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KARL PESTALOZZI

NIETZSCHES GEDICHT
„NOCH EINMAL EH ICH WEITER ZIEHE .
AUF DEM HINTERGRUND SEINER JUGENDLYRIK

Die Bedeutung, die Nietzsche für uns hat, kann leicht dazu verleiten, sei-
ne Jugendgedichte unter der Optik „ex ungue leonem" zu lesen, d. h. darin
Spuren, vor allem inhaltlicher Art, zu suchen, in denen sich seine spätere Phi-
losophie ankündigt. Das ist um so verständlicher, als wir uns ja nicht für die
Verse dieses Schülers von Schulpforta aus dem mittleren 19.. Jahrhundert inter-
essieren würden, wenn wir nicht wüßten, was später aus ihm geworden ist.
Dennoch darf das nicht zu einer Vereinnahmung.des frühen Nietzsche durch
den späteren führen. Angemessener und ergiebiger wäre es wohl, die Eigenart
dieser frühen Gedichte aus ihnen selbst, den Umständen ihrer Entstehung und
Nietzsches damaligem Selbstverständnis zu erfassen. Ein solcher Versuch soll
im folgenden skizziert werden.

Nietzsche hat früh damit begonnen, Gedichte zu schreiben. Als er noch


nicht vierzehnjährig war und im Frühherbst 1858, vor dem Eintritt in Schul-
pforta, einen Lebensrückblick1 nierderschrieb, konnte er schon selbstbewußt
drei Perioden seiner Lyrik unterscheiden: erste Poesien, „an Form und Inhält
unbeholfen und schwer", die jedoch persönlich waren, eine zweite Periode mit
Gedichten „in geschmückter und strahlender Sprache"2, denen es aber an Ge-
danken fehlte, und eine dritte, in welcher er die erste und die zweite zu verbin-
den, „Lieblichkeit mit Kraft zu vereinen"3 suchte und deren Beginn er auf den
Tag genau datierte* Von diesen Schülergedichten sind nur die Titel überlie-
fen.4 Wie Nietzsche davon erzählt, läßt erkennen, daß es ihm dabei offen-
sichtlich darauf ankam, die Klassiker zu imitieren. Die Einteilung in drei Pe-

» SA III, S. 13-39^
2
Ebd. S. 25.
^ Ebd. S. 35.
4
Ebd. S. 36/37.
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rioden ist bei Schillers Gedichten üblich, der Lebensrückblick zitiert mit dem
Titel „Aus meinem Leben" und dem Bekenntnis, „ganz der Wahrheit getreu",
„ohne Dichtung"5 geschrieben zu haben, Goethes Autobiographie. Goethes
Gedichte werden auch ausdrücklich als Vorbilder genannt mit der zeitüblichen
leisen Geringschätzung der Sprache von Faust II.
Die Absicht, die Nietzsche beim Gedichtemachen leitete, spricht er im
Lebensrückblick mit dem merkwürdigen Satz aus: „Überhaupt war es stets
mein Vorhaben, ein kleines Buch zu schreiben und es dann selbst zu lesen."6
Darin könnte man einen Nachklang von Hegels Lyrikbestimmung vermuten:
„In der Lyrik . . . befriedigt sich das . . . Bedürfnis, sich auszüsprechen und
das Gemüt in der Äusserung seiner selbst zu vernehmen."7 Tatsächlich hat
Nietzsches Satz mit Hegels Bestimmung nur das Moment der Reflexivität ge-
meinsam, der Rückwirkung des Geschriebenen auf den Schreibenden. Bei He·^
gel konstituiert sich auf diesem Weg das Selbstbewußtsein. Bei Nietzsche je-
doch geht es um eine Reflexivität mehr äußerlicher Art, wie sein Nachsatz ver-
rät: „Diese kleine Eitelkeit habe ich jetzt immer noch." Es kam ihm offenbar
darauf an, sich als Autor erleben zu können, der. durch seine Autorschaft teil-
hatte an der Gemeinschaft der Dichter, vor allem auch am Nimbus, mit dem
sie die bürgerliche Gesellschaft umgab. Daß auch so eine Stärkung des Selbst-
bewußtseins erfolgen konnte, leuchtet ein. Ihren sichtbaren Niederschlag fand
diese „Eitelkeit" darin, daß er seine Gedichte gern zu Sammlungen zusam-
menstellte, zu denen er Inhaltsverzeichnisse entwarf. Auch verhielt er sich sei-
ner Lyrikproduktion gegenüber bald schon ausgesprochen philologisch, nach-
laßbewußt, wenn er jeweils sorgfältig die Entstehungsdaten vermerkte.
Die Gedichte Nietzsches, die sich aus den Jahren 1858—1864, der Zeit in
Schulpforta, erhalten haben8, bestätigen, daß es ihm nicht auf Erlebnislyrik im
Goetheschen Sinn ankam. Es sind darunter die meisten Gedichtarten der
deutschen Klassiker, Romantiker und ihrer Epigonen vertreten. Nach dem In1
halt betrachtet sind es Naturgedichte, Tageszeiten-, Jahreszeiten-, Lebensal-
ter-Gedichte, Liebesgedichte, allerdings nur wenige, Stimmungsgedichte, reli-
giöse und vaterländische Gedichte. Der Form nach finden sich Volksliedhaf-
tes, Balladen, Spruchgedichte, Erlebnisgedichte, komische Parodien. Es ist
unverkennbar, daß Nietzsche mit diesen Gedichten produktiv auf eigene Lek-
türe reagierte, private oder solche, die durch den Deutschunterricht bei Ko-
berstein angeregt war. Meist läßt sich sogleich erkennen, wer ihn inspiriert
hatte, Brentano, Eichendorff, Heine, Goethe, Platen, Lenau, Rückert etc. Wo
ein Vorbild nicht ohne weiteres ausgemacht werden kann, handelt es sich um

56 Ebd. S. 39.
Ebd. S. 21.
7
Hegel, Aesthetik, hrsg. von F. Bassenge. Berlin 1955. S. 1000.
8
Sie finden sich in der BAW Bde. 1,2.
Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe . . . " 103

poetae minores, die wir nicht mehr kennen. Man gewinnt den Eindruck,
Nietzsche habe sich dichtend die damals im Schulkanon oder im allgemeinen
Bewußtsein der Gebildeten gängigen Lyrikarten und -töne angeeignet. Daß er
auch Hölderlin schätzte, deutet auch auf ein eigenes Urteil.
Indem er so anerkannte Lyriker imitierte und reproduzierte, suchte er sich
zum Dichter auszubilden. 1862 nahm er sich vor, im Hinblick auf seine bishe-
rige Produktion zu zeigen, „nicht wie man Dichter ist, geboren wird, sondern
wie man Dichter wird d. h. wie aus dem fleißigen Reimschmied bei wachsen-
der geistiger Fähigkeit auch schließlich ein wenig Dichter werden kann."9
Umgekehrt vermerkte er kritisch, der Ausdruck „poetischer Erguss" sei „eine
Hyperbel oder eine poetische Fiktion."10 Das steht im „Versuch einer Kritik"
an den „poetischen Leistungen W. Finders" im Rahmen der „Germania".
Dieser Freundschaftsdreibund sollte „zu einer größeren Ausbildung der Mit-
glieder in den Künsten und Wissenschaften beitragen" und verpflichtete die
Mitglieder zu poetischen und musikalischen Produktionen.n In der Kritik, die
sie aneinander übten, standen Fragen des dichterischen Handwerks im Vor-
dergrund. — Wollte man aus alldem einen poetologischen Grundsatz abstra-
hieren, so wäre eher an die imitatio-Poetik, die in Deutschland vom Humanis-
mus bis vor Klopstock galt, zu denken als an die Goethezeitliche Poetik der
Orginalität. Die intensive Beschäftigung mit antiken Autoren mag zu dieser
Hochschätzung des Handwerklichen beigetragen haben.
Sucht man eine zusammenfassende Bezeichnung für diese Jugendgedichte
Nietzsches, so bietet sich der Terminus „Parodie" an, allerdings nicht im en-
gen, auf die komische Parodie eingeschränkten heutigen Gebrauch, sondern
so, wie Gustav Gerber 1885 „Parodie" definierte: Die Parodie „will das Origi-
nal irgendwie in seinem Inhalt, seinem Wesen oder doch in der Art des Ein-
drucks, welche diesem eigen ist, durch Verwendung derselben Worte treffen,
wenigstens berühren, sei es, um an diese Worte eine weitere, tiefere Bedeutung
zu knüpfen, als ihnen im Original zukommt, sei es, um scherzend oder spot-
tend deren Gewicht zu zerstören, sei es auch nur, um durch Erinnerung an ein
von Trefflichen trefflich Gesagtes Teilnahme und verstärkte Wirkung für eige-
ne Darstellung zu gewinnen."12 Diese Definition ist deshalb so tauglich, weil
sie mit dem zuletzt Gesagten auch jene von Nietzsche bekannte „eitle" Wir-
kungsabsicht mit umfaßt. So lassen sich in diesem Jugendwerk ulkige Parodien
von solchen unterscheiden, in denen sich die Imitation eines Vorbildes nicht
ausdrücklich als solche zu erkennen gibt.
9
BAWBd.2, S.H9.
10
BAWBd,2, S.215f.
» BAW Bd. 2, S. 43$.
12
Zitiert im Art. „Parodie" von Alfred Liede im „Reallexikon der deutschen Literaturgeschich-
te", hrsg. von Werner Kohlschmidt und Wolfgang Mohr. Berlin 19652.
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Wenn man auf diese Weise Nietzsche seine Jungendlyrik gleichsam weg-
nimmt, provoziert man die Gegenfrage, ob denn darin nirgends Nietzsche als
Person jenseits aller Parodie zu fassen sei. Am persönlichsten, freilich in einem
äußerlich biographischen Sinn, sind die Gedichte auf bestimmte Gelegenhei-
ten, Weihnachten, Geburtstage etc. Eigenes in einem tieferen Sinn ist am ehe-
sten erkennbar in der vielfach wiederkehrenden Thematik von Heimat und
Fremde.13 In diesem zentralen Thema kann man eine Spiegelung des Heim-
wehs sehen, das Nietzsche in den ersten Jahren in Schulpforta nach Naumburg
erfüllte, dann aber auch des späteren Heimwehs nach der religiösen und geisti-
gen Geborgenheit seiner Herkunft, von der er bemerkte, daß sie ihm mehr und
mehr abhanden kam. Psychologisch gesehen wäre das Dichten nicht sosehr der
Versuch, zu sagen, was man leidet, als das Bestreben, im Anschluß an große
Vorbilder zu einem Selbstbewußtsein tu gelängen, das der Spannung von Hei-
mat und Fremde enthoben wäre und auf eigener Leistung beruhte. Sinnvoller
als solche schwer belegbaren Vermutungen ist es wohl, festzustellen, daß
Nietzsche sichtlich mehr und mehr Sicherheit im Umgang mit der Sprache ge-
wann. Die Gedichte werden gewandter, es unterlaufen weniger stilistische
Ausrutscher. Auch bemerkt man an funktional eingesetzten Formverstößen
oder Wonspielen, daß das Verhältnis zur Sprache reflektierter wird. Reflek;
tierte Sprach- und Formbeherrschung, Artistik also, darin vor allem liegt das
Nietzsche Eigene, das diese Jugendgedichte dokumentieren. .

II.

Auf dem Hintergrund des bisher Ausgeführten ist es nun äußerst bezeich-
nend, daß dasjenige Jugendgedicht, aus dem man immer schon Nietzsches ei-
gene Stimme vernommen hat, wie wir sie aus dem philosophischen Werk und
der im Zusammenhang damit entstandenen späteren Lyrik kennen><das aller-
letzte der in Schulpforta entstandenen Gedichte ist und diesen Abschied in der
Anfangszeile „Noch einmal eh ich weiter ziehe ..." auch thematisiert. Das
mag es rechtfertigen, dieses Gedicht etwas genauer zu betrachten.
Noch einmal eh ich weiter ziehe
Und meine Blicke vorwärts sende
Heb ich vereinsamt meine Hände
Zu dir empor, zu dem ich fliehe, .
Dem ich in tiefster Herzenstiefe
Altäre feierlich geweiht
Daß allezeit
Mich seine Stimme wieder riefe.
13
Vgl. Julia Kroedel, Heimat und Fremde in der Lyrik des jungen Nietzsche. Basler Lizentiatsar-
beit 1982 (ungedruckt).
Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe . . . " 105

Darauf erglühet tiefeingeschrieben


Das Wort: Dem unbekannten Gotte:
Sein bin ich, ob ich in der Frevler Rotte
Auch bis zur Stunde bin geblieben:
Sein bin ich — und ich fühl' die Schlingen i
Die mich im Kampf darniederziehn
Und, mag ich fliehn,
Mich doch zu seinem Dienste zwingen.
Ich will dich kennen Unbekannter,
Du tief in meine Seele Greifender,
Mein Leben wie ein Sturm durchschweifender
Du Unfaßbarer, mir Verwandter!
Ich will dich kennen, selbst dir dienen.14
Julia Kroedel hat zeigen können, daß auch dieses Gedicht von einer Vorlage
abhängt, einem Kirchenlied von Balthasar Munter (1735—93) aus dem „Evan-
gelischen Gesangbuch zum Gebrauch der Stadt Halle und der umliegenden
Gegend", das 1856 in 15. Ausgabe im Verlag der Buchhandlung des Waisen-
hauses in Halle erschien.15 Es steht darin als Nr. 431 unter der Rubrik „Von
der Bekehrung":
1. Mein Gott! du bist's, zu dem ich flehe:
Erbarme dich, erbarme dich! · ' · · · .
Noch einmal sieh von deiner Höhe
Mit gnadenvollem Blick auf mich!
Erbarme dich, und geh noch nicht
Mit mir ins strenge Zorngericht.
2. Wie oft hast du mir schon vergebet,
Wenn um Begnadigung ich bat!
Wie oft verhieß ich dir ein Leben,
Gereiniget von Missethat!
Wie feierlich war dann mein Eid
Des Glaubens und der Frömmigkeit!
3. Ach, aber bald ergriff mich wieder
Die Sund und ihre Lust mit ihr,
Riß meinen ganzen Vorsatz nieder,
Und herrschte wie zuvor in mir;
Zum Widerstande nicht zu schwach,
Gab ich doch ihrer Reizung nach.
14
Der Text nach BAW Bd, 2, S. 428, jedoch ohne die eckigen Klammern, da, wie das Facsimile
nach S. 320 zeigt, die Undeutlichkeit der Endbuchstaben -e und -n schon damals zu Nietzsches
Schreibgewohnheiten gehörte. Aufgrund der im Facsimile erkennbaren Verschreibung in der
zweiten Zeile der zweiten Strophe („Worte" statt „Gotte") darf man annehmen, es handle sich
bereits um eine Reinschrift. Das kann die weiter unten getroffene Annahme stützen, das Ge-
dicht sei nicht fragmentarisch. — Zur Wiederaufnahme der Thematik des Gedichts im „Zara-
thustra" vgl. Hans Joachim Mette, Von der Qual des Denkens. Wiener Studien 88, NF 9,1975.
15
Julia Kroedel, a, a. O. S. 84. Ich danke Frau Kroedel für die Erlaubnis, ihren Fund hier zu
publizieren und auszuwerten, "
106 Karl Pestalozzi

4. Wie viele sündenvolle Tage „


Durchlebt ich, Vater* als im Traum,
Und sammelte mir Schmach und Plage,
Und fühlte dieß mein Elend kaum!
Verwundet blutete mein Herz;
Betäubt empfand ich keinen Schmerz.
5. Nun bin ich nah dem Untergange,
Den dein gerechter Zorn mir droht.
Um Trost wird meiner Seele bange?
Um einen Retter aus der Noth,
Mein richtendes Gewissen wacht,
Und alles um mich her ist Nacht.
6. Zu wem, o Vater, soll ich fliehen?
Wo findet meine Seele Ruh?
Wer kann sie aus dem Abgrund ziehen,
In dem sie seufzet, als nur du?
Mein ganz Vertraun setz ich auf dich: .
Du Freund des Lebens, rette mich!
7. Für meine wiederholten Sünden
Floß auch des. Weltversöhners Blut."'
Ach, laß mich wieder Gnade finden
Durch meinen Glauben an sein Blut! ·· „
Ja, höchster Richter, sprich zu mir:
Auch diese Schuld erlaß ich dir.
8. Gott! sei mein Zeuge, da ich schwöre:
Mein Herz soll dir gehorsam sein;
Dir, deinem Willen, deiner Ehre
Will ich mein ganzes Leben weihn;
Der Sünde will ich widerstehn,
Und standhaft deine Wege gehn. .
9. Vergiß nicht wieder, meine Seele,
Wie oft du schon gefallen bist.
Merk auf die heiligen Befehle . ' *""
Des Gottes, der dein Retter ist.
Ruf ihn im Glauben täglich an:
Erhalt mich Herr, auf ebner Bahri!
10. Ja, ich bin schwach: du wollst mich stärken,
Mein Helfer in Versuchung sein,
Zum Glauben und zu guten Werken
Mir Kraft und Freudigkeit verleihn. . ·
So steh ich vest und wanke nicht, ,
Und du bleibst meine Zuversicht.

Die erste Strophe von Nietzsches Gedicht'nimmt Vorstellungen und Wendun-


gen aus der ersten, vielleicht noch aus der sechsten Liedstrophe auf: Gottesan-
rufung, „noch einmal", am auffallendsten „zu dem ich flehe", das im Gedicht
als „zu dem ich fliehe" erscheint, möglicherweise angeregt von „Zu wem, o
Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe . . . " 107

Vater, soll ich fliehen?" aus der sechsten Strophe. Die dritte Strophe des Ge-
dichts läßt sich mindestens inhaltlich und in der Formel „ich will" mit der
achten Liedstrophe in Beziehung setzen. Das Versmaß der ersten Liedzeile er-
gibt das Grundmetrum des Gedichts, von dem die zweitletzte Zeile abweicht,
was von einem sichtlichen Formwillen zeugt. Die Mittelstrophe des Gedichts
verwendet als weitere Quelle die Areopagrede des Paulus aus Apg. 17, 23:
„Ich bin herdurch gegangen, und habe gesehen eure Gottesdienste, und fand
einen Altar, darauf war geschrieben: Dem unbekannten Gott. Nun verkündige
ich euch denselben, dem ihr unwissend Gottesdienst tut." — „Rotte" stammt
ebenfalls aus dem Wortschatz der Luther-Bibel, speziell auch der Paulusbriefe,
hinter den Schlußzeilen kann man die Jonas-Geschichte vermuten. Das Paro-
die-Prinzip ist also auch bei diesem Gedicht festzustellen.
Daß Nietzsche das Kirchenlied in sein reproduzierendes Dichten einbe-
zog, war nichts Neues. 1862 hatte er einem Freund ein selbstgedichtetes Kir-
chenlied übersandt mit der Bemerkung, das sei ein „Genre, dessen Pflege sie
bei mir schwerlich vermuthet".16 An einem Gedicht Wilhelm Finders stellte er
fest, mitunter seien Gesangbuchreminiszenzen gut benutzt.17 Das Kirchenlied
war Nietzsche aus seiner Familie vertraut. Noch zu seinem Abgang von Schul-
pforta schickte ihm seine Tante Rosalie ein selbstverfertigtes Gedicht in diesem
Stil.18
Bei diesem letzten Gedicht Nietzsches kann man aber nicht mehr einfach
von Parodie im Sinne der Nachbildung eines anerkannten Vorbildes sprechen.
Das Ergebnis ist etwas Neues, das sich der Vorlage gegenüber als Kontrafaktur
oder doch als Antwort verhält. Schon an Äußerlichkeiten läßt sich das zeigen:
„Noch einmal" bedeutet im Kürchenlied Wiederholung, bei Nietzsche jedoch
„zum letzten Mal", wie im Volkslied. Auffallend ist die Verdrehung von „zu
dem ich flehe" in „zu dem ich fliehe"; man kennt das als Stilmittel des späteren
Nietzsche. Deutlich ist die Distanz zur Vorlage in der Motivik: Das Kirchen-
lied denkt in der Vertikalen, Gott ist oben, die sündige Seele, die Hilfe erwar-
tet, unten. Bei Nietzsche beginnt es zwar mit der Anrufung Gottes in der Hö-
he, doch dann bekommt die Tiefe mehr und mehr Gewicht im positiven Sinne
(tiefste, Herzenstiefe, tief-eingeschrieben, du tief in meine Seele Greifender).
Dieses Insistieren auf der Tiefe bringt zum Ausdruck, daß Gott auch von un-
ten und innen wirkt, dort will ihn die Seele suchen. Nun wird die Gottferne
oberhalb lokalisiert. So entsteht aus der Anrufung des deus in excelsis des Kir-
chenliedes bei Nietzsche eine des unbekannten Gottes in der eigenen Tiefe.
Diese Umdrehung des Blickes ist auch eine vom Allgemeinen ins Eigene und

16
An Raimund Granier am 28. Juli 1862. KGB I l, S, 217.
" BAWBd.2, S.217.
18
Rosalie Nietzsche an Nietzsche am 21. September 1864. KGB l l, S. 434.
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Persönliche. Damit hängt zusammen, daß vom „Weltversöhner" nicht mehr


die Rede ist. Zwischen dem Ich und Gott gibt es keinen Mittler, beide stehen
sich drängend gegenüber. Das gibt der Rhetorik ihre Intensität.
Die Bedeutung des Gedichts liegt aber nicht in diesen einzelnen Verschie-
bungen, sondern in der großen Bewegung, die sich daraus ergibt. Die erste
Strophe ruft, wenn auch ohne Namensgebung, den traditionellen Gott auf tra-
ditionelle Weise an. Die Erhebung der Hände hat etwas von einem Abschieds-
gebet, wie das Perfekt der zweiten Strophenfiälfte andeutet. Die Flucht zu
Gott scheint eine letzte zu sein vor der endgültigen Einsamkeit und dem Wei-
terziehen ins Ungewisse. Von der biographischen Situation her, in der das Ge-
dicht entstand, kann man diesen Abschied als einen vom Glauben der Kindheit
verstehen. Der angerufene Gott hatte zwei Stätten, an denen er sich offenbar-
te, neben der Höhe auch die Herzenstiefe. Es ist der Gott, aus dem im Pietis-
mus in Wiederaufnahme mittelalterlicher Mystik auch eine innnere Stimme ge-
worden war. Die Herzenstiefe, die den mystischen Seelengrund weiterführt,
garantiert Gottes ständige Präsenz oder doch die Möglichkeit dazu. Die Ju-
gendfrömmigkeit, die die erste Strophe zum Ausdruck bringt, ist lutherisch-
pietistisch geprägt.
Von diesem Gott in der eigenen Herzenstiefe nimmt nun eine Entwick-
lung ihren Ausgang, durch die sich ein neues Gottesverhältnis ergibt. „Altäre"
ist das Stichwort, an das in der zweiten Strophe die Anspielung auf die Areo-
pagrede des Paulus anknüpft. Paulus hatte den Athenern gepredigt, der unbe-
kannte Gott, dessen Altar er in der Stadt gesehen habe, sei der christliche Gott,
den er ihnen nun verkündige. Hier nun wird umgekehrt aus dem Altar des
christlichen Gottes in der Herzenstiefe wieder einer des unbekannten Gottes.
Der Altar verliert seinen Bezug zum deus in excelsis und verweist auf etwas
Göttliches im Menschen, eine Transzendenz, die im Menschen liegt und üirri
doch fremd ist. Die vorletzte Zeile sucht diese Paradoxie zu benennen: ,jDu
Unfaßbarer, mir Verwandter." Dieser unbekannte Gott wohnt in solch inti-
mer Nähe, daß vor ihm keine Flucht möglich ist und auch kein wirklicher Ab-
fall. Deshalb kann das Gedicht, anders als seine Vorlage, kein Bußgedicht
mehr sein. Und nicht in der erflehten Gnade liegt das Heil, sondern im Willen,
diesem in die eigene Individualität eingewanderten, aus übergroßer Nähe wie-
der unbekannt gewordenen Gott erkennend beizufcommen und ihm zu die-
nen, aus der unentrinnbar gegebenen Präsenz Gottes im Ich eine anerkannte
und bewußte zu machen.
Die dritte Strophe ist eingerahmt durch dieses „Ich will dich kennen." Sie
bringt zum Ausdruck, daß unter diesen Bedingungen Gotteserkehntnis zur
Selbsterkenntnis geworden ist. Das angeredete Du ist eine Macht im anreden-
den Ich. Damit gilt auch die Umkehrung, Selbsterkenntnis ist Gotteserkennt-
nis. Aber diese steht nun als Aufgabe vor dem Ich, es ist erst dabei, zu diesem
Nietzsches Gedicht „Noch einmal eh ich weiter ziehe . . . " 109

neuen Gottesdienst aufzubrechen. Mit dieser Willenskundgabe schließt das


Gedicht. Obwohl die letzte Zeile vom Reim her eine Waise ist, so daß man
eine Fortsetzung erwarten könnte, weist die spiegelsymmetrische Komposi-
tion der Zeilenanfänge - „Ich, Du, Mein, Du, Ich" - darauf hin, daß die
Strophe formal abgeschlossen, das Gedicht somit von der Form her kein Frag-
ment ist. Im inhaltlich offenen Schluß findet der am Anfang angekündigte
Aufbruch adaequaten Ausdruck.
Die Bedeutung des nachgezeichneten Vorganges liegt darin, daß in dessen
Verlauf der christliche wieder zu einem antiken Gott wird. Dessen Durchgang
durch das Christentum wirkt darin noch in der Weise nach, daß nun Gott und
Individualität aufs engste zusammengehören. Es fällt nicht schwer, in diesem
neuerlich „unbekannten Gott" den Punkt zu erkennen, an dem später Nietz-
sches Leib-Mystik ansetzte. Doch wurde diese Gotteskonzeption weit über
Nietzsche hinaus wirksam, Franz Kafkas Werk ist ganz davon geprägt.
Das Gedicht deutet voraus auf Nietzsches Verfahren, im Spiel mit über-
kommenem Wort- und Vorstellungsmaterial neue Erkenntnisse und Aus-
drucksweisen zu finden. Aus der Parodie gelangte er zu seiner eigenen Spra-
che. Es wurde nun für ihn jene Form der Parodie fruchtbar, die das Vorgege-
bene nicht mehr imitiert, sondern in Frage stellt. Der literarische Bildungs-
schatz, den er sich in den Jugendgedichten produktiv angeeignet hatte, konnte
so die Basis werden, auf die er sich bezog, indem er sich davon absetzte. Den
Gipfel dieser Art von Parodie stellt dann „Zarathustra" dar.

III.

Diese Überlegungen entstanden im Zusammenhang mit einem Versuch,


aus den Jugendgedichten Nietzsches eine Auswahl zu treffen. Folgende Aus-
wahlkriterien ergaben sich daraus:
— Anzustreben ist eine chronologische Repräsentation: Die Jahre in Schul-
pforta sollen so vertreten sein, daß die Kontinuität von Nietzsches Dichten
deutlich wird. .
— Die Auswahl soll erkennen lassen, in welchen Gattungen sich Nietzsche
versuchte und welche Vorbilder er imitierte.
— Innerhalb dieses Rahmens sollen die formal gelungensten Beispiele ausge-
wählt werden, an denen sich die Reflektiertheit von Nietzsches Umgang
mit der Sprache erkennen läßt. Auch sollen Beispiele seiner Gedichtsamm-
lungen vorgelegt werden.
— Erst in zweiter Linie sollen biographische Bezüge oder gedankliche oder
motivische Vorklänge auf das spätere Werk für die Auswahl maßgebend
sein.
110 Karl Pestaiozzi

Auf diese Weise könnte eine Auswahl zustande kommen, welche dokumen-
tiert, wie sich Nietzsche die Gedichttradition des 19. Jahrhunderts produktiv
aneignete und sich so einverleibte, wogegen er sein späteres Leben lang kämpf-
te. 19

19
Die Erarbeitung der erwähnten Auswahlkriterien erfolgte im Rahmen einer mehrsernestngen
Nietzsche-Arbeitsgruppe am Deutschen Seminar der Universität Basel. Die Herausgabe der
geplanten Nietzsche Gedichtausgabe hat dankenswerterweise Herr Dr. Wolfram Groddeck
übernommen.

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