjahr den Fall ihn zuständig und niemand sonst«, sagt
Sami A. zu einer Angelegenheit, um die Sofiane Sliti, Sprecher der Anti-Terror-Be-
er sich persönlich kümmern werde. Dass hörde. Seit Anfang 2018 ist A. in Tunesien
es dem deutschen Staat elf Jahre lang nicht wegen Terrorverdacht zur Fahndung aus-
gelinge, einen Islamisten abzuschieben, geschrieben. »Tunesien ist ein souveräner
das wolle ihm nicht in den Kopf. Staat, wir sind verpflichtet, diesen Fall
Er wolle die endlose Spirale aus Ge- jetzt hier zu prüfen.«
richtsurteilen und Verfügungen und neuen
Gerichtsurteilen durchbrechen und end- Sliti ist im Hauptberuf Richter. Er hat
lich handeln. Seehofers Staatssekretär Hel- seinen Familienurlaub unterbrochen, seit-
mut Teichmann legte sich fest: Er gehe da- dem hier die Wellen hochschlagen. Er emp-
von aus, dass Sami A. bis zum Sommer fängt in einem verspiegelten Glasbau am
nach Tunesien zurückgeschickt werde. Flughafen von Tunis, versteckt hinter ho-
Es sollte ein Signal sein, dass die Zeiten hen Hecken und Stacheldraht.
eines vermeintlich zu laschen Staates vor- Hier, in diesem Raum, hinter vergitter-
RICCI SHRYOCK
bei seien und es nun eine »Asylwende« ten Fenstern, unter einem Gemälde mit
gebe. »Wir können nicht so verfahren wie den goldenen Lettern der tunesischen Na-
in der Vergangenheit«, sagte Seehofer vor tionalhymne, wurde Sami A. am Dienstag-
Abgeordneten, »sonst verlieren wir die morgen zum ersten Mal befragt. 15 Tage
Unterstützung der Bevölkerung.« lang können ihn die Behörden in Tunis
Dem Innenminister war der Fall Sami festhalten, bei akutem Verdacht auch län-
A. so wichtig, dass er sich von seinen Leu- ger. »Er zeigte keine Spuren von Folter«,
ten ständig über die Entwicklung unter- sagt Sliti, das habe ein Arzt bestätigt; die
richten ließ. Umso erstaunlicher ist, dass Nächte verbringe er im Untersuchungsge-
Zukunft Seehofer und sein Ministerium in der ver-
gangenen Woche verschiedene Versionen
fängnis Gurjani, neben aus Syrien zurück-
gekehrten IS-Kämpfern und weiteren Ter-
aus Ruinen verbreiteten, ob der Ressortchef nun von
der Abschiebung vorab informiert war
rorverdächtigen aus Europa.
Für Slitis Behörde, die dem Justizminis-
Guinea-Bissau ist ein Kleinstaat oder nicht. terium untersteht, kommt Sami A. wie ge-
rufen. Mit diesem Fall will Tunesien be-
im Westen Afrikas und bisher nur für
Erst wusste er nichts, dann sollte er doch weisen, dass es Gefährder und Terroristen
Kokainschmuggel bekannt. Die Por- zwei Tage zuvor davon erfahren haben. nicht nur produziert, sondern ihnen auch
tugiesen haben das Land über Jahrhun- Die letzte Version lautete: Er habe kurz den Prozess macht. »Wir sind eine junge
derte geprägt: Noch heute zeugen vor einem Flug nach Innsbruck einen Ver- Demokratie«, sagt Sliti stolz, »mit einer
Prachtbauten von der kolonialen merk gelesen. In dem stand zwar, dass gut funktionierenden Justiz und fairen Pro-
Vergangenheit. Doch die Fassaden nach Informationen der Bundespolizei am zessen, ebenso gut wie unser Wetter.«
bröckeln, und die Bauten drohen Freitag die Abschiebung über die Bühne Sami A., versichert Sliti, werde in Tunis
zu verfallen. Junge Architekten kämp- gehen könnte. Es habe aber trotz Nachfra- ein faires Verfahren bekommen, sollte sich
fen dagegen an – ihr Ziel: Dem Alten, gen noch keine feste Bestätigung aus Nord- der Verdacht gegen ihn erhärten. »Er ist
der kolonialen Geschichte, wollen rhein-Westfalen gegeben. Erst nach dem in guten Händen, glauben Sie mir.«
sie ein neues Afrika, die Zukunft ent- Start des Abschiebefliegers sei er im Bilde Also haben die Richterkollegen in Gel-
gewesen, sagte der Minister. senkirchen falsch entschieden? Kann man
gegensetzen.
Seehofer wirkte angeschlagen, als er ausschließen, dass Sami A. in seiner Hei-
zum Fall Sami A. befragt wurde. Seit Ta- mat Folter droht?
Sehen Sie die Visual Story im digitalen gen wähnt er eine Kampagne gegen sich, »Bien sûr«, selbstverständlich, sagt Sliti.
SPIEGEL, oder scannen Sie den QR-Code. fühlt sich missverstanden. Die Medien soll- »In Tunesien wird nicht gefoltert. Das ist
ten sich doch gefälligst an die Fakten hal- eine rote Linie, die wir nicht überschreiten.
ten, meckerte er. Was er da alles über sich Sami A. ist nicht mehr eure Angelegenheit,
lesen müsse! das ist jetzt ein tunesischer Fall.«
Aus seiner Sicht ist alles rechtmäßig ge- Jürgen Dahlkamp, Jörg Diehl, Fiona Ehlers,
laufen. Doch den Applaus, den er sich für Mirco Keilberth, Martin Knobbe, Roman
die Aktion wohl versprochen hatte, den gibt Lehberger, Fidelius Schmid, Andreas
es nicht. Es gab ihn nicht für seinen Master- Ulrich, Wolf Wiedmann-Schmidt
JETZT DIGITAL LESEN plan, nicht für seinen Spruch über die 69
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Bitterer Triumph
Rivalen Angela Merkel hat sich im Machtkampf mit
Horst Seehofer spektakulär durchgesetzt.
Wird sich die Union davon jemals erholen? Von René Pfister
ibt es Siege, an denen man zugrun- lag das Wort Bruch in der Luft. Doch fast Die moralische Aufladung nutzte von
G de geht? Als Edmund Stoiber im
Jahr 2003 bei der bayerischen Land-
tagswahl 60,7 Prozent holte und damit die
immer schafften es die beiden Parteien,
die Reibung für sich zu nutzen: indem die
CSU mit ihrer krachledernen Sprache jene
Anfang an vor allem der AfD, der es so
leicht gemacht wurde, Merkel als gesin-
nungsethisch verblendete Kosmopolitin
Zweidrittelmehrheit im Landtag, war dies, Wähler ansprach, die die CDU für etwas darzustellen. Die Angriffe der AfD wur-
im Rückblick betrachtet, nur die Ouver- zu fein hielten; und umgekehrt die CDU den im Laufe der Zeit so maßlos und het-
türe des Niedergangs. Drei Jahre später jene bayerischen Unionswähler anzog, de- zerisch, dass sie Merkel in ihrer Auffassung
wurde der CSU-Chef, auch wegen seiner nen die Präpotenz der Christsozialen im- bestärkten, es sei ganz und gar vergebens,
unerschütterlichen Machtarroganz, von mer etwas peinlich war. sich um die Wähler der Partei zu bemühen.
den eigenen Leuten gestürzt. Guido Wes- Erst in der Ära von Merkel und Seeho-
terwelle erreichte für die FDP bei der Bun- fer gerieten die Dinge ins Rutschen, was, Das ist nun das Dilemma: Merkel hat
destagswahl 2009 sensationelle 14,6 Pro- einerseits, natürlich an ihrem verkorksten sich mit der Existenz der AfD abgefunden,
zent, doch im Überschwang des Sieges Verhältnis liegt. Wer Seehofer kennt, der sie will die CDU als Partei der Mitte posi-
verlor die Partei jedes Maß und flog vier weiß, dass ihm der Gedanke, Merkel warte tionieren, und je klarer sie sich von der
Jahre später aus dem Parlament. nur auf den richtigen Moment, ihn ins AfD abgrenzt, so das Kalkül, umso attrak-
Nun hat sich Angela Merkel geradezu Grab zu stürzen, fast schon zur Obsession tiver wird sie für Wähler des gemäßigten
spektakulär gegen die CSU durchgesetzt: geworden ist. Andererseits fehlt Merkel linken Lagers. Die CSU aber muss die AfD
Was sie der »Schwesterpartei« abtrotzte, das Gespür für die bayerische Gemüts- bekämpfen, will sie jemals wieder die ab-
waren mehr als nur ein paar Zugeständ- verfassung, wo Aufwallung und Sentimen- solute Mehrheit in Bayern holen, doch
nisse, sie zwang Horst Seehofer dazu, sei- talität schon immer ganz nahe beieinan- wenn sie es tut, dann wird ihr von der
ne eigenen Worte aufzuessen wie trockene derlagen, weswegen es ratsam ist, nicht CDU der Vorwurf gemacht, dies mache
Knödel. Um das ganze Ausmaß der baye- jedes Wort gleich auf die Goldwaage zu nur die Populisten stark. Alles hat sich zu
rischen Niederlage zu ermessen, muss man legen. einem unentwirrbaren Knoten zusammen-
sich nur noch einmal kurz vergegenwärti- Aber es ist eben nicht nur die gegensei- gezogen.
gen, dass dieselbe Partei, die ultimativ und tige Abneigung, die den Graben so weit Es ist ja nicht so, dass Merkel sich in der
per Vorstandsbeschluss Zurückweisungen aufgerissen hat. Von Beginn der Flücht- Sache nicht auf die CSU zubewegt hätte.
an der Grenze gefordert hat, nun genau lingskrise an haben beide den Konflikt mit Sie reicht inzwischen die Hand zu Asyl-
auf jene verzichtet und der Innenminister, geradezu selbstzerstörerischer Lust ange- zentren in Europa und »Ausschiffungs-
anstelle der Kanzlerin, jene »europäische heizt. Seehofer, indem er Merkel vorwarf, plattformen« in Nordafrika, die Migranten
Lösung« verhandeln muss, die er selbst an den deutschen Grenzen eine »Herr- aufnehmen sollen, die aus dem Mittelmeer
als unrealistisch abgelehnt hat. schaft des Unrechts« zu dulden. Und Mer- gerettet wurden. Merkel findet sogar, dass
kel, weil sie den Konflikt mit der CSU zu Viktor Orbán mit dem Bau von Stachel-
Es gibt sicherlich keinen Grund für Mit- einem Kampf zwischen Humanität und drahtzäunen Europa einen Dienst erwie-
leid mit der CSU. Der Anlass der Revolte Abschottung stilisierte. In ihrer Argumen- sen habe.
war genauso nichtig wie die Umsetzung tation gab es keinen Mittelweg: Offene Das Verrückte ist, dass all dies nicht
stümperhaft, aber die Folgen der Chaos- Grenzen standen gegen Schießbefehl und durchdringt, weil Merkel die faktische
wochen, die hinter CDU und CSU liegen, Stacheldraht. Wie sollte da ein Kompro- Wende nie mit einer rhetorischen verband.
werden die Republik noch lange beschäf- miss gelingen? Sie beharrt darauf, dass alle grundlegen-
tigen. Denn unter den Trümmern des Es ist ein Muster, das sich nun wieder- den Entscheidungen ihrer Flüchtlingspoli-
Streits wurde die Frage begraben, wie sich holte. Merkel tat so, als ginge es bei dem tik richtig waren, auch wenn sie sich durch
die Union zu der neuen Konkurrenz von Streit mit Seehofer nicht um drei lächer- praktisches Handeln längst dementiert hat.
rechts verhalten soll; zur Debatte stand, liche Grenzposten, sondern um die Zu- Merkel weiß, dass die Szenen aus dem
ob man die AfD als Gegner annimmt oder kunft Europas. Ihre Generalsekretärin An- Sommer 2015, die Blumen am Münchner
rechts liegen lässt. Noch grundsätzlicher negret Kramp-Karrenbauer verfasste für Bahnhof und die Selfies mit den Flüchtlin-
formuliert: ob die Union überhaupt den die »Frankfurter Allgemeine« eine Eloge gen aus Syrien, für immer mit ihrer Kanz-
Anspruch hat, das rechte demokratische auf Helmut Kohl, bei deren Lektüre man lerschaft verbunden bleiben werden. Die-
Spektrum anzusprechen. Noch besteht die den Eindruck gewinnen konnte, in Mün- selben Bilder, die bei der AfD (und Teilen
Chance, eine Zerrüttung des konservati- chen werde schon der Austritt aus der EU der CSU) als Beleg für ihre Entrücktheit
ven Lagers zu verhindern, wie sie viele vorbereitet. »Wir werden Helmut Kohl gelten, sind im Ausland der Ausweis einer
Nachbarländer schon durchgemacht ha- und seiner historischen Leistung nicht ge- großen humanitären Geste. Als sie Ende
ben. Aber es braucht nicht mehr viel, und recht, wenn wir es bei dankbarer Erinne- Juni – auf dem Höhepunkt des Streits mit
von der Union steht nur noch eine rau- rung belassen«, schrieb sie, was nicht ohne der CSU – nach Amman und Beirut reist,
chende Ruine. Komik war, denn zu Lebzeiten Kohls ver- wird sie dort empfangen wie eine Heilige.
Natürlich ist der Streit zwischen CDU zichteten Merkel und ihre Leute liebend Am Abend ihres Besuchs im Libanon lädt
und CSU systemimmanent, schon häufiger gern auf Ratschläge aus Oggersheim. die britische Botschaft im Containerhafen
der Stadt zu einem Empfang anlässlich des Söder sagt, man müsse nun wieder »Form parteien zu Ende geht? Die SPD ist auf
Geburtstags der Queen. und Stil« wahren, dann ahnt man, wie dem Weg des Niedergangs schon weit vo-
Es ist eine Party von britischer Lässig- groß die Verzweiflung in München ist. rangekommen, und es ist eine Illusion zu
keit, unter riesigen Frachtkränen werden Es ist keine Frage, dass sich die CSU die- glauben, dass eine Union, die alle ideolo-
Drinks gereicht. Die diplomatische Szene se Blamage in erster Linie selbst zuzu- gischen Wurzeln kappt, in Zukunft so
der Stadt hat sich versammelt, und jeder, schreiben hat. Weil er im Jahr 2015 nicht stabil sein wird wie in den vergangenen
mit dem man spricht, ist voller Bewunde- die nötige Entschlossenheit aufgebracht 70 Jahren. Man muss gar nicht ins Ausland
rung für Merkel, die letzte Bastion gegen hatte, sich gegen Merkel zu wehren, zet- schauen, um zu sehen, wie schnell sich das
den Irrsinn der Weltpolitik. Wenn Seeho- telte Seehofer nun eine Art nachholende Parteiengefüge verschiebt. Ein Blick nach
fer aufgetaucht wäre, hätte man ihn wo- Revolution an, die so außer Kontrolle ge- Sachsen, wo die AfD bei der Bundestags-
möglich mit einen Stein um den Hals ins riet, dass sich am Ende auch noch der größ- wahl vor der CDU lag, genügt völlig.
Hafenbecken geschmissen. te Merkel-Hasser in der CDU gezwungen Noch ist Deutschland in einem Zwischen-
Von Winston Churchill stammt der Satz, sah, sich zur Kanzlerin zu bekennen. Aber reich, das Alte ist nicht vergangen und das
dass es im Krieg Entschlossenheit brauche, es ist zu einfach, alles auf die Tölpelhaftig- Neue noch nicht da. Noch kann die Union
in der Niederlage Trotz und im Sieg Groß- keit der CSU zu schieben: Die geradezu wählen, welchen Weg sie einschlägt. Dazu
mut. Merkel hat im Streit mit der CSU todessehnsüchtige Wut, die sich in der gehört allerdings, dass sich CDU und CSU
noch einmal ihre ganze Nervenstärke be- CSU Bahn brach, speiste sich aus der Er- darauf verständigen, wer sie eigentlich sein
wiesen und ihr taktisches Vermögen, aber kenntnis, dass Merkel nicht die geringste wollen. Merkel und Seehofer wird das nicht
sie hat dabei einen Sieg errungen, an dem Anstrengung unternimmt, auf die Nöte der mehr gelingen, das haben sie mehr als ein-
die CDU keine Freude haben wird. Er hin- CSU Rücksicht zu nehmen. mal bewiesen. Sie gehören der Vergangen-
terlässt eine gedemütigte CSU, die der Parteien können aufsteigen und verge- heit an. Dies zu verstehen wäre ein erster
AfD nichts mehr entgegenzusetzen hat. hen, das gehört zur Demokratie. Aber ist Schritt in die Zukunft.
Wenn schon der ewig streitlustige Markus es wünschenswert, dass die Ära der Volks-
21
Deutschland
22
SPIEGEL: Herr Gauweiler, Sie sind seit genen Vierteljahr haben unsere Leute ei- zung liegt in den Händen eines Bundes-
50 Jahren in der CSU, Sie waren Minis- nen Koalitionsvertrag mit der SPD durch- innenministers und eines bayerischen In-
ter, Strauß-Intimus, Parteirebell. Können gesetzt, der klar CSU-Handschrift trägt, nenministers, die beide von der CSU sind.
Sie sich erinnern, dass die Partei je zuvor mit dem sich die Sozialdemokratie in der Die werden gut liefern können.
in einer Krise wie der aktuellen gesteckt Innenpolitik wieder in die Tradition von SPIEGEL: Nach der Bundestagswahl hatten
hat? Otto Schilys Sicherheitsgesetzen begibt. Sie Horst Seehofer noch den Rücktritt na-
Gauweiler: O ja, früher ging es noch viel Es wird ein strengeres Grenzregime und hegelegt. Mit Verlaub, haben vielleicht nur
härter zu. Nicht nur sprachlich, sondern schnellere Abschiebungen geben, und auf Sie die Wende im Kopf vollzogen?
auch was die inhaltlichen Entzweiungen EU-Ebene haben 28 Staaten auf unseren Gauweiler: »Horst, es ist Zeit«, diese Aus-
anging, vom Trennungsbeschluss in Wild- Druck hin eine neue Tonlage angestimmt. sage habe ich getätigt, weil es unumgäng-
bad Kreuth bis zur Frage von Kanzlerkan- Eine »europäische Lösung« der Migra- lich war, dass die CSU Konsequenzen aus
didaturen. Auch die Debatten der Fünfzi- tionsfrage bedeutet heute eine restriktive dem blamablen Abschneiden bei der Bun-
gerjahre zwischen kirchlich-konservativen Lösung. destagswahl zieht. Anders als die CDU ha-
und liberal-konservativen CSU-Kreisen SPIEGEL: Nur hat die CSU völlig andere ben wir diese Diskussion geführt, bekannt-
wurden mit einer Schärfe geführt, die viele Schritte versprochen und ihre Glaubwür- lich mit harten Konsequenzen für die Be-
Herrschaften heute gar nicht mehr ertra- digkeit damit verknüpft. Ständig hieß es: troffenen an der bayerischen Staatsspitze.
gen würden. Europäische Lösungen funktionieren nicht. Nur was das Parteiamt angeht, hat Seeho-
SPIEGEL: Für Ihre Beispiele muss man Wenn Angela Merkel nicht binnen zwei fer sich anders entschieden und unter Be-
schon sehr tief ins Parteiarchiv steigen. Wochen liefert, weisen wir Flüchtlinge ein- weis gestellt, dass es ein Leben nach dem
Gauweiler: Die Lage war sicher schon bes- seitig an der deutschen Grenze zurück. politischen Tode gibt.
ser. Aber die CSU ist trotzdem bis heute Nichts davon ist eingetreten. SPIEGEL: Im Asylstreit kündigte er seinen
ein Spiegelbild des Bayerischen. Gauweiler: Sie lassen sich vom Affentanz Rücktritt an, trat dann davon wieder zu-
SPIEGEL: Glaubt man den Umfragen, ist in Berlin ablenken, wie alle Hauptstadt- rück. Wie glaubwürdig ist man damit?
die CSU nur noch ein Spiegelbild von 38 journalisten. Gauweiler: Sie sprechen hier mit einem
Prozent der bayerischen Wähler. SPIEGEL: Markus Söder hat es zum »End- erfahrenen Zurücktreter. Meine Haltung
Gauweiler: Auch diese Tiefen haben wir spiel um die Glaubwürdigkeit« erklärt, ist: Man darf die Leute und sich selbst
schon bei den Wahlen in den Fünfziger- dass es Zurückweisungen an der Grenze nicht betrügen. Wenn ich nichts mehr
jahren unterschritten. geben soll. Die wird es vorerst nicht geben. durchsetzen kann, muss ich die Konse-
SPIEGEL: Dann dürfen wir also in quenzen ziehen. Aber genauso rich-
etwa 60 Jahren mit einem Come- tig ist auch, dass ein guter Politiker
back der CSU rechnen. mehrere Tode vor dem eigentlichen
Gauweiler: Da müssen Sie nicht 60 Tod sterben muss. Es wollte ja die
Jahre warten, sondern nur bis zur Mehrheit, dass Seehofer Parteichef
Landtagswahl. Ich wette, dass wir bleibt. Ich hätte mir ein Plebiszit in
die absolute Mehrheit erreichen. der CSU gewünscht, aber es fehlte
SPIEGEL: Das ist sehr wagemutig der Gegenkandidat. Also darf man
von Ihnen. sich nicht beklagen, wenn Seehofer
Gauweiler: So ängstlich kenne ich einfach stehen bleibt.
den SPIEGEL gar nicht! Dabei müs- SPIEGEL: Ging es beim Asylstreit
sen Sie nur in Ihr Archiv schauen. nicht vor allem darum, Merkel zu
RICHARD SCHULZE-VORBERG
chen, viel Vergnügen! Ich vermute, das Gauweiler: Sie ist viel uneitler als die Ber- ein großer Biergarten die unterschiedlichs-
Thema bleibt uns erhalten. liner Mannsbilder zusammen, das ist ein ten soziologischen Gruppen zusammen-
SPIEGEL: Trotzdem erinnert der Unions- großer Vorteil, und sie kommt aus einer führt. Und da gehört die freiheitliche Rech-
Streit an ein Bonmot von Helmut Kohl: Gemeinschaft mit moralisch-protestanti- te dazu, das müsste beispielsweise Hessens
»Wenn der bayerische Löwe brüllt, verbrei- schem Violinschlüssel. So ein Leben muss Ministerpräsident Volker Bouffier von sei-
tet er nur noch Mundgeruch.« man als Familie erst mal durchstehen: in nem Ziehvater Alfred Dregger und dessen
Gauweiler: Sehr charmant! Der bayeri- die DDR rüberzugehen und dort das Evan- »Stahlhelm-Fraktion« gelernt haben. Auch
sche Löwe steht ziemlich kräftig da, mit gelische durchzuhalten, aber sich mit dem wenn er jetzt mit den Grünen koaliert.
sehr guten Zähnen. Aber was stimmt, ist: System zu arrangieren. Merkel hat damals SPIEGEL: Wenn die CDU die Rechte nicht
Seehofer ist Merkel in die Falle gegangen. Prüfungen bestanden, vor denen andere mehr will – ist es nicht Zeit, dass die
SPIEGEL: Wie sah diese Falle aus? Menschen nie stehen. Und so geht sie eben Schwesterparteien getrennte Wege gehen?
Gauweiler: Sie wurde öffentlich im Fernse- beim Mauerfall demonstrativ cool in die Gauweiler: Nein. Die Diskussion haben
hen gestellt, bei Anne Will. In dem Inter- Sauna, während alle anderen sich in den wir zweimal sehr intensiv geführt, einmal
view kam erstmals die Frage nach dem Armen liegen. Wenn ich sie Maria There- in den Siebzigerjahren und noch mal 1990.
»Masterplan«. Da gab die Kanzlerin mit lie- Ich war 1976 für die Trennung, und 1990
benswürdigstem Lächeln bekannt, dass es wollte ich, dass wir in den neuen Ländern
leider, leider noch Abstimmungsbedarf bei »Sie können sagen, Seehofer eigenständige CSU-Formationen gründen.
diesem Plan und mit dem verantwortlichen hat eine Schwäche für SPIEGEL: Was spricht dagegen, es jetzt
Innenminister gebe. Und unser Horst saß in zu tun?
der medialen Falle. Er durfte in den nächsten persönliche Eskalationen. Gauweiler: 1990 hatte sich ein weißer
Tagen niemandem seinen Plan zeigen, und Merkel spielte damit.« Fleck auf der parteipolitischen Karte auf-
Merkels Büchsenspanner sorgten dafür, dass getan. Das ist vorbei. Heute konzentrieren
sich darüber alle vor Lachen schüttelten. wir uns auf die alt-neue Kraft einer groß-
SPIEGEL: Der arme Horst. sia nenne, ist das durchaus als Kompliment artig gewachsenen Regionalität, die Bava-
Gauweiler: Es ging ja noch weiter: Am Mitt- gemeint. Aber die Wittelsbacher hatten es rität. Small is beautiful. Und Europa als
woch darauf stand der sogenannte Integra- unter Maria Theresia eben auch schwer. die Schweiz der Welt. Außerdem geben
tionsgipfel an, ein typischer Werbeagentur- SPIEGEL: Hinter dem Asylstreit stand die mir Entwicklungen wie in Italien schon zu
termin. Seehofer hatte zu Recht abgesagt, fundamentale Frage, ob die Union für den denken. Ist das wirklich die Zukunft?
weil da eine Lady auftreten sollte, die seine demokratischen rechten Rand zuständig SPIEGEL: Was genau meinen Sie?
Heimatpolitik in die Nähe von »Blut und ist. Die CDU sagt Nein, die CSU Ja. Gauweiler: Unsere einst größte und wich-
Boden« gestellt hatte. Wen sah man dann Gauweiler: Stimmt, und meine Antwort tigste Schwesterpartei, die Democrazia
abends in den Nachrichten, auf dem Ehren- kennen Sie. Es muss in einer Demokratie, Cristiana, war Italiens Stabilitätsanker. Sie
platz neben der Kaiserin? Genau: diese die von kontroversen Debatten lebt, auch ist verschwunden, es gibt sie nicht mehr.
Journalistin. Das war der nächste Pfeil. eine demokratische Rechte geben dürfen. Wo die Christlichen-Demokraten waren,
SPIEGEL: Vielleicht sollte Seehofer einfach Neulich habe ich in der »Süddeutschen klafft ein so tiefer Schlund, da erkennen
nicht so empfindlich sein. Zeitung« über eine junge lesbische Frau Sie den Boden gar nicht mehr. Stattdessen
Gauweiler: Selber schuld, sagt der sonst mit Migrationshintergrund gelesen, die in regiert dort jetzt eine Koalition quasi aus
so einfühlsame SPIEGEL. Mal ehrlich: Wie der CDU-Reformkommission sitzt. Die Piratenpartei und AfD. Lassen Sie einen
hätten Sie reagiert? wurde mit dem Satz zitiert: »Ich habe das alten Konservativen wie mich sagen: Da-
SPIEGEL: Die Falle von Merkel war also, Gefühl, ich stehe hier, und die CDU kommt für dürfen wir unsere Union nicht aufs
dass sie zu wenig Rücksicht auf Seehofers mir immer mehr entgegen.« Das ist mit Si- Spiel setzen. Das geht sonst an die demo-
Gemütslage genommen hat? cherheit so. Aber ich wünsche mir von der kratische Substanz in Deutschland.
Gauweiler: Hier wurde eiskalt emotional CDU ein Nachdenken, von wem sie sich SPIEGEL: Die CSU hat mit Ihnen als Ga-
eskaliert. Gegenüber einem Mann, der erst dabei immer mehr entfernt. Wir hatten lionsfigur bei der Europawahl 2014 eher
vor sechs Monaten einen politischen Teil- früher die Metapher von der Partei als schwach abgeschnitten. Sind die Deut-
tod erlitten hatte, der als CSU-Chef in we- »Leuchtturm«. Die CDU muss aufpassen, schen einfach zu liberal und europafreund-
nigen Wochen eine schwierige Wahl beste- dass sie kein Leuchtturm auf Rädern wird. lich für die Gauweiler-CSU geworden?
hen wird müssen. Sie können sagen, dass SPIEGEL: Vielleicht kann die Union in ei- Gauweiler: Galionsfigur, na ja, ich habe
Seehofer eine Schwäche für persönliche ner modernen, individualisierten Gesell- mich breitschlagen lassen, einige Veran-
Eskalationen hat. Abgesehen davon, dass schaft nicht mehr alle abbilden. staltungen zu machen. Bei der Bundestags-
wir das alle haben: Angela Merkel spielte Gauweiler: Wir haben doch als Union im- wahl wenige Monate zuvor waren wir mit
mit dieser Schwäche. mer alle abgebildet, wir waren keine Partei, einem EU-kritischen Programm, das ich
SPIEGEL: Trotzdem ist es kein angeneh- sondern eine Sammelbewegung, die wie maßgeblich geschrieben hatte, noch sehr
mer Gedanke, dass die Emotionen einzel- erfolgreich. Im Europa-Wahlkampf haben
ner Personen eine Regierung an den Rand die Leute uns diese Positionen nicht mehr
des Abgrunds bringen. abgenommen, weil der Spagat zur Spit-
Gauweiler: Willy Brandt ist im Streit um zenmannschaft um Jean-Claude Juncker
eine Pressereferentin zurückgetreten. zu groß war. Aber was heißt das für mich?
Auch in der Politik kann der Flügelschlag Als Politiker ist man Wellenbrecher, der sich
DIETER MAYR / DER SPIEGEL
eines Schmetterlings einen Orkan auslö- auch gegen negative Trends stemmen muss.
sen. Aber hier zählt eben auch, wer die Es sei denn, man heißt Angela Merkel, die
Ursache gesetzt hat. ist eine Wellenreiterin, und zwar die beste
SPIEGEL: Hat Merkel nicht einfach stärke- der Welt. Sie bleibt oben, völlig egal, wo
re Nerven als nahezu alle Unionsmänner? die Welle herkommt und wo sie hingeht.
SPIEGEL: Herr Gauweiler, wir danken Ih-
* Mit den Redakteuren Melanie Amann und René Gauweiler beim SPIEGEL-Gespräch* nen für dieses Gespräch.
Pfister in München. »Wie hätten Sie reagiert?«
Zeiten von Trump scheinlich« hinzu. Man ahnt, dass hier jemand gegen
gewaltige Selbstzweifel andröhnen muss. Das macht sei-
nen Narzissmus so explosiv. Wenn Zweifel an dem Super-
idyll auftauchen, das er von sich und seinen Taten malt,
Essay Narzissmus und Vulgärkapitalismus – mit diesem ist er mehr oder weniger zu allem bereit, selbst zu Sät-
US-Präsidenten ist Politik nicht möglich. Europa zen, die ihm nicht nur von seinen Gegnern als Verrat aus-
gelegt werden.
sollte sich nicht auf ihn fixieren, sondern eigene Ziele Sein Wahlsieg ist bei Weitem nicht so glanzvoll, wie er
verfolgen. Bilanz einer verstörenden Woche. das gern darstellt. Hillary Clinton hat fast drei Millionen
mehr Wählerstimmen geholt, und Trump konnte nur
wegen einer Besonderheit des amerikanischen Wahlsys-
tems Präsident werden. Berater und Mitglieder seiner
olitiker sind es gewohnt, Politik mit oder gegen Familie stehen unter Verdacht, während des Wahlkampfs
Journalist weiß man das, verführerisch, sich auf Trump zu ist Stabilisierungspolitik in Nordafrika und dem Nahen
fixieren, sich von Trump provozieren zu lassen, aber viel Osten. Von dort kommen viele Flüchtlinge, dort sind
wichtiger sind die langen Linien der Politik. Sie haben vor Heimstätten des Terrors, mit Folgen für die gesellschaft-
Trump begonnen und reichen weit über Trump hinaus. lichen und politischen Verhältnisse in Europa, zumal ein
großer Krieg zwischen Israel und Iran / Syrien droht. Um
diese Region muss sich Europa mit großer Kraft kümmern,
it Trump hört nichts auf, mit Trump fängt mit Friedens- und Entwicklungspolitik. Das ist weit, weit
27
Deutschland
,4
nen. Fake News eben, kennt man ja. Statt- 393
dessen ist in Berlin der Streit um den Ver-
teidigungsetat neu entbrannt, und Sozial- 240,2 0,5
48
demokraten wie Unionspolitiker gehen
der Frage nach: Was genau hat Angela
Merkel erklärt, als sich die Staats- und Re-
gierungschefs vergangene Woche zur De- 73,9
batte im kleinen Kreis zurückzogen? 50,2
44
57,
,3
(2, ,8
2014 in Wales, wonach sich die Verbünde- 147
2%
228, 66, 3%
2 (1,9 3 (4 )
)
609,8 (entspric
ht 3,1%)
cken, war schon vor Trumps Wahlsieg ein 61,7
Zankapfel im Regierungsbündnis. Wäh- *Schätzung
rend sich viele Unionspolitiker zu dem Ziel USA China* Russland Frankreich Deutschland Quelle: Sipri
28
wie Trump es eben gefordert hatte? Völlig Diplomatie Außen-Staatsminister Niels Annen, 45 (SPD), fordert, die
unmöglich, sagte Merkel. deutsch-amerikanischen Beziehungen neu zu definieren.
Dann kam sie auf 2024 zu sprechen, das
Ziel von Wales. Es sei sehr schwer mit »un-
serem Parlament« bis 2024 auf zwei Pro-
zent zu kommen, sagte Merkel, fügte dann
»Verkehrte Welt«
aber einen Satz hinzu, der die Runde auf-
horchen ließ. »Die Debatte dahin läuft.«
Viele Nato-Regierungschefs verstanden SPIEGEL: Der amerikanische und der rus- Annen: Nein, wir müssen den Dialog
Merkels Äußerungen als Fingerzeig, dass sische Präsident haben sich in Helsinki sogar intensivieren, aber jenseits
die Bundesregierung mehr tun will, als bis- zum Gipfel getroffen. Das müsste einem des Weißen Hauses. Wir müssen inner-
lang angekündigt. Vor allem die baltischen sozialdemokratischen Außenpolitiker halb der USA die Kräfte unterstützen,
Staaten, die seit Langem mehr Solidarität doch gefallen – oder? die an den traditionell guten Beziehun-
der westeuropäischen Verbündeten gegen Annen: Ich komme mir manchmal vor gen zu Deutschland festhalten wollen.
russische Drohgebärden fordern, zeigten wie in einer verkehrten Welt: Gerade wir In der Handelspolitik sind das bei-
sich zufrieden. Die Kanzlerin habe eine Sozialdemokraten haben immer gefor- spielsweise die Gouverneure, Abgeord-
»sehr verantwortungsvolle Position« ein- dert, dass es auf Spitzenebene einen Dia- neten und Senatoren, die in ihren
genommen, bestätigt Litauens Außenmi- log zwischen den USA und Russland Bundesstaaten deutsche Unternehmen
nister Linkevičius. »Sie sagte, sie werde geben sollte, es sind mit vielen Arbeitsplätzen
ihr Bestes tun, um die Verteidigungsaus- immerhin die beiden größ- haben.
gaben ihres Landes zu erhöhen.« Merkel ten Atommächte. Aber das SPIEGEL: Ihr Parteifreund,
selbst sagte nach dem Treffen, dass die Ber- Treffen von Helsinki hat der frühere Außenminis-
liner Koalition nun noch einmal über den mich zutiefst irritiert. Erst ter Sigmar Gabriel, hat
Etat reden wolle. erklärt Trump Deutsch- gesagt, Trump wolle einen
Die Verteidigungspolitiker in Brüssel land auf dem Nato-Gipfel Regimewechsel in
hörten es gern, daheim in Berlin aber wirk- zum Gegner, dann trifft er Deutschland. Teilen Sie
ten Merkels Einlassungen wie ein Spalt- den russischen Präsidenten diese Befürchtung?
pilz, zumal in der entscheidenden Sitzung in offenkundig sehr gelös- Annen: Ich fand es jeden-
die Renovierung und vor allem den Innen- auf Lindners Erkundigungen. Die Frage, nun wieder sichtbar, schwärmt er. »Wir ha-
ausbau des Thomas-Mann-Hauses zu be- warum dann ausgerechnet Seeba-Hannan ben das Projekt in Rekordzeit, pünktlich
aufsichtigen und zu planen: die Berliner ausgewählt wurde, beantwortet das zu- und im vorgegebenen Budget realisiert:
Architektin Ursula Seeba-Hannan. ständige Finanzministerium nicht. Seeba- Wir sind glücklich und auch stolz darauf.«
Interessant dabei: Auch sie kennt Stein- Hannan selbst ließ eine Anfrage unbeant- Klimmers Unternehmersicht ist die eine
meier gut. Ihr Ehemann war einst dessen wortet. Das Bundespräsidialamt teilte mit, Seite, die andere ist, ob sich das Projekt
Büroleiter im Kanzleramt. Und so kommt zu keinem Zeitpunkt mit der Auftragsver- zu einem kulturpolitischen Erfolg ent-
es, dass sich inzwischen auch der Haus- gabe befasst gewesen zu sein. wickelt. Aufgrund des Zeitdrucks konnten
haltsausschuss des Bundestags für die An- sich die Beteiligten nur oberflächlich damit
gelegenheit interessiert. Vor zwei Wochen Für die Architektin war das Projekt ein beschäftigen, was die Institution akade-
mussten sich der Leiter des Bundespräsi- Erfolg. Bei der Eröffnungsfeier Mitte Juni misch eigentlich leisten soll und wie die
dialamts, Steinmeier-Intimus Steinlein, so- wurde sie gemeinsam mit dem Bundes- Strukturen so geordnet werden, dass sie
wie Außenminister Heiko Maas zur Causa präsidenten abgelichtet. Die Startseite ihrer übersichtlich sind. Ein Teil der mit jeweils
Seeba-Hannan erklären. Die Antworten Website ziert inzwischen eine Großauf- 3500 Euro monatlich dotierten Stipendien
der beiden stellten den grünen Haushälter nahme des Thomas-Mann-Hauses. wird von der Bosch- sowie der Leibinger-
Tobias Lindner nicht zufrieden. Schriftlich Verschwammen beim Thomas-Mann- Stiftung finanziert, ein anderer Teil von
hakte er daraufhin bei der Bundesregie- Haus die Grenzen zwischen Freundschafts- der Krupp-Stiftung. Das könnte sowohl in
rung nach. Er wollte wissen, ob der Auf- dienst und professionellem Auftrag? Klim- finanziellen wie in organisatorischen Fra-
trag für die Innenarchitektin eigentlich aus- mer kann nichts Anrüchiges an der Perso- gen noch zu Schwierigkeiten führen.
geschrieben worden sei, so wie das bei nalie Seeba-Hannan erkennen. Er habe die
öffentlichen Projekten Pflicht ist. Berlinerin »als persönliche Beraterin in ar- Ein Problem: Geplant war, dass die Sti-
Nein, so die Bundesregierung. Sie ist chitektonischen Fragen engagiert und aus pendiaten gleich lang in der Bauhaus-Villa
der Ansicht, der Auftrag in Höhe von eigener Tasche bezahlt«, sagt er. Das Hono- leben, und zwar für zehn Monate, um
400 000 Euro habe nicht nach den öffent- rar habe insgesamt 60 000 Euro betragen. einen möglichst intensiven intellektuellen
lichen Vergaberegeln ablaufen müssen. Er Er selbst ist höchst zufrieden mit dem Austausch zu fördern. Das hat sich rasch
werde »vollständig aus privaten Spenden- Ergebnis. Die »atemberaubende Schön- als Illusion erwiesen. Manche Bewohner
mitteln« bestritten, heißt es in der Antwort heit und Modernität« des Gebäudes sei wollen nun zwei Monate bleiben, andere
drei oder vier. Je nach Lust und Laune.
Zudem war Eile geboten, um rechtzeitig
für die Steinmeier-Zeremonie im Juni die
erste Riege vorweisen zu können. Von
August bis November wird sich etwa die
Berliner Sozialwissenschaftlerin Jutta All-
mendinger in Los Angeles als »Fellow«
aufhalten. Sie ist nicht nur Mitglied der
SPD, sondern hat in dieser Zeit eigentlich
andere Verpflichtungen: Kürzlich wurde
Allmendinger in die Kohlekommission der
Bundesregierung berufen, die bis Ende des
BERND VON JUTRCZENKA / PICTURE ALLIANCE / DPA
31
Kommentar
den Ferien einfach krank. »Wenn ich den flughäfen wie München, Frankfurt, Ham-
33
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Deutschland
I
m Jüdischen Museum Berlin ist neu- sich sicher gefühlt nach dem Drama in der Auf der Website der Ernst-Reuter-Schu-
erdings eine Kippa ausgestellt, sie Schulmensa. le verurteilte der Direktor den »antisemi-
ist aus Jeansstoff und gehört Adam Was dort passiert ist, erzählt Florian so: tischen Vorfall«, der sich »im Rahmen
Armoush, jenem jungen Israeli, der Er hatte gerade eine Freistunde, hörte Mu- einer Auseinandersetzung um den Nahost-
Mitte April in Prenzlauer Berg von einem sik, erledigte Hausaufgaben. »Da kam eine konflikt zugetragen« habe. Auf Nachfra-
19-jährigen Syrer mit einem Gürtel geschla- Gruppe muslimischer Mitschüler auf mich gen antwortet er nicht. Das Thema werde
gen wurde. Nun ist die religiöse Kopfbe- zu, Oberstufe. Sie sagten, sie wollten mit nun breit in der Schule aufgearbeitet, sagt
deckung eine Anklage: Seht her, wegen mir über Trumps Botschaftsverlegung nach die Antidiskriminierungsbeauftragte des
dieser Kippa wurde jemand mitten in Ber- Jerusalem reden. Schnell kam das Übliche: Senats, Saraya Gomis. Sie sieht den Anti-
lin verprügelt. Ihr habt uns das Land geklaut! Wo kom- semitismus als Teil eines offenen Rassis-
Florian, 19, Berliner Abiturient, war ge- men die Juden überhaupt her? Ihr seid Kin- mus auf Schulhöfen und in Klassenzim-
rade im Urlaub in Israel, als er von der dermörder! Ich habe ihnen alles noch mal mern, auch Lehrkräfte seien beteiligt.
Attacke erfuhr. Er bekam einen Schreck, erzählt: Der UN-Teilungsbeschluss, ihr
Prenzlauer Berg, das ist sein Viertel, da habt damals nicht zugestimmt, ihr wolltet Der Eklat in der Mensa gehört wie der
hatte er sich bislang sicher gefühlt. uns vernichten, ihr wolltet immer das gan- Kippa-Angriff zu den Fällen, die eine neue
Seine Kippa ist schwarz und Antisemitismusdebatte ausge-
gehäkelt, mit zwei Klammern löst haben. An mehreren Ber-
hat er sie auf seinem roten liner Schulen wurden jüdische
Haarschopf festgesteckt. Flo- Kinder beschimpft, bedroht
rian trägt sie weiter, aber er ist oder gemobbt. Erst vorige Wo-
vorsichtiger geworden. In der che wurde einem jüdischen
S-Bahn oder wenn er allein in Professor in Bonn die Kippa
anderen Bezirken unterwegs vom Kopf geschlagen.
ist, setzt er sie nicht auf. Er hat Die Zahl der antisemiti-
Angst, er könnte angegriffen schen Straftaten steigt, so die
werden. Weil er Jude ist. Statistik der politisch motivier-
Es war in der elften Klasse, ten Kriminalität für 2017. Da-
als sich Florian entschloss, die runter rassistische Pöbeleien,
Kippa für alle sichtbar zu tra- Angriffe, Schändung von Ge-
gen. »Da hatte es sich eh he- denkstätten, Hetze im Internet.
rumgesprochen, dass ich Jude Die Täter, sagt das Innenminis-
bin« – einer von wenigen un- terium, kämen zu 94 Prozent
ter mehr als tausend Schülern aus dem rechten Spektrum.
einer Oberschule im Wedding. Die Statistik enthält noch nicht
Das war vor zwei Jahren, und einmal alles, was passiert,
seitdem ist einiges passiert. nicht die Beleidigungen, die
Berlin, Mitte Mai, Florian nicht angezeigt werden, die Be-
hat als Treffpunkt das Restau- drohungen, die miesen Sprü-
rant »Masel Topf« ausgesucht, Schülerin Karina: »Ich will mich nicht verstecken« che, die einen Juden zum
ein Wortspiel mit dem hebräi- Fremden machen. Viele Juden
schen Mazel tov! Viel Glück! klagen vor allem über Hass-
Es liegt an einem hübschen attacken muslimischer Migran-
Platz gegenüber der Synagoge. »Sehen Sie ze Land.« Irgendwann sei die Gruppe auf- ten, die den Nahostkonflikt mit nach
die Sicherheitsleute?«, fragt Florian und gestanden, und ein libanesisches Mädchen Deutschland bringen.
zeigt zum Tor der Synagoge. »Ich bin so habe gesagt: »Wallah! Hitler war ein guter Das vielleicht Erschreckendste aber ist,
froh, dass sie da sind.« Mann, denn er hat die Juden umgebracht.« dass der Antisemitismus so alltäglich ge-
Er schreibt gerade seine letzten Abitur- Er habe unter Schock gestanden, sagt worden ist – in der Schule, in der U-Bahn,
prüfungen, dann hat er es geschafft, dann Florian, er habe doch immer versucht zu im Restaurant, auf dem Fußballplatz.
kann er die Schule verlassen, die für ihn argumentieren. »Ich rief: Dieses Mädchen Wer in diesen Wochen mit Juden in
zuletzt zur Qual geworden ist. Ein schma- glorifiziert den Holocaust, dieses Mädchen Deutschland spricht, spürt eine tiefe Ver-
ler, fast zarter junger Mann, eloquent, be- huldigt den Massenmord an über sechs unsicherung. Der SPIEGEL hat jüdische
lesen, politisch. Fünf Monate lang betrat Millionen Juden!« Da habe ihn ein arabi- Schüler getroffen, hat säkulare und from-
er die Schule nur noch durch einen Neben- scher Mitschüler gepackt und »quasi durch me Juden in Berlin, Hamburg und Düssel-
eingang, jede Pause verbrachte er allein in die halbe Mensa getragen«, während eini- dorf befragt. Viele haben schon Antisemi-
einem abgelegenen Kunstraum. Er selbst ge riefen: »Israel ist der Mörder, Israel ist tismus erlebt, auch israelfeindliche Parolen
habe es so gewollt, sagt er, nur so habe er der Mörder.« treffen sie. Sie fragen sich, warum sie so
jüdisch bin«, sagt sie. Sie habe sich sogar ich die Kippa lieber in der Tasche, bis ich seien schon als »jüdische Hunde« und
einen extra großen Davidstern gewünscht. dort bin.« In der U-Bahn vermeidet er es, »Drecksjuden« beschimpft worden. Zwei-
Viele rieten ihr, den Anhänger zu verber- Hebräisch zu sprechen, wenn er mit Kol- mal kam es zum Spielabbruch, gegen den
gen. »Ich will mich nicht verstecken«, sagt legen in Israel telefoniert. »Viele Juden Weddinger Verein Meteor 06 und den
Karina. Bloß wenn sie auf arabische Män- versuchen derzeit zu erspüren, was sich 1. FC Neukölln. »Ein Meteor-Spieler kam
ner treffe, »im Aufzug oder so«, dann ste- entwickelt, um im Fall der Fälle diesmal mit einer Eckfahne auf mich zu.« Spieler
cke sie ihn weg. rechtzeitig zu gehen.« von Neukölln hätten gedroht, die Messer
Neulich in einem Café, sie wartete mit Seine Schulzeit habe er als unbeschwert rauszuholen, Kaminski sagt, er habe ge-
ihren Freundinnen auf die Getränke, da erlebt. »Für mich war es ganz selbstver- hört: »Wir stechen euch ab.« Einige hätten
bemerkten sie ein paar türkischstämmige ständlich, in Deutschland aufzuwachsen.« propalästinensische T-Shirts unter den Tri-
Mädchen, die ihren Davidstern anstarrten. Nach jüdischem Kindergarten und Grund- kots getragen, davon eines mit einer Land-
»Sie glotzten voll drauf, gingen weg, lach- schule wechselte er auf ein öffentliches karte, auf der Israel mit den palästinensi-
ten, kamen wieder«, erzählt Karina. »Was Gymnasium in Grunewald, ein Drittel sei- schen Nationalfarben übermalt war. Die
ist?«, habe sie gefragt. Da seien die Mäd- ner Klassenkameraden war jüdisch. Viel- hätten sie auf dem Spielfeld gezeigt. Beiden
chen gegangen, eine habe ihr zugezischt: leicht habe es mal einen dummen Spruch Vereinen wurden damals vom Sportgericht
»Fette Juden mag man nirgendwo.« gegeben, »aber nichts Bedrohliches«. Punkte abgezogen, Meteor ausdrücklich
Karina versucht, das locker zu erzählen, Die Probleme für Kaminski begannen, wegen »rassistischer Verfehlungen«.
doch man spürt, dass es ihr nahegeht. Was als er 2015 die dritte Herren-Fußball- Kaminski arbeitet inzwischen viel in
hat man gegen sie, eine 15-jährige Schüle- mannschaft bei Makkabi Berlin mitgrün- Paris, da findet er die Situation für Juden
rin in schwarzen Nietenjeans und hellrosa dete. »Auf unserem Trikot ist der David- »noch kritischer« als in Deutschland. We-
T-Shirt mit zwei aufgedruckten Rosen, die stern, wenn wir auf den Platz laufen, gibt gen heftigem Antisemitismus in Frankreich,
gern singt und Deutschrap hört? es manchmal heftige Reaktionen.« Spieler Anschlägen und sogar Morden hätten sich
In Berlin sieht sie ihre Zukunft, und
doch hat sie das Gefühl, »egal, wie lange
ich hier bin, egal, wie gut mein Deutsch
ist«, dass Deutschland nie ganz zu ihrer
Heimat wird. »Sagen wir mal so: Ich bin
eine Jüdin mit ukrainischen Wurzeln zu
Gast in Deutschland.«
Viele hätten »noch nie einen Juden ge-
troffen«, sagt Karina, »ich möchte ihnen
gern von uns erzählen«. Deshalb besucht
sie ein Seminar des Zentralrats der Juden.
Jugendliche werden dort vorbereitet, als
Botschafter in Schulen zu gehen und über
das Judentum zu sprechen.
schon Gemeinden aufgelöst. »Vor 15, 20 blieben sie vor dem Tor mit dem David- Ey, du bist jüdisch, wie toll, erzähl mal.
Jahren sah die Lage dort etwa so aus wie stern stehen und grölten: Schade, dass Aber es gibt eben auch die anderen, des-
heute in Deutschland. Der Fehler war, dass nicht alle Juden vergast worden sind«. halb würde ich nie mit Davidsternkette in
man damals nichts unternommen hat.« Kinder hätten sie als »Scheiß-Jüdin« die Innenstadt gehen.
beschimpft, mehrmals wechselte sie die Yaniv: Ich fühle mich sehr frei in
Im Oktober 2000 verübten zwei arabisch- Schule. Deutschland, aber nicht als Jude.
stämmige Jugendliche einen Brandan- Ihrem Sohn wollte sie solche Erfahrun- Michelle: Das hast du gut gesagt!
schlag auf die Synagoge in Düsseldorf. Die gen ersparen. Sie lebte inzwischen in Ham- Yaniv: Viele Leute denken, dass wir
Tat löste bundesweit Entsetzen aus, Bun- burg, und als dort 2007 die Jüdische Schu- reich sind und eine große Nase haben, das
deskanzler Gerhard Schröder rief zum le öffnete, war Golan eine der Ersten, die ist echt traurig.
»Aufstand der Anständigen«. Michael ihr Kind anmeldeten. Heute geht Yaniv, Michelle: Genau! Da heißt es dann: Du
Szentei-Heise, 63, war damals schon Ver- 14, in die neunte Klasse, seine Mutter ar- siehst aber gar nicht aus wie ein Jude!
waltungschef der Jüdischen Gemeinde. Ei- beitet im Schulsekretariat. Er trägt ein Aber wie sieht denn ein Jude aus?
nen der beiden Männer, die als Jugendliche T-Shirt des jüdischen Jugendklubs, »Cha- Seht ihr eure Zukunft in Deutschland?
die Molotowcocktails geworfen hatten, sak« steht da auf Hebräisch, das heißt Michelle: Ja, ich glaube, ich habe hier
sieht er heute noch ab und zu, er wohnt in stark. Er sitzt mit Michelle, 16, im Sekre- viele Möglichkeiten.
der Nähe. Er war zu einer Bewährungsstra- tariat, auch sie ist seit der ersten Klasse Yaniv: Ich eher nicht, ich möchte nach
fe verurteilt worden und musste Sozialstun- dabei. Sie trägt schwarze Jeans mit Rissen Israel gehen. Da kann ich machen, was ich
den auf dem jüdischen Friedhof ableisten. und weiße Turnschuhe. will als Jude. Da muss ich nicht mehr hö-
Man könnte Szentei-Heise als rheinische Frage: Seid ihr schon mal antisemitisch ren: Ey, Mann, ich hab noch nie einen Ju-
Frohnatur beschreiben, er versucht, vieles beleidigt worden? den gesehen! Als wäre ich ein Alien, der
mit Humor zu nehmen. Doch auch er sagt Yaniv: Ja, beim Fußball, da heißt es »Du vom Mars kommt!
nun: »Ich bin besorgt.« Bereits vergangenes Jude!« oder »Scheiß-Jude«. Neulich hat Die jüdische Schule ist dagegen eine »klei-
Jahr häuften sich Berichte in der Gemeinde ein Kumpel, von dem ich das nie gedacht ne heile Welt«, wie seine Mutter es nennt.
über antisemitische Schmähungen an Düs- hätte, gesagt: Ihr seid doch alle reich! Morgens beten alle gemeinsam, mittags gibt
seldorfer Schulen. Er hat aufgeschrieben, Michelle: Meine jüdischen Freunde, die es koscheres Essen. Heute ist »milchig«
was sich jüdische Kinder anhören müssen: auf öffentliche Schulen gehen, erleben da dran: Kaiserschmarrn. Nur zu den Mahlzei-
»Wieso gibt es keine Gaskammern mehr?« mehr. Sie versuchen zu verbergen, dass ten und zum Gebet müssen die Jungs eine
»Du hast voll die Judennase.« »Macht ihr sie jüdisch sind. Eine Freundin sagt an den Kippa tragen, die sie aus einer Box vor dem
das immer noch, dass ihr Kinder schlachtet jüdischen Feiertagen immer, sie sei krank. Speiseraum nehmen können. Freitags wird
und das Blut für die Mazza nehmt?« Fühlt ihr euch sicher und frei in Deutsch- die Eröffnung des Schabbat gefeiert. Alle
Das Erschrecken ist auch deshalb so land? lernen Hebräisch und jüdische Religion, an
groß, weil sich die Gemeinde mittendrin Michelle: Ich fühle mich frei, würde den jüdischen Feiertagen ist schulfrei.
fühlt im Leben der Stadt, sagt Szentei- aber nicht jedem erzählen, dass ich jüdisch »Wir sind ein Ort, an dem das Judentum
Heise, »wir sehen uns als integralen Be- bin. Es gibt zwar auch Leute, die sagen: ganz selbstverständlich gelebt wird«, sagt
standteil der Düsseldorfer Ge- die Schulleiterin Franziska von
sellschaft«. Dieses Jahr hat Maltzahn, 44, die selbst nicht
sich die Gemeinde sogar mit jüdisch ist. 170 Schüler hat die
einem Heinrich-Heine-Motto- Joseph-Carlebach-Schule. Et-
wagen am Karnevalsumzug be- was mehr als die Hälfte ist jü-
teiligt, es war seine Idee. Szen- disch, die Übrigen haben ande-
tei-Heise fuhr mit auf dem Wa- re Konfessionen. Es ist Teil des
gen, neben ihm ein Vertreter Konzepts, »Normalität im Mit-
der Muslime. »Es war unglaub- einander jüdischer und nicht jü-
lich«, schwärmt der Gemeinde- discher Kinder«, sagt Maltzahn.
chef, »eine große Sympathie Die Schule ist so gefragt, dass
kam da rüber.« Statt »Helau!« der Platz knapp wird, auf dem
riefen sie »Düsseldorf Scha- Hof stehen Container als Er-
lom!« und warfen 1,3 Tonnen satzklassenzimmer. Ein Neu-
koschere Kamelle, die Szentei- bau für 500 Kinder ist geplant.
Heise in Israel bestellt hatte. In der sechsten Stunde hat
»Nächstes Jahr sind wir wie- Yaniv Geschichte bei Oliver
der dabei«, sagt er, für ihn ist Thron, einem der vielen nicht
das »auch eine Antwort auf An- jüdischen Lehrer. Häufig, sagt
tisemitismus«. Seine Mutter Thron, werde er gefragt: Wie
starb 1991 in Düsseldorf, sie hat- kommst du an eine jüdische
te Auschwitz überlebt. Schule? Dann sagte er: Im Som-
mer mit dem Fahrrad. »Wir
Liat Golan kam 1979 mit ihren sind eine Schule für alle mit ei-
Eltern aus Israel nach Minden. nem multikulturellen, interreli-
»Ich war sechs. Als ich später giösen Kollegium.«
verstand, wo wir gelandet wa- Das Thema seines Wahl-
ren, im Land der Täter, war das pflichtkurses in der neunten
ein Schock«, sagt Golan, 45. Klasse: Nationalsozialismus. Am
Die Familie wohnte über Abend hat Yaniv mit seiner Mut-
der Synagoge, »nachts zogen Schulleiterin Maltzahn ter noch ein Familienfoto betrach-
Betrunkene vorbei, manchmal »Hier wird Judentum ganz selbstverständlich gelebt« tet: Alle darauf wurden ermordet,
sellschaft (DLRG) 105 Bädern die Schlie- »sondern gewinnt auch Vertrauen in seine
ßung. Ein Drama für den Sport – und für Kraft.« Auf Klassenfahrten sei er oft an
viele Kinder in den Sommerferien. Zahl- die Isar gefahren und habe die Jugendli-
lose Becken und Liegewiesen sind nur des- chen in die Strudel springen lassen, damit
halb noch geöffnet, weil Fördervereine wie sie die Gewalt des Wassers erlebten. »Wir
in Gemünden Spenden und ehrenamtliche werden auch in Deutschland immer mehr
Helfer organisieren. mit dieser Gewalt konfrontiert«, gibt Röck
Es war der »Goldene Plan« der Deut- mit Blick auf die jüngsten Überschwem-
schen Olympischen Gesellschaft, der von mungskatastrophen zu bedenken: »Da er-
1960 bis 1975 für einen Bauboom sorgte,
quer durchs Land entstanden neue Aktivistin Kammritz (r.)* * Mit Vereinsvorstand Elke Roos auf einer Beachparty
Schwimmbäder, im Ausland wurde die »Helft mit!« in Gemünden.
42
BERT BOSTELMANN / BILDFOLIO / DER SPIEGEL
Schwimmbadbesucher in Gemünden: Protest gegen die Schließung
trinken Kinder oder werden wiederbelebt Zeit in der Schule, da lohne die Öffnung nicht mehr, die Einsparungen der Kommu-
und dann zu neurologischen Pflegefällen, des Freibads nicht mehr. An dieses Argu- ne bei den Zuschüssen wettzumachen.«
nur weil sie nicht schwimmen können.« ment erinnert sich jedenfalls Norbert Wall- Die Selbstausbeutung soll ein Ende haben;
Der Bayerische Lehrer- und Lehrerin- rafen, 62. Um die Schließung zu verhin- 2020 will der Verein aufgeben.
nenverband, die DLRG und der Deutsche dern, hatte Wallrafen sich mit Klappstuhl In Gemünden im Hunsrück trotzte am
Städte- und Gemeindebund (DStGB) sind und Gartentisch vor die Kirche gesetzt und vergangenen Samstag eine Beachparty
sich einig: Deutschland braucht einen neu- Unterschriften gesammelt. 6000 Bürger dem Niedergang, Motto: »Geminne goes
en Goldenen Plan, eine gemeinsame Kraft- unterschrieben, andere unterstützten die Malle«. Ballermannbrüller beschallten die
anstrengung zur Sanierung seiner in die Petition online. Genützt hat es nichts. friedliche Waldlichtung; Sangria wurde im
Jahre gekommenen Bäder. »Ohne zusätz- »Es fehlt etwas im Ort«, sagt Wallrafen, Eimer mit Strohhalmen gereicht.
liche Milliarden von Bund und Ländern »Oberbruch ist jetzt nur noch Brennpunkt.« Um den Hals von Taina Kammritz, der
wird dieses Vorhaben nicht gelingen«, sagt Früher ermöglichte der sozial schwache Be- jungen Chefin des Fördervereins, baumeln
Gerd Landsberg, Hauptgeschäftsführer zirk, in dem das Bad liegt, seinen Einwoh- Girlanden. Diesmal haben sie es geschafft.
des DStGB. »In der im Koalitionsvertrag nern wenigstens den Sommerurlaub vor Sicher gerettet sei das Freibad aber nicht.
beschlossenen Kommission ›Gleichwertige Ort. »Das Freibad war der einzige günstige Neulich erst wurde ein Leck im Becken
Lebensverhältnisse‹ in ganz Deutschland Freizeitvertreib für die Jugendlichen«, sagt identifiziert. »Dass wir die Stelle gefunden
müssen gerade solche wichtigen Standort- Wallrafen, der selbst seine Kindheits- haben, ist gut«, sagt Kammritz. »Ob wir
fragen, wie es auch eine flächendeckende sommer hier verbracht hat. Jetzt treibt die Ausbesserung bezahlen können, wis-
Versorgung mit Schwimmbädern ist, vo- Laub im trüben Beckenwasser. sen wir nicht.«
rangetrieben werden.« Ob die besonders häufig in Nordrhein- Annette Bruhns, Miriam Olbrisch
Solange die Politik dieses Projekt nicht Westfalen gegründeten Bürgerbäder oder
in Angriff nimmt, werden jedes Jahr wei- ob Schwimmbad-Genossenschaften das
tere Bäder ihre Drehkreuze feststellen Freibadsterben stoppen können, ist frag- Video
Ein Stück Mallorca
müssen. In Heinsberg in Nordrhein-West- lich. »Uns reicht’s«, sagt Ernst Walter Siep- in Gemünden
falen schlossen Lokalpolitiker vor drei mann, 69, Vorsitzender des Trägervereins spiegel.de/sp302018freibad
Jahren das Freibad Oberbruch mit dem Schwelmebad, der das Freibad der Ruhr- oder in der App DER SPIEGEL
Hinweis, die Kinder verbrächten so viel stadt Schwelm betreibt. »Wir schaffen es
Quotienten sind tröstlich, weil sie immer etwas ins Verhältnis (relativ) weniger Dreck. Das wäre zwar auch der Fall, wenn jeder
setzen. Natürlich ahnen die Deutschen, das Volk der Sammler seinen Müll im Vorgarten vergraben oder in die Ostsee kippen
und Trenner, dass es bei der Vermeidung von Müll nicht gut um würde, aber nein: Die Statistiker stellen gesamtwirtschaftlich
sie steht. Kein anderes Land in Europa verbraucht so viel Kunst- eine »Entkoppelung des Abfallaufkommens von der Wirt-
stoffverpackungen. Aber muss man nicht das große Ganze im schaftsleistung« fest. Das liegt vor allem an der Bauwirtschaft.
Blick haben? Die »Abfallintensität« jedenfalls sinkt in Deutsch- Abbruch- und Bauabfälle werden vermehrt geschreddert und
land. Das ist der Quotient von Abfallaufkommen und Brutto- recycelt. Doch auch bei Siedlungsabfällen scheint der Gipfel
inlandsprodukt (BIP), das Verhältnis also zwischen dem, was der hinter uns zu liegen. Seit Sommer 2002 sinkt die Restmüllmenge
Warenwelt an Wert hinzugefügt wird, und dem, was dabei, lei- pro Kopf. Wer will, kann das der damaligen rot-grünen Bundes-
der, leider, an Kollateralschaden anfällt. Seit mehr als 20 Jahren regierung zuschreiben. Oder dem Einknicken der Ökonomie
nimmt sie ab, die Abfallintensität, gemessen in Kilogramm je nach dem 11. September 2001. Oder einfach der guten alten
1000 Euro. Die Wirtschaft produziert mehr, macht dabei jedoch deutschen Disziplin. alexander.smoltczyk@spiegel.de
Vanilleschoten im Großhandel, das ist Deswegen hoffe ich, dass der Pure Vanille. Sie rundet den
teurer als Silber! Vor drei Jahren kostete Spuk auch bei Vanille spätestens Geschmack ab. Ach, sie macht
ein Kilo noch 200 Euro. in einem Jahr vorbei sein wird. den Unterschied! NES
Liebes Brautpaar … könne also heiraten, auch ohne Zustimmung der Eltern.
Diese Erläuterung löste eine Protestwelle aus, auch das
gehört zur Türkei im Jahr 2018, es gibt in diesem Land noch
Frauenverbände und Oppositionspolitiker. Die Religions-
Warum ein Hochzeitsfotograf in der Türkei verwalter sahen sich gezwungen, das Lexikon von ihrer
seine Arbeit einstellte Internetseite zu entfernen. Sie bekannten sich, mit Gottes
und dem Bräutigam die Nase brach Hilfe, zur türkischen Verfassung. Es war eine vorübergehende
Aufregung. Für Kinder, die in der Türkei verheiratet werden,
blieb sie ohne Folgen. Die Hunde bellen, die Karawane zieht
nur Albayrak ist ein Mann mit einem gemütlichen Bart, weiter, sagt ein türkisches Sprichwort.
O einem Pferdeschwanz und achtsamem Blick. Eine Er-
scheinung, die Wärme ausstrahlt und Ruhe. Er verdient
sein Geld als Hochzeitsfotograf. Er ist seit 17 Jahren im Ge-
Nachdem der Bräutigam im Turgut-Özal-Park seine Ansage
beendet hat, legt der Hochzeitsfotograf Onur Albayrak seine
Kamera ab, richtet sich auf, verpasst dem Bräutigam einen
schäft. Man vertraut ihm die besonderen Augenblicke des Kopfstoß und bricht ihm dabei die Nase. Picknickende Familien
Lebens an. und Albayraks Kollegen gehen dazwischen, man räumt den
An einem Morgen Anfang Juli blickt Onur Albayrak in Hochzeitsfotografen in ein Auto, das Auto verlässt den Park.
zwei Brautaugen voller Angst. Es ist kurz nach zehn Uhr Über Nacht wird Albayrak zum Helden: endlich einer, der
im Turgut-Özal-Naturpark östlich der anatolischen Stadt etwas unternimmt. Ein Frauenverein aus Van, einer Stadt
Malatya, 30 Grad im Schatten, für Albayrak das erste Shoo- weiter östlich in Anatolien, schickt ihm eine rührend gestal-
ting des Tages. Im Gras frühstücken Familien, ein paar Bäume tete Dankesurkunde, in Kirschrot. Jeder spürbare Einsatz im
weiter fotografieren Kollegen andere Brautpaare. Der Park Kampf gegen die Kinderehe zählt. Dabei kann Albayrak die
ist eine beliebte Kulisse, mit Vögeln und Pferdekutschen. Hochzeit des 15-jährigen Mädchens nicht verhindern. Die
Es könnte losgehen, aber diese Ehe wird geschlossen, nur ohne Bil-
Braut gefällt Albayrak nicht. Sie zit- der aus dem Turgut-Özal-Park.
tert. Sie ist klein und schmächtig wie »Wenn es wieder dazu käme, würde
ein Kind. ich es noch mal tun«, schreibt Albay-
»Wie alt sind Sie, bitte?«, fragt der rak zwei Tage danach auf Facebook.
Fotograf. »Kinderehe ist in meinen Augen Kin-
»15«, sagt die Braut. »Nein, 16.« desmissbrauch. Keine Kraft kann
Albayrak, so hat er diese Szene in mich dazu bringen, dieses Kind im
zahlreichen Interviews in türkischen Brautkleid abzulichten. Man setzt ei-
Medien geschildert, dreht sich darauf- nem Kind keinen Schleier auf, höchs-
hin zum Bräutigam und sagt: »Ich tens einen Kranz aus Feldblumen.«
fotografiere keine Kinderbräute. Aus Eine Weile müssen Albayraks Freun-
Prinzip. Wenden Sie sich an einen de vor seinem Atelier Wache halten,
anderen Fotografen.« Albayrak um möglichen Angriffen vorzubeugen.
Der Bräutigam wird ungemütlich. Vor allem aber bekommt er Zuspruch.
Nimm dein Geld, sagt er, mach deine Von Anwälten, die ihn unterstützen
Arbeit, rede nicht so viel. Nein, wie- wollen, sollte ihn der Bräutigam anzei-
derholt der Fotograf, Sie haben mich gen. Von Frauen im Alter seiner Mut-
nicht verstanden, ich mache es aus ter, die seine Hand küssen möchten.
Prinzip nicht. Der Bräutigam versteht Von der Website Hurriyetdailynews.com Von Inhabern von Hochzeitssälen, die
tatsächlich nicht. Er packt den Foto- ihre Locations nicht mehr für Kinder-
grafen am Kragen. Was dann passiert, beschäftigt bis heute hochzeiten vermieten. »Ich habe das wahre Foto dieses Landes
die sozialen Netzwerke in der Türkei. geschossen«, schreibt Albayrak, das Netz antwortet ihm: »Ech-
In der Republik Türkei, der Verfassung nach ein laizisti- ter Mann!« – »Ein Bürger mit Gewissen biegt zurecht, was der
scher Staat, werden 15 Prozent der Mädchen vor ihrem Staat verbockt hat!« – »Sollte er angezeigt werden, dann bitte
18. Lebensjahr vermählt. Das sagt eine Statistik der Vereinten nicht dafür, dass er dem Typen die Nase gebrochen hat, sondern
Nationen. Ein Prozent sogar vor ihrem 15. Geburtstag. dafür, dass er dem den Schädel nicht eingeschlagen hat.«
Es handelt sich dabei um religiöse Ehen. Standesamtlich Onur Albayrak ruft noch die türkischen Schneider dazu
darf man in der Türkei erst mit 18 Jahren heiraten. Prediger, auf, keine Brautkleider mehr an Minderjährige zu verkaufen.
die Kinderehen schließen, sind keine geheim agierenden Fa- Friseure sollen keine Kinderbräute mehr zurechtmachen, Dru-
natiker, sondern vom Staat bezahlte und kontrollierte Imame. ckereien keine Einladungen zu Kinderhochzeiten mehr dru-
Die Religionsbehörde Diyanet beschäftigt mehr als 100 000 cken. »Ignoranz ist unser größter Feind«, schreibt Albayrak.
Angestellte, mit einem Etat von einer Milliarde Euro. Das ist »Ein Feind, der eigentlich zu groß ist, um ihn zu bekämpfen.«
mehr, als der Bundesnachrichtendienst zur Verfügung hat. Und dann, nach einer Woche, verstummt Onur Albayrak.
Im Januar veröffentlichte diese Religionsbehörde ein Lexi- Er löscht von seiner Facebook-Seite alle Beiträge, die mit
kon der für sie relevanten Begriffe. Einer davon lautet »Büluğ«, dem Zwischenfall zu tun haben. Er gibt keine Interviews
ein osmanisches Wort für Geschlechtsreife. Man muss solche mehr, seinen Assistenten im Atelier lässt er ausrichten, er
Wörter den Bürgern der Republik Türkei heutzutage erläutern, wolle »mit der Sache« nichts mehr zu tun haben. Er komme
denn die wenigsten, auch die frommen, verstehen Osmanisch. vor lauter Aktivismus nicht mehr zum Arbeiten. Inzwischen
Im amtlichen Religionslexikon hieß es: »Das Alter, mit dem ist Onur Albayrak von der Polizei vernommen worden. Es
die Untergrenze für Geschlechtsreife erreicht wird, beträgt sieht so aus, als schlage da jemand zurück. Timofey Neshitov
45
Gesellschaft
46
m frühen Morgen des 29. April Was Lisa Hagen und ihre Bergsteiger- Mit einem Kleinbus und einem Auto
Während sie beim Frühstück sitzen und Berghütte Cabane des Vignettes: Die letzten 400 Meter
auf die Entscheidung ihres Bergführers
warten, füllt sich der Speiseraum. Die rüber zur Cabane des Vignettes. Zur Not Gaspoz ist Ende vierzig und von Beruf
meisten der rund 60 anderen Gäste wer- übernachten wir auf dem Fußboden. Bergretter, er arbeitet bei der Hubschrau-
den wegen der Wetterprognose beschlie- Dass sich die anderen Gäste anders ent- berfirma Air-Glaciers. Er checkt seine Wet-
ßen, ihren Aufstieg an diesem Tag nicht scheiden, heißt nicht, dass der Plan des ter-Apps und stellt sich darauf ein, dass er
fortzusetzen. Tommaso Piccioli kommt Bergführers falsch sein muss. Der Alpinis- bald Arbeit bekommen wird.
mit einem Franzosen ins Gespräch, der mus kennt wenige starre Regeln, das Der Aufstieg zum Pigne d’Arolla ist
sagt: Das Wetter wird gefährlich. macht seine Schönheit aus und seinen nicht anspruchsvoll, nur lang. Nach viel-
Mario Castiglioni sieht das anders. Er Schrecken. Bergsteiger arbeiten eher mit leicht 20 Minuten dreht sich Lisa Hagen
ruft seine Gruppe zusammen und sagt: dehnbaren Risikoabschätzungen als mit um und blickt zur Hütte zurück. Es war
Wir werden heute auf den höchsten Gipfel Gewissheiten. richtig loszugehen, denkt sie, die Wolken
der Tour gehen, den Pigne d’Arolla, und Die Gruppe könnte das Risiko aber ver- lichten sich, die Sonne dringt durch. Sie
dort, auf 3790 Metern, entscheiden, wie ringern, indem sie an der Hütte ein GPS- macht ein Foto und geht weiter.
wir weitermachen. Gerät einschaltet und eine digitale Spur Sie steigen auf, ohne viel zu reden, sie
Laut Programm ist die nächste Unter- speichert, die, sollte die Sicht schlecht wer- wollen ihre Kräfte sparen. Sie haben keine
kunft, die Cabane des Vignettes, in rund den, den Weg zurück weist. Aber sie ver- Vorstellung davon, wie lange sie unter-
sechs Stunden erreichbar. Aber irgend- zichtet darauf. Sie folgt ihrem Bergführer. wegs sein werden. Lisa ist nicht so recht
etwas hat mit der Reservierung nicht funk- Um 6.30 Uhr gehen sie los, über eine klar, was Mario Castiglioni, an der Spitze
tioniert, die Hütte ist ausgebucht. Der Berg- sanft geschwungene, breite Schneeflanke der Gruppe, vorhat. Um mit ihm zu spre-
führer sagt: Wenn das Wetter zu schlecht in Richtung Gipfel. chen, müsste sie zu ihm aufschließen, aber
wird, können wir vom Pigne d’Arolla aus Eine halbe Stunde später macht sich Pas- das lässt sie. Sie hat Vertrauen zu ihm nach
hinunterfahren ins Tal. Oder wir gehen cal Gaspoz unten im Tal einen Espresso. den vielen gemeinsamen Touren.
SCHWEIZ
FRANKREICH
Chamonix
I TA L I E N
Tommaso Piccioli geht weiter vorn, er alles besprechen. Lisa denkt daran, dass des Bergführers hat ihr den Klettergurt ab-
ist froh, dass er hat schlafen können, er sie abends in einer warmen Hütte sitzen genommen und einen ihrer Ski, einer der
hat gut gefrühstückt und fühlt sich stark. und Bier trinken wird. Mario wird wissen, Franzosen trägt den zweiten Ski.
Er rechnet damit, dass sie vom Gipfel ins was er tut, denkt sie. Er hat sie immer si- Sie könnten jetzt eine geeignete Stelle
Tal herunterfahren oder zur Hütte zurück- cher ans Ziel gebracht. suchen, um eine Höhle in den Schnee zu
gehen werden, bevor das Wetter kippt. Nach einer Weile merkt sie, dass sie am graben, die ihnen Schutz in der Nacht gibt.
Über ihnen zieht sich der Himmel zu. selben Ort aufsteigen, wo sie zuvor abge- Aber sie gehen einfach immer weiter.
Sie sind seit etwa drei Stunden unter- stiegen sind. Ich muss ruhig bleiben, sagt Die Dämmerung hat schon eingesetzt,
wegs, als der Sturm kommt, früher und ag- sie sich. Keine Panik jetzt. Sie rammt ihre als sie zwei Steinmännchen entdecken,
gressiver als erwartet. Er verwirbelt den Stöcke in den Schnee, sie macht einfach brusthoch. Die Steine markieren eine Pas-
Schnee; alles, was eben noch zu sehen war, einen Schritt auf den nächsten. Den Berg- sage, durch die Skifahrer bei klarer Sicht
die Hütte, die Spur, die sie gezogen haben, führer kann sie nicht mehr sehen. Tomma- gleiten können, die letzten 400 Meter hi-
die Berge, das Tal, verschwindet. Für die so Piccioli, der ein GPS-Gerät bei sich hat, nunter bis zur Hütte. Doch der Sturm ist
Abfahrt ins Tal ist es zu spät, die Sicht ist arbeitet sich nach vorn und fragt den Füh- zu heftig. Hier bleiben wir, sagt der Berg-
zu schlecht. Sie schnallen die Ski ab und rer: Wohin gehst du? Alles okay, ruft Ma- führer. Er sagt: Stapelt eure Rucksäcke über-
stapfen dem Bergführer hinterher, niemand rio. Sie gehen ein Stück weiter, dann zeigt einander, als Barriere gegen den Wind.
redet. Mario Castiglioni schleift ein langes, Tommaso dem Bergführer sein GPS-Gerät. Lisa Hagen hört, wie die Frau des Berg-
buntes Seil durch den Schnee, damit man Am Rand des Bildschirms kann man den führers sagt, sie suche tieferen Schnee, um
seiner Spur folgen kann. Seine Frau läuft Anfang eines Weges erkennen. sich einzugraben. Dann sieht sie sie im Ne-
am Ende der Gruppe, sie hilft denen, die Sie ändern die Richtung und gehen da- bel verschwinden. Der Bergführer selbst
weniger Kraft haben, Gabriella vor allem, hin, wo sie die Route vermuten. Dann er- bleibt bei der Gruppe. Tommaso hört, wie
die unterwegs ein Steigeisen verliert. scheint eine Hütte auf dem Bildschirm, er sagt: »Ich kann nichts mehr sehen.«
Gegen zehn Uhr tauchen vier fremde »Leute, wir sind richtig«!, ruft Tommaso Lisa weiß jetzt, dass sie nicht mehr auf
Gestalten auf, es sind französische Alpinis- Piccioli, sie gehen weiter, aber der Weg Mario hoffen kann. Sie lässt sich in den
ten, zwei Frauen und zwei Männer, die sich führt in einen Steilhang. Sie kehren um Schnee fallen und sieht, wie der Bergfüh-
verirrt haben. Lisa Hagen sieht, dass einer und suchen einen anderen Weg, der zur rer auf seinem Satellitentelefon herum-
der Männer einen Kompass und eine Karte Hütte führen könnte. Aber da ist kein Weg. drückt. Es funktioniert nicht. Sie denkt an
dabeihat, wie altmodisch, denkt sie, und Irgendwann reißt der Nebel auf, und Lu- ihr Handy, das in ihrer Hosentasche steckt.
nutzlos in diesem Sturm. Der Franzose ver- ciano, der 72-jährige Schweizer, sieht einen Sie müsste ihren Handschuh ausziehen,
sucht, mit dem Bergführer zu sprechen, er schwarzen Gummischlauch, der quer über um an das Handy zu kommen, aber das
schreit gegen den Wind an. Sie kann nicht einem Hang hängt. Luciano weiß, dass im ist in diesem Moment keine Option. Die
hören, was er sagt, aber es sieht für sie so Sommer Wasser durch diesen Schlauch fließt, Handschuhe sind ihr ein letzter Schutz.
aus, als ob die beiden Männer sich nicht ei- von einer Quelle direkt zur Cabane des Vi- Sie denkt: Scheiße, ich kann doch nicht
nig wären. Der Bergführer geht weiter, von gnettes. Er sagt: Wir müssen nur der Was- die Nacht hier draußen verbringen, wir
da an folgen ihm auch die vier Franzosen. serleitung folgen. Doch je weiter sie gehen, sterben, wenn uns niemand findet.
Lisa Hagen ist noch immer nicht klar, desto steiler fällt der Hang ab. Der Abstand Sie lehnt sich an Andrea, den Kranken-
wohin Mario sie führen will. Irgendwann zu dem Schlauch wird größer, irgendwann pfleger, der nur hier ist, weil ein anderer
sieht sie im Nebel Kalina, Marios Frau, sie hängt er so hoch, dass sie ihn im Schnee- abgesagt hat. Er hockt neben ihr und hat
ruft ihr zu: Warum sind wir nicht früher gestöber nicht mehr erkennen können. Sie einen Arm um sie gelegt. Sie schafft es, ihr
ins Tal runtergefahren? Nicht jetzt, ant- müssen umkehren. Lisa Hagen sieht, dass Brot aus ihrem Rucksack zu ziehen, ohne
wortet Kalina, heute Abend werden wir Gabriella kaum noch gehen kann. Die Frau die Handschuhe auszuziehen, sie gibt
Samstag, 28. April Sonntag, 23. April Sonntag, 23. April, Mittag
Cabane du Mont Fort Cabane des Dix Nahe des Pigne d’Arolla
Gegen 10 Uhr vormittags zieht dichter Nebel auf, ein Schneesturm
setzt ein. Die Gruppe verliert die Orientierung. Auf dem Plateau stößt
eine französische Viererseilschaft dazu, die sich ebenfalls verirrt hat.
Matterhorn 4478 m
Rifugio Nacamuli
Grand Combin 4314 m
Südlich des Grand Combin verläuft eine Montag, 30. April
schwierigere Variante der »Haute Route«. Etwa 400 Meter vor der Cabane des Vignettes
Sie ist besonders steil, oft vereist und Erschöpft verbringen die Bergsteiger die Nacht im Schneesturm,
potenziell lawinengefährdet. mitten auf dem ausgesetzten Grat. Am nächsten Morgen
werden 14 Menschen mit schweren Unterkühlungen gefunden.
7 von ihnen werden nicht überleben.
60 km 75 km 90 km 105 km 114 km
Luciano erkannte noch, dass der Him-
mel heller wurde, dann schlief er ein. Er
träumte von schönen Farben und Blumen.
Als er am Nachmittag erwachte, lag er in
einem Krankenbett. Das Erste, was er sah,
waren seine schwarz verfärbten Finger auf
der weißen Bettdecke. Die Ärzte sagten ihm,
sein Körper sei auf 26 Grad Celsius herun-
tergekühlt gewesen. Ein, zwei Grad weni-
ger, und er wäre nicht mehr aufgewacht.
Im vergangenen Jahr sind in der Schweiz
154 Menschen bei Unfällen in den Bergen
ums Leben gekommen, 2015 waren es 213.
HILMAR SCHMUNDT / DER SPIEGEL
ich dann nahm. Wir standen auf der Stra- richtig verstanden habe. Der Balkon ge-
ße, als sich ein Mann mit einem Hund höre gewissermaßen auch ihm, jedenfalls
und einem großen Kaffeebecher näher- teilweise. Welcher Teil, konnte er nicht
te. Das war der Nachbar. genau sagen, auf jeden Fall aber der, auf
»Ziehst du hier ein?«, fragte er. dem ich gerade stand. Irgendwann hatte
»Vielleicht«, sagte ich. ich den Eindruck, wir diskutierten die
»Wenn ihr mir den Zugang zu meiner Zukunft einer Zweistaatenlösung.
Außenwand verwehrt, reiße ich die ver- Besetztes Gebiet Vielleicht schreibe ich darüber, sagte
dammte Brüstung ein. Alles. Ich komme ich. Ich bin Journalist beim SPIEGEL.
mit dem Kran. Das Gitter ist illegal. Das ist alles illegal«, »Oh«, sagte der Nachbar. »Das ist ein gutes Magazin.«
sagte der Nachbar. »Danke«, sagte ich.
»Interessant«, sagte ich. Er schwieg drei Sekunden, in denen er über seine Optionen
»Juden kannst du nicht trauen«, sagte er. nachzudenken schien. Dann schrie er: »Dann weißt du ja
Die Maklerin sagte, der Nachbar sei Jude. ganz genau, was eine Okkupation bedeutet. Das ist Okku-
Ich wackelte mit dem Kopf wie ein Idiot. pation.«
Der Nachbar bewohnt einen Palast, der an das Haus grenzt, »Was?«, fragte ich.
in dem unsere Wohnung liegt. Hohe Glasfenster, Terrassen »Alles«, sagt er. »Eine Jude stiehlt Land von einem Juden,
zum Meer und einen Swimmingpool auf dem Dach. Er sei der es zuvor von einem Araber gestohlen hat.«
Kunstdealer, erfuhr ich auf einer Party von jemandem, der Die Frage war, wie ich da reinpasste. Als Deutscher. Als
ebenfalls in der Straße lebt, russische Rockbands managt und Mieter und Nachbar und Mann mit Vergangenheit. Und wo
meinen Nachbarn gut kennt. eigentlich die Moral der Geschichte war. Offenbar fragte sich
»Er ist nicht verkehrt, aber er hatte vor ein paar Jahren das mein Nachbar auch gerade. Er machte einen Punkt.
Streit mit seinem Nachbarn, weil er irgendeine illegale Ter- »Die Bauarbeiten werden sich sehr lange hinziehen. Mo-
rasse gebaut hatte. Er musste sie wieder abreißen. Seitdem natelang«, sagte er. Dann ging er. Ich stand auf meinem hand-
rächt er sich. An allen. Unter anderem, indem er ständig sein tuchgroßen Balkon und hörte das Meer rauschen. Die Ruhe
Haus renoviert. Er will uns zeigen, dass er es darf. Gerade war himmlisch.
macht er wieder die Fassade.« Nur in der Ferne rumpelten ein paar Kampfhubschrauber.
51
Wirtschaft
»Es ist auch ein Kampf um die Würde.« ‣ S. 66
Fachkräftemangel
Zuwanderung erleichtern
Arbeitgeber wollen Einreise auch ohne konkretes Arbeitsplatzangebot.
● In der Debatte um Flüchtlinge und Einwanderung fordern Aufgaben der kommunalen Ausländerbehörden in »speziali-
die Arbeitgeber, die Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräf- sierten überregionalen Kompetenzzentren« zu bündeln.
te deutlich zu erleichtern. Der »Sieben-Punkte-Plan« der Generell sollten die Verfahren vereinfacht, vereinheitlicht
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände und verbindlicher werden. Zugleich soll die Zuwanderung
(BDA) ist auch ein politisches Signal zum geplanten Fachkräf- von Menschen mit Berufsqualifikation »deutlich erleichtert
tezuwanderungsgesetz, das die Bundesregierung im Herbst werden«. Dazu solle auch die sogenannte Positivliste »ab-
vorlegen will. »Das bestehende Zuwanderungsrecht muss geschafft, zumindest aber flexibilisiert« werden. Auf der
besser strukturiert, transparenter, deutlich einfacher und Positivliste stehen Berufe, in denen Fachkräftemangel be-
punktuell ergänzt werden«, heißt es in dem Papier. Ein Punk- steht. Bisher dürfen vor allem Fachkräfte aus diesen Mangel-
tesystem für die Einwanderung, wie es etwa Kanada hat, berufen bei einem Arbeitsangebot zuwandern. Die BDA will,
lehnt die BDA ab. Stattdessen fordert sie etwa eine drastische dass »eine Einreise auch ohne konkretes Arbeitsplatzangebot
Vereinfachung der Bürokratie. Derzeit erteilten 600 Aus- möglich ist«. Für qualifizierte Fachkräfte ohne akademische
länderbehörden Aufenthaltstitel an ausländische Fachkräfte. Ausbildung und Ausbildungssuchende solle es künftig eine
Um Entscheidungen zu beschleunigen, sei es notwendig, die »Aufenthaltserlaubnis zur Arbeitsplatzsuche« geben. MAD
Siemens arbeiter ist wichtig für das neue Strategie- le ihrer Freizeit einbringen. Freie Stellen
Büffeln in der Freizeit konzept, das Vorstandschef Joe Kaeser müssen künftig auf allen Hierarchiestufen
am 2. August vorstellen will. Auf Druck ausgeschrieben werden. Zudem verpflich-
● Siemens-Mitarbeiter sollen sich künftig von Gesamtbetriebsrat und IG Metall hat- tet sich der Vorstand, der Belegschaft früh-
auf Firmenkosten auch in ihrer Freizeit te die Siemens-Führung dem »Zukunfts- zeitig zu signalisieren, »welche Kompeten-
weiterbilden, um sich für die Digitalisie- pakt« mit Gewerkschaft und Betriebs- zen und Fähigkeiten vom Unternehmen
rung zu wappnen. Das geht aus einer räten zugestimmt. Demnach müssen als zukunftsfähig und chancenreich«
vertraulichen Vereinbarung zwischen Führungskräfte den Angestellten künftig betrachtet werden. Als Fazit halten beide
Konzernführung und Arbeitnehmern vom erlauben, in der Arbeitszeit zu lernen und Seiten fest: »Kontinuierlicher Wandel
Mai hervor. Die Qualifizierung der Mit- sich weiterzubilden, wenn diese auch Tei- erfordert kontinuierliches Lernen.« DID
52
Greser & Lenz
Ludwig-Erhard-Preis
Wie rechts ist Tichy?
● Nach der Weigerung des CDU-Wirt-
schaftsexperten Friedrich Merz, den
renommierten Ludwig-Erhard-Preis
anzunehmen, streiten CDU und FDP
über den Vorsitzenden der gleichnami-
gen Stiftung, Roland Tichy. Es geht um
die Frage, ob dessen Internetblog die
Grenze zum Rechtspopulismus über-
schreitet. Es sei bedenklich, »dass ehr-
würdige Institutionen wie die Erhard-
Stiftung von Nationallibertären geka-
pert werden«, sagt FDP-Fraktionsvize
Michael Theurer. FDP-Generalsekretä-
rin Nicola Beer, in der Vergangenheit
selbst Autorin für »Tichys Einblick«,
hält dagegen: »Tichy ist liberal in seiner
Wirtschaftsauffassung. Konservativ in
seinem gesellschaftspolitischen Welt-
bild. Und er ist ein scharfer Kritiker
von Merkels Flüchtlingspolitik, wie wir
auch.« Auch in Erhards Partei, der
CDU, wird hitzig debattiert. In konser-
vativen Unionskreisen wird Merz
wegen der Ablehnung des Preises kriti- Diesel affäre heraus: Nach diesem Rückruf wird
siert, indes nicht öffentlich; der CDU- es kein einziges legales Dieselmodell von
Wirtschaftsrat kündigte an, weiter mit
Manipulationen auch beim Porsche geben, wie man im Haus von
der Erhard-Stiftung zu kooperieren. Porsche Panamera Bundesverkehrsminister Andreas Scheu-
Dagegen greift Oliver Wittke, Parla- er (CSU) bemerkt. Betroffen von Rück-
mentarischer Staatssekretär beim Bun- ● Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) wird rufen waren bereits die Dieselgelände-
deswirtschaftsminister, Tichy an, vor in Kürze einen verpflichtenden Rückruf wagen Cayenne und Macan. Das Unter-
allem mit Blick auf die Blogeinträge in für den Porsche Panamera verhängen. nehmen hatte vor einigen Monaten den
Sachen Flüchtlingspolitik: »Erhard hät- Bei dem Dieselmodell sei eine unzulässi- Verkauf aller Dieselmodelle gestoppt. Ein
te sich dafür eingesetzt, die positiven ge Manipulation am Abgasreinigungs- Porsche-Sprecher teilte auf Anfrage mit,
Effekte der Zuwanderung für die Wirt- system entdeckt worden, die zu einem der Abstimmungsprozess mit dem KBA
schaft und Sozialsysteme zu nutzen. erhöhten Ausstoß von Stickoxiden führe, dauere noch an, weswegen man derzeit
Hier beobachte ich bei Tichy leider zu heißt es aus dem Bundesverkehrsministe- keine Stellung zu den Vorwürfen be-
oft die gegenteilige Haltung.« AMA, CSC rium. Damit sticht Porsche in der Abgas- ziehen wolle. GT
Kommentar
Mag sein, dass das Bußgeld der EU-Kommission gegen Google tat- Wettbewerbsrecht. Google muss deshalb 4,34 Milliarden Euro
sächlich so hoch ausgefallen ist, weil die Fronten zwischen der EU zahlen und die Praktiken abstellen.
und den USA derzeit so verhärtet sind, wie allenthalben gemut- Es ist nicht das erste Mal, dass die EU-Kommission gegen
maßt wird. Wahrscheinlich ist das nicht. Und wenn es so wäre, Google und andere Internetkonzerne vorgeht, und es ist auch
würde es dem eigentlichen Anliegen nur schaden. Denn im Ver- nicht das erste Mal, dass die USA darin eine Form des Protek-
fahren gegen den amerikanischen Internetkonzern geht es nicht tionismus sehen, der die europäische Internetwirtschaft vor der
um eine Revanche für die Strafzölle der USA gegen europäischen Übermacht der US-Konkurrenz schützen soll. Doch die EU-
Stahl und – möglicherweise schon bald – deutsche Autos. Es geht Kommission macht nur das, was eigentlich auch die Aufgabe der
um den Machtmissbrauch eines Konzerns zulasten der Konkur- US-Kartellbehörde wäre: Nie zuvor in der Wirtschaftsgeschichte
renten und der Verbraucher. Rund 80 Prozent aller Smartphones haben Konzerne in so kurzer Zeit eine solche Marktmacht er-
und Tablets sind mit Googles Betriebssystem Android ausgestat- rungen wie Google, Apple, Amazon und Facebook. Wo immer
tet. Weil Google die Hersteller dieser Geräte mit Zwang und finan- diese Macht missbraucht wird, müssen die Behörden einschrei-
ziellen Anreizen dazu bringt, die Apps und Dienste des Konzerns ten, um den Wettbewerb und die Verbraucher zu schützen. Dass
gleich vorzuinstallieren, haben Konkurrenzprodukte kaum eine die USA dies unterlassen, ist auch eine Form des Protektionis-
Chance. Die EU-Kommission sieht darin einen Verstoß gegen das mus – zugunsten ihrer Konzerne. Armin Mahler
Die Verschwörung
Kartelle Öffentlich beteuern sie, wie wichtig ihnen Umweltschutz sei. Heimlich aber verabredeten
Daimler, BMW, Porsche, Audi und VW offenbar über Jahre, bei Benzinautos keine
Partikelfilter einzusetzen. Mit ihnen hätte man Menschen vor Gesundheitsschäden schützen können.
D
as Treffen fand in Wolfsburg statt. gung bis hin zu Herz-Lungen-Krankheiten nen zehnmal höheren Ausstoß an Fein-
Angereist waren Vertreter von und Lungenkrebs führen. Verursacht wird staub genehmigten als Dieselmodellen.
Daimler, BMW, Audi und Por- Feinstaub vor allem durch Heizungsanla- Ob es sich bei der Absprache, keine
sche. Zusammen mit ihren Kolle- gen, Industrie und Autoverkehr. 2015 star- Partikelfilter einzusetzen, um einen Wett-
gen von Volkswagen trafen sich die soge- ben einer Studie des Umweltbundesamtes bewerbsverstoß oder auch um eine Ord-
nannten Antriebsleiter, jene Manager, die zufolge in Deutschland 41 500 Menschen nungswidrigkeit handelt, müssen nun die
für den Einsatz aller Motoren in ihren Un- vorzeitig, weil sie einer hohen Feinstaub- Ermittler klären. Auf jeden Fall aber war
ternehmen verantwortlich waren. Konkur- belastung in der Luft ausgesetzt waren. es eine Verschwörung gegen den Umwelt-
renten eigentlich, gerade wenn es darum Bei Autos können Partikelfilter den Aus- und Gesundheitsschutz.
geht, einen Vorsprung durch Technik zu stoß von Feinstaub reduzieren. Dieselmo- Mit einem frühzeitigen Einbau von Par-
erlangen. Und wo könnte das ein Autoher- delle werden schon seit Anfang des Jahr- tikelfiltern bei Benzinmotoren hätten die
steller besser als beim Antrieb, beim Mo- Autokonzerne den gesundheitsschädli-
tor, dem Herz eines Fahrzeugs? chen Feinstaub schon vor vielen Jahren
Doch der Arbeitskreis Antrieb war ei- deutlich verringern können. Hätten ihre
nes jener Kartellgrüppchen, in denen die eigenen Ansprüche wirklich im Vorder-
deutschen Hersteller über Jahrzehnte hin- grund gestanden, hätten sie es auch tun
weg die Konkurrenz, zumindest auf eini- müssen.
gen Feldern, ausschalteten. Er war ein Teil Denn an verbaler Umweltfreundlichkeit
der Schattenwelt, in der die Konzerne mangelte es den Autobossen ja nicht. Die
heimlich miteinander mauschelten, wäh- Zitate lassen sich beinahe beliebig aus dem
MICHAEL WALTER / DER SPIEGEL
rend die Bosse im Scheinwerferlicht die Archiv ziehen. Der langjährige BMW-
segensreiche Wirkung des Wettbewerbs Chef Norbert Reithofer versprach: »Wir
lobten. Der SPIEGEL enthüllte dieses Kar- wollen in Sachen Umweltverträglichkeit
tell vor einem Jahr (SPIEGEL 30/2017). eine Vorreiterrolle einnehmen.« Der da-
Die EU-Kommission und das Bundeskar- malige VW-Boss Martin Winterkorn sagte:
tellamt ermitteln, ob die Unternehmen ge- »Wir wollen bis 2018 ökologisch führender
gen das Wettbewerbsrecht verstoßen ha- Autobauer werden.« Und Daimler-Boss
ben. Bislang ging es dabei vor allem da- Dieter Zetsche beschwor: »Unsere Autos
rum, dass sich die Autohersteller bei der Moderner Benzinmotor (Illustration) sollen Weltmeister im ökologischen Fah-
Abgasreinigung bei Dieselmotoren abge- Grenzwerte nur mit Partikelfilter ren werden.«
sprochen hatten, etwa über die Größe der Vorreiter? Weltmeister? In der Praxis
AdBlue-Tanks, die für das Minimieren von strebten die Autokonzerne augenschein-
Stickoxiden wichtig sind. tausends mit solchen Filtern ausgerüstet. lich das Gegenteil an. Sie bremsten den
Nun sind die Wettbewerbshüter auf ei- Seit 2014 sind sie Standard. Ihren Einsatz Umwelt- und Gesundheitsschutz zumin-
nen weiteren Umweltskandal gestoßen, in Benzinmodellen aber wollten Daimler, dest bei der Bekämpfung des Feinstaubs.
der die deutschen Autohersteller in einem BMW, Porsche, Audi und Volkswagen of- Manager der fünf deutschen Marken ver-
hässlichen Licht zeigt. Es geht wieder um fenbar jahrelang verhindern. Darauf ver- einbarten, gemeinsam die neue Umwelt-
mögliche Absprachen, mit denen Daimler, ständigten sich Manager der Marken auf technik, solange es geht, zu boykottieren.
BMW, Porsche, Audi und Volkswagen da- zahlreichen Treffen ihrer Arbeitskreise. Damit sollte offenbar verhindert werden,
für sorgten, dass die Gesundheit von Mil- Erstmals festgehalten haben die An- dass einer aus der Runde sich eines Bes-
lionen Menschen jahrelang unnötig gefähr- triebsleiter der Konzerne dies bei ihrer Sit- seren besinnt, Umweltschutz als Wett-
det wurde. Diesmal jedoch steht nicht der zung am 18. Mai 2009 in Wolfsburg. Die bewerbsvorteil nutzt, seine Modelle mit
Diesel im Mittelpunkt. Diesmal geht es um Experten der fünf Hersteller fassten »fol- Partikelfiltern ausstattet und mit dieser
Benzinmotoren und den Feinstaub, den gende Beschlüsse«, wie es im Protokoll Technik erfolgreich um Kunden wirbt.
sie ausstoßen. der Sitzung heißt: »Der Einsatz eines Par- Dieses Verhalten der fünf Automarken
Der Fall zeigt eindrücklich: Die Diesel- tikelfilters soll beim Ottomotor unbedingt verstößt möglicherweise gegen Wettbe-
affäre war kein Ausrutscher. Der gemein- vermieden werden.« Und weiter: »Die An- werbsrecht. Mindestens ebenso schwer
schaftlich organisierte Kampf gegen Um- triebsleiter unterstützen eine gemeinsame aber wiegt, dass die Absprachen in Sachen
weltauflagen gehörte offenbar zur Unter- Vorgehensweise.« Partikelfilter die Glaubwürdigkeit der deut-
nehmenskultur. Die Konzernmanager verfolgten eine schen Autohersteller weiter erschüttern.
Feinstaub ist in Europa eine der größten schlichte Strategie: Sie wollten die Einfüh- Die EU-Kommission wertet derzeit die
Gesundheitsgefahren, die auf Umweltver- rung strenger Grenzwerte für Benziner so Protokolle vieler Sitzungen, zahllose E-
schmutzung zurückzuführen sind. Er kann lange wie möglich verhindern. Und mit Mails und Schriftsätze der verschworenen
zu Schleimhautreizungen, Entzündungen möglichst geringem Einsatz jene laschen fünf in Sachen Partikelfilter aus. Der SPIE-
der Atemwege, erhöhter Thrombosenei- Grenzwerte einhalten, die Benzinern ei- GEL konnte Unterlagen einsehen, aus de-
55
Wirtschaft
nen sich der verdeckte Kampf der Konzer- tigten die hierarchisch übergeordneten tikeln an, stellten Wissenschaftler des For-
ne gegen den Filter rekonstruieren lässt. Entwicklungsleiter der Konzerne kurz da- schungsinstituts Empa in der Schweiz fest.
Die Debatte um den Einsatz von Parti- rauf die Boykottstrategie. Auf ihrem Tref- So könnten »wie bei einem trojanischen
kelfiltern begann im Jahr 2001. Damals fen am 25. Juni 2009 beschlossen sie: »Das Pferd flüssige oder feste chemische Gifte
stattete Peugeot erste Dieselfahrzeuge se- Ziel einer Vermeidung einer kosteninten- aus dem Verbrennungsprozess in den Blut-
rienmäßig mit Partikelfiltern aus. Die siven Maßnahme wie Partikelfilter wird kreislauf gelangen«.
Franzosen warben damit für ihre Modelle. seitens der E-Leiter bestätigt.« Die Autohersteller waren alarmiert. Ein
Politiker forderten, dass angesichts der Und sie gingen noch einen Schritt weiter. Audi-Manager hielt am 26. Mai 2010 fest:
technischen Möglichkeiten die Grenzwer- Die Automanager verabredeten ein Vor- »Partikelemissionen stehen im Fokus (neu-
te für Feinstaub verschärft werden. Am gehen, das bei drohenden Umweltauflagen es Feindbild)«. Später notierte er: »An-
20. Juni 2007 verabschiedete die EU ei- schon oft erfolgreich gewesen war: Sie scheinend stürzen sich die Umweltverbän-
nen Fahrplan für die Reduzierung der wollten Einfluss auf die politischen Ent- de nach dem Diesel nun auf die Ottomo-
Abgase und Feinstäube, der zwischen scheidungen nehmen. Damit sie den Filter toren und wollen auch für diesen einen
Diesel- und Benzinmotoren unterschied. nicht würden einbauen müssen, sollte der Partikelfilter durchboxen.«
Dieselmodelle sollten die Feinstaubemis- Grenzwert für Feinstaub bei Benzinern Aus den Dokumenten, die der EU-Kom-
sionen von 2009 an schneller verringern. möglichst spät an den strengeren Wert für mission vorliegen, geht hervor, dass die
Es wurde aber bereits festgelegt, dass auch Dieselmodelle angeglichen werden. Die Hersteller spätestens 2011 erkannten: Die
Benziner die Grenzwerte später einmal Entwicklungsleiter der Konzerne beschlos- von der EU für die Abgasnorm Euro 6 ge-
einhalten müssten. sen: »Ein politisches Lobbying in Brüssel planten neuen Grenzwerte bei Benzinmo-
Das Umweltbundesamt stellte in einer … wird beauftragt.« dellen sind ohne Partikelfilter so gut wie
Studie fest, die Partikel aus modernen Ben- Das Protokoll dieser Sitzung des 5er- nicht erreichbar. Eine VW-Mitarbeiterin
zinmotoren seien nicht weniger gefährlich Kreises offenbart die Grundeinstellung der fasste in einer Mail am 11. Februar 2011
als jene aus Dieselmodellen: »Es gibt kei- beteiligten Automanager: Lobbying statt die Diskussion mit den Konkurrenten zu-
nen Grund, für einen direkteinspritzenden Umweltschutz. sammen: »Daimler hat gestern deutlich
Ottomotor einen höheren Grenzwert zu- Die öffentliche Diskussion über die Ge- gesagt«, dass sie die verschärften Grenz-
zulassen als für einen Dieselmotor.« fahren des Feinstaubs aber nahm Fahrt auf, werte »nur mit OPF« einhalten können.
Die Diskussion wurde auch in den »5er- vor allem, weil Benzinmodelle zunehmend OPF ist das Kürzel für Ottomotoren-Par-
Kreisen« der deutschen Automarken ge- mit Motoren ausgestattet wurden, die den tikel-Filter.
führt – allerdings mit anderem Vorzeichen. Treibstoff mit hohem Druck einspritzen. Umso wichtiger schien es den Herstel-
Die Konzerne wollten den Einsatz der Fil- Die sogenannten Direkteinspritzer haben lern, die Einführung der Grenzwerte zu
ter für Benziner verhindern. Aufwand und den Vorteil, dass sie den Verbrauch und verzögern. Ihr Argument erneut: Der Ein-
Kosten stünden in keinem Verhältnis zum damit den CO2-Ausstoß verringern, aber bau der Filter würde die Kosten erhöhen.
Nutzen, lautete ihr Argument. Dabei kos- den Nachteil, dass sie besonders viele ul- Im Dezember 2011 hatte die jahrelan-
ten solche Filter nach Angaben von Ver- trafeine Partikel ausstoßen. Diese sind be- ge Lobbyarbeit, die auch von anderen
kehrsclubs wie dem VCD in der Anschaf- sonders gefährlich, weil sie leicht in die europäischen Autoherstellern tatkräftig
fung gerade einmal 40 bis 140 Euro. Lungen geraten. unterstützt wurde, Erfolg. Der Technische
Nachdem die Antriebsleiter von Daim- Außerdem lagern sich durch den Ver- Ausschuss für Kraftfahrzeuge beschloss,
ler, BMW, Porsche, Audi und Volkswagen brennungsprozess weitere Stoffe wie das dass Autos mit direkteinspritzenden Ot-
sich im Mai 2009 geeinigt hatten, bestä- krebserregende Benzoapyren an den Par- tomotoren noch nicht die verschärften
Dieselgrenzwerte einhalten müssen. Neu
zugelassene Benzinmodelle müssen erst
ab September 2018 denselben Grenzwert
Feinstaub erreichen. Bis dahin dürfen Benziner
Mögliche Auswirkungen der Partikel zehnmal mehr Partikel als die Diesel in
auf den menschlichen Körper die Luft blasen.
1 Als das Datum 2018 feststand, wuchs
bei Daimler, BMW, Porsche, Audi und
1 Inhalierbar Volkswagen die Furcht, dass einer der Ih-
Mit der Atemluft werden winzige Teilchen (10 Mikro- ren sich nicht mehr an das gemeinsam
meter und kleiner) aufgenommen. Die größeren vereinbarte Vorgehen halten könnte. Zwar
bleiben an den Schleimhäuten des Nasen-Rachen- versicherten die Entwicklungsleiter bei ih-
2 Raums hängen und können dort zu Reizungen führen.
ren Treffen laut Protokoll: »Die weitere
2 Lungengängig offene Zusammenarbeit zwischen Exper-
ten der Häuser wird durch die E-Leiter
Kleinere Partikel (2,5 Mikrometer und kleiner) dringen
über Luftröhre und Bronchien bis tief in die Lunge vor. zugesichert.« Aber ein Audi-Manager
Dort können sie sich an der Wand der Lungenbläschen schrieb an seine Kollegen: »Wir alle ken-
festsetzen und Entzündungen hervorrufen. nen das Risiko, dass vielleicht doch ein
Kann zu kurzzeitigen akuten Atembeschwerden Hersteller irgendwann mit einem Otto-Par-
führen und bei Asthmatikern die Beschwerden tikelfilter ins Rennen geht und die Thema-
verschlimmern. Auf Dauer chronische Bronchitis tik medienwirksam ausschlachtet.«
oder Lungenkrebs möglich.
Diese Mail verrät, was der Audi-Mana-
3 Blutgängig ger von der Marktwirtschaft hält: Ihr Kern,
der Wettbewerb, ist ein »Risiko«, das es
Durchdringen ultrafeine Teilchen (0,1 Mikrometer
und kleiner) die Wand der Lungenbläschen, so
zu minimieren gilt.
3 Über viele Jahre hinweg gelang dies den
gelangen sie in die Blutbahn. Über den Blutkreislauf
können sie in jedes Organ geschwemmt werden. 5er-Kreisen von Daimler, BMW, Porsche,
Quellen: UBA, LUBW, CBC Erhöhtes Risiko für Herzinfarkt und Schlaganfall. Audi und Volkswagen offenbar auch. Erst
56
GILLES BASSIGNAC / DIVERGENCE / STUDIOX
2016 stattete Daimler in Europa in einem Light-Duty Vehicles Test Procedure) be- Cayenne oder der Macan. Mercedes-Benz
Modell der S-Klasse erstmals einen Ben- stehen. Er misst nicht nur den CO2-Aus- hat Varianten von CLA und GLA mit Ben-
zinmotor mit einem Partikelfilter aus. stoß realistischer als die alten Tests. Mit zinmotoren aus dem Programm genom-
Die Hersteller wollen sich wegen der ihm tritt auch die Norm Euro 6c in Kraft, men. Besonders hart trifft es Volkswagen:
laufenden Ermittlungen zu Details nicht die eine strengere Obergrenze für Fein- Selbst bei den wichtigsten Modellen wie
äußern. Daimler erklärt, es sei offen, ob staubpartikel vorschreibt. Modelle mit dem Passat sind nur einige Varianten des
die EU-Kommission ein »formelles Ver- Benzinmotor können sie meist nur mit Ottomotors lieferbar. Volkswagen muss so-
fahren einleiten wird. Wir haben einen Partikelfiltern einhalten. Auch weil die gar die Produktion stoppen. Die Bänder
Kronzeugenantrag gestellt und kooperie- deutschen Autobauer den Einsatz dieser laufen in manchen Werken nur an vier Ta-
ren vollumfänglich mit den Behörden«. Filter jahrelang boykottiert haben, sind gen pro Woche.
Gegenüber der EU argumentieren ei- sie auf die Umstellung offenbar schlecht Man könne so viele Tests in kurzer Zeit
nige Hersteller, dass Beschlüsse in den vorbereitet. Sie hatten wohl mit weiterem nicht bewältigen, klagen die Hersteller. Als
Arbeitsgruppen nicht bindend gewesen Aufschub gerechnet. hätten sie nicht seit Jahren gewusst, dass
seien und man unabhängig davon an Daimler, BMW, Porsche, Audi und Volks- vom 1. September an der WLTP-Test und
Partikelfiltern gearbeitet habe. Außerdem wagen können viele Benzinmodelle der- die strengeren Grenzwerte gefordert sind.
seien auch andere Verfahren erprobt und zeit nicht verkaufen, weil diese noch keine Und als hätten sie ihre Modelle nicht schon
angewandt worden, um Grenzwerte ein- neue Zulassung haben. Bei BMW etwa vor Jahren mit Filtern ausstatten können.
zuhalten. sind es der X5 und der X6, bei Porsche der Jetzt haben einige von ihnen sogar Pro-
Offenbar mit wenig Erfolg. Wie drin- bleme, genügend Partikelfilter zu beschaf-
gend Benzinmodelle solche Filter benö- fen. Es gibt Lieferengpässe, die Preise stei-
tigen, zeigte ein Eco-Test, den der ADAC 59 gen, weil Zulieferer von der starken Nach-
im August 2016 veröffentlicht hat. Der frage überrollt werden.
Automobilclub hatte die Partikelemissio- VW-Manager gehen davon aus, dass
nen von Benzinautos mit Direkteinsprit- Benzin- 49 den Konzernmarken Volkswagen, Audi
zung ermittelt. Die Emissionen der Mo- direkteinspritzer und Porsche ein Umsatzausfall in Milliar-
delle lagen deutlich über den ab 2018 denhöhe entsteht. Und möglicherweise
in Deutschland,
geltenden Grenzwerten. Fazit des ADAC: kommt dann noch eine Strafe der EU-
Anteil an den
»Die Messungen zeigen auch, dass die Her- Wettbewerbskommission obendrauf, falls
Benziner-
steller – wieder mal – die Ausnahmerege- die fünf Hersteller mit ihren Absprachen
Neuzulassungen
lung so lange wie möglich nutzen und gegen das Wettbewerbsrecht verstoßen
in Prozent
nicht auf neueste Technik setzen, um nied- 24 haben.
Quelle: ICCT
rige Schadstoffemissionen zu erzielen.« So betrachtet ist der Kampf der deut-
In diesem Fall haben die Autokonzerne schen Autohersteller gegen den Partikel-
jedoch endgültig überzogen. So sehr, dass filter ein Lehrstück. Versuche, den Wett-
sich ihre jahrelange Abwehrstrategie nun bewerb auszuschalten, können kurzfristig
sogar gegen sie selbst wendet. Vorteile bringen. Die Abschlussrechnung
Ab September dieses Jahres gelten
7 aber kann teuer ausfallen.
neue Zulassungsregeln und Testverfahren 1 Frank Dohmen, Dietmar Hawranek
der EU. Autos müssen dann den sogenann- Mail: frank.dohmen@spiegel.de
ten WLTP-Test (Worldwide Harmonized 2003 2007 2010 2013 2016
Trumps Abschwung
Konjunktur Der amerikanische Präsident rüttelt mit seiner sprunghaften Handelspolitik die
Weltwirtschaft durch. Die neuen Zölle bremsen den Boom. Wie gefährdet ist Deutschland?
A
uch in einem Handelskonflikt Viele Unternehmen stellen derzeit ähn- Dieses Mal könnte die undurchdachte
gibt es Kriegsgewinnler. Karl liche Berechnungen an. Die Lage ist bei Politik eines Wutpolitikers der Auslöser
Haeusgen ist so einer. Er ist Chef den meisten noch gut, doch die Saat für sein, der die gesamte Weltwirtschaft auf
und Mehrheitsaktionär der Firma einen Abschwung scheint gelegt. Der seit Talfahrt schickt. Mit seinen Zöllen auf
HAWE. Das Münchner Unternehmen vielen Jahren währende deutsche Boom Stahl und Aluminium, demnächst viel-
baut Hydraulikkomponenten für Industrie- könnte durch die wirre Handelspolitik des leicht auch auf Autos sowie auf chinesische
maschinen aller Art, von der Anlage, die US-Präsidenten an sein Ende geraten. Produkte im dreistelligen Milliardenwert,
Teig knetet, bis zum Ölbohrturm. bremst Trump die Weltwirtschaft gerade-
Viele Kunden Haeusgens kommen aus Wie bedrohlich ist Trumps zu brutal aus. Er trifft damit die nach mehr
den USA. Ihnen sitzt im Augenblick das Politik für die Weltwirtschaft? als zwei Jahrzehnten der Globalisierung
Geld locker, weil US-Präsident Donald Donald Trump entwickelt sich zu einem fein austarierte, aber auch empfindliche
Trump die amerikanische Konjunktur mit Konjunkturrisiko globalen Ausmaßes. internationale Arbeitsteilung.
Steuersenkungen angeheizt hat. Sie inves- Noch zu Jahresanfang gaben sich die Öko- Die negative Wirkung der trumpschen
tieren in Maschinen und Technik. nomen und Konjunkturforscher optimis- Politik geht weit über die direkten Kosten
Haeusgen profitiert sogar von den Zöl- tisch, doch mit seinen Strafzöllen hat er höherer Zölle hinaus. Auch seine Attacken
len, die Trump verhängt hat. Weil er außer- einen fatalen Mechanismus in Gang ge- gegen die Nato sowie die Aufkündigung
halb der USA produziert, treffen ihn die setzt, der die Weltwirtschaft in eine Ab- des Iran-Abkommens und der chaotische
Einfuhrzölle auf Stahl und Aluminium wärtsspirale stürzen könnte. Regierungsstil wirken negativ. »Es ist Teil
nicht. Anders als seine amerikanische Anfang der Woche warnte der Interna- seiner Strategie, Unsicherheit zu stiften«,
Konkurrenz, die Stahlbauteile wie Rohre tionale Währungsfonds (IWF), dass sich analysiert Clemens Fuest, Präsident des
oder Drähte importiert und diese nun die Risiken ballen würden. Die größte Ifo-Instituts. »Diese Politik hat wirtschaft-
teuer verzollen muss. »Trump schießt sich Gefahr gehe von einer Verschärfung des liche Kosten.«
ins Knie«, sagt Haeusgen trocken. Handelskonflikts aus, sagte IWF-Chef- Noch kurbelt vor allem die anhaltend
Der Unternehmer sorgt sich trotzdem ökonom Maurice Obstfeld in Washington. lockere Geldpolitik in den USA, Europa
um die Zukunft, denn er ahnt: Kriegs- Schaukle sich der Disput hoch, falle das und Japan die Konjunktur an. »Aber die
gewinnler wird er nicht lange sein. »Es ist Weltwirtschaftswachstum im kommenden Zölle und Zollankündigungen wirken wie
bereits erkennbar, dass der Handelskon- Jahr um 0,4 Prozentpunkte niedriger aus. Ablagerungen im Blutkreislauf der Welt-
flikt die Konjunktur eintrübt, die Investi- Selten stirbt ein Aufschwung an Alters- wirtschaft, die die Leistungsfähigkeit ein-
tionsgüterbranche – also unsere Kunden – schwäche. Meist braucht es einen Auslöser, schränken und das Infarktrisiko erhöhen«,
dürfte das als Erste treffen.« Haeusgen kal- etwa massive Zinserhöhungen der Noten- sagt Uwe Burkert, Chefvolkswirt der Lan-
kuliert, dass der Umsatz im ungünstigsten bank oder eine geplatzte Spekulations- desbank Baden-Württemberg (LBBW).
Fall um bis zu zehn Prozent sinken könnte, blase, um eine oder mehrere Volkswirt- Die Mechanik der Eskalation ist im
wenn sich die Zollspirale weiterdreht. schaften Richtung Rezession zu schicken. Wochentakt zu besichtigen. Trump hat an-
gekündigt, chinesische Produkte im Wert
von bis zu 200 Milliarden Dollar mit Zöl-
Deutsche Handelsbilanz mit den USA, 2017 in Milliarden Euro (ausgewählte Güter) len zu belegen, die Chinesen wollen hart
28,6 Exporte Importe reagieren. »Wenn der amerikanisch-chine-
Kraftwagen sische Handelsstreit eskaliert, träfe das die
und -teile ganze Welt, vollständig quantifizieren las-
6,4
19,0 sen sich die Folgen kaum«, sagt Fuest.
Maschinen
5,7 Kann Europa gegensteuern?
13,5 Pharmazeutische In der europäischen Politik macht sich
Erzeugnisse kaum noch jemand Hoffnung, dass sich
7,1
9,9 eine Eskalation abwenden lässt, ja, Europa
Datenverarbeitungs-
geräte trägt derzeit selbst dazu bei. Die EU hat
8,2 angekündigt, sich mit Schutzzöllen auf
6,9 Chemische Stahlimporte aus aller Welt gegen die ame-
Deutsche Exporte Erzeugnisse rikanischen Stahlzölle zu wehren. Die Eu-
in die USA 5,9
Deutsche Importe
6,9 Elektrische ropäer fürchten, dass Hersteller nun mit
insgesamt dem Stahl, den sie in den USA nicht mehr
aus den USA Ausrüstungen
111 Mrd. € insgesamt 3,6
2,6 zu konkurrenzfähigen Preisen absetzen
Metalle können, den europäischen Markt fluten.
61 Mrd. € 1,8 Außerdem hat EU-Kommissarin Mar-
3,0 Metall- grethe Vestager den Internetkonzern
erzeugnisse Google soeben mit einer Rekordstrafe für
Quelle: LBBW 1,1 Kartellrechtsverletzungen von 4,34 Mil-
liarden Euro belegt. Der Schritt ist zwar tiert. Führende deutsche Wirtschaftsfor- und Konjunkturforschung. Günstigere Ex-
gut begründet, dürfte aber von Trump als schungsinstitute dimmen ihre Voraussagen portaussichten würden die Unternehmen
Frontalangriff gegen Amerikas digitale In- reihenweise nach unten. Statt um rund veranlassen, mehr zu investieren. Das
dustrie gesehen werden. 2,5 Prozent werde die deutsche Wirtschaft unterbleibe nun, was Einkommen und An-
Daher wird Kommissionspräsident dieses Jahr höchstens um rund 2 Prozent zahl der Arbeitsplätze geringer ausfallen
Jean-Claude Juncker mit wenig Hoffnung zulegen. »Insbesondere die globale Inves- lässt als möglich, mit messbaren Auswir-
auf eine Beilegung des Handelskonflikts titionsdynamik, die noch im vergangenen kungen auf den Wohlstand.
zum Treffen mit Donald Trump nach Wa- Jahr die deutsche Wirtschaft befeuert hat- »Die Zollpolitik kostet die Deutschen
shington reisen. Er kommt mit leichtem te, kühlt sich im Zuge des sich zuspitzen- dieses Jahr bis zu 20 Milliarden Euro an
Gepäck, er hat kein Angebot, das er vor- den Handelskonflikts mit den USA ab«, zusätzlichem Einkommen«, rechnet Horn
legen kann, um Trump zu besänftigen. schreiben die Experten des Deutschen vor. Wenn der Handelskrieg zwischen den
»Juncker hat kein Verhandlungsman- Instituts für Wirtschaftsforschung. USA, China und der EU weiter eskalierte,
dat«, heißt es in Paris. Ähnlich klingt Bun- »Ohne Trumps Politik würde der Auf- würden Exporte und auch die Investitio-
deswirtschaftsminister Peter Altmaier. In schwung außenwirtschaftlich besser lau- nen massiv einbrechen, sagt Horn voraus.
der entscheidenden Frage aber – wie man fen«, sagt Gustav Horn, Chef des gewerk- »Das wäre der klassische Fall eines Kon-
auf Trumps Kriegserklärung reagieren soll- schaftsnahen Instituts für Makroökonomie junkturabsturzes.« Eine kräftige Binnen-
te – sind sich Deutschland und Frankreich konjunktur könne die deutsche Wirtschaft
nicht einig. jedoch davor bewahren.
In Brüssel rechnet man daher mit den Zollsätze in Prozent Auch in den Betrieben zeigen sich erste
Autozöllen noch vor den amerikanischen Europäische Importe aus den USA Anzeichen einer Flaute. »Die Unternehmen
Midterm-Wahlen im November. Die Kom- US-Importe aus Europa erwarten, dass sich die Lage wegen des Han-
mission arbeitet bereits an einem Katalog delskonflikts verschlechtert«, sagt Fuest.
milliardenschwerer möglicher Gegenmaß- Prominentestes Opfer der Auseinander-
nahmen. Auch ohne diese wäre der Scha- 10 setzung dürfte die deutsche Autoindustrie
Pkw
den erheblich, wie eine Untersuchung 2,5 werden. Trump hat Zölle auf Autoimporte
zeigt, die die EU nach Washington ge- von bis zu 25 Prozent angekündigt. Beim
schickt hat. Millionen Jobs in den USA wä- Leichte 10 Verband der Automobilindustrie heißt es,
ren in Gefahr. Die US-Wirtschaftsleistung Trucks/ man beobachte die Entwicklung der inter-
würde wegen der Strafzölle auf Autos um Pick-ups 25 nationalen Handelspolitik mit großer Sor-
13 bis 14 Milliarden Dollar schrumpfen. ge. Das Ifo-Institut hat schon einmal aus-
22 gerechnet, was die Autozölle kosten könn-
Was bedeutet der Handelskrieg Lkw
25 ten – das deutsche Bruttoinlandsprodukt
für Deutschland? würde wohl um fünf Milliarden Euro ge-
Eine solche Eskalation birgt Gefahr für die 2 bis 5 ringer ausfallen.
Wirtschaft der Exportnation Deutschland, Autoteile Für die drei deutschen Konzerne VW,
die besonders von offenen Märkten profi- 2,5 Quelle: LBBW Daimler und BMW rechnet die LBBW im
59
schlimmsten Fall mit einem senkt. »Außerdem hat der Staat
Gewinnrückgang um bis zu finanziellen Spielraum, durch
zehn Prozent. Dabei sind noch höhere Ausgaben und öffent-
nicht jene Autozölle berücksich- liche Aufträge eine geringere
tigt, die China den USA ange- private Nachfrage auszuglei-
droht hat und die auch deutsche chen«, sagt Fuest.
Hersteller träfen, weil sie China All das hilft zwar gegen kon-
zum Teil aus Amerika heraus junkturelle Rückschläge, nicht
beliefern. aber gegen die strukturellen Fol-
gen, die ein anhaltender Han-
Nutzt der Handelskrieg delskrieg hätte. »Wenn Trump
der US-Wirtschaft? mit seiner Politik dauerhaft ein
Das Gift der Zölle sickert nach protektionistischeres System
und nach in den Wirtschafts- etablierte, würden Lieferketten
kreislauf ein. Dass Trump diese sich ändern und Investitionsent-
Waffe einsetzt, weil er glaubt, scheidungen beeinflusst«, sagt
der amerikanischen Wirtschaft Familienunternehmer Haeus-
damit einen Gefallen zu tun, gen. Eine Horrorvorstellung für
steht in einer unguten Tradition den selbst erklärten »Freihan-
olfgang Grupp, 76, hatte noch Glück. Er kam we- hätten die Briten ihr ambitioniertes Angebot monatelang
61
Preview am 30. Juli el)
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THE HANDMAID’S TALE – Beginn: 20.00 Uhr
64
Wirtschaft
Braun: Darüber sprechen wir gerade noch. SPIEGEL: Es bleibt aber das Problem, dass tromobilität so, auch beim autonomen
Wir fördern die Technologie bislang mit KI-Algorithmen enorme Datensets brau- Fahren.
einer Summe im dreistelligen Millionen- chen, anhand derer sie trainiert werden. Braun: Vor zehn Jahren kannte das Wort
bereich, aber ich habe den Eindruck, wir Wo sollen die hierzulande herkommen, Disruption kaum jemand. Jetzt sagt es je-
werden da etwas drauflegen müssen. wenn die Datenriesen doch fehlen? der jeden Tag fünfmal. Und diese plötzli-
SPIEGEL: Wie steht Deutschland im inter- Braun: Wir befassen uns im Masterplan che komplette Umwälzung einer Branche
nationalen Wettrennen um KI da? KI beispielsweise mit den Datenbeständen ist immer für diejenigen Unternehmen ge-
Braun: Bei Weitem nicht so schlecht, wie des Staates und wollen diesen Datenschatz fährlich, die nicht schnell genug erkennen,
viele offenbar glauben. Viele der Wissen- insbesondere der KI-Forschung kostenlos dass sich ihr eigenes Geschäftsmodell än-
schaftler, die den spannendsten Bereich zur Verfügung stellen. Wenn daraus neue dert. In Deutschland gibt es beides: Un-
der KI entscheidend vorangebracht haben, Geschäftsmodelle entstehen, mit denen ternehmen, die perfekt vorbereitet sind
das sogenannte Deep Learning, kommen Firmen durch neuartige Dienstleistungen und die Entwicklung treiben, und diejeni-
aus Deutschland, das ist also in gewissem für Bürger Geld verdienen, kann ich mir gen, die in Gefahr schweben, ohne dass
Sinne eine deutsche Erfindung. Nicht alle auch Lizenzmodelle vorstellen. Ihre Frage sie es wissen. Es mangelt gerade bestimmt
daran Beteiligten arbeiten heute noch hier, berührt aber das größere Grundproblem nicht an Veranstaltungen zum Thema Di-
was natürlich schade ist, aber in Forschung der Digitalisierung insgesamt, für das wir gitalisierung, es mangelt auch nicht am Ge-
und Entwicklung sind wir insgesamt ziem- noch nicht alle Antworten haben. spräch darüber, aber oft an dem tiefen Ver-
lich gut. Die große Aufgabe liegt nun darin, SPIEGEL: Worin sehen Sie dieses Grund- ständnis, wie und mit welchen Mechanis-
dass wir die KI in die Alltagsprodukte in- problem? men sich gerade Geschäftsmodelle ändern.
tegrieren, in unsere Autos und die Medi- Braun: Bisher zeigen die erfolgreichen di- SPIEGEL: Die Veränderungen betreffen
zintechnik bis zu Haushaltsgeräten. In all gitalen Geschäftsmodelle: Man kann klein nicht nur die Wirtschaft, sondern auch den
diesen Bereichen sind wir bisher schon anfangen, muss dann aber schnell wach- Staat, die Politik. KI wird den Arbeitsmarkt
stark, deshalb wird das entscheidend sein. sen und ein globaler Riese werden, um verändern, die heutigen Sozialsysteme pas-
SPIEGEL: Auch an der Erfindung von Fax bestehen zu können. Das steht aber unse- sen dann womöglich nicht mehr. Disku-
und MP3-Format waren deutsche Inge- rer mittelständisch geprägten Wirtschaft tiert wird deshalb etwa ein bedingungslo-
nieure maßgeblich beteiligt. Das große diametral entgegen. Ich habe in den ver- ses Grundeinkommen. Was halten Sie da-
Geld haben andere damit verdient. gangenen Monaten viele Gespräche auch von?
Scheint sich das nicht gerade zu wieder- Braun: Ich trete sehr vehement gegen die
holen? Idee eines bedingungslosen Grundeinkom-
Braun: Wir sind inzwischen viel weiter. »Es entstehen neue Jobs, mens ein. Es ist die Botschaft an die Men-
Wir unterstützen innovative Unterneh- allein dadurch, dass schen im Land, dass es einen relevanten
men in der Gründungsphase. Es gibt einen Anteil von ihnen geben wird, den wir nicht
funktionierenden Risikokapitalmarkt. Menschen sich gern mit mehr brauchen. Das Versprechen lautet,
Schwierig ist es allerdings noch in der Menschen beschäftigen.« dass wir alle schon irgendwie finanziell
Wachstumsphase. Deshalb haben wir ge- über Wasser halten. Nicht sehr großzügig,
rade neue Regeln geschaffen, damit sie ihr aber so, dass man einigermaßen durch-
Eigenkapital stärken können, ohne sich mit Mittelständlern geführt, und alle sagen kommt. Ich halte dieses Gesellschaftsbild
steuerlich zu schaden. mir, dass sie bei den für KI notwendigen für absoluten Irrsinn. Ich möchte eine Ge-
SPIEGEL: Die großen Internetplattfor- Entwicklungsbudgets nicht mehr mithal- sellschaft, in der jeder gebraucht wird. Im
men – Google und Amazon in den USA, ten können. Das wird eine der wichtigsten Koalitionsvertrag ist das mit dem Verspre-
Baidu in China – entstanden allesamt au- Fragen sein: Wie können Firmen, die chen Vollbeschäftigung adressiert. Jeder,
ßerhalb von Deutschland und Europa. Die- nicht die Größenordnung von Google der sich anstrengt, kann in diesem Land
se Firmen verfügen über riesige Daten- oder Alibaba haben, im digitalen Wettbe- etwas erreichen. Wir brauchen alle.
mengen und sind nun auch Vorreiter in werb weiter erfolgreich sein – und wie SPIEGEL: Halten Sie das für realistisch?
Sachen KI. Haben sie nicht längst einen können wir das staatlich richtig unter- Durch KI könnten massenhaft Jobs weg-
uneinholbaren Vorsprung? stützen? fallen.
Braun: Ich bin da nicht so pessimistisch. SPIEGEL: Der Einfluss des Staates auf Un- Braun: Das haben wir schon einmal ge-
Bei den bisherigen datengetriebenen Ge- ternehmen ist begrenzt – wie wollen Sie schafft. Vor der Automatisation in der Au-
schäftsmodellen der großen Plattformen das Thema konkret voranbringen? tomobilindustrie wurde mit den gleichen
geht es meist um Werbung, für die man Braun: Wir planen eine Bundesagentur Argumenten gewarnt. Und jetzt haben wir
viele personenbezogene Daten braucht. für Sprunginnovationen. Dahinter steht Fachkräftemangel. Ich glaube, das geht mit
Das ist mit unserer deutschen und europä- die Analyse, dass wir Deutschen gut darin Digitalisierung genauso. Wir müssen das
ischen Vorstellung von persönlicher Daten- sind, Dinge weiterzuentwickeln, aber we- nur alles richtig machen und uns als
souveränität oft nicht vereinbar, insofern niger gut darin, radikal Neues zu erfinden Hightech-Land weiter behaupten. Natür-
gibt es hier sicher einen wirtschaftlichen und dafür ins Risiko zu gehen. Die Agen- lich wird es manche Jobs in Zukunft nicht
Nachteil, den wir aber nicht beseitigen tur soll Bereiche finden, in denen solche mehr geben. Aber es entstehen neue, al-
können. Er kann uns aber dazu inspirieren, Sprunginnovationen notwendig sind, und lein schon dadurch, dass Menschen sich
neue KI-Geschäfte zu erfinden, für die es diese Probleme dann ausschreiben: Start- gern mit Menschen beschäftigen. Und das
keine oder weniger personenbezogene Da- ups, Unternehmen oder Konsortien kön- wird immer so bleiben. Kaum jemand
ten braucht – und davon gibt es einige. Bei nen sich mit ihren Lösungsvorschlägen empfindet es als Vorteil, wenn er in einer
der Verkehrssteuerung muss man nicht un- dann um eine Förderung bewerben. In den voll automatisierten Welt alle Service-
bedingt wissen, welcher Fahrer am Steuer USA gibt es das schon, wir wollen im kom- belange und alle Antworten ausschließlich
sitzt. Und auch bei der Analyse von Rönt- menden Jahr damit starten. von der Technik bekommt. KI ist da keine
genbildern wird der Computer mit jedem SPIEGEL: Die deutsche Industrie scheint Ausnahme.
neuen Bild immer schlauer, selbst wenn er sich bei Zukunftstechnologien sehr oft Interview: Markus Brauck,
nicht weiß, von welchem konkreten Patien- erst dann zu bewegen, wenn sie von au- Marcel Rosenbach
ten die Aufnahme stammt. ßen angegriffen wird. Das war bei der Elek-
Serie (III) Kaum etwas beschäftigt die Deutschen der- Sommerserie: Wir fragen, wie die Wohnungsnot die Ge-
zeit so sehr wie die Frage nach bezahlbarem Wohn- sellschaft verändert, wie gute Wohnungsbaupolitik aus-
raum. Der SPIEGEL widmet dem Thema deshalb eine sehen sollte und wer die entscheidenden Akteure sind.
Die Kluft
Soziale Ungleichheit Arm und Reich wohnen sich immer weiter auseinander. Vor allem Menschen
mit niedrigem Einkommen leben zunehmend in eigenen Wohnvierteln.
H
eute ist ein guter Tag, Torsten aufgeregt. Nicht wegen der Probleme, die läuft sie schneller. Es gibt nicht viele Aus-
Haß hat Geburtstag. Er wird der Wissenschaftler Marcel Helbig darin nahmen.
45 Jahre alt. Schnell schaut er beschreibt, die sieht er auch. »Mich stört 36 Städte haben mittlerweile Viertel, in
noch in das Büro des Mehrgene- der negative Touch, in eine bestimmte denen mehr als die Hälfte der Kinder von
rationenhauses in der Moskauer Straße Ecke geschoben zu werden«, sagt Haß, Leistungen aus der Grundsicherung lebt.
und sagt Hallo. Er stellt Kuchen für später »nach dem Motto: Da kann man sowieso Den stärksten Anstieg gibt es vor allem in
auf den Tisch. Gleich wird er wieder sei- nichts ändern.« ostdeutschen Städten wie Halle oder Pots-
nen Stadtteil verteidigen, vehement, wie Der Sozialdemokrat lebt seit vielen Jah- dam, aber auch Kommunen im Westen
so oft in den vergangenen Wochen. ren am Moskauer Platz. Er glaubt an Ver- wie Kiel oder Köln sind betroffen. In Ros-
Es ist kurz nach 15 Uhr an einem Mon- änderung. »Wenn Sie immer nur erzählen, tock lebt jedes dritte Kind in einem eher
tag, Haß beginnt gleich seine wöchentliche wie schlimm alles ist, nehmen Sie den armen Viertel. In Berlin, Schwerin oder
Sprechstunde ein Stockwerk höher. Er ist Menschen die Hoffnung, dass es auch bes- Saarbrücken ist es jedes vierte Kind.
seit fast zehn Jahren der Ortsteilbürger- ser wird.« Er stellt auch einen zweiten Trend fest:
meister des Moskauer Platzes in Erfurt. Von Haß’ Büro sind es knapp 700 Meter Alt und Jung leben immer seltener Tür an
Rund 7800 Menschen leben am Mos- zu Fuß bis zur Straßenbahnlinie 2 und Tür. Die 15- bis 29-Jährigen wohnen zu-
kauer Platz. Er ist einer der vier Ortsteile, dann fünf Stationen bis zur Universität Er- nehmend in anderen Vierteln als die Men-
die in der Stadt zusammen »Erfurt Nord« furt. Im ersten Stock des Lehrgebäudes 2 schen über 65 Jahre.
genannt werden. Es sind Plattenbausied- hat jener Marcel Helbig sein Büro. Am Be- Nach der Wende durchliefen die Plat-
lungen aus DDR-Zeiten. Haß nennt sie lie- ginn der Strecke sieht die Welt aus wie die tenbauten im Osten im Zeitraffer die Ent-
ber »Großwohnsiedlung«. Legostadt eines Kindes, wo alles nach wicklung, die die »Wohnmaschinen« des
In den vergangenen Monaten kam Er- oben wachsen muss; Fünfgeschösser, Zehn- Westens wie die in Köln-Chorweiler oder
furt Nord und damit auch der Moskauer geschösser, Sechzehngeschösser. Mümmelmannsberg in Hamburg in den
Platz in die Schlagzeilen. Als Beispiel für Auch der Forscher Helbig ist in Erfurt Jahrzehnten zuvor durchgemacht hatten.
einen Trend, den Wissenschaftler in einer geboren. Und doch ist sein Blick auf den Wer konnte, zog aus der Platte aus, als die
Studie in Ost und West ausgemacht haben: Norden der Stadt ein anderer. »Natürlich Innenstädte saniert waren und in den Vor-
dass sich Arm und Reich, Jung und Alt in gibt es Menschen, die schon lange dort le- orten die Eigenheimsiedlungen sprossen.
Deutschland zunehmend auseinander- ben und bleiben wollen. Aber viele sind Das Ausmaß und das Tempo, mit dem
leben. Dass sich in den Städten Menschen eben auch nicht freiwillig da«, sagt Helbig. sich die Kluft geweitet hat, nennt Helbig
mit niedrigen Einkommen immer stärker »Die sind mit dem Fahrstuhl nach unten »historisch beispiellos«. Im Westen wie im
in bestimmten Wohngebieten ballen – Kin- gefahren.« Osten habe der soziale Wohnungsbau das
der und Alleinerziehende, die Grundsiche- Helbig ist 37 Jahre alt und hat eine Pro- Problem verschärft, denn Sozialwohnun-
rung benötigen, Familien, Alte. So wie am fessur für »Bildung und Soziale Ungleich- gen gebe es vor allem dort, wo viele arme
Moskauer Platz in Erfurt. heit«. Es geht ihm nicht so sehr um seine Menschen wohnen. »In vielen Städten«,
In 80 Prozent der untersuchten Groß- Heimatstadt im Besonderen. Er spricht glaubt Helbig, »ist die Idee einer sozial ge-
städte bleiben die Menschen, die auf so auch über Rostock oder Kiel. Gemein- mischten Stadtgesellschaft nicht mehr
Hartz IV angewiesen sind, zunehmend un- sam mit der Doktorandin Stefanie Jähnen Wirklichkeit.«
ter sich. Das Thema berührt eine der exis- hat er für das Wissenschaftszentrum Berlin Von der Universität sind es rund drei
tenziellen Fragen für den Zusammenhalt »die soziale Architektur« von 74 deutschen Kilometer zu Fuß zur Fachhochschule Er-
einer Gesellschaft: Wie tief ist die Kluft Großstädten untersucht. Wenn man seiner furt. Man hat die Legostadt längst hinter
zwischen den Bürgern, auch räumlich? Studie folgt, trennen sich oben und unten sich gelassen, an den Klingelschildern der
Gibt es in einem Land, wo jeder überall in Deutschland. Häuser stehen weniger Namen. Im Haus 3
hingehen kann, Orte, die Menschen den- In mehr als 60 Städten hat demnach sitzt die Fachrichtung »Soziale Arbeit«.
noch nicht aus eigener Kraft verlassen kön- zwischen 2005 und 2014 die Ballung von Jörg Fischer ist dort Professor und zugleich
nen? Kehren die Armenviertel zurück? Menschen zugenommen, die auf Sozial- Vorstand im angegliederten Institut für
Haß wehrt sich dagegen. In der Vor- leistungen wie Hartz IV angewiesen sind. kommunale Planung und Entwicklung
woche ist in der »Thüringer Allgemeinen« Am stärksten dort, wo viele Familien mit (IKPE), es berät seit 2015 Kommunen und
wieder ein Artikel zu Erfurt Nord mit der Kindern und bedürftige Menschen leben. Landkreise in Thüringen.
Überschrift »Das Kind liegt ganz tief im Und in den Kommunen, in denen die so- Im selben Jahr hat sich das IKPE im Auf-
Brunnen« erschienen. Der Text hat ihn ziale Spaltung bereits am größten ist, ver- trag der Stadt Erfurt angeschaut, wie die
66
soziale Lage in der Stadt ist. Als Fischer
Anfang 2016 den Bericht vorlegte, hatte
er zunächst eine gute Nachricht. »Erfurt
wächst wirtschaftlich, die Bevölkerungs-
zahl steigt, die Zahl der Arbeitslosen und
Hartz-IV-Empfänger sinkt, insgesamt neh-
men die sozialen Problemlagen ab.«
Doch sobald er durch die Lupe des So-
ziologen schaut, tauchen die Probleme auf.
Der Aufschwung ist nicht in allen Vierteln
und bei allen Bürgern gleichermaßen an-
gekommen. An einem Teil der Menschen
ist er grußlos vorbeigegangen. Tatsächlich
sei die Ungleichheit in der Stadt gestiegen,
und entscheide selbst, wie lange ich den SPIEGEL lesen möchte.
Vom Moskauer Platz sind es nur ein
paar Meter über die Straße der Nationen,
dann ist man am Berliner Platz. Es ist ein
Einfach jetzt anfordern: ähnliches Viertel, nur dass die Wohnblocks
etwas dichter stehen, viele Häuser etwas
abo.spiegel.de/flexibel höher und die Zahlen noch etwas schlech-
ter sind.
040 3007-2700 (Bitte Aktionsnummer angeben: SP18-215) 68
Arm und Reich getrennt
Städte mit abnehmender sozioökonomischer
für Senioren, ein psychosozialer Dienst
für Migranten.
Wie wird man
Durchmischung der Stadtteile Jeden Dienstag um zwölf Uhr gibt
Städte mit guter sozioökonomischer
Durchmischung der Stadtteile
es einen Mittagstisch für zwei Euro. Es
ist keine Tafel, niemand muss eine Be-
dürftigkeit nachweisen. Es ist ein An-
zum glücklichen
Flensburg gebot, das Menschen zusammenbrin-
Kiel
Lübeck Rostock
gen soll. Rentner sind gekommen,
Menschen, die schon lange hier le-
ben und gearbeitet haben. Neun
Hobby-
Portionen gehen heute raus.
Bremerhaven
Hamburg
Schwerin
Neubrandenburg
An dem kleinen Tisch am
Schaufenster, auf dem ordent-
lich sortiert Getränke, Gläser
Handwerker?
Bremen und die Kasse stehen, sitzt
Tamara S. Sie betreut den
Wolfsburg Potsdam Mittagstisch ehrenamtlich.
Osnabrück Hannover Berlin
»Wenn ich das nicht machen
esen,
Gelsenkirchen Bielefeld würde, bekäme ich einen
Jetzt l selber
Herne Braunschweig Magdeburg Koller.«
Sie ist 54 Jahre alt und
und
Paderborn Cottbus
lernen chen!
Krefeld Halle
Rentnerin. Erwerbsgemin-
Kassel Leipzig dert, mit Pflegegrad. Sie
Aachen
Dortmund Weimar
Dresden wurde in Erfurt geboren, ma
Siegen war alleinerziehende Mut-
Bonn Jena Gera Chemnitz
Frankfurt a. M. ter, und man verliert ein we-
Erfurt
Köln Offenbach nig den Überblick, wenn man über-
Koblenz
Würzburg
schauen will, was und wo sie in ihrem
Trier Mainz Leben gearbeitet hat – unter anderem
Erlangen
Darmstadt
Mannheim im Bekleidungslager des VEB Minol,
Ludwigs- Heidelberg Fürth Nürnberg bei den Erfurter Verkehrsbetrieben,
hafen
Pforzheim an einer Tankstelle.
Regensburg
Saarbrücken Vor vier Jahren ist sie an den
Stuttgart Ingolstadt Berliner Platz gezogen. Sie wohnt
Karlsruhe in der dritten Etage eines zehnstö-
Ulm
Ausgburg München ckigen Hochhauses, zwei Zimmer, Bal-
Freiburg kon. »Ich habe eine preiswerte Woh-
Konstanz nung gesucht«, sagt Tamara S. Sie be-
Quelle: WZB
kommt unter 1000 Euro Rente, ein paar
Euro zu viel, um Anspruch auf Grund-
Das Quartier hängt nach, man sieht es sicherung zu haben. Dazu kommen
ihm an. Hier gibt es keinen Geldautoma- 73 Euro Wohngeld im Monat. Sie zahlt
ten mehr und kein Café, der letzte Brief- 412 Euro Miete warm. Sie hat keinen An-
ISBN 978-3-54837-755-1
kasten wurde abmontiert. Zwischen leeren spruch auf einen Sozialausweis, der das
Ladenlokalen in der zentralen Einkaufs- Leben billiger macht. Die Befreiung vom
passage überleben ein paar kleine Läden Rundfunkbeitrag ist jedes Mal ein Kampf.
und ein Ein-Euro-Shop. Was sie störe in ihrem Hochhaus, sei
Doch auch hier gibt es Hoffnung, und der ständige Wechsel. Niemals kehre Ruhe
sie heißt Aldi. Zu Jahresbeginn hat der Dis- ein. »In den letzten zwei Jahren gab es
counter eine neue, moderne Filiale eröff- Umzüge in allen Wohnungen«, sagt sie,
net. Am Eingang des Viertels, wo vor gut »ich kenne vielleicht noch eine Nachba-
drei Jahren der letzte Supermarkt dicht- rin.« Die Isolation und die Anonymität im
gemacht wurde. Mittlerweile ist die kom- Stadtteil würden immer größer. »Es wird
plette Passage aufgerissen und wird saniert. zu wenig für den Zusammenhalt getan.«
3,5 Millionen Euro will die Stadt hier in Sie kommt zurecht, sie hat sich arran-
den nächsten Jahren investieren. giert, irgendwie auch mit dem Viertel. Sie
Der Aldi ist jetzt der Mittelpunkt des mag die Aufgabe im Stadtteiltreff. Sie
Viertels. Schräg gegenüber hatte bereits glaubt, es brauche mehr solcher Orte. Aber
im Jahr 2015 der Stadtteiltreff aufgemacht, ist das hier ihre Heimat? Sie weiß nicht, ob
er wird vom selben Verein getragen wie es nur eine Zwischenstation ist: »Angekom-
das Mehrgenerationenhaus am Moskauer men bin ich am Berliner Platz noch nicht.«
Platz. Auch er soll eine Anlaufstelle für Markus Dettmer
die Menschen am Berliner Platz werden,
sie miteinander vernetzen, ihnen bei Be- ‣ Lesen Sie kommende Woche
hördenproblemen helfen. Fetisch Eigenheim: die teure Liebe der
Noch ist das Angebot im Aufbau: Deutschen zu ihrer Immobilie
Sprechstunden und Smartphone-Schulung
Kommentar
Eingemauert
Was immer die bedrängte britische Premierministerin jetzt tut: Entweder zerreißt es ihre Partei – oder ihr Land.
Theresa May fährt demnächst wieder in die Berge. Höhenluft entfernt ist, aber einen Teufel tun wird, sie zu stützen. Wie May
atmen, morgens irgendwo losmarschieren und abends irgendwo bis Jahresende einen Brexit-Plan durchs Parlament bringen
ankommen. Eine Freiheit genießen, die die britische Premier- soll, kann sich kaum jemand vorstellen. Und dabei haben die
ministerin daheim schon lange nicht mehr hat. Dort ist sie, eigentlichen Verhandlungen mit der EU noch gar nicht begonnen,
spätestens seit dieser Woche, endgültig eingemauert. Sie hat in denen sie weitere Kompromisse wird eingehen müssen.
zwar auch diese Woche wieder mal knapp überlebt, aber sie Was bleibt ihr übrig? Im Wesentlichen hat May drei Optionen,
hat den Brexit-Hardlinern in ihrer Partei dafür maximale Zuge- die alle mit Risiken verbunden sind: Sie könnte die Führungsfrage
ständnisse machen müssen – die ihren Kompromissvorschlag in ihrer Partei erneut stellen, in der Hoffnung, gestärkt daraus
von Anfang Juli unmöglich machen. Und einen Aufstand der hervorzugehen. Sie könnte Neuwahlen anberaumen. Sie könnte
Brexit-Gegner in ihrer Partei konnte sie nur knapp niederschla- noch einmal ihr Volk befragen. Die Folge wäre in allen Fällen
gen, weil ihr einige Labour-Abgeordnete zur Seite sprangen. unerfreulich: Entweder zerreißt es ihre Partei – oder ihr Land.
Die Premierministerin ist nun handlungsunfähig, stets könnten Als May im Frühjahr 2017 aus den Bergen zurückkehrte, rief sie
ihr parteiinterne EU-Freunde oder EU-Hasser Steine in den Weg kurz danach Neuwahlen aus. Das ging schief. Der nächste Versuch
legen. Und in der Opposition sitzt eine Labour-Partei, deren muss sitzen. Sonst wird sie künftig viel mehr Zeit zum Wandern
Mehrheit von Mays Idee eines »soften Brexits« zwar nicht weit haben, als ihr lieb ist. Jörg Schindler
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MARK WILSON / GETTY IMAGES
Präsident Trump beim Verlesen einer Erklärung im Weißen Haus: »Es könnten auch andere Leute gewesen sein – gibt viele Leute da draußen«
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Ausland
Putins Geisel
USA Der Auftritt Donald Trumps in Helsinki zeigt, wie sehr ihn die Russlandaffäre
politisch lähmt. Der Präsident kann sich vom Einfluss Wladimir Putins
offenbar nicht mehr lösen. Wird diese Nähe den Republikanern schaden?
N
ach einer der seltsamsten Wo- schaute er hoch, und sagte, was er wohl Neonazi-Aufmarsch in der Stadt Char-
chen in der seltsamen Präsident- eigentlich dachte. »Ich akzeptiere die lottesville eine Gegendemonstrantin getö-
schaft des Donald Trump bleiben Schlussfolgerung unserer Geheimdienst- tet wurde. Auch damals sah Trump Fehler
Fragen: Was ist los mit diesem gemeinde, dass Russlands Einmischung in »auf beiden Seiten«, bei den Nazis und
Mann? Hat er etwas zu verbergen – wenn die Wahl 2016 stattgefunden hat.« Und den Bürgern, die gegen die Rechten pro-
ja, warum verhält er sich so? Und wenn fügte hinzu: »Es könnten auch andere testierten.
nein, warum verhält er sich dann trotz- Leute gewesen sein. Gibt viele Leute da Die Charlottesville-Affäre, das war das
dem so? draußen.« letzte Mal, dass Donald Trump politisch
Es war ein unvergesslicher Auftritt, als Sein Statement, das alles richten sollte, derart in Bedrängnis geriet, seine notorisch
Donald Trump am Montag in Helsinki an war ein Glaubensbekenntnis mit hinter niedrigen Beliebtheitswerte sackten da-
einem Rednerpult im Palast des finnischen dem Rücken überkreuzten Fingern. Am mals laut Gallup auf rund 34 Prozent ab,
Präsidenten stand und neben Wladimir nächsten Tag fragte ihn eine Reporterin, doch selbst diese Affäre saß er einfach aus.
Putin schwach wirkte. Nachdem er die eu- ob Russland weiter daran arbeite, sich in Die Russlandaffäre dagegen begleitet
ropäischen Verbündeten in den Tagen zu- die US-Politik einzumischen. Trump ant- schon seine ganze Präsidentschaft, aber
vor aggressiv angegangen hatte, behandel- wortete: »Vielen Dank, nein.« Das sah so sie hat die Mehrheit der Amerikaner bis-
te er den russischen Präsidenten nun wie aus, als widerspräche er seinen Leuten her kaum tief berührt. Zwar bringt sie sei-
einen großen Bruder. Trump wirkte nicht schon wieder. ne Gegner auf die Zinne, zwar haben die
wie der mächtigste Mann der Welt, son- Ein Verdacht nagt an seiner Präsident- Mutmaßungen über Trumps Verhältnis
dern wie ein Bittsteller oder Untergebener, schaft: dass Trump Putin etwas schuldet. zu Russland die US-Verbündeten ver-
es war, als wollte er Putin gefallen, er Die Russlandaffäre hat ihn vom Wahl- schreckt – aber bei seinen Unterstützern
sprach von einer »leuchtenderen Zukunft« kampf ins Weiße Haus und bis nach Hel- hat ihm all das bisher nicht geschadet. Für
für Amerika und Russland. sinki verfolgt. Er kann sie nicht abschüt- sie war die Sache mit der russischen Ein-
Als die Journalisten Trump bei der Pres- mischung stets eine Glaubensfrage, und
sekonferenz nach der beispiellosen Ein- sie glaubten Trump. Ist das diesmal anders,
flussnahme fragten, die Putins Geheim- War die Woche sogar für war diese Woche selbst für seine Fans zu
dienst bei der letzten Präsidentenwahl or- Trump-Fans zu viel? Auch viel? In wenigen Monaten sind die Mid-
chestriert haben soll, stellte er sich auf die term-Elections, die Parlamentswahlen zur
Seite des Russen: Seine Geheimdienstleute seine liebsten TV-Mode- Halbzeit von Trumps Amtszeit. Könnte
sagten ihm, so Trump, dass Russland es ratoren kritisierten ihn. sein Auftritt Folgen haben?
getan habe – aber da sei eben auch Putin, Jedenfalls war Trumps Show in Helsinki
der »in seinem Dementi extrem stark und selbst für viele jener Republikaner zu viel,
machtvoll« gewesen sei. Er, Trump, sehe teln. Sie ist der dunkle Fleck, die Heimsu- die Trump auch dann immer verteidigen,
nicht, warum es Russland gewesen sein chung, die Trump nicht loswird. Russland, wenn seine Handlungen kaum zu vertei-
solle. Der Präsident positionierte sich öf- immer wieder Russland. Über diesem digen sind. Viele kritisierten ihn nun, nicht
fentlich gegen seine eigenen Mitarbeiter. Mann hängt ein Schatten, der von Tag zu nur die führenden Republikaner im Kon-
»Gemeinsam können wir großartige Tag größer wird, dunkler. gress, Mitch McConnell und Paul Ryan.
Dinge tun«, sagte Trump. Helsinki trug dazu bei. Schon vor der Sogar seine Lieblingsmoderatoren vom
»Ich bin Donald dankbar«, sagte Putin. verhängnisvollen Pressekonferenz unter- Frühstücksfernsehen »Fox & Friends«, die
Auch wenn dieser Satz im Laufe dieser hielten sich die beiden Männer bei ihrem ihm sonst immer nur schmeicheln, gingen
Präsidentschaft zu oft verwendet worden Treffen über zwei Stunden lang fast ganz streng mit ihm ins Gericht. Die »Vanity
ist, diesmal stimmt er: So etwas gab es allein. Bis auf die Dolmetscher weiß nie- Fair« meldete, dass Trumps eigener Stabs-
noch nie. Und dass Trump in den Tagen mand, was die wirklich besprochen ha- chef John Kelly führende Republikaner ge-
darauf die wildesten Erklärungen liefern ben – es ging angeblich um Verträge zur beten haben soll, den Mann öffentlich zu
sollte, wie er es eigentlich gemeint habe, Rüstungskontrolle, um Syrien, Genaues kritisieren, vermutlich in der Hoffnung,
und am Ende gar nichts mehr klar war – weiß man nicht. ihn zur Räson zu bringen. Barack Obamas
auch das sucht seinesgleichen. Was sich beim gemeinsamen Auftritt früherer CIA-Chef John Brennan sprach
Er habe eigentlich sagen wollen, erklär- auch zeigte: Der US-Präsident ignoriert gar von Landesverrat.
te Trump am Dienstag bei einem Auftritt beharrlich alles, was Russland in den ver- Schwäche wird einem US-Präsidenten
im Weißen Haus, dass er nicht wisse, gangenen Jahren getan hat, was den Wes- eigentlich nicht verziehen, schon gar nicht
warum es NICHT Russland gewesen sein ten provoziert hat, vom Krieg in der Ukrai- gegenüber einem geopolitischen Rivalen.
sollte. Er habe versehentlich das Wort ne bis zum Eingreifen in Syrien. Trump Aber für Donald Trump scheint das so
»would« anstelle von »wouldn’t« gesagt. sagt: Amerikaner und Russen, beide Sei- auch nicht mehr zu gelten: Mitte der Wo-
Ein Problem der doppelten Verneinung, ten sind schuld am schlechten Verhältnis. che zeigte eine Umfrage, dass 79 Prozent
ein Versehen. Er las vom Blatt ab, wirkte, Er wählt eine ähnliche Formulierung wie der republikanischen Wähler seinen Auf-
als würde er gezwungen, zwischendurch im vergangenen Sommer, als bei einem tritt mit Putin gut fanden, dagegen fanden
ihn 62 Prozent der Unabhängigen und hat. Einen Triumph aus eigener Kraft, wie getragen haben. Zwei Wochen vor Trumps
91 Prozent der Demokraten schlecht. er findet, nicht mit Putins Hilfe. Er will Amtseinführung kamen die Spitzen der
Viele Demokraten hoffen dennoch, dass Putin wahrscheinlich schon aus Eitelkeit US-Geheimdienste im New Yorker Trump
der Auftritt in dieser Woche etwas verän- glauben, dass Russland nichts mit dem Tower zusammen, um ihn über die Bedro-
dert hat. Trotzdem wollen die meisten von Wahlsieg zu tun habe. hungslage zu informieren, darunter die
ihnen die Republikaner im Wahlkampf mit Wenn er gesteht, dass Moskau in die Chefs von CIA, NSA und FBI. Was sie
lebensnäheren Themen angreifen als mit Wahl eingegriffen habe, gibt er dann nicht Trump berichteten, soll an Direktheit
»Russland« – mit der Lage im Gesundheits- zu, dass ihn doch jemand von außen un- kaum zu überbieten gewesen sein: Putin
wesen, mit Trumps Steuersenkungen für terstützte? Nimmt ihm das nicht den Sieg? persönlich habe die Attacken im Vorfeld
Reiche. Das gilt auch für drei Politiker, die »Wir haben mit großem Vorsprung ge- der Wahl befohlen.
als mögliche Gegenkandidaten Trumps im wonnen«, sagte Trump in Helsinki auf eine Es gab Geheimdiensterkenntnisse von
Jahr 2020 gelten: der frühere Vizepräsi- Frage nach russischer Einflussnahme. Amerikanern, Niederländern und Briten,
dent Joe Biden sowie die beiden linken »Das war eine gut geführte Schlacht. Wir dass die Russen von Servern der Demo-
Senatorinnen Elizabeth Warren und Ka- haben das toll gemacht.« Er kann sich kraten E-Mails gestohlen hatten; es gab
mala Harris. nicht dazu bringen zuzugeben, was er mehrere hochrangige Quellen, die Putins
Die Demokraten liegen in fast allen Um- eigentlich genau wissen könnte: dass der Rolle bestätigten. Eine Quelle war offen-
fragen derzeit deutlich vorn; sie haben in russische Präsident höchstwahrscheinlich bar so nah an Putin, dass der damalige
den vergangenen Monaten mehrere Nach- den Angriff auf die US-Wahl befohlen hat. CIA-Chef Brennan deren Informationen
wahlen zum Repräsentantenhaus in tief Sicher ist, dass die Geheimdienstler nur in einem Umschlag an Präsident Oba-
republikanischen Gegenden gewonnen. Trump ausführlich ihre Belege dafür vor- ma und wenige Eingeweihte weitergab.
Die Umfragen sprechen dafür, dass sie dort Für die US-Dienste gab es keinen Zweifel,
im November eine Mehrheit erringen wer- dass der russische Präsident in die Angriffe
den – die Frage ist, ob ihnen das auch im Parlamentswahl in den USA verstrickt ist.
Senat gelingen wird. Dann könnten sie die Auswertungen mehrerer Umfragen nach Warum ist Trump dann bis heute so zö-
Ermittlungen gegen Trump auch im Kon- Parteipräferenz bei der nächsten Wahl gerlich, wenn es darum geht, seinen eige-
gress vorantreiben, sie könnten die Russ- zum US-Kongress, Angaben in Prozent nen Geheimdiensten zu folgen?
land-Untersuchung von Sonderermittler Quelle: FiveThirtyEight
Im Grunde gibt es drei mögliche Erklä-
Robert Mueller gesetzlich schützen lassen. rungen: Erstens, er fürchtet, dass die Legi-
Denn Trump hat immer wieder damit ko- 50 48,7 timität seiner Präsidentschaft in Zweifel
kettiert, dass er Mueller entlassen könnte. gerät, wenn er auch nur einen missglück-
Trump erträgt diese Untersuchung nicht, Demokraten ten Versuch der Russen bestätigt, auf die
weil er nicht in der Lage ist, zwischen dem Wahl Einfluss genommen zu haben – das
russischen Angriff auf die amerikanische wäre die harmloseste Variante. Zweitens,
Demokratie und dem Vorwurf der Ko- 40 39,4 er hat sich in seiner Karriere als Immobi-
operation mit Russen zu unterscheiden – lienentwickler in New York so sehr von
für ihn ist das ein und dasselbe Thema mit russischen Investoren abhängig gemacht,
demselben Ziel: Man will ihm schaden, dass er fürchtet, seine mögliche Verstri-
man will seiner Präsidentschaft die Legi- Republikaner ckung in Geldwäschegeschäfte könnte auf-
timität absprechen, man will ihm den Tri- 30 fliegen, wenn er sich Moskau gegenüber
umph aberkennen, den er 2016 errungen 1. Mai 18. Juli allzu hart zeigt. Und drittens, er wusste
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Ausland
persönlich von Kontakten zwischen sei- Russen darüber diskutieren, wie sie Geld kooperieren mit dem Sonderermittler, un-
nem Wahlkampfteam und den Russen, an Trumps Kampagne schleusen können; ter ihnen Trumps früherer Nationaler Si-
und Putin hat darüber hinaus, wie von kurz darauf fährt der Chef des britischen cherheitsberater Michael Flynn. Auch
manchen behauptet, belastendes Material Nachrichtendienstes GCHQ nach Wa- Trumps langjähriger Anwalt Michael Co-
gegen ihn in der Hand. Das wäre die dra- shington, um die CIA über Nachrichten hen ist angeblich bereit, mit den Beamten
matischste, wenn auch am wenigsten wahr- zwischen Trumps Team und Russen zu in- zu reden, nachdem das FBI in seinem Büro
scheinliche Erklärung. formieren, die die Briten mitgehört haben. Millionen Akten beschlagnahmt hat.
Alle paar Tage twittert Trump über die Spätestens im März 2016 begannen die Diese Woche klagte das Justizministe-
»witch hunt«, die Hexenjagd, wie er Muel- russischen Cyber-Angriffe gegen die De- rium eine 29-jährige Russin namens Marija
lers unabhängige Untersuchung zur russi- mokraten, so ist es der neuen Anklage- Butina an, weil sie als »ausländische Agen-
schen Einflussnahme auf die US-Wahl schrift von Robert Mueller zu entnehmen. tin« versucht haben soll, die Republikaner
nennt. Wenn man die bisherigen Ergebnis- Russische Hacker drangen in E-Mail-Kon- und die Waffenorganisation NRA zu infil-
se dieser Untersuchung betrachtet, hat er ten der Demokratischen Partei ein, infi- trieren – und für einen Job angeblich sogar
Grund, deshalb beunruhigt zu sein. Kaum zierten deren Rechner mit Überwachungs- Sex angeboten habe. Sie bestreitet alle
ein Sonderermittler in der Geschichte der software und stahlen Mails. Vorwürfe, die Anklageschrift liest sich wie
USA ist bisher so schnell und effektiv vo- Die Russen suchten nach verschiedenen aus der fiktiven US-TV-Serie »The Ameri-
rangekommen. Wegen, die E-Mails, die sie gestohlen hatten, cans«, die vom Leben sowjetischer Agen-
Erst Ende vergangener Woche hat das in der Öffentlichkeit zu verbreiten. Sie nutz- ten in den USA erzählt.
Team die Namen von zwölf Mitarbeitern ten Online-Identitäten wie »Guccifer 2.0« Die Zeugen Robert Muellers sind inzwi-
des russischen Militärgeheimdienstes be- oder bauten Websites wie »DC Leaks«; sie schen derart zahlreich, dass Trump selbst
kannt gegeben, laut Anklage waren sie Teil suchten Kontakte zur Plattform Wiki- kaum noch behaupten kann, er habe von
einer »groß angelegten Cyber-Operation, Leaks und ihrem Gründer Julian Assange; nichts gewusst. Seine Strategie besteht da-
um in die US-Präsidentschaftswahl 2016 und sie stellten persönliche Kontakte zu rin, die Legitimität des Sonderermittlers
einzugreifen«. Damit sind insgesamt 25 Trump-Beratern her. Ein Trump-Berater zu unterhöhlen, indem er verbreitet, des-
Russen und drei russische Firmen angeklagt, erfuhr schon im Frühjahr 2016 von den sen Team sei von Demokraten unterwan-
Hacker-Angriffe durchgeführt oder auf an- gestohlenen Clinton-Mails und erzählte dert. Seine Verteidiger argumentieren, ein
dere Weise die Wahl beeinflusst zu haben. einem australischen Diplomaten in Lon- Präsident könne von Amts wegen gar nicht
Die Russland-Affäre beginnt vor langer in einem Strafverfahren angeklagt werden.
Zeit, spätestens 1987, als Trump zum ers- Tatsächlich ist das juristisch bislang nicht
ten Mal nach Moskau fährt. Es ist dasselbe eindeutig geklärt. Letzten Endes dürfte
Jahr, in dem »The Art of the Deal« er- der Oberste Gerichtshof darüber entschei-
scheint, sein Bestseller, in dem er den My- den, ob ein US-Präsident in einer solchen
thos des besten Verhandlers der Welt er- Sache angeklagt werden kann. Dieses Ge-
schafft. Es ist das Jahr, in dem Trump seine richt will Trump in diesen Tagen gerade
politische Karriere zündet; damals atta- mit einem weiteren konservativen Kandi-
ckierte er schon per Zeitungsanzeige die daten besetzen, der ihm gewogen ist.
liberale Weltordnung, weil sie den USA In Washington wird erwartet, dass
schade und Staaten wie Japan nütze. Mueller einen ersten Bericht noch im Som-
Trumps Ansichten überschnitten sich mer veröffentlicht – womöglich zur Frage,
schon sehr früh mit denen Moskaus. ob Trump im Lauf der Untersuchung die
Dann kam Geld hinzu. Als Trumps Ver- Justiz behindert hat. Ein weiterer Bericht
AP
mögen schmolz und ihm Banken in New zum Vorwurf der Kooperation mit den
York keine Mittel mehr gewährten, musste Verhaftete Russin Butina Russen könnte folgen. Allerdings kann nie-
er sich nach anderen Quellen umsehen. Al- Sex für einen Job? mand vorhersagen, ob das noch bis zu den
lein zwischen 2003 und 2017 kauften In- Wahlen im November geschieht.
vestoren aus der früheren Sowjetunion 86 don davon – so kam das FBI auf die Fährte Der Helsinki-Schock dürfte bei vielen
Trump-Immobilien, für insgesamt 109 Mil- der Russen. Republikanern bis dahin wohl verflogen
lionen Dollar – in bar, was den Verdacht Der FBI-Chef hieß damals James Co- sein. Der Kreislauf von Empörung und
der Geldwäsche nährt. mey; ein Jahr später wurde er von Trump Desinteresse vollzieht sich in den Medien
Auch Trumps Söhnen Donald Jr. und gefeuert, damit sollten die Untersuchun- immer schneller, der Wahlkampf ist längst
Eric entging die Vorliebe der Russen für gen enden. Es war eine von vielen Aktio- im Gang. Und für die meisten Kandidaten
die Immobilien ihres Vaters nicht. »Wir nen, mit denen Trump sich selbst schadete. der Republikaner wäre es politischer
verlassen uns gar nicht mehr auf amerika- »Ich stand unter großem Druck durch Russ- Selbstmord, sich gegen den Präsidenten
nische Banken«, sagte Eric einmal. »Die land, der ist jetzt weg«, prahlte er kurz zu stellen.
gesamte Finanzierung, die wir benötigen, nach Comeys Entlassung vor dem russi- Und Trump lässt sich ohnehin von nie-
stammt aus Russland.« schen Außenminister, der ihn im Weißen mandem beirren: Im Herbst, so kündigte
Es gibt kaum ein politisches Thema, bei Haus besucht hatte. das Weiße Haus am Donnerstag an, wolle
dem Trump über die Jahre so konsistent Die Russland-Affäre ist zu verschlungen er Putin nach Washington einladen.
bleibt wie in seiner Haltung zu Russland: und komplex, mit zu vielen Namen, Daten Mathieu von Rohr,
Im Vorwahlkampf der Republikaner wirbt und Verbindungen, um sie auf Anhieb zu Christoph Scheuermann
keiner so offen für Entspannung gegen- durchschauen. Es gibt womöglich nicht
über Moskau wie Trump. Bereits 2015 fan- den einen Beweis, der Trump belastet,
gen westliche Geheimdienste Belege für aber es gibt einen Berg an Hinweisen. Ins- Video
Trumps #Russlandgate
Kontakte zwischen Leuten aus Trumps gesamt haben Rechercheure mehr als 80
Umfeld und der russischen Regierung ab; Kontakte zwischen Leuten in Trumps Or- spiegel.de/sp302018trump
im April 2016 gibt ein baltischer Dienst bit und Russen gezählt. Fünf Beteiligte ha- oder in der App DER SPIEGEL
ein Tonband an die CIA weiter, auf dem ben sich inzwischen schuldig bekannt und
In der Strafkolonie
China In Xinjiang errichtet Peking einen Überwachungsstaat, wie ihn die Welt noch nicht
gesehen hat. Mit modernsten Methoden will das Land die muslimische Minderheit der
Uiguren kontrollieren. Eine Reise durch eine gespenstisch stille Region. Von Bernhard Zand
D
ie Stadt Kashgar im tiefen Westen kistan, Afghanistan, Tadschikistan und Wer eine Datenspur hinterlässt, die ihn
Chinas fühlt sich in diesen Tagen Kasachstan. verdächtig macht, der wird verhaftet. Die
manchmal an wie Bagdad nach Die Repression gibt es seit Jahren, doch Regierung hat ein Netzwerk von Hunder-
dem Krieg. Sirenen heulen, Pan- in den vergangenen Monaten hat sie sich ten Umerziehungslagern errichtet, Zehn-
zerwagen patrouillieren, und Kampfjets massiv verschärft. Sie zielt vor allem auf tausende sind darin allein in den vergan-
donnern über die Stadt. Die wenigen Ho- die uigurische Minderheit, Peking betrach- genen Monaten verschwunden, nach
tels, in denen noch ein paar versprengte tet sie, ein Turkvolk von etwa zehn Mil- Schätzungen des Forschers Zenz sogar
Touristen wohnen, sind blickdicht einge- lionen sunnitischen Muslimen, als Störfak- Hunderttausende. Genaue Zahlen sind
mauert. Mit groben, herrischen Gesten sor- tor beim Aufbau einer »harmonischen Ge- schwer zu ermitteln, in keiner chinesi-
tieren Polizisten in Schutzweste und Helm sellschaft«. Eine Reihe von Anschlägen, schen Provinz ist die Zensur so streng und
den Verkehr. Wer aus der Reihe tanzt, wird an denen uigurische Militante beteiligt wa- sind die Behörden so verschwiegen wie
angeschrien. ren, hat diesen Verdacht verstärkt. in Xinjiang.
Dann wieder liegt eine gespenstische Die Uiguren sehen sich als kulturell, re- Doch das Bild, das eine Reise durch Chi-
Stille über der Stadt. Am Freitagmittag, ligiös und wirtschaftlich diskriminierte nas Westprovinz und eine Vielzahl von
zur Gebetszeit der Muslime, ist der Platz Minderheit. Ihr Bevölkerungsanteil lag Gesprächen ergeben – mit Menschen, die
vor der großen Id-Kah-Moschee fast men- kurz nach der Eingliederung Xinjiangs in allesamt anonym bleiben müssen –, ist ein-
schenleer. Kein Ruf des Muezzins ist zu die Volksrepublik China 1949 bei rund 80 deutig: Xinjiang, eine der entlegensten und
hören, nur ab und zu ein leises Piepsen, Prozent. Durch die gezielte Ansiedlung rückständigsten Regionen des Wirtschafts-
wenn einer der wenigen Gläubigen den ethnischer Han-Chinesen ist er auf etwa wunderlands China, ist eine zur Wirklich-
Metalldetektor vor der Moschee passiert. 45 Prozent gesunken. Und vor allem diese keit gewordene Dystopie. Und sie bietet
Dutzende Kameras wachen über das Ge- Neuankömmlinge sind es, die vom wirt- eine Vorstellung davon, wozu ein autori-
schehen. Sicherheitsleute, teils in Uniform, schaftlichen Aufschwung der Region pro- täres Regime mit der Technologie des
teils in Zivil, streifen durch die Altstadt. fitieren, die reich ist an Öl, Gas und Kohle. 21. Jahrhunderts imstande ist.
Sie sind so still, als versuchten sie zu hören, Dagegen protestierten die Uiguren –
was in den Köpfen der Menschen vorgeht. und deshalb hat Peking ein Sicherheits- Ürümqi: Polizisten, Blockwarte
Und auch Journalisten bleiben nicht lan- regime eingeführt, das selbst im Polizei- und Denunzianten
ge unbehelligt. Gleich nach unserer An- staat China einzigartig ist. Recherchen des Die Hauptstadt von Xinjiang mit ihrer mo-
kunft drängen zwei Polizeibeamte auf ein deutschen Xinjiang-Forschers Adrian Zenz dernen Skyline aus Dutzenden Wolken-
Gespräch mit uns, den Reportern. Einer zufolge hat die Provinzregierung allein seit kratzern zählt etwa dreieinhalb Millionen
der beiden kommt am nächsten Morgen dem Sommer 2016 über 90 000 Polizei- Einwohner, drei Viertel sind Han-Chine-
aus einem Zimmer auf unserer Hoteletage. stellen ausgeschrieben, mehr als doppelt sen, die größte Minderheit stellen die Ui-
Als wir am Vormittag durch die Stadt so viele wie in den sieben Jahren zuvor. guren. Außerdem leben Kasachen, Mon-
schlendern, folgen mehrere Beamte in Zi- Mit fast 500 Beamten auf 100 000 Ein- golen und Angehörige des chinesisch spre-
vil, am Ende sind es acht Personen und wohner liegt die Polizeidichte damit an- chenden, aber muslimischen Hui-Volkes
drei Autos, darunter ein schwarzer Honda, nähernd so hoch wie im benachbarten in der Stadt. »Alle ethnischen Gruppen
dessen Kennzeichen abgeklebt sind. Das Tibet. halten zusammen wie die Kerne eines Gra-
deutet auf ein Fahrzeug der Staatssicher- Zugleich rüstet Peking seine Westpro- natapfels«, steht auf einem Transparent,
heit hin. Die Innenstadt von Kashgar ist vinz mit modernster Überwachungstech- das über die vielspurige Ringautobahn von
bis in den letzten Winkel von Überwa- nik auf: Von Millionenstädten wie Ürümqi Ürümqi gespannt ist.
chungskameras abgedeckt, sobald wir uns bis in die entlegensten Gebirgsdörfer »In Wahrheit kannst du den Uiguren
mit jemandem unterhalten, tauchen sofort leuchten Kameras jede Straße aus; an nicht trauen«, sagt ein Han-Chinese, der
Beamte auf und stellen die Gesprächspart- Bahnhöfen, Flughäfen und den überall er- früher für das Militär gearbeitet hat. »Sie
ner zur Rede. richteten Checkpoints werden Iris-Scanner tun so, als wären sie deine Freunde, aber
Schließlich, wie hier später zu erzählen und sogenannte Wifi-Sniffer eingesetzt – halten nur unter sich zusammen.«
ist, werden sie auch uns festhalten. Aber Geräte und Programme, mit denen sich Das Misstrauen zwischen den beiden
so intensiv die Behörden ausländische der Datenverkehr von drahtlosen Netz- Volksgruppen ist über Jahrzehnte gewach-
Journalisten in Xinjiang überwachen – es werken überwachen lässt. sen. 2009 brachen in Ürümqi ethnische
ist harmlos, gemessen an der Verfolgung Die Informationen laufen auf einer Unruhen aus, fast 200 Menschen kamen
der uigurischen Bevölkerung. »Integrierten gemeinsamen Operations- ums Leben, die meisten von ihnen Han-
An keinem Ort der Welt, wohl nicht ein- plattform« zusammen, wo zudem weitere Chinesen. 2014 stachen Uiguren in der
mal in Nordkorea, wird die Bevölkerung Daten der Bewohner gespeichert sind: Stadt Kunming 31 Menschen nieder, kurz
so flächendeckend kontrolliert wie im über ihr Kaufverhalten, ihre Bankbewe- darauf rasten zwei Autos durch einen be-
»Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang«, gungen, den Gesundheitszustand; dazu lebten Markt in Ürümqi, erneut starben
viereinhalb mal so groß wie Deutschland, auch das DNA-Profil von jedem Bewoh- Dutzende. Seither gab es weniger große
an acht Länder grenzend, darunter Pa- ner Xinjiangs. Anschläge, aber unter den Han-Chinesen
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JOHANNES EISELE / AFP
Polizeipatrouille nahe der Id-Kah-Moschee in Kashgar: Überall gibt es Checkpoints, Kameras, Iris-Scanner und Wifi-Sniffer
gehen Gerüchte um: Im Süden von Xin- sagten: Du und dein Nachbar seid ab jetzt muss seinen Ausweis vorzeigen, der Zaun
jiang sei es immer wieder zu schweren, öf- füreinander zuständig. Wenn einer von ist mit Stacheldraht bewehrt. Ein gutes
fentlich nicht berichteten Zwischenfällen euch auffällig wird, machen wir den ande- Dutzend Überwachungskameras hat den
gekommen. ren dafür verantwortlich.« Der Geschäfts- umliegenden Park mit einem Teich und
Um für Ruhe zu sorgen, berief Peking mann sagt, dass er sein Land liebe. »Aber einem Kinderspielplatz im Visier.
den Parteichef von Tibet, Chen Quanguo, ich weigere mich, meine Nachbarn zu be- Die Sicherheitsleute des Museums tra-
nach Xinjiang. Hier setzte dieser binnen spitzeln.« gen Helm und Splitterschutzweste, neben
zwei Jahren um, was er in Tibet erprobt Der Vorgänger von Parteichef Chen, dem Gepäckscanner am Eingang lehnen
hatte: Er ließ die Provinz mit Tausenden sagt ein Fahrer in Ürümqi und deutet auf Nahkampfschilde an der Wand. »Kann
Polizeiwachen überziehen, bunkerhaften, die Hochhäuser im Zentrum, hätte auf den man hier alles kaufen«, sagt eine Bediens-
vergitterten und schwer bewachten Gebäu- wirtschaftlichen Aufschwung von Xinjiang tete des Museumsshops. »Gleich auf der
den, die in Städten wie Ürümqi an jeder gesetzt. Je besser es den Menschen gehe, anderen Straßenseite.«
größeren Kreuzung stehen. desto sicherer werde die Region, das war Tatsächlich, gegenüber dem Museum
Außerdem führte Chen eine Art Block- die Idee. »Daran glaubt heute keiner mehr. befindet sich ein Geschäft für Sicherheits-
wartsystem ein, bei dem Mitglieder der Die Wirtschaft wächst weiter. Aber die ausrüstung: Helme und Aufsteckbajonette
örtlichen Parteikomitees Wohnungen in- Nummer eins ist jetzt die Repression.« werden angeboten, Überwachungselektro-
spizieren und Familien aushorchen: Wer nik, Schlagstöcke in Zwölferbündeln, vor
wohnt hier? Wer war zu Besuch da? Wo- Turpan: die Pflicht, allem aber Schutzwesten. »300 Yuan das
rüber habt ihr geredet? Und als würde das sich zu bewaffnen Stück«, sagt ein Verkäufer, umgerechnet
nicht reichen, werden auch die Kontrol- Zwei Autostunden südöstlich von Ürümqi, rund 40 Euro. »Die helfen aber nur gegen
leure noch kontrolliert: Viele Wohnungen direkt an der antiken Seidenstraße, liegt Messerstiche. Wir haben auch schusssiche-
sind mit Strichcode-Aufklebern versehen, die Oase Turpan. In Jahrtausenden haben re Westen, die sind aber viel teurer. Haben
die von den Beamten zum Nachweis ihrer Chinesen, Perser und Uiguren, Buddhis- Sie denn die nötigen Dokumente?«
Besuche gescannt werden müssen – und ten, Manichäer und Muslime hier ihre Die Ausrüstung ist zum Schutz von Lä-
zwar an den Innenseiten der Türen. Tempel und Moscheen hinterlassen; es ist den und Restaurants gedacht, von Museen,
Um die soziale Kontrolle zu perfektio- ein Ort des Weinanbaus und der Kontem- Krankenhäusern und Hotels. Deren Be-
nieren, werden zudem auch noch die plation. Außerhalb der Oase liegen zwei treiber sind zu verstärkten Sicherheitsmaß-
Nachbarn als Denunzianten verpflichtet. antike Ruinenstädte, im Zentrum widmet nahmen verpflichtet. »Gerade ist wieder
»Anfang des Jahres kamen sie zu mir«, be- sich ein modernes Museum ihrer reichen eine neue Anordnung gekommen«, sagt
richtet ein Geschäftsmann in Ürümqi. »Sie Geschichte. Doch wer das Museum betritt, ein Hotelier in Turpan und hält einen ge-
stempelten Zettel hoch: Jeder Gast habe ren, schon gar nicht, um einen Ausländer »Qu xuexi«, studieren gehen, ist eine
beim Betreten eines Hotels nun seinen zu treffen. »Vielleicht in ein paar Jahren der häufigsten Wendungen im Xinjiang
Ausweis vorzulegen, egal wie oft er schon wieder«, schreibt er. Und: »Löscht diese dieser Tage. Es ist ein Euphemismus dafür,
aus- und eingegangen sei. Auch neues Unterhaltung sofort von eurem Telefon. dass jemand abgeführt wurde und seither
Sicherheitspersonal ist einzustellen. Die Löscht alles, was verdächtig sein könnte.« nicht wieder aufgetaucht ist. Die »Schu-
Aufrüstung ist in Xinjiang nicht nur eine Am Stadtrand liegt ein modernes Ein- len« sind Umerziehungslager, in denen die
Sicherheitsmaßnahme, sie ist zugleich ein kaufszentrum, kaum ein Fünftel der Ge- ohne Anklage oder Gerichtsverfahren
Jobprogramm. schäfte ist geöffnet, die meisten anderen Festgenommenen Chinesisch- und Patrio-
»30 Männer sitzen in jedem Bunker«, sind kürzlich erst geschlossen worden: tismus-Kurse absolvieren.
sagt ein Uigure mit unterdrücktem Zorn, »Maßnahme zur Sicherung der Stabilität«, Gut die Hälfte der Zufallsbegegnungen
als er an einer der neuen Polizeiwachen steht auf den Siegeln, die über die Türen auf unserer Reise berichtet von Verwand-
vorübergeht. »30 Männer, 30 Frühstücke, geklebt sind. »Alle zur Schule geschickt«, ten oder Bekannten, die »zur Schule ge-
30 Mittag- und Abendessen. Jeden Tag. sagt ein Passant leise und blickt sich um. schickt« wurden. Ein Fahrer in Hotan er-
Wofür das alles? Wer zahlt das alles?« zählt von seinem 72-jährigen Großvater,
400 km ein Geschäftsmann in Ürümqi vom Pro-
Hotan: »studieren gehen« fessor seiner Tochter, ein Reisender im
Die Oasenstadt Hotan mit ihren 300 000 Xinjiang Flugzeug von seinem besten Freund.
Einwohnern liegt im Südwesten der Takla- Peking RUSSLAND Obwohl die Geschichten unterschied-
makan-Wüste. Und weil es hier immer wie- CHINA lich sind, gleichen sie sich in wichtigen De-
MONGOLEI
der zu Anschlägen kam, ist die Überwa- Karten-
ausschnitt tails. Die meisten Betroffenen sind Män-
chung besonders streng. ner, die Festnahmen geschehen häufig
Als der SPIEGEL Hotan 2014 besuchte, K A SAC H STA N nachts oder am frühen Morgen. Als Grund
Ürümqi
gelang es noch auf Umwegen, einen Mann KIRGISIEN
werden Kontakte ins Ausland, zu häufige
zu treffen, der vom brutalen Vorgehen des Moscheebesuche oder verbotene Inhalte
Staates in den Dörfern der Umgebung er- Turpan auf Handy oder Computer genannt. Die
Kashgar Siedlungs-
akan -
zählte. An ein solches Treffen sei heute Ta k la m s te gebiete der Angehörigen hören oft monatelang nichts
nicht zu denken, schreibt er diesmal auf Shache Wü Uiguren von den Verschwundenen. Wenn es doch
einem Messenger-Dienst. Es sei nicht ein- Hotan einmal gelingt, sie wiederzusehen, dann
CHINA
mal mehr möglich, ohne schriftliche Er- nie persönlich, sondern nur auf einem Bild-
laubnis von einem Dorf ins andere zu fah- schirm im Besucherraum des Lagers.
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Bei einem Gespräch mit einem Teppich- lager oder im Gefängnis sitzt, ist nicht zu
händler auf dem Markt in Hotan taucht ermitteln. SPIEGEL TV WISSEN
plötzlich eine Frau in einem kurzen Kleid Und dann tauchen die Polizisten auf, SONNTAG, 22. 7., 22.10 – 23.40 UHR | SKY UND
auf. Sie arbeite in einer Behörde, sagt sie, wie zu Beginn dieser Geschichte erzählt, BEI ALLEN FÜHRENDEN KABELNETZBETREIBERN
und habe sich an diesem Tag freigenom- die uns nicht mehr aus den Augen lassen.
men. Sie bietet an, das Gespräch mit dem Zum Eklat kommt es, als wir in einem
Händler aus dem Uigurischen ins Chinesi- Obstladen Aprikosen kaufen. Wir unter-
sche zu übersetzen. Nein, sagt sie später halten uns mit einer Frau, die dort sitzt
auf dem Weg über den fast menschenlee- und in einem Buch liest. Es ist eine
ren Markt, mit Umerziehungslagern habe Sprachfibel, die Frau lernt Chinesisch.
die Schließung der Läden nichts zu tun. Im Süden von Xinjiang sprechen nur we-
»Die Angestellten sind nur zu einer techni- nige Uiguren, die älter sind als 20, gut
schen Schulung geschickt worden.« Dann Chinesisch.
verabschiedet sie sich höflich. Wir wechseln nur ein paar Worte mit
Ein paar Stunden später fahren wir der Frau, aber als wir den Laden gerade
zum Bahnhof und treten eine Zugfahrt ins verlassen wollen, betreten drei unserer Be-
500 Kilometer entfernte Kashgar an. Der gleiter, darunter eine Dame mit einer roten
Bahnhof ist wie ein Militärstützpunkt ab- Jacke, das Geschäft und reden auf die Frau
gesichert, drei Kontrollen und Dutzende ein. Ich gehe zurück und filme die Szene
Überwachungskameras sind zu passieren, mit dem Handy. Überrascht brechen die
bis man am Bahnsteig steht. Beamten das Gespräch ab, tun unbeteiligt
»Ah«, sagt die Schaffnerin zu ihrer Kol- und verbergen ihre Gesichter.
TCB
legin, als wir nach unseren Plätzen fragen: Eine Stunde später kommt ein Polizist
»Das ist der ausländische Journalist.« Der mit mehreren Beamten auf uns zu, darun- Nachwuchspiloten
Zug ist mit mehreren Hundert Reisenden ter ist wieder die Frau in der roten Jacke.
fast voll besetzt. Und ein paar Abteile wei- Die Dame sei eine Touristin, behauptet Inside the Cockpit –
ter sitzt, was für ein Zufall, die Frau im ein Beamter, und sie habe gerade erfah- Die jungen Wilden am Joystick
kurzen Kleid, die sich auf dem Markt als ren, dass sie ohne ihr Einverständnis ge-
Übersetzerin angeboten hat. filmt worden sei. Gemäß chinesischem Der britische Billigfluganbieter
Gesetz sei dieser Film zu löschen. Der Easyjet startete jüngst die größte Re-
Kashgar: »allergische Bilder« Polizist führt uns auf eine Wache, wo er krutierungsoffensive der Luftfahrt-
Sechs Stunden dauert die Fahrt nach das Handy konfisziert und nicht nur den geschichte. Bis zu 450 neue Piloten
Kashgar, sie führt durch weitere Oasen- besagten Clip löscht, sondern auch wei- sollen in kürzester Zeit für den Flug-
städte, die in China als Chiffren des uigu- tere Aufnahmen, auf denen unsere staat- dienst gewonnen werden. Die drei-
rischen Widerstands bekannt sind: Moyu, lichen Aufpasser zu erkennen sind. Er teilige Reportagereihe begleitet den
Pishan, Shache, Shule. Alle Bahnhöfe sind warne uns davor, »allergische Bilder« zu Fliegernachwuchs von der ersten
von Checkpoints umgeben und mit Sta- machen, sagt ein Beamter. Dann dürfen Flugstunde über unsanfte Landema-
cheldraht umzäunt. Wenn der Zug ein- wir gehen. növer bis hin zum Premierenflug in
fährt, steht nicht nur ein Fahrdienstleiter In Kashgar ist der vorläufige Höhe- der vollbesetzten Passagiermaschine.
auf dem Bahnsteig, sondern auch ein Poli- punkt des chinesischen Überwachungs-
zist mit Schlagstock oder Schusswaffe. staates zu besichtigen. Aber an der nächs-
Kashgar ist über zweitausend Jahre alt, ten Stufe der Kontrolle arbeitet die chi- SPIEGEL TV
es war eine wichtige Station an der alten nesische Regierung bereits: Sie will im MONTAG, 23. 7., 23.25 – 24.00 UHR | RTL
Seidenstraße, einst konnte man hier eine ganzen Land ein »Sozialkredit-System«
der besterhaltenen islamischen Altstädte einführen, in dem die »Vertrauenswürdig- Gefährliche Verschwörungstheorie –
Zentralasiens besichtigen, errichtet aus keit« jedes Bürgers bewertet wird, um Die bizarre Welt der Impfgegner;
Lehmziegeln. Aber der Staat hat die meis- Linientreue zu belohnen und Fehlver- Freiheit nach 38 Jahren – Der Fall des
ten alten Häuser abgerissen und als pitto- halten zu bestrafen. Während die Umset- zum Tode verurteilten und nun be-
reskes Touristenviertel wieder aufgebaut. zung des Programms im dicht besiedelten gnadigten Joe Giarratano.
Anders als in Ürümqi und in Turpan ist Osten des Landes nur schleppend und
der Großteil der Taxis in Kashgar mit zwei punktuell vorankommt, werden viele
Kameras ausgestattet. Eine ist auf den Bei- Uiguren offenbar bereits von einem ähn- SPIEGEL GESCHICHTE
fahrer gerichtet, eine auf die Passagiere lichen Punktesystem erfasst. Es konzen- FREITAG, 27. 7., 0.25 – 1.20 UHR | SKY
auf der Rückbank. »Das wurde vor über triert sich vor allem auf Details, welche
einem Jahr angeordnet«, sagt ein Fahrer. die Polizei interessieren. Wir Geiseln der SS
»Die Kameras sind direkt mit der Öffent- Der Ausgangswert für jede Familie, be- April 1945. Es werden 139 promi-
lichen Sicherheit verbunden, sie gehen aus richtet eine Betroffene, betrage 100 Punk- nente Sonderhäftlinge der SS in die
und an, wenn die es wollen. Wir haben da- te, doch wer Kontakte oder Verwandte im Alpen verschleppt. Die Gefangenen
rauf keinen Einfluss.« Ausland hat, vor allem in islamischen Län- könnten als Faustpfand in Verhand-
An eine normale journalistische Recher- dern wie der Türkei, Ägypten oder Malay- lungen mit den Alliierten dienen.
che ist in Kashgar nicht zu denken. Nie- sia, werde mit hohen Abzügen bestraft. Auf der Fahrt erleben sie sechs Tage
mand will reden. Ein uigurischer Men- Wer weniger als 60 Punkte hat, ist in Ge- zwischen Tod und Freiheit, ihr
schenrechtler, der uns vor vier Jahren noch fahr. Ein falsches Wort, ein Gebet, ein Tele- Schicksal liegt in den Händen zu-
empfing, reagiert auf keine Nachricht, sei- fonat zu viel, und er kann jeden Moment nehmend nervöser Verbrecher. Doch
ne Telefonnummer ist abgemeldet. Wie zum »Studium« geschickt werden. die Geiseln wenden das Blatt mit
wir später erfahren, ist er vor Monaten Twitter: @bzand einer klugen List: Sie rufen die Wehr-
verschwunden, ob er im Umerziehungs- macht zu Hilfe.
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Straße, Hausnr. Geburtsdatum
Schattenkrieg
Nahost Das Assad-Regime erobert den Süden Syriens zurück,
und Israel fürchtet iranische Milizen an seinen
Grenzen. Nahezu unbemerkt bekämpft es daher Teheran.
82
Ausland
Putin verkündete nach dem Treffen mit mee vermutlich umso mehr selbst dafür Viele Israelis bangten wochenlang, dass
Trump lediglich: Man werde nach der sorgen wird. Das ist ein riskantes Unter- die Iraner zurückschlagen würden – etwa
Rückeroberung Südsyriens durch das As- fangen. »Alle Seiten haben ein Interesse mit einem Angriff auf eine Botschaft oder
sad-Regime wieder zum Status des Waf- an einer Deeskalation«, sagt Zisser. »Doch ein jüdisches Ziel im Ausland. Wie 1994,
fenstillstandsabkommens von 1974 zurück- die Gefahr ist groß, dass die Lage außer als 85 Menschen bei einem Bombenan-
kehren. Das ist Netanyahu aber zu wenig – Kontrolle gerät.« schlag auf ein jüdisches Gemeindezentrum
denn das Abkommen sieht nur eine kleine Vor wenigen Monaten wäre es schon in Buenos Aires getötet wurden. Aber die
entmilitarisierte Zone unter Uno-Aufsicht einmal beinahe so weit gekommen. Am Iraner entschieden sich für eine überschau-
auf dem Golan vor, an der schmalsten Stel- 10. Februar flog eine iranische Drohne aus bare Reaktion: Sie feuerten rund 20 Rake-
le nur einen halben Kilometer breit. Direkt Syrien nach Israel, sie soll mit Sprengstoff ten auf israelische Stellungen auf dem Go-
dahinter könnten dann die iranischen Re- beladen gewesen sein. Die Drohne wurde lan. Es war das erste Mal überhaupt, dass
volutionswächter Position beziehen. abgefangen, danach bombardierten israe- Revolutionswächter direkt Raketen auf Is-
Trump stand daneben und nickte, als lische Kampfjets den von Iranern genutz- rael feuerten.
ob er das alles akzeptierte; er fügte hinzu, ten Stützpunkt T-4 bei Homs, von dem Zu Schaden kam niemand, trotzdem fei-
die Israelis würden »gern gewisse Sachen aus die Drohne gesteuert worden sein soll. erten die syrischen und iranischen Staats-
machen mit Blick auf Syrien, die mit Isra- Der syrischen Luftabwehr gelang es, einen medien den vermeintlich großen Gegen-
els Sicherheit zu tun haben«. Die USA und der Kampfjets abzuschießen; erstmals seit schlag. Israel antwortete mit einer Angriffs-
Russland würden ihnen dabei helfen. welle auf iranische Ziele in ganz Syrien, es
Gemeint hatte der US-Präsident wohl war der größte Angriff auf das Nachbar-
Israels Luftangriffe auf iranische Ziele in »Die Gefahr ist land seit dem Sechstagekrieg 1967.
Syrien, die vor acht Monaten begonnen groß, dass die Israel fürchtet, dass sich in Syrien
haben. Zwar hatten die Israelis schon vor- wiederholen könnte, was den Revolutions-
her hin und wieder im Nachbarland bom- Lage außer Kontrolle wächtern im benachbarten Libanon ge-
bardiert – allerdings nicht gezielt iranische gerät.« lang. In den Wirren des damaligen Bürger-
Stellungen, sondern vor allem Waffenlie- kriegs hat Teheran vor 30 Jahren die
ferungen an die von Teheran unterstützte Iran-treue Hisbollah aufgebaut. Sie ist
libanesische Hisbollah. Jahrzehnten verlor Israel ein Flugzeug. inzwischen nicht nur die kampferprobteste
Doch die Hisbollah ist längst nicht mehr Wahrscheinlich war es ein Zufallstreffer Truppe der Region, sondern beherrscht
Israels einziges Problem an seiner Nord- der veralteten syrischen Luftabwehr; es den Libanon auch politisch.
grenze. Iran befehligt Tausende Milizio- soll erst das zweite Mal gewesen sein, dass Im Jahr 2006 führten Israel und die His-
näre in Syrien – überwiegend schiitische die Syrer ihre Flugabwehr während eines bollah zum letzten Mal Krieg gegeneinan-
Afghanen, Pakistaner und Iraker. Sie israelischen Angriffs überhaupt aktiviert der – damals war keine Seite klarer Sieger.
kämpfen aufseiten des Assad-Regimes und hatten. Zuvor hatten sie dies aus Furcht Inzwischen ist die Hisbollah deutlich stär-
sind maßgeblich an dessen Rückeroberung vor Vergeltung lieber unterlassen. ker geworden, sie soll laut israelischen
des Landes beteiligt. Revolutionswächter Am 9. April bombardierte Israel erneut Schätzungen mehr als 120 000 Raketen
sind zudem als Berater in die syrische Ar- T-4, sieben Revolutionswächter kamen besitzen, manche ihrer Raketenwerfer kön-
mee integriert und untrennbar mit dem ums Leben. Während sich Teheran sonst nen rund 200 Geschosse pro Stunde ab-
Regime verwoben. Sie sollen große Rake- über die Angriffe ausschweigt, berichteten feuern. Ein neuer Krieg würde zu vielen
ten in Syrien deponiert haben, mit denen die iranischen Staatsmedien dieses Mal aus- Toten auf beiden Seiten führen. Er wäre
sie Israel angreifen könnten. führlich. Am Tag darauf kündigte einer der für Israel aber noch viel gefährlicher, wenn
Für die Islamische Republik sind ihre wichtigsten Berater von Irans Staatsober- er nicht nur aus dem Libanon, sondern
Militäreinsätze in der Region eine Lebens- haupt Ali Khamenei bei einem Besuch in auch aus Syrien geführt würde.
versicherung: Sie sorgen dafür, dass an Damaskus an, dass »Israels Verbrechen Der Preis eines offenen Krieges zwi-
Iran im Nahen Osten kein Weg vorbeiführt nicht ohne Antwort bleiben« werde. schen Iran und Israel wäre für alle Betei-
und dass kaum einer es wagen würde, das ligten extrem hoch. Daher halten viele
Land direkt anzugreifen. Experten ihn für eher unwahrscheinlich.
50 km
Was kann Netanyahu nun tun? »Israels Iran unterstützt Stattdessen dürfte der Schattenkrieg zwi-
Optionen sind klar begrenzt«, sagt Eyal Beirut die libanesische schen den beiden Erzfeinden weitergehen,
Zisser, Syrienexperte an der Universität Hisbollah. ausgetragen auf syrischem Boden.
Tel Aviv. »Entweder es akzeptiert die Rea- Mittelmeer »Wir sind dabei, in eine neue Phase ein-
lität vor Ort – Assads Sieg über die Re- zutreten«, sagt Ofer Zalzberg, Israelexper-
bellen auf den Golanhöhen –, oder es in- LIBANON Damaskus te der »International Crisis Group«. »Süd-
terveniert direkt militärisch, und das syrien wird wieder unter der Kontrolle As-
kommt nicht infrage.« Wenn man keine Entmilitarisierte sads stehen, und Iran wird versuchen, sich
Golanhöhen Zone
anderen Optionen habe, müsse man seit 1967 von Israel dort einzunisten.« Dann könnte Teheran
schauen, dass man wenigstens kleine Zu- besetzt. stetig für »Reibung« sorgen, etwa indem
geständnisse erreiche. Dazu gehört etwa, SYRIEN seine Milizen Mörsergeschosse auf den is-
dass Moskau derzeit Israels Luftangriffe raelisch besetzten Golan abfeuern – wo
auf syrischem Gebiet akzeptiert. Es könn- In Syrien baut bis zu Beginn des syrischen Bürgerkriegs
te sie einschränken – Russland und die Teheran schiitische jahrzehntelang Ruhe geherrscht hatte.
Milizen auf.
USA kontrollieren seit Herbst 2015 den Israel könnte gegen diese Provokatio-
ISRAEL
syrischen Luftraum. Daraa nen wenig ausrichten. Denn selbst wenn
Weder Putin noch Trump werden Israel es die Kämpfer angreifen würde, es kämen
allerdings dabei helfen, Irans Revolutions- wohl sofort wieder neue nach.
Westjordanland
wächter, ihre Waffen und die von ihnen seit 1967 von Israel Raniah Salloum
JORDANIEN
aufgebauten Milizen aus Syrien zu vertrei- besetzt. Mail: raniah.salloum@spiegel.de
ben. Das bedeutet, dass die israelische Ar-
D
er kleine Joniel Briceño ist viel Die Regierung überweist kaum Geld an produkte empfohlen, aber wer kann sich
zu klein und zu leicht für das Le- die Krankenhäuser, sie lässt aber auch kei- das leisten?
ben. Er ist acht Monate alt, wiegt ne Hilfe ins Land. Denn damit würde Ma- Pérez hat nur eine Million Bolívar im
fünf Kilo, wenig mehr als man- duro, der autokratisch regierende Präsi- Monat, das entspricht etwa einem Euro.
ches Neugeborene. Seine Mutter hat ihn dent, eingestehen, dass seine Regierung Sie hat keine Arbeit, kein Geld, für nichts,
aus ihrem kleinen Dorf hierhergetragen, gescheitert ist. Lieber lässt er offenbar das erst recht nicht für Babynahrung. Eine
zwei Stunden Fußmarsch bis zur Bushalte- kaum fassbare Elend zu, das in seinen Kli- Dose davon kostet zwei Millionen Bolívar,
stelle, den Sohn immer auf dem Arm, zwei niken zu besichtigen ist. Nach Angaben wenn im Supermarkt überhaupt eine zu
Stunden Fahrt mit dem Bus. Nun liegt Jo- von Unicef sind 15 Prozent aller Kinder finden ist.
niel hier, in Bett Nummer zwei, unter einer in Venezuela unterernährt. Im »Razetti«, der einstigen Vorzeigekli-
Donald-Duck-Figur, die jemand an die Einige der schlimmsten Fälle kommen nik, haben sie keine Säuglingsmilch mehr,
Wand geklebt hat. hierher, ins Razetti in Barcelona, zehn seit Januar schon nicht. Manchmal kauften
Joniel ist nicht das einzige Kind mit aus- Betten in der Kindernotaufnahme, in man- die Ärzte sogar Essen für die Patienten, er-
gezehrtem Gesicht, mit geschwollenen Bei- chen liegen drei kleine Patienten nebenei- zählt eine Krankenschwester. »Aber sie
nen und aufgeblähtem Bauch in der Not- nander. Auf dem Boden tote Kakerlaken, verdienen ja selbst kaum etwas.« Und so
aufnahme der Kinderabteilung der Uni- nachts streift eine Katze durch die herun- gibt es nichts, was sie für Joniel tun kön-
versitätsklinik Luis Razetti in Barcelona, tergekommenen Räume, in denen es an nen, außer zu hoffen. Und mit einem Stück
einer Großstadt gut 300 Kilometer östlich allem fehlt, an Blutzuckerteststreifen und Pappe die Fliegen fortzuwedeln, die über
der Hauptstadt Caracas. Die Ärzte und Nährlösung, an Antibiotika und Narkose- dem Kleinen kreisen.
Pfleger nennen die Abteilung »Afrika«. mitteln. Es gibt nichts mehr im Razetti, keine
Nirgends ist die verzweifelte Lage dieses Medikamente, kein Klopapier, keine Win-
Landes deutlicher sichtbar als in den Kran- deln, keine Reinigungs- und Desinfektions-
kenhäusern. In der Klinik gibt es keine mittel, kein Bettzeug, nicht einmal Kugel-
Venezuela, das Land mit den größten Antibiotika, kein Bett- schreiber und Papier für die Ärzte. Im
bekannten Ölreserven der Welt, ist pleite. Badezimmer hängen lose Kabel von der
Einst gehörte es zu den reichsten des Kon- zeug, keine Windeln. Das Decke, die Farbe bröckelt von der Wand,
tinents, nun leiden die Menschen Hunger, Röntgengerät ist kaputt. seit Wochen gibt es kein Wasser zum Hän-
vor allem im Landesinneren. Die Wirt- dewaschen. Das Röntgengerät ist kaputt,
schaft ist seit 2014 zusammengebrochen, der Sauerstoff für die Beatmungsgeräte
immer wieder gibt es Proteste und Unru- Früher war das Haus eine Vorzeige- fehlt, die Klimaanlage steht still. Die In-
hen, weil in den Geschäften Nahrungsmit- klinik, es ist zuständig für den gesamten tensivstation ist außer Betrieb, genauso
tel fehlen, aber auch Alltagswaren wie Klo- Osten des Landes. Selbst aus dem Ama- der Operationssaal, weil Instrumente und
papier oder Waschmittel. An den Eingän- zonasgebiet und der Hauptstadt kommen Geräte fehlen. Nur ein Monitor, der die
gen von Supermärkten sind Bewaffnete Patienten hierher. Das Hauptgebäude ist wichtigsten Lebenssignale überträgt, funk-
postiert, die Hyperinflation von 42 000 neun Stockwerke hoch, ein imposanter ro- tioniert, er piepst leise. Ein letztes Signal
Prozent im Jahr frisst die Einkommen auf. ter Ziegelbau. Nebenan, im Kinderkran- aus der Zivilisation.
Die Armen hungern, die Schwachen und kenhaus, liegt »Afrika«. Jeden Tag werden Im Bett neben Joniel strampeln Zwillin-
Kranken sterben, Jugendliche schließen ein Dutzend Kinder eingeliefert, fast jeden ge, einen Monat alt, seit zwei Wochen hier,
sich kriminellen Banden an. Wer es sich Tag stirbt eines. Hier ringt nun der kleine Brechdurchfall, sie brauchten eine Blut-
leisten kann, verlässt das Land. Joniel um sein Leben. transfusion. Aber das Labor ist seit Mona-
Der 2013 verstorbene Präsident Hugo Neben dem Bett steht seine Mutter ten geschlossen, es gibt keine Blutkonser-
Chávez machte sich einst bei den Armen Yeriyoli Pérez, 25, eine junge Frau mit ven. Die Mutter könnte Blut in einer Pri-
beliebt, weil er die Öleinnahmen verwen- alten Augen, 39 Kilogramm leicht, 16 Kilo vatklinik kaufen, aber woher soll sie das
dete, um Sozialprogramme zu finanzieren. hat sie in den vergangenen sechs Monaten Geld nehmen?
Doch gleichzeitig fehlte es dem staatlichen verloren. Ihr T-Shirt schlackert um den Die Kindersterblichkeit im Land ist in
Ölkonzern an Geld für Investitionen. Kor- ausgemergelten Körper. Sie ernährt sich den vergangenen Jahren dramatisch ange-
ruption und Misswirtschaft blühten auf. und ihren Sohn hauptsächlich von Mais, stiegen. Die Regierung versucht, die Krise
Unter Chávez’ Nachfolger Nicolás Maduro ihre Muttermilch ist versiegt. »Wir essen, zu leugnen. Sie hält seit Jahren die meisten
fiel das Land schließlich in eine existen- was wir kriegen können«, sagt sie leise. Gesundheitsstatistiken unter Verschluss.
zielle Krise. Die Ärzte haben Fleisch oder Milch- Der letzte veröffentlichte Jahresbericht
85
Ausland
des Gesundheitsministeriums von 2015 zwei Euro im Monat, mit Nachtdiensten »sonst stirbt sie«, sagt eine Krankenschwes-
zeigte, dass sich die Sterblichkeitsrate bei bringt er es auf das Doppelte. Allein die ter, die die Neugeborenen betreut.
Kindern unter vier Wochen binnen drei Busfahrten ins Krankenhaus fressen sein Navas erklärt am nächsten Morgen, sei-
Jahren verhundertfacht hatte – von 0,02 Gehalt schon auf. ne Nachtschicht sei ganz normal verlaufen.
Prozent im Jahr 2012 auf mehr als 2 Pro- Die Freundin von Oscar Navas ist Ar- Es gab zwei Neuzugänge. Ein stark unter-
zent. Anfang Mai vergangenen Jahres ver- chitektin, ihre Eltern leben in den USA, ernährtes Kind, das eingeliefert wurde, war
öffentlichte das Gesundheitsministerium sie helfen dem Paar, anders ginge es nicht. bei seiner Ankunft bereits tot. »Ansonsten
plötzlich Berichte, die zeigten, dass die To- »Jeder Arzt braucht einen Sponsor, von war es ruhig«, sagt er und bricht zu seiner
desfälle bei Kindern unter zwölf Monaten seiner Arbeit kann er nicht leben«, sagt er. morgendlichen Visite auf der Unfallstation
binnen eines Jahres um fast ein Drittel zu- Er stochert in einer Plastikdose mit Reis auf. Ein Arzt muss erfindungsreich sein in
genommen hatten – auf 11 446. Seither hat und Bohnen, seinem Mittagessen. Ein Venezuela. Navas zeigt, wie er Bein und
sich die Wirtschaftskrise noch deutlich ver- Sandwich im Imbiss vor dem Krankenhaus Becken eines Verletzten mit einer Kon-
schlimmert. würde etwa ein Drittel seines Monats- struktion aus Metallrohren und Bindfaden
»Die Kinder sterben, weil korrupte Regie- gehalts kosten. Meistens isst Navas erst, ruhiggestellt hat, wie er ein Schienbein mit
rungsfunktionäre das Geld für die Kranken- wenn er zu Hause ist. »Im Krankenhaus einer ausgeliehenen Bohrmaschine aus
häuser stehlen oder zweckentfremden«, sagt vergeht mir der Appetit, weil ich Patienten dem Heimwerkerladen perforiert hat.
der Arzt Oscar Navas. Er ist 28 Jahre alt, vor Hunger sterben sehe.« Manche Ärzte, »Seit einem Jahr bekommen wir viele
trägt Stoppelbart und einen blauen Kittel. sagt er, arbeiteten 48 Stunden durch, ohne Patienten, die vom Baum gestürzt sind,
Er steckt eigentlich mitten in der Ausbildung etwas zu essen. weil sie Mangos oder Kokosnüsse pflü-
zum Orthopäden, aber weil es zu wenig Ärz- Navas will die ganze Klinik zeigen, aber cken, um ihren Hunger zu stillen«, sagt
te gibt, arbeitet er die gleichen Schichten am Eingang sind Milizionäre in olivgrünen Navas. Er schiebt einem Jungen ein Stück
wie alle anderen. Seit dem Morgen ist er im Uniformen postiert, sie wurden von der Pappe zwischen die Zähne. Er muss des-
Einsatz, in der Nacht wird er allein für das Regierung abgestellt, um unerwünschten sen gebrochenes Bein richten, und es gibt
gesamte Krankenhaus zuständig sein. Das Besuchern den Zutritt zu verwehren, Jour- keine Betäubungsmittel. Er setzt an, der
heißt in diesen Tagen, Wochen, Monaten ei- nalisten zum Beispiel. »Es gibt hier mehr Junge beißt in die Pappe, stößt vor lauter
gentlich nur: den Mangel verwalten. Milizionäre als Ärzte«, flüstert Navas hin- Schmerz gepresste Schreie aus.
»Wir müssen zusehen, wie Patienten ter vorgehaltener Hand. Als Letztes verarztet Navas den jungen
sterben, weil wir sie nicht versorgen kön- Einer der Männer stellt sich Navas und Erick Guevara, 24, er liegt neben der Tür.
nen«, sagt Navas, Sohn einer Gynäkologin, dem SPIEGEL-Journalisten in den Weg, er »Wie geht’s, Champion?«, fragt der Arzt.
Enkel eines Internisten, die ihm beide vom hat eine Schnapsfahne. Navas redet auf Kein Patient, sagt er, lasse alles so klaglos
Medizinstudium abrieten. Er solle besser ihn ein: »Ihr habt doch auch Familienan- über sich ergehen wie Guevara. Als Navas
ins Ausland gehen. Aber er blieb. gehörige, die mal ins Krankenhaus müssen, sein gebrochenes Bein richtet, verzichtet
Über 60 Patienten liegen oder sitzen oder? Ich will der Welt zeigen, wie es hier Guevara auf ein Beißholz, obwohl ihm vor
auf dem Korridor der Notaufnahme im Schmerz die Schweißperlen auf der Stirn
Hauptgebäude, jeden Tag werden es mehr. stehen.
Früher kamen nur die Armen in die staat- »Zuneigung ist das Eigentlich wollte der Patient sich wegen
lichen Krankenhäuser, heute stammen die Einzige, was wir der Krise ins Ausland absetzen, er hatte
Patienten aus allen sozialen Schichten. die Busfahrkarte nach Chile schon in der
Eine einzige Krankenschwester leistet unseren Patienten Tasche. Drei Tage vor der Abreise wurde
Dienst, es stinkt nach Urin und Erbroche- geben können.« er bei einem Autounfall schwer verletzt:
nem. Weil die Aufzüge kaputt sind, warten Dreifacher Beckenbruch, der linke Fuß
viele Kranke seit Stunden darauf, dass je- wurde abgetrennt. Weil sie ihn im örtli-
mand sie die Treppe zu den Stationen zugeht, damit endlich etwas geschieht.« chen Krankenhaus nicht versorgen konn-
hochträgt, aber dort fehlen die Pritschen. Die Milizionäre rufen ihre Kommandeu- ten, schickten sie ihn ins drei Stunden ent-
An den Wänden handgeschriebene Zettel: rin, sie berät sich mit dem Arzt, dann ge- fernte Barcelona. Als der Krankenwagen
»Es gibt kein Material.« ben die Bewaffneten den Weg frei. eintraf, stellte der Arzt fest, dass etwas
»Es gibt keine Medikamente.« Durch ein dunkles, halb verfallenes fehlte: der abgetrennte Fuß.
»Es gibt kein Blut.« Treppenhaus steigt Navas in den neunten Navas rief im Krankenhaus in El Tigre
Es gibt auch nicht genügend Ärzte und Stock, zur Neugeborenenstation. Unter- an und fragte, wo der Fuß des Patienten
Krankenschwestern, Hunderte Angestellte wegs deutet er auf einen verlassenen Flur: sei. Sie hätten ihn verbrannt, antwortete
des Krankenhauses haben sich ins Ausland »Hier war die Herzstation, wir mussten sie ein Angestellter, die Kühlung sei leider aus-
abgesetzt. »Wer geht, der unterstützt die stilllegen. Die Kardiologen haben sich ins gefallen. »Wenn sie den Fuß gekühlt und
Diktatur«, sagt Oscar Navas. »Die Men- Ausland abgesetzt.« hergebracht hätten, hätten wir ihn viel-
schen brauchen uns hier.« Unermüdlich In den drei funktionierenden Brutkäs- leicht wieder ansetzen können«, sagt Na-
läuft er zwischen den Patienten herum, sie ten der Babystation dämmern Frühchen vas. So konnten sie nur den Stumpf ver-
belagern ihn mit Fragen: Wann werde ich vor sich hin, die Schläuche, die in die Ge- sorgen. Das Becken operierte er unter lo-
endlich operiert? Werde ich wieder gehen räte führen, sind mit Klebestreifen befes- kaler Betäubung mithilfe eines Hammers
können? Geduldig antwortet er, manchen tigt. An einem der Kästen hängt ein Zettel: und etwas Draht. Jetzt hofft er, dass es wie-
streicht er über den Kopf. »Zuneigung ist »Dayana, geb. 29. 3., 30. Schwangerschafts- der zusammenwächst. »Wir würden den
das Einzige, was wir unseren Patienten ge- woche, 45 cm, 1700 Gramm. Von der Mut- Bruch gern operieren, aber wir haben kein
ben können«, sagt er. ter verlassen«. Das Kind kam per Kaiser- Material.« Sollte Guevara eines Tages
Navas trägt Turnschuhe, Jeans und ein schnitt auf die Welt, danach ging die Mut- doch operiert werden können, würde er
T-Shirt, sein Kittel ist blutverschmiert. Frü- ter aus dem Krankenhaus und verschwand. zunächst im Rollstuhl sitzen. Später könne
her trugen die Ärzte weiße Hemden und Nun bekommt die Kleine einmal die Wo- er auf Krücken gehen, mit Glück bekommt
Krawatten, aber dafür haben sie kein Geld che, immer am Freitag, Milch von einer er eines Tages eine Prothese.
mehr. Auch die Ärzte leiden unter der Hy- anderen stillenden Mutter. Aber das reicht Navas ist fertig mit der Visite, 48 Patien-
perinflation, Navas verdient umgerechnet nicht. Dayana brauche Säuglingsnahrung, ten hat er heute besucht. Es ist zwölf Uhr,
87
Ausland
eigentlich ist seine Schicht seit einer Stun- len. Vor Kurzem ging eine Mutter auf die Wenn das Krankenhauspersonal öffent-
de zu Ende. Er muss noch Protokoll füh- behandelnde Ärztin los, weil sie ihr Kind lich auf die Misere aufmerksam macht, ant-
ren, für jeden Kranken hat er eine Akte verlor, die Ärzte mussten eine Abtreibung wortet die Regierung mit Repression. In
angelegt. Er setzt sich ins Ärztezimmer, einleiten. Caracas stürmte jüngst ein »Colectivo«,
auf der Rückseite von gebrauchten Zetteln Dabei leiden die Ärzte ebenso unter wie die Maduro-treuen Schlägertrupps ge-
notiert er mit einem Bleistift den Zustand dem Notstand wie die Patienten. Jüngst nannt werden, ein Hospital, weil Ärzte
der Patienten. Der einzige Computer ist wurde eine Ärztin auf dem Krankenhaus- und Krankenschwestern zum Protest auf-
defekt, der Drucker hat keine Tinte. Die gelände überfallen, der Gangster attackier- gerufen hatten. »Maduro könnte wenigs-
beschriebenen Blätter verwahrt er in ei- te sein Opfer mit einem Messer. Navas tens Russland oder China um Medikamen-
nem altmodischen Hängeregister. sagt: »Wir konnten unsere verletzte Kol- te und medizinisches Equipment bitten,
Immer öfter kommt es zu Übergriffen, legin nicht einmal röntgen, weil nicht ein wenn er schon keine Hilfe vom Westen
weil Patienten sich schlecht behandelt füh- einziger Apparat funktionierte.« will«, sagt Navas. »Aber er leugnet das
Elend einfach.«
Navas ist Präsident des Verbands der
Assistenzärzte, er beschäftigt sich mit
Gesundheitspolitik, und er verbirgt nicht,
dass er ein politischer Gegner des Präsi-
denten ist. Mehrere seiner Freunde sitzen
im Gefängnis, weil sie der Opposition an-
gehören.
Navas hat die Präsidentschaftswahl im
Mai boykottiert wie fast alle Anhänger
der Opposition. »Jede Stimme stärkt den
Diktator«, sagt er. Fast zwei Drittel der
Wahlberechtigten sind den Urnen an je-
nem Tag ferngeblieben, schätzen unabhän-
gige Beobachter. Die Legitimität der Wahl
wird international nur von Staaten wie
China, Kuba, Nordkorea und Russland an-
erkannt.
Maduro ist nicht populär, anders als
sein Vorgänger. Den mangelnden Rückhalt
in der Bevölkerung gleicht er mit einem
zunehmend autoritären Herrschaftsstil
aus. Die meisten wichtigen Oppositions-
politiker befinden sich im Exil oder im
Gefängnis.
Und so hat das Land mit der umstrit-
Flur im Krankenhaus »Luis Razetti«: Es stinkt nach Urin und Erbrochenem tenen Wahl im Mai vermutlich die letzte
Chance auf einen demokratischen Macht-
wechsel verpasst. Doch solange die Armee
zu ihm hält, hat Maduro trotz seiner
hungernden Bevölkerung wenig zu be-
fürchten. Er ist nun offiziell bis 2024
wiedergewählt und versucht, die katastro-
phale Lage der Bevölkerung einfach zu
ignorieren.
Es gebe genügend Medikamente für die
Krankenhäuser, ließ die stellvertretende
Gesundheitsministerin wenige Tage nach
der Wahl verlauten.
In Barcelona ist davon nichts angekom-
men. Dayana, dem kleinen Mädchen im
Brutkasten, geht es inzwischen besser, weil
eine Tante ein Kind gebar, sie stillt nun
beide Babys.
Erick Guevara, der junge Mann, der sei-
nen Fuß verlor, wartet immer noch auf sei-
ne Operation. Er wolle jetzt nicht mehr
Ingenieur werden, sondern Arzt, sagt er:
»Das schulde ich Dr. Navas und seinen
Kollegen. Was sie hier machen, grenzt an
Zauberei.«
Joniel, das Baby in der Notaufnahme,
ist am Tag der Präsidentschaftswahl an
den Folgen der Unterernährung gestorben.
Patient, Arzt Navas: »Ich will der Welt zeigen, wie es hier zugeht«
Beste Nachwuchsspieler bei Fußballweltmeisterschaften* * vor 2006 nachträglich von der Fifa ermittelt
WM: 1958 Schweden 1962 Chile 1966 England 1970 Mexiko 1974 Deutschland 1978 Argentinien 1982 Spanien 1986 Mexiko
Pelé Flórián Albert Franz Beckenbauer Teófilo Cubillas Wladislaw Żmuda Antonio Cabrini Manuel Amoros Enzo Scifo
Brasilien Ungarn Deutschland Peru Polen Italien Frankreich Belgien
1990 Italien 1994 USA 1998 Frankreich 2002 Japan/Südkorea 2006 Deutschland 2010 Südafrika 2014 Brasilien 2018 Russland
Robert Prosinečki Marc Overmars Michael Owen Landon Donovan Lukas Podolski Thomas Müller Paul Pogba Kylian Mbappé
Jugoslawien Niederlande England USA Deutschland Deutschland Frankreich Frankreich
11 X IMAGO SPORT; 2 X PICTURE-ALLIANCE / DPA; GLADYS CHAI VON DER LAAGE, ROBERT GHEMENT, MICHAEL KIENZLER / PICTURE-ALLIANCE / DPAFOTOCREDIT
Den Titel des besten Nachwuchsspielers einer WM hat die aber für alle Weltmeisterschaften seit 1958 den besten Jung-
Fifa offiziell bisher viermal vergeben: Zuletzt an die Franzosen spieler gekürt. Nicht alle hatten später glänzende Fußballer-
Kylian Mbappé und Paul Pogba, zuvor an die Deutschen Lukas karrieren. Der dritte Deutsche in dieser Liste startete indes
Podolski und Thomas Müller. Nachträglich hat der Weltverband durch: Franz Beckenbauer, bester Jungspund bei der WM 1966.
mit meinem Onkel dort den besten Spie- len Auftritt nie geschämt, aber ich muss Stich: Diesem elitären Kreis anzu-
lern der Welt zuschauen konnte. Jimmy zugeben, dass ich mir meine Dankesrede gehören, empfinde ich als große Ehre.
Connors, Peter McNamara, Guillermo nicht gerne angucke. Die Ich freue mich sehr da-
Vilas – ich träumte davon, eines Tages so Gefühle brachen einfach aus rüber.
gut zu sein wie sie. Wenn ich keine Karte mir heraus. SPIEGEL: Sie werden bald
für den Center Court hatte, kletterte ich SPIEGEL: Wenige Tage nicht mehr für die Organi-
mit Freunden durch die Löcher im Draht- zuvor wurde Monica Seles sation der German Open
zaun, um meine Stars zu sehen. in Hamburg mit einem verantwortlich sein. Hält
GUNNAR BRUMSHAGEN / ULLSTEIN BILD
SPIEGEL: 1992 erreichten Sie das Endspiel, Messer attackiert. Wie gingen Ihre Verärgerung über den
Sie verloren gegen Stefan Edberg. Sie damit um? Verlust der Lizenz noch an?
Stich: Das war extrem bitter, schließlich Stich: Natürlich war ich, wie Stich: Wenn eine große Ge-
erhält man nicht oft die Gelegenheit, zu die ganze Tenniswelt, von schichte zu Ende geht, stel-
Hause einen großen Titel zu gewinnen. der Attacke geschockt. Aber len sich Traurigkeit, Wehmut
SPIEGEL: Im Jahr darauf siegten Sie im Fina- diese unfassbare Tat hatte und sicher auch Enttäuschung
le gegen den Russen Andrej Tschesnokow. nichts mit mir zu tun, und ein. Aber die Entscheidung
Stich: Ich war gut in Form und schlug deshalb verspürte ich auch ist gefallen, und auf mich war-
zuvor Sandplatzspezialisten wie Thomas keine Angst. Stich 1993 ten neue Aufgaben. PK
89
Sport
SAMMY HART / DER SPIEGEL
90
SPIEGEL: Frau Kerber, 6:3, 6:3 gegen Kerber: Wir waren die Einzigen in der Um-
Serena Williams, die dominierende Spie- kleidekabine, drei Stunden vor dem Spiel
lerin der vergangenen Jahre – ein deut- haben wir uns da begrüßt. Ein kurzes Hal-
liches Ergebnis im Endspiel von Wimble- lo, kein großes Gespräch. Wir respektieren
don. Als Zuschauer hatte man keine Zwei- uns sehr.
fel, dass Sie gewinnen würden. Wie sah es SPIEGEL: Dann ging es raus auf den Center
in Ihnen aus? Court, in der Royal Box saßen die Herzo-
Kerber: Ich war davon überzeugt, dass ich ginnen Meghan und Kate. Wie konnten
sie schlage. Einen Tag vor dem Finale habe Sie ruhig bleiben?
ich mich hingesetzt und überlegt, wie es Kerber: Einen Tag vorher hatte ich erfah-
2016 war … ren, dass die beiden kommen würden. Ich
SPIEGEL: … damals verloren Sie im End- meine, vor ein paar Wochen habe ich noch
spiel gegen Williams mit 5:7 und 3:6. Meghans Hochzeit im Fernsehen verfolgt.
Kerber: Alles war damals neu für mich: der Wow. Es ist ein besonderes Gefühl zu wis-
Gang zum Center Court, die Blumen, die sen, dass solche Leute einem zuschauen.
einem vor dem Finale überreicht werden. Aber ich habe das gesamte Spiel über nicht
Diese Atmosphäre hat mich erschlagen. zu denen hochgeschaut, auch nicht in die
Dennoch habe ich gut gespielt, Serena hat Box von Serena.
dank ihres Aufschlags gewonnen, am Ende SPIEGEL: Dort saßen unter anderem der
haben zwei Breaks die Partie entschieden. Golfer Tiger Woods und Formel-1-Welt-
Ich habe viel aus dieser Erfahrung gelernt, meister Lewis Hamilton.
wusste, dass ich dieses Mal auf den Platz Kerber: Ich schaue prinzipiell nicht in die
gehen muss mit der Einstellung: Du siegst. Box der Gegnerin, sondern fokussiere
SPIEGEL: Sie wirkten völlig bei sich. mich auf mich. Wenn Serena gemerkt hät-
Kerber: Ich hatte mich im Turnier von te, dass ich von meinem Plan abweiche,
Match zu Match gesteigert, glaubte an hätte sie das bestraft, dafür ist sie zu er-
mich, ließ mich von nichts irritieren. Sere- fahren.
na hat im zweiten Satz alles probiert, sich SPIEGEL: Nach dem Spiel gratulierten Ih-
angefeuert, krasse Schläge ausgepackt. Im nen Meghan und Kate.
vorletzten Aufschlagspiel servierte sie drei Kerber: Als sie mir die Hand gaben, dachte
Asse, da dachte ich schon: Puh. Aber ich ich: Die haben dir wirklich gerade zugese-
sagte mir: Bleib bei dir. Keine Zweifel. hen, wie du Wimbledon gewinnst.
SPIEGEL: Was war anders als 2016? SPIEGEL: Viele waren gekommen, um das
Kerber: Ich war entspannter, schon in der »Mum-back« zu sehen, einen Sieg von Wil-
Vorbereitung. Damals habe ich direkt nach liams nach der Geburt ihrer Tochter. Füh-
dem Halbfinale an das Finale gedacht, die- len Sie sich als Spielverderberin?
ses Mal habe ich nach dem Halbfinale den Kerber: Ich wusste, dass das die Geschich-
Rest des Tages genossen, mir gesagt: Okay, te war, auf die alle gewartet haben: Serena,
in zwei Tagen kommt das nächste Spiel. die Mama, kommt zurück und gewinnt
SPIEGEL: Wie haben Sie sich vorbereitet? Wimbledon. Aber auch ich habe eine Ge-
Kerber: Ich habe am Vortag nur 40 Minu- schichte: noch mal gegen sie zu spielen
ten trainiert, das Tennis ist ja da, vor einem nach der Niederlage 2016, meine zweite
solchen Finale geht es nur noch um das Chance. Jetzt habe ich auch für mich Ge-
Mentale, darum, nicht nervös zu sein, schichte geschrieben.
schnell den Weg zu finden. Während des SPIEGEL: Sie sind die erste deutsche Sie-
Matches darf man nicht lange brauchen, gerin in Wimbledon seit Stefanie Graf
um reinzukommen – wenn du ein, zwei 1996.
Aufschlagspiele zu spät auf dem Platz bist, Kerber: Diese Geschichte wird ja nach je-
hast du keine Chance mehr gegen Serena. dem Grand-Slam-Sieg von mir erzählt. Ich
SPIEGEL: Haben Sie auch mal nicht an bin immer: die nächste nach Steffi.
Tennis gedacht vor dem Finale? SPIEGEL: Wie ist Ihre Verbindung?
Kerber: Wir haben am Abend vor dem Fi- Kerber: 2015 war ich zweimal bei ihr in
nale Karten gespielt, ich habe mit meiner Las Vegas, wir haben miteinander gespielt,
Schwester telefoniert und über den Urlaub sie hat mir gezeigt, wie fit sie noch ist. Sie
nachgedacht, den ich für die Zeit nach hat mir nichts Neues gesagt, aber wenn
Wimbledon geplant habe, eine Auszeit für man von einer wie Steffi gesagt bekommt:
mich. »Du bist auf dem richtigen Weg, gib dir
SPIEGEL: Wie war es unmittelbar vor dem mehr Zeit«, ist das was anderes, als wenn
Spiel? dir das eine Freundin sagt, die mit Tennis
Kerber: Wir mussten warten, hatten keine nichts am Hut hat. Da habe ich mir ge-
feste Startzeit, da vor uns noch das Halb- dacht: Vertrau dir, bleib ruhig.
finale der Männer lief. Irgendwie war ich SPIEGEL: Wie ist heute Ihr Verhältnis?
locker drauf, schon morgens beim Aufste- Kerber: Sie hat mir nach dem Finale eine
hen, ich wollte es genießen. Es sollte ein SMS geschrieben. Wir tauschen uns nicht
ganz normaler Tag sein. jede Woche aus.
SPIEGEL: Haben Sie mit Williams vor dem SPIEGEL: Jetzt sind Sie Wimbledon-Sie-
Match gesprochen? gerin wie Ihr Idol. Ihr Kindheitstraum ist
von dir als Tennisspielerin trennen. Ich SPIEGEL: Das heißt, Sie werden in Zukunft
musste lernen, stolz auf mich zu sein. Ich weniger spielen?
sagte mir: Du hast doch alles schon Kerber: Ich denke schon, dass ich den
geschafft, kannst in 20 Jahren deinen Spielkalender umstrukturieren werde, mit
eine emotionale Entscheidung. Ich kenne 26,5 Mio. Dollar komplett zurück, sondern suche mir meine
Torben Beltz seit über zehn Jahren, war Sachen bewusst aus, mache nur, was mir
Grand-Slam-Turnier-Siege
16, als wir zum ersten Mal zusammen auf auch Spaß macht. Es geht für mich um
dem Platz standen. 3 Qualität, nicht Quantität.
SPIEGEL: Mit dem neuen Trainer Wim Fis- Wochen als Nr. 1
STEFAN SPIEGEL: 2016 nach dem Sieg bei den
sette scheinen Sie Ihr Spiel verändert zu 34 IE Australian Open haben Sie noch ausgelas-
haben. G sen getrunken, wirkten am folgenden Tag
RA
Kerber: Das geht nicht von heute auf mor- Preisgelder angeschlagen. Haben Sie etwa auch beim
F
gen, ich habe schon mit Torben über Jahre 21,9 Mio. Dollar Feiern dazugelernt?
daran gearbeitet. Alle meine bisherigen Kerber: Ich wusste nach Australien ja, dass
Grand-Slam-Turnier-Siege
Trainer haben einen Anteil an der Spiele- ich noch einen 24-Stunden-Flug vor mir
rin, die ich heute bin. Mit Wim habe ich 22 habe und schlafen kann. Diesmal dauerte
mich in mein Spiel reingearbeitet, es wei- Wochen als Nr. 1 der Rückflug nur zwei Stunden.
terentwickelt. Die jungen Spielerinnen 377 SPIEGEL: Frau Kerber, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
* Lukas Eberle und Thilo Neumann in Stuttgart.
93
Wissenschaft+Technik
Warum ist Gentechnik in die Adern gespritzt akzeptabel, gegessen jedoch Teufelswerk? ‣ S. 104
G. LACZ / JUNIORS@WILDLIFE
Orcas, hier eine Mutter mit Kalb, gehören zu den wenigen Tieren, deren Weibchen in die Wechseljahre
kommen, sonst nur zwei weitere Delfinarten und der Mensch. Die Evolution hat das Ende der Fruchtbarkeit
wohl begünstigt, das legt jetzt eine US-Studie mit Weibchen des Großen Tümmlers nahe, weil ältere
Mütter schwächere Junge gebären. Diese kleinen Nachzügler können sie dank Menopause länger päppeln.
94
Internet Archäologie einem Durchmesser von etwa 150 Metern
Verwirren, vertuschen, Dronehenge hob sich deutlich vom Untergrund ab –
wohl eine bislang unbekannte Anlage aus
verhetzen ● Anthony Murphy, ein Fotograf und Au- vorgeschichtlicher Zeit. Möglich wurde
● Internetpropaganda wandelt sich tor, traute seinen Augen kaum, als er am diese Entdeckung einer alten Kultstätte
von einer Nischentaktik zum weitver- 10. Juli mit seiner Drohne über ein Feld im nur durch die trockene Hitze, die seit
breiteten Werkzeug der Wahl. Vor irischen Boyne-Tal sirrte. Seit Jahrzehnten Wochen über Irland brütet und am Fund-
einem Jahr noch ließen sich große So- schreibt er über die prähistorischen Kult- ort das Grün ausdörrt, wodurch die Boden-
cial-Media-Manipulationskampagnen stätten in der Gegend: riesige kreisförmige merkmale klarer zutage treten. Das Droh-
von politischen Akteuren, die auf Bots, Anlagen ähnlich wie im britischen Stone- nenbild elektrisiert die Fachwelt. Michael
Big Data oder aufwendige Nutzerana- henge, die vor rund 5000 Jahren errichtet MacDonagh, Irlands Chefausgräber, hofft,
lysen setzen, in nur 28 Ländern nach- worden waren. Nun fand er die Spuren dass der Fund »das Wissen über diese
weisen. Mittlerweile hat sich diese Zahl eines solchen Gebildes aus rund hundert magische archäologische Landschaft er-
fast verdoppelt auf 48. Zu diesem Er- Meter Höhe: Ein kreisrundes Muster mit heblich verbessern« könnte. HIL
gebnis kommt eine Studie des Oxford
Internet Institute. »Die Manipulation
von Social Media ist Big Business«,
warnt Philip Howard, Institutsleiter
und Mitautor der Forschungsarbeit:
»Wir schätzen, dass zig Millionen Dol-
lar für Manipulationskampagnen aus-
gegeben werden.« In einem Viertel der
Länder werden dabei auch Chatsyste-
me wie WhatsApp genutzt. Großmäch-
Kommentar
Ein Skandal zieht seit Monaten Kreise in der Max-Planck-Gesell- die MPG nach dem Zweiten Weltkrieg hervorgegangen ist: Jeder
schaft (MPG): Am Institut für Astrophysik in Garching bei Forschungsbereich ist um einen Superwissenschaftler herum
München, einer der weltweit angesehensten Institutionen des angelegt – und wird mit dessen Ausscheiden oft neu ausgerichtet.
Fachs, fühlten sich Mitarbeiter gemobbt und gegängelt. Schon Die Institute seien nichts als »Arbeitsinstrumente qualifizierter
2016 waren die Probleme intern bekannt geworden. Im Februar Persönlichkeiten«, sagte der damalige MPG-Präsident 1963, um
berichtete SPIEGEL ONLINE darüber, Ende Juni sind neue »Forscherpersönlichkeiten das Erreichen ihrer wissenschaftlichen
Details aufgetaucht. Die Max-Planck-Gesellschaft gibt sich in Ziele durch speziell ihren Bedürfnissen dienende personelle
einer Pressemitteilung geläutert: Man habe »damals umgehend und apparative Ausstattung zu ermöglichen«. Nun begehrt die
reagiert und dafür gesorgt, dass sich die betroffene Direktorin »personelle Ausstattung« auf, die Mitarbeiter rebellieren gegen
im beruflichen Alltag durch ein professionelles Coaching beglei- den muffigen Geniekult. Bislang handelt es sich wohl eher um
ten lässt (was sie bis heute tut)«. Außerdem hat das Institut eine einen Einzelfall, viele andere Direktoren haben uneingeschränkt
anonymisierte Mitarbeiterbefragung durchführen lassen. Das Großartiges geleistet. Aber natürlich ist da, bei den Gottkönigen
Ergebnis klingt zunächst beruhigend: »Zwei Drittel aller Befrag- des Geistes, auch immer die Verführung, sich noch ein bisschen
ten bewerten das soziale Umfeld positiv.« mehr Freiheiten nehmen zu können.
Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die Scheinheiligkeit: Weniger als die Hälfte der Befragten kenne die Anlaufstellen
Wieso hat die Befragung nicht gleich 2016 stattgefunden, son- für Beschwerden hinreichend, räumt die MPG ein. Noch schlim-
dern erst zwei Jahre später, nachdem Medienberichte öffent- mer: Mehr als die Hälfte habe Zweifel, dass ihnen die Beratung
lichen Druck aufgebaut hatten? Und wie sollte das persönliche durch Betriebsrat oder Ombudsperson in Mobbingfällen helfen
»Coaching« einer Direktorin ein institutionelles Problem lösen? können. Höchste Zeit, der »personellen Ausstattung« eine
Hinter dieser abwegigen Vorstellung steckt der alte Geniekult stärkere Stimme zu geben. Und ein paar alte Zöpfe aus dem
(»Harnack-Prinzip«) der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft, aus der Kaiserreich abzuschneiden. Hilmar Schmundt
Raum, groß wie eine Sporthalle, keine »Wenn der Puls hochgeht,
Fenster. Die Arbeitsplätze – eine Ansamm-
lung von Monitoren, Kopfhörern, Mikro- wird der Fokus enger.«
fonen – sind in langen Reihen angeordnet.
Zu jeder Zeit kontrollieren hier an die hun- Jochen Baumgarten, Fluglotse
dert Lotsen den Luftraum über dem Wes-
ten Deutschlands. 550 Fluglotsen zählen
zur Belegschaft. Langen ist eines der größ-
ten Flugkontrollzentren Europas.
Baumgarten ist für den Himmel über
Baden-Württemberg verantwortlich. Ge- klärungen bliebe. Bei dem, was sie tun, der Schicht aufs Rad zu steigen und die
rade befindet sich eine Passagiermaschine sind Lotsen auf sich gestellt. 17 Kilometer nach Hause zu fahren.
aus Antalya im Landeanflug auf Stuttgart. Wie geht Baumgarten also mit Stress Das Baumgarten-Rezept also: durch Er-
Auf dem Monitor bewegt sich eine Kom- um? Hat er Angst beim Arbeiten? fahrung sicherer werden, die eigenen
bination aus Buchstaben, Zahlen und Pfei- »Nein«, sagt er. »Wenn der Puls hoch- Grenzen kennen und wissen, was man
len auf einen Strich zu: die Landebahn. geht, wird der Fokus enger.« Hinter ihm braucht, um abschalten zu können? Laut
Vor Baumgartens innerem Auge ent- könne eine ganze Schulklasse stehen, er Expertenrat sind das sehr gute Mittel ge-
steht dabei ein dreidimensionales Bild. Er arbeite sich einfach durch seine Aufgabe gen Stress.
sieht, wie sich die Maschine über die Land- hindurch. Wenn es immer so einfach wäre.
schaft, die Berge, Täler, Ballungsräume be- Gegen den Stress, erzählt der Fluglotse, Die wenigsten Menschen wissen mit
wegt. Welcher Flugzeugtyp mit welcher würden ihm drei Dinge helfen: das Wissen, dem Stress in ihrem Leben umzugehen.
Geschwindigkeit wie hoch steigen oder sin- jede Situation zu einem guten Ende bringen Im Gegenteil, kaum ein anderes Leiden
ken wird, das hat er verinnerlicht, Wind zu können, das habe er sich in 25 Jahren setzt dem modernen Menschen so zu. Die
und Wetter addiert er dazu. als Lotse angeeignet. In ruhigeren Momen- Weltgesundheitsorganisation bezeichnet
Dieses innere Bild nennen Lotsen ihr ten während seiner Schicht stellt Baumgar- Stress als eines der größten Gesundheits-
»picture«. Die Kontrolle darüber dürfen ten sich vor, es kämen noch ein, zwei Pro- risiken des 21. Jahrhunderts.
sie nicht verlieren, komme, was wolle. blemfälle zu den aktuellen Kalamitäten hin- Laut einer Stressstudie der Techniker
Es kommt immer etwas: Ein Flugzeug zu. Im Kopf spult er dann Notfallpläne ab. Krankenkasse haben 61 Prozent der Deut-
aus Moskau auf dem Weg nach Westen Zum anderen kennt der Lotse seine schen das Gefühl, ihr Leben sei in den ver-
muss notlanden, ein Passagier liegt be- Grenzen sehr gut. Er bleibe mit seiner Leis- gangenen drei Jahren noch stressiger ge-
wusstlos an Bord. Eine Gewitterfront nörd- tung immer ein wenig darunter, erklärt worden. Stressfaktor Nummer eins ist Job
lich von Stuttgart zieht tiefrot über die Baumgarten, um Kapazität für unerwarte- oder Ausbildung: Davon fühlt sich fast die
Wetterkarte. Ein Kleinflugzeug, das nur te Ereignisse zu haben. Wenn er sieht, dass Hälfte der Befragten belastet.
auf Sicht fliegt, hat sich über die Wolken- seine Fähigkeit, das »picture« im Kopf zu Auf Platz zwei folgen mit 43 Prozent
decke verirrt. behalten, zu sehr beansprucht ist, lehnt er die »hohen Ansprüche an sich selbst«.
Was, wenn es kritisch wird? Kann ihm Sonderwünsche ab. Dann darf das nächste Und gleich darauf kommt die Klage über
jemand helfen? Baumgarten sagt: »Wenn Kleinflugzeug nicht seinen Sektor queren. »zu viele Verpflichtungen und Termine in
ich hier in einer schwierigen Situation bin, Sport hilft. Baumgarten ist Triathlet, hat der Freizeit«. Viel von diesem Stress
muss ich das selbst zu Ende bringen.« Die schon am Ironman-Wettbewerb auf Ha- scheint hausgemacht.
Abläufe, die er unter Kontrolle hat, sind waii teilgenommen. An einem stressigen Auch der Umgang damit ist wider-
so komplex, dass keine Zeit für lange Er- Tag, sagt er, tue es ihm besonders gut, nach sprüchlich. Einerseits wollen wir uns ent-
97
Titel
98
fernes Leben. »Ohne Stress würden wir
krank werden und sterben.«
Ehlert steht unter einer riesigen Palme »In unserem Kulturkreis
in ihrem Büro an der Universität Zürich.
Um an ihren Schreibtisch zu gelangen, gehört es zum guten Ton,
muss sie sich unter die Blätter ducken. gestresst zu sein.«
Ehlert leitet das Psychologische Institut.
Sie untersucht seit 25 Jahren die Auswir-
Mazda Adli, Psychiater
kungen von Stress auf den menschlichen
Körper.
Stress, sagt Ehlert, sei »erst einmal et-
was Gutes«. Als Stress könne man jede
Aktivierung des Körpers bezeichnen. »Die
brauchen wir, damit unsere Physiologie
anspringt.« Steigt der Kortisolspiegel, wird
mehr Zucker bereitgestellt, der Körper
wird fit, der Geist kann Neues aufnehmen.
Wie viel Stress ist gut?
»Was stressig ist und was nicht, wird von
jedem Menschen anders wahrgenommen«,
erklärt Ehlert. Nur bezeichneten wir den
Stress, der belastet, eben gern als »Stress«.
Und den positiven Druck als »Herausfor-
derung« oder »Abenteuer«. Grundsätzlich
gebe es aber zwei Eigenschaften, die Men-
schen vor dem schädlichen, dem negativen
Stress schützten.
JESCO DENZEL / DER SPIEGEL
101
Titel
102
heute am besten gebrauchen kann: faul
sein? Sport treiben? Etwas Gemeinschaft-
liches unternehmen?
Wer hat Angst vorm sonst wie besser als ein Gentech-Gewächs.
Juristen indes sehen hier einen elementaren Unter-
schied. Denn die maßgebliche EU-Richtlinie legt fest, dass
als gentechnisch veränderte Organismen (GVO) nur sol-
fragt kein Patient mehr danach, ob das Mittel, das der Wie schön wäre es, wenn nun endlich Vernunft ein-
Arzt injiziert, aus dem Genlabor kommt oder nicht. kehrte im unseligen Streit um die Gentechnik. Es
Zwar ist es nicht ganz leicht zu verstehen, warum Gen- liegt in der Hand des EuGH, den Weg dahin zu ebnen.
technik in die Adern gespritzt akzeptabel, gegessen Gewiss, die Hardliner werden sich auch von den
jedoch Teufelswerk sein soll. Zumal nicht eine seriöse Stu- Luxemburger Richtern nicht überzeugen lassen. Sie
die diesen Verdacht stützt. Doch die Widerständler ver- haben sich in einem Hass gegen die Gentechnik ver-
teidigen den Lebensmittelmarkt gegen alles, was auch nur schanzt, der keiner Vernunft zugänglich ist. Ganz gleich,
entfernt wie Gentechnik anmutet. welchen Beleg für die Unbedenklichkeit der Crispr-
Manch ein Forscher glaubte, dass rigorose Sicherheits- Technik deren Verfechter auch immer erbringen mögen,
prüfungen helfen könnten, der Bevölkerung ihre Ängste die Gegner werden stets neue offene Fragen finden, die
zu nehmen. Deshalb begrüßten es viele, dass in der EU noch unbeantwortet seien.
die Gentechnik streng reguliert wurde. Dreierlei ließen
die Verfechter dieser Regeln jedoch außer Acht:
‣ Es hat sich herausgestellt, dass die Gefahr, vor der die och es besteht Hoffnung. Denn in die Reihen der
Regeln schützen sollen, nicht existiert. Nach 25 Jahren
kam das Bundesforschungsinstitut für Kulturpflanzen
zu dem Fazit: »Mit den bisher ins Freiland gebrachten
GVO waren keine Gentechnik-spezifischen Risiken
D Grünen, wo die kategorische Absage an die
Gentechnik bisher zum Glaubensbekenntnis ge-
hörte, ist Bewegung gekommen. Die Partei-
vorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck for-
verbunden.« Und die Weltgesundheitsorganisation dern in einem »Impulspapier« die Parteimitglieder dazu
konstatiert: Dort, wo derart veränderte Pflanzen zuge- auf zu hinterfragen, »ob bestimmte neue Technologien
lassen wurden, seien »keine Effekte auf die mensch- nicht helfen könnten, die Versorgung mit Nahrungs-
liche Gesundheit dokumentiert«. Was also tun mit mitteln auch dort zu garantieren, wo der Klimawandel für
Schutzregeln, wenn es nichts zu schützen gibt? immer weniger Regen oder für versalzenen Boden sorgt«.
‣ Die Kontrollgesetze haben die Angst nur größer ge- Noch deutlicher wurde die grüne Wissenschaftsministerin
macht. Denn die Menschen glauben: Wo Schutzgesetze Baden-Württembergs, Theresia Bauer, in einem Gast-
gelten, muss auch etwas zu schützen sein; wo biologi- beitrag auf »Spiegel Online«: »Die Grünen«, schrieb sie,
sche Sicherheit geprüft wird, müssen biologische Gefah- sollten »der Gentechnik eine Chance geben«.
ren drohen. In der Tat fragt sich: Warum sollte es nicht möglich
‣ Die Regelungen der Gentechnik haben den unheilvol- sein, die Ziele der Ökobauern mit denen der Genforscher
len Trend zur Konzentration in der modernen Land- zu versöhnen? Es gibt so viele Probleme, die sich am
wirtschaft noch verschärft. Der Saatgutmarkt, der einst besten gemeinsam angehen ließen: die Überdüngung der
von mittelständischen Firmen bestimmt war, wird zu- Felder, die Nährstoffbelastung der Gewässer, der Verlust
nehmend von großen Konzernen beherrscht. Das führt biologischer Vielfalt, das Auslaugen der Böden und natür-
zur Monopolbildung und zur genetischen Verarmung lich der Klimawandel. Keines dieser Probleme wird
der Äcker. Wer nun die Hürden zur Markteinführung die Gentechnik lösen können, doch zur Lösung jedes von
neuer Sorten erhöht, beschleunigt diese Entwicklung. ihnen kann sie einen Teil beisteuern. ■
105
Wissenschaft
Düsenflieger
in der Oper
Akustik Orchester sind laut, viele
Musiker leiden deshalb
unter Hörschäden. Aber darüber
reden sie nicht gern – was es
schwer macht, ihnen zu helfen.
EISELE PHOTOS
das Publikum bei einem gelungenen
Konzert. Doch für viele Musiker gleicht die
eigene Darbietung eher dem Martyrium in
einer scheppernden Klanghölle. Pauken und Bläser: Martyrium in scheppernder Klanghölle
Christopher Goldscheider kennt das: Im
August 2012 erlitt der Bratschist am re-
nommierten Royal Opera House in Lon- Doch damit ist der Fall noch längst nicht sal: Wer nicht hören kann, muss trotzdem
don einen schweren Hörschaden bei einer erledigt, denn er führt weltweit zu Dis- spielen.
Probe von Richard Wagners »Walküre«. sonanzen, vor allem im Orchesterland Doch vor zehn Jahren begann Lehan,
Die »Walküre« gilt als eine der wuchtigs- Deutschland mit seinen 130 professionel- sich zu wehren. Nächtelang schraubte er
ten Kompositionen der Musikgeschichte, len Klangkörpern. an immer neuen Schallschutzwänden he-
auch Klassikverächtern bekannt durch den »Viele Kollegen leiden an Hörschäden«, rum, er tauschte sich mit Fachleuten von
Film »Apocalypse Now«, in dem sie einen sagt Christof Lehan, Soloposaunist beim der Physikalisch-Technischen Bundes-
Hubschrauberangriff untermalt. Osnabrücker Symphonieorchester: »Aber anstalt in Braunschweig aus. Den Proben-
Bei der Probe saß der Bratschist vor mehr bislang war das ein Tabuthema, auch weil raum unter dem Dach baute er komplett
als einem Dutzend Blechbläser, die ihm mit Hörgeschädigte Angst haben um ihren Ar- um, heute sitzen die Pauker und Blech-
einem Schalldruckpegel von teils mehr als beitsplatz.« bläser hoch oben auf einem Podest hinter
135 Dezibel in die Ohren tröteten, vergleich- Rund 15 Prozent der befragten Orches- einer Schallschutzwand aus Plexiglas, die
bar einem Düsentriebwerk in 30 Meter termusiker leiden an chronischem Tin- die anderen Musiker abschirmt. Zusätzlich
Entfernung. Goldscheider er- nitus, hat eine finnische Stu- tragen viele Musiker Ohrschützer, die wei-
litt laut Gutachter einen Schalldruckpegel die ergeben. Und mehr als tere 25 Dezibel Lärm wegfiltern können.
»akustischen Schock«: Ohren- in Dezibel (dB) 40 Prozent der Musiker sind Alle paar Wochen reist Lehan quer
schmerzen, Tinnitus, Schwin- Logarithmische Werte: Einen um 10 dB betroffen von Hyperakusis, durch Deutschland, um seine Schallschat-
del. Der Mittvierziger musste gesteigerten Pegel nimmt das Ohr als einer krankhaften Überemp- tenspender vorzuführen. Oft stößt er auf
Verdoppelung der Lautstärke wahr.
seinen Job aufgeben und ver- findlichkeit. Skepsis, denn viele Musiker sind nicht mit
klagte das Opernhaus auf Der Grund: Viele Orches- der Musikmedizin vertraut, die erst all-
Schadensersatz von umge- ter sitzen dicht gedrängt in mählich Eingang in die Lehrpläne findet.
rechnet rund 850 000 Euro. Düsentriebwerk engen Probenräumen und Wer sich damit beschäftigt, findet
Viele Orchester liegen in 30Meter Entfernung Orchestergräben. Und das schnell heraus: Uns Menschen fehlt ein Au-
weit über der Obergrenze Publikum will etwas ge- dio-Alarmsystem – wir fühlen anders, als
von durchschnittlich 87 De-
zibel. Dieser Richtwert ba-
140 boten bekommen, auch
ganz hinten noch, auf den
wir hören. So muss der reale Schalldruck
zehnmal so stark sein, damit der Mensch
siert auf einer Arbeitsschutz- billigen Plätzen. Also drehte einen Ton als doppelt so laut wahrnimmt.
richtlinie der EU. Doch die die Klassikbranche immer Was aber die feinen Sinneshärchen im In-
Oper verteidigte sich mit Presslufthammer weiter auf, Instrumente wur- nenohr schädigt, ist nicht der Eindruck,
dem Argument, dass Lärm- den lauter, warm tönende sondern der ganz reale Druck, für den uns
schutzregelungen nicht auf Darmsaiten durch Stahl er- das Gespür fehlt. Zudem treten die Schä-
Kulturinstitutionen zuträfen, 110 setzt. den oft mit Verzögerung auf.
da für sie Schall nicht Ab- »Schon als Schüler habe »Hörschäden im Orchester, das ist ein
fallprodukt, sondern Luxus- Musik im Orchestergraben ich in einer Big Band ge- ganz emotionales Thema«, sagt Lehan.
gut sei. Kultur kann ja wohl spielt, da hat mein Gehör ei- Teilweise fühlen sich die Blechbläser aus-
nicht krank machen. 85 bis 100 nen ersten Knacks bekom- gegrenzt, wenn sie hinter eine Schall-
Doch, kann sie, vermerk- men«, sagt Lehan. Anfäng- schutzwand verbannt werden. Nicht leicht,
te die Richterin in ihrem schleudernde Waschmaschine lich nahm er es hin wie ein Takt und Ton zu treffen, wenn es um Risi-
83 Seiten umfassenden Ur- 75 Bergmann die Staublunge, ken und Nebenwirkungen der Musik geht.
teil: »Die Vorschriften tref- schließlich kannte er das Viele können den Gedanken nicht er-
fen keine Unterscheidung Problem von seinem Vater, tragen, dass ausgerechnet ihre geliebte
zwischen einer Fabrik und normale Unterhaltung der als Posaunist an einer Klassik sie krank machen kann.
einer Oper.« Sie gab dem »Senke« des Gehörs litt, weil Hilmar Schmundt
Musiker recht.
50 bis 60
er vor der Pauke saß. Schick-
Startjahr 1951 wurden 269 Exemplare Als ausführenden Handwerker hat Kalff
107
Kultur
»Ja, ja, die Ida war ja bei Freud, aber der Otto …« ‣ S. 120
Kunst
Bremer
Freiheit
● »What is Love? Von Amor bis
Tinder« nennt die Kunsthalle
Bremen ihre aktuelle Ausstel-
lung; den begleitenden, für jun-
ge Künstler angesetzten Wett-
bewerb dürfen die US-Betreiber
der Dating-App Tinder spon-
Kommentar
»Ausgehetzt« heißt der Schlachtruf, mit dem Tausende Münchner bieten, politisches Theater zu machen. Das wäre empörend. Nie-
am 22. Juli in eine Anti-CSU-Demonstration ziehen wollen: »Wir mand will den Mitarbeitern verbieten, privat an einer Demo teilzu-
wehren uns gegen die verantwortungslose Politik der Spaltung von nehmen. Auch das wäre empörend. Die CSU besteht lediglich
Seehofer, Söder, Dobrindt und Co. Wir setzen ein Zeichen gegen darauf, dass städtische Institutionen nicht zu einer Demo aufrufen,
den massiven Rechtsruck in der Gesellschaft.« Die Gesichter der die eine parteipolitische Zielrichtung hat. Das ist verständlich. Man
CSU-Männer prangen auf den Plakaten wie auf einem Steckbrief. mag den Verbotsantrag unsouverän finden. Aber ist es nicht eben-
Zu den Erstunterzeichnern des Aufrufs zählen die Münchner Kam- so unsouverän, dass Intendanten auf plakative Mittel wie eine Demo
merspiele, auch das Volkstheater gehört zu den Unterstützern. setzen, statt politische Kunst zu ermöglichen? Dass sie daran mit-
Eine Provokation für die CSU im Münchner Stadtrat. wirken, Konflikte noch weiter zu personalisieren und Komplexität
Sie klagt, die städtischen Theater würden gegen das Gebot par- zu reduzieren, statt sie in all ihren Ambivalenzen zu beleuchten?
teipolitischer Neutralität verstoßen, und fordert deshalb den Ober- Es gab einmal eine Zeit, da sahen Theater ihre Aufgabe nicht
bürgermeister auf, den Theatern die Beteiligung an der Demo zu darin zu predigen, sondern politische Gewissheiten aufs Spiel zu
untersagen und »dienstaufsichtsrechtliche Maßnahmen gegen die setzen. In einem Gemeinwesen, dessen Debatten zur Polarisierung
Verantwortlichen« zu ergreifen. Nun sind alle Wohlmeinenden tendieren, wäre das noch immer eine vornehme Aufgabe – und ein
mächtig empört und schreien: Kunstfreiheit! Grundgesetz! Demo- wirksames Mittel gegen Hetze jeder Art. Das Theater als Schule
kratie! Zu Recht? Niemand will den Mitarbeitern der Bühnen ver- des Denkens, nicht des Meinens. Tobias Becker
109
MARKUS TEDESKINO / DER SPIEGEL
Otto Waalkes löffelt Kartoffelsuppe. Am SPIEGEL: In Ihrer Autobiografie listen Sie Waalkes: Journalisten sind jedenfalls ein
Tisch neben ihm sitzt Bernd Eilert, einer Fragen auf, die Journalisten Ihnen wieder schwieriges Publikum. Ich versuche ja
der Köpfe der Neuen Frankfurter Schule, und wieder gestellt haben. nicht, sie aufzuheitern oder zu unterhalten,
Mitgründer des Satiremagazins »Titanic«. Waalkes: Am Anfang meiner Karriere bin ich versuche, ihnen keine Steine in den
Seit den Siebzigerjahren lässt Waalkes ich davon ausgegangen, Journalisten woll- Weg zu legen und ihre Fragen zu beant-
sich von ihm mit Gags beliefern, auch an ten in Interviews was Neues erfahren. worten, ehrlich und aufrichtig. Das protes-
seiner Autobiografie, die seit Wochen auf Aber sie stellen immer dieselben Fragen. tantische Ethos.
der Bestsellerliste steht, hat er gemeinsam SPIEGEL: Was waren die drei häufigsten? SPIEGEL: Da schlägt Ihre Mutter durch,
mit Eilert gearbeitet*. Im gedruckten In- Waalkes: Wollen Sie nicht langsam mal eine fromme Baptistin.
terview möchte Eilert nicht zitiert werden. aufhören? Waalkes: Sie wissen Bescheid, Sie haben
Hin und wieder wirft er eine Bemerkung SPIEGEL: Wir fangen doch gerade erst an. mein Buch gelesen.
ins Gespräch, die Waalkes in Otto-Stimm- Waalkes: Das sage ich auch immer: Ich SPIEGEL: Besonders aufmerksam die Pas-
lage und mit Otto-Mimik zu einem Otto- hab doch gerade erst angefangen, das ist sagen über Journalisten. Im Prinzip müss-
Witz veredelt, ein Diamantenschleifer für für mich alles Neuland. Und es ist wirklich ten Sie gar keine neuen Interviews mehr
Pointen. Waalkes wird am Sonntag 70. alles Neuland, es ist alles ein Experiment. geben: Alle Standardfragen und -antwor-
Aber er ist noch immer der Mann, den Plötzlich schreibe ich ein Buch, ein richti- ten aus fünf Jahrzehnten Otto stehen im
das halbe Land nur beim Vornamen ges Buch, meine anderen waren ja eher Buch. Ein Interviewbaukasten.
nennt, ein Kindskopf im Rentenalter, fast Sammlungen aus Cartoons, Karikaturen, Waalkes: Deshalb habe ich sie reinge-
kahl inzwischen. Als der Fotograf dazu- Showeffekten. schrieben. Aber es scheint nichts gebracht
tritt, reicht ein Assistent eine Baseballkap- SPIEGEL: Das klingt wie die Standardant- zu haben: Jetzt sind wir auf der Meta-
pe. »Aus künstlerischen Gründen«, sagt wort auf die Standardfrage. Was wäre die ebene, führen ein Interview über Inter-
Waalkes. Das orangefarbene Logo auf der ehrliche Antwort? views – und die Fragen sind alle wieder
Mütze passe so gut zum Orange der alten Waalkes: Dass ich es mir schon leisten da. Geschickt von Ihnen.
SPIEGEL-Kantine, die hier im Hamburger könnte aufzuhören. SPIEGEL: Vielleicht hätten Sie die Fragen
Museum für Kunst und Gewerbe ausge- SPIEGEL: Finanziell. reinschreiben sollen, auf die Sie gern mal
stellt ist. Waalkes: Menschlich. Aber ich möchte antworten würden.
nicht. Waalkes: Das kommt dann im nächsten
SPIEGEL: Herr Waalkes, langweilen Sie SPIEGEL: Antworten Sie in Interviews ehr- Teil, nach »Kleinhirn an alle« folgt »Leber
sich in Interviews? lich? an Großhirn«. Fragen Sie: Darf ich Sie
Waalkes: Das kommt auf die Fragen an. Waalkes: Meistens schon. Zu lügen wäre nach diesem Gespräch zu einem Glas Bier
30 Minuten können einem sehr lang oft witziger. Aber sich im nächsten Inter- einladen? Das wäre eine gescheite Frage.
werden. view an die eigenen Lügen zu erinnern ist SPIEGEL: Sie gelten als schwieriger Inter-
SPIEGEL: Wir hätten gern viel länger mit fast unmöglich. viewpartner.
Ihnen gesprochen, zwei Stunden. Aber die SPIEGEL: Was ist die zweithäufigste Frage? Waalkes: Gelte ich?
Pressesprecherin Ihres Verlages sagte: So Waalkes: Verliebt? Verlobt? Verheiratet? SPIEGEL: Sie schreiben das selbst im Buch.
lange kann Otto unmöglich still sitzen. Die Frauenzeitschriftsfrage. Waalkes: Da werde ich wohl überschätzt.
Waalkes: Echt wahr? So einen Ruf habe SPIEGEL: Wie antworten Sie? Aber es stimmt, ein Interview begann
ich. Dafür beantworte ich die Fragen in Waalkes: Ja, haben Sie heute Abend schon mal mit den Worten: »Herr Waalkes, ha-
einem gewissen Tempo, da ist nach einer was vor? Die dritthäufigste Frage ist die ben Sie davon gehört, dass Menschen, die
halben Stunde alles erledigt. Vergleichen klassische Frage an alle Komiker, die Frage mit Ihnen zu Interviewterminen verab-
Sie das mal mit einem Komiker wie Emil nach der Identität: Sind Sie privat eigent- redet sind, in der Nacht zuvor ungemein
aus der Schweiz. Oder auch Gerhard Polt. lich genauso komisch wie auf der Bühne? schlecht schlafen?« Mir ist das ein Rätsel.
Ehe der mal anfängt … Ich brauche für Journalisten können sich gar nicht vorstel- Vielleicht liegt es daran, dass der Inter-
eine halbe Stunde achtmal so viel Material len, dass jemand über 50 Jahre lang immer viewer etwas enthüllen möchte, den
wie er. lustig und gut gelaunt sein kann. Und sie Schmerz hinter dem Scherz, dass es bei
SPIEGEL: Sie sprechen gerade tatsächlich haben natürlich einen gewissen Ehrgeiz, mir aber nichts zu enthüllen gibt: Hinter
sehr schnell, so wie auf der Bühne. endlich mal was Neues herauszufinden, der grinsenden Maske des ewigen Spaß-
Waalkes: So wie im Leben. Ich spreche eine dunkle Seite, eine geheime Traurig- machers steckt bei mir das lächelnde Ant-
auf der Bühne wie im Leben. keit. Immer nur zu schreiben, ich sei genau litz des notorischen Narren. Was würde
wie auf der Bühne, ist langweilig. einen Journalisten mehr freuen, als eine
* Otto Waalkes: »Kleinhirn an alle. Die große Ottobio- SPIEGEL: Fehlt Ihnen in Interviews das Legende zu entlarven? Apropos: Gelte ich
grafie«. Heyne; 416 Seiten; 22 Euro. Publikum? als Legende? Bin ich schon so weit?
111
SPIEGEL: Sie werden 70. Wenn nicht jetzt, die kleinen Filme, die ihre Hilfe brauchten.
wann dann? Gebraucht zu werden ist ja was Schönes.
Glückliche Tage
Kunst Pussy Riot rettet die russische Fußball-WM.
ktionskunst und Fußball haben edelt. Und weil Russland ein Polizeistaat Stimme nochmals das Manifest mit seinen
A eines gemeinsam: Sie schaffen
Kunstwerke, die den Augenzeugen
überfordern. Erst in der Wiederholung
ist, wirken Bilder, auf denen Polizisten von
anderen Sicherheitskräften zu Boden ge-
rungen werden, verstörend.
Gedanken über die metaphysische Rolle
der Polizei: »Der himmlische Polizist or-
ganisiert den schönen Karneval der Welt-
begreift der Fußballfan, wie das entschei- Was die Urheber nicht beeinflussen meisterschaft. Der irdische Polizist fürchtet
dende Tor eigentlich gefallen ist; erst im konnten: Auch ihr Verhör in der Polizei- die Feier.«
Nachhinein erfährt der Betrachter, dass wache am Stadion wurde gefilmt, ein Video Einfacher formuliert, zielt es auf ein
dieser oder jener Vorgang Kunst gewesen gelangte an die Öffentlichkeit. Man sieht Hauptproblem dieser Weltmeisterschaft:
sein soll. die aufgeregten Pussy-Riot-Aktivisten und dass man dem freundlichen Gesicht, das
Am letzten Tag der Putins Staat einen Monat
Fußball-WM wurden die lang zeigte, nicht trauen
Zuschauer im Luschniki- kann. Dass die plötzlich
Stadion gleich doppelt so hilfsbereiten Polizisten,
überfordert: Sie sahen wenn die WM zu Ende ist,
Aktionskunst und Fuß- sich wieder zurückver-
ball auf demselben Feld. wandeln werden in Instru-
Gerade hatte der Fran- mente der Repression.
zose Kylian Mbappé im Dass der himmlische Poli-
Finalspiel das Tor der zist sich Schlag Mitter-
Kroaten verfehlt, da nacht wieder in den irdi-
rannten plötzlich vier schen verwandeln wird.
Personen in Polizeiuni- Verglichen mit ihren
form auf den Rasen und Vorgängern, kamen Wer-
mischten sich unter die silow und seine Kollegin-
Spieler. Der Fernseh- nen mit milden Strafen
zuschauer bekam davon davon (zwei Wochen Ar-
wenig mit – die Fifa will rest, drei Jahre Stadion-
»Flitzer« nicht mit Live- verbot). Man kann ihnen
bildern belohnen. Die nur gratulieren. Den für
Zuschauer im Stadion Luschniki zuständigen
sahen mehr, verstanden Polizeioffizier über Sta-
aber nicht, was die Ein- lins Repressionen zum
lage sollte. Sie pfiffen. Sprechen zu bringen, wäh-
ELMAR KREMSER / SVEN SIMON
113
Kultur
E
r war kein Mensch. Er war ein nen Jahrhunderts. Aber was soll das schon terschied. Er war überzeugt von Joseph
Maschinengewehr. So hat ihn ein sein, ein Renegatenroman? Koestler war Roths Überzeugung, der schrieb: »Ein
junger Kollege bei der Zeitung für eine Weile Kommunist, dann war Journalist aber kann, er soll ein Jahrhun-
beschrieben. Das war Ende der er keiner mehr. In »Sonnenfinsternis« dertschriftsteller sein.«
Zwanzigerjahre des vergangenen Jahrhun- kommt das Wort Kommunismus nicht ein- Das Bewegendste in diesem frühen Buch
derts in Berlin, im Ullstein-Haus. Koestler, mal vor, »Sowjetunion« auch nicht. Ja, die sind die Beschreibungen der Todesangst.
1905 in Budapest geboren, Jude, in Baden Menschen haben russische Namen, und Wenn die Wärter den Gang ablaufen und
bei Wien aufgewachsen und von dort aus sie folgten alle einer Massenbewegung, die Gefangenen mit stockendem Atem
in die Welt aufgebrochen, hatte kurz zuvor welche die Welt verbessern wollte und auf darauf warten, vor welcher Zelle sie dies-
einige Jahre in Palästina verbracht, in dem Weg dorthin viele Menschen sterben mal halten. Wenn ein Todgeweihter hin-
einem Kibbuz gearbeitet, sich für einen ließ. Für den großen, guten Zweck: »Wir ter seiner Zellentür wimmernd die Inter-
Judenstaat eingesetzt, arabische Limonade reißen der Menschheit die alte Haut ab nationale anstimmt – und Koestler steht
verkauft, mittellos am Strand von Tel Aviv und machen ihr eine neue Haut. Das ist hinter seiner Zellentür, hört zu, sein Herz
geschlafen und erste Texte für Zeitungen kein Verfahren für Leute mit schwachen krampft sich zusammen, er hebt die Faust
des Ullstein-Verlags geschrieben. Er war hinter der Tür, aber mitzusingen traut er
schnell, arrogant, kämpferisch, blitzklug, sich nicht. »Ich stand auf und stellte mich
aufbrausend, neugierig, schrieb Texte als »Er sang und sang. gegen die Tür und stand gelähmt und zäh-
Waffe und konnte rasend schnell die Denk- Wie wir ihn liebten. neklappernd mit der zeremoniell erhobe-
richtung wechseln. Damals schon. Und nen Faust, wie ich es in Versammlungen
sein Leben fing da gerade erst an. Aber keiner sang mit. in Madrid und Valencia gelernt hatte. Und
Wir schauen jetzt auf dieses verrückte, Aus Angst.« ich fühlte, dass in allen Nachbarzellen die
todesmutige Leben zurück, weil sein anderen ebenso dastanden, mit der zere-
Hauptwerk, der Roman »Sonnenfinster- moniös erhobenen Faust, und Abschied
nis«, ins Englische übersetzt, im Dezem- Nerven; aber es gab eine Zeit, da es dich nahmen.
ber 1940 in London erschienen, in diesen mit Begeisterung erfüllte.« Er sang und sang. Ich sah ihn vor mir:
Tagen zum ersten Mal im Original auf So der verhörende Funktionär zu dem unrasiert, das Gesicht zerschlagen, die Fol-
Deutsch zu lesen ist*. Das klingt wie ein zweifelnden Parteifreund Rubaschow im ter in den Augen.
schwer verständlicher Witz – und doch er- Gefängnis. Rubaschow ist aus der Begeis- Er sang und sang. Sie mussten ihn doch
zählt die Editionsskurrilität dieses Welt- terung gefallen. Auch er hatte den Men- draußen hören. Sie werden kommen und
bestsellers, in 30 Sprachen übersetzt und schen durch die Menschheit ersetzt, den ihn in Stücke schlagen.
von der Redaktion der amerikanischen Einzelnen durch die Abstraktion des Gan- Er sang und sang. Es war ganz un-
»Modern Library« in die Bibliothek der zen. Er will nicht mehr. Er ist dem Mitleid menschlich. Wie wir ihn liebten.
wichtigsten Romane des Jahrhunderts auf verfallen. »Ich habe dem Wimmern der Aber keiner sang mit. Aus Angst.«
Platz acht gewählt, so viel über die lang Geopferten mein Ohr geliehen und wurde Koestler selbst hat in dieser ständigen
anhaltende Wirkung der Ausbürgerung dadurch taub gegen die Argumente, die Todesnähe nicht den Verstand verloren,
der deutschen Literatur. Einer der wirk- zu ihrer Opferung zwangen«, sagt er. weil er den Schatz seiner Lektüren bei
mächtigsten deutschen Romane des vori- Das Buch, neu gelesen, ist wirklich ein sich trug, den er nach und nach aus dem
gen Jahrhunderts war auf Deutsch nur in Blitzschlag der Erkenntnis. Über die kalte Gedächtnis hervorholte. Eine Passage ei-
der Rückübersetzung aus dem Englischen Macht der Ideologien, getötete Selbstzwei- nes Buches hat er speziell als Rettung
zu lesen. In einer Übersetzung – Koestlers fel, das Gehen auf schwankendem Boden empfunden: das Kapitel »Über den Tod«
deutschsprachiges Originalmanuskript war der Geschichte, vor allem: Todesangst. aus Thomas Manns »Buddenbrooks«, in
auf der Flucht verschollen –, die Daphne Koestler hatte es selbst erlebt. In den Spa- dem Thomas Buddenbrook in der Scho-
Hardy, die Freundin Koestlers, in Eile auf nischen Bürgerkrieg hatte er sich 1936 als penhauer-Lektüre eine Art Erlösung er-
der Flucht nach England angefertigt hatte. Berichterstatter geworfen. Als Beobachter fährt. So geht es nun in der Todeszelle
Bis eben, vor drei Jahren, der Kasseler und natürlich als Parteigänger der Kämp- Koestler mit Thomas Mann. »Wunder-
Germanist Matthias Weßel in Zürich den fer gegen Franco. Er kam in Haft, wurde balsam« nennt er diese Stelle. »Es ist die
deutschen Urtext gefunden hat, den jetzt mit dem Tode bedroht und musste mona- Gebetsmühle, der Rosenkranz, die mo-
der Elsinor Verlag publiziert. telang jeden Moment mit seiner Hinrich- notone Urwaldtrommel, die archaische
Das Gute daran: Wir haben Anlass, den tung rechnen. Seine Erfahrungen schrieb Wortmagie. Aber obgleich ich es wusste,
frischen alten Text ganz frisch und neu zu er direkt auf; das Buch heißt »Ein spani- half es dennoch.«
lesen. »Sonnenfinsternis« gilt als bedeu- sches Testament«, 1937 erstmals und ge- Koestler hat das Erlebnis seiner Le-
tendster Renegatenroman des vergange- rade im Europa Verlag neu erschienen**. bens- und Verstandesrettung nach der
Für das Publikum war das Buch damals Haftentlassung gleich an Thomas Mann
* Arthur Koestler: »Sonnenfinsternis«. Elsinor; 256 Sei-
ten; 28 Euro.
die Entdeckung des Schriftstellers Koestler, geschrieben. Der war doppelt erschüttert,
** Arthur Koestler: »Ein spanisches Tagebuch«. Euro- den man bislang nur als Journalisten ge- erstens darüber, dass »Kunst einen derart
pa; 264 Seiten; 19,90 Euro. kannt hatte. Für ihn selbst war da kein Un- drastischen Einfluss auf das Leben ge-
114
SAMMLUNG MEGELE / SZ PHOTO
Autor Koestler um 1935: »Eine einzige Dosis Mitleid und du bist verloren«
winnen kann«. Er habe das früher nicht mietete sich in dasselbe Hotel wie Mann der »Sonnenfinsternis«. Koestler schrieb
für möglich gehalten, schrieb er in sein ein, sie gingen am Morgen spazieren, den Roman, als der übermächtige Gegner
Tagebuch. Noch mehr erstaunt war Mann Mann lud Koestler zum Lunch ein, danach für Europas Intellektuelle vor allem Hitler
aber über die Tatsache, dass am selben zum Kaffee in den Salon – und ließ den war, nicht Stalin und der Kommunismus.
Tag, an dem er den erschütternden Brief jungen Kollegen am Ende erschüttert zu- Aber infolge der Moskauer Schauprozesse
von Koestler erhielt, er gerade selbst, zum rück. Mann habe die ganze Zeit nur von und des gnadenlosen Verhaltens, das auch
ersten Mal seit 35 Jahren, ebenjenes Ka- seinen Joseph-Romanen geredet, an denen Schriftstellerkollegen gegenüber abtrün-
pitel aus den »Buddenbrooks« noch ein- er gerade arbeitete, und keinerlei Interes- nigen Parteigenossen an den Tag legten,
mal gelesen hatte. Verrückter Zufall oder se an Koestler gezeigt, nicht an dessen Per- lässt Koestler, zeitweise in Haft im fran-
metaphysische Gedankenverbindung un- son, nicht an den Hafterlebnissen. Mann zösischen Internierungslager Le Vernet,
ter Künstlern? fand den jungen Überlebenskünstler, so eine Romanfigur sagen: »Wenn ich nur
Jedenfalls, so beschreibt es Christian notierte er danach in sein Tagebuch, »sym- ein Fünkchen Mitleid mit dir hätte, würde
Buckard in seiner fantastischen Koestler- pathisch«, aber auch »angegriffen und ver- ich dich jetzt alleine lassen. Ich habe aber
Biografie »Ein extremes Leben« (eine neue- stimmt«. Und Koestler schrieb später über kein Fünkchen Mitleid. Ich saufe, ich habe
re, noch umfangreichere ist von Michael Mann, dieser sei zwar Humanist, lasse es eine Zeit lang Morphium gespritzt, aber
Scammell auf Englisch erschienen), haben jedoch an Mitleid, Menschenfreundlichkeit dieses Laster konnte ich bislang von mir
die beiden, Mann und Koestler, sich kurz und echter Sympathie für die Schwachen fernhalten. Eine einzige Dosis Mitleid und
darauf in Locarno getroffen. Doch: Litera- fehlen. Humanismus und du bist verloren.« Und
tur mag revolutionär, lebensrettend und Die Kraft des Mitleids, die ideologien- der Mann fährt fort: »Unsere größten
weltverändernd sein, Literaten sind oft ein- zerstörende und lebensrettende Kraft des Dichter gingen an dieser Intoxikation zu-
fach monomanische Hohlköpfe. Koestler Mitleids ist eines der zentralen Themen grunde. Bis zu vierzig, fünfzig waren sie
KEYSTONE PRESSEDIENST
ein leichtes Unwohlsein. Statistiken bluten
nicht, es ist das Detail, was zählt.« Und
im Juli 1944 schreibt er erbittert in sein Ta-
gebuch: »Für fünf Millionen Juden gibt es
keine Zeitungsschlagzeile, aber was für ein
Zerstörtes Stalin-Denkmal in Budapest 1956: »Statistiken bluten nicht« Geschrei wegen 50 brit. Offiziere!«
Einige Jahre nach dem Krieg hat sich
Koestler langsam aus der Politik und den
Revolutionäre – dann wurden sie mitleid- Buch, es ist ein antitotalitäres Buch von tagespolitischen Kämpfen zurückgezogen.
süchtig, und die Welt sprach sie heilig.« ungeheurer Kraft, ein Buch über die kalte Sein frühester Kampf hatte der Gründung
Wir sind dabei, wie ein Mensch alle Macht der Abstraktion. Über die tödliche Israels gegolten, das war nun, nach all den
Überzeugungen verliert, alle Wortver- Macht von Regimen, die ihre Kontrolle bis unvorstellbaren Opfern, erreicht. Er kämpf-
schanzungen, hinter denen er sich zuvor in die Schädel ihrer Untertanen hineintrei- te gegen die Todesstrafe und für die Lega-
verstecken konnte. Seine Wahrheiten wa- ben wollen. Über das Pendel der Geschich- lisierung von Sterbehilfe und wandte sich
ren Lügen. Er hat Menschen, Freunde, die te, das immer wieder von Demokratie zu mehr und mehr der Parapsychologie zu,
auf ihn vertrauten, verraten und in den Totalitarismus zurückschlägt. Über den einem Gebiet, in das ihm viele seiner An-
Tod geschickt. Das Todesurteil, das ihn Schrecken von Träumen, in dem Moment, hänger nicht mehr folgen wollten.
erwartet, hat er längst über sich selbst in dem sie sich in Wirklichkeit verwandeln. Aber sein Kämpferherz blieb ihm erhal-
gesprochen. Es ist ein Kafka-Roman aus Und das Grauen, niemals mit Sicherheit ten. Als er im Oktober 1956 vom Aufstand
der Wirklichkeit: »Diese klaren Sätze, die zu wissen, was wahr ist, was gut, was rich- in Ungarn erfuhr, rief er noch in der Nacht
er vor fast einem Menschenalter in einer tig und was falsch. Hat er nicht vielleicht einen Freund an, um ihn aufzufordern, ihn
Polemik gegen die ›Gemäßigten‹ geschrie- doch einfach recht? Er, der im Roman nur zu begleiten. Es war halb drei in der Frühe,
ben, enthielten sein eigenes Urteil.« No. 1 genannt wird, der absolute Herr- Koestler berichtete, er habe sich bei einer
Der Tod rückt immer näher. In der Zelle scher in seinem Reich: »Das Grauen, das nahe gelegenen Baustelle ein paar Ziegel-
neben der Hauptfigur Rubaschow ist ein von No. 1 ausging, bestand vor allem darin, steine besorgt, die wolle er jetzt zusam-
Aristokrat, politischer Feind von einst, dass er möglicherweise recht hatte – dass men mit dem Freund in die Fenster der
eingesperrt. Die beiden unterhalten sich alle, die er umbrachte, sich noch mit der ungarischen Gesandtschaft in London wer-
klopfend, mit kurzen Morsesätzen an der Kugel im Nacken sagen mussten, dass er fen. Sofort. Der Freund wiegelt ab, das
Wand. Sie klopfen von Ehre und von ei- möglicherweise recht hatte. Es gab keine bringe nichts, sei der falsche Weg und so
nem falschen Leben. Rubaschow hat sich Gewissheit, nur die Berufung auf das höh- weiter. Er schlägt vor, zu Bett zu gehen
gerade erinnert, dass er als Knabe eigent- nische Orakel, das sie Geschichte nannten und am nächsten Tag einen besseren Plan
lich Astronomie studieren wollte, Koestler und das seinen Urteilsspruch erst sprach, zu ersinnen. Er berichtet: »Es gab eine kur-
fügt hinzu: »Und nun hatte er vierzig Jahre wenn die Kiefern dessen, der fragte, längst ze Stille. Dann brüllte (Koestler): ›Zum
lang etwas anderes getan.« zu Staub zerfallen. Komm, süßer Tod.« Teufel mit deiner Mäßigung!‹ und schlug
Jetzt kommen sie ihn holen. Der Nach- Dass der Schriftsteller Koestler in der den Hörer auf die Gabel.«
bar klopft: »Sie haben noch zehn Minuten. Folge trotz aller Selbstverzweiflung weiter- Kann sein, dass das Orakel der Ge-
Wie ist Ihnen zumute?« Er will ihn ablen- schrieb und weiterkämpfte, ist ein weiteres schichte immer erst später spricht. Manch-
ken, die letzte Zeit vertreiben. Rubaschow Kunststück seines Lebens. Ihm gelang die mal aber muss man einfach Steine werfen.
klopft dankbar zurück: »Ich hätte es gerne Flucht von Frankreich über Portugal nach Manchmal ist die Geschichte egal, und nur
schon hinter mir.« Der Nachbar: »Was England, wo er auch gleich wieder als die Gegenwart zählt.
würden Sie tun, wen man Sie begnadigen feindlicher Ausländer inhaftiert wurde. Auch sein allerletzter Plan ging auf.
würde?« Rubaschow: »Astronomie studie- Dennoch, er wanderte in Land und Spra- Koestler war Vizepräsident der 1980 for-
ren.« Dann kommen sie, und der Nachbar che ein und nahm schon bald den publi- mierten britischen Freitod-Vereinigung
klopft: »Schade. Wir haben gerade so nett zistischen Kampf für die Rettung der Ju- Exit. Er war an Parkinson und Leukämie
geplaudert.« Und schließlich, als die Hand- den Europas auf. Seit 1941 wusste er von erkrankt. Er wollte selbst über sein Leben
schellen angelegt werden: »Ich beneide der Deportation deutscher Juden in Lager und über seinen Tod bestimmen. Am
Sie. Ich beneide Sie. Leben Sie wohl.« in Polen, Ende 1941, Anfang 1942 ent- 1. März 1983 ist er, zusammen mit seiner
Das Buch war eine Erschütterung, als wickelte er einen Rettungsplan für die Ehefrau Cynthia Jefferies, aus dem Leben
es erschien, und ist es heute noch. Es ist Juden in den von Deutschland besetzten geschieden.
eben nicht bloß ein antikommunistisches Gebieten in provisorische Auffanglager
Belletristik Sachbuch
10 (12) Mariana Leky Was man von hier 10 (17) Jan Frodeno
aus sehen kann DuMont; 20 Euro Eine Frage
der Leidenschaft
11 (10) Laetitia Colombani Ariston; 20 Euro
Der Zopf S. Fischer; 20 Euro
Der Triathlet erklärt, wie
12 (11) Paluten / Klaas Kern Freedom. man den inneren Schweine-
Die Schmahamas-Verschwörung hund besiegt – nicht
nur beim Ironman auf Hawaii
Community Editions; 12 Euro
117
Kultur
118
ROY LICHTENSTEIN 'UNTITLED', 1963 / © ESTATE OF ROY LICHTENSTEIN NEW YORK / VG BILD-KUNST, BONN 2018 CLICHÉ : BANQUE D'IMAGES DE L'ADAGP
Roy-Lichtenstein-Werk »Untitled (Pair)«, 1963: »Das Phantastische, das Schönste und Schrecklichste durch die Macht der eigenen Gedanken«
doppelten Boden hin. Und Fatma Aydemir, werde, sich auch tatsächlich so zugetragen In der Geschichte »Die kurze Zeit der
mit der die Anthologie schließt, behandelt habe. Wichtig sei nur, dass es sich so zuge- Magischen Logik« charakterisiert die Au-
ihre Figuren nicht wie eine Schachspiele- tragen haben könnte. torin Kristine Bilkau jene Phase im Leben
rin, sondern schafft es, ihnen Leben ein- Ein klassischer Realismus also, und dass von Jungen und Mädchen, in der noch
zuhauchen. Dass die Protagonistin Elif man so einen Disclaimer vorwegschieben vieles offen und nichts geklärt ist: »Für sie
missbraucht wurde und sich deshalb so muss, in dem man eigentlich Selbstver- ist alles möglich, das Phantastische, das
verhält, wie sie es tut, ist wichtig für die ständliches erklärt, sagt viel über die Lite- Schönste und Schrecklichste, und zwar nur
Geschichte, aber eben keineswegs alles. ratur und die Gesellschaft aus, die sich durch die Macht der eigenen Gedanken
Da ist noch viel mehr. Hier entsteht Raum mehr und mehr nach »echten«, »authenti- und Handlungen.« Ist das nicht genau das
zum Denken, Raum für Ambivalenzen, schen« oder »wahren« Geschichten sehnt Versprechen der Literatur? Hinter die Tür
Energie für ein offenes Gespräch. und sich offenbar schwertut mit Ambiva- zu treten und den Möglichkeitsraum zu er-
Im Vorwort schreibt die Herausgeberin lenzen. Viel wird dafür getan, eine litera- kunden? Vielleicht findet man dort den
Lina Muzur, dass es sich bei den Texten rische Mauer zu bauen, während gleich- anderen, der auch im Dunkeln tappt.
»wohlgemerkt um Literatur« handle und zeitig alles dafür getan werden soll, diese Xaver von Cranach
es »irrelevant« sei, ob das, was erzählt Mauer wieder einzureißen.
S
echsmal die Woche ging sie durch geschichten, die Freud ausführlich be- ist überliefert, nach dem sie eine der »ab-
den Eingang in der Berggasse 19. schrieb, sie sollte seine Behauptungen zur scheulichsten Hysterikerinnen« gewesen
Zehn Steinstufen hinauf, wieder Hysterie erhärten. Die junge Patientin litt sein soll. Andere betrachteten sie als star-
eine schwere Tür aus dunklem unter nervösem Husten und Stimmlosig- ke, unabhängige Frau, die es wagte, die
Holz, klingeln, warten. Manchmal öffnete keit. Freud, der damals noch Doktor und Analyse bei Freud gegen dessen Willen
Sigmund Freud ihr persönlich. Sie legte nicht Professor war, wollte sie ein Jahr abzubrechen. »Diese gegensätzlichen Ein-
sich auf den Diwan, wunderte sich über lang behandeln. Doch »Dora« brach die schätzungen haben mich neugierig ge-
die seltsamen Methoden des Arztes, aber Therapie aus eigenem Willen nach elf Wo- macht«, sagt Adler.
sie stand ihm Rede und Antwort, Ihr Roman trägt den schlichten Ti-
denn ihr Vater wollte es so. Sie war tel »Ida«, und bei der Lektüre wird
gerade mal 18 Jahre alt, in seinen schnell deutlich, dass die drei Mona-
Schriften hat Freud ihr später den te, in denen Ida Bauer sechsmal die
Namen »Dora« gegeben. Woche zu Freud ging, wirklich nur
ABDRUCK ERFOLGT MIT FREUNDLICHER GENEHMIGUNG VON KURT ADLERS WITWE NANCY ADLER-MONTGOMERY
Es ist ein heller Sommertag in eine Episode im Leben dieser Frau
Wien; die Touristen, die sich im küh- waren.
len Treppenhaus des Freud-Hauses Der Roman setzt 1941 in New
drängen, um die Wohnung des Er- York ein; Ida Bauer ist 58 Jahre alt
finders der Psychoanalyse zu besich- und kommt als jüdische Emigrantin
tigen, sprechen neben Deutsch auch mit einem einzigen Koffer auf Ellis
Spanisch, Englisch, Französisch oder Island an. In der Menge am Fuß der
Japanisch. Freuds Popularität hält Gangway erwartet sie ein fremder
fast 80 Jahre nach seinem Tod an. Mann, ihr Sohn Kurt hat ihn ge-
Die Schlange der Wartenden reicht schickt, der Mann hält ein Schild mit
zwei Treppen hinunter. ihrem Namen in der Hand. »Wer
Die Schriftstellerin Katharina Ad- sind Sie genau, wenn ich fragen
ler verzieht ihr Gesicht zu einem lus- darf? Ein Freund, aha.«
tigen Ausdruck des Erstaunens, gro- Katharina Adler wollte aus der
ße Augen, offener Mund, so voll hat Perspektive Idas erzählen. Sie woll-
sie es hier bei keinem ihrer Besuche te »einer Frau, die an Stimmlosigkeit
in den vergangenen Jahren erlebt. gelitten hat, eine Stimme verleihen«.
Und sie war oft hier, denn sie hat Dieser Satz sei früh da gewesen, sagt
einen anschauungsreichen Roman die Autorin. Deshalb habe sie sich
über Freuds berühmt gewordene Pa- auch für die Form des Romans ent-
tientin »Dora« geschrieben. schieden.
Von den Touristen schenkt nie- »Ida« ist ihr Debüt. Zehn Jahre
mand der Tür im Hochparterre lang habe das Projekt in ihrem Kopf
Beachtung. In der Wohnung, die herumgespukt, ihr sei immer klar
dahinterliegt – etwas dunkler und Ehemalige Freud-Patientin Adler, Sohn Kurt 1916 gewesen, sagt sie, was für ein großer
verwinkelter als jene berühmte im Paradefall einer Hysterikerin Stoff das Leben ihrer Urgroßmutter
ersten Stock, in die Freud umzog, sei, doch sie zögerte, sich daran-
als sein Erfolg zunahm und er es sich leis- chen ab. Es war das Jahr 1900, der Bart zuwagen. Stattdessen schrieb sie Theater-
ten konnte, die Praxisräume neben seiner des Arztes war noch braun und nicht grau. stücke, Drehbücher und kürzere Texte.
Wohnung anzumieten –, haben die Be- Es war nicht absehbar, welchen Ruhm »Dann kam ich an den Punkt, an dem es
handlungsstunden von »Dora« stattgefun- Freud einst erlangen würde, als die junge mir nicht mehr möglich war, etwas anderes
den. Katharina Adler, 38, steht vor einer Frau den Zigarre rauchenden Mann in der zu schreiben.« Sie hat recherchiert und ge-
weißen Wand, schräg über ihrem Kopf ist Berggasse aufsuchte. Ida Bauer, so hieß schrieben, beides gleichzeitig, dabei geriet
als Teil einer Kunstinstallation das Wort die Patientin tatsächlich, gilt durch Freuds sie in einen Erzählfluss, der den Leser ihres
»Aha« zu lesen. Sie ist die Urenkelin von Schriften bis heute als Paradefall einer Romans von Anfang an mitnimmt.
»Dora«, und hier, in dem Raum mit dem Hysterikerin. Die Bauers sind eine großbürgerliche
»Aha«, hat ihre Urgroßmutter auf dem »Freud hat die Deutungshoheit über die Familie, der Vater besitzt größere Manu-
Diwan gelegen. Geschichte meiner Urgroßmutter über- fakturen. Doch er ist auch ein kränklicher
Der Fall »Dora« spielt eine entscheiden- nommen«, sagt Katharina Adler. »Ihr Fall Mann. Ida ist gerade zehn Jahre alt, als sie
de Rolle bei der Entwicklung der Psycho- ist vielfach kommentiert und auch instru- ihn über Wochen pflegen muss, während
analyse. Es war eine der ersten Kranken- mentalisiert worden, weil Freud über sie ihr Bruder Otto die Schule besuchen und
geschrieben hat.« Dabei galt Ida Bauer studieren darf. Weil es der Gesundheit
Katharina Adler: »Ida«. Rowohlt; 512 Seiten; 25 Euro. mal als Opfer, mal als Heldin. Doch immer des Vaters zuträglich ist, lebt die Familie
Erscheint am 24. Juli. blieb sie die Patientin. Ein anonymes Zitat in Meran. Es sind die letzten Jahre des
120
sie macht sich frei und stürmt aus dem
Laden.
So wie Katharina Adler sie entwirft, hat
sie schon als Mädchen einen eigenen Kopf.
Die Vorschriften, Übergriffe und Deutun-
gen der Männer um sie herum engen sie
ein. Ihr Charakter entspricht nicht den
Erwartungen der Zeit an eine junge Frau.
Doch die Ida in diesem Roman bleibt
wehrhaft. Sie lässt die Zellenkas hinter
sich, sie lässt Freud hinter sich. Da ist sie
gerade 18, ihr Leben beginnt erst.
Adler gibt den Jahren nach den Besu-
chen in der Berggasse viel Raum. Mit ih-
rem Mann Ernst führt Ida, die nun Ida Ad-
ler heißt, vor dem Ersten Weltkrieg einen
Salon in Wien, doch der Tod ihres Vaters,
der Krieg bedeuten das Ende des luxuriö-
sen Lebens. Sie wird Bridgelehrerin, um
etwas hinzuzuverdienen. Der zweite große
Bruch kommt mit dem sogenannten An-
schluss Österreichs an Nazideutschland;
als Jüdin wird sie von der Wiener Gesell-
schaft erst geschnitten, dann muss sie flie-
hen. Mit viel Glück gelangt sie nach New
York, ihr Sohn war schon zuvor emigriert
und hatte an der Oper von Chicago eine
Anstellung gefunden. Ihr Entkommen und
ihre Ankunft in den USA stimmen Ida
aber keineswegs friedlich. In ihren letzten
Lebensjahren schimpft sie über die neue
Frau des Sohnes, wirklich recht machen
kann es ihr niemand. Die anonyme Ein-
schätzung, sie sei eine der »abscheulichs-
ten Hysterikerinnen« gewesen, stammt
aus dieser Zeit – in der die Tochter eines
Manufakturbesitzers ihr Geld als Kranken-
schwester und Fabrikarbeiterin in einem
fremden Land verdienen muss.
Katharina Adler erzählt das Leben ihrer
NATHAN MURRELL / DER SPIEGEL
Verbürgtes ter in seiner Werkstatt und versorgte sie vier Jahre lang bis
zum Ende des Krieges, Lucias Vater überlebte in Australien.
Hackl hat die alte Dame gründlich befragt, auch Duschkas
Hackl, 64, gilt seit Langem als wenige, und wenn, dann meist nicht
Experte für die literarische Auf- aus politischen Gründen. Von Rein-
arbeitung dramatischer Ereignisse. hold Duschka ist jedenfalls kein
Wie ein Journalist rekonstruiert er systemkritisches Wort überliefert,
die Fakten, wie ein Schriftsteller aber vielleicht gehörte auch das zu
erzählt er dann die Geschichte, in seiner Tarnung und zu den Grün-
einer klaren, makellosen Sprache. den des Erfolgs seiner Hilfsaktion.
In seiner Erzählung »Abschied von Alpinist Duschka um 1960 Er galt als großer Schweiger, als
Sidonie« etwa beschrieb er das Großer Schweiger Freund der Kinder und Frauen.
Schicksal eines Roma-Mädchens, Hackl hat sein Buch mit dem
das seinen Pflegeeltern entrissen und nach Auschwitz in den Untertitel »Eine Heldengeschichte« versehen. Aber was
Tod geschickt wurde. In »Sara und Simón« berichtete er von überhaupt ist ein Held? Ein Mensch, der unter Inkaufnahme
der Suche einer Frau nach ihrem Sohn, der während der Mi- eines gewissen Risikos Gutes tut, ohne dabei leichtsinnig
litärdiktatur in Argentinien verschleppt und mit einer neuen zu werden?
Identität versehen worden war. Mit dieser Definition wäre Duschka wohl zu beschreiben.
Nun also die Geschichte von Reinhold Duschka, oder bes- Als er Mitte der Sechzigerjahre von der Gedenkstätte Yad
ser: die Geschichte von Regina, der Wiener Jüdin, und ihrer Vashem als »Gerechter unter den Völkern« ausgezeichnet
Tochter Lucia, die von Duschka gerettet wurden. Der Fall werden sollte, weigerte er sich zunächst, weil er – wie Hackl
selbst ist in Wien bekannt, seit ihn die bald 89-jährige Lucia schreibt – »einen Rückgang seines Kundenstocks befürchtet
Heilman 2013 in der Burgtheater-Inszenierung »Die letzten habe«. Erst 1991, mit 91 Jahren, nahm er die Ehrung in
Zeugen« erzählt hat. Duschka war ein Freund und Berg- Empfang, also zu einem Zeitpunkt, als sein geschäftlicher
kamerad des Vaters von Lucia gewesen und verdiente sein Geld Erfolg keine Rolle mehr spielte. Duschka verhielt sich damit
mit der Anfertigung von Vasen und anderen Gefäßen aus so pragmatisch wie immer: Eine mahnende Erinnerung an
Kupfer, Messing und Zinn. Als die Nazis mit der Deportation den Antisemitismus seiner Landsleute wäre im Nachkriegs-
österreich zwar nicht so lebensgefährlich gewesen, wie es
Erich Hackl: »Am Seil. Eine Heldengeschichte«. Diogenes; 128 Seiten; 20 Euro. der offene Widerstand gegen die Nazis gewesen war. Doch
Erscheint am 25. Juli. immerhin schädlich. Martin Doerry
123
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124 Ein Impressum mit dem Verzeichnis der Namenskürzel aller Redakteure finden Sie unter www.spiegel.de/kuerzel
Christine Nöstlinger, 81
Nachrufe Als die Kinderbuchautorin
selbst noch ein Kind war,
Bücher wie »Wir pfeifen auf
den Gurkenkönig« verehrt.
Sie beschrieb ihren Stil mit
liebte sie die Farbe Rot. den Worten: »Ich hüte mich
Doch alles, was sie bekam, vor Rührseligkeit.« Chris-
so erzählte sie in einem tine Nöstlinger starb, wie
Interview, sei braun, grau erst jetzt bekannt wurde, am
oder schwarz gewesen. Es 28. Juni in Wien. CLV
waren die späten Dreißiger-,
die frühen Vierzigerjahre, Erardo Cristoforo
die Nazizeit. Christine Nöst- Rautenberg, 65
linger wurde in einer Fami- Die schönen Vornamen hat-
lie von Antifaschisten groß, te er aus Argentinien. Dort
gut ging es ihr damit nicht. wurde er geboren, als Sohn
Nach dem Ruhm, dem Geld, der Anerkennung kam der tie- die Stärke in menschlichen
fe Fall: 1993 gab McBride zu, Forschungsergebnisse mani- Schwächen erkennen und
puliert zu haben. Wieder ging es um ein Mittel für Schwan- war völlig unkorrumpierbar
gere. Für mehrere Jahre verlor er seine Approbation; er durch Erfolg. Vielleicht
war überzeugt, Opfer der internationalen Pharmaindustrie stellte er sich genau deshalb
zu sein. William McBride starb am 27. Juni. KS ein. Bis heute werden ihre
Ehre in XXL
● Übergroße Helden wollen übergroß ge-
feiert werden. So schmückte lange Zeit ein
Riesenbild des französischen Fußballidols
Zinédine Zidane eine Hausfassade in der
Hafenstadt Marseille. Gleiches widerfährt
nun dem neuen französischen Superstar der
Fußballweltmeisterschaft: Kylian Mbappé,
19. Die Ehrung verlief allerdings nicht ohne
Hindernisse und Streitereien: Bereits wäh-
rend der WM hing in Mbappés Geburtsstadt
Bondy – mehr oder weniger beachtet – ein
Riesenbild des jungen Sportlers an der Fas-
sade eines zehnstöckigen Sozialwohnungs-
baus nahe einer Autobahn. Als das Bild vor
dem Finale von einer Werbung für den Bau-
markt Castorama ersetzt wurde, bestürzte
das nicht nur eingefleischte Fußballfans.
Viele Bürger von Bondy, einem für Krimina-
lität und hohe Arbeitslosigkeit berüchtigten
Vorort von Paris, forderten lautstark ihr
Mbappé-Bild zurück. In den sozialen Netz-
werken protestierten sie gegen den Baumarkt,
dieser beugte sich dem Druck und erklärte
den vorläufigen Verzicht auf sein Werbepla-
kat. Ab Donnerstag hängt wieder ein Bild
YARD
mit Kylian Mbappé an der Hausfassade. PET
Alles nur Kulisse Meryl Streep, heute 69, Studio. Die griechische Insel gezogen, irgendwie fühlten
spätestens vor zehn Jahren. Skopelos, auf der sie mit sie sich mitverantwortlich für
● Dass sie nicht nur eine Nicht zuletzt dank ihres ihren Kollegen Pierce Bros- den Erfolg des Films – und
prägnante Charakterdarstelle- Mitwirkens war das Filmmusi- nan, Colin Firth, Amanda am Dreh verdient haben auch
rin ist, sondern auch fürs ganz cal »Mamma Mia!« 2008 ein Seyfried und anderen wäh- viele. Kitschige Abba-Sou-
leichte Fach taugt, bewies großer kommerzieller Erfolg. rend der Dreharbeiten zum venirs oder Dancing-Queen-
In der Werbung für die Fort- ersten Teil damals offenbar Cocktails hätten aber nie
setzung »Mamma Mia! Here viel Spaß hatte, ist ohnehin zur Debatte gestanden, sagt
We Go Again« kam Streep aus dem Spiel. Die Geschich- eine Hotelbetreiberin, die
wieder als Zugpferd zum Ein- te spielt zwar am selben fik- Leute seien wegen der unver-
satz. Tatsächlich taucht sie tiven Ort, gedreht wurde je- dorbenen Schönheit der Insel
aber nur mit drei Gesangsein- doch dieses Mal in Kroatien, gekommen, die der Film
lagen auf, am Ende des Films, auf der ebenfalls malerischen gezeigt habe. Ein Mann habe
20TH CENTURY FOX
der seit Donnerstag in den Insel Vis. Die Bewohner von mal ein Mamma-Mia-Café
Kinos läuft. Es handelt sich Skopelos sind traurig. Als die aufgemacht, nach nur einem
um Innenaufnahmen, Streep Mamma-Mia-Insel hatte ihre Jahr musste er es wieder
absolvierte ihre Auftritte im Heimat einige Besucher an- schließen. KS
ler gewesen war, bevor er in über den Platzkampf von Radfahrern und Wanderern:
die Politik wechselte. Der
WHITE HOUSE / DPA
konservative Republikaner
war für viele Filmschaffende ● »Mountainbiker und Bergwanderer geraten bisweilen
lange ein Feindbild. Noch aneinander, wenn sie sich den Platz teilen müssen. Eigentlich
vor zwei Jahren wollte Will 1976 sollte jedem klar sein, dass auch andere Menschen in der
Natur unterwegs sind. Doch gerade auf schmalen Wegen
geht es darum: Wer weicht aus, wer macht auf sich aufmerk-
sam, muss der Mountainbiker absteigen? Ich fahre seit mei-
2014. Nun haben spanische ner Jugend Mountainbike, da bleiben Konflikte im Gelände
Dame, König, Onlinemedien den Mit- nicht aus. Zum Beispiel, wenn ein Wanderer partout nicht
Spion schnitt eines Gesprächs ver- nachgeben will, weil er denkt, der Weg sei nur für ihn reser-
öffentlicht, das die enttäusch- viert. Auch scheinbar lustige Kommentare können für den
● Die deutsch-dänische te Begleiterin angeblich 2015 Moment ärgerlich sein, zum Beispiel beim Bergauffahren: ob
Geschäftsfrau Corinna zu in London mit dem spani- es nicht schneller gehe oder ob ich keine Kondition hätte.
Sayn-Wittgenstein, 54, schen Polizeioffizier José Mir ist auch schon passiert, dass zusätzlich der Ellenbogen
die den Adelstitel einer Manuel Villarejo geführt ausgefahren wurde. Ein Bekannter ist auf seiner Hausstrecke
inzwischen geschiedenen haben soll. Darin heißt es, einmal in ein ausgelegtes Nagelbrett gefahren, danach war
Ehe verdankt, bringt den frü- Juan Carlos habe für die Ver- der Reifen platt. In Oberösterreich wurde gerade ein Jäger
heren spanischen König Juan mittlung eines Auftrags 80 verurteilt, der aus Ärger über Mountainbiker einen Draht
Carlos, 80, erneut in Schwie- Millionen Euro Provision über den Weg gespannt hatte. Insgesamt kommen die ver-
rigkeiten. 2012 war seine von Saudi-Arabien genom- schiedenen Nutzer gut miteinander aus, sie eint die Begeiste-
»innige Freundin« aufgeflo- men und auf ihr Schweizer rung für die Natur. Am vergangenen Wochenende hat mich
gen, als sie ihn auf eine Ele- Konto transferiert. Auch ein zum Beispiel ein Wanderer detailliert nach der Gangschal-
fantenjagd in Botswana Grundstück in Marokko tung meines Fahrrads befragt. Viele Mitglieder des Alpenver-
begleitete, bei der sich der habe er ihr überschrieben, eins betreiben mehrere Bergsportarten. Ansonsten hilft es,
Monarch die Hüfte brach. um den Fiskus zu umgehen. sich in die Perspektive des anderen zu versetzen: Der Rad-
Der Skandal und andere Ob die Aufnahmen im Ein- fahrer kann in einer engen Passage nur schwer absteigen.
Eskapaden des Staatsober- vernehmen oder heimlich Oder eine Wandergruppe hat ein kleines Kind dabei und
haupts waren mitverantwort- gemacht wurden, ist nicht möchte in der Mitte des Pfades bleiben.
lich für seine Abdankung bekannt. Der pensionierte Der Druck am Berg und im Wald steigt, weil immer mehr
Polizist sitzt seit November Leute in ihrer Freizeit aktiv sein wollen. Das ist im Groß-
in Haft. Er wird beschuldigt, raum München besonders spürbar, mit seiner Nähe zu den
mithilfe von Kollegen ein Alpen: Der Platz für die Erholungssuchenden dort lässt sich
SCHROEWIG / PICTURE-ALLIANCE / DPA
127
»Merkel inspiziert einen Hohlraum.«
Günther Feld, Köln
Wie ein Hai gisch, »den Kopf der Schlange zu zertre- nach Europa verhökern. Dass dieses Öl
ten«, um diese zu vernichten oder wenigs- nur unter größter Umweltzerstörung ge-
Nr. 29/2018 Zerrüttung – Was es für Deutsch-
tens kleinzuhalten. Die Attacken gegen fördert werden kann, interessiert ihn nicht.
land heißt, Donald Trumps Feind zu sein
Deutschland haben eine andere Zielset- Weswegen er das Klimaabkommen mit
Allein das Titelbild bot mir Anlass, diese zung, nämlich die Zerschlagung der nach einem Federstrich aufgekündigt und seine
Ausgabe zu kaufen. Die Lektüre hat mich den USA größten wirtschaftlichen Macht Umweltbehörde mithilfe der Freunde aus
glücklicherweise auch nicht enttäuscht. des Westens. Somit ist es für ihn durchaus der Öl- und Gasindustrie bis zur Unkennt-
Matthias Feltz, Marburg (Hessen) sinnvoll, bei dieser Unfrieden zu stiften, lichkeit zerfleddert hat. Andererseits be-
indem er gegen Deutschland hetzt und die klagt er, Deutschland mache sich total
Ich fasse es nicht: schon wieder Trump auf kleineren Staaten im Bündnis hofiert. Hilf- abhängig von Russland durch das Nord-
dem Titel! Habe das Heft liegen gelassen. reich ist hierbei die traditionelle Uneinig- Stream-2-Projekt. Vielleicht sollte er ein-
Anton Widmann, Au i. d. Hallertau (Bayern) keit der Mitgliedstaaten. mal darüber nachdenken, dass Russland
Hans Peter Autenrieth, Ubstadt-Weiher (Bad.-Württ.) einmal geschlossene Verträge einhält, egal
Kommentare unseres zweieinhalb Jahre ob die Stimmung mal gut oder weniger
alten Sohnes Magnus beim Betrachten gut ist. Mit einem latent wort- und ver-
Ihres Titelbildes, zu Trump: »Schlange tragsbrüchigen Trump möchte dagegen
mit großem Maul«. Zu Merkel: »Kleine wohl kaum ein Land in ein Abhängigkeits-
schwache Frau«. Treffender hätten wir die verhältnis treten.
Mittel der Regierungskritik Dass Sie die Undenkbarkeit der Unter- kanzlerin hat 2015 absolut richtig gehandelt,
scheidung zwischen dem Antisemitismus weil menschlich! Außerdem: Wurde sie nicht
Nr. 28/2018 Die israelfeindliche
und einer israelkritischen Haltung suggerie- von den Regierungen Österreichs und Un-
BDS-Bewegung kämpft um die Meinungs-
hoheit auf deutschen Kulturfestivals ren, ist höchst bedenklich. Im Übrigen: garns gebeten zu helfen? Und was würde
Was spricht völkerrechtlich und moralisch der wohlsituierte Herr Professor Miller
Die Einstufung der Kampagne »BDS« dagegen, die Politik eines Staates (Israel) schreiben, wenn er selbst Flüchtling wäre?
(Boycott, Divestment and Sanctions – Boy- zu sanktionieren, der die Rechte eines be- Hermann Kast, Speyer
kott, Abzug von Investitionen und Sank- setzten Volkes (Palästinenser) mit Füßen
tionen) als antisemitisch greift zu kurz und tritt und große Teile seiner Territorien ab- Zärtliches Gefühl
zeigt, dass es wie so oft nicht gelingt, den riegelt beziehungsweise dort im exzessi-
Nr. 28/2018 Die Irrfahrt des Rettungsschiffs
Unterschied zwischen Kritik am Staat Is- ven Maße auf Kosten der autochthonen
»Lifeline« über das Mittelmeer
rael und einer – klar antisemitischen – Ver- Bevölkerung Siedlungen errichtet? Warum
leugnung des Existenzrechts Israels zu er- sind Sanktionen gegen Russland und Iran Es erscheint unverantwortlich, wenn deut-
kennen. Der Artikel lässt außerdem eine legitim, im Falle Israels jedoch verpönt, sche Rettungsschiffe wie die »Lifeline« die
Differenzierung zwischen dem Mittel des weil sie womöglich antisemitisch oder ras- von ihnen im Mittelmeer Geretteten ohne
Boykotts als Form der politischen Teilhabe sistisch sein könnten? Im Übrigen richten Auftrag oder Vertrag den Mittelmeer-
und der bloßen Diffamierung Israels in sich die Boykottaufrufe maßgeblicher ländern vor die Tür setzen. Vielmehr wäre
der Öffentlichkeit vermissen. Der dort be- BDS-Aktivisten nicht gegen »israelische« es Aufgabe der Bundesrepublik, sie um-
schriebene kulturelle und akademische Waren, sondern gegen solche Waren, die gehend weiter nach Deutschland zu brin-
Boykott durch Künstlergruppen ist zudem aus den völkerrechtswidrigen Siedlungen gen – ein einfaches Transport- und Betreu-
nur ein Teil von BDS; ausgeblendet wird stammen. Dies ist ein substanzieller Un-
leider, dass Konsumenten auch israelische terschied, der in Ihrem Artikel wenig Be-
Exportprodukte boykottieren beziehungs- achtung findet.
weise dezidiert jene Produkte, die in israe- Dr. Aref Hajjaj, Bonn
lischen Siedlungen im Westjordanland her-
gestellt werden. Unter dem Namen BDS Der Satz ist unglaublich
HERMINE POSCHMANN
finden sich keinesfalls nur antiisraelische
Nr. 28/2018 SPIEGEL-Gespräch mit
Hardliner mit dem Gespür für die große
Ex-Außenministerin Madeleine Albright über
mediale Bühne, sondern auch politisch dif- Trumps Wut auf die EU und ihre Angst
ferenzierende Menschen mit der Bestre- vor einem Rückzug Amerikas aus der Welt
bung, den Boykott als Mittel der Regie-
rungskritik zu nutzen, keinesfalls aber der Dieser Satz ist unglaublich: Wenn Ameri- Flüchtlinge auf der »Lifeline«
Existenzrechtverleugnung. Schade, dass ka sich nicht in der Welt einmischte, ge-
dies im Artikel nicht zur Sprache kam. schähen furchtbare Dinge. In welcher ungsproblem. Im Fall der »Lifeline« hatten
Ben Brandwein, Hannover Blase hat die Frau gelebt, die auch noch sich zum Beispiel die Bundesländer Berlin,
Außenministerin gewesen ist? Es wäre eine Niedersachsen und Schleswig-Holstein
In Ihrem Beitrag heißt es: »›Kauft nicht verdammt lange Liste, wenn man alle Ein- ohne Zögern zur Aufnahme der Gerette-
beim Israeli‹ – das klingt in vielen Ohren mischungen der USA mit ihren furcht- ten bereit erklärt.
fast wie ›Kauft nicht beim Juden!‹.« Diese baren Folgen aufschreiben würde, Aggres- Robert Hübner, Lüneburg (Nieders.)
Gleichstellung ist plakativ und dazu geeig- sionen mit Millionen Toten, mörderische
net, unbestrittene Fakten auszublenden. Diktatoren von Indonesien bis Chile, die Von der Waterkant in Hamburg aus ge-
Die Palästinenser werden heute nun mal die Unterstützung der USA erfuhren. sehen ist es selbstverständlich, dass die
vom israelischen Staat drangsaliert und Wieland Becker, Berlin »christliche Seefahrt« in Seenot Geratenen
unterdrückt, wie Sie es auch andeuten. hilft, egal ob diese Situation willkürlich
Dass dieser Staat »zufällig« jüdisch ge- Richtig, weil menschlich! oder nicht herbeigeführt wurde. Es ist aber
prägt ist, rechtfertigt in keiner Weise, die unverständlich, warum »Lifeline«-Kapitän
Nr. 28/2018 SPIEGEL-Gespräch mit dem
Position der Palästinenser und ihrer För- Reisch stur der Meinung ist, dass es ein
britischen Philosophen David Miller
derer als antisemitisch zu diffamieren. über die moralischen Widersprüche der Anrecht der Migranten auf dann sichere
Wäre dieser Staat englisch oder maltesisch, europäischen Flüchtlingspolitik Überfahrt nach Südeuropa gebe. Würden
die Geretteten konsequent nach Afrika zu-
In einer offenen, moralischen Welt sollte rückgebracht, würde das Geschäftsmodell
jeder Mensch seinen Lebensmittelpunkt der Schlepper langsam sterben.
frei wählen können. Allerdings steht dieses Dr. Sigmund Blank, Hamburg
Recht ebenso dem Alteingesessenen zu,
was zu Konflikten führt. Diese ließen sich Von Herman van Veen stammt das wun-
zwar bei beiderseitigem gutem Willen lö- dervolle Chanson »Ich hab ein zärtliches
sen, aber der Mensch ist nicht so gut, wie Gefühl«. Dessen Text und Melodie kam
PICTURE PRESS
es wünschenswert wäre. Im Gegensatz zu mir in den Sinn, als ich in Ihrem Beitrag
Professor Miller halte ich daher das gegen- von Claus-Peter Reisch las. Ich umarme
wärtige Flüchtlingsproblem für unlösbar – ihn! Voller Hochachtung!
Protest auf Radiohead-Konzert 2017 weder moralisch noch faktisch. Es kann Eberhard Fritz Wolckenhaar, Emkendorf (Schl.-Holst.)
nur darum gehen, einen Modus Vivendi
würden sich die Palästinenser dementspre- zu finden, was schwer genug sein dürfte.
Die Redaktion behält sich vor, Leserbriefe
chend antienglisch beziehungsweise anti- Prof. Dr.-Ing. Peter Koeppe, Berlin
(leserbriefe@spiegel.de) gekürzt
maltesisch verhalten. Daraus ergäbe sich sowie digital zu veröffentlichen und unter
nicht der Vorwurf des Rassismus oder Auch ein renommierter Professor redet man- www.spiegel.de zu archivieren.
einer menschenverachtenden Ideologie. ches Mal dummes Zeug. Unsere Bundes-
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Hohlspiegel Jetzt mit- Rückspiegel
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2018! Die »Süddeutsche Zeitung« erinnert
anlässlich der WM an das schon
GUTE IDEEN 1980 im SPIEGEL berichtete Staunen
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