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Vorbemerkungen
1
VgLy. Hg/, Interpretation als philosophisches Prinzip. Friedrich Nietzsches universale Theorie
der Auslegung im .späten Nachlaß, Berlin/New York 1982 {- MTNF, Bd. 7).
2
Diese Untersuchung mit dem Titel »Dialektik der Gewalt. Nietzsches hermeneutische Religions-
philosophie. Mit Berücksichtigung unveröffentlichter Manuskripte', erscheint Düsseldorf 1984.
3
Vgl. //.-G. Gadamer, Einleitung, in: Seminar: Philosophische Hermeneutik, hrsg. von H.-G.
Gadamer und G. Boehm, Frankfurt/M. 1976, 29f.
112 Johann Figl
kritischen Intentionen.9 Ritschi war zu der Zeit, als ihm Nietzsche begegnete,
aufgrund seiner kritischen Ausrichtung der Philosophie und ihren Verstehens-
ansätzen gegenüber sehr reserviert. In seinem großen Lehrer und Förderer,
aber auch in anderen Universitätslehrern, wie Otto Jahn9 10 der in methodischer
Hinsicht kein Gegenspieler Ritschis war, begegnete Nietzsche einer ganz be-
stimmten Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen philosophischem Verste-
hen und philologischer Methodik, die ihn bekanntlich unbefriedigt ließ. Die
Situation erforderte Nietzsches eigene Antwort und Lösungsversuch. Einen
Aspekt daraus möchte ich in meinem Referat darstellen. Dieser besteht in der
meines Erachtens entscheidenden Absicht Nietzsches, eine Synthese zwischen
beiden Arten des Verstehens herzustellen.
Bei dem folgenden Versuch soll von der philologischen Forschungspraxis
ausgegangen werden, um deren Bedeutung für die Theorie des Textverstehens,
die philosophischer Art ist, zu erhellen. Denn ebenso wie dem klassischen Phi-
lologen zugestanden werden muß, Nietzsches philologische Schriften zu lesen
und „im übrigen kein spezifisches Interesse an Nietzsche als Philosophen"11
zu haben, ist es für den philosophisch Interessierten legitim, dieselben Schrif-
ten zu untersuchen, ohne deren fachphilologische Ergebnisse im einzelnen zu
diskutieren.12 Es wäre verfehlt und irreführend, bei dieser philosophischen
verfaßt, in dem er schreibt, daß er für die Universität die Erwerbung „wissenschaftlicher Fertig-
keit" anstrebe, die den künftigen Gymnasiallehrer befähigen solle, „auf bewusstem methodi-
schen Wege, nach strengen Gesetzen und Grundsätzen einer sowohl sprachlichen als sachlichen
Erklärung, das richtige Verständriiss der classischen Schriftsteller zu bewirken" (aaO. Bd. 5,
35; letztere Hervorhebung im Zitat von mir, J. F.). «,.
9
So mußte sich Kttschl im Alter gegen den Vorwurf wehren, „dass die Bonner Schule einseitige
Critici und Grammatici mache", wie er in der nur bruchstückhaft erhaltenen und von
C. Wachsmtith veröffentlichten Vorlesung ,Zur Methode des philologischen Studiums* sagt
(Opuscula philologica, Bd. 5,31). Auf diese Tendenzen F. Ritschis und ihren möglichen Ein-
fluß auf Nietzsche gehe ich im zweiten Kapitel der in Anm. 2 genannten Arbeit näher ein.
10
O. John soll von sich gesagt haben, er hätte „niemals ein philosophisches Buch gelesen" (mitge-
teilt von . Springer, Gedächtnisrede auf O. Jahn, in: Grenzbpten, 1869,203, zit. nach E. Ro-
thacker, Einleitung in die Geisteswissenschaften, Tübingen 1920,134). VgL die Urteile Nietz-
sches über Jahn, z.B. KGW III l, 123: GT 19; III 3, 285: 9[8]; IV l, 149: 5[125], und dazu
M. Montinari, Nachbericht zur vierten Abteilung, KGW IV 4, 374.
11
/·. Bornmann, M. Carpitella, Vorbemerkung, in: Friedrich Nietzsche. Philologische Schriften'
(1867-1873) (KGW II 1), Berlin/New York 1982, V.
12
Zur fachspezifischen Diskussion der Resultate der Forschungsarbeit Nietzsches siehe
£. Schwanz, Art. Diogenes Laertios, in: Paulys'Real-Encyclopädie der Classischen Altertums-
wissenschaft, hrsg. v. G. Wissowa, Bd. IX, Stuttgart 1903, Sp. 753f. und 745f.; und £. Ho-
wald, Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie, Gotha 1920 (beide überwiegend ableh-
nend) ;#. Reinhardt, Nietzsche und die Geschichte, in: ders., Vermächtnis der Antike, Göttin-
gen 1960, 269ff.; nach K. Gründers Urteil wurde Nietzsche durch Karl Reinhardt „in gewis-
sem Sinn (...) in der Philologie wieder rehabilitiert" (Diskussionsäußerung in: Philologie und
Hermeneutik im 19. Jahrhunden» hrsg. von H. Flashar u. a., Göttingen 1979,379). Die an sich
ausgewogene und zusammenfassende Darstellung von V. Pöschl, Nietzsche und die Klassische'
Philologie, in: Philologie und Hermeneutik im 19. Jahrhundert, aaO. 141 f., vernachlässigt be-
dauerlicherweise die einschlägigen methodischen Notizen zur Philologie.
114 Johann Figl
lieh ,De Laertii Diogenis fontibus', die in vier Teilen 1868 und 1869 publiziert
wurde, und in den ,Beiträge(n) Zur Quellenkunde und Kritik des Laertius
Diogenes', die 1870 erschienen. Das Problem der Überlieferung bildet auch in
den letzten von Nietzsche publizierten fachphilologischen Arbeiten eine wich-
tige Frage, nämlich sowohl in der Abhandlung über den Florentinischen Trak-
tat15 als auch naturgemäß in der Edition desselben. Das überlieferungsge-
schichtliche Problem aber hatte Nietzsche schon in Schulpforta bewegt, wie
der Titel und die Ausführungen seines Aufsatzes',Die Gestaltung der Sage vom
Ostgothenkoenig Ermanarich bis ins 12te Jahrhundert* zeigen (BAW II 281).
Was ist das gemeinsame Ziel aller dieser Untersuchungen, das unabhängig
von der konkreten Themenstellung verfolgt wird? Es ist in der Absicht zu er-
blicken, ausgehend von der vorliegenden Textgestalt, die in ihrem entstellten
Charakter erkannt worden ist, möglichst den originalen. Text wiederherzustel-
len, zu dem „echte(n) Text" zu gelangen (BAW V 157). Die verloren gegange-
ne Textgestalt soll gleichsam durch die überlieferten Varianten derselben hin-
durch restituiert werden. Um diesen früheren und womöglich ursprüngliche-
ren Text wiederherstellen zu können, war die Forderung jener „streng metho-
dischen Scheidung des Ursprünglichen und des im Lauf der Jahrhunderte Hin-
zugekommenen" zu befolgen, in der Nietzsche eine Errungenschaft der Philo-
logie seines Jahrhunderts erblickte (BAW IV 100). Für Nietzsche „kommt al-
les darauf an die Quellen zu erkennen"; er sucht für Diogenes Laertius die
„unmittelbaren Quellen zu entdecken", und von da aus rückwärts zu gehen
bis zum Ozean literarhistorischer Studien (BAW V 86). Nietzsche gelangt so
zu Stammbäumen der quellen- und überlieferungsgeschichtlichen Verzwei-
gungen und Abhängigkeiten, die er oft in Form eines Stemma wiedergibt.16 In
programmatischer Weise formuliert er seinen genealogischen Ansatz im Zu-
sammenhang seiner Studien zu den Quellen des Diogenes Laertius:
[. . .] ein Buch soll uns in seiner Form, in seinem Gedankengehalt verständli-
cher werden; wir wollen mehr sehen als das fertige Buch, wir wollen die Ge-
nesis eines Buches, die Geschichte seiner Zeugung und Geburt vor unserm
Auge sehen: und es ist weiter der Fall, daß uns mehr an den Eltern als an dem
Kinde, mehr an den Quellen als an ihrem Bearbeiter gelegen ist. Wir wün^
sehen, daß der Prozeß seines Werdens sich langsam vor unserm Blicke ent-
hülle. (BAW V 126)
seiner geschichtlichen Genese gewonnen. Hierin ist nicht nur ein aufschlußrei-
cher Vorgriff auf die genealogische Methodik des späten Nietzsche zu erblik-
ken, sondern — und darum geht es in unserem Zusammenhang primär — ein
grundsätzlich skeptisches Verhältnis zur vorgegebenen Gestalt des schriftlich
fixierten Textes. Die skripturale Faktizität wird hinterfragt; ihre verborgene,
eben nicht fixierte, sondern nur erschließbare Genese soll durch die philologi-
sche Kritik freigelegt werden. Dasjenige Phänomen, um das es Nietzsche ei-
gentlich bei seinen Forschungen geht, ist nicht mit festgelegteil und feststellen-
den Begriffen zu erfassen, sondern nur mit einer — um es vereinfachend zu
sagen — „dynamischen" Terminologie zu beschreiben: „der Prozeß seines
[seil, des Buches, J. F.] Werdens" soll sich dem kritisch Verstehenden neu er-
schließen. Damit ist im Bereich der Textphilologie, in dem anscheinend eine
bloß exakte Terminologie herrscht, eine neue Dimension aufgebrochen. Denn
nun geht es zwar weiterhin um die Erforschung von schriftlich fixierten Tex-
ten, aber in einer grundsätzlich verdächtigenden, d.h. den vorgegebenen Text
nur als vorläufigen betrachtenden Weise; eigentlich gesucht ist die nicktfixierte
Geschichte und Herkunft des „End"-Textes. Freilich muß schon hier gesagt
werden, daß auch diese Geschichte nur als eine Geschichte von Texten rekon-
struiert wird, wie auch umgekehrt nur mit Hilfe von schriftlicher Überliefe-
rung die vorgegebene Textgestalt problematisiert wird. Die Argumentations-
strategie entwickelt sich nur innersprachlich (z.B. durch Aufweisen von Paral-
lelen, Abhängigkeiten, Widersprüchen, Abschreibfehlern u. dgl.). Aus der
Sprache soll das nicht mehr als Sprache Vorfindbare, eben die textgenetisch
frühere Form, erschlossen werden.
Mit diesen Postulaten ist die Frage aufgeworfen, mit welcher Methode
denn die gestellten Aufgaben einer quellenkritischen Forschung gelöst werden
könnten. Doch bevor auf diese von Nietzsche angestrebten Lösungsvorschläge
im einzelnen einzugehen ist, muß bei der Explikation noch ein spezifischer
Aspekt der Uberlieferungsgeschichte erörtert werden, nämlich die Tatsache,
daß man innerhalb der Überlieferung aufgetretene Textfälschungen vorausset-
zen muß. Wenn nämlich der überlieferte Text nicht der „richtige", d, h. der
schließlich textkritisch gesicherte, ist> dann müssen den Tradenten Fehler un-
terlaufen sein, bzw. von ihnen bewußte Fälschungen vorgenommen worden
sein. Dies setzt Nietzsche auch bei den von ihm untersuchten Autoren voraus.
An ihnen deckt er Strategien bewußter und unbewußter Verfälschungen auf.
da es gerade die moderne Textkritik ist, die diese Fehler erkennen läßt. Es ist
ein Zirkelschluß, aber ein Zirkel, der durch seine Resultate als legitimer bestä-
tigt zu werden scheint. An der literaturhistorischen Tätigkeit des Altertums
kann er im Vergleich mit der Moderne nur „Mängel gegenüber unsrer Be-
trachtungsart" feststellen (BAW IV 128). Selbst über einen Vertreter der alex-
andrinischen Schule, die auch für Nietzsche den Höhepunkt der antiken Phi-
lologie darstellte, und der er eine „streng wissenschaftliche Methode" zu-
spricht (GA XVII 321), trifft das Urteil zu, daß^er „ "
im philologischen Sinn war (BAW IV 90).17 Gemeint ist Kallimachos, der den
großen Katalog der alexandrinischen Bibliothek zusammengestellt hat.
Die Unfähigkeit zur Methode stellt Nietzsche an dem von ihm am aus-
führlichsten behandelten Autor, an Diogenes Laertius, in vernichtender Weise
dar. Dessen Einfältigkeit hat aber sogar einen Vorteil für die richtige Überlie-
ferung eines Textes. Daß er „dumm und einfältig" abschrieb, ist deshalb
nützlich, weil er dadurch den Text „wörtlich" wiedergab (BAW IV 508).18
Deswegen läßt sich der Grundsatz ableiten: „Je weniger wir ihm [seil, dem
Schriftsteller, J. F.] zutraun, desto mehr seinen Quellen" (BAW IV 215).
Doch er ist deshalb auch unredlich. Diogenes Laertius konnte die Früchte be-
quem aus Handbüchern der Philosophiegeschichte entnehmen. „Doch zwingt
uns die Art, wie er dies thut, zu einigen Auslassungen über seinen moralischen
Charakter. Von litterarischem Eigenthum hatte er, so wie die Brüder derselben
Zeitperiode, Plutarch, Athenäus, Clemens Alexandr. und andre entweder kei-
nen oder einen sehr schlechten und unlauteren Begriff"; dies ist in Nietzsches
Augen „Heuchelei und Unzuverlässigkeit des Schriftstellers" (BAW IV
219).19
Von dem skizzierten überlieferungsgeschichtlichen Hintergrund antiker
Texte her gelangt Nietzsche zu der „Hülfsannahme: die Fehler vermehren sich
progressiv" (BAW IV 105). Zudem kommen außer den durch menschliche
Absichten herbeigeführten Textveränderungen, von denen Nietzsche neben
den erwähnten noch mannigfache kennt20, und die schon in der mündlichen
Überlieferung (z.B. der Gesänge Homers durch die Rhapsoden)21 feststellbar
sind, noch die durch natürliche Vorkommnisse hinzu.22
Die verdorbene und verfälschte Textgestalt wirft die elementare Frage auf,
wie es möglich sein sollte, einen — zumindest der Intention nach — nicht ver-
1. Textkritik
a) Konjekturalkritik
Nietzsche hat sich mit grandiosen Analysen von sich über Jahrhunderte
erstreckenden Überlieferungssträngen befaßt. Um in diesen scheinbar global
angesetzten Forschungsprojekten zu nachprüfbaren Ergebnissen zu gelangen,
bedurfte es der Beherrschung der sogenannten „niederen Kritik".24 Außer den
23
VgL BAW V 184ff.; IV 128, 462, 465.
24
Vgl. zur Unterscheidung von der „höheren Kritik": F. Schleiermacher, Über Begriff und Ein-
teilung der philologischen Kritik, in: F, Sphleiermacher's Sämmüiche Werke, III/3, Berlin
120 Johann Figl
b) Komparatistik
*pr
Im Verhältnis zur Herstellung einzelner Worte bzw. Textteile ist das Pro-
gramm der Uberlieferungskritik als ganzes, in dem die partikularen Operatio-
1835, 387ff. (jetzt abgedruckt in: F. D. E. Schleiermacber, Hermeneutik und Kritik. Mit einem
Anhang sprachphilosophischer Texte Schleiermachers, hrsg. von M.Frank, Frankfurt/M.
1977, 347ff.).
25
Vgl. z.B. BAW III 209: „Methode der Erkenntniß von Interpolation."
26 BAW V 432. . ·
27 AaO. 433.
28
Eine Zusammenstellung von Emendationsvorschlägen zu Diogenes Laertius findet sich im
Nachbericht C. Kochs zu Bd. V der BAW, 433ff.; zahlreiche Textverbesserungen zu diesem
Autor sind auch im Bd. IV angeführt (vgl. ebd. z.B. 103, 163f., 490f., 492, 498f.); ebenso zu
anderen Autoren (vgl. z.B. Konjekturen zu Suidas: BAW IV 492, 498).
2^ Vgl. KGW II l, 73f. - '
30
Bezüglich des Hesiodischen und des Homerischen Pinax vgl. BAW V 57.
Hermeneutische Voraussetzungen 121
nen nur einen Teil bilden, noch anspruchsvoller, insofern es um die Restitu-
tion von ganzen Textzusammenhängen, um die ursprüngliche Gestalt von
Texten geht, die nur in partieller Form (z.B. als Exzerpt öder Abschrift ohne
Nennung der Quelle) vorhanden sind. Ein wichtiger Weg zur Eruierung der
verlorengegangenen. Textkonstitution ist für Nietzsche die Vergleichung, wie
er schon in der Einleitung zur Abhandlung über die Sage vom Ostgotenkönig
Ermanarich schreibt: „Es wird aber vor allem darauf ankommen die Grundzü-
ge der ursprüngliche{ri) Sage, aus der sich, je na(c)h den Eigenthümlichkei-
ten der Völker und ihrer Gegenden, alle späteren Sagen entwickelt haben, zu
zeigen und wo sie verwischt sind, durch Vergleichung wiederherzustellen
[...]; ich nenne also in der Ermanarichsage das ursprünglich, was etwa der
dürre Auszug des Jemandes bezeichnet, außerdem aber auch, was, wie wir
durch Vergleichen schließen müssen, zu Jornandes Zeit, gleichsam das Fleisch,
das dieses Gerippe umkleidet hat, gewesen ist, also kurz das Gemeinsame in
der Sage." (BAWII285) Nietzsche wendet hier die Methode der Vergleichung
gleichsam spontan an. Der Plan, nach dem die Sage betrachtet wird, scheint
ihm „ein ganz natürlicher und einfacher" zu sein. In dessen Durchführung
versucht er „die einfachste Form der Sage wieder (her) zustell (e) n" (BAW II
285).
Die naive und spontane Zugangsart wich bald der methodisch reflektier-
ten. Ihren deutlichsten Ausdruck fand sie in dem Versuch, Gesetzmäßigkeiten
in Texten zu erkennen, die eine Restitution erleichtern sollten. Einen Weg da-
hin öffnete gerade die Methode der Vergleichung, wie er an der neueren Ent-
wicklung der Sprachwissenschaft 1867/68 feststellt, die ihm — im Gegensatz
zu den Vorbehalten, die er später in Vorlesungen ihr gegenüber geäußert hat-
te31 — doch als Modell der literarkritischen Arbeit vorschwebte, wenn sie über
die bloße Textkorrektur hinauskommen sollte: „Die vergangene Periode hat
endlich die Texte methodisch hergestellt. Das war eine Hülfsarbeit. Es bleibt
der Gegenwart mehr zu thun als die Correktoren zu spielen. Erstaunlich ist
der Fortschritt der Sprachvergleichung. Hier entdeckte man Gesetze und trat
in die Naturwissenschaften hinein." (BAW III 338) Der Aspekt der zur Auf-
deckung von Gesetzmäßigkeiten führenden Vergleichung war für Nietzsche
entscheidend, wie aus einer Notiz unter der Überschrift „Zweck der Litera-
turgeschichte" zu ersehen ist: „Von einer Einsicht", so heißt es hier, „kann
31
Vgl. die Vorlesung »Einleitung in das Studium der classischen Philologie', Sommersemester
1871: GA XVII 341 ff.
122 Johann Figl
nicht eher die Rede sein als bis wir etwas auf ein Gesetz zurückgeführt haben."
(BAW V 187)
Systematische Ansätze im Interesse einer kritischen Erkenntnis der Über-
lieferung von Texten sind auch in der Befolgung einer verallgemeinernden Me-
thode zu erblicken, wenn Nietzsche, wie C. Koch sagt, „eine Klassifizierung
der möglichen Verwechslungs- und Fehlschlußtypen als solcher" versucht;
und meint, hier stehe „die abstrakte Methode im Mittelpunkt"32. Die Konsta-
tierung von Gleichbleibendem ist ihm eine Hilfe bei der Eruierung einzelner
Uberlieferungs„schichten" in einem Text, eine Orientierung zur Scheidung
des persönlichen Anteils des Verfassers von dem von ihm bloß Rezipierten. So
fällt ihm z.B. im Suidas die Gleichartigkeit im Loben und Tadeln auf (BAW
III 191). In ähnlicher Weise meint er aus der Tendenz nach gleichen Urteilen
des Diogenes die geistige Physiognomie des Verfassers, und an ihr das von ihm
selbst Stammende erkennen zu können.33
Mit der Absicht, allgemeine Kriterien, gleichsam Gesetzmäßigkeiten in-
nerhalb der literarischen Überlieferung und in den einzelnen Texten feststellen
zu können, nähert sich Nietzsche einer an den Naturwissenschaften und ihrer
nomothetischen Methodik "orientierten Vorgangs weise. Dies wird offenbar,
wenn er seine Textanaiysen mit dem Vorgehen des Chemikers bei der Auflö-
sung von Stoffen in ihre Grundsubstanzen vergleicht. Im deutschen Entwurf
zu ,De fontibus Diogenis Laertii' schreibt er: „Wir haben früher im Laertius
die einzelnen Grundbestandteile auszuscheiden versucht und dabei über eine
Reihe von Quellschriften neue Anschauungen gewonnen: wie wenn eine Säure
in Grundsäuren zerlegt wird und bei diesem Vorgang über diese Grundsäuren
Aufschlüsse erzielt werden." (BAW IV 266)
wissenschaftlichen Methoden nicht zu übersehen, die sich schon aus der Ver-
schiedenheit des „Materials", das es zu untersuchen gilt, ergibt. Sowohl der
Quantität als auch der Qualität nach sind hier unaufhebbare Unterschiede ge-
geben. Das nur begrenzte und lückenhafte Textmaterial erlaubt es nicht, zu
jener Gewißheit der Aussage vorzudringen, wie sie der Naturwissenschaftler
erstrebt. Insbesondere werden diese Mängel bei der Quellenforschung offen-
kundig, da hier die aufgestellten Hypothesen nur partiell kontrollierbar sind.
Nietzsche selbst kommt auf die möglichen Einwände von seiten der Naturwis-
senschaftler £u sprechen:
Gegen die üblichen und leider auch nothwendigen Methoden in derartigen
Quellenuntersuchungen, wie sie im Folgenden am Laert. unternommen wer-
den sollen herrscht unter exakt geschulten Naturforschern und Mathemat.
unsrer Tage eine begründete Abneigung.
Nicht aber mit der Anwendung der Hypothese auf hist. Boden sind die Na-
turforscher unzufrieden, sondern mit der üblichen Form ihrer Beweisfüh-
rung, der sie jede zwingende Kraft absprechen müssen. (BAW V 127)
Der Mangel liegt also nicht so sehr in der völligen Ungeeignetheit der an
den Naturwissenschaften orientierten Hypothesenbildung für historische Pro-
bleme, sondern an der Art des Materials: „Es fehlt also an Reichhaltigkeit und
Zuverlässigkeit des Materials [. . .] Die Hauptübel sind, daß erstens mit zu we-
nig und zweitens mit zu unbekannten Größen operirt werden muß." (BAW V
127)
Schon an diesem Faktum des begrenzten Textmaterials zeigen sich die
Grenzen der rein diskursiv-schlußfolgernd vorgehenden Methoden. Gesetze
nehmen sich vor diesem Tatbestand als etwas sehr Zufälliges aus, denn da die
Zahl der vorhandenen Tatsachen gering ist, „[genügt oft] ein einziges zufällig
dazukommendes Zeugniss, das bisher übersehen war, um eine lange Combina-
tion zu stürzen" (BAW V 127). Es bedarf somit zur Rekonstruktion von Tex-
ten und zur Erschließung von Sinnzusammenhängen noch einer anderen Me-
thodik als bloß der nomothetischen Axiomatik. Auch kann die eliminierende
Kritik von Fehlern nicht genügen, da diese immer schon im Horizont des Bes-
seren, d. h. des verbesserten Textes sich vollzieht. Diese andere, das philologi-
sche Forschen grundlegend bestimmende Methode ist nun an sich sowie in ih-
rem Bezug zur ausdrücklich kritischen Textanalyse darzustellen.
Die Phantasietätigkeit ist also jene, die zuerst versteht. Ihre hermeneuti-
sche Qualität zeigt sich daran, daß sie das Vorverständnis für das wissenschaft-
liche Erkennen darstellt. Die hermeneutische Erfassung geht also der szienti-
stisch-argumentativen als deren umgreifender und ermöglichender Horizont
voraus. Wissenschaftlich-kritisches Denken ist somit von einem interpretati-
ven Verstehensvollzug unterfangen und getragen. Die Tätigkeit der Phantasje
geht jener der Logik und Reflexion voran; die produktive Hypothese ist die
Grundlage für die kritische Erarbeitung einer These; die imaginative „Erzeu-
gung" fundiert die Einsicht des diskursiven Beweisgangs.
Aufgrund der auf gezeigten Zusammenhänge ist also die philologische Kri-
tik in ihrer Wissenschaftlichkeit von nicht mehr als rational zu bezeichnenden,
unexakten, produktiven und projektiven Primärprozessen abhängig, die viel
eher ästhetischen Vollzügen denn wissenschaftlichen Prozeduren gleichen.
Von hier her kann Hermeneutik, insofern sie die vorgängigen Verstehenspro-
zesse analysiert, als die Voraussetzung der Kritik verstanden werden.
126 Johann Figl
An diesem Punkt erhebt sich aber die weitere Frage, ob das Bestimmtsem
durch prärationale Prämissen sich auf den immanenten Argumentationsgang
der Wissenschaft bezieht, oder ob dieses nur für die vor- und außerwissen-
schaftlichen Phänomene zutrifft. Näherhin lautet das Problem, ob selbst die
Reflexion von interpretierenden, dem Kunstschaffen analogen Prozeduren be-
stimmt ist, oder ob sich über der Welt des Imaginativ-Phantasiehaften doch ein
ausgegrenzter Bereich des Logisch-Exakten in der Weise abhebt, daß er nicht
von seinem Ermöglichungshorizont geprägt ist. Sind die produktiven Phanta-
sieleistungen nur auf die Heuristik wissenschaftlicher Ergebnisse beschränkt,
oder beziehen sie sich auch auf deren Geltung? Mit anderen Worten lautet die
Frage, ob der logisch-wissenschaftliche Argumentationsduktus, der die Gel-
tung einer Erkenntnis diskursiv oder deduktiv aufzuweisen versucht, von der
hermeneutischen Denkgestalt, die ihr vorausgeht, bleibend durchdrungen ist,
oder ob diese nur auf den Entdeckungszusammenhang beschränkt bleibt. Hat
das wissenschaftliche Denken in sich hermeneutischen Charakter, oder fehlt
dieser?
strebt, durch den die kritische, auf festgelegte Termini basierende Prüfung von
wissenschaftlichen Hypothesen möglich wird.
Wie geschieht aber wissenschaftliche Überprüfung von Annahmen näher-
hin? Was ist der Maßstab, an dem eine neue Erkenntnis gemessen wird? Es
geschieht in der Weise, daß die Reflexion das Ergebnis der Phantasie „an ge-
wöhnlichen und häufig erprobten Ketten mißt" (III 4,33 :19[78]). Die Phanta-
siewelt wird an .der Begriffswelt auf ihren wissenschaftlichen Wahrheitsgehalt
hin überprüft. Jedoch, ist diese Art der Überprüfung tatsächlich imstande,
über die Phantasie- und Metaphernerkenntnis hinauszuführen, zu einer we-
sentlich verschiedenen Art der Erkenntnis? Diese Frage muß von den sprach-
philosophischen Thesen Nietzsches her verneint werden. Denn auch der Be-
griff kann seine Herkunft aus der Metapher nicht leugnen, deren „Residuum"
er ist. Die Überprüfung an den gewohnten Begriffen und Begriffssystemen ge-
schieht also nicht an einem von der zu prüfenden Metaphernerkenntnis essen-
tiell, sondern eigentlich nur graduell verschiedenen Maßstab. Es ist ein Messen
an einer Metapher, deren künstlerischer und unexakter Ursprung vergessen
worden ist. Der Gebrauch, die Gewöhnung führte den Anschein wissenschaft-
lich gesicherter und überprüfter Wahrheiten herbei:
Die gewöhnlichsten Metaphern, die usuellen, gelten jetzt als Wahrheiten und
als Maaß für die seltneren. An sich herrscht hier nur der Unterschied zwi-
schen Gewöhnung und Neuheit, Häufigkeit und Seltenheit.
Das Erkennen ist nur ein Arbeiten in den beliebtesten Metaphern [. ..]. (III
4,79:19[229])
•f- ·
Es wird darum nur unterschiedlich „festgewordene" Metaphernerkennt-
nis miteinander verglichen. Es handelt sich wie bei Lüge und Traum im Ver-
gleich zur gewöhnlichen Auffassungsweise nur um „verschiedene Metapher-
welten" (III 4,79). Die noch lebendigsten und ursprünglichsten der unmittel-
baren Phantasietätigkeit werden mit den erstarrten, als gewiß geltenden der
Wissenschaft in Beziehung gebracht. Der wissenschaftlichen Überprüfung von
Hypothesen kommt somit nur eine relationale Bedeutung zu: allein im Hin-
blick auf eine andere, eine objektivierte und fixierte Erscheinungsform der
Hypothese, die als These gilt, kann sie Geltung beanspruchen. Der vermeintli-
che Paradigmenwechsel ist eigentlich eine Metamorphose innerhalb des Fun-
damentalparadigmas der Phantasie-Erkenntnis: die Gestalt der lebendig ge-
schauten und assoziativ erfaßbaren Imaginationen soll anhand der abstrakt ge-
wordenen Begriffe in deren fixierte Gestalt überführt werden. Darum kann das
wissenschaftliche Erkennen nicht wesentlich über die interpretative Welter-
kenntnis hinausführen, sondern die Wissenschaft erscheint vielmehr als ein zu
einem Begriffs-System verhärtetes Interpretieren, welches seinen ureigensten
Ursprung als außer-, vor- oder unwissenschaftlich negiert.
128 Johann Figl