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www.yallah-balkanroute.

eu

Der lange Ein Korridor Die »Lösung«


Eine Wanderausstellung über den »langen Sommer der
Migration« 2015 und die aktuelle europäische Flüchtlingspolitik.
Sommer der nach Europa? der EU
Ein Migration Seite 7 Seite 18

Jahrhundert­ Seite 2
Grenz­ Eine andere Welt
ereignis March of Hope schließungen ist möglich ...
Editorial Seite 4 Seite 12 Seite 23

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rst zwei Jahre ist es her, dass eine damals für deren Aufnahme. Sie wurden Im Mittelpunkt dieser Ausstellung aber Gegen dies Anspruch hetzen identitäre, über den Balkan war ein Jahrhundert­
Millionen Menschen über die Bal- mit Beifall und Geschenken am Haupt- stehen nicht die Aktivist_innen. Zu rechtskonservative und neonazistische ereignis. Wir würden uns wünschen,
kanroute nach Deutschland gekom- bahnhof in München begrüßt und es ent- Wort kommen sollen die Migrant_innen Gruppierungen. Zwei Jahre nach dem dass sich dies nicht als Bedrohung,
men sind. wickelte sich eine Willkommenskultur, selbst. Sie kritisieren die unmenschli- Sommer der Migration dominieren ihre sondern als Alternative zu Rassismus
Am 5. September 2015 sah sich wie niemand sie für möglich gehalten chen Politiken der EU, sprechen über rassistischen Vorstellungen den öffent- und Abschottung im gesellschaftlichen
Frau Merkel genötigt, die Grenzen zu hatte. ihre Entbehrungen und Hoffnungen. Sie lichen Diskurs. Die konservativen Par- Bewusstsein einprägt.
öffnen. Das hatte zwei gute Gründe: ers- Die Ausstellung Yallah!? Über die erheben einen Anspruch auf Teilhabe, teien – und leider nicht nur sie – nähern Der Durchbruch der Geflüchteten
tens die Entschlossenheit der Flüchten- Balkanroute erinnert an den Sommer auf Gleichheit in einer postkolonialen sich allzu bereitwillig deren Positionen auf der Balkanroute hat Europa verän-
den, deren Kämpfe an den Grenzen der Migration und die Reaktionen in Welt. Sie sind Menschen im Aufbruch an: innenpolitisch durch die Verschär- dert. Die Willkommenskultur ist in der
Europas schon seit Wochen für Schlag- Deutschland. Die Autor_innen waren und nicht wenige verbindet die Erinne- fung der Abschiebepolitik, die völlige Defensive, aber nicht tot, und der All-
zeilen sorgten und die sich nun vom Bu- zwischen Griechenland und Österreich rung an die Arabische Revolution. Ihre Verunstaltung des Grundrechts auf tagswiderstand der Migrant_innen zeigt
dapester Bahnhof Keleti aus zu Fuß in unterwegs: sie unterstützten die Men- Formen des Alltagswiderstands haben Asyl und die fortgesetzte Internierung sich nicht zuletzt darin, dass weder die
Richtung Österreich und Deutschland schen auf der Route und in den Lagern, sie aus Syrien, Afghanistan, dem Irak, von Menschen in Lagern und Knästen, Abschiebungen nach Afghanistan noch
auf den Weg gemacht hatten, und zwei- nachdem sie in Deutschland angekom- dem Maghreb und aus anderen Gebie- außenpolitisch durch die Ausweitung die Dublin-Rückführungen im großen
tens die öffentliche Meinung. Mehr als men waren. Sie sprachen mit ihnen, ten mit auf den Weg genommen. Auch von Militäreinsätzen, die Kooperation Maßstab stattfinden. Das ist das Erbe
die Hälfte der Bundesbürger_innen war machten Audio-, Video- und Fotoauf- deshalb konnten sie die Widrigkeiten mit Diktatoren und die Expansion des von 2015: es hat einen Zusammenhalt
nahmen. Eine ganze Generation von und Strapazen der Flucht überstehen. europäischen Grenzregimes bis weit in der Geflüchteten bewirkt, vielfältige
Aktivist_innen hat sich in diesen Mona- Wir wollen, dass Europa nicht nur den afrikanischen Kontinent hinein. neue Netzwerke entstehen lassen und
ten mit den spezifischen Erfahrungen von der Arbeitskraft und Integrations- Vor diesem Hintergrund ist die mündet hoffentlich darin, dass sich eine
von Mut und Enttäuschung, Entschlos- bereitschaft dieser Menschen profitiert, Ausstellung auch ein Versuch, dem Ver- Vielzahl von Städten in Europa zu Soli-
senheit und Repression, Kontakt zu den sondern dass es sich gegenüber ihren gessen entgegenzuwirken. Der Sommer darischen Städten, zu Solidarity Cities
Migrant_innen und Erleben der eigenen Forderungen nach Menschlichkeit und der Migration und die von den Migrant_ entwickeln, in denen Migrant_innen die-
Privilegien radikalisiert. dem Recht auf Rechte öffnet. Mobilität innen erkämpfte Öffnung des Korridors selben Rechte genießen und Möglichkei-
ist eine Tatsache und Bewegungsfrei- ten haben wie deren Bewohner_innen
heit ein elementares Menschenrecht. mit einem europäischen Pass.
Niemand hat das Recht, anderen dieses
Recht zu verwehren.
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HUN 6. Dezember 2015, Idomeni, GR

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Der Begriff Balkanroute All diese Zuschreibungen haften


dem Begriff der Balkanroute
MNE Der Begriff des Balkan ist kei­ an, die u.a. mit Kriminalität,
XKX neswegs ein neutraler Begriff, Armut oder Menschenschmuggel
BGR
der allein geogra­phische  Gege­ konnotiert ist. Mittlerweile
benheiten beschreibt. Er ist ist der Begriff der Balkanroute
ALB MKD historisch negativ besetzt, mit den Migrationsbewegungen
u.a. auch für viele Bewohner_ aus größtenteils Südwest-Asien
innen der südosteuropäischen nach Europa in den Jahren 2015
Staaten. und 2016 asso­ziiert. Während
Der Begriff unterstellt ein Teil der Menschen willkom­
eine kulturelle und gesellschaft­ men geheißen wurde, wurde der
liche Einheitlichkeit, mit Weg für die Menschen aus den
der die Bewohner_innen dieser Transit­ländern durch die Erklä­
GR Gebiete abgewertet werden. rung dieser Länder zu sicheren
Bis heute ist dieser Begriff Herkunftsstaaten jedoch
mit rassistischen Stereotypisie­ schnell verschlossen.
rungen aufgeladen, die sich In der Ausstellung wird der
unter anderem in den deutschen Begriff der Balkanroute weitest­
Debatten um »Wirtschaftsflücht- gehend vermieden. Da es jedoch
linge« oder »Armutsmigrant_ keine etablierte Alternative
innen« widerspiegeln. Diese gibt und für eine breite Mehr­
dienen dazu, Migrant_innen aus heit schnell ersichtlich ist,
(Süd-) Osteuropa zu kriminali­ worum es in der Aus­stellung
sieren und ihnen ihre legitimen geht, findet sich der Begriff im
Migrationsgründe abzusprechen. Titel und taucht, bei aller
Kritik, hin und wieder in die­
ser Ausstellung auf.

Der lange Sommer


ihrer Opferrolle herausgetreten und zu In seiner ursprünglichen und ausführ- Glück versuchten. In den Jahren 2012
Akteur_innen europäischer Politik ge- lichen Fassung kann dieser Text auf der und 2013 stieg die Zahl der Passagen
worden. In Deutschland wurden sie mit Homepage der Gruppe Moving Europe auf der Ostbalkanroute auf 12.000, wäh-
Willkommensrufen empfangen. nachgelesen und heruntergeladen wer- rend nur 4.000 Migrant_innen die West-
Die folgenden Kapitel liefern eine den, in deren Zusammenhang er auch balkanroute nutzten – so viele wie im

der Migration
Chronik dieser Ereignisse, streiflichtar- entstanden ist. Dort finden sich auch Spätsommer des Jahres 2015 an einem
tig, dokumentarisch, noch nicht aus der Hinweise auf Quellen, die hier nur spo- einzigen Tag.
Sicht der Migrant_innen selbst und vor radisch angegeben werden. Im Jahre 2014 stieg die Zahl der

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allem deshalb von vorläufigem Charak- Durchreisen über den Balkan langsam,
ter, eine Chronik, die als Ergänzung zu on der Ost- zur aber kontinuierlich an. Im Januar 2015
den Originalaufnahmen und Dokumen- Westbalkanroute beschloss die bulgarische Regierung
ten der Yallah-Ausstellung zu verstehen In den Jahren 2012 bis 2014 hatte den Bau eines Zauns an der Grenze zur

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gekürzte Fassung der ass auf der Ägäis und auf der West- ist. Der Text ist kaum mehr als eine Er- die Westbalkanroute, die im Som- Türkei. Zudem wurde allen Geflüchteten
Online-Publikation, balkanroute im Sommer 2015 läuterung der Bilder, die in den Medien mer der Migration 2015 Schauplatz des die Sozialhilfe gestrichen. Es gab Rück-
im Original nachzulesen unter:
www.moving-europe.org Geschichte gemacht wurde, war präsent waren, und die Anordnung einer epochalen Durchmarschs der Migrant_ schiebungen an der Grenze und Schüsse
allen Beteiligten und auch den Zeitschiene, und wenn es gelingt, einen innen werden sollte, noch keine große auf Migrant_innen. Dennoch kamen im
Zuschauer_innen und Kommentator_ Bruchteil von der Dynamik und Drama- Bedeutung. Die griechische Regierung Oktober und November 2015 täglich
innen spätestens an jenem 4. Septem- tik jener Monate einzufangen, hätte er hatte im Zusammenspiel mit Frontex noch 200 bis 300 Menschen über Bul-
ber klar, als der March of Hope nicht mit seinen Zweck erfüllt. Er stützt sich ganz die Lage scheinbar im Griff: der Zaun garien nach Serbien, obwohl inzwischen
einem Massaker auf der Autobahn zu wesentlich auf Erfahrungen und Be- an der Grenze zur Türkei bei Erdine und selbst ernannte Bürgerwehren Jagd auf
Ende ging und nicht in ungarischen La- richte von Unterstützer_innen und Ak- die Patrouillenboote auf der Ägäis dräng- sie machten
gern endete, sondern als die Menschen tivist_innen, die sich aufgemacht hatten, ten die meisten Flüchtenden auf die Immer mehr wählten inzwischen
einen Tag später mit der Bahn in Mün- um Migrant_innen auf ihrem Weg über harte und gefährliche Ostbalkanroute allerdings den Weg über die Ägäis und
chen ankamen und von einem Spalier die Ägäis, durch Griechenland und über über Bulgarien nach Ungarn. Einige Griechenland. Ein Grund dafür war,
der Helfer_innen mit Applaus begrüßt den Balkan zur Seite zu stehen. Und sie Tausend wagten sich auf diese Strecke dass die Abwehr der Migrant_innen in
wurden. Die Flüchtenden hatten die Fes- trafen dabei auf zum Teil schon länger – ganz überwiegend jüngere Männer, Griechenland mit dem Wahlsieg der
tung Europa überrannt und eines ihrer bestehende lokale und überregionale die trotz Misshandlungen durch die Syriza im Januar 2015 einbrach und die
wichtigsten Instrumente, das Dublin- Strukturen, mit denen sie sich verbün- bulgarische Polizei und trotz gewalt-
System, ausgehebelt. Sie waren aus den konnten. samer Rücktransporte in die Türkei ihr Fortsetzung auf Seite 4
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27. November 2017, Idomeni, GR

»Krise« auf der Balkanroute?


Auf der sogenannten Balkanroute findet Migration schon Menschen aufzuhalten, stellten sie sogar Busse und Züge für
lange statt. Im Zuge des langen Sommers der Migration im die schnelle Durchreise zur Verfügung. Ein erster Versuch
Jahre 2015 erlangten die Migrationsbewegungen auf dieser seitens Mazedonien, die Migration vor der Grenze doch wie­
Route weitreichende Sichtbarkeit und standen im Fokus der zu stoppen, scheiterte Mitte August 2015 am Wider-
medialer Aufmerksamkeit. stand der Flüchtenden.
Anstatt den gefährlichen Weg von Libyen aus über das
Mittelmeer nach Italien zu wählen, entschieden sich spätes- Das Dublin-System war faktisch außer Kraft gesetzt.
tens seit Anfang 2015 immer mehr Menschen für die Route Damit brach ein viel kritisierter Grundpfeiler der euro­
über die Türkei nach Griechenland. Viele der in Griechenland päischen Migrationskontrolle zusammen. Es war für viele
angekommenen Menschen wollten weiter in Richtung Menschen möglich, sich frei durch Europa zu bewegen. Das
Norden. Griechenland registrierte die angekommenen Men- auf Abschottung beruhende Europa rief die sogenannte
schen nicht und ließ sie passieren. Flüchtlingskrise aus. Antirassistische Akteur_innen hingegen
Im Sommer 2015 entschieden sich auch Mazedonien sprechen vom langen Sommer der Migration, in dem die
und Serbien, Flüchtende nicht länger auf dem Weg nach europäische Migrationspolitik immer wieder kurzzeitig in
Europa aufzuhalten, sondern die Menschen mit 72 Stunden sich zusammenbrach.
gültigen Transitvisa durchreisen zu lassen. Anstatt die

Das Dublin-System über die Fingerabdrücke hinaus, »Rückführung« sowie nach euro­ Wochen und aufgegriffene, andern­ welcher die von den Gerichten
mit weiteren Daten gespeist päischen »Verteilungsquoten«. orts registrierte Personen gesetzten Fristen ausgehebelt
Seit 1997 ist das Dubliner  Über­ werden. Außerdem wurde der Er wiederholte diese Forderungen dürfen nur 72 Stunden lang fest­ werden sollen. Aber durch einen
einkommen in Kraft, mit dem Polizei und anderen Sicherheits­ im August 2015 noch einmal gehalten werden. Zudem muss Witz der Geschichte ist diese
erreicht werden sollte, dass behörden Zugang zu den Daten – allerdings war Dublin III zu die Rückschiebung innerhalb Verordnung blockiert: Weil sich
jeder Asylbewerber nur in einem gewährt. Da die Zuständigkeit diesem Zeitpunkt schon faktisch von drei Monaten nach Ankunft die »Nationen« über die Vertei­
der Vertragsstaaten einen der Erstaufnahmeländer bestä­ außer Kraft gesetzt. erfolgen. Deshalb konnte in lungsquoten nicht einig werden
Antrag auf Asyl stellen konnte. tigt wurde, schoben die nörd- Die Migration auf der Bal­ Deutschland die angestrebte können, wird auch Dublin IV
Der Staat, in dem der Asylbe­ lichen Länder alle Verant­ kanroute setzte alle Dublin Ver- Zahl von mehr als 500.000  Ab- nicht verabschiedet. Weiter so.
werber nachweislich zuerst ein­ wortung bezüglich der Regis­ ordnungen außer Kraft. Zunächst schiebungen im Jahr 2017 nicht Der Super-Kapitalist Soros
gereist war, sollte den Antrag trierung und Erstaufnahme auf nur in Bezug auf die Syrer_ eingehalten werden. hat schon vor 2 Jahren einen
bearbeiten. die südlichen EU-Staaten ab. in­nen  machte Deutschland, als Dank dieser Einschränkun­ Vorschlag gemacht, wie die EU
Allerdings hielten sich die Deutschland lehnte noch 2013 viele tausend Migrant_innen gen können sich zur Zeit sehr aus dieser Situation herauskom­
Mi­grant_innen nicht an diese die Einführung eines Solida­ pro Tag eintrafen, von seinem viele Migrant_innen der Dub- men könnte: die EU zieht die
Regelung, sondern reisten dort­ ritätsmechanismus mit einigem »Selbsteintrittsrecht nach lin-Abschiebung entziehen – ein Asylverfahren an sich und stat­
hin, wo sie sich Unterstützung Zynismus ab. Italien und Grie­ Art. 17« der Dublin III Verord- Feld der Auseinandersetzungen, tet jede Person, die sich um
von Verwandten oder Freund_in- chenland reagierten, indem nung Gebrauch und kündigte an, auf dem sie im Moment die  Ober­ Asyl bewirbt, mit einem finanzi­
nen erhofften oder Möglich­ sie die Registrierung eher lax die Asylanträge selbst zu bear­ hand haben. Das Innenminis­ ellen Einstand aus. Dafür könnte
keiten für ein besseres Leben handhabten, so dass zahlreiche beiten. Aber es kamen ja auch terium und andere Gegner der ein EU-Fonds aufgelegt werden.
sahen. Die Dublin II Verordnung Migrant_innen die innereuro­ Menschen aus Afghanistan, Irak Migration versuchen, diesen Auch der von Gesine Schwan
der EU, die im März 2003 in Kraft päischen Grenzen ohne Regis­trie­ und viele andere. Je besser die Zuständen durch Finanzierung ausgearbeitete Vorschlag zielt
trat, hatte deshalb  wesent­ rung überqueren konnten. Als Hotspots in Griechenland und von Hotspots und Beschleunigung in diese Richtung. Plötzlich
lich  die Datenbank EURODAC zum ein Jahr später die Zahl der Italien funktionierten, desto der Prozeduren in Italien und würden sich auch Ungarn und
Inhalt: die Abnahme von Finger­ Migrant_innen in Deutschland häufiger kamen auch Migrant_in- Griechenland entgegenzuwirken Polen um die Aufnahme Asyl­
abdrücken im Land der ersten deutlich zunahm, protestierte nen, die trotz vieler Wider­ – und indem man »Dublin-Fälle« suchen­der reißen …
Einreise. der deutsche Innenminister stände in EURODAC erfasst w­a- in den Erstaufnahmelagern
Die Dublin III Verordnung und erhob Forderungen nach euro­ ren. Aber das Dublin-Verfahren zurückhält.
trat im Januar 2014 in Kraft. päischen Standards bezüglich für die »Einleitung der Rück­ Längst steht eine Dublin IV
Das EURODAC-System sollte nun, Unterbringung, Anerkennung und führung« dauert oft mehrere Verordnung in der Pipeline, mit
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March
of Hope

Immer mehr Menschen sammeln sich am Bahnhof Keleti in Budapest,


um Richtung Österreich weiterzureisen. Ende August 2015, Budapest, HUN

»We don’t have weapons


– just our legs«
Ende August 2015 wurden in Österreich 71 Menschen tot in »Sein oder Nichtsein, das ist die Frage.
»Wir sind erschöpft,
einem Kühllaster gefunden. Diese Tragödie zum Vorwand Wir werden sein.« aber froh.
nehmend, verstärkten Deutschland und Österreich Anfang Anstatt abzuwarten nahmen die am Bahnhof aufgehaltenen Entscheidend ist,
September ihre Bemühungen, die Durchreise der Menschen Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand. Am 4. Septem- dass wir auf dem
zu stoppen und das Dublin-System wieder geltend zu ber 2015 beschlossen sie, sich zu Tausenden zu Fuß über die Weg nach Österreich
machen. Autobahn auf den Weg in Richtung Österreich und Deutsch- und Deutschland
An den Budapester Bahnhöfen begann die Polizei mit land zu machen. sind. Egal wie lange
Racial Profiling, um Flüchtenden den Zugang zu den Auf der Strecke reichten Menschen in Solidarität es dauern wird.
Zügen zu verwehren. Das Schengener Abkommen als Grund- Wasser und Essen. Der March of Hope wurde von der inter­ Wir sind okay.«
pfeiler der Europäischen Union wurde damit ausgehebelt. nationalen Presse begleitet: Bilder von Flüchtenden, denen Eine junge Frau beim March of Hope.
Budapest, Ungarn, September 2015
Immer mehr Menschen sammelten sich am Bahnhof Keleti. die EU jegliche Unterstützung verweigerte, gingen um
Geflüchtete und Freiwillige organisierten das Nötigste wie die Welt. Aber auch Bilder des Aufbruchs verbreiteten sich
medizinische Versorgung und Nahrung selbst. Tausende kam­ wie ein Lauffeuer und ließen die Hoffnung auf eine andere,
pierten in den Unterführungen des Bahnhofs. An die Wände auf eine solidarische Gesellschaft aufkeimen.
schrieben sie: »Huriya – Azadi – Freedom«. Durch den Druck sahen sich Deutschland und Öster­
reich gezwungen, die Grenzen für die Menschen zu öffnen.
Ungarn stellte Busse bereit, welche die Menschen direkt
an die österreichische Grenze brachten. Dort stiegen sie in
Züge nach Deutschland. Öffentlich sichtbar lag das Dublin-
System am Boden: In wenigen Tagen erreichten über 10.000
Menschen Österreich und Deutschland.

Fortsetzung von Seite 2 auf Jahre hinaus nicht möglich und Griechenland: Eine Politik des Charity-System. Dadurch entstand organisierten etwa 1.000 Migrant_innen
ihren Kindern drohte das Schicksal kon­trollierten Chaos das Bild einer krisengeschüttelten eine Protestaktion in Idomeni. Mehr und
Kooperation der griechischen Regierung einer verlorenen Generation. Die von Die Gruppe Clandestina aus Thessalo- Gesellschaft, die sich dennoch mehr Menschen saßen in Idomeni fest.
mit Frontex nicht verlängert wurde. Die der UN beschlossene Kürzung der Le- niki hat die griechische Migrationspoli- der Leidenden annahm ... Die Toten Sie blockierten fast zwei Tage lang die
türkischen Schlauchbootagenten re- bensmittelrationen in den Lagern rund tik als »Politik des kontrollierten Chaos« in der Ägäis und die extremen Bahnstrecke zwischen Thessaloniki und
agierten unmittelbar. Die Passage über um Syrien um 40 % sowie zunehmende charakterisiert. Im Zusammenhang Gefahren für die Migrant_innen auf Belgrad, aber ihr Protest drang nicht an
die Ägäis wurde machbar, auch für Fami- Feindseligkeiten gegenüber den syri- mit der Finanzkrise und der rapiden der Passage wurden bagatellisiert, die Öffentlichkeit: keine Berichte in den
lien, sogar für Alte, für teuer Geld. Wie schen Flüchtigen in den Nachbarländern Entwertung der griechischen Bevölke- um zu betonen, dass Griechenland Medien, kein Kommentar einer Partei.
viele Menschen gestorben sind, weil sie verschlechterten ihre Situation drama- rung ging es darum, die Durchreise der die ganze Last Europas zu tragen Diese unsichtbaren Leute sollten das
auf Schlauchbooten die Ägäis überque- tisch. Auf der Haben-Seite stand indes Migrant_innen rasch und wenn möglich habe.« Land so unsichtbar verlassen, wie sie
ren mussten statt auf Fähren, profitabel zu organisieren und zu ver- eingereist waren.
die täglich die griechischen Der wesentliche Grund für den plötz­ hindern, dass sie sich in Griechenland Hinter dieser Taktik stand kein Master- Auf Dauer ließ sich die Situation
Inseln ansteuern, zu denen lichen Anstieg der Passagen über die ähnlich wie im Nachbarland Türkei auf plan, sondern die Kunst und Technik der allerdings nicht kaschieren. Im Sommer
sie aber keinen Zugang ha- Dauer einrichteten. Dabei bediente sich Improvisation. der Migration waren die Migrant_innen,
Ägäis war, dass zahllose Menschen
ben, und warum sie mehr als die Koalition aus Syriza und ANEL der Im ersten Halbjahr 2015 reisten die ihr Leben für eine bessere Zukunft
1.000 € für die Überfahrt in erkennen mussten, dass sich ihre deso­ folgenden Mittel: 70.000 Migrant_innen durch Griechen- einsetzten und ihr Right to Move als
einem überfüllten Gummi- late Lage auf absehbare Zeit nicht • einer links und humanitär daher- land, Hunderte sammelten sich in den selbstverständliches Recht eines jeden
boot bezahlen mussten statt ändern würde. kommenden Rhetorik, Feldern um Idomeni und warteten auf Menschen präsentierten und durchsetz-
20,00 € für die Fähre, steht • einer bestmöglichen Nutzung des eine Gelegenheit, die griechisch-ma- ten, schon allein aufgrund ihrer großen
auf einem anderen Blatt. immer noch das Selbstbewusstsein ei- Wirtschaftsfaktors der Transit- zedonische Grenze zu passieren. Noch Zahl im Vorteil. In den folgenden Wo-
Der wesentliche Grund für den ner Bevölkerung, die das Assad-Regime migration und wurden sie von den Medien kaum zur chen landeten 50.000 Migrant_innen
plötzlichen Anstieg der Passagen über her­ausgefordert hatte und das Recht der • dem Narrativ, selbst Opfer der Kenntnis genommen. auf den griechischen Inseln.

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die Ägäis aber war, dass zahllose Men- Arabellion auf ihrer Seite wusste. In der europäischen Politik zu sein: »Die »Hier brauchst Du wieder Schlep-
schen, die in den Nachbarländern Sy- Mikroökonomie der Abwägungen, die in wahren humanitären Motive vieler per«, sagt ein Flüchtling, »damit Du von domeni – Gevgelija
riens auf ein Ende des Kriegs gewartet dem Entschluss zum Aufbruch münde- Menschen im ganzen Land, die Griechenland rüber nach Mazedonien Flüchtlinge aus Afrika und den
hatten, im Jahre V der Arabellion er- ten, spielte die Möglichkeit, leichter und den Migrant_innen helfen wollten kommst – ohne Schlepper hast Du keine Krisengebieten im Nahen Osten
kennen mussten, dass sich ihre deso- einigermaßen sicher über die Ägäis zu (eine wirkliche soziale Bewegung, Chance.« versuchen auf vielen Wegen, nach
late Lage auf absehbare Zeit nicht än- gelangen, eine wichtige, aber nicht die mit vielen tausend Beteiligten) wur- Am 4./5. Juli fand das Referendum Europa zu kommen. Eine Route führt
dern würde. Eine Rückkehr war wohl allein ausschlaggebende Rolle. den usurpiert von einem bezahlten zur EU statt. An diesem Wochenende 250 Kilometer durch die Berge von
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»Deutschland ist ein starkes Land.


Das Motiv, mit dem wir an diese Dinge
herangehen, muss sein: Wir haben
so vieles geschafft – wir schaffen
das! Wir schaffen das, und dort,
wo uns etwas im Wege steht, muss es
über­wunden werden.«
Angela Merkel, Bundespressekonferenz, 31. August 2015

Der March of hope auf dem Weg zur


ungarisch-österreichischen Grenze,
4. September 2015, HUN
»Wie wir willkommen
geheißen wurden, war
wunderbar. Das muss
jetzt in den Asyl-
verfahren, die
wir  durch­laufen
müssen, weiter­
geführt werden. Ihr
steht für Menschen-
rechte, oder?«
Geflüchtete Person in einem Erstauf­nahme­
lager in Deutschland, August 2015

Ende Februar 2016,


Idomeni, GR

»Mama Merkel«?
Politische Entscheidungen unter Druck
Racial Profiling Der Umgang mit Migration wird im Sommer 2015 in Deutsch­ Rechte für alle. Die Perspektiven der Geflüchteten selber
Rassistische Praxis von Polizei- land zum dominanten politischen Thema. Die Gesellschaft finden in diesem polarisierten Streit wenig Beachtung.
und Sicherheitsbehörden, die polarisiert sich und streitet über die Zukunft. Die Bundes­ Während die Kommunen Überforderung und Krise
Personen jenseits konkreter Ver­-
dachtsmomente, lediglich auf
regierung und Angela Merkel werden dabei sowohl von einer inszenieren, nehmen Ehrenamtliche die Situation in die Hand
Grund von äußeren Merkmalen und erstarkten Rechten als auch von einer sich formierenden  und bauen mit großem Engagement Strukturen auf, die
darauf beruhenden Stereotypi­ Will­kommenskultur vor sich her getrieben. der Staat systematisch verweigert. Die Bundesregierung nutzt
sierungen ins Visier nimmt.
Rechte Parteien, wie die AfD, erringen Wahlerfolge das Engagement der Ehrenamtlichen und instrumenta­
Schengener Abkommen und jeden Montag ziehen Rechtskonservative und Neonazis lisiert diese, um das deutsche Image glänzen zu lassen.
gemeinsam als Patriotische Europäer gegen die Islamisierung Die Willkommenskultur bekommt jedoch eine Eigen-
Mit den Schengener Abkommen
sollten Grenz­kontrollen in des Abendlandes (PEGIDA) durch die Straßen. In dieser rechten dynamik. Tausende Menschen heißen die Ankommenden
Europa, innerhalb des Schen- Stimmungsmache kommt es zu immer mehr tätlichen An- nach dem March of Hope willkommen. Sie sind bewegt von
gen-Raums, abgeschafft sein und griffen und Nazis verüben Brandanschläge auf Unterkünfte. den Bildern und der Aufbruchsstimmung und ein neues,
an die damit neu entstandene
Europäische Außengrenze ver­
Von Politiker_innen aller Colour wird dieser sich solidarisches Europa scheint möglich.
legt werden. Innerhalb des formierende rechte Angriff jedoch verharmlost. Es ist die Zivil­
Schengen-Raums finden dennoch gesellschaft, die immer wieder gegen Rassismus und Nazis »Also jetzt wollen
zeitweilig Grenzkontrollen
auf die Straße geht und Willkommensinitiativen gründet. Mit wir Hilfe von dem
statt, die sich oft des Racial
Profilings bedienen. Merkels berühmt gewordenen Worten »Wir schaffen das« Superland.«
überblendet sie das staatlichen Versagen und inszeniert sich Person aus Afghanistan,
als Fürsprecherin des Refugees Welcome. Damit gemeint sind die in Belgrad festsitzt,
Serbien, Mai 2017
aber nicht immer ein bedingungsloses Bleiberecht und gleiche

Griechenland, Mazedonien und Ser- sind Warnschüsse von mazedonischen vor allem dem Gesetz der großen Zahl über Facebook organisiert hatten und in es sich um Reflexe vorauseilenden Ge-
bien – ein Gewaltmarsch. Die tagelange Grenzpolizisten. Jede Nacht nehmen zu verdanken. Die mazedonischen Ge- Gevgelija sowie auf dem Grenzbahnhof horsams seitens der rechtsnationalen
Wanderung ist kraftraubend, aber auch mazedonische Grenzer etliche Flücht- fängnisse waren voll. Die Regierung ver- Tabanovce bei der Ausreise nach Serbien Regierung und um die Angst vor Sto-
voller Enttäuschungen und Gefahren. linge fest und schicken sie dann zurück fügte, analog zum Vorgehen Serbiens, Lunchpakete verteilten. Drei Züge täg- ckungen im Vorfeld der ungarischen
Viele Flüchtlinge scheitern, dennoch über die Grenze nach Griechenland. dass den Migrant_innen Aufenthaltstitel lich mit einer Kapazität von 450 Plätzen Grenzschließungen.
entscheiden sich nach Informationen [Deutschlandfunk] für die Durchreise auszustellen waren. wurden zur Verfügung gestellt. Bilder Vor allem aber landeten inzwischen
der EU -Grenzschutzagentur Frontex Deren Zahl stieg bis zum Juli auf vom »Expresszug der Verzweifelten« immer mehr Geflüchtete auf den griechi-
immer mehr für diesen Weg. Im Jahr Im Sommer der Migration waren die 2.000 täglich. Die Grenzpolizisten von Gevgelija nach Tabanovce hat Die schen Inseln. Schon bald übertraf ihre
2014 registrierten sie 43.000 Men- Migrant_innen schon allein auf­ wurden buchstäblich an die Seite ge- Zeit in einer Fotoserie festgehalten. Bis Zahl die Zahl derer, die sich von Athen
schen, die auf dieser Route unterwegs drängt, für einige Tage bevölkerten Mitte August spielte sich an der Grenze aus auf den Weg nach Idomeni mach-
grund ihrer großen Zahl im Vorteil.
waren – doppelt so viele wie im Jahr Tausende die mazedonischen Schie- zwischen Idomeni und Gevgelija ein ge- ten. Am 19. August 2015 beschloss die
davor. Allein in den ersten zwei Mona- nen und Straßen. wisses Miteinander zwischen Migrant_ griechische Regierung deshalb, die
ten dieses Jahres kamen so schon 22.000 In Mazedonien ging es zu Fuß oder mit Die ohnehin wenigen mazedonischen Po- innen, mazedonischer Grenzpolizei und Migrant_innen direkt mit der Fähre von
Flüchtlinge nach Ungarn. [spiegel.de] dem Fahrrad entlang der Bahnschienen lizisten hätten jeden Versuch aufgegeben, helfenden Volunteers ein und die Schlag- den Inseln zum Hafen von Thessaloniki
Im Juni 2015 waren es bereits zwi- oder auch mit dem Taxi weiter bis an die die anstürmenden Massen zu kontrollie- zeilen machten andere Orte. zu bringen. Damit akzeptierte sie indi-
schen 100 und 200 junge Männer täg- Grenze nach Serbien. Auf der Strecke ren oder wenigstens in geordnete Bahnen Aber Mazedonien ist ein kleines rekt, dass diese inzwischen massenhaft
lich, die durch das griechische Grenz- kam es zu einer Reihe tödlicher Unfälle. zu lenken, so eine serbische Zeitung. und armes Land, politisch instabil, von durch Mazedonien geschleust wurden.
dorf Idomeni wanderten und versuchten, Ende April war eine Gruppe von einem Eigentlich muss sich jeder Flücht- den Nachbarn Griechenland und Ser- Darauf reagierte die mazedonische Re-
über die Grenze nach Mazedonien zu Zug erfasst worden, 14 Menschen waren ling registrieren lassen. Die Migranten bien beständig gegängelt, mit 2  Milli- gierung an jenem 20. August 2015: sie
gelangen. dabei gestorben. erhalten dann eine Durchreisebewilli- onen Einwohnern und mehr als 30 % verkündete die Schließung der Grenze
Der kleine Wald gleich hinter dem gung, die für 72 Stunden gültig ist. Doch Arbeitslosigkeit. Die Außenpolitik und erklärte den Ausnahmezustand. Der
Dorf zieht sich hinüber bis ins Nach- 18. Juni: Mazedonien öffnet die ebenso wie im ‚Aufnahmezentrum‘ im bewegt sich zwischen Opportunismus »verstärkte Druck« auf die südliche Lan-
barland Mazedonien. In diesem Wald Grenze südserbischen Preševo warten die meisten und Angst. Noch weniger als Bulgarien desgrenze mache dies erforderlich. Man
harren die Flüchtlinge aus, bis es dunkel Dass das Katz- und Maus-Spiel an der Asylbewerber auf ihrem Weg nach West- ist Mazedonien ein Land, in dem die habe den Ausnahmezustand ausgerufen,
wird, wollen dann rüber über die Grenze. griechisch-mazedonischen Grenze und europa und vor allem nach Deutschland Migrant_innen länger bleiben können um zusätzliche Soldaten entsenden zu
»Nachts frieren wir. Wir haben keine De- die Präsenz einiger Schlepperbanden, nicht darauf und reisen ohne Papiere wei- oder wollen. Diese Faktoren müssen in können.
cken, wir haben so viele Probleme«, sagt die versuchten, aus der Schutzlosigkeit ter. [Süddeutsche Zeitung] Betracht gezogen werden, wenn es da- Mit Tränengas und Blendgrana-
Moez, ein Flüchtling aus Afghanistan. der Migrant_innen Profit zu schlagen, Hilfe für die Migrant_innen leis- rum geht, die Ereignisse vom 20. August ten hatte die mazedonische Polizei am
Manchmal sind Schüsse zu hören. Es nach dem 18. Juni ein Ende fanden, war teten in erster Linie Freiwillige, die sich zu reflektieren. Wahrscheinlich handelte Freitag versucht, Tausende Flüchtlinge
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The Road »Die Arbeit verweist auf die Wege, Straßen und
Mayada Alkayal Kreuzungen, auf denen wir hierher gekommen
sind. Manchmal verlieren sich diese in der Land-
Acryl und Tusche, verschiedene Papiere schaft, im Nirgendwo. Für die Bilder habe ich Seiten
6 Collagen, jeweils ca. 21 x 30 cm aus meinem Notizbuch, das ich auf der Reise mit
2017 mir hatte, verwendet. Es ist mir wichtig, Teile dieser
Notizen in meinen Bildern sichtbar zu machen.«

von der Einreise aus Griechenland ab- mazedonischen Angaben kommen die nicht über Tage hinweg unter den Augen Letzteres und wurde damit gewisser- es die Tatsache, dass schlechte Nachrich-
zuhalten. Bereitschaftspolizisten rollten meisten Flüchtlinge aus Syrien, es folgen der Weltpresse auf Familien einprügeln maßen zum Trendsetter für eine Reihe ten ausblieben. Die serbische Regierung
Stacheldraht aus und postierten sich Afghanistan und der Irak als Herkunfts- konnte. Griechenland, das ja selbst am weiterer Staaten auf der Balkanroute. wähnte sich bereits im Juli vor der Auf-
mit gepanzerten Fahrzeugen rund um länder. Im Verlauf des Wochenendes Die folgenden acht gabe, eine halbe Million Migrant_innen
den Grenzübergang beim Ort Gevgelija. lockerte die Polizei die Sperren und ließ Hunderte von Geflüchteten hatten die Wochen vom 23. August bis in Lagern aufnehmen zu müssen und
Mindestens vier Menschen wurden nach Flüchtlinge in Zügen zur serbischen Grenzbefestigungen überrannt und die zum 20. November waren in meinte, auch das wäre zu schaffen. Bei
Berichten von Augenzeugen durch den Grenze fahren. Mazedonien ist so wenig Gevgelija Wochen einer be- all diesem Merkel-konformen Optimis-
mazedonische Grenzpolizei musste
Einsatz der Blendgranaten verletzt. Zur wie Serbien das Zielland dieser Men- schleunigten Routine. Tau- mus stand im Hintergrund allerdings
Verstärkung schickte die Regierung auch schen. Beides sind nur Transitländer, die einsehen, dass sie nicht über Tage hin­ sende wurden täglich in die stets die bange Frage, wie beständig die-
Soldaten. [Der Standard] sie so schnell wie möglich durchqueren weg unter den Augen der Weltpresse Durchgangslager geführt, in ser Optimismus sein würde. Aleksandar
Die Schließung der Grenze konnte wollen. Anders als Serbien, das schnell auf Familien einprügeln konnte. die Züge gestopft und weiter Vučić, Ministerpräsident aus der serbi-
nur drei Tage lang aufrechterhalten wer- eine minimale Infrastruktur auf die Beine nach Serbien durchgereicht. schen Fortschrittspartei, war früher ein
den. Der Druck auf die Absperrungen stellte, reagiert der mazedonische Staat Export des sozialen Sprengstoffs inter­ Der mazedonische Anschlag auf das extremer Nationalist, der sich nach ei-
wurde zu groß und der Einsatz von lethargisch auf die Notlage. Erst jetzt ha- essiert war, trug seinen Teil dazu bei, Right to Move vom 20. August wurde ner 180-Grad-Wende zu allen Projekten
Schusswaffen hätte unabsehbare Folgen ben die Behörden begonnen, bei Gevgelija indem die Menschen tagtäglich in einer abgewehrt und überwunden. War es der EU bekannt hat (mit Ausnahme des
gehabt. Die NZZ schrieb: ein Empfangszentrum zu bauen. Kette von Bussen direkt an die Grenze auch die Rache des mazedonischen Russland-Embargos). Das Land hängt
des ungeliebten Nachbarn transportiert Grenzschutzes, dass dieses Land sich am Tropf westlicher Kredite.
Chaotische Szenen 23. August: Durchbruch in wurden. Ein weiterer Faktor, der die ma- seit dem 18. November dafür hergab, In der serbischen Bevölkerung ist
Darauf kam es in der Nähe des Grenz­ Gevgelija zedonische Regierung zur Rücknahme die Interessen der EU -Politik in einem aufgrund der eigenen Erfahrungen nach
ortes Gevgelija zu chaotischen Szenen. Der Plan der Regierung, in einer Art der Grenzschließung bewegte, war die zweiten Anlauf umzusetzen und vor der dem Jugoslawienkrieg eine gewisse Em-
Flüchtlingsgruppen, die bis zu drei Tage offen ausgetragener Feldschlacht die vergleichsweise offene Politik der serbi- Grenze neues Elend und einen neuen pathie mit den Migrant_innen abrufbar,
ohne nennenswerte Versorgung im Grenz- Kontrolle über die Grenze zurückzu- schen Regierung. Aufstand zu provozieren, indem es die wie die WOZ Ende August aus Belgrad
streifen ausgeharrt hatten, versuchten gewinnen, scheiterte kläglich, und der Die mazedonische Regierung hatte Migrant_innen nach nationaler Zuge- zu berichten wusste:
Polizeikordons zu durchbrechen. Die 23. August markiert einen der großen fortan die Wahl: dem Beispiel Ungarns hörigkeit selektierte? Bemerkenswert ist, wie gelassen die

W
Polizei setzte Tränengas ein und feuerte Durchbrüche auf der Balkanroute. Hun- folgen und einen massiven Zaun er- serbische Bevölkerung auf den Flücht-
Blendgranaten in die Menge. Lokale Me- derte von Geflüchteten hatten die Grenz- richten oder aber den Transit durch das elcome to Serbia lingsansturm reagiert. In Belgrad etwa
dien berichteten von Verletzten. Etliche befestigungen immer wieder überrannt eigene Territorium weiterhin zu tolerie- Wenn es über Serbien im Som- halten sich seit Juni täglich gut tausend
der Flüchtlinge seien dehydriert gewesen. und die mazedonische Grenzpolizei ren bzw. diesen sogar noch reibungslo- mer der Migration zunächst Flüchtlinge in einem Park mitten in der
Später setzte heftiger Regen ein. Nach musste schließlich einsehen, dass sie ser zu gestalten. Man entschied sich für Gutes zu berichten gab, so war Stadt auf. Sie liegen auf Decken oder
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Ein Korridor
nach Europa?

»Als ich entschieden habe zu


kommen, wusste ich, dass
es schwierig sein wird. Aber
ich habe es entschieden.«
Maryam berichtet über ihren Weg über die Balkanroute.
Halle, Deutschland, April 2017

Tagelanges Warten auf einen Platz im völlig


überfüllten Zug, Nach dem March of Hope kam es Mitte September 2015 zu Yallah!? Die Grenzen sind offen
19. September 2015, Bahnhof Tovarnik, HRV
weiteren Auseinandersetzungen in Röszke, als Ungarn ver-
suchte, die Grenze zu Serbien für den Transit zu schließen. Der entstandene Korridor bot für viele die Möglichkeit, Kern­
Daraufhin verschob sich die Route und verlief durch Kroatien. europa in nur wenigen Tagen zu erreichen. Die Flucht durch
Als Slowenien Ende Oktober wieder kurzzeitig versuchte Europa war nun für mehr Menschen möglich geworden:
zur alten Ordnung der Internierung und Registrierung zurück- Nach und nach kamen mehr Personen in Europa an, die nicht
zukehren, befreiten sich am 21. Oktober 2015 Menschen gut zu Fuß waren. So machten sich vermehrt Familien mit
aus einem Lager bei Brežice selbst. Kindern, Menschen in Rollstühlen oder auch ältere Personen
Der March of Hope, die Ausbrüche aus Lagern und auf den Weg in Richtung Europa.
die zahlreichen Auseinandersetzungen an Grenzzäunen Dieser kurzzeitig vorhandene Korridor zeigt, dass eine
hatten gezeigt, dass Zäune und Polizeikräfte nicht ausreichen, andere Politik in Europa möglich ist, wenn der Wille da ist.
um Personen auf ihren Wegen zu stoppen. Anstatt die Men- Zu Zeiten des offenen Korridors kam das Schleppergeschäft
schen weiterhin mit Gewalt am Grenzübertritt zu hindern quasi zum Erliegen und blühte erst mit der Grenzschließung
und dadurch Bilder zu produzieren, die das eigene Image wieder auf.
beschädigten, setzten die Transitstaaten nun auf die geord-
nete und kontrollierte Durchreise der Menschen.

Pappkartons, schlafen oder dösen, bis war und sich der flüchtlingsfreundliche Erfahrung in der Organisation von Mas- sich Dolmetscher_innen des UNHCR vermüllten umgitterten Zugängen zum
es mit dem Bus oder Zug weiter an die Kurs nicht mehr auszahlte, kaum auf sakern hat als in der Versorgung von an der Sprachselektion beteiligten. Zu- Camp. Die Trink- und Essensversorgung
ungarische Grenze geht. Am Anfang nennenswerten Widerstand. Flüchtigen, kaum zu verübeln. Als die dem befanden sich die Einrichtungen sowie auch die Verteilung von Klamotten
wurde der wilde Rastplatz einfach ge- Der Grenzort Preševo war für die deutschen Grenzbeamten ihr Klagelied von UNHCR und NGO s regelmäßig und Decken lagen fast komplett bei uns.
duldet. Doch zunehmend vermüllte die Migrant_innen die erste Anlaufstelle von der Überforderung anstimmten, hinter den Polizeiabsperrungen, wo die Es ist der kranke Wahnsinn! Wir finan-
Gegend und es stank, weil die Flüchtlinge in Serbien. Hier hatte der UNHCR ein hatte die serbische Polizei, über jeden Migrant_innen das Schlimmste bereits zierten und versorgten Tag und Nacht mit
keinen Ort hatten, um ihre Notdurft zu Auffangbüro errichtet und die Armee Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Tuns hinter sich hatten. Das deckt sich mit einer selbstorganisierten Küchencrew
verrichten. Daraufhin begannen sich Zelte aufgestellt – wenn auch niemals erhaben, bereits viele Wochen lang hun- Berichten von der Insel Lesbos, wo der und Spendengeldern tausende Menschen,
spontane Bürgerinitiativen um die Men- genug. Hunderte übernachteten täglich derttausende Papiere gestempelt, die nur UNHCR sich zwar an der Registrierung arbeiteten die Nächte durch, haben kaum
schen zu kümmern. Freiwillige verteilten auf freiem Feld oder der Straße. Erst in einen Tag später achtlos weggeworfen der Migrant_innen beteiligte, aber nicht geschlafen und sind mit den vielen Men-
Kleider, Wasser und Hygieneartikel. brütender Hitze und später in Regen wurden. einen einzigen Menschen, nicht ein ein- schen und den Mengen an Essen manch-
Und schließlich schaltete sich auch und Matsch standen sie an, um ziges Kind aus dem Wasser mal nicht hinterher gekommen. Die
die Politik ein. Der Staat werde den sich ein Papier ausfertigen zu las- Es ist der kranke Wahnsinn! Wir finanzier­ gezogen hat. Dass die Ra­ Menschen sind meistens super hungrig
Migrant_innen helfen, kündigte Premier sen, welches zur Durchreise bin- ten und versorgten Tag und Nacht mit tionen des Roten Kreuzes und ausgekühlt aus dem Camp gekom-
Aleksandar Vučić an, als er die Flücht- nen 72 Stunden berechtigte. Die an manchen Tagen noch men und wir fragen uns, was die ganzen
einer selbstorganisierten Küchencrew und
linge im Park persönlich aufsuchte. Sie erste Generation der Migrant_in- unzureichender waren NGO s dort mit den Leuten gemacht ha-
seien willkommen in Serbien. Er werde nen musste sich noch von Preševo Spendengeldern tausende Menschen. als die Rationen der Welt- ben! Wenn überhaupt haben Frauen und
sich an keiner Kampagne beteiligen, die an den Bahnschienen entlang die hungerhilfe in den libane- Kinder Essen bekommen, Männer kamen
gegen Flüchtlinge gerichtet sei. Schließ- 400 km nach Norden durchschlagen. Wenn es an den Verhältnissen in Serbien sischen Lagern, ist mit Überforderung super hungrig aus dem Camp. Die Situa-
lich hätten Serben vor zwanzig Jahren Ab August konnten sie in Bussen nach Kritik zu üben gibt, dann betrifft diese allein nicht zu erklären. tion ist, wie an den anderen Grenzen und
ähnliches Leid erlebt. Norden weiterfahren – mit einem Zwi- Kritik in erster Linie das Personal von Über ihre Erfahrungen mit den Camps auch, unglaublich entwürdigend
Aber es gibt gleichzeitig einen la- schenstopp in Belgrad oder direkt an die UNHCR und den NGO s. Wiederholt ha- Hilfsorganisationen in Preševo berichten und menschenverachtend. Die Leute
tenten anti-muslimischen Rassismus ungarische Grenze. ben Aktivist_innen auf der Route beob- Aktivist_innen, die in den Regennächten werden wie Tiere von einem Gitterblock
in der Bevölkerung, den die Regierung Dass die serbischen Kräfte nicht achtet, dass die Büros des UNHCR dicht des Oktober ihr Möglichstes taten, um in den nächsten getrieben und dürfen das
nicht minder leicht abrufen konnte. So ausreichten, die im Juli anschwellende machten, lange bevor die letzten Busse die Migrant_innen zu unterstützen, be- Gitter nur in seltensten Ausnahmen zum
stieß die Kehrtwende der serbischen Po- Zahl der Migrant_innen menschen- ankamen, dass die Lager des UNHCR vor sich die Situation durch die Ankunft Pinkeln verlassen. [...]
litik, die erst nach den Grenzschließun- würdig zu versorgen, ist einem Land, mit Planen und Matratzen prall gefüllt weiterer Volunteers etwas entspannte: UNHCR und Rotes Kreuz ließen sich
gen auf dem Balkan zum Tragen kam, als das noch immer vom Krieg geschwächt waren, die aber nicht verteilt wurden, Die Menschen saßen und standen nach wie vor kaum blicken, es gab nachts,
das Land zum »Flaschenhals« geworden ist und dessen Militär sicherlich mehr so in Preševo und zuletzt in Idomeni, wo stundenlang uninformiert zwischen den wenn es am Nötigsten gebraucht wurde,
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Ein selbstständiges Verlassen des Durchgangs­


lagers war nicht möglich. Kroatische Behörden
und Polizei kooperierten mit dem UNHCR, um
Gruppen von 50 bis 100 Personen mittels Bussen
an die kroatisch-ungarische Grenze zu bringen.
Oktober 2015, Opatovac, HRV

Ein Soli-Konvoi versucht, die Geflüchteten


mit einer warmen Mahlzeit zu ver­
Eingang zur ungarischen
sorgen. Immer wieder kommt es dabei
Transitzone in Tompa,
zu Behinderungen durch das Militär.
Juni 2016, Tompa, HUN
25. Oktober 2015, Rigonce, SVN

Zwischen Infrastruktur ... ... und Kontrolle


Anstatt die Menschen zu internieren und sie an der Einreise zu Neben NGOs waren auch Polizei und Grenzbeamt_innen in
»Ohne Papiere bist
hindern, was zu ständigen Unruhen, Grenzkämpfen sowie den Transitlagern aktiv und nahmen Registrierungen vor.
du kein Mensch. Frü-
internationaler Kritik führte, schleusten die jeweiligen National­ Je nach Land und Lager unterschieden sich diese. Teils wurden her gab es keine
staaten die Menschen mit staatlichen sowie privaten Zügen Menschen mit Namen und Foto, teils mit Fingerabdrücken Grenze. Alle gingen
und Bussen an die jeweils nächste Landesgrenze. registriert. Im Laufe der Zeit wurden die bürokratischen einfach durch. Jetzt
Entlang der Fluchtroute entstand eine Infrastruktur, Abläufe formalisiert und standardisiert. Ab Januar 2016 wur­ wirst du zurück­
bestehend aus Lagern mit Zelten, Essensversorgung sowie den auf den griechischen Inseln für all diejenigen Transit­ geschickt, wenn du
hygienischer und medizinischer Versorgung. Viele NGOs, papiere ausgestellt, die Deutschland als Zielland angaben. keinen Ausweis hast.
Volunteers und Aktivist_innen halfen entlang der Route aus. Auf diesen Papieren mussten sich die Durchreisenden die Ohne Papiere bist du
Die Menschen konnten mit Bussen, Zügen oder Taxis von passierten Transitlager abstempeln lassen. kein Mensch.«
einem Camp zum nächsten reisen. Die Infrastruktur verhinderte, dass Personengruppen Ein syrischer Journalist berichtet, Idomeni,
Griechenland, Februar 2016
Viele Berichte zeigen allerdings auch, dass die Infra- frei durch das Land reisen konnten. Es war abschätzbar
struktur oft schlecht funktionierte und den Menschen immer und kontrollierbar, wie viele Personen aus welchem Lager
wieder von NGOs das Nötigste vorenthalten wurde. Ein wann und wo ankommen würden. In dem Korridor galt
Großteil der Infrastruktur wurde von Flüchtenden und Volun- ein legaler Ausnahmezustand mit besonderen Regeln. Die
teers selbst organisiert. dort geltenden Rechte waren jedoch unklar.

immer noch nur ein bis zwei Ärzt_innen. misstrauisch, ob es sich erneut um einen nach dem Grenzübertritt routinemäßig Die Fahrer, die auf der Strecke zwischen die das Racial Profiling in den Zügen kri-
Für die wartenden Menschen gab es keine hinterhältigen Trick der Regierung han- von der Polizei aufgegriffen und in Re- Budapest und Passau – sicherlich gegen tisierten und forderten »Let them board
Sitzgelegenheiten und in den kalten Mor- delt, warten viele Flüchtlinge erst ein- gistrierungslagern unter entwürdigen- gutes Geld, etwa 200 € pro Person – den the trains!«. Und sogar UN-Generalse-
genstunden kollabierten die Menschen mal ab. Doch langsam besteigen sie die den Umständen inhaftiert. Diese Politik Transport mit hohem Risiko organisier- kretär Ban Ki Moon forderte sichere Ein-
reihenweise vor Kälte, Erschöpfung und Busse und machen sich wieder auf ten, wurden zu Hunderten reisewege für die Flüchtlinge und setzte
Verzweiflung, wegen Krankheiten, Alter den Weg, an die nächste Grenze. Die Lage spitzte sich zu. Flüchtende bildeten wegen angeblicher Schlep- das Thema auf die Agenda der UN-Voll-
oder Schwangerschaft. Es war nachts so Nach Tagen des Ausharrens sind Gruppen auf dem Bahnhofs­vorplatz, setzten perei angeklagt und in öster- versammlung. An den folgenden Tagen
schwer auszuhalten! In den teilweise sehr sie wieder unterwegs und nach Ta- reichischen und deutschen kam es auf den Autobahnstrecken von
ihre Kinder auf die Schultern, klatschten
kalten Nächten haben wir die Menschen gen brüllender Hitze setzt plötz- Gefängnissen inhaftiert. Ungarn nach Österreich und Deutsch-
soweit es ging mit Decken und heißem lich, als ob auch das Wetter einen rhythmisch in die Hände und forderten die Andererseits wurde die Be- land zu massiven Verkehrskontrollen,
Tee versorgt, wobei wir für jede einzelne Schlussstrich unter diese Woche Möglichkeit zur Weiterreise ein. nutzung der Bahn systema- es bildeten sich Staus von bis zu 50 km
Decke beim UNHCR im Camp fragen der Kämpfe setzen will, leichter tisch unterbunden: täglich Länge.
mussten, der sehr sparsam damit war Regen ein. Im Laufe der Nacht und am der Abschreckung war im Juni, mit we- wurden Migrant_innen mittels Racial Die Tätigkeit der Fahrer kam damit
und zeitweise auch gar nicht anzutreffen darauf folgenden Tag überschreiten mehr nigen hundert Migrant_innen täglich, Profiling (S. 5) von der ungarischen zum Erliegen. Zeitgleich aber erreichte
war. Der UNHCR bunkert die Decken und als 10.000 Flüchtlinge die österreichi- vielleicht noch eine denkbare Option. Als Polizei identifiziert und aus den Zügen die große Gruppe der Migrant_innen,
traute sich tagsüber nur ohne Weste aus sche Grenze. Österreich und Deutschland aber die Zahlen im Juli auf über 1.000 geworfen. die am 23. August den Durchbruch über
dem Camp, »weil sie Angst haben, von hatten sich bereit erklärt, sie einreisen zu und im August auf über 3.000 pro Tag die Grenze nach Mazedonien geschafft
Anwohner_innen verprügelt zu werden«. lassen. Viele weitere machen sich auf den stiegen, reichten die Kapazitäten in den 27. August: 71 Tote im Lastwagen hatte, nun Budapest. Am Bahnhof Keleti

M
Weg. [Kasparek/Speer, March of Hope] Lagern nicht mehr aus. Die Migrant_in- Am 27. August entdeckte die österrei- hatte man eine »Transitzone« eingerich-
arch of Hope Ungarn war nach dem faktischen nen wurden, ähnlich wie schon seit lan- chische Polizei auf einem Parkplatz bei tet, unter freiem Himmel, ohne jegliche
Bahnhof Budapest Keleti, in Ausscheiden Griechenlands aus dem gem in Italien, nach wenigen Tagen frei Wien einen Kühllaster, in dem sie 71 Infrastruktur und ohne Aussicht auf
der Nacht von Freitag, den 4. Dublin-System im Jahre 2011 der erste gelassen und schlugen sich selbständig Tote fand, erstickt in der Enge des La- Weiterreise. Die Polizei hinderte die
auf Samstag, den 5. September Schengen-Staat, den die Migrant_in- durch bis nach Budapest. deraums. Empört über diese Tragödie Migrant_innen nach wie vor, die Züge
2015. Kurz nach Mitternacht. Busse des nen auf der Westbalkanroute erreich- Die beiden großen Bahnhöfe in zeigten sich am lautesten diejenigen Po- nach Österreich und Deutschland zu
öffentlichen Nahverkehrs kommen an, ten. Formal für die Durchführung der Budapest, Keleti und Nyugati, wurden litiker_innen und Medienleute, die darin benutzen. Die Lage spitzte sich zu.
von Ungarns Regierung geschickt, um Asylverfahren zuständig, versuchte die mit jedem Tag mehr zu Drehschreiben einen willkommenen Anlass sahen, die Flüchtende bildeten Gruppen auf dem
die Flüchtlinge, die dort seit rund einer Orbán-Regierung bis in den August hin­ der Migration – ein Markt für die Wei- Straßen endlich für die Flüchtenden zu Bahnhofsvorplatz, setzten ihre Kinder
Woche kampieren, an die ungarisch-ös- ein, deren Zahl durch Abschreckung zu terfahrt per Auto oder Lastwagen nach schließen. Empörung gab es aber auch auf die Schultern, klatschten rhythmisch
terreichische Grenze zu bringen. Noch begrenzen. Die Migrant_innen wurden Österreich und von dort nach Passau. von Seiten ungarischer Aktivist_innen, in die Hände und forderten auf Schildern
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Roma besetzen das Denkmal für die im NS


ermordeten Sinti und Roma Europas
und werden von der Polizei gewaltsam geräumt.
2016, Berlin, DEU

Informelle Siedlung in Vidikovac, Serbien, 2013, SRB

Asylrechtsverschärfungen in Deutschland zwischen


»Aufnahme- und Rückführungseinrichtung«
faktisch ein Abschiebelager,
2016, Bamberg, DEU

Obergrenzen und »Refugees Welcome«


Alle Fotos dieser Seite stammen vom Roma
Antidiscrimination Network.

In Deutschland bewegte sich der öffentliche Fokus immer (Un)sichere Herkunftsländer?


weiter weg von den individuellen Situationen von Menschen Zeitgleich wurden Gruppen per se aus dem »Flüchtlingsrecht«
auf der Flucht und legte sich auf den Streit in der CDU/CSU hinaus definiert: Serbien, Kosovo, Albanien, Montenegro,
um Obergrenzen und auf die inszenierte Überforderung. Bosnien und Herzegowina und Mazedonien wurden als »si­che­
Anstatt eine formelle Obergrenze einzuführen, wurde das ­re Herkunftsländer« klassifiziert. So wird spezifische Ver­fol­
Asylrecht schließlich durch andere Maßnahmen gung insbesondere von Rom_nja geleugnet und Migration aus
eingeschränkt. diesen Staaten illegalisiert. Migration aus wirtschaft­lichen
Gründen wird so an sich Legitimität abgesprochen. Dabei wird
Sortierung von Menschen auch die eigene Verantwortung nach der Bombardierung
Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge sortiert Men- Jugoslawiens geleugnet: Krieg, Armut, Verfolgung und Flucht
schen nach »Herkunft«, »Reiseroute«, »Komplexität des Profils« gehören zusammen.
und »Dublin-Fällen« vor und bietet ihnen anhand dieser Marokko, Algerien und Tunesien ebenfalls als »sicher«
Clusterings von Beginn an unterschiedliche Chancen, Rechte zu erklären, scheiterte im März 2017 zunächst im Bundesrat.
und Zugangsmöglichkeiten in Deutschland.
Die Polarisierung zwischen Refugees Welcome und
Obergrenzen wurde in einen Kompromiss überführt, der eine
nationalstaaatlich-rassistische Gruppensortierung vornimmt.
Den sortierten Gruppen werden unterschiedliche Lebens­
perspektiven bereitgestellt oder Zugänge verwehrt.

und in Sprechchören die Möglichkeit zur und nach Europa zu kommen. Die syri- Wie auch immer: ganz unabhängig da- Ungarn verlassen und kamen ein paar Projekt der Ausgrenzung von sozialen
Weiterreise ein – Szenen, die bei einigen sche Flucht exportiert die Zeichen ihrer von sickerte eine Verlautbarung vom Stunden später in Wien und bald auch Konflikten, der Balance sozialer Degra-
Beobachtern Assoziationen an die An- großen Erhebung: Freiheit und Würde! 25. August aus dem deutschen Bun- in München an. [Kasparek/Speer, March dierungen, das Management der Flüch-
fangszeiten des syrischen Aufstands Ob in Damaskus, Aleppo, Homs oder Bu- desamt für Migration und Flüchtlinge of Hope] tigen und, ja, das Projekt der politischen
weckten: dapest oder Bicske. Die syrische Revolu- (BAMF ) – wie sich später herausstellte, Sind derartige Gerüchte einmal ge- Rationalität selbst nachhaltig in Frage
Haben wir es alle übersehen? Die tion ist im Land vielleicht besiegt, aber handelte es sich nur um eine umstrittene weckt und durch erkennbare Umstände gestellt wurde, so tiefgreifend wie zuletzt
Bilder und Filme der syrischen Flücht- sie ist noch lange nicht tot. Sie geht nurinterne Richtlinie ohne rechtliche Bin- bestätigt, gibt es ohne Gewalt kein Zu- im Jugoslawienkrieg.
linge vom Bahnhof Keleti kamen mir woanders weiter – und kann so auch wie- dung – dass Deutschland die Rücküber- rück. Wahrscheinlich setzten
immer so bekannt vor. Wie sie dort stan- der zurückkehren … [Martin Glasenapp, stellung von syrischen Flüchtigen bis das deutsche und österreichische Die Bilder des Marsches werden in
den, wie sie demonstrierten und zusam- medico international] auf Weiteres aussetzen werde. Soziale Innenministerium, von Amts die Ikonographie des Sommers
menstehen, das rhythmische Klatschen, Bewegungen organisieren sich in wegen auf einen eher repressiven der Migration eingehen, eine lange
Arm in Arm eine Welle machen, die selbst Menschen in verzweifelten Gravitationsfeldern der Hoffnung Kurs festgelegt, Ungarn unter
Situationen greifen nach jedem Reihe von Menschen, die sich nach
gemalten Schilder und Zeichnungen, und Aspirationen und Menschen Druck oder vielleicht nahm sich
wie die Fahne getragen wird … All das Strohhalm, der sie retten könnte. in verzweifelten Situationen grei- die ungarische Regierung selbst einer Woche des Ausharrens wieder
haben wir zu Beginn des syrischen Auf- fen nach jedem Strohhalm, der in die Pflicht, Härte zu zeigen. die eigene Mobilität aneigneten.
stands in Damaskus, in Daraa, in Homs Über die diplomatischen Aktivitäten, sie retten könnte. Die Nachricht aus Jedenfalls wurde der Zugang zu
oder auch in Kobane gesehen. Es waren die sich zwischen Deutschland, Ös- dem BAMF verbreitete sich unter den den Zügen auf dem Bahnhof Keleti für Das gespannte Abwarten hielt bis zu je-
Zeichen der Demokratie, der Würde und terreich und Ungarn in diesen heißen Migrant_innen in Windeseile. Spätes- die Migrant_innen bereits am nächs- nem Donnerstag, dem 3. September, an.
des Freiheitswillen der Syrer_innen, Tagen abspielten, wissen wir nur weni- tens jetzt wurde Deutschland zum Ziel- ten Tag wieder geschlossen, obwohl An diesem Tag wurden alle interna-
die aufbegehrten gegen die Gewalt des ges. Deutschland und Österreich waren land Nummer 1 in Europa. sich noch immer mindestens 3.000 tionalen Zugverbindungen ausgesetzt,
Regimes. Dann begann die Militarisie- einerseits daran interessiert, die Situa- Zudem sprach sich am 31. August Migrant_innen am Bahnhof aufhielten, den Flüchtlingen wurde jedoch mitge-
rung der Revolution, der zivile Protest tion vor dem Keleti Bahnhof zu deeska- vor dem Bahnhof Keleti das Gerücht und es wurden täglich mehr. teilt, dass sie mit Regionalzügen an die
verschwand und wurde zerrieben von lieren. Die Bilder von der griechisch- herum, dass Deutschland die in Ungarn österreichische Grenze fahren könnten.
Fassbomben und Häuserkämpfen. Aber maze­donischen Grenze und die Toten gestrandeten Flüchtlinge per Sonderzug 3. September: March of Hope Doch der erste Zug mit rund 600 Flücht-
die Bilder und Zeichen aus Budapest im Kühllaster hatten weltweit schon zu abholen würde, während die ungarische Inzwischen schreiben wir Donnerstag, lingen wurde 35 km außerhalb von
beweisen: Alles ist immer noch da, und viel Aufmerksamkeit erregt. Man wollte Polizei sich komplett vom Bahnhof zu- den 3. September, und wir nähern uns Budapest in einem Ort namens Bicske
das, was im Land selbst nicht mehr geht, Spannung abbauen, zugleich aber rückzog. Ein Run auf die Züge (#trainof- dem Höhepunkt des Kampfes um das aufgehalten und von Polizei umstellt.
wird mitgetragen von jenen, die keine Orbán mit seinem rechtslastigen Eigen- hope) setzte ein, im Laufe des Tages Right to Move im Jahre 2015. Es sind nur Dort befindet sich eines der ungarischen
Möglichkeit mehr sehen außer zu gehen sinn nach Möglichkeit auflaufen lassen. konnten mehrere Tausend Flüchtlinge wenige Tage, in denen das europäische Flüchtlingslager, in welches die Polizei die
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»Es gibt andere Nationalitäten, die nicht


dieselbe Medien­aufmerksamkeit wie Syrer_innen
und Iraker_innen bekommen. Warum bekommen wir
unsere Verfahren nicht auf die gleiche Art und
Weise? Alle kommen her, um ihr Leben zu retten.
Alle sollten gleich behandelt werden.«
Geflüchtete Person in einem Erstaufnahmelager in Deutschland, August 2015

Unterschiedliche Lebensperspektiven All die Personen, deren Herkunftsland als »sicher« erklärt Kontingentflüchtlinge

Deutschland fordert »Integration«, verengt und verschließt wurde, können schneller unangekündigt abgeschoben Die Bundesregierung hat ent­
aber zugleich Zugänge auf verschiedenen Ebenen. Den in werden und für die komplette Zeit ihres Asylverfahrens in schieden, sogenannte Kontin-

Gruppen eingeteilten Menschen stehen dabei unterschied­ Lagern interniert werden. Hinzu kommen Kürzungen der gentflüchtlinge, in festgeleg­
ter Anzahl, aus bestimmten
liche Möglichkeiten bereit, derer sie sich zu bedienen oder Sozialleistungen. Durch diese Isolierung ist der Zugang zum Regionen im Rahmen von humani-
denen sie sich zu entziehen wissen. deutschen Arbeitsmarkt versperrt. Die Möglichkeit, einen tären Hilfsaktionen aufzuneh­

Für Personengruppen mit »guter Bleiberechts­ sicheren Aufenthalt über ein Arbeits- oder Ausbildungs­ men. Diese Personen werden
direkt eingeflogen, erhalten ohne
perspektive« wurde der Zugang zum Arbeitsmarkt erleichtert verhältnis zu bekommen und sich damit eine gute Bleibe­ Asylverfahren eine Aufenthalts­
und die Teilnahme an Integrationskursen verpflichtend. perspektive zu schaffen, ist so von Anfang an erschwert. erlaubnis für zwei Jahre, eine
Diese Erleichterung von Zugang ist aber mehr als eine bereit­ Diese Politik produziert für viele Personen ein lang­ Arbeits­erlaubnis, aber keine

gestellte Möglichkeit. Damit steigt auch der Druck, fristiges Leben in der Migration, zwischen Abschiebungen, freie Wohnsitzwahl. Seit 2013
nimmt Deutschland insbesondere
möglichst schnell eine funktionale Rolle in der Gesellschaft Rückkehr und der Suche nach neuen Perspektiven an syrische Geflüchtete aus libane­
und der Ökonomie einzunehmen. anderen Orten. sischen Flüchtlingslagern auf.

Immer wieder werden humanitäre Sonderregelungen


Härtefallkommissionen
getroffen. So gibt es Prüfungen von Härtefällen und die In Deutschland sind bereits im Herbst 2015 nicht alle »wel-
Auszählung sogenannter Kontingentflüchtlinge. In diesen come«. Diese Vorsortierung wirkt sich auch auf die Unter­ Härtefallkommissionen sind
Gremien auf Landesebene, die
Fällen ist das Bleiberecht kein individuelles Recht, sondern stützung der Ehrenamtlichen aus, so dass diese nur den Menschen mit abgelehntem
wird als besondere Güte dargestellt. Die Personen werden Menschen mit »guter Bleiberechtsperspektive« zugute kommt. Asyl­antrag unter besonderen
damit in eine passive, zu Dank verpflichtete Rolle gedrängt. humanitären Gründen ein  Blei­
berecht ermöglichen können.

Insass_innen des Zuges transportieren Der Marsch gen Westen kam relativ wurden 4.000 Migrant_innen an die Die Verhältnisse im Auffanglager Rösz­ Hilfsorganisationen haben keinen Zu-
wollte. Diese weigerten sich jedoch und zügig voran und erreichte bald eine Grenze transportiert und die ersten wa- ­ke, der ersten Station in Ungarn hinter tritt, Journalisten natürlich erst recht
verharrten rund 30 Stunden in dem Zug. zweispurige Autobahn. Die Nachricht ren in Wien bereits in Züge Richtung der serbischen Grenze, standen während nicht.
Gleichzeitig verbreitete sich die Nach- vom Aufbruch verbreitete sich quasi in Deutschland umgestiegen. An diesem ei- der Ereignisse vom 3. und 4. September Am 3. September gelang es 300
richt von der Finte, woraufhin keine wei- Echtzeit unter dem Hashtag #marchof- nen Wochenende gelangten mindestens wie ein Menetekel im Raum. Der Journa- Insassen, den Zaun des Lagers zu über-
teren Flüchtlinge in Züge stiegen. hope. Die Bilder des Marsches werden 10.000 Flüchtlinge nach Deutschland. list Keno Versek besuchte Röszke genau winden und zu fliehen. Der Ausbruch
Am Freitag, den 4. September, in die Ikonographie dieses langen Som- Sie wurden in München mit Applaus in jenen Tagen – hier sein Bericht: war das unabdingbare Komplement
kam es zum bisherigen Höhepunkt die- mers der Migration eingehen, eine lange begrüßt, mit Lunchpaketen und mit Ein drei Meter hoher Zaun, oben zum March of Hope. Denn an der Ent-
ses Kampfes um Bewegungsfreiheit. Wie Reihe von Menschen, die sich nach einer Spielzeug für die Kinder. Nato-Stacheldraht, dahinter bewaff- schlossenheit der Orbán-Regierung, die
schon am Vortag angekündigt brachen Woche des Ausharrens wieder die eigene Dass der March of Hope am 4. Sep- nete Wächter und Bereitschaftspolizis- Migrant_innen auf lange Sicht in Lagern
mehrere tausend Flüchtlinge am frühen Mobilität aneigneten und Budapest in tember zum zweiten großen Durchbruch ten in Kampfmontur. Das ist der erste zu internieren, konnte es keinen Zweifel
Nachmittag zu Fuß auf, um sich auf einer gemeinsam und spontan koordi- wurde – nach den Ereignissen an der Ring. Hier parken Autos und Busse, geben.
den 170 km langen Marsch an die un- nierten Aktion verließen. griechisch-mazedonischen Grenze zwei stehen Baracken und Sanitätszelte. 30
garisch-österreichische Grenze zu ma- Wochen zuvor, am 23. August –, Meter hinter dem ersten folgt der zweite Fortsetzung auf Seite 12
chen. Ihr erklärtes Ziel: Österreich und Der Ausbruch aus dem Auffanglager war an der Entschlossenheit in Ring, ein Zaun immerhin ohne Sta-
Deutschland. Auch in Bicske machten Röszke war das unabdingbare den Gesichtern der Marschie- cheldraht – er umgibt das Zeltlager, in
sich rund 300 der am Vortag aufgehalte- renden vielleicht von vornherein dem die Flüchtlinge untergebracht sind.
Komplement zum March of Hope.
nen Flüchtlinge zu Fuß auf den Weg und abzulesen, aber noch drohten Draußen vor dem Lager kommen im-
liefen auf den Bahngleisen gen Westen. Gefahren, solange der Kampf mer neue Menschen an, sie müssen
Schon am Morgen hatten weitere 300 in Unter dem Eindruck dieser Bilder und gegen die ungarischen Lager nicht ent- sich, dicht gedrängt, auf den Sandbo-
Röszke, nahe der ungarisch-serbischen im Wissen um das Risiko einer repres- schieden war. Orbán war gerade von den setzen, werden bewacht von einem
Grenze, internierte Flüchtlinge den Zaun siven Strategie erklärten Merkel und seinem Auftritt auf einem Treffen der Kordon aus Bereitschaftspolizisten mit
um das Lager überwunden, wurden aber Faymann tatsächlich, dass sie die Gren- EU-Regierungschefs in Brüssel zurück- Mundschutz und Gummihandschu-
später wieder von der Polizei festgehal- zen öffnen und die Flüchtigen aufneh- gekommen und wollte sich als Mann hen. Ein Schäferhund bellt die auf
ten. Die am Bahnhof Keleti verbliebenen men würden. (Siehe Getrieben) der Härte profilieren. Der Zaun war dem Boden hockenden Menschen an.
Flüchtlinge wurden am Nachmittag von Binnen weniger Stunden organi- fast fertig. Die Gefahr, dass Ungarn die Das neue Erstaufnahmelager Röszke
ungarischen Hooligans angegriffen, sierte die ungarische Regierung Busse Grenzen schließen und die noch im Land an der ungarisch-serbischen Grenze
konnten den Angriff aber zurückschla- zum Grenzübergang nach Nickelsdorf. befindlichen Migrant_innen internieren – Willkommenskultur, die an Gu-
gen.[Kasparek/Speer, March of Hope] Noch in der Nacht zum Sonnabend könnte, lag in der Luft. antanamo erinnert. Mitarbeiter von
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Rettung / Schienen
Watheq Fayyadh Khazaal

Weißes und schwarzes Holzbrett,


Bleistift, Eisennadel
Originalmaße 37,5 x 35,3 cm
2017

Getrieben stellung nicht mit dem 4. Sep­- innen würden sich an der Grenze inszenierung und die Abhängig­ denn je und sie entschied sich,
tember, sondern eine Woche spä­ sammeln. Halten wir die Bilder keit von Umfrageergebnissen. auf dieser Welle eine Weile zu
Viel ist darüber gerätselt wor­ ter: am 12. September sollte die aus? und Was geschieht, wenn Die begeisterte Aufnahme der surfen. Wenn wir also nach der
den, was Kanzlerin Merkel am österreichisch-deutsche Grenze 500 Flüchtlinge mit Kindern auf Geflüchteten am Hauptbahnhof in ungewöhnlichen Konstellation
4. September 2015 bewegt haben für alle Menschen ohne gültige dem Arm auf die Bundespolizisten München hat wesentlich dazu fragen, die das Sommermärchen
mag, die Grenzen zu öffnen, und Papiere, auch im Falle eines zulaufen? – das waren die ent­ beigetragen, dass die Grenzen 2015 möglich gemacht hat, so
der Journalist Christian Jakob Asylgesuchs, geschlossen wer­ scheidenden Fragen. Bilder, wie offen blieben. ist als erstes der Aufbruch der
trifft wohl den entscheidenden den. 21 Hundertschaften sie später in Röszke und Ido­ Die Willkommenskultur Migrant_innen zu nennen, deren
Punkt, wenn er schreibt: der Bundespolizei wurden an die meni Wirklichkeit wurden, woll­ beschreibt Alexander als deut- Durchmarsch durch eine spezi­
Die Dublin-Grenze wurde von Grenze verlegt, der Einsatz­ ten weder Merkel noch Gabriel schen Rausch. Man kann es kaum fische deutsch-österreichisch-
den Flüchtlingen aufgebrochen, befehl war geschrieben, mit ihrem Namen verbunden sehen mehr glauben, wie sich Umfra­ ungarische gegenseitige Blockade
nichts anderes. Es war die De Maizière hätte ihn nur noch und De Maizière wollte sich gen, Massenmedien und Industrie­ begünstigt wurde, und als
Stunde der Zurückweisung, der abzeichnen müssen. Aber die nicht opfern. verbände gegenseitig hoch­schau­ zweites die Willkommenskultur
Demontage und Delegitimierung Diskussion im Lagezentrum des Die Bundespolizei stand kelten. Wahrscheinlich hatte mit ihren medialen Rückkopplun­
des europäischen Asylsystems. Innenministeriums geriet ins bereit. Die Frage allerdings, Merkel wirklich Tränen in den gen, die eine Schließung der
Als Merkel entschied, die Stocken: aufgrund juristischer ob 2.000 Beamt_innen den Ansturm Augen, als sie die Will­kommens­ Grenzen quasi-plebiszitär ver­
Flüchtlinge aus Keleti nach Einwände – vor allem aber, von Zehntausenden tatsächlich bilder aus München im Fernsehen hinderte. Merkels hintergrün­
Deutschland zu lassen, hat sie weil sich zwischen De Maizière, hätten aufhalten können, muss sah. Aber entscheidend war dige Offenheit für die Moder­
nur die Konsequenz aus einem Merkel und Gabriel ein Ver­ unbeantwortet bleiben. Wahr­ etwas anderes. Für mehr als 90 % nisierung Deutschlands mag ein
politischen Notstand gezogen, steckspiel entwickelte. scheinlich wäre es zu einer der Bevölkerung stand das drittes Element in dieser Kons­
den die Absurdität, die Unge- Die Grenzöffnung hatte diffusen Migration über die Flüchtlingsthema in diesen tellation gewesen sein. Was
rechtigkeit und die Menschen- Sympathiewellen ausgelöst, die Grünen Grenzen hinweg gekommen, Tagen ganz oben auf der Liste aber in Erinnerung bleiben wird,
feindlichkeit des Grenzregimes Schließung der Grenze würde die ohne Schießbefehl nicht der wichtigsten Themen, eine ist die Macht der quasi-
erst herbeigeführt haben. unschöne Bilder produzieren und hätte aufgehalten werden kön­ breite Mehrheit war für deren plebiszitären Öffentlichkeit,
Einige zusätzliche interes­ bis sich der zu erwartende nen. Aufnahme. Flüchtlingssolidarität die in Verbindung mit der
sante Hinweise sind dem Buch Dominoeffekt der Grenzschlie­ Alexander beschreibt nach­ hatte anderen sozialen Bewe­ Autonomie der Migration ein
Die Getriebenen des WELT-Redak­ ßungen bis nach Mazedonien vollziehbar zwei wichtige gungen den Rang abgelaufen. Mit Wunder bewirkt hat – wenn auch
teurs Robin Alexander zu ent­ ausgewirkt hätte, würde es Tage Elemente, die Merkels Politik ihrem Wir schaffen das hatte nur einen Sommer lang.
nehmen. Er beginnt seine Dar­ dauern. Zehntausende Mi­grant_ ausmachen: die Kunst der Selbst­ Merkel bessere Umfragewerte
12

Grenz­
schließungen

Aufgrund der massiven Kämpfe um die Öffnung


der Grenze blieb der Übergang für einige Tage für
alle und jeden geschlossen. Während dessen
kamen immer mehr Menschen in Idomeni an und
drängten sich dicht am Zaun. In dieser Nacht war
die gesamte Situation kurz vor einer Massenpanik

Die EU als Push-backs, Hetzjagden und zu viele Tote und Katastrophe. Zu den üblichen Grenzbeamten
hatten sich UNHCR-Mitarbeiter_innen gesellt.
Neben Zäunen, Lagern und Gefängnissen erleben Menschen 3. Dezember 2015, Idomeni, GR

brachiale physische Gewalt in Europa und an den Grenzen.


Friedensnobelpreisträgerin? Bei Push-Backs werden Menschen systematisch verprügelt.
Die Grenzbeamt_innen nehmen ihnen oftmals Schuhe,
Europas Grenzen: Gefängnisse, Zäune und Militär Pässe, Handys und Geld ab. Frontex

Schon im langen Sommer der Migration fand eine ver- Die Gewalt geht nicht nur von offizieller und staatlicher Frontex ist die Europäische
stärkte Militarisierung der Seegrenzen in der Ägäis und der Seite aus: In Deutschland kursierten Bilder von Rechtsextre­ Agentur für die Grenz- und Küs­
tenwache, die »Risikoanalysen«
Grenzen an Land statt. Seit dem Sommer 2015 gibt es im men, die Menschen durch die Straßen verfolgen – beispiels- erstellt, Operationen im Inland
Mittelmeer einen EU-Militäreinsatz und auch die NATO ist weise im September 2016 in Bautzen. In Bulgarien bilden und im Mittelmeer koordiniert
dort seit Anfang 2016 präsent. Frontex wurde mit weiter­ sich sogenannte Bürgerwehren, die in Selbstjustiz regelrecht und an Abschiebungen beteiligt

reichenden Kompetenzen ausgestattet und erhielt das Recht, Jagd auf Menschen machen. ist. Bekannt sind die vielen
Einsätze von Frontex im Mittel­
auch jenseits der Einladung eines Mitgliedsstaats in dessen meer, die immer wieder wegen
Territorium zu agieren. In Europa wurden verstärkt Barrieren Viele Menschen sterben auf der Route. Das geschieht z.B. der Unterlassung von Seenot­
gebaut. Ungarn baute im Herbst 2015 einen Zaun an der durch unterlassene Hilfeleistungen, durch die gefährliche hilfe und dem Ertrinkenlassen
von Menschen in der Kritik
serbischen Grenze und verdoppelte diesen im Frühjahr 2017 Meeresüberfahrt oder durch physische Gewalt. Genaue Zah­ stehen.
noch einmal. Auch die slowenisch-kroatische, die österrei­ len über die Toten auf der Route gibt es nicht. Doch all die
chisch-ungarische und die griechisch-mazedonische Grenze Toten sind das Resultat einer Politik der Abschottung und Push-Back

wurden auf unterschiedliche Weise befestigt. hätten vermieden werden können. Seit der Schließung des Push-Back-Aktionen bezeichnen
Es wurden neue Lager und Gefängnisse errichtet, in Korridors sind Menschen wieder gezwungen, gefährliche das aktive und meist gewalt­

welchen Flüchtende bis heute festgehalten werden. In Wege einzuschlagen, auf denen sie ihr Leben riskieren müssen. volle Zurückdrängen von Perso­
nen aus einem Staats­gebiet.
geschlossenen Flüchtlingszentren, den sogenannten Hotspots, Seit der Schließung blüht das Schleppergeschäft Auch wenn Push-Backs dem Grund­
werden tausende Menschen abgeschottet von der Öffent­ wieder auf, welches zu Zeiten des Korridors fast zum Erliegen satz der Nichtzurückweisung
lichkeit festgesetzt. gekommen war. widersprechen, ist dies gängige
Praxis von Grenzbeamt_innen
an Land und auf dem Mittelmeer.

M
Fortsetzung von Seite 10 inenfelder dennoch eine Kette von Ereignissen in Die Auseinandersetzungen am unga- verteilt. Gereicht hat es gerade mal
Dass die ungarische Rechts- Gang, die kein gutes Ende verhießen. rischen Zaun bei Röszke am Tag nach für einen Bruchteil der Anwesenden.
Verglichen mit diesen wahrhaft histo- regierung unter Orbán, so wie Die ungarische Regierung rief einen so- dem Grenzschluss, am 15. September, Dies ist der Anfang einer Reihe von dra-
rischen Ereignissen, die hier beschrie- vorher schon Bulgarien, einen genannten »Einwanderungs-Krisenfall« waren kurz, aber heftig. Ungarische matischen Tagen und Nächten, die uns
ben wurden, verlief die Passage von Zaum bauen würde, um den Durch- aus, für den sie erst wenige Tage zuvor Hundertschaften gingen mit Wasser- im Nachgang wie Wochen erscheinen
Serbien über die Grenze nach Ungarn marsch auf der Westbalkanroute zu die gesetzlichen Grundlagen geschaf- werfern und Tränengas gegen zum Teil werden.
während der nächsten zehn Tage – bis brechen, hatte sie bereits im Juni ange- fen hatte. Die Lager wurden geleert, die vermummte Flüchtige vor, die ihrerseits Der nächste Morgen: Der Ein-
zur Schließung der letzten Lücke an kündigt. Für den Bau des Zauns wurden (vermeintlich) letzten Migrant_innen in versuchten, den Zaum niederzureißen. druck vom Vorabend verschlimmert sich
den Bahngleisen bei Röszke – rela- tausende Soldaten und Strafgefangene Sonderzüge gesteckt und vor der öster- Aus dem Blickwinkel von Aktivist_innen bei Tageslicht. Dies ist eine humanitäre
tiv unspektakulär. Die Erklärung von mobilisiert, das Überwinden und Be- reichischen Grenze abgesetzt. aus Halle hier ein Bericht – ausführlich, Katastrophe. Viele der Menschen sind
Merkel und Faymann, dass die Grenzen schädigen der Grenzanlagen sollte mit weil er die Ambivalenz der Ereignisse, seit Wochen auf der Flucht und völlig
nach Österreich und Deutschland ohne Gefängnisstrafen geahndet werden. 14. September: zwischen Militanz und Verzweiflung, auf erschöpft, unter ihnen auch viele Alte,
Obergrenze offen bleiben wür- Grenzschluss bei Röszke eindrückliche Weise veranschaulicht: Kranke und Kleinkinder. Die hygieni-
den, hatte den Druck herausge- Dies ist der Anfang einer Reihe Deutschlands Innenminister hatte quasi Durch eine Art Palisade (Zaun schen Zustände sind unzumutbar und
nommen und keiner der betrof- von dramatischen Tagen und in einer Gemeinschaftsaktion mit der und NATO- Draht) ist die Grenze hier die meisten Menschen, die wir sehen,
fenen Staaten, von Mazedonien Orbán-Regierung das Signal gesetzt für verschlossen. Rund um die Uhr bewa- haben weder Wasser noch Nahrung,
Nächten, die uns im Nachgang wie
über Serbien bis Ungarn – und eine erneute hektische Staffel von Reak- chen ungarische Militärbeamte auf ihrer was bei 35°C lebensgefährlich ist.
später auch Kroatien und Slo- Wochen erscheinen werden. tionen. Am Tag des ungarischen Grenz- Seite den Übergang. Immer wieder gibt Weder der UNHCR noch andere grö-
wenien – musste befürchten, schlusses zogen an der Grenze Bayerns es lautstarke Proteste der Flüchtenden. ßere Hilfsorganisationen sind vor Ort,
dass Tausende von Migrant_innen auf Dennoch blieb die Situation bis zum zu Österreich Kontrollen auf und der Vor allem aber erschöpfte Reisende: Tau- lediglich die ‚Ärzte ohne Grenzen‘ und
seinem Gebiet stranden würden. Das Montag, dem 14. September, dem Tag Zugverkehr wurde, mit Hinweis auf das sende Menschen sitzen in der Dunkelheit. eine kleine dänische Organisation ha-
Lager von Röszke wurde nicht zum KZ , des Grenzschlusses bei Röszke, relativ Oktoberfest in München, ausgesetzt. Manche mit Zelt, manche mit einem ben ein Medizelt aufgestellt. Und so
sondern blieb noch zehn Tage lang ein ruhig. De Maizière deutete an, dass es sich bei Schlafsack, einer Decke oder Isomatte, starten wir den Versuch einer – wenn
»normales« Durchgangslager, mit den Der Grenzschluss selbst, so sicher den Grenzkontrollen um einen Dauerzu- viele aber auch mit nichts. Einen Platz auch minimalen – Grundversorgung,
üblichen Unzulänglichkeiten und chao- er erwartet worden war und so wenig stand handeln könnte. Es war aber – und zum Schlafen bietet nur der kalte Boden. gemeinsam mit einigen Helfer_innen
tischen Zuständen, wie sie die Flüchten- spektakulär es erschien, als an jenem das muss festgehalten werden – keine Es ist für uns alle ein Schock – uns war aus anderen europäischen Ländern und
den bereits aus Gevgelija oder Preševo Tag ein stacheldrahtbewehrter Güter- Schließung der deutschen Grenzen, die nicht bewusst, was uns hier erwartet. ein paar der anwesenden Flüchtenden.
kannten. wagon wie ein Pfropfen in die letzte Lü- auch in den Folgemonaten zu keinem Binnen kürzester Zeit haben wir noch am Ein kleines leerstehendes Zollgebäude
cke des Zauns geschoben wurde, setzte Zeitpunkt komplett geschlossen wurden. selben Abend alle unsere Sachspenden wird zu Sammellager und Verteilstelle
13

Wieder wird eine Familie vor dem


Grenzzaun von Beamten aufgehalten.
Anfang Dezember 2015, Idomeni, GR

Griechische und mazedonische


Grenzbeamte kontrollieren
gemeinsam die griechischen
Transitpapiere. Anfang Dezember
2015, Idomeni, GR

Ein von der Weiterreise ausgeschloßener Geflüchteter schaut syrischen, irakischen und afghanischen Menschen beim Grenzübertritt zu. 30. November 2015, Idomeni, GR

Dominoeffekte entlang der Route


Teile und herrsche!
Der erkämpfte Weg Richtung Mitteleuropa war nicht kons- Oft waren nicht Beschlüsse ausschlaggebend für Ausschlüsse,
»Wir haben sieben Mal
versucht, nach Maze- tant für alle Menschen gleicherweise nutzbar. Immer wieder die bloße Diskussion darüber bewirkte bereits Dominoeffekte
donien zu kommen. wurden Regelungen beschlossen, die ausschließlich Men- von Grenzschließungen entlang der Route:
Beim siebten Mal  hat- schen mit bestimmten Staatsangehörigkeiten oder mit einer
ten wir Erfolg. besonderen Schutzbedürftigkeit Grenzübertritte erlaubten. Der erste Ausschluss: SIA
Einmal verbrachten Menschen wurden sortiert und immer weniger konnten Schon im November 2015 wurde Menschen mit bestimmten
wir zwei Nächte im im Laufe der Zeit den Korridor passieren. Die Einteilung der Pässen der Grenzübertritt an vielen Übergängen verwehrt.
Wald und wir liefen Menschen und die damit einhergehenden unterschiedlichen Slowenien schloss in der Nacht vom 18. auf den 19. Novem-
und liefen. Als wir Perspektiven lösten Spaltungen und Konflikte aus. ber 2015 den Grenzübertritt für alle Personen, die keine
den Punkt erreichten, syrische, irakische oder afghanische Staatsangehörigkeit
an dem uns das Auto
nachweisen konnten. Kurz darauf folgten Kroatien, Serbien
abholen sollte, war
und Mazedonien.
da die Polizei.«
Bericht einer jungen Frau von einem
illegalisierten Grenzübertritt.
September 2016

für Sachspenden, Wasser und Lebens- auszuspülen. Mehrere Menschen, dar- Erstaunlich gelassen und hilfsbereit bei Personen gegen das Tor traten, reagierte Flüchtlinge gelang es jedoch, zurück auf
mittel. Davor beginnt eine Feldküche, unter eine schwangere Frau, kollabieren, all dem zeigt sich im Zuge dessen die ser- die Polizei umgehend, wobei Schlagstö- serbisches Territorium zu laufen. Es kam
warmes Essen zuzubereiten. Und auch Mütter suchen verzweifelt nach ihren in bische Polizei, vor der wir im Vorhinein cke, Tränengas und ein Wasserwerfer zum massiven Einsatz von Tränengas.
kleine medizinische Hilfen gehören den Tränengaswolken und im allgemei- noch extra gewarnt worden sind. Im Ge- eingesetzt wurden. Erst im Anschluss Elf Flüchtlinge wurden im Anschluss
zu unseren Tätigkeiten, insbesondere nen Tumult verlorengegangenen Kindern, genteil dazu werden uns die Mitarbeiter_ daran wurden massiv Steine und andere in Untersuchungshaft genommen bzw.
wundgelaufene Füße gilt es zu versorgen Verletzte werden von Sanitäter_innen innen des Camps in Kanjiža, als wir uns Gegenstände in Richtung der Polizei unter »Hausarrest« in einer der unga-
und zu verbinden. Während dieser Be- verarztet. Drei serbische Krankenwa- einen Eindruck der Versorgungslage im geworfen. Dann jedoch beruhigte sich rischen Asylhafteinrichtungen gestellt.
handlungen finden wir am ehesten Zeit gen kommen hinzu, um die Verletzten zu Camp machen wollen, sehr unfreundlich die Situation schnell wieder. Vor allem Darunter auch ein Rollstuhlfahrer und
für intensive Begegnungen mit den Men- versorgen – doch selbst diese werden bei des Geländes verweisen. deswegen, weil sich die Polizei ein Stück eine über sechzigjährige, auf einem
schen. Auch mit Kindern, die, so finden einer weiteren Tränengasattacke weit innerhalb des »Korridors« – auf Auge blinde Frau. Neun der Festgenom-
wir, oft kaum noch kindliche Regungen vom ungarischen Militär gezielt Die Auseinandersetzungen vor Röszke den beiden Längsseiten der Straße menen wurden in einem Prozess, der ein
zeigen. Wir lernen auch Mahmud, einen beschossen. In diesem Chaos gehen waren ein deutliches Signal der befindet sich ein etwa mannshoher Jahr später stattfand, zu mit der bereits
15-jährigen Basketballer aus Damaskus, unsere Feldküche und das Materi- Maschendrahtzaun – zurückzog. abgesessenen Zeit nahezu identischen
Entschlossenheit, eine nachhaltige
kennen. Er spielte dort in der syrischen allager völlig unter und letzteres Dies wurde von den versammelten Haftstrafen verurteilt. Einer der Ange-
Nationalmannschaft und hilft uns in ist durch das Tränengas nicht Warnung an die Sicherheitskräfte, Flüchtlingen derart interpretiert, klagten wurde zu drei Jahren verurteilt,
den folgenden Tagen mit Übersetzungen mehr zu benutzen. Wir versuchen auch wenn die Spezialtruppen dass die ungarische Polizei sie nun da er angeblich die »Krawalle damals
ins Arabische. Wohin seine Reise weiter zu retten, was zu retten ist, und in letztlich die Stellung halten konnten. passieren ließe, auch deswegen, weil durch einen Lautsprecher befeuert habe«.
verlaufen ist, wissen wir leider nicht. einem anderen leeren Gebäude un- das Tor nach kurzer Zeit offen stand. Ahmed H., der als »Rädelsführer« ausge-
Am Nachmittag eskaliert die Situation. terzubringen. Und in all dem Chaos der Marc Speer schildert die Ereignisse un- Das Gegenteil war dann jedoch der Fall: macht wurde, wurde in einem separaten
Die Sondereinheiten der ungarischen Katastrophenjournalismus. ter Berufung auf The Budapest Beacon Nachdem die nun absolut friedliche und Verfahren wenig später sogar zu zehn
Polizei, die komplett vermummt bereits Ab Mittwoch Abend und im Ver- wie folgt: »Thank you Hungary« rufende Menge – Jahren wegen »Terrorismus« verurteilt.
am Morgen neben den Grenzbeamten lauf des Donnerstags leert sich der Ort Eine Straße, die einige hundert an ihrer Spitze vor allem Familien, die Diese Auseinandersetzungen vor
aufgetaucht sind, provozieren Ausein- schon wieder. Die Menschen werden mit Meter neben den Bahngleisen verläuft, nach einer entsprechenden Aufforderung Röszke vom 15. September waren ein
andersetzungen mit den Flüchtenden an Bussen erst zu einem offiziellen Lager war mittels eines improvisierten Holztors durch andere Flüchtlinge nach vorne ge- deutliches Signal der Entschlossenheit,
der Grenze. Ein Wasserwerfer schießt in des UNHCR in Kanjiža gebracht, von wo und eines metallenen Absperrgitters kommen waren – den »Korridor« betre- eine nachhaltige Warnung an die Sicher-
die Menge – aber nicht nur mit Wasser, aus sie per Reisebus (die Tickets kosten versperrt worden. Als sich vor dieser ten hatte und die Polizeikette erreichte, heitskräfte, auch wenn die Spezialtrup-
sondern auch mit CS-Gas. Das zuvor be- 25 €, am Vortag waren es noch 20 €) zur Blockade eine Menge versammelte, einige stürmte insbesondere die Spezialeinheit pen letztlich die Stellung halten konnten.
sorgte Wasser muss nun dafür verwen- kroatischen Grenze, wahrscheinlich nach vereinzelte Gegenstände in Richtung der TEK plötzlich nach vorne und verhaf- Sie währten nur vom Mittag bis zum
det werden, den Verletzten die Augen Bezdan und Šid, weiterreisen können. Polizei geworfen wurden und ein paar tete etliche Menschen. Dem Großteil der Abend – auch wegen der Präsenz der
14

1. Dezeber 2015, Idomeni, GR

Ende Februar 2016,


Idomeni, GR

März 2016, Idomeni, GR

Ausschluss der Afghan_innen Ausschlüsse bis zur Schließung


»Wir sind alle
Der 18. Februar 2016 war der Stichtag, ab dem nur noch Ab dem 26. Februar 2016 ließ Slowenien nur noch 560 Perso-
geflüchtete Leute hier,
Syrer_innen und Iraker_innen das Weiterkommen durch den nen pro Tag über die Grenze und schuf damit eine Obergrenze. warum gibt es
Korridor möglich war. Dies beschlossen die Polizeichefs von Gut eine Woche später, ab dem 6. März 2016, durften Unterschiede?«
Österreich, Slowenien, Kroatien, Serbien und Mazedonien auf auch Personen aus den als »sicher« erklärten Gebieten um die
Eine Frau aus Afghanistan erzählt.
einem gemeinsamen Treffen in Zagreb. Dem vorausgegan- Hauptstädte Damaskus und Bagdad nicht mehr weiter. Idomeni, Griechenland, März 2016

gen waren in Deutschland stattfindende Debatten um ver- Am 9. März 2016 wurde der Korridor offiziell geschlos-
meintlich »sichere« Gebiete in Afghanistan. sen. Auf der Westbalkankonferenz im Februar 2016 in Wien
trafen sich Innen- und Außenminister von Bulgarien,
Kroatien, Slowenien, Albanien, Bosnien-Herzegowina, dem
Kosovo, Mazedonien, Montenegro, Serbien und dem Gast­
geber Österreich. Die Anwesenden lösten im Alleingang eine
Kettenreaktion von Grenzschließungen aus. Deutschland,
Griechenland und Vertreter_innen der EU waren nicht ein­
geladen. Während auf der Westbalkankonferenz einfach
Fakten geschaffen wurden, stritt die EU auf ihrem Gipfel in
Brüssel noch über das weitere Vorgehen.

ungarischen Spezialeinheiten und der die Jahre hinweg unverändert einander Eine Kollegin, die sich in Tovarnik, einem abgestimmten Aktion verhindert wurde, Die Ereignisse von Röszke nährten aber
drakonischen Strafen, mit denen die Be- feindlich gesinnt, so dass für eine Räu- kroatischen Dorf an der kroatisch-ser- dass die Migrant_innen sich in den zugleich die Auffassung, dass man die
schädigung der Grenzanlagen geahndet mung keine Notwendigkeit gesehen bischen Grenze aufhält, hat uns gerade Minenfeldern verloren. Es waren hekti- Migrant_innen ohne den Einsatz mi-
wurde. Abseits des Hauptschauplatzes worden war. Immerhin reagierte die kro- von der dortigen Situation berichtet. Sie sche Tage nicht nur auf den Straßen jen- litärischer Mittel zwar nicht stoppen,
gab es aber auch noch zahllose Lücken atische Regierung zunächst positiv und sagt, dass es sich um eine humanitäre seits von Šid, sondern auch auf diploma- wohl aber versuchen konnte, sie einem
im Zaun, die schnell genutzt werden zeigte sich bereit, an der ungarischen Katastrophe handelt. Ihren Schätzungen tischer Ebene. Zagreb protestierte gegen Regime von Disziplinierungen zu un-
wollten. Barbarei nicht mitzuwirken. Minister- zu Folge halten sich am Bahnhof min- Belgrad und Budapest und der Papst rief terwerfen, um so den »Strom« in geord-
Während also die letzten Flücht- präsident Zoran Milanović signalisierte destens 2.000 Flüchtlinge auf, im nete Bahnen zu lenken und zu steuern.
linge unter dem Zaun zwischen Serbien seine Bereitschaft, Flüchtlinge passieren Dorf selber seien es nochmal so Das wichtigste Unterpfand der Diese Auffassung sollte sich unter den
und Ungarn hindurch krochen, Kinder zu lassen. viele. Die kroatische Polizei blo- Stärke dieser Migrationsbewegung Sicherheitskräften der untereinander
und Säuglinge über den Zaun hinweg ckiert aber den Zugang zum Dorf, teils verfeindeten Länder entlang der
war die nachrückende Zahl der
gehoben wurden und andere ihr Glück 15. – 17. September Stau in weswegen die Flüchtlinge, unter Route bald verbreiten. Militär fuhr auf,
an der Grenzstation selbst versuch- Tovarnik und Bapska ihnen viele Kinder und alte Men- Migrant_innen, die über die Ägäis Panzerwagen sollten die Migrant_innen
ten, setzte Serbien Busse ein, um die Allerdings kamen statt der wenigen schen, teilweise schon seit Tagen nach Griechenland kamen. einschüchtern, Unterwerfungsrituale
Migrant_innen von diesem Schauplatz hundert Menschen, die er bereit war zu am Bahnhof verbleiben müssen. wurden inszeniert: Absperrungen er-
fort Richtung Kroatien zu transpor- akzeptieren, am nächsten Tag 8.000. Die [bordermonitoring.eu] zur Barmherzigkeit auf. Nach drei ban- richten, die Refugees zwingen, sich auf
tieren. Serbien machte sich auf diese serbischen Busverbindungen führten Ein Teil der serbischen Busse fuhr gen Tagen stellte sich Zagreb aber auf die den Boden zu setzen, sie hungern lassen,
Weise nicht zum Komplizen der unga- nun nicht mehr von Preševo über Bel- über Šid hinaus 10 km bis vor den kro- neue Situation ein – und zwar auf eine Antreten in Zweierreihen, antreibende
rischen Abwehrpolitik. Die aus Preševo grad nach Subotica, sondern es wurde atischen Grenzort Bapska. Von dort aus Weise, die niemand für möglich gehalten Yallah-Yallah-Rufe wie beim Viehtrieb
kommenden Flüchtlingsbusse wurden eine direkte Busverbindung von Preševo waren es 20 km zu Fuß bis zum eilends hatte: am Freitag, dem 18. September, und dergleichen mehr. Die Staatsgewalt
kurzerhand nach Šid umgeleitet, ei- quer durchs Land nach Šid eingerichtet. in einer alten Mineralölfabrik errichte- und in der darauf folgenden Nacht wur- – Polizei und Soldaten in Kampfausrüs-
ner Kleinstadt an der Grenze zu Kroa- Von dort ging es 10 km zu Fuß weiter ten Auffanglager in der Nähe des Dorfes den tausende Migrant_innen mit Zügen tung –, welche die Migrant_innen nicht
tien, allerdings ohne Rücksichtnahme zum kroatischen Grenzort Tovarnik. Opatovac. und Bussen an ungesicherte Grenzorte aufhalten konnte, setzte ihr martiali-
auf die begrenzten Kapazitäten des Eine Gruppe von mehreren hundert Ziehen wir eine Zwischenbilanz gebracht und von dort aus zur ungari- sches Drohpotential ein, um sie wenigs-
Nachbarstaats. Migrant_innen überrannte die kroati- dieser Tage zwischen dem 14. und dem schen Grenze eskortiert. In den folgen- tens in Zweierreihen antreten zu lassen.
Kroatien ist ein Land, in dem die sche Absperrung und drängte zur Bahn- 17. September, so muss bei allem Elend, den vier Wochen entwickelte sich so eine Die Frage in den Wochen nach
Minenfelder, die der Jugoslawienkrieg station von Tovarnik, wo die Menschen das hier beschrieben wurde, doch festge- Form staatlich organisierter Fluchthilfe, Röszke war dann auch, ob es den
hinterlassen hat, noch nicht geräumt zunächst auf freier Fläche kampieren halten werden, dass in einer zwischen von der im nächsten Abschnitt die Rede Flüchtenden gelingen würde, ihre Kraft
sind. Serbien und Kroatien waren über mussten. serbischen und kroatischen Stellen sein wird. und Entschlossenheit zu bewahren
15

Februar 2016, Idomeni, GR

Kinder blockieren die Autobahn vor der Eko-Tankstelle


in Polykastro, 3. April 2016, nahe Idomeni, GR

29. November 2015, Idomeni, GR

Geschlechtsspezifische Auswirkungen
LGBTIQ* Frauen und Familien auf dem Weg nach Europa Geld, Fitness und Unabhängigkeit entscheiden über
Abkürzung für Lesbian, Gay, Schon seit Jahrzehnten stellen Frauen rund die Hälfte der die illegalisierte Weiterreise
Bisexual und Transgender*, Geflüchteten weltweit dar. Bisher war davon in Europa wenig Die Schließung des offiziellen Korridors wirkt sich nicht in
Inter* und Queer*, also Lesben,
Schwule, Bisexuelle,
zu spüren. Der Korridor durch Süd-Osteuropa war eine gleicher Weise auf alle Flüchtenden aus. Nicht alle Menschen
Trans*gender, Inter-Personen* Route, die aufgrund der bereitgestellten Infrastruktur Schutz sind gleich gut zu Fuß; eine illegalisierte Flucht kann oftmals
und Queere* Personen. und Unterstützung bot und deshalb besonders häufig von tagelanges Laufen, Verstecken und schlechte Versorgung
Frauen und Familien genutzt wurde. Frauen und LGBTIQ*- bedeuten. Auch der Besitz von Geld entscheidet über Flucht-
Personen sind auf der Flucht spezifischen Gefahren wie sexu- möglichkeiten, wenn es z. B. darum geht, Schleuser_innen
alisierter Gewalt ausgesetzt, was eine illegalisierte Flucht zu bezahlen. Gerade Personen, die mit Kindern flüchten, sind
erschwert. Der Anteil von Frauen und Minderjährigen unter durch diese Faktoren auf spezifische Weise von der Schlie-
den nach Europa Flüchtenden stieg durch die Entstehung ßung betroffen. Strukturell sind diese Personen häufig weiblich.
des Korridors rasant an. Folglich sitzen jetzt nach der Schlie-
ßung insbesondere viele Familien in Griechenland fest.

oder ob sie sich den Anordnungen und 18. September – 16. Oktober: Griechenland kamen, im Oktober mehr dem ungarischen Kanzleramtsminister Das definitiv letzte Loch im Zaun an
Demütigungen letztlich würden beugen Über die Grüne Grenze durch Ungarn als 7.000, im November mehr als 6.000 Janos Lazar inzwischen »zu 99 Prozent« der kroatisch-ungarischen Grenze
müssen. Die Zahl der Menschen, die in den vier täglich. fertig. Vorläufig wird die Einreise der wurde allerdings schon in der Nacht zu
Wochen zwischen dem Grenzschluss Griechenland hatte inzwischen Asylsuchenden aber erlaubt, es waren Sonnabend, dem 17. Oktober, gedich-

D
in Röszke und der Schließung des eine regelmäßige Fährverbindung von zuletzt täglich rund 6.000. Sie werden tet. Sicherlich nicht zufällig schloss
er »humanitäre Korridor« letzten Lochs über die Grüne Grenze Lesbos und den anderen Inseln nach an die Grenze zu Österreich befördert. Deutschland gleichzeitig die Grenze mit
Bereits vier Tage nach dem Grenz- nach Ungarn gebracht wurden, liegt Piräus eingerichtet und beförderte die Es ist allerdings nur eine Frage der Zeit, Österreich – zwar nur für wenige Stun-
schluss von Röszke befand sich die lt. UNHCR bei etwa 180.000. Noch ist Migrant_innen von dort aus möglichst bis diese Routine durchbrochen wird. den, aber doch ein deutliches Warnsig-
Orbán-Regierung erneut in der unklar, auf welchen Wegen und Kanä- zügig nach Idomeni. Von Gevgelija Innenpolitisch ist es für die Regierung von nal an die Staaten des neuen Korridors,
Defensive. Ab Freitag, dem 18. Septem- len die stillschweigende Vereinbarung fuhren vier bis fünf Züge täglich an die Viktor Orbán schwer zu erklären, weshalb an Kroatien, Slowenien und auch an
ber, wurden tausende Migrant_innen zwischen Kroatien, Ungarn, Österreich Grenze nach Serbien. Drei Stunden, 180 mit erheblichem Aufwand die Grenzen vor Österreich, dass man den Durchmarsch
mit Bussen und Sonderzügen von Tovar- und Deutschland in jenen hektischen km. Von dort über die Grenze 8 km nach angeblich gefährlichen, aus wirtschaft- ohne Registrierung auf Dauer nicht to-
nik und Opatovac aus an die noch nicht Tagen zwischen dem 18. September und Preševo. Dort stauten sich die Buskolon- lichen Gründen Fliehenden gesichert lerieren würde.
gesicherte kroatisch-ungarische Grenze dem 16. Oktober zustande kam. Allen nen für den Weitertransport nach Šid. werden, wenn man dennoch Tausende Kroatien reagierte prompt und
transportiert. Dort überquerten sie, un- Beteiligten war klar, dass jeder weitere Ein 2 Kilometer langer Fußweg durch passieren lässt. Auch Orbáns Argumen- ließ tausende Migrant_innen einige
geachtet aller Regeln und Abkommen Stau auf der Route zu Aufständen und Matsch und Maisfelder führte sie über tation, Budapest halte sich als einziges Tage lang im Niemandsland zu Serbien
und unter den Augen der Grenzschützer, zu kompromittierenden Bildern in der die Grenze nach Kroatien, wo sie von Land an die EU-Regelungen, ist hinfällig. stranden. Weitere Tausende wurden in
die Grüne Grenze, um auf der ungari- Weltpresse führen würde, von denen es Polizisten empfangen und zu den Bus- Inzwischen winkt Ungarn die Flüchtlinge Opatovac zurückgehalten. Wie schon
schen Seite wiederum in Sonderzüge zu schon mehr als genug gab. sen nach Opatovac eskortiert wurden. entgegen der Dublin-Verordnung ebenso in vergleichbaren Situationen vorher
steigen, die sie ohne weitere Registrie- Das wichtigste Unterpfand der Von dort aus funktionierte die staatlich durch wie Griechenland oder Österreich. drohte ein Dominoeffekt entlang der
rung nach Hegyeshalom, dem Übergang Stärke dieser Migrationsbewegung, organisierte Fluchthilfe vier Wochen Beim Besuch der kroatischen Präsiden- Route und keines der Durchgangslän-
nach Österreich, brachten. Gleichzeitig das ihnen quasi freies Geleit verschaffte, lang mehr oder weniger reibungslos, tin Kolinda Grabar-Kitarovic in Ungarn der wollte am Ende den Schwarzen Peter
wurde von ungarischer Seite in fieber- war nicht der Durchbruch von Gevgelija wie auch die NZZ zu berichten wusste: diese Woche hieß es inoffiziell, das gel- zugeschoben bekommen.
hafter Eile ein weiterer Zaun an den am 22. August, nicht der March of Hope Inzwischen reisen die Flüchtlinge tende Regime werde vorerst aufrechter-
heiklen Abschnitten der kroatisch-un- am 4. September, nicht die Militanz vor über Kroatien, wo die Behörden sie umge- halten, möglicherweise bis zur Wahl in 17. Oktober: Ungarn schließt die
garischen Grenze fertiggestellt. Zuletzt Röszke und auch nicht der Durchbruch hend an die ungarische Grenze bringen. Kroatien Anfang November. Vorausset- Grenze (zum zweiten Mal)
blieb ein kleines Loch, durch welches von Tovarnik am Tag darauf, sondern es Seit sich diese neue Route abzuzeich- zung dafür ist allerdings, dass Deutsch- Slowenien hatte in den Tagen nach
sich, wie einen Monat zuvor in Röszke, war vor allem die nachrückende Zahl der nen begann, wird dort zwar ebenfalls land die großzügige Aufnahmepolitik dem Grenzschluss von Röszke die
4.000 Refugees täglich zwängten. Migrant_innen, die über die Ägäis nach an einem Zaun gearbeitet. Er ist laut nicht ändert. Route der Migration erfolgreich von
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Betroffene Familien protestieren vor der


deutschen Botschaft für die Familienzusammen-
führung mit ihren Angehörigen in Deutschland,
Sommer 2017, Athen, GR / © Salinia Stroux

Kinder im Lager Softex, Juli 2016, Thessaloniki, GR

Vertrackte Widersprüche: Grenzschließungen, Das Recht auf Familie?


Sexismus und Schutzbedürftigkeit Der Familiennachzug stellt eine Möglichkeit dar, wie getrennte
Die Schließung der Route hat keinesfalls bewirkt, dass nun Familien wieder vereint werden können. Somit ist die Zusam-
niemand mehr in Kerneuropa ankommt. Die meisten, die menführung vor allem für Kinder und Frauen, die in den
seitdem ankommen, sind jedoch strukturell bedingt allein Lagern entlang der Route festsitzen, eine Chance, legal nach
reisend und männlich, da eine illegalisierte Flucht für sie Deutschland kommen zu können. Im Zuge des Asylpakets II
aufgrund der Umstände meist machbarer ist. Geflüchtete wurde jedoch am 17. März 2016 von der Bundesregierung der
Männer wurden wiederum wiederholt in rassistisch auf­­ Familiennachzug für subsidiär Schutzberechtigte für zwei
geladenen deutschen Debatten um Terror und Sexismus Jahre ausgesetzt.
instrumentalisiert und kriminalisiert. Sie werden als Gefahr Während einerseits spezifische Programme für Personen,
dargestellt und damit für die Forderung nach geschlosse- die als besonders schutzbedürftig definiert werden, ein­
nen Grenzen herangezogen, was wiederum bewirkt, dass geführt werden, verhindern Maßnahmen wie die Schließung
struk­turell mehr Männer als Frauen ankommen. des Korridors und die Einschränkung des Familiennachzuges
Auch Männer sind auf der Flucht verletzlich. Der Fokus das Weiterkommen genau dieser.
von Unterstützungsprogrammen liegt meist auf Frauen,
Kindern, LGBTIQ*, älteren und behinderten Personen, also
Personen, die aufgrund der gesellschaftlichen Zustände
als besonders schutzbedürftig gelten. Viele geflüchtete
Männer fallen somit von vorn herein hinten runter und ihnen
bleibt nur die illegalisierte Flucht auf unsicheren Wegen.

seinem Territorium ferngehalten. Am der durchgeleiteten Migrant_innen auf Eingepfercht hinter den Absperr- Österreich geht ihnen zu langsam von- Brennende Zelte, frierende Kinder, die
Grenzübergang Harmica hatte die Po- 2.500 pro Tag und sorgte so für einen gittern der Polizei und den Eisen­ statten. Spezialkräfte der Polizei mar- unter freiem Himmel schlafen – und im-
lizei Tränengas eingesetzt, auch gegen Rückstau in Kroatien und Serbien. gattern des Geländes eines größeren, schieren auf, einige Dutzend mit Schutz- mer mehr Menschen kommen. An der
Frauen und Kinder. Migrant_innen und Einen Tag lang wurde sogar der Bahn- leerstehenden Gebäudes in der süd­ schilden ausgerüstete Polizisten bewegen slowenisch-kroatischen Grenze bricht
Aktivist_innen in Kroatien und Slowe- verkehr zwischen Kroatien und Slowe- slowenischen Gemeinde Brežice ste- sich auf die Absperrgitter zu, was den die Kontrolle zusammen. Der Geruch
nien hatten gemeinsam für das Right to nien eingestellt. hen dicht gedrängt die Flüchtlinge. Chor der Rufenden nur noch lauter wer- von verbranntem Stoff hängt über der
Move demonstriert. Eine junge Frau aus Wien reicht Brote den lässt. Vor dem Lager stehen noch abgeriegelten Zeltstadt. Hoch über dem
Bevor nun Slowenien zum nächs- 19. Oktober: Slowenien wird durch die Gitter. Viele Hände strecken drei Fahrzeuge der slowenischen Armee, Aufnahmelager von Brežice knattert un-
ten Transitland wurde, wiederholte sich Transitland sich aus, jeder will etwas davon haben. gepanzerte Personentransporter, die mit ablässig ein Polizei-Hubschrauber. Leise
die inzwischen bekannte Abfolge von Während die Politiker hin und her ver- Es ist eine gespenstische Szenerie, die ihren riesigen Rädern die weichen Wie- summend schwebt eine Kamera-Drohne
Abwehr, Chaos und Arrangements. handelten, setzten Dauerregen und an finstere Zeiten im letzten Jahrhun- sen aufgewühlt haben. Und ab und an über dem Gestänge der verbrannten
Eine der wenigen Konstanten in diesen Winterkälte ein. Tausende Men- ziehen Hubschrauber über dem Gelände Zelte.
Wochen nämlich war: verlagert sich schen blieben in Serbien und Eine der wenigen Konstanten in ihre Kreise. Es waren diese Migrant_innen,
die Balkanroute in einen neuen Staat, Kroatien im Matsch stecken und diesen Wochen war: verlagert sich Waren es die brennenden Zelte von die sich in Bapska durch den Regen
so reagieren die Regierungen zunächst täglich rückten 5.000 Menschen Brežice, angezündet von den Migrant_ gekämpft und in Brežice die Zelte abge-
die Balkanroute in einen neuen
panisch. Und sie benötigen einige Tage, aus Mazedonien kommend nach. innen in der Nacht zum 21. Oktober, brannt hatten, die nun in Spielfeld anka-
um zu realisieren, dass die Lösung des Viele suchten sich eigene Wege Staat, so reagieren die Regierungen aus Protest gegen die wiederholten Ver- men und nicht mehr die Nerven hatten,
»Problems« nicht in der starken Hand über die Grenze. Am 19. Okto- zunächst panisch. zögerungen an allen Grenzen, die den sich von den österreichischen Papp-
des Staates liegt, sondern in der effizi- ber kamen 7.677 Flüchtlinge in Weg wieder frei machten weiter nach kameraden noch einmal aufhalten zu
enten Organisation der Weiterreise. Die Slowenien an, zwei Tage später waren dert erinnert. Würdevoll ist das alles Deutschland und Nordeuropa? Oder lassen. Die Frankfurter Rundschau be-
Situation, die nach der Schließung der es sogar 12.616. Sie wurden im Regen nicht. Wenn sie am Morgen nicht 1.500 war es die Furcht vor den nachrücken- richtet von einer Dramatik, die zwischen
ungarisch-serbischen Grenze in Kroa- zermürbt, mussten sich in Formation Sandwiches, die von der islamischen den Migrant_innen? Eine Lawine, wie Angst und Inszenierung schwankte:
tien zu unhaltbaren Zuständen geführt aufstellen und wurden, angeführt von Gemeinde in Wien gespendet wurden, Minister Schäuble einmal sagte, von der Tausende Flüchtlinge kommen
hatte, wiederholte sich in den Tagen einem Polizisten zu Pferde, zum Durch- hierher gebracht hätte, wären noch man nicht wisse, ob man sich in ihrem über Slowenien nach Österreich. Die
nach dem 19. Oktober in Slowenien. gangslager Brežice eskortiert. Dieser Ort mehr Menschen hungrig geblieben. … oberen Viertel oder eher in der Mitte Lage an der Grenze in Spielfeld in der
Als erstes wurde eine Notver- entsprach dem kroatischen Opatovac – Unter den Wartenden ist Unruhe ent- befinde. Die Meldung der ZEIT ist pa- Südsteiermark wird immer unübersicht-
ordnung verabschiedet, um Militär ein auf dem Gelände einer Polizeistation standen. »Deutschland, Deutschland«, radigmatisch, der Artikel spricht von licher, die Transitlager sind überfüllt.
an der Grenze einsetzen zu können. notdürftig hergerichtetes Lager gut 10 skandieren sie. Sie möchten nicht mehr den Migrant_innen, die sich wie Vieh Viele Menschen machen sich auf eigene
Dann begrenzte Slowenien die Zahl km hinter der Grenze. lange warten, der Weitertransport nach behandelt fühlen: Faust auf den Weg Richtung Norden.
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»Wir müssen deshalb auch alle


Möglichkeiten des internationalen
Rechts ausloten, um kriminelle
Asylbewerber in ihre Heimat zurück
zu schicken.«
Sigmar Gabriel, 9. Januar 2016

Deutschland. Ein Wintermärchen.


Die mediale Debatte kippt nach rechts
Wiederholt lösten Debatten in den EU-Ländern, insbesondere Sind wir über Nacht zu einer feministischen Nation
in Deutschland und Österreich, Dominoeffekte im Flucht­ geworden?
korridor aus. Während den Sommer über das Refugees Welcome Die Willkommenskultur und das Refugees Welcome verloren
von Wirtschaftsverbänden, Linken und Willkommensinitia­ in der Öffentlichkeit mit der rassistischen Debatte über die
tiven noch im öffentlichen Fokus stand, konnte diese Position sexistischen Übergriffe in der Silvesternacht in Köln ’15/’16 an
im Laufe des Winters immer weiter in den Hintergrund Einfluss. Die Vorfälle wurden für den nächsten Angriff auf
gedrängt werden. das Asylrecht instrumentalisiert. Für die Gesetzesänderung
im Sexualstrafrecht, in das der Grundsatz No means No
Während die Angst vor dem IS geschürt wird, wird eingeschrieben wurde, war der Preis hoch.
über vieles nicht gesprochen In den Debatten über die Silvesternacht wurde die
Die Anschläge von Paris im November 2015 wurden in der deutsche Gesellschaft als weiß, emanzipiert und fortschritt-
öffentlichen Debatte mit Migration verknüpft und zu Lasten lich dargestellt und demgegenüber »Andere« in kolonial-
der Flüchtenden ausgetragen. Das inszenierte Schreckens- rassistischer Tradition als rückständig abgewertet. Daraus
bild einer äußeren Gefahr wird dazu genutzt, Grenzschlie- leiteten viele das Recht ab, sich gegen eine vermeintliche
ßungen sowie Abschiebungen zu legitimieren und gegen Gefahr von außen abzugrenzen und zur Wehr zu setzen.
Geflüchtete Politik zu machen. Die geführten Debatten Die Bezeichnung als »äußere Gefahr« drängt in den Hinter-
gehen an einer lösungsorientierten Auseinandersetzung mit grund, dass Sexismus auch unter Deutschen auf der Tages-
dem Phänomen IS vorbei. ordnung steht.
Was ist eigentlich der IS? Inwiefern profitiert Deutsch­ Da über reale gesellschaftliche Abhängigkeitsver­
In welchem Kontext ist er  ent­ land wirtschaft­lich von Rüs­ hältnisse kaum geredet wurde, kommt die Gesetzesänderung
stan­den und wie ist er aufgebaut? tungs- und Waffen­exporten?
im Sexualstrafrecht nicht allen gleich zu Gute. Die Hürde,
Wie sehen internationale Ver­ In welche Kriege auf der Welt
flechtungen und Zusammenarbeiten ist Deutschland verwickelt? von der Gesetzesänderung Gebrauch zu machen, ist für eine
in der Realität aus? Welche kolonialistischen und Frau, deren Aufenthaltsstatus an der Ehe hängt oder eine
Wohin liefert Deutschland Waffen imperialistischen Beständig­ Frau, deren finanzielle Absicherung an ihrem Partner hängt,
und was passiert mit diesen? keiten wirken noch immer?
Wie finanziert sich der IS und Woher kommt der Wohlstand in
deutlich höher als für eine finanziell unabhängige Frau
woher bekommt er seine Waffen? Deutschland und welche Abhängig­ mit deutschem Pass.
Vor welchen Waffen fliehen keiten gibt es auf der Welt? Der Wahlkampfslogan der NPD »Kriminelle Ausländer
Menschen?
raus« war durch die rassistische Debatte salonfähig geworden.

Bisher verlief in Spielfeld alles in geord- die Grenze. Ergreifende Szenen spielen avisiert, die nicht zustande kamen, und Auf dem Balkan sollen Flüchtlinge in Tausende von Geflüchteten und Migrant_
neten Bahnen, die Flüchtlinge wurden sich ab. »Alle sofort setzen. Folgt unse- es folgten die üblichen Erklärungen: sogenannten Hotspots aussortiert wer­ innen warten momentan an der slowe-
von der slowenischen Polizei in Gruppen ren Anweisungen, und keine Kämpfe.« EU -Staaten und Westbalkanlän- den. Die Balkanstaaten sollen Mer- nisch-österreichischen Grenze nahe
von etwa 200 Personen an die Grenze Diese Ansage tönt in arabischer und eng- der wollen die Flüchtlingsströme auf der kels Drecksarbeit erledigen. Es klingt dem Ort Spielfeld eingepfercht zwischen
gebracht und von den österreichischen lischer Sprache durch das Niemandsland Balkanroute verlangsamen. »Wir werden harmlos, fast humanitär, was Kanzle- Zäunen und fordern ihr Recht auf Wei-
Behörden übernommen. Doch in den ver- an der Grenze zwischen Slowenien und Flüchtlinge oder Migranten entmutigen, rin Merkel und EU -Kommissionschef terreise und Bewegungsfreiheit. Öster-
gangenen Tagen hat sich die Lage zuge- Österreich. Die Flüchtlinge folgen den zur Grenze eines anderes Landes der Juncker beim Balkan-Krisengipfel in reichisches Militär und Polizei zwingt
spitzt: am Dienstagabend kamen auf ein- Anweisungen. Sie sind hungrig, durstig Region zu ziehen«, heißt es in der Er- Brüssel vorgeschlagen haben. Bes- die Menschen in Warteschlangen und
mal 4.000 Menschen nach Österreich, die und von den Strapazen gezeichnet. Rund klärung. Das Ziel sei »eine allmähliche, serer Informationsaustausch, mehr -kessel zur Registrierung, viele warten
nicht mehr länger in Slowenien auf ihre 1.000 Menschen setzen sich auf den kal- kontrollierte und geordnete Bewegung« Hilfe für Flüchtlinge, gemeinsames schon über Nacht unter freiem Himmel
Weiterreise warten wollten. Sie drängten ten Asphalt. Wer den Anweisungen nicht der Menschen. [Handelsblatt] Management der Migrationsströme in der Kälte und das alles, nachdem sie
gegen Absperrungen und überkletterten folgt, darf auch nicht weiterreisen, so die von der Türkei bis Deutschland: schon tagelang enormen Strapazen auf
Zäune, an der Essensausgabe kam es Drohung. Der Balkan soll zur Transitzone Wer könnte etwas dagegen haben? der Balkanroute ausgesetzt waren.
kurzzeitig zu tumultartigen Szenen. werden, in der »berechtigte« Doch hinter diesen Worten steht Die Route wurde nach der Über-
Nach der ersten Aufregung beruhigte 25. Oktober: EU -Flüchtlingsgipfel ein ungesagtes Ziel: Der Balkan windung auch der slowenischen Wi-
und »chancenlose« Flüchtlinge
sich die Lage schnell wieder. Die meisten Sicherlich setzte insbesondere die Mer- soll zur Transitzone werden, in der derstände wieder flüssig, zumindest für
Menschen konnten noch in der Nacht wei- kel-Regierung gewisse Hoffnungen auf registriert, aussortiert und »berechtigte« und »chancenlose« die Migrant_innen aus Syrien, dem Irak
terreisen, die letzten Flüchtlinge wurden einen Sondergipfel der EU zur »Flücht- abgeschoben werden. Flüchtlinge registriert, aussortiert und Afghanistan. An nahezu allen Orten,
am Mittwochvormittag in Unterkünfte lingskrise« auf dem Balkan Ende Ok- und abgeschoben werden. Was Mer- an denen sie aufgehalten wurden, gab
gebracht. tober 2015. Aber die EU -Nachbarn kel in Deutschland nicht umsetzen es beheizte Zelte und Verpflegung, La-
blieben stur und immer häufiger wurde 1. November: kann, soll nun in Kroatien, Bulgarien destationen für die Handies und freies
22. Oktober: Stau in Spielfeld in Deutschland die Frage gestellt, wie EU -Innenministerkonferenz oder Griechenland Wirklichkeit werden. WLAN. Von Gevgelija verkehrten Züge
Und Die Welt räsonierte unter der lange Merkel den Kurs würde halten Dennoch wurden auf diesem Gipfel – Zeitgleich mit dem EU -Gipfel in für 25 € pro Person, in Preševo standen
Schlagzeile Für jeden, der weiter darf, können. Die AfD skandierte auf ihren und eine Woche später auf einem Tref- Brüssel wurde von Aktivist_innen, wel- die Busse Schlange, um die Migrant_
kommen zwei Neue an: Kundgebungen »Merkel muss weg«. Vor- fen der Innenminister – atmosphärisch che die Migrant_innen bedingungslos innen für 35 € nach Šid zu befördern,
Das österreichische Spielfeld ist dergründig erbrachte der Gipfel nichts wichtige Weichen gestellt. Niemand unterstützten, zu einer Demo in Spiel- durch Kroatien fuhren die Züge kosten-
das neue Zentrum der Flüchtlingskrise. Neues außer ein paar Millionen für hätte die Absicht, Lager zu bauen, feld aufgerufen: Für Bewegungsfreiheit, los bis zum neuen Registrierungslager
Österreich kapituliert vor dem Ansturm Slowenien. Wie schon mehrfach zuvor schrieb die TAZ in jenen Tagen anlässlich gegen Grenzzäune! In Spielfeld und in Slavonski Brod und von dort mit der
aus Slowenien und lässt Flüchtlinge über wurden Hotspots und Verteilungsquoten des Gipfels. Und sie fuhr fort: Überall! Bahn durch Slowenien in fünf Stunden
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Die »Lösung«
der EU

März 2016, Idomeni, GR

Überreste des Camps


nach der Räumung,
Sommer 2016, Idomeni, GR

Das informelle Camp in Idomeni, März 2016, GR

Räumungen von
selbstorganisierten Orten
Auf der Route gab es immer wieder Orte, an denen sich viele
Menschen sammelten, weil sie an ihrem Weiterkommen
gehindert wurden. Diese Nadelöhre boten meist Infrastruktur,
Nähe, die Möglichkeit sich zu besprechen und zu organisie-
ren. Damit waren sie auch immer Schauplätze von politischen
Aushandlungen und Protesten.
Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze war
zum politischen und symbolischen Aushandlungsort für »Wenn ihr uns töten wollt, tötet
offene Grenzen geworden. Trotz der unmenschlichen Bedin- uns direkt. Beendet es, beendet
gungen dort war es damit ein Ort der Hoffnung und des das Spiel. Wir spielen ein
Widerstands im Flucht-Korridor. Die Menschen, die in Idomeni Spiel. Wir sind der Fußball,
auf das Weiterkommen hofften, wurden immer wieder von wisst ihr? Einer tritt uns, die
der griechischen Polizei gezwungen, den Ort zu verlassen. andere Seite tritt uns auch.
Am 25. Mai 2016 wurde das Lager vollständig geräumt. An der Grenze ist der Torwart.
Und sie treten uns, sie fangen
Tausende Menschen wurden auf verschiedene, staatlich
uns und schicken uns zurück.
betriebene Lager in Nordgriechenland verteilt. Alles, was sich
Wir sind also der Fußball und
bis dahin an Selbstorganisierung und Strukturen gebildet
wann das Spiel vorbei sein wird,
hatte, war dadurch zerschlagen. Auch an anderen Orten, an wissen wir nicht.«
denen sich viele Menschen aufhielten, besprachen, kollektiv
Junger Mann in Belgrad im Mai 2017
handelten und sichtbar waren, wurde dies unterbunden.

bis nach Villach. Für die 1.200 km über einzugehen bereit waren. Die Zahl der partiellen Grenzschluss profilierte sichzu Reaktionen und Überreaktionen Racial Profiling ersetzt wurde, durch
den Balkan bis nach Österreich benöti- Überfahrten sank und die Zahl der Er- Mazedonien als »neuer europäischer der vorgelagerten Staaten. Alle hatten die Zurückweisung von Migrant_in-
gen die Migrant_innen nur noch drei bis trunkenen stieg. Dennoch überwanden Frontstaat«. Indem die rechtsnationale Sorge, abgewiesene Migrant_innen nen aufgrund von nationaler Herkunft,
vier Tage. In Villach bestiegen sie Busse im November und Dezember immer mazedonische Regierung dem Druck nicht weiter durchreichen zu können. ethnischer Zugehörigkeit, Hautfarbe
nach Braunau und waren dann fast noch 1.500 bis 5.000 Migrant_innen aus der EU willig nachgab, versuchte Slowenien hatte seinen Zaun als erstes oder Dialekt. Unterschieden wurde
schon in Deutschland – all dies vor allem täglich die wenigen Kilometer zwischen sie – angeschlagen durch innere Kon- fertiggestellt und verhandelte nun aus nun zwischen SIA - und Non-SIA -Mi-
ein Erfolg der hier beschriebenen Kette dem türkischen Festland und den ägäi- flikte – sich über die europäische Karteeiner relativen Position der Stärke und grant_innen, und es war nur eine Frage
von Kämpfen der »Generation nach schen Inseln und in den ersten Wochen zu stabilisieren. quasi als Vertreterin der EU mit seinen der Zeit, wann Refugees aus Afghanis-
Röszke«, in denen die Migrant_innen des Jahres 2016 überstiegen die Zahlen Nachbarn. Es war dann auch tan ebenfalls die Weiterreise verweigert
in Zweierreihen antreten und im Matsch die des Vorjahres um ein Vielfaches – bis Jedes Gerücht über eine Stockung Slowenien, welches dazu über- werden würde, ungeachtet der stetig sich
kampieren mussten oder durch Gitter zum März, als der schmutzige Deal mit im Transit führte zu Reaktionen und ging, Migrant_innen mit ge- verschlechternden Sicherheitslage in die-
getrieben wurden »wie Vieh«, aber in der Türkei den Weg über die Ägäis mit
Überreaktionen der vorgelagerten ringer Aussicht auf Asyl nach sem Land. Dass sich Dolmetscher_innen
denen sie ihr Right to Move nicht min- überraschender Effizienz verschloss. Kroatien zurück zu weisen. Kro- des UNHCR am Profiling der Migrant_
der robust verfolgten wie vor ihnen die Der Grenzübergang zwischen Staaten. Alle hatten Sorge, atien, Serbien und Mazedonien innen von vornherein beteiligten, ge-
»Generation Keleti«. Idomeni und Gevgelija war schon am abgewiesene Migrant_innen nicht zogen umgehend nach. Es be- hörte für viele Beobachter_innen zu den
weiter durchreichen zu können.

I
22. August Schauplatz einer Feld- stand kein Zweifel daran, dass großen Enttäuschungen.
domeni im Winter schlacht zwischen Polizei und Armee auf sämtliche dieser Maßnahmen Was sich in Idomeni während der
Wenn Polizei und Politik zwischen mazedonischer und tausenden Migrant_ Es wäre indes völlig falsch zu glauben, mit anderen EU -Staaten wie Deutsch- folgenden Tage und Monate abspielte,
Berlin und Balkan darauf gesetzt innen auf griechischer Seite gewesen. Mazedonien habe die Initiative zur land und Österreich abgesprochen wor- ist im Liveticker detailliert nachzule-
hatten, dass die Herbststürme in der Am 16. November begann mazedoni- Schließung der Balkanroute ergriffen. den waren. Am Abend des 18. November sen, den Aktivist_innen von Moving
Ägäis die »Flüchtlingskrise« lösen wür- sches Militär, das Gelände vor Gevgelija Der Zaun in Gevgelija war nicht der und in der folgenden Nacht kam es zu Europe unterhalten haben, und kann
den, sahen sie sich im November und für einen Zaun zu präparieren, nachdem einzige, er stand im engen Kontext der einer Kettenreaktion. hier nur zusammengefasst werden. Es
selbst noch im Dezember eines Besse- der mazedonische Ministerrat am Vor- allgemeinen Aufrüstung und Kontrollen wird berichtet von den Gruppen von
ren belehrt. Die Passagen wurden bei tag einen entsprechenden Beschluss an den Grenzen der Balkanroute. 18. November: Nur noch »SIA - Abgewiesenen, die sich zu Open Border
stürmischem Wetter billiger, so dass gefasst hatte. Zwei Tage später wurde Im Verhältnis der Transitländer Flüchtige« werden durchgelassen Kundgebungen zusammentaten, von ei-
nun auch Familien mit knapperen Res- die Grenze für alle Non-SIA -Migrant_ untereinander hatte sich seit September Dies war der Beginn einer neuen Ära nem Mann, der bei den Protesten durch
sourcen das Geld aufbringen konnten. innen – also für Menschen, die sich nicht ein nervöser Zustand des gegenseitigen in der kurzen Geschichte der Balkan- einen Stromschlag ums Leben kam
Die toten Kinder bezeugen, wie hoch als Syrer, Iraker oder Afghanen auswei- Belauerns entwickelt. Jedes Gerücht route, einer Ära, an deren Ende das und einem weiteren Schwerverletzten,
das Risiko war, das die Migrant_innen sen konnten – geschlossen. Mit diesem über eine Stockung im Transit führte Recht auf Anhörung und Asyl durch von den Iranern, die sich die Münder
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Lager im Industriegebiet Softex, Juli 2016, Thessaloniki, GR

Lager im Industriegebiet Softex, Juli 2016, Thessaloniki, GR

Relocation Programm Lager bei Diavata, Juli 2016, GR

Das Relocation Programm wurde


parallel zur Schließung des

Eine Welt voller Lager?


Flucht-Korridors eingeführt. Es
soll die Umverteilung von
Geflüchteten innerhalb der EU-
Länder regeln und stellt eine
der wenigen legalen Möglich­ Die Lager an den Rändern Europas sind auf Dauer ausgerichtet Lager gibt es in Europa und auf der ganzen Welt schon lange.
keiten des Weiterkommens dar.
und stellen einen Teil der angeblichen Lösung der soge­ Sie erfüllen verschiedenste Funktionen. Im Kontext von
Das Programm gilt nicht für
alle Menschen. Bewerben kann nannten Flüchtlingskrise dar. Durch die Schließung der Gren- Flucht und Migration dienen sie zum Beispiel der Versorgung,
sich nur, wer nach dem 16. Sep­ zen sitzen Tausende in Lagern fest. Allein in griechischen der Ordnung, der Kontrolle, aber auch der Organisierung.
tember 2015 Griechenland
Lagern befinden sich nach der Schließung der Grenzen im Große Lager sind schon lange Bestandteil der Migra­
erreicht hat und eine Staats­
angehörigkeit mit hoher inter­
März 2016 50.000 Menschen. Die EU fungiert als Geldgebe­ tionspolitik der Europäischen Staaten. Seit den 50er Jahren
nationaler Anerkennungsquote rin und finanziert diese Lager des Elends. Der UNHCR, das betreiben Europäische Staaten und UNHCR ein Lagersystem
vorweisen kann. Innerhalb des European Asylum Support Office, der griechische Staat, das über den ganzen Globus verteilt, die größten davon in Kenia,
griechisches Militär und viele NGOs agieren in diesen Lagern. Jordanien und dem Südsudan. Durch den erkämpften offenen
Programms werden diejenigen
bevorzugt, die als besonders
verletzlich und deshalb schutz­ Dass durch die Schließung der Route die Anzahl der Korridor und die anschließende Grenzschließung sind
bedürftig erachtet werden. in Deutschland Ankommenden sinkt, wird als Lösung und diese großen Auffanglager nun auch in Europa Realität.
Die Fokusierung darauf Erfolg der Politik gefeiert. Einige EU-Länder nehmen geringe
drängt die Geflüchteten nicht
nur in eine passive Opferrolle,
Zahlen von Flüchtenden über Verteilungs-Programme wie
sie dient auch dazu, das humane das Relocation Programm auf. Die meisten Menschen
Image der EU aufzupolieren. sollen jedoch an den Rändern Europas bleiben.
Auch jene, die besondere sprach­ »Wir hatten unsere Freiheit.
liche Kenntnisse vorweisen Wir waren Rebellen und
können, haben bessere Chancen Demonstranten in Syrien.
auf Aufnahme in das Relocation
Hier sind wir im Gefängnis.«
Programm. Es unterscheidet
somit auch nach einer möglichen Person in Idomeni nach der Grenzschließung im März 2016
ökonomischen Verwertbarkeit.

zunähten und auf den Gleisen in Hun- alledem noch passiv am Rande stehen- dieser Spaltungsmanöver gab es am untergebracht. Auf der Hinfahrt wurden Camp zu räumen. Dabei blieb den Ge-
gerstreik traten, ungeschützt vor Kälte blieb. Eine gewisse Niedergeschlagen- Morgen des 1. Dezember eine starke und die Busse bereits in Polykastro gestoppt, flüchteten kaum Zeit ihre Sachen zu
und den Regengüssen, die immer wieder heit machte sich breit. friedliche Demonstration der Migrant_ einer Auto­bahnraststätte 20 km vor der packen, viele Zelte wurden aufgeschlitzt
einsetzten. Es wird berichtet, wie SIA - Am 30. November rückte erstmals innen vor Ort und eine Demonstration Grenze. Dort mussten die Non- SIA - und das Camp in Verwüstung hinter-
Migrant_innen im Abstand von wenigen schwer bewaffnete griechische Polizei von Unterstützer_innen in Thessaloniki Migrant_innen die Busse verlassen. lassen. Den Geflüchteten wurde nicht
Metern an den Non-SIA-Migrant_innen an. Das war ein Montag, aber es sollte mit mehr als 1.000 Teilnehmer_innen. Viele liefen zu Fuß nach Idomeni. Das erlaubt, sich zu entfernen, sie mussten
vorbei geschleust wurden. Während noch bis zum folgenden Donnerstag, An diesem Tag kamen 30 Busse aus Camp verwandelte sich in eine Zone in Reisebusse steigen und wurden weg
Busse aus Athen beide Gruppen nach dem 3. Dezember, dauern, bis sie ein- Athen an. Am nächsten Tag, am 2. De- der Repression, es wurde von der Poli- gefahren, die meisten von ihnen nach
Idomeni transportierten, versuchten zember, gab es ein erneutes Auf- zei umzingelt und komplett gesperrt und Athen. Es gibt jedoch auch Informatio-
Mitarbeiter_innen des UNHCR un- Die Situation war absurd: bäumen der Migrationsbewegung am 9. Dezember schließlich geräumt. nen darüber, dass Menschen von Athen
entwegt, Non- SIA -Migrant_innen Tausende harrten vor dem Tor nach unter dem Slogan »Etihad«, Ein- weiter transportiert wurden oder einfach
zur Rückkehr nach Athen zu überre- heit zwischen den SIA - und den 9. Dezember: Erste Räumung auf offener Straße aussteigen mussten
Mazedonien aus, während andere,
den, und viele, vor allem Familien mit Non-SIA-Migrant_innen. Idomeni Teilweise gingen die Polizist_innen auch
Kindern, folgten diesem Aufruf. Am nur aufgrund eines anderen Eintrags Am Tag darauf zog sich das Zum Zeitpunkt dieser ersten Räumung mit Gewalt gegen Geflüchtete vor, die ihre
26. November wurde gerade erst aus in ihrem Registrierungspapier, gesamte UNHCR-Personal zu- waren zahlreiche Volunteers in Idomeni, Zelte nicht freiwillig verlassen wollten,
Ungarn angelieferter NATO -Draht die Grenze passieren durften. rück und die Non-SIA -Demons- deren Anwesenheit für die Migrant_in- darunter waren auch Kinder und Jugend-
auf dem in der Vorwoche bereits pla- trant_innen wurden von der grie- nen nicht nur wegen der Versorgung liche. So waren mehrmals Schmerzens-
nierten Gelände ausgerollt und von den griff, um Auseinandersetzungen zwi- chischen Polizei eingekesselt. Abends mit warmen Mahlzeiten und heißen Ge- schreie aus Zelten zu hören, in welche
Migrant_innen teilweise wieder abge- schen SIA - und Non-SIA -Migrant_in- trafen zehn Busse mit griechischer Be- tränken wichtig war. Sie war zugleich die Polizei eingedrungen war. Einzelne
räumt. Bei Regen und Kälte kamen im- nen zu unterbinden. Die Situation war reitschaftspolizei ein. 2.000 Menschen eine gewisse Garantie dafür, dass die Geflüchtete wurden während der Räu-
mer weitere Busse aus Athen an. ja absurd: Tausende harrten mit schwin- standen vor dem Grenztor, bevor die Migrant_innen nicht völlig der Polizei- mung von den anderen separiert, geschla-
Am 28. November flogen Steine in dender Hoffnung und in Eiseskälte vor griechische Polizei am nächsten Mor- willkür ausgesetzt waren, nachdem sich gen und in Polizeiautos abtransportiert.
Richtung der mazedonischen Sicher- dem Tor nach Mazedonien aus, während gen unter Waffen einen Korridor bildete, das Personal von UNHCR und die inter- Der Versuch sich das Geschehen aus
heitskräfte, die zurück geworfen wur­den, andere, nur aufgrund eines anderen Ein- um die SIA -Migrant_innen in kleinen nationale Presse längst zurück­gezogen nächster Nähe anzusehen wurde von der
dann setzte das Militär auch Rauchbom- trags in ihrem Registrierungspapier, an Gruppen zum Grenztor zu geleiten. Zu- hatten. Beispielhaft soll an dieser Stelle Polizei unterbunden. Ein verbliebener
ben und Tränengas gegen die Migrant_ ihnen vorbei gingen und die Grenze nehmend mehr Non-SIA -Migrant_in- ein Bericht von Grenzenlos Kochen Teil unserer Gruppe in Idomeni hat es
innen ein. Vor allem aber arbeitete das passieren durften. Natürlich löste dies nen bestiegen die Busse zurück nach Hannover zitiert werden: geschafft, tausende Decken, Schlafsäcke
mazedonische Militär weiter am Zaun, Frustration und Aggressionen bei den Athen und wurden dort in einem ehe- Am Morgen des 9. Dezember be- etc. zu sichern, die wir dann nach Thes-
während die griechische Polizei bei Non-SIA-Migrant_innen aus. Aber trotz maligen Olympia­stadion provisorisch gann die Polizei gegen 8.00 Uhr, das saloniki brachten. Bereits kurz nach
20

Verlagerung von Grenzen und Verantwortung »Wenn Sie mich fragen


Die Europäische Migrationspolitik knüpft an eine koloniale Der EU Türkei Deal was die Hölle auf
und imperiale Weltordnung an. Gekoppelt an Entwicklungs- Am 20. März 2016 schlossen die Türkei und die EU einen Deal Erden ist.
hilfegelder oder durch militärische Interventionen wird ab. Dieser wurde vor allem von Kanzlerin Merkel forciert und Ich werde sagen, das
beinhaltet, dass Personen, die nach diesem Stichtag Griechen- sind die Gefängnisse
versucht, Migration zu kontrollieren. Die innenpolitische
in der Türkei.«
Debatte um geflüchtete Menschen ist zunehmend mit mili­ land erreichen, wieder in die Türkei abgeschoben würden.
tärischen und sicherheitspolitischen Politiken verknüpft. Für jede abgeschobene Person würde die EU eine geflüchtete Eine Frau aus Kurdistan berichtet von
türkischen Lagern und Gefängnissen,
Die europäische Politik nimmt Einfluss auf die Bewegungs- Person mit syrischem Pass direkt aus der Türkei aufnehmen. Diavata, Griechenland, Juli 2016

freiheit und den Zugang zu Ressourcen weltweit. Im Gegenzug schweigt die EU zum Krieg in Kurdistan und zu
Schon lange spielen Nicht-EU-Länder wie beispiels- Freiheitseinschränkungen in der Türkei. Zudem wurde der
weise Marokko, die Türkei oder Serbien eine entscheidende Türkei für dortige Flüchtlingsprojekte ein Betrag von 6 Mrd. €
Rolle für die Migrationspolitik der EU. Ihnen wird durch in Aussicht gestellt. Bis Ende 2017 wurde davon etwa die
zwischenstaatliche Abkommen oder finanzielle Anreize eine Hälfte ausbezahlt. »Exekutionen nicht
zahlungsfähiger
Migrations- und Asylpolitik nahegelegt, die Personen schon
Migranten, Folter,
außerhalb der EU abfängt.
Vergewaltigungen,
Auch sogenannte Rücknahmeabkommen sind schon Erpressungen
lange Bestandteil der EU-Migrationspolitik. Sie verpflichten sowie Aussetzungen
Staaten dazu, eigene Staatsbürger_innen sowie (unter bestim­ in der Wüste
m­ten Voraussetzungen) Staatsbürger_innen von Drittstaaten sind dort an der
oder sogenannte Staatenlose zurückzunehmen. So ermög­ Tagesordnung.«
lichen sie Abschiebungen. Bericht des auswärtigen Amtes
zur Situation in Libyen, Januar 2017

der Räumung begannen die Aufräum- auf den Weg nach Idomeni und gerieten etwaiger Beweispapiere entschieden. dieser Menschen ist extrem schlecht. hunderttausende Migrant_innen in Mas-
arbeiten: Decken, Zelte etc. wurden mit in Auseinandersetzungen mit der Poli- NGO s wie z.B. Ärzte ohne Grenzen sind Eine kleine Gruppe versucht, diese zu senlagern aufzuhalten. Das eingezäunte
Baggern in den Müll geschmissen. zei. Die griechische Regierung hatte für Aufgaben wie die Ausgabe von Decken erreichen und verteilt Tee, Lebensmittel, Kerneuropa schien Griechenland opfern
Seit gut einer Woche gibt es ein neues nach der Räumung verboten, dass z.B. und die medizinische Versorgung vor warme Sachen und Infos. zu wollen und Italien hatte Mühe, seinen
Hausprojekt in Thessaloniki, das extra Medicins Sans Frontieres ( MSF ) seine Ort. Die gesamte Kleiderausgabe und Unterdessen lancierten die maze- Verbleib auszuhandeln.
für Geflüchtete besetzt wurde. Das Zelte in Idomeni nutzen durfte. Nur Teeküche wird aber beispielsweise nur donischen Grenzbehörden immer wie- Durch diese Drohung sah sich
Hausprojekt hat Kapazitäten für 100 diejenigen, die auch gleich die Grenze durch unabhängige Unterstützer_innen der neue Schikanen auch gegenüber die Tsipras-Regierung derart unter
bis 150 Personen. überquerten, durften nach Idomeni ge- getragen. den SIA -Migrant_innen. Anforderun- Druck gesetzt, dass sie in der Folgezeit
Die erste Räumung des Lagers in bracht werden. So blieben in den gen an Dokumente wurden willkürlich den anstehenden Verhandlungen mit
Idomeni hatte indes nicht lange Bestand. kältesten Tagen des Jahres tau- Die erste Räumung des Lagers in geändert, die Grenze wurde in der 3. der Türkei keinen Widerstand mehr
Weiterhin kamen ja täglich Busse aus Pi- sende warme und einigermaßen Idomeni hatte nicht lange Bestand. Kalender­w oche für einige Tage ganz entgegensetzte.
räus und brachten weitere Migrant_in- gute Schlaflager in Idomeni leer, geschlossen, dann durften nur noch Per-
nen von den Inseln. Es wurde nach wie während MSF gleichzeitig an der Tank- Die Situation für die Flüchtenden aus sonen mit den registrierten Zielländern 3. Februar 2016: Balkan-Innen-
vor versucht, die Non-SIA-Migrant_in- stelle in Polykastro Erfrierungen und anderen Nationen, die hier an der Grenze Österreich oder Deutschland passieren. ministerkonferenz mit Kurz, ohne
nen an der Tankstelle von Polykastro zu Unterkühlungen behandeln musste. abgewiesen werden, ist besonders pre- Griechenland
selektieren. Die Busse stauten sich dort MSF appellierte vehement an Griechen- kär. Viele Menschen, vor allem junge 27. Januar 2016: Wenige Tage später, am 3. Feb-
und warteten mitunter zwanzig Stun- land, die Zelte wieder nutzen zu dürfen. Männer, stranden hier ohne einen Cent EU -Innenministerkonferenz ruar, tagten die Innenminister von Ma-
den, bis sie nach Idomeni weiterfahren Irgendwann konnte Griechenland diese in der Tasche. Sie werden zumeist ge- Zeitgleich mit der EU -Innenminister- zedonien, Österreich, Serbien, Kroatien
durften. Praxis dann nicht mehr aufrechterhal- zwungen, mit Bussen zurück nach Athen konferenz in Amsterdam am 27. Januar und Slowenien. In Verlängerung der
Die ausgesetzten Non- SIA -Mi- ten und das Lager in Idomeni füllte zu fahren. Viele kehren allerdings zurück 2016 kam es erneut zu einem Rückstau Amsterdam-Konferenz einigte man sich
grant_innen indes traten nur zum Teil sich wieder. Ein Aufruf unabhängiger und harren hier im Umland von Idomeni an der Grenze. Mazedonien nahm an auf einen ständigen Informationsaus-
den Rückweg nach Athen an. Dort Volunteers vom 5. Januar verdeutlicht in den Wäldern und alten Baracken aus dieser Konferenz nicht teil, vielleicht tausch und zusätzliche Grenzpatrouillen
wurden Gruppen von Algeriern, Ma- die Situation: und versuchen entweder auf eigene fürchtete man, von dortigen Beschlüssen sowie auf die weitere Entschleunigung
rokkanern, Pakistanis und Banglades- Täglich kommen zwischen 600 und Faust über die Grenze zu kommen oder überrascht zu werden. Es wurden nur durch Einführung eines neuen Reise-
his auf den Straßen festgenommen und 3.000 Menschen an der griechisch-maze- sich schleppen zu lassen. Doch in Maze- kleine Kontingente ins Land gelassen. dokuments, für dessen Erhalt sich alle
in Abschiebegefängnisse gebracht, wo donischen Grenze Idomeni an. Passieren donien werden sie meist von Polizei und Was auf dieser Konferenz in Amster- Migrant_innen einer 30-minütigen Be-
sie einen Hungerstreik begannen. Auch dürfen diese allerdings nur Flüchtende Militär aufgegriffen, zusammengeschla- dam tatsächlich diskutiert wurde, war fragung zu unterziehen hatten.
von Selbsttötungsversuchen wurde be- aus Syrien, Afghanistan und dem Irak. gen, ausgeraubt und nach Griechenland die Option, Griechenland aus dem Die treibenden Kräfte, die auf eine
richtet. Viele aber machten sich zu Fuß Es wird willkürlich über die Echtheit zurück geschoben. Die Versorgung Schengen-Raum auszukoppeln und dort Schließung der Route drängten, waren
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Protest vor der deutschen Botschaft in Bamako


gegen Abschiebungen, Abschiebeanhörungen und
das La Valetta-Abkommen,
9. September 2016, Bamako, Mali
© afrique.europe-interact

Demonstration gegen die G20-Afrika-Konferenz,


Juni 2017, Berlin, DEU / © Mikkel Hansen

»Ich behaupte nicht,


dass Afghanistan
ein sicheres Her-
kunftsland ist.
Es gibt aber sichere
Gebiete. Ich bin mir
einig mit der Regie-
rung hier, dass wir
nicht wollen, dass  die
Jugend Afghanistan
verlässt, und wir
sind uns auch einig,
We‘ll come united Demonstration und CommUnity Carneval vor der Bundestagswahl 2017, 16. September 2017, Berlin, DEU
dass wir – möglichst
freiwillig – viele
Menschen zurück­
führen wollen in Zusammenarbeit mit Libyen Abschiebungen nach Afghanistan
sicherere Gebiete.« Auf der Konferenz in Malta im März 2017 diskutiert die EU Auch einzelne EU-Mitgliedsstaaten schließen bilateral soge­
Monitor: Thomas de Maizière (CDU), über ein Abkommen mit Libyen und beschließt einen Neun- nannte Rücknahmeabkommen mit Staaten außerhalb der
Bundesinnenminister, 2. Februar 2016
Punkte Plan. In Libyen herrscht nach wie vor Bürgerkrieg. EU ab. So schloss Deutschland auf der Münchner Sicherheits­
Trotzdem erhofft sich die EU, das Land als »Türsteherin« zu konferenz im Februar 2017 ein Abkommen mit Afghanistan,
gewinnen und dort sogenannte Aufnahmezentren zu er­rich­ welches Abschiebungen trotz des Kriegszustandes dort
ten. In diesen Lagern sollen Menschen eingesperrt und somit ermöglicht.
an ihrem Fortkommen nach Europa gehindert werden.
Die EU plant, in Zukunft Menschen in bestimmte, als
Legalitätsinseln bezeichnete Zonen in Libyen abzuschieben.
Zudem wurde die Zusammenarbeit mit und die Ausbildung
der libyschen Küstenwache im Rahmen des EU-Militär­
einsatzes im Mittelmeer weiter verstärkt. Aktivist_innen von
Sea Watch schilderten einen bewaffneten Angriff durch
die libysche Küstenwache auf eines ihrer Rettungsschiffe im
Einsatz. Bei dem Angriff starben mehrere Menschen.

»Wir sind aus Afghanistan. echt viele Probleme. Nach 10 zu diesem Zeitpunkt die Regierungen 18. Februar 2016: EU -Gipfel in Sie wussten, dass in diesen Tagen über
Bis hier haben wir viele Tagen haben sie uns diesen Österreichs und der Visegrád-Staaten. Brüssel ihr Schicksal debattiert und entschie-
schwierige Momente erlebt. Weg gezeigt und uns hierher Mazedonien hatte ja aus dem Durch- Der EU-Gipfel am 18. Februar in Brüssel den wurde und in allen Gesprächen im
Wir hatten viele Probleme auf gebracht. Jetzt ist hier die marsch der Migrant_innen bescheide- stand damit unter Zugzwang. Merkel Lager war dies das dominante Thema.
dem Weg. In Afghanistan gibt Grenze zu und sie sagen nen Profit gezogen. war inzwischen innen- wie außenpoli- Noch war die Hoffnung, trotz Schlamm
es die Taliban, Isis, und es Afghan_innen dürfen nicht Österreich und die Visegrád-Staa- tisch in einer Weise unter Druck geraten, und bitterer Kälte, nicht gestorben. Aber
gab viele andere Probleme über die Grenze. Ein Afghane ten erneuerten nun auf dem Spitzen­ dass sie die schrägen Interventionen Ös- schon am 21. Februar wurde der nächste
unter uns. Danach sind wir in ist vor all den Problemen, treffen am 15. Februar das Angebot an terreichs unter leisem Protest geschehen Schritt zur Eindämmung der Migration
den Iran gegangen und da gab die er oder sie hatte, geflo- Mazedonien, die Grenze zu inszeniert: wie befürchtet wurde die
es viele rassistische Pro­ hen und will sich retten. Er Griechenland mit verein- Ein Deal mit Erdogan erschien in dieser Grenze nun auch für Menschen aus
bleme, deswegen sind wir in kommt nicht zum Spaß hierher! ten Kräften militärisch zu Situation die einzige Lösung. Afgha­nis­tan geschlossen. Turbulente
sichern, so dass ab sofort Szenen waren die Folge, einen Tag später
Nur durch Unterbindung des weiteren
die Türkei gegangen. An der In der Essensschlange geben
türkischen Grenze hatten wir die nur den syrischen Leuten nicht nur Öster­reich und die hatte die griechische Polizei die Situation
auch viele Probleme. In der Essen und sagen, Afgan_innen Staaten entlang der Route, Zustroms über die Ägäis schien die aber wieder unter Kontrolle: mit Gewalt
Türkei im Wasser sind wir dürfen kein Essen bekommen. sondern auch Ungarn, Polen, Einheit Europas noch zu retten zu sein. hatte sie 200 Afghan_innen, welche die
fast ertrunken. Irgendwann Erst Syrer. Die sind geflüch- Tschechien und die Slowakei Schienen blockierten, abgeführt und
kam das Rettungsboot und hat tet – aber wir sind genauso mit ihren rechtsnationalen Regierungen lassen musste. Ein Deal mit Erdogan, mit 400 anderen in Bussen nach Athen
uns gerettet. Danach haben geflüchtet. Wir sind alle bereit waren, die Grenze notfalls auch zu welchem Preis auch immer, erschien transportiert.
sie uns fest­genommen und wir geflüchtete Leute hier. Warum mit Gewalt zu schützen. Zugleich stell- in dieser Situation die einzige Lösung.
waren 6 Tage im Knast. Im gibt es Unterschiede? Erst ten sich die Visegrád-Staaten offen ge- Nur durch Unterbindung des weiteren 24. Februar 2016: »Wiener Bal-
Knast gab es keine Heizung, Syrien, danach Irak und dann gen jede Politik der Umverteilung und Zustroms der Migrant_innen über die kangipfel spaltet Europa«
keine Decke, es gab nichts. Afghanistan. Warum dieser gegen die Dominanz Merkels in der EU. Ägäis schien die Einheit Europas noch Unterdessen hatte Österreich einen
Die Kinder sind dort krank Unterschied?.« Sie verkündeten, die Route auf jeden Fall zu retten zu sein. Westbalkangipfel zusammengerufen,
geworden. 6 Tage haben wir abriegeln zu wollen, und konnten sich um die weitere Reduzierung des Flücht-
Idomeni, März 2016
dort gelitten. Dann haben sie dabei der Unterstützung Österreichs 21. Februar 2016: Grenzschluss lingsstroms zu konkretisieren. Griechen-
uns für 10 Tage in ein Heim sicher sein. Der faktische Ausschluss für Menschen aus Afghanistan land und Deutschland waren nicht gela-
geschickt. Die wollten uns Griechenlands aus der Schengen-Zone Im Lager von Idomeni kampierten indes den. Während die deutsche Regierung
nicht entlassen. Es gab dort und die Spaltung Europas schienen tausende Menschen an der Grenze und eher pro forma Einspruch erhob, sah
vorprogrammiert. verfolgten diese politischen Debatten. sich die griechische Regierung einem
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Gehende. Tötet uns nicht zweimal! »Wir werden weiter gehen im Leben, trotz allem,
Majid Sraywell trotz der Grenzschließungen, trotz der Toten an der
Grenze. Ihr werdet uns nicht aufhalten können,
Acryl auf Leinwand egal was ihr macht, egal mit welchen Mitteln ihr
Originalmaße 74,5 x 120 cm versucht uns aufzuhalten. Eure Politik ist düster. Ihr
2017 steckt uns in dunkle Höhlen und versucht uns im
Nebel im Nirgendwo unsichtbar zu machen. Aber
wir machen weiter. Und irgendwann werden wir
in unsere Heimat zurückkehren. Und dann wird die
Geschichte zeigen, was wir unseren Kindern und
Enkeln eines Tages über euch erzählen werden. Seid
keine Schande für die Menschheit.«

Coup ausgesetzt, der jegliche Mitsprache und Kinder ausgegeben, Familien aus- ren hier 8.000 Hilfesuchende aus. Anfang März war die bevorstehende Das Lager in Idomeni, in dem inzwi-
über das, was auf der Route in Zukunft einander gerissen. Zugleich machte Jeder Dritte ist ein Kind. Sie wollen Schließung der Route mit den Händen schen mehr als 10.000 Menschen dar-
passieren würde, faktisch unterband. die serbische Polizei nunmehr Jagd auf weiter nach Mazedonien, weiter nach greifbar. Immer neue Schikanen wurden auf hofften, dass sich die Grenze doch
In Idomeni warteten noch immer Migrant_innen, die sich zum Teil schon Norden. Doch die Grenze ist zu. Gegen erfunden, zuletzt wurden auch Migrant_ noch öffnen würde, hatte durch tägliche
etwa 4.000 Menschen auf eine Möglich- seit Wochen in den Parks in Belgrad auf- Mittag haben mehrere Hundert das innen aus Damaskus, Dairalzour, Rakka Berichterstattung in der Weltpresse all-
keit, ihre Reise fortzusetzen. Und nach gehalten hatten. Hunderte schnitten sich Warten satt. Sie besetzen die Bahn- und Mosul sowie Flüchtende mit einem gemeine Bekanntheit erlangt. Die Foto-
wie vor machten sich Migrant_innen durch den ungarischen Grenzzaun und schienen an der Grenze, sie gelangen zu früh datierten Einreisestempel der graf_innen traten sich auf die Füße und
vom Camp im Polykastro und anderen wurden von der serbischen Polizei sogar bis zum Stacheldrahtzaun – Mazedo- Türkei nicht mehr akzeptiert. dokumentierten erste Schritte auf dem
provisorischen Lagern in Nordgriechen- dazu ermutigt. niens erste Verteidigungs- Weg zu einem selbstorganisierten Alltag.
land auf den Weg nach Idomeni – eine Ab dem 26. Februar Eine ganze linie. Dann drücken sie. 8. März 2016: Schließung der Aktivist_innen kochten oder begleite-
Route und Dirty Deal
ganze Region in Bewegung, wie Moving setzte die griechische Re-
Region Einige Flüchtlinge bewer- ten Spielgruppen für die Kinder. Norbert
Europe schrieb. gierung die Transporte von fen Polizisten auf der an- Bis zur endgültigen Schließung der Blüm traf ein, um eine Nacht im Camp
Unruhe verbreitete sich auf der den Inseln nach Piräus aus in Bewegung. deren Seite mit Steinen, Route am 8. März, koordiniert zwi- zu verbringen, und mit ihm eine weitere
gesamten Route. Slowenien wies alle und auch der Busverkehr Beamte werden dabei schen allen betreffenden Staaten außer Heerschar von Reporter_innen.
Migrant_innen mit ungültigen Papieren von Piräus nach Idomeni wurde einge- verletzt. Als der Zaun fast eingeris- Griechenland, war es dann nur noch ein
über Kroatien nach Serbien zurück. In stellt. Trotzdem füllte sich das Lager in sen ist, antworten die mazedonischen kleiner Schritt. Am selben Tag wurde 14. März: New #marchofhope
Tabanovce, vor der Grenze von Maze- Idomeni jeden Tag mehr. Sicherheitskräfte mit Tränengas. der schmutzige Deal mit Erdogan aus- Am 14. März formierte sich ein Marsch
donien nach Serbien, warteten 800 Afg- Idomeni an der Grenze zu Mazedo- Die Menge zieht sich zurück. Wenig spä- gehandelt. Weder durch den Einsatz von 2.000 Migrant_innen, um abseits
han_innen auf Durchlass. Seit dem 19. nien. Das griechische Dorf ist zum Sym- ter sind viele aber wieder da. »Geht zu- von Frontex-Fregatten noch durch die des mazedonischen Zauns einen Fluss
Februar wurden auch in Serbien keine bol geplatzter Träume geworden. Träume rück, geht zurück«, ruft ein griechischer Öffnung von Hotspots war die Zahl der zu überqueren und sich dann nach Nor-
Transitdokumente mehr ausgegeben. von einer Zukunft in Deutschland. Für die Beamter. »Egal, was ihr tut, die Grenze Migrant_innen, die auf Schlauchbooten den durchzuschlagen. Ein Seil wurde
Die Migrant_innen einschließlich derer, meisten Flüchtlinge, so scheint es, ist die wird geöffnet, wenn sich die Länder dazu von der Türkei zu den griechischen In- über den Strom gespannt, man half sich
die über Dimitrovgrad aus Bulgarien Reise hier vorbei. Idomeni ist der Ort, an entscheiden.« Seine Worte verhallen. seln übersetzten, gesunken. Nach dem gegenseitig, Familien und Kinder ge-
einreisten, wurden aufgefordert, sich in dem Europas beschämende Antwort auf »Warum lassen sie uns nicht durch?«, 20. März, nach Inkrafttreten des Deals, langten unbeschadet ans andere Ufer
Gevgelija eines der neuen biometrischen die Krise für alle sichtbar wird. schreit ein Flüchtling zurück. »Wir wol- aber gelang es der türkischen Polizei bin- (am Tag zuvor waren zwei Menschen
Dokumente ausstellen zu lassen, das sie Für 1.500, vielleicht für 2.000 len hier nicht bleiben. Sagt ihnen, dass nen weniger Tage, die Abfahrten von der bei dem Versuch, einen größeren Fluss
niemals bekommen würden. Humani- Menschen war das Flüchtlingslager wir nach Deutschland wollen.« türkischen Küste aus nahezu vollständig in der Nähe zu überqueren, im reißenden
täre Dokumente wurden nur an Frauen an der Grenze ausgelegt. Jetzt har- [Spiegel Online] zu unterbinden. Strom ertrunken).
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Eine andere Welt


ist möglich ...

Das haben der March of Hope, die »Willkommen« rufenden Grenzen sind niemals vollständig abgeriegelt. Auch jetzt
Menschen an Bahnhöfen, die Tausenden von Geflüchteten, kommen noch immer Menschen in ihren Zielländern an.
die immer wieder kollektiv über Grenzen gingen, und all die Auch die vielen im Winter 2015/2016 nach Deutschland
solidarischen Personen, die mit viel Einsatz Unterstützung gekommenen Personen sind hier. Es ist eine Entwicklung in
geleistet haben, gezeigt. Sie alle standen zusammen in dem Gang, die sich so schnell nicht wieder zurückdrehen lässt.
Moment, als die Festung Europa Risse bekam. Das Einzige, was diese Politik der geschlossenen Gren-
Heute scheint vieles davon in den Hintergrund zen und der Abschottung erreicht, ist den Preis für das
gedrängt und in Vergessenheit geraten zu sein. Wer jedoch Ankommen und das Leben in Europa in die Höhe zu treiben.
genauer hinschaut, sieht, dass jenseits der medialen Menschen sterben durch diese Politik oder werden in die
We‘ll come united Demonstration und
CommUnity Carneval vor der Bundestagswahl Öffentlichkeit noch immer Menschen tagtäglich für ihre Illegalität gedrängt und ihnen wird ein Leben mit gleichen
2017, 16. September 2017, Berlin, DEU /
© Ekvidi Photography
Rechte in Deutschland und in Europa kämpfen. Wer will, Möglich­keiten, Rechten und Perspektiven verwehrt.
sieht, dass noch immer Personen mit anpacken, wenn Wie können wir uns vom March of Hope inspirieren
Unterstützung gebraucht wird oder eine Abschiebung ver­ lassen, der für einen kurzen Augenblick die Möglichkeit
hindert werden muss. Es sind viele Netzwerke entstanden: einer anderen Gesellschaft aufgezeigt hat? In was für einer
Netzwerke zwischen Geflüchteten und Unterstützenden und Gesellschaft wollen wir leben? Wie können wir gemeinsam
Netzwerke innerhalb Europas und darüber hinaus. das Gerüst für diese andere Gesellschaft aufbauen?

Sofort war der Begriff eines new #march­ Stachel im schlechten Gewissen Euro- Rechts und ihrer Würde über die Gren- mit Vehemenz auf die Tagesordnung
ofhope in aller Munde. pas. Das Lager wurde am 24. Mai 2016 zen hinweg. Aus bombardierten Bevöl- gesetzt hat: Öffnung der Grenzen oder
Kurz nach dem Überqueren der endgültig geräumt, die Bewohner_innen kerungen wurden, erkennbar auch für Wohlstandsfestung, Öffnung der Ge-
Grenze stoppten mazedonische Mili­ wurden in Militärlager umgesiedelt, in die Einwohner Europas, Kinder, Frauen sellschaft oder Militarisierung und
tärs den Marsch. Die Flüchtenden denen sie es kaum besser hatten als im und Männer, die sich trotz aller Nöte als
Schießbefehl. Diese Fragen werden uns
wurden von Aktivist_innen und Jour- Schlamm von Idomeni. Im Gegenteil: Menschen mit Forderungen präsentie- durch die Migrant_innen weiterhin prä-
nalist_innen, die sie begleitet hatten, dort waren sie ihrer Kontakte beraubt ren und nicht um Almosen betteln. Der sentiert werden, auch wenn immer noch
separiert. In kleinen Gruppen wurden und erste Ansätze der Selbstorganisation Zusammenhang von europäischem mehr als Zehntausende von ihnen in
sie in umliegende Dörfer verfrachtet, wo wurden so zunichte gemacht. Wohlstand und der Armut der Periphe- Griechenland festgehalten werden und
sie mehrere Stunden ohne Wasser und Dass die Migrationsbewegungen, ebenso viele seither den ge-
Lebensmittel ausharren mussten, ehe über die wir an dieser Stelle berich- Aus bombardierten Bevölkerungen fährlichen Weg über das zen-
sie auf Mili­tärfahrzeuge verladen und tet haben, den Takt der europäischen wurden Kinder, Frauen und Männer, trale Mittelmeer nach Italien
zurück zur Grenze transportiert wurden. Krise über Monate bestimmten, kann eingeschlagen haben. Hinter
die sich trotz aller Nöte als Menschen
Durch ein Loch im Grenzzaun schoben nicht anders denn als epochaler Wen- diesen Migrant_innen ste-
die Soldaten sie nach Griechenland ab, depunkt begriffen werden. Zwischen mit Forderungen präsentieren und hen Hunderttausende mehr,
ohne dass ihnen zuvor zu irgendeinem There-Is-No-Alternative-Politik und nicht um Almosen betteln. die ihr Recht auf Mobilität
Zeitpunkt die Gelegenheit geboten wor- medialen Inszenierungen im halbwegs und Teilhabe einfordern und
den war, internationalen Schutz in Ma- saturierten Kerneuropa und einer mi- rie wurde krass erkennbar und die Frage umsetzen. Sie werden uns nicht mehr in
zedonien zu beantragen. litärischen Kontrolle der Peripherie stand im Raum, ob sich Europa an Bilder Ruhe lassen. Idomeni ist nicht das Ende
schien es vor dem Sommer der Migra- des Elends gewöhnen oder ändern will. der Geschichte. Europa wird bewegt.
24. Mai 2016: Endgültige Räu- tion keine Vermittlungen zu geben. Nicht die pure Zahl der Migrant_
mung Idomeni Das Mittelmeer erschien von Berlin, innen ist das eigentliche Problem. Auch
Mit diesem letzten großen Aufbäu- Brüssel und Paris aus als Perlenkette zehn oder zwanzig Millionen müssten
men an der griechisch-mazedonischen touristischer Events, durchsetzt von nicht verhungern und könnten in Eu-
Grenze schließt diese Chronologie. In No-Go-Zonen, die im Flieger oder auf ropa würdig aufgenommen werden. Im
Idomeni kam es in den folgenden Wo- dem Luxuskreuzer umschifft wurden. Mittelpunkt stehen vielmehr ganz an-
chen zu weiteren Protesten und die- Die Migrant_innen nun transpor- dere Fragen, Fragen nach der Zukunft
ser Ort blieb bis in den Mai hinein ein tierten Bewusstsein und Botschaft ihres Europas, die der Sommer der Migration
24

D
26. November 2015, Idomeni, GR

ie Ausstellung ist in einer Zusammenarbeit von mehre- Deutschland stattfanden, werden in der Ausstellung mittels
ren Personen entstanden, die auf der sogenannten Audio-, Video- und Fotoaufnahmen präsentiert.
Balkanroute Geflüchtete unterstützt haben und in politi- Außerdem sind von vier bildenden Künstler_innen
schen, kritisch-akademischen und künstlerischen Kontexten und einem Poeten Werke zu sehen, in denen sie ihre Flucht­
engagiert sind. erfahrung verarbeitet haben.
Während der Gespräche auf der Route wurde deut- Die Ausstellung erhebt keinen Anspruch auf Vollstän-
lich, dass die Stimmen von Refugees in Deutschland mehr digkeit. Die Materialien stammen größtenteils aus Griechen-
Gehör finden müssen. Da sie die Haupt­akteur_innen der land und Serbien, viele Interviews wurden während der 
Balkanroute waren, rücken sie in den Vorder­grund der Aus- verschiedenen (Teil-) Grenzschließungen gemacht und decken
stellung. Ihre Sichtweise auf Migration und Europa findet die Zeit des offenen Korridors im Sommer/Herbst 2015
hier eine Platt­form: Zahlreiche Gespräche und Interviews mit nicht umfassend ab.
Geflüchteten, die in Nordgriechenland, Serbien oder in

Orte, an denen die Ausstellung Beteiligte Künstler_innen, Unser besonderer Dank geht an Kuration und Realisierung Redaktion der Zeitung
gezeigt wurde und wird Filmemacher_innen all die vielen Gesprächs- und der Ausstellung Autor_innen der Ausstellung &
und Fotograf_innen Interview­partner_innen, Men­ Wesam Alfarawti Thomas Kram
10. – 24. November 2017 Tarek Alfelou schen, die Materialien von Mira Lou Braun Eberhard Jungfer
Göttingen Mayada Alkayal ihrer Flucht beigesteuert Petja Dimitrova
Joost van Beek haben, zahlreiche Übersetzer_ Luise Marbach Layout der Zeitung
12. – 20. Dezember 2017 Esat Behrami innen, unsere Lektor_innen, Nils Nadrowski Franziska Stübgen
Witzenhausen Felix Böhmer viele Freund_innen und poli­ Svenja Schurade Christian Treffler
John Domokos / The Guardian tischen Gefährt_innen für Jörg Sidow
22. Januar – 7. Februar 2018 Kenan Emini gemeinsame Diskussionen und ihr Franziska Stübgen Diese Zeitung entstand in
Osnabrück Oliver Feldhaus Feedback, alle Beteiligten im Kooperation mit
Markus Fiedler / Reziprok-Film / fcmc Lehrforschungsprojekt 16/17
10. – 25. Februar 2018 Fish in Water Films »Flüchtlinge in Göttingen —
Müncheberg Danillies Hernandez / Women in Exile eine ethnographische Erfor­
Watheq Fayyadh Khazaal schung von Aufnahme­politiken
9. April – 11. Mai 2018 Luise Marbach und Lebensumständen« am
Gießen ROMADNESS – Strange Movies Production Institut für Kulturanthropolo­
Iman Shaaban gie/Europä­ische Ethnologie
12. Mai – 11. Juni 2018 Allegra Schneider der Georg-August Uni­versität
Obertshausen Marc Speer Göttingen, Labor für kritische V.i.S.d.P.
Majid Sraywell Migrations- und Grenzregime­ Forschungsgesellschaft
29. August – 26. September 2018 Salinia Stroux forschung, viele weitere Men­ Flucht & Migration e.V., Berlin.
Frankfurt a.  M. Soli-Konvoi Halle-Leipzig schen, die uns infrastrukturell
unterstützt haben. Januar 2018
Weitere Städte in Planung: Ohne die Unterstützung von vie­
Wien, Berlin, München, Halle, len weiteren Personen wäre die www.yallah-balkanroute.eu
Potsdam u.a. Ausstellung nicht realisiert
worden.

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