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Peter

Sloterdijk

Sphären I
Blasen

Suhrkamp
Peter Sloterdijk unternimmt in seinem auf drei
Bände angelegten Werk Sphären nichts Gerin­
geres als den Versuch, die Geschichte der
Menschheit zu erzählen. Dabei geht er von
der einfachen Frage aus: Wo leben die Men­
schen, nachdem sie wissen, daß sie auf einer
Kugel, einem Globus, zu Hause sind? Um sich
einer Beantwortung dieser Frage anzunähern,
entwickelt Peter Sloterdijk den Begriff der
Sphären und spannt einen faszinierenden, per­
spektivenreichen Bogen von den frühesten
Kulturen bis in unser globales Zeitalter.

Dies erste Buch dieser Sphären-Trilogie handelt


von mikro-sphärischen Größen, die Blasen ge­
nannt werden. Sie bilden die Basismoleküle
der starken Beziehung. Peter Sloterdijks Ana­
lyse macht sich an die noch nie unternommene
Aufgabe, das Epos der immer schon verlorenen
und doch nie spurlos getilgten Zweieinigkei­
ten zu erzählen. »Wir durchqueren, mit der
Einsicht in unsere unvermeidliche begriffliche
Hilflosigkeit als einzigem sicheren Begleiter,
Landschaften des prä-objektiven Daseins und
der vorgängigen Beziehungen. Auf der Durch­
reise durch die ausweichende Unterwelt der
Innenwelt entfaltet sich, wie eine klingende
Landkarte, das phantomhafte Bild von einem
flüssigen und auratischen Universum — ganz
aus Resonanzen und Schwebstoffen gesponnen;
in ihm bleibt die Urgeschichte des Seelischen zu
suchen.«
SV
Peter
Sloterdijk

Sphären
Mikrosphärologie

Band I
Peter
Sloterdijk

Blasen

Suhrkamp
Erste Auflage 1998
© Suhrkamp Verlag F rankfurt am Main
Alle Rechte Vorbehalten
D ruck: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in G erm any
Für Regina und das
Semmeltier
Inhalt des ersten Ba n d e s

Vorbemerkung................................................................ 11

Einleitung:
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune.............. 17

Vorüberlegung: Innenraum denken................................ 83

1 Herzoperation oder:
Vom eucharistischen E x z e ß ........................................ 101

2 Zwischen Gesichtern
Zum Auftauchen der interfazialen Intimsphäre........ 141

3 Menschen im Zauberkreis
Zur Ideengeschichte der Nähe-Faszination.............. 211

Exkurs 1: Gedankenübertragung................................ 269

4 Die Klausur in der Mutter


Zur Grundlegung einer negativen Gynäkologie . . . . 275

Exkurs 2: Nobjekte und Unbeziehungen


Zur Revision der psychoanalytischen
Phasenlehre.................................................................. 297

Exkurs 3: Das Prinzip Ei


Verinnerlichung und U m h ü llu n g .............................. 328

Exkurs 4: »Im Dasein liegt eine wesenhafte


Tendenz auf Nähe.«
Heideggers Lehre vom existentialen O r t .................. 336
5 Der Urbegleiter
Requiem für ein verworfenes O rg a n ........................ 347

Exkurs 5: Die schwarze Plantage


Notiz über Lebensbäume und
Belebungsmaschinen.................................................. 402

6 Seelenraumteiler
Engel - Zwillinge - Doppelgänger............................ 419

Exkurs 6: Sphärentrauer
Über den Nobjektverlust und die Schwierigkeit,
zu sagen, was f e h lt...................................................... 466

Exkurs 7: Über den Unterschied zwischen einem


Idioten und einem E ngel............................................ 479

7 Das Sirenen-Stadium
Von der ersten sonosphärischen A llia n z .................. 487

Exkurs 8: Analphabetenwahrheiten
Notiz über oralen Fundamentalismus...................... 532

Exkurs 9: Von wo an Lacan sich irrt.......................... 543

8 Mir näher als ich selbst


Theologische Vorschule zur Theorie des
gemeinsamen In n e n .................................................... 549

Exkurs 10: Matris in gremio


Eine mariologische G rille .......................................... 632

Übergang: Von ekstatischer Im m anenz........................ 639

Abbildungsnachweise...................................................... 646
Die Schwierigkeit, die wir überwinden m ußten,... lag darin,
uns von jeder geometrischen Evidenz fernzuhalten. Anders
gesagt, wir mußten von einer Art Intimität des Runden aus­
gehen.
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes
Vorbemerkung

er Überlieferung zufolge soll Platon am Eingang zu


D seiner Akademie die Inschrift angebracht haben, es
möge sich fernhalten von diesem Ort, wer nicht Geometer
sei. Ein arrogantes Wort? Eine Kriegserklärung gegen den
vulgären Verstand? Ganz gewiß, denn nicht ohne Grund
wurde an der Akademie eine neue Form des Elitismus erfun­
den. Für einen erstaunlichen Augenblick waren Schule und
Avantgarde miteinander identisch. Avantgardismus ist die
Kompetenz, alle Mitglieder einer Gesellschaft zur Entschei­
dung über einen Vorschlag, der nicht aus ihr selbst stammt,
zu zwingen. Mit diesem Spiel hatte Sokrates zuerst ernst ge­
macht, und Platon eskalierte die philosophische Provoka­
tion, indem er mit der Gründung seiner Schule den Zwang,
zwischen Wissen und Nicht-Wissen zu wählen, zu einer hö­
heren Gewalt erhob. Wenn Platon die ageometrische Plebs
aussperrte, um nur Kandidaten mit angemessenen Vorkennt­
nissen einzulassen, so forderte er die Sterblichen zu ihrer Ge­
samtheit heraus, sich durch den Nachweis entsprechender
Eignungen für den Zugang zu seiner Forschungsgemein­
schaft zu qualifizieren. Man muß hier bedenken: Was ist ein
Mensch im akademischen Zeitalter anderes als ein vergeß­
liches Säugetier, das in der Regel nur nicht mehr weiß, daß es
auf dem Grund seiner Seele ein Geometer ist? Ein Geometer
nämlich, was ist das? - eine Intelligenz, die aus der Welt der
Toten kommt und vage Erinnerungen an den Aufenthalt in
einer vollkommenen Sphäre ins Leben mitbringt. Die exote­
risch wirksame Philosophie beginnt damit, daß sie die Ge­
sellschaft spaltet in jene, die sich erinnern, und jene, die sich
nicht erinnern - und überdies in jene, die sich an etwas Be­
stimmtes erinnern, und jene, die sich an etwas anderes erin­
nern. Das ist bis heute ihr Geschäft, auch wenn die Kriterien
für die Spaltung ein wenig komplizierter geworden sind.
12 Vorbemerkung

Wie jeder Autor, der ein wenig über seine magischen An­
fänge hinaus ist, bin ich mir der Unmöglichkeit bewußt, den
Gebrauch, den die alphabetisierte Gemeinschaft von publi­
zierten Schriften macht, im voraus auf eine Perspektive fest­
zulegen. Nichtsdestoweniger scheint mir die Bemerkung
nützlich, daß die folgenden Ausführungen in ihren großen
Linien wohl am besten als eine Radikalisierung des platoni­
schen Mottos zu lesen sind. Ich würde Platons Satz nicht nur
über den Eingang zu einer Akademie setzen, sondern über
das Tor zum Leben überhaupt, wenn es nicht unpassend
wäre, den ohnedies zu engen Zugang zum Licht der Welt mit
Warnhinweisen verzieren zu w ollen... Ohne geometrische
Vorschule sind wir im Leben aufgetaucht, und keine Philoso­
phie kann uns nachträglich einer Zulassungsprüfung unter­
werfen. Doch ändert dies am exklusiven Mandat der Philo­
sophie nicht das geringste, denn die Vermutung, die Welt sei
uns nur durch angeborene geometrische Vorurteile gegeben,
läßt sich nicht einfach abweisen. Könnte man nicht der Mei­
nung sein, das Leben sei ein ständiges nachträgliches Abfra­
gen von Kenntnissen über den Raum, von dem alles ausgeht?
Und die Spaltung der Gesellschaft in jene, die hiervon etwas
wissen, und jene, die nichts wissen - reicht sie in der Gegen­
wart nicht tiefer als je zuvor?
Daß das Leben eine Form-Sache sei - das ist die These, die
wir mit dem altehrwürdigen Philosophen- und Geometer-
Ausdruck Sphäre verbinden. Sie suggeriert, daß Leben,
Sphärenbilden und Denken verschiedene Ausdrücke für das­
selbe sind. Indessen ist der Hinweis auf eine vitale sphärische
Geometrie sinnvoll nur, wenn zugegeben wird, daß eine Art
von Theorie existiert, die vom Leben mehr weiß als das Le­
ben selbst - und daß überall, wo menschliches Leben ist,
gleichgültig ob nomadisch oder seßhaft, bewohnte Kugeln
entstehen, wandernde oder ortsgebundene, die in einer ge­
wissen Hinsicht runder sind als alles, was sich mit Zirkeln
zeichnen läßt. Die folgenden Bücher sind dem Versuch ge­
Vorbemerkung !3

widmet, Möglichkeiten und Grenzen des geometrischen Vi-


talismus auszuloten.
Eine ziemlich überspannte Konfiguration von Theorie
und Leben - das sei zugegeben. Die Hybris dieses Ansatzes
wird vielleicht erträglicher oder wenigstens verständlicher,
wenn man sich erinnert, daß über der Akademie noch eine
zweite Inschrift stand, okkult und humoristisch, die besagte,
von diesem O rt sei ausgeschlossen, wer nicht bereit ist, sich
in Liebesaffairen mit anderen Besuchern des Theoretikergar­
tens zu verstricken. Man ahnt es schon: Auch diese Devise ist
auf das Leben im ganzen zu übertragen. Wer von Sphärenbil­
dung nichts wissen will, muß sich naturgemäß von Liebes-
dramen fernhalten, und wer dem Eros aus dem Weg geht,
schließt sich von den Bemühungen um Aufklärung über die
vitale Eorm aus. Damit wechselt die Hybris das Lager. Die
Exklusivität der Philosophie drückt nicht ihre eigene Anma­
ßung aus; sie folgt aus den Selbstbefriedigungen derer, die si­
cher sind, es gehe auch ohne philosophisches Denken. Wenn
Philosophie exklusiv ist, so spiegelt sie die Selbstausschlie­
ßung der meisten vom Besten wider - aber indem sie die be­
stehende Spaltung der Gesellschaft übertreibt, macht sie
Ausschließungen bewußt und legt sie noch einmal zur Ab­
stimmung vor. Durch die philosophische Übertreibung ent­
steht die Chance, vollzogene Optionen zu revidieren und
sich gegen die Exklusion zu entscheiden. Darum ist die Phi­
losophie, wenn sie bei ihrer Sache ist, immer auch Werbung
für sich selbst. Wenn andere ein anderes Bestes sehen - und
dabei Überzeugendes zustande bringen -, um so besser.
Der vorliegende Versuch bekennt sich, wie man sieht, zu
seiner Betroffenheit durch ein platonisches Problem, aber er
rechnet sich nicht dem Platonismus zu - sofern man darunter
die Summe der schlechten Lektüren versteht, die den Grün­
der der athenischen Akademie über Epochen hinweg im Ge­
spräch gehalten haben, den Antiplatonismus von Kant bis
Heidegger und ihrer Nachfolger inbegriffen. Ich werde pla­
H Vorbemerkung

tonischen Hinweisen nur insofern auf der Spur bleiben, als


ich im folgenden hartnäckiger als üblich die These entwickle,
daß Liebesgeschichten Formgeschichten sind und daß jede
Solidarisierung eine Sphärenbildung, das heißt eine Innen­
raumschöpfung ist.
Aus den Überschüssen der ersten Liebe, die sich von ih­
rem Ursprung losmacht, um anderswo in freien Neuanfän­
gen weiterzugehen, speist sich auch das philosophische Den­
ken, von dem man vor allem wissen muß, daß es ein Fall von
Übertragungsliebe zum Ganzen ist. Leider hat man sich im
zeitgenössischen intellektuellen Diskurs mit der Auffassung
abgefunden, die Übertragungsliebe als einen neurotischen
Mechanismus zu charakterisieren, der daran schuld ist, daß
echte Leidenschaften meistens an falscher Stelle empfunden
werden. Nichts hat dem philosophischen Denken so gescha­
det wie diese klägliche Motivreduktion, die sich zu Recht
und zu Unrecht auf psychoanalytische Muster berief. Dage­
gen muß man darauf bestehen, daß Übertragung die Form­
quelle von schöpferischen Vorgängen ist, die den Exodus der
Menschen ins Offene beflügeln. Wir übertragen nicht so sehr
unbelehrbare Affekte auf fremde Personen als frühe Raum­
erfahrungen auf neue Orte und primäre Bewegungen auf
ferne Schauplätze. Die Grenzen meines Übertragungsver­
mögens sind die Grenzen meiner Welt.
Sollte ich also am Eingang zu dieser Trilogie mein Zeichen
anbringen, so müßte es lauten: Es möge sich fernhalten, wer
unwillig ist, die Übertragung zu loben und die Einsamkeit zu
widerlegen.
Sphären
Mikrosphärologie

Band I

Blasen
16

Bubbles, Mezzotintostich von G .H . Every, 1887, nach Sir John Everett


Millais (1829-1896)
17

E in l e it u n g

Die Alliierten
oder:
Die gehauchte Kommune

as beschenkte Kind steht fiebernd auf dem Balkon


D und schaut den Seifenblasen nach, die es aus der kleinen
Schlaufe vor seinem Mund in den Himmel bläst. Jetzt spru­
delt ein Bläschenschwarm in die Höhe, chaotisch munter wie
ein Wurf von blauschimmernden Murmeln. Dann, bei einem
nächsten Versuch, löst sich zitternd, von einem ängstlichen
Leben gefüllt, ein großer ovaler Ballon von der Schlaufe,
wird von der Brise fortgetragen und schwebt vorwärts hin­
unter auf die Straße. Ihm folgt die Hoffnung des entzückten
Kindes. Dieses schwebt selbst mit seiner Wunderblase in den
Raum hinaus, als hinge für Sekunden sein Schicksal an dem
des nervösen Gebildes. Wenn die Blase endlich nach beben­
dem, gedehntem Flug zerplatzt, gibt der Seifenblasenkünst­
ler auf dem Balkon einen Laut von sich, der zugleich ein
Seufzer ist und ein Jubelruf. Für die Lebensspanne der Blase
war der Bläser außer sich gewesen, als habe der Bestand der
Kugel davon abgehangen, daß sie in eine mithinausschwe-
bende Aufmerksamkeit eingehüllt blieb. Jeder Mangel an Be­
gleitung, jedes Nachlassen des Mithoffens und Mitzitterns
hätte das schillernde Ding zu einem verfrühten Scheitern
verurteilt. Doch auch wenn es, eingetaucht in die begeisterte
Bewachung durch ihren Urheber, für eine wunderbare Weile
den Raum durchschweben durfte, am Ende mußte es sich in
nichts auflösen. An dem Ort, wo die Kugel zerplatzte, blieb
die aus ihrem Körper heraus getretene Seele des Bläsers für
einen Augenblick allein zurück, als habe sie sich auf eine ge­
meinsame Expedition eingelassen und auf halbem Weg den
Einleitung

Partner verloren. Doch der Melancholie gehört nur eine Se­


kunde, dann kehrt die Spielfreude mit ihrem bewährten
grausamen Vorwärts wieder. Was sind geplatzte Hoffnungen
anderes als Anlässe zu neuen Versuchen? Das Spiel geht un­
ermüdlich weiter, wieder schweben die Kugeln von der
Höhe, und erneut assistiert der Bläser seinen Kunstwerken
mit aufmerksamer Freude bei ihrem Flug im zarten Raum.
Auf dem Höhepunkt des Geschehens, wenn der Bläser in
seine Kugeln vernarrt ist wie in selbstvollbrachte Wunder,
droht den aufsprudelnden und davonziehenden Seifenblasen
keine Gefahr, durch Mangel an verzückter Begleitung vor­
zeitig zugrunde zu gehen. Die Aufmerksamkeit des kleinen
Zauberers fliegt auf ihrer Spur ins Weite und stützt die dün­
nen Wände der gehauchten Körper mit ihrem begeisterten
Dabeisein. Zwischen der Seifenblase und ihrem Bläser
herrscht eine Solidarität, die den Rest der Welt ausschließt.
Und wie die schillernden Gebilde sich entfernen, löst sich
immer von neuem der kleine Künstler von seinem Körper
auf dem Balkon, um ganz bei den von ihm ins Dasein gesetz­
ten Objekten zu sein. In der Ekstase der Aufmerksamkeit ist
das kindliche Bewußtsein gleichsam aus seiner leiblichen
Quelle ausgetreten. Wenn ausgeatmete Luft sonst im Spur­
losen verlorengeht, so gewinnt hier die in den Kugeln einge­
schlossene Atemluft ein momenthaftes Nachleben. Während
die Blasen sich im Raum bewegen, ist ihr Urheber wahrhaftig
außer sich - bei ihnen und in ihnen. In den Kugeln hat sich
sein Exhalat von ihm losgelöst und wird von der Brise be­
wahrt und weitergetragen; zugleich ist das Kind von sich
selbst entrückt, indem es sich verliert in das atemlose Mitflie­
gen seiner Aufmerksamkeit durch den beseelten Raum. So
wird die Seifenblase für ihren Urheber zum Medium einer
überraschenden Seelenexpansion. Gemeinsam existieren die
Blase und ihr Bläser in einem Feld, das durch aufmerksame
Anteilnahme aufgespannt wird. Das Kind, das seinen Seifen­
blasen ins Offene folgt, ist kein cartesisches Subjekt, das in
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 19

seinem ausdehnungslosen Denk-Punkt verharrt, während es


ein ausgedehntes Ding auf seiner Bahn durch den Raum be­
obachtet. Begeistert solidarisch mit seinen schillernden Ku­
geln stürzt sich der experimentierende Spieler in den offenen
Raum und verwandelt die Zone zwischen Auge und Gegen­
stand in eine beseelte Sphäre. Ganz Auge und Aufmerksam­
keit, öffnet das Kindergesicht sich dem Raum vor ihm. U n­
merklich geht so dem Spielenden inmitten seiner glücklichen
Unterhaltung eine Einsicht auf, die er unter schulischen Mü­
hen später wieder verlernen wird: daß der Geist auf seine
Weise selbst im Raum ist. Oder sollte man besser sagen: daß
das, was einst der Geist hieß, von vorneherein beflügelte
Raumgemeinschaften meinte? Wer einmal damit begonnen
hat, an solche Ahnungen Zugeständnisse zu machen, für den
liegt es nahe, in der eingeschlagenen Richtung weiterzufra­
gen: Wenn das Kind den Seifenblasen seinen Atem einhaucht
und ihnen mit seinen ekstatischen Nachblicken treu bleibt -
wer hat dann zuvor seinen Atem in das spielende Kind ge­
legt? Wer hält dem jungen Leben bei seinem Exodus aus dem
Kinderzimmer die Treue? In welchen Aufmerksamkeiten,
welchen Beseelungsräumen bleiben die Kinder enthalten,
wenn ihr Leben auf steigenden Bahnen glückt? Wer begleitet
die Jungen hinaus auf ihrem Weg zu den Dingen und ihrem
Inbegriff, der geteilten Welt? Gibt es denn unter allen Um­
ständen jemanden, als dessen Ekstase die Kinder in den Mög­
lichkeitsraum hinausschweben - und was geschieht mit de­
nen, die niemandes Hauch sind? Bleibt überhaupt alles
Leben, das hervorgeht und sich vereinzelt, in einem beglei­
tenden Atem enthalten? Ist die Vorstellung legitim, daß alles,
was da ist und Thema wird, jemandes Sorge wäre? Tatsäch­
lich ist das Bedürfnis bekannt - Schopenhauer hat es das me­
taphysische genannt -, daß alles, was der Welt oder dem Sei­
enden im ganzen angehört, in einem Hauch wie in einem
untilgbaren Sinn enthalten sein möge. Läßt dieses Bedürfnis
sich befriedigen? Läßt es sich rechtfertigen? Wer faßte zuerst
20 Einleitung

den Gedanken, daß die Welt überhaupt nichts als die Seifen­
blase eines umfassenden Atems sei? Wessen Außer-sich-Sein
wäre dann alles, was der Fall ist?

Das Denken der Neuzeit, das sich so lange unter dem naiven
Namen Aufklärung und dem noch naiveren Programmwort
Fortschritt vorstellte, zeichnet sich durch eine wesentliche
Bewegtheit aus: Wo immer es seinem typischen Vorwärts
folgt, vollzieht es den Durchbruch des Intellekts aus den
Höhlen der humanen Illusion ins nicht-menschliche Außere.
Nicht umsonst steht die Wende der Kosmologie, die nach
Kopernikus benannt ist, am Anfang der neueren Erkenntnis-
und Enttäuschungsgeschichte. Sie hat den Menschen der Er­
sten Welt den Verlust der kosmologischen Mitte eingetragen
und in der Folge ein Weltalter progressiver Dezentrierungen
auf den Weg gebracht. Vorbei ist es von da an für die Erden­
bewohner, die alten Sterblichen, mit allen Illusionen über ihre
kosmische Schoßlage, mögen solche Ideen auch wie angebo­
rene Täuschungen an uns haften. Mit des Kopernikus helio­
zentrischer These beginnt eine Serie von Forschungsausbrü­
chen ins menschenleere Außen, hin zu den unmenschlich
weit entfernten Galaxien und den spukhaftesten Komponen­
ten der Materie. Der neukalte Hauch von draußen wurde
früh verspürt, und auch einige von den Pionieren des revolu­
tionär veränderten Wissens über die Lage der Erde im All ha­
ben ihr Unbehagen in der zugemuteten Unendlichkeit nicht
verschwiegen; so erhebt selbst Kepler Einspruch gegen Bru­
nos Doktrin vom unendlichen Universum mit den Worten,
daß »gerade diese Überlegung ich weiß nicht welchen gehei­
men verborgenen Schrecken in sich trägt; tatsächlich irrt man
in dieser Unermeßlichkeit umher, der Grenzen und Mittel­
punkt und daher jeder feste O rt abgesprochen werden«.1Den
i D e stella nova inpede Serpentarii, 1606; zitiert nach Alexandre Koyre,
Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt
1980, S. 65.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 21

Kreis ohne Konstrukteur I, Beben auf der Sonne: Die sich ausbreitenden
Wellen erreichen eine Größe, die dem Zehnfachen des Erddurchmessers
entspricht, aufgenommen von der Sonde Soho.

Evasionen ins Äußerste folgen Kälte-Einbrüche aus den kos­


mischen und technischen Eiswehen in die menschliche Bin­
nensphäre. Seit dem Beginn der Neuzeit muß die Humanweh
in jedem Jahrhundert, in jedem Jahrzehnt, in jedem Jahr, an
jedem Tag es lernen, immer neue Wahrheiten über ein nicht
auf den Menschen bezügliches Außen hinzunehmen und zu
integrieren. Vom 17. Jahrhundert an breitet sich, beginnend
mit den europäischen Bildungsschichten, dann zunehmend
in den informierten Massen der Ersten Weh, die neue psycho-
kosmologisch relevante Empfindung aus, die Menschen seien
von der Evolution, der indifferenten Göttin des Werdens,
nicht gemeint. Bei jedem Ausblick in die Erdfabrik und in die
extraterrestrischen Räume nimmt die Evidenz zu, daß der
Mensch nach allen Seiten überragt wird von monströsen Äu­
ßerlichkeiten, die ihn mit Sternenkälte und außermensch-
22 Einleitung

Kreis ohne Konstrukteur II, Wagenrad-Galaxie im Sternbild Bildhauer, auf­


genommen durch das Weltraumteleskop Hubble.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 23
licher Komplexität anhauchen. Diesen Provokationen durch
das Außen ist die alte Natur des homo sapiens nicht gewach­
sen. Durch Forschung und Bewußtwerdung ist der Mensch
zum Idioten des Kosmos geworden; er hat sich selbst ins Exil
geschickt und sich aus seiner unvordenklichen Geborgenheit
in selbstgesponnenen Illusionsblasen ins Sinnlose, Unbezüg­
liche, Selbstläufige ausgebürgert. Mit Hilfe seiner unnachgie­
big weitersuchenden Intelligenz hat das offene Tier das Dach
seines alten Hauses von innen her abgerissen. An der
Moderne teilhaben bedeutet evolutionär gewachsene Im­
munsysteme aufs Spiel setzen. Seit der englische Physiker-
Kosmograph Thomas Digges in den siebziger Jahren des
16. Jahrhunderts den Nachweis führte, daß die zweitausend­
jährige Doktrin von den Himmelsschalen sowohl physika­
lisch haltlos als auch denkökonomisch überflüssig sei, muß­
ten sich die Bürger der Neuzeit in eine neue Lage finden, die
ihnen zugleich mit der Illusion von der Zentralposition ihrer
Heimat im Weltall auch die tröstliche Imagination nahm, die
Erde sei von sphärischen Gewölben wie von wärmenden
himmlischen Mänteln umhüllt. Seither hatten Neuzeitmen­
schen zu lernen, wie man sich anstellt, als Kern ohne Schale
zu existieren. Pascals frommes und aufmerksames Wort:
»Das ewige Schweigen der unendlichen Räume versetzt mich
in Schrecken« spricht das intime Bekenntnis der Epoche aus.2
Seit die Zeiten im präzisen Sinn neue wurden, bedeutet In­
der-Welt-Sein sich an die Erdrinde klammern müssen und
zur Schwerkraft beten - jenseits von Schoß und Schale. Es
kann kein bloßer Zufall sein: Seit den neunziger Jahren des
15. Jahrhunderts bauen und betrachten die Europäer, die spü­

2 Alexandre Koyre hat darauf hingewiesen, daß der berühm te Satz


nicht Pascals eigenes Em pfinden ausdrückt, sondern form uliert ist aus
der Einfühlung in die Weitsicht des libertin, des gottlosen Freigeists,
der in ein firmamentloses, von Sinn entleertes All hinausblickt. Vgl. A.
Koyre, Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum
(s. Anm. i), S. 49.
24 Einleitung

ren, worum es geht, wie die Besessenen eines Undefinierten


Kultes kugelgestaltige Erdbilder, Globen, als wollten sie sich
durch den Anblick dieser Fetische darüber trösten, daß sie für
alle Zeiten nur noch auf einer Kugel, aber nicht mehr in einer
Kugel würden existieren können. Wir werden zeigen, daß
alles, was heute Globalisierung heißt, vom Spiel mit dieser
exzentrischen Kugel herkommt. Friedrich Nietzsche, der
Meisterformulierer jener Wahrheiten, mit denen man nicht
leben kann, doch die zu ignorieren der intellektuellen Red­
lichkeit zuwider wäre, hat schließlich artikuliert, was die Welt
im ganzen für die modernen Unternehmer aus Einsicht hat
werden müssen: »ein Tor zu tausend Wüsten, leer und kalt«.
In der Neuzeit leben heißt, den Preis für Schalenlosigkeit
entrichten. Der geschälte Mensch agiert seine epochale Psy­
chose aus, indem er auf äußere Erkaltung mit Wärmetechni­
ken und Klimapolitiken antwortetet - oder mit Klimatechni­
ken und Wärmepolitiken. Aber nachdem Gottes schillernde
Blasen, die kosmischen Schalen, geplatzt sind, wer wäre im­
stande, prothetische Hüllen um die Bloßgestellten zu schaf­
fen?
Gegen den kosmischen Frost, der durch die aufgerissenen
Fenster der Aufklärung in die Humansphäre dringt, setzt die
neuzeitliche Menschheit einen gewollten Treibhauseffekt:
Sie unternimmt die Anstrengung, ihre Hüllenlosigkeit im
Raum nach dem Zerbrechen der himmlischen Gefäße durch
eine zivilisatorische Kunstwelt zu kompensieren. Dies ist der
letzte Horizont des euro-amerikanischen Technik-Titanis­
mus. Die Neuzeit erscheint in dieser Sicht als das Weltalter
eines Schwurs, den eine offensive Verzweiflung tat: daß ein
umfassender Gattungs-Hausbau und eine globale Erwär­
mungspolitik gelingen müsse angesichts des offenen, kalten,
schweigenden Himmels. Es sind vor allem die unternehme­
rischen Nationen der Ersten Welt, die ihre erworbene psy-
cho-kosmologische Unruhe in offensiven Konstruktivismus
übersetzt haben. Sie schirmen sich ab gegen den Schrecken
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 25
des bodenlosen, des ins Unendliche erweiterten Raums
durch die zugleich utopische und pragmatische Errichtung
eines Weltglashauses, das ihnen modernes Wohnen im O f­
fenen gewähren soll. Darum wird schließlich, je mehr der
Prozeß der Globalisierung voranschreitet, der Blick der
Menschen zum Himmel, bei Tag wie bei Nacht, immer
gleichgültiger und zerstreuter; ja, es ist beinahe zu einem
Kriterium für Naivität geworden, sich noch mit existentiel­
lem Pathos für kosmologische Fragen zu interessieren. Dem
Geist fortgeschrittener Verhältnisse gemäß hingegen ist die
Gewißheit, am sogenannten Himmel nichts mehr zu suchen
zu haben. Denn nicht die Kosmologie sagt den Menschen
heute, woran sie sind, sondern die allgemeine Theorie der
Immunsysteme. Es macht die Besonderheit der Neuzeit aus,
daß nach der Wende zur kopernikanischen Welt das Immun­
system Himmel mit einemmal zu nichts mehr zu gebrauchen
war.3 Die Moderne charakterisiert sich dadurch, daß sie ihre
Immunitäten technisch produziert und ihre Sicherheits­
strukturen zunehmend aus den traditionellen theologischen
und kosmologischen Dichtungen ausgliedert. Die großtech­
nische Zivilisation, der Wohlfahrtsstaat, der Weltmarkt, die
Mediasphäre: All diese Großprojekte zielen in schalenloser
Zeit auf Nachahmung der unmöglich gewordenen imaginä­
ren Sphärensicherheit. N un sollen Netze und Versicherungs­
policen an die Stelle der himmlischen Schalen treten; Tele­
kommunikation muß das Umgreifende nachspielen. In einer
elektronischen Medienhaut will sich der Menschheitskörper
eine neue Immunverfassung schaffen. Weil das alte All-Um­
fassende und Enthaltende, das himmlische continens-Ge-
wölbe, unwiderruflich verloren ist, muß das nicht mehr Um­
faßte, nicht mehr Enthaltene, das einstige contentum, seine
Zufriedenheit auf künstlichen Kontinenten unter künst-

3 Vgl. Sphären II, Exkurs 5, U ber den Sinn des ungesprochenen Wortes:
Die Kugel ist tot.
26 Einleitung

liehen Himmeln und Kuppeln selber erzeugen.4 Aber wer


das globale Zivilisationstreibhaus zu erstellen hilft, gerät
in thermopolitische Paradoxien: Damit dessen Errichtung
durchgesetzt werde - und diese Raumphantasie liegt dem
Projekt Globalisierung zugrunde müssen riesige Popula­
tionen, im Zentrum wie an der Peripherie, aus alten Gehäu­
sen der wohltemperierten regionalen Illusion evakuiert und
den Frösten der Freiheit ausgesetzt werden. Dabei fordert
der totale Konstruktivismus unnachgiebig seinen Preis. Um
für die artifizielle Ersatz-Sphäre freien Grund zu schaffen,
werden in allen alten Ländern die Restbestände an Innen­
weltglauben und Geborgenheitsfiktion gesprengt im Namen
einer durchgreifenden Markt-Aufklärung, die besseres Le­
ben verspricht und die doch fürs erste nur die Immunstan­
dards der Proletariate und der peripheren Völker verheerend
absenkt. Bald stehen entgeisterte Massen im Freien, ohne daß
ihnen der Sinn ihrer Aussiedlung je recht erklärt würde. Sie
hüllen sich enttäuscht, erkältet und verwaist in Surrogate von
älteren Weltbildern, solange diese noch einen Hauch von der
Wärme altmenschlicher Umgriffenheits-Illusionen in sich zu
tragen scheinen.
»Wer gab uns den Schwamm, um den ganzen Horizont
wegzuwischen? Was thaten wir, als wir die Erde von
ihrer Sonne losketteten? Wohin bewegt sie sich nun?

4 Zu den Begriffen continens/contentum (Umfassendes/Um faßtes) vgl.


G iordano Bruno, Zwiegespräche vom unendlichen All und den Wel­
ten, ed. Ludwig Kuhlenbeck, D arm stadt 1983, S. 32. Die begriffsge-
schichtliche Pointe zeigt sich darin, daß »Kontinent« m odern den Z u­
sammenhang des Erdbodens bezeichnet, während das klassische
continens die äußerste Schalenhülle des Himmels meint. Kurioser­
weise heißt neuzeitlich der Boden das »Umfassende«, obw ohl seit
Kolumbus und Magellan erwiesen ist, daß im globalen Erdkontext die
O zeane das Umfassende sind, die sog. Kontinente hingegen das U m ­
faßte. Mit berechtigter Ironie bezeichnen angloamerikanische A uto­
ren die alteuropäischen D iskurse als Symptome »kontinentalen D en­
kens«.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 27
Fort von allen Sonnen? Stürzen wir nicht fortwäh­
rend? Und rückwärts, seitwärts, vorwärts, nach allen
Seiten? Giebt es noch ein Oben und Unten? Irren wir
nicht wie durch ein unendliches Nichts? Haucht uns
nicht der leere Raum an? Ist es nicht kälter geworden?«
(Friedrich Nietzsche, Die Fröhliche Wissenschaft, § 125)
In diesen Fragen klafft der Abgrund auf, über den die aktu­
ellen Globalisierungsdiskurse in ihrer geschäftigen Hysterie
hinwegreden. In schalenlosen Zeiten, ohne Orientierung im
Raum, vom eigenen Fortschritt überwältigt, mußten die Mo­
dernen massenhaft zu tollen Menschen werden. Man kann
die Technikzivilisation, vor allem ihre Akzelerationen im
20. Jahrhundert, als den Versuch ansehen, die Fragen von
Nietzsches Kronzeugen, jenem tragischen Diogenes, im
Komfort zu ersticken. Indem die moderne Welt den Einzel­
nen technische Lebensmittel von unbekannter Perfektion
zur Verfügung stellt, möchte sie ihnen die unruhige Erkun­
digung nach dem Raum, in dem sie leben oder aus dem sie
fortwährend stürzen, aus dem Mund nehmen. Indes war es
gerade die existentialistische Moderne, der sich die Gründe
dafür gezeigt haben, daß es für Menschen weniger wichtiger
sei, zu wissen, wer sie sind, als wo sie sind. Solange die Bana­
lität die Intelligenz versiegelt, interessieren sich Menschen
nicht für ihren Ort, der gegeben scheint; sie fixieren ihr Vor­
stellen an die Irrlichter, die ihnen als Namen, Identitäten und
Geschäfte vorschweben. Was neuere Philosophen die Seins­
vergessenheit genannt haben, zeigt sich vor allem an als hart­
näckige Ignoranz gegen den unheimlichen O rt des Existie-
rens. Der populäre Plan, sich und das Sein zu vergessen,
verwirklicht sich durch mutwilliges Nichtgewahrwerden der
ontologischen Lage. Dieser Mutwille bewegt heute alle Ge­
stalten von rasantem Lebensbetrieb, ziviler Interesselosig­
keit, anorganischer Erotik. Er treibt seine Agenten dazu, sich
auf klein-böse Recheneinheiten festzulegen; die Gierigen der
letzten Tage fragen nicht mehr, wo sie sind, solange sie nur ir­
28 Einleitung

gend jemand sein dürfen. Wenn wir hier hingegen versuchen,


die Wo-Frage auf radikale Weise neu zu stellen: so heißt das,
dem zeitgenössischen Denken seinen Sinn für die absolute
Lokalisation zurückzugeben, und mit dieser den Sinn für
den Grund des Unterschieds zwischen Klein und Groß.

Auf die gnostisch inspirierte Frage: Wo sind wir, wenn wir in


der Welt sind? ist eine kompetente zeitgenössische Antwort
möglich. Wir sind in einem Außen, das Innenwelten trägt.
Mit der These vom Prius des Außen vor Augen brauchen wir
keine naiven Nachforschungen über die Stellung des Men­
schen im Kosmos mehr anzustellen. Es ist zu spät, uns an ei­
nen Platz unter himmlischen Schalen zurückzuträumen, in
deren Innern häusliche Ordnungsgefühle gestattet wären.
Die Geborgenheit im größten Kreis ist für die Wissenden zer­
stört, und mit ihr der alte wohnliche, immunisierende Kos­
mos selbst. Wer noch immer nach außen und oben schauen
wollte, geriete in eine Menschenleere und Erdferne, für die es
keine relevante Grenze gibt. Auch im materiell Kleinsten ha­
ben sich Komplexitäten enthüllt, bei denen wir die Ausge­
schlossenen, die Entfernten sind. Darum ist die Erkundigung
nach unserem Wo sinnvoller denn je, denn sie richtet sich auf
den Ort, den Menschen erzeugen, um zu haben, worin sie
Vorkommen können als die, die sie sind. Dieser O rt trägt hier,
einer altehrwürdigen Überlieferung eingedenk, den Namen
S p h ä r e . Die Sphäre ist das innenhafte, erschlossene, ge­
teilte Runde, das Menschen bewohnen, sofern es ihnen ge­
lingt, Menschen zu werden. Weil Wohnen immer schon
Sphären bilden heißt, im Kleinen wie im Großen, sind die
Menschen die Wesen, die Rundwelten aufstellen und in H o­
rizonte ausschauen. In Sphären leben heißt, die Dimension
erzeugen, in der Menschen enthalten sein können. Sphären
sind immunsystemisch wirksame Raumschöpfungen für ek­
statische Wesen, an denen das Außen arbeitet.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 29

N icht die Gefäße, die von dir voll sind, ge­


ben dir H alt, denn wenn sie auch brächen,
du w ürdest nicht ausgegossen. U nd wenn
du auch über uns ausgegossen w ürdest, so
fielest du nicht zu Boden, sondern erhebst
uns, und du zerstreust dich nicht, sondern
uns sammelst du.
Aurelius A ugustinus, Confessiones, I,i

Unter den veraltet-kostbaren Ausdrücken, mit denen die


Metaphysik zu ihrer Zeit zwischen Himmel und Erde subtile
Brücken baute, findet sich einer, der noch manchen Zeitge­
nossen, und nicht nur Künstlern und ihren Imitatoren, zu
Hilfe kommt in der Verlegenheit, die Quelle ihrer Ideen und
Einfälle mit einem respektablen Namen zu belegen: Inspira­
tion. Auch wenn das Wort antiquarisch erscheint und seinen
Benutzern eher ein Lächeln einbringt als Anerkennung, so
hat es seinen symbolischen Glanz nicht ganz verloren. Es ist
noch immer halbwegs geeignet, die undeutlich andersartige,
andersortige Herkunft von Ideen und Werken zu markieren,
die sich nicht auf die bloße Anwendung von Regeln und auf
die technische Wiederholung von bekannten Mustern des
Suchens und Findens zurückführen lassen. Wer sich auf
Inspiration beruft, gibt zu, daß Einfälle nicht-triviale Vor­
kommnisse sind, deren Eintreten nicht zu erzwingen bleibt.
Ihr Medium ist nicht ihr Herr, ihr Empfänger nicht ihr Pro­
duzent. Ob es der Genius ist, der die Einflüsterung voll­
bringt, oder der Zufall, der die Würfel so fallen ließ, wie sie
hegen, ob es ein Bruch im gewohnten Begriffsgefüge ist,
durch den bisher Ungedachtes auf Begriffe kommt, oder ob
ein produktiver Irrtum das Neue bewirkt: Welche Instanzen
auch immer als Absender des Einfalls in Betracht gezogen
werden, der Empfänger weiß jedesmal, daß er oder sie, über
eigene Anstrengungen hinaus, gewissermaßen Besucher von
anderswo in seinem oder ihrem Denken beherbergt hat.
Inspiration - Einhauchung, Eingebung, Vertikaleinfall der
3° Einleitung

Idee, Aufklaffen des Neuen: Das Konzept bezeichnete einst,


als es ohne Ironie gebraucht werden konnte, den Umstand,
daß eine informierende Kraft von überlegener Natur ein
menschliches Bewußtsein zu seinem Mundstück oder Reso­
nanzboden macht. Der Himmel, würden Metaphysiker sa­
gen, tritt als Informant der Erde auf und gibt ihr Zeichen; ein
Fremdes geht beim Eigenen durch die Tür und verschafft
sich Geltung. Und obwohl das Fremde heute keine hohen,
prägnant metaphysischen Namen mehr trägt - nicht Apol­
lon, nicht Jahwe, nicht Gabriel, nicht Krishna, nicht Xan-
go -, so ist das Phänomen Einfall nicht völlig aus den aufge­
klärten Gesichtskreisen verschwunden. Wer Einfälle erlebt,
kann auch in nach-metaphysischer oder anders-metaphysi-
scher Zeit sich als Gastgeber und Matrize von Nicht-Eige­
nem verstehen. N ur unter Bezug auf solche Durchzüge des
Fremden läßt sich in unserer Zeit noch ein haltbares Konzept
von dem, was Subjektivität heißen kann, artikulieren. Ge­
wiß, die einfälligen Besucher sind heute anonym geworden.
Auch wenn man sich, dem Scherzwort gemäß, oft wundert,
auf welche Menschen die Ideen kommen: an ihrem plötzli­
chen Kommen selbst braucht, wer den Vorgang kennt, nicht
zu zweifeln. Wo sie erschienen sind, nimmt man ihre Gegen­
wart zur Kenntnis, ohne sich des Näheren um ihre Herkunft
zu sorgen. Was ins Vorstellen einfällt, soll von nirgendwo
anders herkommen als von irgendwo dort, von außen, aus
einem Freien, das nicht unbedingt ein Drüben wäre. Man
möchte die Einfälle nicht mehr aus peinlichen Himmeln ha­
ben, sie sollen aus dem Niemandsland der herrenlosen präzi­
sen Gedanken stammen. Durch Absenderlosigkeit gewähren
sie den freien Gebrauch ihrer Gabe. Der Einfall, der für dich
etwas abgibt, bleibt ein diskreter Besucher vor der Tür. Er
macht aus sich keine Religion, sofern eine solche immer mit
dem Bekenntnis zu einem Stifternamen daherkommt. Sein
Anonym, von vielen zu Recht als wohltuend empfunden,
schafft eine der Voraussetzungen dafür, daß heute endlich in
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 31

allgemeinen Begriffen nach dem Wesen dessen gefragt wer­


den kann, was wir Medien nennen. Denn Medientheorie:
Was ist sie, lege artis ausgeübt, anderes als die begriffliche
Nacharbeit zu regelmäßigem Besuch, diskretem und indis­
kretem? Botschaften, Absender, Kanäle, Sprachen - es sind
dies meistens mißverstandene Grundbegriffe einer allgemei­
nen Wissenschaft der Besuchbarkeit von Etwas durch Etwas in
Etwas. Wir werden zeigen, daß Medientheorie und Sphären­
theorie konvergieren; dies ist eine These, für deren Beweis
drei Bücher nicht zuviel sein können. In Sphären werden ge­
teilte Inspirationen zum Grund für das Zusammenseinkön­
nen von Menschen in Kommunen und Völkern. In ihnen
formt sich zuerst jene starke Beziehung zwischen den Men­
schen und ihren Beseelungsmotiven - und Beseelungen sind
Besuche, die bleiben -, die den Grund von Solidarität bereiten.

Die Urszene für das, was es in jüdisch-christlicher Überlie­


ferung verdient, Inspiration zu heißen, ist die Erschaffung
des Menschen - ein Ereignis, das im Genesis-Bericht unter
zwei Versionen auftaucht, einmal als Schlußakt des Sechs-
tage-Werks, das allerdings die Einhauchungs-Szene mit Still­
schweigen übergeht, einmal als Anfangsakt zu aller weiteren
Kreation, nun aber unter ausdrücklicher Betonung der
Schöpfung durch den Atem und mit der charakteristischen
Unterscheidung von Lehmmodellierung im ersten und An-
hauchung im zweiten Vorgang. Hier begegnet der Inspirator,
der Herr der Schöpfung, dem Genesis-Leser als eine ontolo­
gisch scharf profilierte Gestalt: Er ist der erste vollmächtige
Hersteller. Der Inspirierte seinerseits betritt die Daseins­
bühne als der Erste Mensch, der Prototypus einer Gattung,
der Einfälle widerfahren können. Der biblische Bericht über
die erste Hauchung gibt den ursprünglichen Besuch des Gei­
stes bei einem gastgebenden Medium wieder.
4 b »Zur Zeit, als Gott, der Herr, Erde und Himmel
machte, 5 gab es auf der Erde noch keine Feldsträucher
3^_ Einleitung

und wuchsen noch keine Feldpflanzen; denn Gott, der


Herr, hatte es auf die Erde noch nicht regnen lassen,
und es gab noch keinen Menschen, der den Ackerbo­
den bestellte; 6 aber Feuchtigkeit stieg aus der Erde auf
und tränkte die ganze Fläche des Ackerbodens.
7 Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde
vom Ackerboden und blies in seine Nase den Lebens­
atem ein. So wurde der Mensch zu einem lebendigen
Wesen.« Genesis, 2, 4-7
Wäre es möglich, über diese Hauchung in einer Sprache zu
reden, die noch nicht verformelt ist von Theologenroutinen
und gläubigen Unterwerfungen unter den vermuteten und
verordneten Sinn? Nimmt man die Zehntausendmal nachge­
beteten, interpretierten, übersetzten, ausgebeuteten Zeilen
als Aussage über ein Produktionsverfahren ernst, so zeigen
sie in ihrem expliziten Nacheinander vor allem eine proze-
durale Einsicht an: Der Mensch ist ein Kunstgebilde, das nur
auf zweimal erschaffen werden konnte. Im ersten Arbeits­
gang formt, wie wir lesen, der Schöpfer den Adam, sprich
den dem Ackerboden, adama, entnommenen Lehmling, und
gestaltet ihn zu einem Kunstwerk eigenen Typs, das seine
Existenz, wie alle Artifizien, der Verbindung von Kunstwis­
sen und Rohstoff verdankt. Handwerk und Erde sind glei­
chermaßen nötig, um das Menschenbild in Form der ersten
Statue aufzustellen. Bei seinem anfänglichen Zugriff ist der
Schöpfer also nichts weiter als ein Keramiker, dem es gefällt,
aus geeignetem Ausgangsmaterial eine Figur zu formen, die
ihm, dem produzierenden Meister, ähnlich sieht. Wer Men­
schen als primitive Maschinen vorstellen möchte, findet hier
vorgezeichnet, wie Statuen, Menschenpuppen, Golems, Ro­
boter, androide Trugbilder und ähnliches nach den Regeln
der Kunst zu erzeugen sind. Der Gott der ersten Menschen­
schöpfungsphase verkörpert einen Repräsentanten der älte­
sten Technikkultur, deren Schwergewicht ins Keramiker-
Können fällt. Die Töpfer haben zuerst entdeckt, daß Erde
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 33
mehr ist als nur der zu bestellende Ackerboden. Der Kera­
miker als anfänglicher Werkschöpfer oder Demiurg verfügt
über die Erfahrung, daß der Boden, der Früchte trägt, auch
Rohstoff für Neubildungen sein kann, insbesondere für die
Produktion von Tongefäßen, denen in Werkstätten und
Ofen Form, Deutlichkeit in Verbindung mit Stabilität, ver­
liehen wird. Wenn der Herr der Genesis bei seiner Men­
schenschöpfung sich zunächst als Töpfer betätigt, so deswe­
gen, weil Menschenschöpfung am plausibelsten gelingt,
wenn sie als Gefäßherstellung beginnt. Androide Gestalten
machen können nach keramischen Routinen: dies markiert
zur Zeit der biblischen Genesis den Stand der Kunst. So ist
nichts Außergewöhnliches am Werk, wenn Adams Körper
aus Lehm verfertigt wird. Er bildet fürs erste nur eine Hohl­
körperplastik, auf die eine signifikante Weiterverwendung
wartet. Erst mit dieser kommt das Außerordentliche ins
Spiel, denn wenn der Lehmling in der ursprünglichen Mo­
dellierung mit einem Hohlraum ausgestattet wird, so nur,
weil er im weiteren als Krug des Lebens dienen soll. Von An­
fang an wird er als halbmassive Figur geformt, da ihm eine
Füllung der besonderen Art zugedacht ist. Metaphysik be­
ginnt als Metakeramik. Denn was in dieses singuläre Gefäß
eingefüllt werden soll, wird kein bloß physischer Inhalt sein.
Zwar lassen sich Flüssigkeiten in begrenzter Menge von dem
Vasen-Androiden aufnehmen, sein Hohles ist aber von sub­
limerer Natur, und durch sinnliche Fluida ist es nicht ange­
messen auszukleiden. Dem adamischen Gefäß sind Hohl­
räume anerschaffen, die erst in einer zweiten, zunächst
durchaus mysteriösen Phase der Schöpfung zu ihrer Bestim­
mung erwachen » ... und blies in seine Nase den Lebensatem
ein. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.«
Mit diesem Inspirations-Akt meldet die zweite Phase der
Menschenherstellung ihre Rechte an. Ohne die Ergänzung
des Tonkörpers durch den Hauch wäre Adam für immer
nur ein bizarres Lehm-Kunstwerk geblieben; er wäre nicht
34 Einleitung

Jungsteinzeitliche Rekonstruktion eines Kopfes mittels Auflagen von ge­


färbtem Gips, die dem Schädel die Gestalt der zuvor vorhandenen Gewebe­
schichten gaben.

mehr als eine willkürliche Installation auf der ungehüteten


Erde. Eine solche Statue hätte vielleicht zu einer Grab-Bei­
gabe für seinen Hersteller getaugt, einer Tonfigur in altchi­
nesischen Fürstengräbern vergleichbar; in handwerklicher
Sicht könnte dieser Adam, in seinen oberen Partien zumin­
dest, seinen mutmaßlichen technischen Modellen geglichen
haben: den altpalästinensischen Kopfplastiken, die durch
lebensähnliche Lehm- oder Gipsüberzüge über Totenschä­
deln hervorgebracht wurden.5 Die Geweszs-Erzählung, ab-
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 35

Tonfiguren in voller Lebensgröße aus der Grabanlage des ersten Kaisers von
China, Quin (259-210 v. Chr.)

seits von den theologischen Üblichkeiten gelesen, gibt zu


bedenken, daß dem adamitischen Halbfabrikat in einem
zweiten Arbeitsgang der entscheidende pneumatische
Mehrwert hinzugefügt wird. Der Mensch, so wird hier im-
plicite doziert, ist ein Gefäßwesen, das durch einen spezifi­
schen Zusatz erst zu seiner Bestimmung, »Ebenbild« zu
sein, erwacht. Für das Wort Lebewesen führt der hebräische
5 Vgl. Terry Landau, Von Angesicht zu Angesicht. Was Gesichter ver­
raten und was sie verbergen, Reinbek bei H am burg 1995, S. 237ff.
3^ Einleitung

Text den Ausdruck nefescb an, was soviel bedeutet wie:


»was von einem lebendigen Atem beseelt wird«; dieser ist
nach Auskunft der Hebraisten weitgehend synonym mit
ruach, bewegte Luft, Hauch, Lebensatem, Geist, Gefühl
und Leidenschaft, Gedanke. In prozeduraler Hinsicht als
Zweiphasenprozeß angelegt, steigert sich also die Anthro-
popoiese von der Gefäßschöpfung zur Geistwesenschöp­
fung, wobei diese Klimax von vorneherein intendiert ist; die
Einhauchung kommt nicht nur als schmückender Zusatz zu
einem autonomen Körpermassiv hinzu. Deshalb haben
beide Phasen des Schöpfungsvorgangs je auf eigene Weise
resolut technischen Charakter, denn wenn Adam, wie die
Genesis-Erzählung prätendiert, in jeder Hinsicht als Ge­
schöpf oder Werk eines Urhebers - die lateinischen Patres
werden sagen: als factum oder ens creatum - verstanden
werden soll, dann muß das göttliche Schöpfungsvermögen
ausdrücklich auch die Kompetenz umgreifen, vollbeseelte,
ontologisch komplette, mit Subjektivität dotierte, intelligent
tätige und aufgrund alles dessen gottähnliche Wesen hervor­
zubringen.
Damit reißt die Gewesis-Erzählung den Horizont der
technischen Frage mit letztmöglicher Radikalität auf: Was
Technik ist, läßt sich von jetzt an nur begreifen durch eine
Vermessung des Abstands zwischen dem, was Gott in illo
tempore gekonnt hat, und dem, was Menschen zu ihrer Zeit
können werden. Der erste Teil der Menschenbildherstellung
ist, wie gesehen, im Blick auf den göttlichen Menschenma­
cher operativ geheimnislos, und Menschen haben ihn unter
geeigneten Bedingungen erfolgreich wiederholt. Daß die
Herstellung von Menschenbildern etwas ist, was bis zur
Meisterschaft gelernt werden kann, ist eine Überzeugung,
auf der bis heute sämtliche Meisterklassen für Naturstudien
an traditionellen Kunstakademien beruhen; der Werkmeister
der ersten Schöpfungsphase wäre noch nicht mehr als ein
Kunststudent, der in einer Akt-Klasse durch Begabung auf-
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 37
fiele; er wäre lediglich ein Anwender erlernbarer Künste.
Hingegen setzt der zweite Teil einen absolut postgraduierten
Trick voraus, der bislang nur dem Genesis-Gott gelang:
Durch diesen Zusatz wird der Graben zwischen Human­
technik und Theotechnik zum Aufklaffen gebracht. Denn in
demiurgischer Sicht - und die Erzählung von Adam ist vor
allem ein großköniglicher Handwerkermythos - soll nun der
innerliche Menschengeist selbst als Werk eines Herstellers
gelten, und wie man Statuen zum beseelten Leben erweckt:
Davon hat bloß menschliches Machenkönnen bis vor kur­
zem schlechthin nichts gewußt. Das Hauchen war Inbegriff
einer Gottestechnik, die sich darauf versteht, die ontologi­
sche Lücke zwischen dem Lehm-Idol und dem beseelten
Menschen mit einem pneumatischen Kunstgriff zu schlie­
ßen. Folglich ist Gott der Titel für ein Könnertum, dessen
Kunst bis zur Schöpfung von lebendigem Selbst-Ähnlichem
reicht. Als Schöpfer aller Dinge ist der Genesis-Gon Herr
des Unähnlichen wie des Ähnlichen. Man überzeugt sich von
der Tragweite dieser These ohne Mühe, indem man auf die
einfachsten wie die höchsten Kreaturen blickt und angesichts
ihres Gegebenseins sich vergegenwärtigt: Sie alle sollen aus­
nahmslos als Produkte einer einzigen, kontinuierlich wir­
kenden schöpferischen Potenz begriffen werden! Ob aber
Kristalle, Amöben, Bäume, Libellen gottähnlich sind, ist eine
Frage, die die Theologen zumeist verneinen. Natur ist, theo­
logisch aufgefaßt, der Titel für die Selbstverwirklichung
Gottes im Unähnlichen. Was hingegen die Verwirklichung
im Ähnlichen angeht, so wird im eminentesten Text mit Au­
torität gesagt, daß Adam seinem Schöpfer gleiche. Mithin: Es
genügt, vom faktischen Dasein des beseelten Lehmlings ge­
bührend N otiz zu nehmen, um wie von selbst auf die Frage
zu kommen: Wer konnte das? Wer war imstande, den Men­
schen zu machen? Nach welchem Verfahren wurde er, der
Ähnliche, der Subjekthafte, der Geistvolle, der die Welt als
Welt anschaut und bearbeitet, ins Werk gesetzt? Soweit es
3« Einleitung

um den keramischen Adam geht, sind wir, wie gesagt, ausrei­


chend im Bilde, um das Rätsel seiner Existenz zu lüften, eben
weil Lehmbearbeitungsregeln bekannt sind, nach denen man
zuverlässig zu androiden Figuren gelangt. Für die Weiterver­
arbeitung der Statue zum lebenden Menschen muß hingegen
ein pneumatisches oder noogenes Plus ins Spiel gebracht
werden, zu dessen Nachahmung, wie es scheint, bislang alle
Verfahrensregeln fehlten. Das Lebeneinblasen war eine tech-
nisch-übertechnische Prozedur, die während der gesamten
Periode des religiös-metaphysischen Denkens ausschließlich
als Gottes Patent verehrt werden mußte. Gleichwohl strek-
ken die Erzähler der Genesis nach diesem Plus ihre Pfand aus,
weil sie Adams Geist auf die gekonnte Tat eines Handwer­
kers oder Atemwerkers zurückführen.
Seither ist hochkulturelle Theologie immer auch die Theo­
rie des höchsten Könnens und die Auslegung des Weltgan­
zen im Licht eines Fabrikationsprinzips. Gott ist eine Ek­
stase des Kompetenzgedankens, der die Hervorbringung der
Welt und der ihr eingeformten Subjektivitäten umfaßt. Mit
theo-technischem Denken setzt die europäische Obsession
durch das Machenkönnen ein. Man könnte sich dem Ver­
dacht hingeben: Die Geschichte selbst, als Prozeß der Tech­
nik, gehorcht der Regel: Wo Gottes Geheimtechnik war,
soll öffentlich-menschliches Verfahren werden. Vielleicht ist,
was wir Geschichtlichkeit nennen, nichts anderes als der
Zeitbedarf für den Versuch, den Trick Gottes im Human­
können zu wiederholen? Das würde zu der Folgerung drän­
gen: Auch die Einhauchung des Lebensatems soll irgend­
wann ein durchformuliertes Können werden, das sich vom
Himmel auf die Erde holen läßt. Doch dürfen wir es wagen,
uns eine Technologie vorzustellen, die den pneumatischen
Takt der Schöpfung zu ihrer eigenen Angelegenheit macht?
Sollte auch, was Beseelung hieß, etwas werden, was nach
hinreichend genau formulierbaren Kunst- und Verfahrensre­
geln in Serie gehen könnte? Sollte sich zeigen, daß Hauch-
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 39
Wissenschaften im Bereich des Möglichen liegen und daß die
Geisteswissenschaften sich schon auf den Weg gemacht ha­
ben zur Wiederholung des göttlichen Atems durch den hö­
heren Mechanismus?6

Wir ziehen mit diesen Fragen ein verhülltes Thema der jüdi­
schen Genesis-Erzählung ans späte Licht: Was zur Debatte
steht, ist Adams auserwählte Hohlheit. Zu denken gibt uns
seine Gefäßnatur, seine resonante Verfaßtheit, seine bevor­
zugte Eignung dazu, Kanal für Einblasungen durch einen In­
spirator zu sein. Bei konventioneller Betrachtung könnte
sich auch heute das geschichtsmächtig gewordene Vorurteil
wieder einstellen, daß zwischen Schöpfer und Geschöpf ein
unüberwindliches Gefälle - eine ontologische Differenz -
herrschen müsse. Wie könnte es anders sein, als daß die Krea­
tur, auch wenn es um den Menschen im Verhältnis zum Men­
schenmacher geht, in einem an Nichtigkeit grenzenden Ab­
stand von ihrem Urheber steht? Sogar der erstgeschaffene
Mensch erscheint in diesem Licht für immer überwiegend als
das keramische Objekt, das unter den Händen eines souverä­
nen Handwerkers aus einem tonigen Nichts willkürlich her-
6 In der Tradition der Kabbala w urde G ottes Trick weniger pneum a­
tisch als graphematisch interpretiert: als kosmogonische Schrift. Ar-
kantechnik bedeutet folglich, an der prim ordialen Schrift anknüpfen.
Die mittelalterliche Golem-Legende verbindet das M otiv der kera­
mischen M enschenschöpfung direkt mit dem der Beseelung durch
den göttlichen Buchstaben. Vgl. Moshe Idel, Le golem, Paris 1992.
Eine reflexionstheoretische U m form ulierung der Schöpfungsproble­
matik hat G otthard G ünther in seinem Aufsatz »Schöpfung, Refle­
xion und Geschichte« entfaltet, in dem er den H o rizo n t einer Me­
taphysik der unfertigen Welt umreißt; Geschichte wird als Dimension
von U nfertigkeit verstanden, die zu W eiterproduktionen auf der Basis
bisheriger Produktionen einlädt. » . . . man hat schließlich (sehr spät)
zu begreifen begonnen, daß Geschichte das Phänomen ist, das ent­
steht, wenn der Mensch seine eigene Subjektivität kontrapunktisch
auf die natürliche Materialität der W irklichkeit abbildet.« In: Beiträge
zur G rundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Band 3, H am ­
burg 1980, S. 14-56; Zitat von S. 19.
40 Einleitung

aufgestaltet wurde, um irgendwann wieder, Erde zu Erde, in


seinen Lehmgrund zurückzufallen.
Erst auf den zweiten Blick drängt sich ein weniger herr­
schaftliches Bild von dem Bezug zwischen dem Schöpfer­
subjekt und seinem angehauchten Werkstück auf. Nun ma­
chen wir uns klar, daß zwischen dem Inspirator und dem
Inspirierten unmöglich ein so scharfes ontologisches Gefälle
herrschen kann wie zwischen einem seelenhaften Herrn und
seinem unbeseelten Werkzeug. Wo der pneumatische Pakt
zwischen dem Hauchgeber und dem Hauchnehmer in Kraft
tritt - wo also die kommunikative oder kommunionale Alli­
anz sich einschwingt -, bildet sich eine bipolare Innigkeit
aus, die mit bloß herrschaftlicher Verfügung eines Subjekts
über eine manipulierbare Objekt-Masse nichts gemein haben
kann. Mögen sich der Hauchende und der Angehauchte auch
zeitlich wie Erstes und Zweites gegenüberstehen, so tritt
doch, sobald die Eingießung des Lebensatems in die an-
droide Form vollzogen ist, eine reziproke, synchron hin und
her gespannte Beziehung zwischen den beiden Polen der
Hauchung in Funktion. Es scheint der wesentliche Teil von
Gottes Trick zu sein, bei der Hauchung sofort eine Gegen-
hauchung in Kauf zu nehmen: Man könnte geradewegs sa­
gen, der sogenannte Urheber ist dem pneumatischen Werk
nicht präexistent, sondern erzeugt sich synchron mit diesem
selbst als inniges Gegenüber von seinesgleichen. Ja, vielleicht
ist die Rede von einem Urheber nur eine irreführende, kon­
ventionelle Umschreibungsfigur für das Phänomen der ur­
sprünglich sich einspielenden Resonanz. Einmal eingerich­
tet, läßt sich der von endlosen Doppelechospielen erfüllte
Beseelungskanal zwischen Adam und seinem Herrn nur als
Zweiwege-System begreifen. Der Herr des Lebendigen wäre
nicht zugleich der Gott der Antworten, als der er in seinen
frühen Anrufungen erscheint, wenn nicht vom Beseelten her
sofort Bestätigungen seiner Hauch-Impulse zu ihm zurück­
strömten. Der Hauch ist also von vorneherein konspirativ,
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 41

respirativ, inspirativ; es atmet, sobald es überhaupt Atem


gibt, zu zweit. Wo die Zwei am Anfang steht, wäre es abwe­
gig, eine Aussage darüber zu erzwingen, welcher Pol im In­
nern des Duals angefangen hat. Natürlich muß der Mythos
sagen wollen, wie alles begann und was das Erste war - hier
wie überall. Aber indem er dies im Ernst versucht, muß er
nun auch von einem ursprünglichen Hin und Her reden, bei
dem es keinen ersten Pol geben kann. Das ist der Sinn der bi­
blischen Rede von Ebenbildlichkeit. Sie wird nicht meinen,
daß der Schöpfer ein mystischer Solo-Androide gewesen
wäre, der irgendwann der Laune erlag, seine Erscheinung -
wem denn erscheinend? - auf irdische Körper durchzupau­
sen; dies wäre ebenso absurd wie der Gedanke, der Gott
könne sich nach der Gesellschaft von nicht-ebenbürtigen,
formalähnlichen Lehmfiguren gesehnt haben. Nicht die
hohle Menschenpuppe ist es, was die Erschaffung von Sub­
jektivität und gegenseitiger Beseeltheit meint. Ebenbildlich­
keit ist nur ein steif optisierender, ein dem Kunstwerk­
stättenjargon verhafteter Ausdruck für ein Verhältnis
pneumatischer Gegenseitigkeit. Das intime Kommunizie­
renkönnen in einem primären Dual ist Gottes Patent. Es
deutet nicht so sehr auf eine visuell erfahrbare Ähnlichkeit
zwischen Urbild und Abbild hin als vielmehr auf die ur­
sprüngliche Ergänzung Gottes durch seinen Adam und
Adams durch seinen Gott. Hauchwissenschaft kann nur als
Theorie der Paare in Gang kommen.
Mit dem eben gebrauchten Ausdruck - ursprüngliche Er­
gänzung - haben wir eine Grundfigur der nachfolgenden
Überlegungen im sphärenmorphologischen Feld ausgespro­
chen. Sie besagt, daß im geistigen Raum - unter der zu kon­
solidierenden Annahme, daß »Geist« eine Räumlichkeit ei­
gener Art bezeichnet - die einfachste Gegebenheit schon eine
mindestens zweistellige oder bipolare Größe sei. Isolierte
Punkte sind nur im homogenisierten Raum der Geometrie
und des Verkehrs möglich, wirklicher Geist hingegen ist im­
42 Einleitung

mer schon Geist in und gegenüber Geist, wirkliche Seele im­


mer schon Seele in und gegenüber Seele. Das Elementare,
Anfängliche, Einfache erscheint in unserem Fall bereits als
Resonanz zwischen polaren Instanzen; das Ursprüngliche
bekundet sich von Anfang an als korrelative Zweiheit. Das
Hinzukommen des Zweiten zum Ersten geschieht nicht in
äußerlicher und nachträglicher Beifügung, so wie in der klas­
sischen Logik die Attribute sich gleichsam als Nachzügler
und Lieferanten von Eigenschaften zur Substanz hinzugesel­
len. Gewiß, wo in Substanzen gedacht wird, da treffen die
Attribute später ein, so wie die Schwärze zum Pferd und die
Röte zur Rose kommen. In der intimen Teilung der Subjek­
tivität durch ein Paar, das einen für beide offenen seelischen
Raum bewohnt, treten Zweites und Erstes immer nur ge­
meinsam hervor. Wo das Zweite nicht eintrifft, war auch das
Erste nicht gegeben. Daraus folgt: Wer Schöpfer sagt, ohne
Adams vorgängige Koexistenz mit ihm zu betonen, hat sich
bereits in einen ursprungsmonarchischen Irrtum verlaufen -
so wie alle, die von Menschen reden wollen, ohne von ihren
Inspiratoren und Intensivierern oder was diesen gleich-
kommt, ihren Medien, zu sprechen, ihr Thema schon durch
die Behandlungsart verfehlt haben. Ein platonisches Pferd,
eine himmlische Rose - sie könnten zur N ot auch ohne
Schwärze und Röte bleiben, was sie sind. Was aber Gott und
Adam angeht, so bilden sie - wenn das Einhauchungsband
zwischen ihnen sein soll, was wir von ihm nach Wortlaut und
Sinn der Gewesis-Erzählung zu halten haben - von Anfang
an eine dyadische Union, die nur bei entfalteter Zweipolig-
keit Bestand hat. Das primäre Paar schwebt in einer atmo­
sphärischen Zweieinigkeit, Aufeinanderbezogenheit und
Ineinandergelöstheit, von der sich keiner der Urpartner
abtrennen läßt, ohne das Gesamtverhältnis aufzuheben.
Wenn diese starke Relation in der theologischen Überlie­
ferung asymmetrisch erscheinen muß - von einem machtvol­
len Überhang zur Gottseite hin geprägt -, so vor allem des­
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 43
wegen, weil dem Gott außer seinem Engagement mit Adam,
seinem Ko-Subjekt, immer zugleich die unteilbare Last der
kosmogonischen Kompetenzen zugewiesen wird. Gott er­
scheint als der schlechthin Erwachsene, der einzige im
Universum übrigens - Adam und seinesgleichen hingegen
bleiben bis zuletzt gewissermaßen Kinder. Vor diesem H in­
tergrund nur konnte Augustinus zu seinem Gott sagen: »Du
aber, Herr, weißt vom Geist des Menschen alles, weil du ihn
gemacht hast.«7 Das Glück, verstanden zu werden, hängt für
den Kirchenvater von der Vorstellung ab, daß nur, wer dich
gemacht hat, dich auch verstehen und wiederherstellen kann.
Das gibt den Grundimpuls zu allen Geistes- und Geisthei­
lungswissenschaften, sofern hiermit der Gedanke aufbricht,
daß Verstehen Gemachthaben heißt und, was religiös wichti­
ger ist, Gemachtwordensein Verstanden- und Repariertwer­
denkönnen - eine Idee, auf der bis heute alles Priestertum
und Psychotherapeutenwesen beruht. Diese demiurgische
Auslegung der menschlichen Kreatürlichkeit hatte vor allem
den Sinn, den Pakt zwischen produzierendem Gott und pro­
duzierter Seele unauflöslich dicht zu weben. Die beschädigte
vernünftige Seele sollte unentwegt an ihren Urheber oder ih­
ren Stellvertreter, den Therapeuten, denken, weil nur dieser
Gedanke sie vor der ontologischen Vereinsamung und vor
der Verirrung im Unverständlichen, Ungemachten, Zufälli­
gen, Äußeren rettet. Für Adam vor dem Fall, und allein für
ihn und seinesgleichen, galt die Vorschrift der heiligen The­
resa von Avila, die Seele müsse alle Dinge so auffassen, als
gäbe es auf der Welt nur Gott und sie allein - ein Gedanke,
den noch Leibniz mit Beifall zitierte,8 während es Gott ge­
fällt, nicht nur in Adam und seiner Gattung, sondern auch im
gesamten Haushalt der Schöpfung sich zu äußern. Hierin
glich der biblische Gott einem Ehemann, der von der kon-
7 Confessiones X, 5, 7.
8 Vgl. Dietrich M ahnke, Leibnizens Synthese von Universalmathe­
matik und Individualmetaphysik, Halle 1925, S. 418.
44 Einleitung

ventionellen Erwartung ausgeht, seine Frau solle ganz für ihn


da sein, während er selbst sich, außer für sie, auch für eine
Welt von Geschäften zur Verfügung halten muß. Aber er äh­
nelte ebenso einer Mutter, die gut genug ist, ihrem Kind das
sichere Gefühl zu geben, sie sei, immer wenn nötig, ungeteilt
für es da, während sie doch in den Pausen ihrer Beanspru­
chung durch das kleine Leben auch ein Haus und seinen
Herd zu besorgen hat. Diese Asymmetrien hintertreiben zu­
nächst die Ebenbürtigkeit in der Ebenbildlichkeit - doch
ändert dies nichts an der unvergleichlichen Eigenart des
pneumatischen Pakts. Der Angehauchte ist notwendig ein
ontologischer Zwilling des Hauchenden. Zwischen beiden
herrscht eine intime Komplizenschaft, wie sie nur zwischen
Wesen bestehen kann, die den Mutterkuchen der Subjektivi­
tät ursprünglich miteinander teilen. Adam und sein Herr le­
ben von der gleichen ichbildenden Plazenta - sie nähren sich
von demselben Ich-bin-der-ich-bin-Stoff, der wie ein subti­
ler gemeinsamer Duft aus Innigkeit und synchronem Wollen
sich über beide verteilt. Der Dornbusch in der Wüste brennt
nicht für sich allein, sondern immer schon für sich selbst und
Moses, seinen Agenten und Bevollmächtigten. Darum soll
dieser, wenn er es brennen sieht, nicht die Flammen anhim­
meln, sondern eine Botenkette bilden: Wir, dieses Feuer und
mein Zeugnis von ihm, gehören so zusammen wie die Bot­
schaft und ihr nächster Empfänger. Flamme und Rede sind
ursprüngliche Komplizen. Es ist das offene Geheimnis der
geschichtlichen Welt, daß die Kraft, zusammenzugehören,
die exemplarisch von erlesenen Paaren erfahren wird - und,
warum auch nicht, von brennenden Büschen und feuerfan­
genden Propheten -, sich ausweiten läßt auf Kommunen, auf
Teams, auf Projektgruppen, vielleicht sogar auf ganze Völker.
Wir nennen diese verbindende Kraft, mit einem knarren­
den Wort des 19. Jahrhunderts, die Solidarität. Was es mit
dieser Kraft, Menschen mit ihresgleichen oder mit einem
übermenschlichen Anderen in gemeinsamen Schwingungen
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 45
zu verbünden, auf sich hat, ist in der Geschichte des Denkens
noch nie mit zureichendem Ernst untersucht worden. Man
hat Solidarität bisher stets vorausgesetzt und gefordert, man
hat sie großzuziehen, zu politisieren, zu sabotieren versucht;
man hat sie besungen und ihre Brüchigkeit beklagt; nie hat
man in ihren Grund weit genug zurückgefragt. Wir verste­
hen an dieser Stelle immerhin schon so viel, daß Solidarität
zwischen Menschen außerhalb primärer Paarbeziehungen
und Urhorden ein Ubertragungsphänomen sein muß. Aber
was ist es, was in ihr übertragen wird? Der starke Grund, zu­
sammen zu sein, wartet noch immer auf eine angemessene
Auslegung.9

Übersetzen wir diese rhapsodischen Bemerkungen über ein


alteuropäisch-vorderorientalisch theologisches Motiv in die
Sprache des vorliegenden Versuchs: Wenn der jüdische Gott
und der prototypische Mensch sich einander jeweils die
Kontaktseite ihres Wesens zukehren, so bilden sie miteinan­
der eine gemeinsame innenraumhafte S p h ä r e aus. Was hier
Sphäre heißt, wäre demnach, in einem ersten und vorläufigen
Verständnis aufgefaßt, eine zweihälftige, von Anfang an po­
larisierte und differenzierte, gleichwohl innig verfugte, sub­
jektive und erlebende Kugel - ein zwei-einig gemeinsamer
Erlebnis- und Erfahrungsraum. Durch Sphärenbildung ist
folglich, was die Tradition Geist nennt, ursprünglich räum­
lich ausgespannt. Ihrer Grundform nach erscheint die Sphäre
als eine Zwillingsblase, ein ellipsoider Geist- und Erlebnis­
raum mit mindestens zwei polarisch einander zugewandten
und zugehörigen Einwohnern. Leben in Sphären heißt also

9 Vgl. vom A utor, D er starke G rund, zusammen zu sein. Erinnerungen


an die Erfindung des Volkes, Frankfurt 1998. In dieser Rede ist die
Titelformulierung auf die psychopolitische Form ierung von Popula­
tionen m oderner N ationalstaaten verengt worden. Hier, im sphärolo-
gischen Kontext, w ird der Form el ihr reelles theoretisches Form at
gegeben.
46 Einleitung

Wohnen im gemeinsamen Subtilen. Es ist die Absicht dieses


dreiteiligen Buches, den Nachweis zu führen, daß das Sein-
in-Sphären für Menschen das Grundverhältnis bildet - frei­
lich eines, das von Anfang an durch die Nicht-Innenwelt an­
getastet wird und das sich ständig gegen die Provokation des
Außen behaupten, wiederherstellen und steigern muß. In
diesem Sinne sind Sphären immer auch morpho-immunolo-
gische Gebilde. N ur in innenraumbildenden Immunstruktu­
ren können Menschen ihre Generationenprozesse weiter­
führen und ihre Individuationen vorantreiben. Noch nie
haben die Menschen unmittelbar zur sogenannten Natur ge­
lebt, und erst recht haben ihre Kulturen niemals den Boden
dessen betreten, was man die nackten Tatsachen nennt; sie
haben ihr Dasein immer schon ausschließlich im gehauchten,
geteilten, aufgerissenen, wiederhergestellten Raum. Sie sind
die Lebewesen, die darauf angelegt sind, Schwebewesen zu
sein, wenn schweben bedeutet: von geteilten Stimmungen
und von gemeinsamen Annahmen abhängen. Somit sind die
Menschen von Grund auf und ausschließlich die Geschöpfe
ihres Interieurs und die Produkte ihrer Arbeiten an der Im­
manenzform, die ihnen unabtrennbar zugehört. Sie gedeihen
nur im Treibhaus ihrer autogenen Atmosphäre.
Was in der Sprache neuerer Philosophen das In-der-Welt-
Sein genannt wurde, bedeutet für die menschliche Existenz
zunächst und zumeist: In-Sphären-Sein. Wenn Menschen da
sind, so fürs erste in Räumen, die für sie aufgegangen sind,
weil sie ihnen durch Einwohnung in ihnen Form, Inhalt,
Ausdehnung und relative Dauer gegeben haben. Da Sphären
aber das ursprüngliche Produkt des menschlichen Zusam­
menseins bilden - und hiervon hat keine Arbeitstheorie je
Notiz genommen -, sind diese atmosphärisch-symbolischen
Orte der Menschen von ihrer fortwährenden Erneuerung ab­
hängig; Sphären sind Klimaanlagen, an deren Errichtung und
Einstellung nicht mitzuwirken für real Zusammenlebende
nicht in Frage kommt. Die symbolische Klimatisierung des
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 47

Hieronymos Bosch, Der Garten der Lüste, Paar in der Blase, Ausschnitt
48 Einleitung

gemeinsamen Raumes ist die Urproduktion jeder Gesell­


schaft. In der Tat, die Menschen machen ihr eigenes Klima,
aber sie machen es nicht aus freien Stücken, sondern unter
Vorgefundenen, gegebenen und überlieferten Umständen.10
Sphären sind ständig von ihrer unvermeidlichen Instabili­
tät beunruhigt: sie teilen mit Glück und Glas die Risiken, die
zu allem gehören, was leicht zersplittert. Sie wären keine Ge­
bilde der vitalen Geometrie, wenn sie nicht implodieren
könnten, noch weniger aber wären sie es, wenn sie nicht auch
imstande wären, sich unter dem Druck des Gruppenwachs­
tums zu reicheren Strukturen auszuweiten. Wo die Implo­
sion geschieht, dort wird der gemeinsame Raum als solcher
aufgehoben. Was Heidegger das Sein-zum-Tode genannt hat,
bedeutet nicht so sehr den langen Marsch der Einzelnen in
eine letzte, mit panischer Resolution vorweggenommene
Einsamkeit, sondern den Umstand, daß alle Einzelnen ir­
gendwann den Raum verlassen werden, in dem sie mit ande­
ren in aktueller starker Beziehung alliiert waren. Darum geht
der Tod letztlich mehr die Überlebenden als die Abgeschie­
denen an.11 Der Menschentod hat somit immer zwei Gesich­
ter: eines, das einen starren Körper zurückläßt, und eines, das
Sphären-Reste zeigt - solche, die in höhere Räume aufgeho­
ben und neu belebt werden, und solche, die als dinglicher
Müll, aus ehemaligen Beseelungsräumen herausgefallen, lie-
10 Vgl. Sphären II, Exkurs 2: M erdokratie. Vom Im m unparadoxon seß­
hafter Kulturen.
11 Vgl. Thomas Macho, Todesmetaphern. Z ur Logik der G renzerfah­
rung, Frankfurt 1987, S. 195-200u n d 408-426. »W irerfahren keinen
Tod, w ohl aber erfahren w ir die Toten. In der Erfahrung der Toten
w ird uns der Tod nicht offenbart; w ir erfahren n ur den Widerstand,
den uns die Toten, in ihrer puren Anwesenheit, entgegenhalten.«
(S. 195); analog Emmanuel Levinas: »Aber nicht mein eigenes N icht-
Sein ist beängstigend, sondern das des G eliebten... Was man mit ei­
nem etwas verpantschten A usdruck Liebe nennt, ist vor allem die
Tatsache, daß der Tod des anderen mich mehr als mein eigener affi-
ziert.« In: La m ort et le temps, Paris 1991, S. 121 (Ü bersetzung vom
Autor).
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 49
genbleiben. Was man Weltuntergang nennt, meint strukturell
einen Sphärentod. Dessen Ernstfall im Kleinen ist die Tren­
nung der Liebenden, die leere Wohnung, das zerrissene Foto;
seine umfassende Form tritt als Kulturtod in Erscheinung,
als die ausgebrannte Stadt, die erloschene Sprache. Die
menschliche und historische Erfahrung bezeugt immerhin,
daß Sphären auch über die mortale Trennung hinweg beste­
hen können und daß Verlorenes in Gedächtnissen gegenwär­
tig zu bleiben vermag, als Mahnmal, als Spukbild, als Mis­
sion, als Wissen. N ur weil dies so ist, muß nicht jede
Trennung der Liebenden zu einem Weitende geraten und
nicht jeder Sprachwandel zu einem Kulturuntergang.12
Daß die in sich differenzierte Kugelblase der innig Zu­
sammenlebenden anfangs so unbeirrt geschlossen und in
sich selbst gesichert zu erscheinen vermag, erklärt sich aus
der Tendenz der kommunizierenden Pole, sich ganz in die
Zuwendung zur anderen Hälfte zu entäußern. Das gibt auch
der jüdische Schöpfungsmythos zu erkennen: Tatsächlich
legt der Gott der Genesis mit der Weitergabe seines Atems
an Adam sein Äußerstes in die pneumatische Relation;
Adam seinerseits und seine Gefährtin halten sich so lange in
ihrer exklusiven Gottespartnerschaft, wie sie es fertigbrin­
gen, nichts anderes in sich aufkommen zu lassen als das, was
ursprünglich in sie eingeblasen wurde: der Sinn für die ant­
wortfordernde Herrlichkeit des ursprünglichen Gegenüber.
Ich bin dein Nächster und dein Inspirator, du sollst keine
anderen Inspiratoren haben neben mir - das erste Gebot der
dyadischen Kommunion. In ihrem Innern herrscht zunächst
nichts als der gehauchte, hin- und hergespielte Doppeljubel
des Pakts gegen die Äußerlichkeit. Adam und sein Gott bil­
den einen Schwingkreis der Großzügigkeit, die sich in dulci
iubilo aus eigenen Mitteln feiert und erhöht. Indem sich
12 Zu einer sphärologischen Theorie der Trauer vgl. Sphären II, i. Ka­
pitel: Aufgang der Fern-N ähe. D er thanathologische Raum, die Pa­
ranoia, der Reichsfrieden.
5° Einleitung

Masaccio, Vertreibung aus dem Paradies, Fresko, 1427, Capella Brancacci,


Florenz, Ausschnitt
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 51
Gott an Adam mitteilt, strahlt ihm von diesem seine We­
sensspiegelung einmütig zurück. Vielleicht hat man recht,
sich die Musik der Engel und Sirenen als das Klangwunder
einer solchen ungetrübten Zwei-Einstimmigkeit vorzu­
stellen.
Daß unversehrte Sphären ihre Zerstörung in sich tragen:
auch dies lehrt die jüdische Paradies-Erzählung mit strenger
Konsequenz. An der Perfektion der ersten pneumatischen
Blase bleibt nichts auszusetzen, bis eine Sphärenstörung die
Ur-Katastrophe herbeiführt. Adam, der Ablenkbare, erliegt
einer Zweitinspiration durch Nebenstimmen seitens der
Schlange und der Frau; damit entdeckt er, was Theologen
seine Freiheit nannten; die bedeutet anfangs nicht mehr als
eine gewisse willige Nachgiebigkeit gegen Verführung durch
Drittes. In der Folge richtet sich das Phänomen Freiheit zu
seiner unheimlichen Größe auf, indem es radikalisierten Ei­
genwillen, Anderswollen, Vielerleiwollen - alle Deklinati­
onsformen des metaphysisch gedeuteten bösen Willens - ins
Werk setzt. Doch schon von der ersten Eigenfreiheitslaune
an ist dem Menschen die Fähigkeit zur Selbsteinordnung in
die reinklingende, nebenstimmenfreie Zwei-Einigkeit im
Gott-Selbst-Raum genommen. Was die Vertreibung aus dem
Paradies genannt wurde, ist ein mythischer Titel für die sphä-
rologische Urkatastrophe - in psychologischer Terminologie
würde sie annäherungsweise als allgemeines Entwöhnungs­
trauma umschrieben. Durch ein Ereignis dieses Typs - den
Entzug des ersten Ergänzers - kann erst entstehen, was spä­
ter Psyche heißen wird - der Schein einer Seele, die gleichsam
als privater Funke oder als punktuelles vitales Prinzip einen
begehrenden Einzelkörper bewohnt. Der mythische Prozeß
umschreibt die unvermeidliche Korruption der ursprüngli­
chen innenraumbildenden Zwei-Einigkeit durch die Herauf-
kunft des Dritten, des Vierten, des Fünften, mit denen das
Allotria einsetzt. In der zwei-einigen Welt waren weder Zahl
noch Widerstand erschienen, denn schon das bloße Bewußt­
52 Einleitung

sein davon, daß es Anderes, Zählbares, Drittes gibt, hätte die


anfängliche Homöostase korrumpiert. Die Vertreibung aus
dem Paradies meint den Sturz aus der glücklichen Unfähig­
keit, zu zählen. In der Dyade besitzen die einigen Zwei sogar
die Kraft, ihr Zweisein unisono in Abrede zu stellen; in ihrer
gehauchten Klausur bilden sie ein Bündnis gegen die Zah­
len und die Zwischenräume. Secundum, tertium, quartum,
quintum - non dantur. Wir sind, was wir sind, ohne Tren­
nung und Fuge: dieser Glücksraum, diese Vibration, diese
beseelte Echokammer. Wir wohnen, als die ineinander Ver­
schränkten, im Lande Wir. Doch dieses unmäßige und zahl­
freie Glück bei geschlossenen Augen kann nirgendwo nir­
gendwann von Dauer sein; in nachparadiesischer Zeit - und
wird Zeit nicht immer afterparadise lost gerechnet? - ist die
sublime zwei-einige Blase zum Aufplatzen verurteilt.
Die Modalitäten des Platzens liefern die Bedingungen der
Kulturengeschichten. Zwischen die innigen Zwei treten
Übergangsobjekte, Neuthemen, Nebenthemen, Vielheiten,
Neue Medien; der einstmals intime, von einem einzigen Mo­
tiv durchzogene symbiotische Raum öffnet sich ins vielfäl­
tige Neutrale, wo Freiheit nur zusammen mit Fremdheit, In­
differenz und Mehrzahl gewährt wird. Er wird von nicht­
symbiotischen Dringlichkeiten aufgerissen: denn das Neue
kommt immer zur Welt als etwas, das frühere Symbiosen
stört. Als Alarm und Drang greift es ins einzelne Innere ein.
N un lichtet sich der erwachsene Weltraum als Inbegriff von
Arbeit, Kampf, Zerstreuung, Nötigung. Was Gott war, ver­
einsamt zu einem überweltlichen Pol. Er überlebt, wie er
kann: ein ferne Wahnadresse versprengter Heilssuche. Was
das symbiotisch hohle Innere Adams war, öffnet sich mehr
oder weniger geistlosen Okkupanten namens Sorgen oder
Unterhaltungen oder Diskurse; die füllen aus, was im inti­
men Dasein für den Einen, den anfänglichen Hauchpartner
hätte leer bleiben wollen. Der Erwachsene hat verstanden,
daß er kein Recht auf Glück besitzt, allenfalls einen Ruf, sich
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 53
an den anderen Zustand zu erinnern. Wer dürfte dem folgen?
Das Höchste, was ein sorgen- und gewalterfülltes Bewußt­
sein sich in symbolischen Hegungen erlauben darf, sind
rückwärtsgewandte und doch auch zukunftfordernde Phan­
tasmen von der wiederhergestellten Dyade. Solche Träume
gehören zu dem Stoff, aus dem die visionären Religionen
sind; auch Platons Zauberspur im Gang des europäischen
Geistes folgt diesen Traumlinien. In zahllosen Verschlüsse­
lungen rufen diese Phantasmen, teils öffentlich, teils im ver­
borgenen, bestrickende Bilder herauf von der vollkommenen
Rundwelt bergend-geborgener Wechselinspiration. Sie hü­
ten, durch mysteriöse Erinnerungen und Regressionen be­
flügelt oder angesogen, versunkene Vorstellungen von einer
urgeschichtlichen Atemgemeinschaft der Doppel-Seele am
sechsten Tag der Schöpfung.

Alle Geschichte ist die Geschichte von Beseelungsverhältnis­


sen. Deren Nukleus ist, wie vorausspringende Formulierun­
gen ahnen ließen, das zwei-einige Band radikaler Inspirati­
onsgemeinschaften. Es mag vorerst noch gleichgültig sein,
ob dieses Band im schöpfungsmythischen Bild als die eben­
bildliche Allianz zwischen Jahwe und Adam angesprochen
wird oder unter dem psychoanalytischen Begriff der frühen
Mutter-Kind-Dyade oder unter den poetisch-existentiellen
Figuren der unzertrennlichen Liebenden, der Zwillinge, des
Großen Paares, der verschworenen Beiden. In allen Model­
len kommen sphärenhafte Liaisonen zur Sprache, in denen
reziproke Beseelungen sich durch radikale Resonanz erzeu­
gen; in jedem von ihnen zeigt sich, daß zur realen Subjek­
tivität zwei und mehr gehören. Wo solche Zwei in inniger
Raumteilung aufeinander hin exklusiv geöffnet sind, bildet
sich in jedem einzelnen für sich ein lebbarer Modus von Sub-
jekthaftigkeit aus; diese ist zunächst nichts anderes als Teil­
habe an sphärischen Resonanzen.
Von diesem Rätsel der Subjektivität als Teilhabe an einem
54 Einleitung

bipolaren und pluripolaren Feld13 haben in älterer Zeit fast


ausschließlich religiöse Überlieferungen, unter besonderen
Rücksichten aufgefaßt, gezeugt; erst mit der beginnenden
Neuzeit lösen sich aus diesen vagen Gebilden einzelne Kom­
plexe heraus, um in weltliche Auffassungen überzugehen -
insbesondere in psychologische, heilkundliche und ästheti­
sche Diskurse. Phänomene zwei-einiger und kommunitärer
Inspiration konnten sich in vor-modernen Welten nicht an­
ders als in religiösen - einwertig-animistischen und zweiwer­
tig-metaphysischen - Sprachen artikulieren. Deswegen wird
es unvermeidlich sein, in den folgenden Reflexionen zur Eta­
blierung einer allgemeinen Sphärologie auch die religiösen
Felder europäischer und außereuropäischer Kulturen in
freien Durchquerungen für einen offenen Diskurs der Inti­
mität zu erschließen. Damit gibt sich diese Anthropologie
jenseits des Menschen, wenn schon nicht als Magd, so doch
als Schülerin der Theologie zu erkennen. Sie wäre freilich
nicht die erste, die ihrer Lehrerin über den Kopf wüchse. Die
weltliche Sphärologie ist der Versuch, die Perle aus der theo­
logischen Muschel zu befreien.
Das sphärologische Entwicklungsdrama - der Aufbruch
in die Geschichte - beginnt in dem Augenblick, in dem Indi­
viduen als Pole eines Zwei-Einigkeitsfeldes in die multipola­
ren Erwachsenenwelten heraustreten. Unweigerlich erleiden
sie, wenn die erste Blase platzt, eine Art von psychischem
Umsiedlungsschock, eine existentielle Entwurzelung: sie
lösen sich aus ihrem infantilen Zustand, indem sie aufhö­
ren, ganz unter dem Schatten des unierten Anderen zu leben,
und anfangen, Einwohner einer erweiterten Psycho-Sozio-
Sphäre zu werden. Liier vollzieht sich für sie die Geburt des
Außen: Menschen entdecken beim Heraustreten ins Offene
vieles, was fürs erste nie und nimmer zum Eigenen, Inneren,
13 A ndeutungen zu einem Argum ent, daß das entfaltete Feld fünfpolig
sein muß, finden sich unten im 6. Kapitel: Seelenraumteiler. E n g e l-
Z w illinge-D oppelgänger, S. 450E
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 55

Piero della Francesco, Die Madonna von Brera, Ausschnitt

Mitbeseelten werden zu können scheint. Es gibt, wie Men­


schen fasziniert und leidvoll in Erfahrung bringen, zwischen
Himmel und Erde mehr Totes und Außeres, als irgendein
Weltkind sich anzueignen träumen kann. Beim Abschied der
Heranwachsenden von den mütterlichen Wohnküchen drin­
gen subjektlose, äußerliche, erregend unbeherrschbare Grö­
ßen auf die Zöglinge ein. Aber diese wären keine lebensfähi­
gen Menschenindividuen, wenn sie nicht in das neue Fremde
eine Mitgift von Erinnerungen an das symbiotische Feld und
seine einschließende Kraft mitbrächten. Diese Kraft, den in-
56 Einleitung

tegren Raum zu übertragen, ist es, die schließlich auch mit


dem Eindringlings-Trauma, dem Gesetz des störenden Drit­
ten, Vierten, Fünften fertig wird, denn sie integriert den Stö­
rer wie ein neues Geschwister, ja, als wäre er ein notwendiges
Element des eigenen Systems.
»Leoparden brechen in den Tempel ein und saufen die
Opferkrüge leer; das wiederholt sich immer wieder;
schließlich kann man es vorausberechnen, und es wird
Teil der Zeremonie.« (Franz Kafka)14
Die Innenraumdichtung bricht dem Zufälligen und dem
Sinnlosen immer von neuem die destruktive Spitze ab. Mit
dem Aufgang des Äußeren, Fremden, Zufälligen, Sphären­
sprengenden rivalisiert von Anfang an ein Weltdichtungspro­
zeß, der daran arbeitet, jedes noch so grausame und unpas­
sende Außen, alle Dämonen des Negativen und die Monstren
der Fremdheit in einem erweiterten Innen anzusiedeln. Aus
Kontext wird Text, so oft und so lange, bis das Äußere weg­
gearbeitet oder auf tolerable Formate reduziert ist. Ordnung
ist in diesem Sinn vor allem der Effekt einer Übertragung von
Interieur auf Exterieur. Was wir als die metaphysischen Welt­
bilder Alteuropas und Asiens kennen, sind in der Sache die
angespanntesten asketischen Hereinholungen des Fremden,
Toten, Äußeren in den Kreis von sinnbeseelten, schriftgewo­
benen Großinnenwelten. Deren Dichter waren bis gestern
die Denker. Sie lehrten die Bürger des Seins die Symbiose mit
den Sternen und den Steinen; sie deuteten das Außen als Er­
zieher. Hegels große Synthese ist das letzte europäische Mo­
nument dieses Willens, alle Negativität und Äußerlichkeit ins
Innere eines logisch verfugten Rund-Doms hereinzuholen.
Aber die Philosophie hätte ihre erhabenen Konstruktionen
nicht ohne das Mandat ihrer Trägerkultur errichten können,

14 Betrachtungen über Sünde, Leid, H offnung und den wahren Weg,


N o. 20, in: H ochzeitsvorbereitungen auf dem Lande und andere
Prosa aus dem N achlaß, hg. v. Max Brod, Frankfurt 1980, S. 31; auch
S. 61.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 57
und die logischen Synthesen setzen die politischen und mili­
tärischen Situationen voraus, die nach symbolischen Uber­
wölbungen verlangen; es ist ihre exoterische Mission, das
Wohnen im Großen, das Herrschen über Paläste und ferne
Grenzmarken, durch metaphysisches Wissen zu konsolidie­
ren. Die Erste Philosophie ist die letzte Übertragung. Novalis
wird das Geheimnis lüften, wenn er das dichtende Denken als
ein allgemeines Heimkehren deutet: »Wohin gehn wir denn?
Immer nach Hause.« Das totale Vaterhaus soll auch das
Fremdeste nicht verloren haben. Auf allen Pfaden in die
Hochkultur diktieren Sphärendehnung und steigende Inklu-
sivität das Gesetz der Bewußtseinsentwicklung.
Was wir Erwachsenwerden nennen, sind diese kraftfor­
dernden Umzüge der kleineren Subjektivitäten in größere
Weltformen; es meint oft zugleich die Umformatierung des
tribalen Bewußtseins auf imperiale und schriftgestützte Ver­
hältnisse. Für das Kind, das wir waren, mag sein erweiterter
Verkehrsraum für eine Weile noch die große Familie heißen;
sobald der familialistische Horizont überschritten wird, ma­
chen die entwickelteren sozialen Formen ihre Ansprüche
darauf geltend, die Einzelnen zu prägen und zu beseelen.
Was prähistorische Zeiten angeht, tritt die maßgebliche So­
zialform als Horde in Erscheinung, mit der Tendenz zur
Ausbildung von Clangemeinschaften und Stämmen; in hi­
storischer Zeit erscheint sie als Volk, mit der Tendenz zur
Gründung von Städten, Nationen und Reichen. In beiden
Regimen, dem vorgeschichtlichen wie dem geschichtlichen,
hat das menschliche Dasein zu dem, was modern und zu glatt
Umwelt heißt, nie nur ein Anpassungs- und Einpassungsver­
hältnis; vielmehr erzeugt dieses Dasein selbst den Raum um
sich, durch den und in dem es vorkommt. Zu jeder sozialen
Form gehört ein eigenes Welthaus, eine Sinn-Glocke, unter
der die Menschenwesen sich allererst sammeln, verstehen,
wehren, steigern, entgrenzen. Die Horden, die Stämme und
die Völker, und um so mehr die Imperien, sind, in ihren je­
58 Einleitung

weiligen Formaten, psycho-soziosphärische Größen, die


sich selbst einräumen, sich selbst klimatisieren, sich selbst
enthalten. In jedem Augenblick ihres Daseins sind sie genö­
tigt, mit ihren typischen Mitteln eigene semiotische Himmel
über sich zu setzen, aus denen ihnen charakterbildende Ge-
mein-Inspirationen zufließen.
Kein Volk hat im eigenen Generationenprozeß und in der
Völkerkonkurrenz Bestand, dem es nicht gelingt, seinen Pro­
zeß der Selbstinspiration in Gang zu halten. Was hier als au­
togene Inspiration bezeichnet wird, meint, kühler gespro­
chen, das Kontinuum der ethnosphärischen Klimatechniken.
Durch Ethnotechniken, die Generationen überspannen,
werden Zehntausende, Hunderttausende, vielleicht Millio­
nen von Individuen auf überlegene Gemeingeister und eigen­
tümliche Rhythmen, Melodien, Projekte, Rituale und Düfte
eingestimmt; kraft solcher Formspiele, die eine gemeinsame
sinnvolle Sinnlichkeit erzeugen, finden die zusammengefaß­
ten Vielen die Beweise ihres Zusammenseinsollens auch un­
ter widrigen Umständen immer wieder; wo diese Beweise
kraftlos werden, lösen sich entmutigte Völker in stärkeren
Kulturen auf oder zerfallen in randalierende Banden und kin­
derlose Restgruppen.15 Die Aufgabe, so widersinnig große
Zahlen von Menschen in gemeinsame Vibrationen und Ge­
stiken, ja in vereinigende Wahnsysteme einzuschließen,
klingt, ihres überzogenen Anspruchs wegen, wie eine Forde­
rung, die niemals zu bewältigen wäre. Doch eben dergleichen
Schwierigkeiten zu meistern lag offenkundig in der Logik der
real vollzogenen Volksbildungen. In der geschichtlichen
15 Vgl. A rm in Prinz, M edizinanthropologische Überlegungen zum
Bevölkerungsrückgang bei den A zande Zentralafrikas, in: Curare,
Zeitschrift für Ethnom edizin, Vol. 9,3 + 4, 1986, S. 257ff. D er A utor
entwickelt die These, daß sich bei den A zande seit der Landnahme
durch die E uropäer ein psychogener Volkstod ereignet. Aus exogen
unerklärlichen Ursachen ist die Population von ca. 2 Millionen um
1900 auf etwas m ehr als 500000 geschrumpft, bei w eiter sinkender
Tendenz.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 59
Welt, so scheint es, entwickelt das Unwahrscheinlichere die
Neigung, sich als das Wirklichere durchzusetzen. Wie un­
plausibel, wie unmöglich erscheint, von den Urhorden her
gesehen, schon die bloße Existenz einer unierten Größe vom
Typus Volk - also die kulturelle Synthesis aus tausend oder
zehntausend Horden, oind doch sind es die Völker gewesen,
die Geschichte gemacht, die Horden aufgesogen und sie zu
bloßen Familien oder Geschlechtern herabgestuft haben.
Erst recht mutet uns, vom Gewimmel der Stämme und Völ­
ker her gedacht, das Konzept Imperium als ein Ding der U n­
möglichkeit an, aber eben die polyethnischen Imperien wa­
ren es, die in den letzten vier Jahrtausenden den Gang der
heißen Geschichte skandiert und ihre Ordnungserwartungen
in Realität übersetzt haben. Wer den Ablauf des vergangenen
Decemmilleniums unter dem Gesichtspunkt der Volks­
schöpfungen studiert, muß aus der Evidenz der Sache zu dem
Schluß kommen: Wo Völker sind, können volksbildende
Götterhimmel nicht weit sein. Die volkseigenen Götter ste­
hen, wie ethnotechnische Universalien, für das Gemeinsame
über den vielfältigen Segmenten - sie sind das Unglaubliche,
das mit bestem historischem Erfolg Glauben gefordert
hat. Fast überall spielte in ethnopoietischen Prozessen die
rohe Gewalt eine katalysatorische Rolle. Doch erst die
Sprachspiele von den Göttern erweisen sich als die effek­
tiven Garanten längerlebiger ethnosphärischer Beseelungs­
effekte. Sie gewährleisten gleichsam die Volkssynthesen a
priori.
Beim jüdischen Jahwe, dem Geistgott, der über der Wüste
weht, zeigt sich besonders eindrücklich, wie ein höchster In­
spirator für sein erwähltes Volk das ethnopoietische Amt
wahrnahm. Er bleibt nicht nur der Intimgott Adams und
Abrahams und bietet sich den menschlichen Seelen in den
monotheistischen Kulturen als ewiges Uber-Du an; er ist vor
allem der transzendente Integrator, der die zwölf Stämme zu
dem Volk Israel zusammenfaßt; er ist derjenige, der sein Volk
6o Einleitung

nicht nur als Träger des Gesetzes, sondern auch als militäri­
sche Stressgemeinschaft16stabilisiert und dieser die Selbstbe­
hauptung an den ewig wechselnden Fronten zahlloser Ver­
feindungen ermöglicht; er engagiert sich für das Volk in der
denkwürdigsten Weise, indem er es unter der pneumatischen
Rechtsform des Bundes an sich zieht. Friedrich Heer hat ein­
mal bemerkt, daß die schiere physische Existenz des jüdi­
schen Volkes in der Gegenwart einer Art von Gottesbeweis
aus der Geschichte gleichkomme; weniger überschwenglich
könnte man sagen, daß die historische Beharrung des Juden­
tums durch die letzten dreitausend Jahre zumindest den
greifbarsten aller Sphärenbeweise aus dem Überleben dar­
stellt.17
In sphärologischer Sicht erscheinen Völker vor allem als
Kult-, Erregungs-, Anstrengungs- und Inspirationsgemein­
schaften. Als autogene Gefäße leben und überleben sie nur
unter ihrer eigenen atmosphärischen, semiosphärischen
Glocke. Mittels ihrer Götter, ihrer Geschichten und ihrer
Künste führen sie sich selbst den Hauch - und damit die Er­
regungen - zu, die sie ermöglichen. Sie sind in diesem Sinn
pneumatechnische und auto-stressorische Erfolgsgebilde.
Wo Völker Dauer haben, beweisen sie ipso facto ihr ethno-
technisches Genie. Mögen auch die Einzelnen in den Völ­
kern häufig in relativer Dumpfheit ihren Eigensorgen nach­
gehen, so schaffen doch übergreifende Mythen, Rituale und
16 Zu einer Theorie der kulturellen Synthesis durch Stress-Kooperatio­
nen vgl. die bedeutende Studie von H einer M ühlmann, Die N atu r
der Kulturen. E ntw urf einer kulturgenetischen Theorie, Wien - N ew
York 1996.
17 Vgl. hierzu Peter Daniel, Z A U N . N orm en als Zaun um das jüdische
Volk. Zum Phänom en der Zeitüberdauer des Judentum s, Wien 1995;
der A utor akzentuiert vor allem die volksstabilisierende W irkung
der Ritual-G renze gegenüber den anderen Kulturen, während wir
weniger vom Zaun als vom Zelt-Effekt sprechen würden: Das Bin­
nendasein im schriftgestützten Zelt der Ethnosphäre hält Israel als
Inspiritationsgem einschaft durch den Generationenfluß hindurch in
Form.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 6 1

Selbsterregungen noch aus dem widerspenstigsten Stoff so­


ziale Gebilde von hinreichender ethnischer Kohärenz. Sol­
che endogen stressierten Kollektivkörper sind sphärische
Bündnisse, die auf dem Strom der Zeiten treiben. Deswegen
haben die erfolgreichsten sphärenbildenden Gemeinschaf­
ten, die religiös fundierten Volkstümer oder Kulturen, in be­
eindruckender ethnisch-spiritueller Konstanz Jahrtausende
überstanden. Hier ist neben dem Judentum vor vor allem der
indo-arische Brahmanismus zu nennen, der die hinduistische
Welt seit Jahrtausenden symbolisch klimatisiert. Auch das
chinesische Kontinuum bestätigt das Gesetz, daß Sphären­
politik das Schicksal ist: War nicht China bis an die Schwelle
unseres Jahrzehnts eine ungeheure Kunstübung über das
Motiv »Dasein im außenlosen, selbsteinmauernden Raum«?
Wir werden, vor allem im zweiten Band, versuchen zu erklä­
ren, in welcher Weise diese imperiale Klausur die charakte­
ristische Raumauffassung des metaphysischen Weltalters re­
flektierte.

Von den Sphären reden heißt also nicht nur eine Theorie der
symbiotischen Intimität und des Paar-Surrealismus entwik-
keln: Zwar beginnt die Sphärentheorie der Sache nach als
Psychologie der inneren Raumbildung aus zwei-einigen
Entsprechungen, aber sie bildet sich mit Notwendigkeit wei­
ter zu einer allgemeinen Theorie der autogenen Gefäße.
Diese liefert die abstrakte Form aller Immunologien. Im
Zeichen der Sphären stellt sich schließlich auch die Frage
nach der Form politischer Weltraum-Schöpfungen über­
haupt.
In unserer Darstellung wird folglich die Sphärenpsycho­
logie der Sphärenpolitik vorausgehen; die Intimitätsphiloso­
phie muß die politische Morphologie begründen, eröffnen,
begleiten, umspielen. Diese Reihenfolge hat offensichtlich
einen darstellerischen Grund, aber nicht nur diesen, sondern
auch ein Fundament in der Sache. Jedes Leben durchläuft an
62 Einleitung

seinem Beginn eine Phase, in der ein milder Wahn zu zweit


die Welt einräumt. Fürsorgliche Ekstasen spinnen Mütter
und Kinder in eine Liebesglocke ein, deren Nachklänge un­
ter allen Umständen Bedingungen für geglücktes Leben
bleiben. Schon früh jedoch werden die einigen Zwei auf
Drittes, Viertes, Fünftes bezogen; beim Ausrücken des ver­
einzelnden Lebens aus der Anfangshülle gehen zusätzliche
Pole und größere Raumverhältnisse auf, die jeweils den Um ­
fang der wachsenden und erwachsenen Bezüge, Sorgen, Teil­
haben definieren. In großgewordenen Sphären sind Kräfte
am Werk, die den Einzelnen in einen Wahn zu Millionen
hineinreißen. Es scheint unmöglich, in Großgesellschaften
zu leben, ohne ein Stück weit dem Delirium des eigenen
Stammes nachzugeben. Die Sphärologie nimmt daher von
Anfang an die Risiken der Übertragungsprozesse von Mikro­
psychosen zu Makropsychosen in den Blick. Was sie aber
vor allem zur Sprache bringt, ist der Auszug der Lebenden
aus den realen und virtuellen Mutterschößen in die dichten
Kosmen der regionalen Hochkulturen und über diese hinaus
in die unrunden und undichten Schaumwelten der moder­
nen Globalkultur. Unsere Darstellung folgt hierin der roma-
nesken Idee, die Welt als Glasperlenspiel zu beschreiben,
auch wenn sie, aus dem Zwang der Sache, dem Motiv seine
Schwerelosigkeit nehmen wird. Sphären sind Formen als
Schicksalsmächte - beginnend bei der fötalen Murmel in ih­
ren privaten dunklen Wassern bis zu der kosmisch-imperia­
len Kugel, die uns vor Augen tritt mit dem souveränen An­
spruch, uns zu enthalten und zu überrollen.
Sind Sphären als wirksame Formen des Wirklichen erst
einmal ins Thema gehoben, so entbirgt die Hinsicht auf die
Form der Welt den Schlüssel zu ihren symbolischen und
pragmatischen Ordnungen. Wir können explizieren, warum
überall, wo in großen Rundheiten gedacht wird, der Ge­
danke des Selbstopfers mächtig werden mußte. Denn die ge­
waltigen Weltkugeln, die den Sterblichen ihre tröstliche
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 63
Rundgestalt vor Augen halten, erhoben von alters her den
Anspruch, daß ihnen alles untergeordnet werde, was nicht in
die glatte Wölbung des Ganzen paßt: an erster Stelle immer
das eigenwillige, sperrige, private Ich, das sich seit jeher da­
gegen sträubte, sich ohne Rest ins große Rundselbst auf-
heben zu lassen. Im Zirkel erkennen die Reichs- und Heils­
gewalten ihre obligate Ästhetik. Darum kann unsere
Phänomenologie der Sphären, dem Eigensinn des Themas
folgend, nicht anders, als den morphologischen Altar umzu­
stürzen, auf dem in Reichszeiten stets das Unrunde dem
Runden geopfert wurde. Die Sphärentheorie mündet, wo sie
vom Größten handelt, in eine Kritik der runden Vernunft.

Das erste Buch dieser Sphären-Trilogie spricht von mikro­


sphärischen Einheiten, die hier die Blasen heißen sollen. Sie
bilden die Intimformen des gerundeten In-Form-Seins und
die Basismoleküle der starken Beziehung. Unsere Analyse
macht sich an die noch nie unternommene Aufgabe, das
Epos der für erwachsene Intelligenzen immer schon verlore­
nen und doch nie spurlos getilgten Zweieinigkeiten zu erzäh­
len. Wir tauchen ein in eine verschollene Geschichte, die vom
Aufblühen und Versinken des intimen Atlantis berichtet; wir
erforschen einen gehauchten Kontinent im matriarchalen
Meer, den wir in subjektiv vorgeschichtlicher Zeit bewohnt
und mit dem Anfang der scheinbaren Eigengeschichten ver­
lassen haben. In dieser aparten Welt blitzen ausweichende
Größen am Rande der konventionellen Logik auf. Mit der
Einsicht in unsere unvermeidliche begriffliche Hilflosigkeit
als einzigem sicheren Begleiter durchqueren wir Landschaf­
ten des prä-objektiven Daseins und der vorgängigen Bezie­
hungen. Wäre Eindringen das richtige Wort, so könnte man
sagen, wir drängen in das Reich der intimen Undinge ein. Die
Sachen selbst aber werden, wie sich zeigt, nur nicht-invasive
Invasionen dulden; man muß sich in diesem Bereich, nach­
giebiger als sonst bei methodischen Gängen und zielstrebi-
64 Einleitung

Leonardo da Vinci, Zeichnung mit Uterus, Embryo und Plazenta, um 1510,


Ausschnitt

gen Denkbesorgungen üblich, einer Drift anvertrauen, die


uns auf den lymphischen Flüssen der prä-subjektiv primi­
tiven Selbsterfahrung vorwärtszieht. Auf der Durchreise
durch die ausweichende Unterwelt der Innenwelt entfaltet
sich, wie eine klingende Landkarte, das schemenhafte Bild
von einem flüssigen und auratischen Universum - ganz aus
Resonanzen und Schwebstoffen gesponnen; in ihm bleibt die
Urgeschichte des Seelischen zu suchen. Diese Suche hat von
sich her die Form einer unmöglichen Aufgabe, die weder zu
lösen noch zu lassen ist.
Bei diesen Randgängen zu den Quellgebieten von Seele,
Selbstgespür und Ineinandersein kommt ans Licht, in wel­
chem Maß die Urgeschichte des Intimen auch immer schon
als eine psychische Katastrophengeschichte prozessiert. Man
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune

kann von den intimen Sphären nicht reden, ohne zur Sprache
zu bringen, auf welche Weise ihre Zersprengung und erwei­
terte Neubildung geschieht. Alle Fruchtblasen, organische
Modelle autogener Gefäße, leben auf ihr Zerplatzen zu; mit
der Geburtsbrandung wird jedes Leben an die Küste härterer
Tatsachen gespült. Wer die erreicht hat, kann von ihnen her
klären, was die intimen, allzu intimen Blasen zum Scheitern
bringt und ihre Bewohner in Verwandlungen drängt.

Mit dem zweiten Buch der Sphären wird eine geschichtlich­


politische Welt aufgeblättert, die unter den morphologischen
Leitbildern der geometrisch exakt konstruierten Kugel und
des Globus steht. Wir treten hier ein in die parmenideische
Dimension: in ein Universum, dessen Grenze mit dem Zirkel
gezogen und dessen Mitte durch eine spezifisch philosophi­
sche, umsichtige und überströmende Jovialität besetzt wird.
In der nicht sosehr überwundenen als vergessenen Ära der
Metaphysik und der klassischen Imperien schienen Gott und
Welt ein Abkommen geschlossen zu haben, alles wesenhaft
Seiende als inklusive Kugel vorzustellen. Theologie und O n­
tologie sind, soweit wir sehen, immer schon Lehren von der
runden Behälterform; erst von dieser her werden die Gestal­
ten von Reich und Kosmos verbindlich denkbar. Nicht um­
sonst konnte noch Nikolaus von Kues sagen: »Die ganze
Theologie ist im Kreis enthalten.«18 Es mögen sich die Theo­
logen weiter einbilden, ihr Gott sei tiefer als der Gott der
Philosophen; tiefer als der Gott der Theologen ist der Gott
der Morphologen.19 Bei solchen Expeditionen in die heute
fast ganz verschollenen Welten, in denen die Idee einer not­
wendigen Rundheit des Ganzen an der Macht war, erlangen

18 E t ita tota philosophia in circulo posita dicitur. N ikolaus von Kues,


Die philosophisch-theologischen Schriften, Lateinisch-deutsch,
Wien 1989, Band III, S. 102.
19 Im 4. und 5. Kapitel von Sphären II w erden w ir erklären, w arum das
nicht anders sein kann.
66 Einleitung

Das Philosophenmosaik aus der Villa Albani, Rom, i. Jahrh. v. Chr.

wir Einblicke in die Funktion und Bauweise von politischen


Ontologien in vor-modernen Imperien. Es gibt kein traditio­
nelles Reich, das seine Grenzen nicht zugleich mit kosmo­
logischen Mitteln gesichert hätte, und keine Herrschaft, die
nicht die Instrumente der politischen Immunologie für sich
entdeckte. Was ist die Weltgeschichte, wenn nicht stets auch
die Kriegsgeschichte der Immunsysteme? Und die frühen
Immunsysteme - waren sie nicht immer auch militante Geo­
metrien?

Mit der Erinnerung an die altehrwürdigen Lehren vom ku­


gelförmigen Sein enthüllen sich die philosophischen Ur-
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 67
Sprünge eines Prozesses, der heute unter dem Titel Globa­
lisierung in aller Munde ist. Ihre wahre Geschichte gilt es zu
erzählen - von der Geometrisierung des Himmels bei Platon
und Aristoteles bis zur Umrandung der letzten Kugel, der
Erde, durch Schiffe, Kapitale und Signale. Es wird sich zei­
gen, wie die uranische Globalisierung der antiken Physik sich
in ihrem neuzeitlichen Scheitern zur terrestrischen Globali­
sierung wandeln mußte. Diesem Nachweis liegt der Ent­
schluß zugrunde, dem Globus als der wahren Ikone von
Himmel und Erde die Bedeutung zurückzugeben, die ihm in
den üblichen Reden von Globalisierung nur nominell, aber
nie mit begrifflichem Ernst zugesprochen wird. Hat man sich
von der terrestrischen Globalisierung als Grandgeschehen
der Neuzeit einen Begriff gebildet, so läßt sich verständlich
machen, wieso im Augenblick eine dritte Globalisierung,
ausgelöst durch die schnellen Bilder in den Netzen, zu einer
allgemeinen Raumkrise führt. Diese wird durch das so geläu­
fige wie dunkle Konzept Virtualität angezeigt. Der virtuelle
Raum der kybernetischen Medien ist das modernisierte Au­
ßen, das auf keine Weise mehr unter den Formen des göttli­
chen Interieurs vorgestellt werden kann; es wird als techno­
logische Exteriorität gangbar gemacht - als ein Außen mithin,
dem von vorneherein kein Innen entspricht. Der kyberneti­
schen freilich ging die philosophische Virtualität voraus, die
mit der platonischen Exposition der Ideenwelt gestiftet wor­
den war; schon die klassische Metaphysik hatte das vulgäre
Raumdenken in die Krise gestürzt, weil Platon über der Sin­
nenwelt jene virtuelle Sonne auf gehen ließ, die das Gute heißt
und von der alles, was am dreidimensional Sinnlichen »wirk­
lich« ist, erst Sein empfängt. Die aktuelle virtual space-Publi­
zistik kommt gerade rechtzeitig, um sich an den 2400-Jahr-
Feiern der Entdeckung des Virtuellen zu beteiligen.

Der Begriff der Sphäre - als belebter Raum wie als vorge­
stellte und virtuelle Kugel des Seins - bietet sich dazu an, den
68 Einleitung

Übergang vom intimsten zum umfassendsten und vom ge­


schlossenen zum gesprengten Raumkonzept zu rekapitulie­
ren. Daß bei den raumzeugenden Extraversionen der Sphä­
ren ein Zug ins Unheimliche und Ungeheure an den Tag tritt,
hat Rilke, dem die Poetik des Raumes mehr als irgendeinem
zeitgenössischen Denker zu verdanken hat, in einem dezisi-
ven Vers zu ahnen gegeben:
»Und wie bestürzt ist eins, das fliegen muß
und stammt aus einem Schooß«.20
Die Sphärentheorie ist ein morphologisches Werkzeug, das
es erlaubt, den Exodus des Menschenwesens aus der primiti­
ven Symbiose zum welthistorischen Handeln in Reichen und
Globalsystemen als nahezu kohärente Extraversionsge­
schichte nachzuvollziehen; sie rekonstruiert das Phänomen
Hochkultur als den Roman der Sphären-Übertragung vom
intimen Minimum, der dualen Blase, zum imperialen Maxi­
mum, das als monadischer Rundkosmos vorzustellen war.
Wenn die Exklusivität der Blase ein lyrisches Motiv ist, so ist
die Inklusivität der Kugel ein episches.
Es liegt in der N atur des Gegenstandes, daß die Phänome­
nologie der imperialen Rundheiten zu einer kritischen Gy­
näkologie des Staates und der Großkirche geraten muß: tat­
sächlich erreichen wir im Gang der Darstellung die Evidenz,
daß Völker, Reiche, Kirchen und vor allem moderne Natio­
nalstaaten nicht zuletzt raumpolitische Versuche sind, mit
imaginär-institutionellen Mitteln phantastische Mutterleiber
für infantilisierte Massenpopulationen nachzubauen. Weil
20 Rainer Maria Rilke, 8. Duineser Elegie, »o G lück der Mücke, die
noch innen hüpft,/selbst wenn sie H ochzeit hat: denn Schooß ist
A lles./U nd sieh die halbe Sicherheit des Vogels,/der beinah beides
weiß aus seinem U rsprung/als war er eine Seele der Etrusker,/aus
einem Toten, den ein Raum em pfing,/doch mit der ruhenden Figur
als D eckel./U nd wie bestürzt ist eins, das fliegen m uß/und stammt
aus einem Schooß. Wie vor sich selbst/erschreckt, durchzuckts die
L u ft...«
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 69

aber die größte aller möglichen Behälterfiguren im Zeitalter


der patriarchalischen Metaphysik als der Gott vorgestellt
werden mußte, führt die Theorie der Kugel geradewegs zu
einer morphologischen Rekonstruktion der abendländi­
schen Onto-Theologie: Gott selbst, wie er an sich und für
sich wäre, wird in dieser Doktrin konzeptualisiert als eine al-
lesumschließende Kugel, von der seit dem hohen Mittelalter
zirkulierende esoterische Doktrinen behaupten werden, ihr
Zentrum sei überall und ihr Umfang nirgendwo.21 War nicht
der Prozeß der Neuzeit tiefenstrukturell identisch mit den
Versuchen der europäischen Intelligenz, sich in dieser haltlo­
sen Uberkugel zu orientieren?
Daß Menschen Wesen sind, die aus dem göttlichen Rund­
raum fallen können, haben katholische Infernologen vom
frühen Mittelalter an bedacht. Erst Dante hat auch die Hölle
geometrisch aufgeräumt: bei ihm wird, selbst wer nach dem
Gericht aus der göttlichen Kugel exkommuniziert wird, in
Höllenkreis-Immanenzen einbehalten bleiben - wir werden
von diesen, im Blick auf die Ringe der Commedia, als den
Antisphären sprechen; deren Beschreibung nimmt, wie zu
zeigen ist, die moderne Phänomenologie der Depression und
die psychoanalytische Scheidung der analysierbaren und der
unanalysierbaren Geister vorweg.22
Wie die klassischen Imperien und Ekklesien es fertigbrin­
gen, sich als sonnenhafte Kugeln zu präsentieren, deren
Strahlen aus einer monarchischen Mitte hervorbrechen, um
noch die Peripherie des Seienden zu erhellen, wird in Unter­
suchungen zur Metaphysik der Telekommunikation in so­
zialen Großkörpern entwickelt.23 Es zeigt sich hier, warum
21 Vgl. Sphären II, 5. Kapitel, Deus sive sphaera. Von den Taten und
Leiden der anderen Mitte.
22 Vgl. Sphären II, 6. Kapitel, Antisphären. E rkundungen im höl­
lischen Raum.
23 Vgl. Sphären II, 7. Kapitel, Wie durch reine Medien die wahre Sphä­
renm itte in die Ferne w irkt. Z ur M etaphysik der Telekom munika­
tion.
70 Einleitung

die Versuche der klassischen Metaphysik, das Seiende im


ganzen als eine konzentrisch organisierte Monosphäre zu
entwerfen, nicht nur an immanenten Konstruktionsfehlern
scheitern mußten, sondern warum eine solche Hyperkugel,
ihrer forcierten Abstraktheit wegen, auch eine immunologi­
sche Fehlkonstruktion darstellte. Das heute wieder beson­
ders aktuelle Heimweh nach der aristotelischen Welt, das in
dem Wort Kosmos sein Ziel und in dem Wort Weltseele seine
Sehnsucht erkennt, erklärt sich nicht zuletzt dadurch, daß
wir keine historische Immunologie betreiben und aus den
evidenten Immunschwächen der Gegenwartskulturen den
gefährlich falschen Schluß ziehen, frühere Weltsysteme wä­
ren in dieser Hinsicht besser konstruiert gewesen. Doch hat
es mit der Lebbarkeit der klassisch totalistischen Systeme
von einst eine eigene Bewandtnis. Es genügt, sich an die gno-
stische Klaustrophobie unter den tyrannischen Himmels­
mauern und an das frühchristliche Unbehagen im Umgriff
der Welt schlechthin zu erinnern, um zu ermessen, in wel­
chem Maß auch schon die spätantike Welt gegen das immu­
nologische Fehldesign ihrer offiziellen Kosmologie zu revol­
tieren Gründe sah. Wir werden darlegen, wie das christliche
Weltalter nur in einem historischen Kompromiß der Im­
munsysteme, dem personalistisch-religiösen und dem impe­
rial-konstruktivistischen, seine Erfolgsformel finden konnte
- und warum deren Zerfall zu jener Technisierung von Im­
munität führen mußte, die das Merkmal der Modernität ist.
Schließlich wird zu zeigen sein, wie aus dem verzögerten
Scheitern des europäischen Traums von Universalmonarchie
die Triebkräfte des terrestrischen Globalisierungsprozesses
entsprangen, in dessen Verlauf die verstreuten Kulturen auf
der letzten Kugel zu einer ökologischen Stress-Kommune
zusammengezogen werden.24

24 Vgl. Sphären II, 8. Kapitel, Die letzte Kugel. Zu einer philosophi­


schen Geschichte der terrestrischen Globalisierung.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 71

Planetarium in Jena im Bau in den zwanziger Jahren

Das dritte Buch behandelt die neuzeitliche Katastrophe der


runden Welt. Es schildert in morphologischen Ausdrücken
die Heraufkunft eines Zeitalters, in dem die Form des Gan­
zen nicht länger in imperialen Rundblicken und kreisfrom­
men Panoptiken vorgestellt werden kann. In morphologi­
scher Hinsicht erscheint die Moderne vor allem als ein
formrevolutionärer Prozeß. Nicht umsonst wurde sie von
ihren konservativen Kritikern als Verlust der Mitte beklagt
und als Aufstand gegen den Gotteszirkel verworfen - bis
heute. Für katholische Alteuropäer ist das Wesen der Neu­
zeit noch immer mit einem einzigen Begriff auszusagen:
Sphärenfrevel. Viel weniger nostalgisch, doch unzeitgemäß
auf nicht-katholischen Wegen, stellt unser sphärologischer
72 Einleitung

Ansatz die Mittel dazu bereit, die Weltformkatastrophen der


Moderne - sprich die terrestrische und die virtuelle Globa­
lisierung - in Ausdrücken unrunder Sphärenbildungen zu
charakterisieren.
Diese contradictio in adiecto spiegelt das Form-Dilemma
der gegenwärtigen Weltlage wider, in der sich durch globale
Märkte und Medien ein akuter Weltkrieg der Lebensformen
und der Informations-Waren austobt. Wo alles Zentrum ge­
worden ist, gibt es kein gültiges Zentrum mehr; wo alles sen­
det, verliert sich der vermeintlich zentrale Absender im Ge­
wirr der Botschaften. Wir sehen, wie und warum das Zeitalter
des einen, größten, allesumschließenden Einheits-Kreises
und seiner gebeugten Exegeten unwiederbringlich abgelau­
fen ist. Das morphologische Leitbild der polysphärischen
Welt, die wir bewohnen, ist nicht länger die Kugel, sondern
der S c h a u m . Die aktuelle erdumspannende Vernetzung -
mit all ihren Ausstülpungen ins Virtuelle - bedeutet daher
strukturell nicht so sehr eine Globalisierung, sondern eine
Verschäumung. In Schaum-Welten werden die einzelnen Bla­
sen nicht, wie im metaphysischen Weltgedanken, in eine ein­
zige, integrierende Hyper-Kugel hineingenommen, sondern
zu unregelmäßigen Bergen zusammengezogen. Mit einer
Phänomenologie der Schäume versuchen wir begrifflich und
bildlich zu einer politischen Amorphologie vorzudringen,
die den Metamorphosen und Paradoxien des solidarischen
Raums in der Zeit der vielfältigen Medien und mobilen Welt­
märkte auf den Un-Grund geht. N ur eine Theorie des Amor­
phen und Unrunden könnte, indem sie das aktuelle Spiel von
Sphärenzerstörungen und Sphärenneubildungen untersucht,
die intimste und allgemeinste Theorie des gegenwärtigen
Zeitalters bieten. Schäume-, Haufen, Schwämme, Wolken und
Wirbel dienen als erste amorphologische Metaphern, die
helfen werden, den Fragen nach Innenweltbildungen, Zu­
sammenhangsschöpfungen und Immunitätsarchitekturen im
Zeitalter technischer Komplexitätsentfesselung nachzuge-
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 73

Eiffelturm
74 Einleitung

hen. Was gegenwärtig in allen Medien konfus als die Globali­


sierung ausgelobt wird, ist in morphologischer Sicht der uni-
versalisierte Krieg der Schäume.
Aus der Nötigung der Sache selbst ergeben sich hier auch
Ausblicke auf die Sphären-Pathologie im modern-postmo­
dernen Prozeß. Die Rede von einer Pathologie der Sphären
läßt einen dreifachen Fokus sehen; einen politologischen: in­
sofern Schäume tendenziell unregierbare Strukturen sind,
die zur morphologischen Anarchie tendieren; einen kogniti­
ven: insofern in Schäumen lebende Subjekt-Verbände und
Individuen es zu keiner ganzen Welt mehr bringen können,
da ja die Idee der ganzen Welt selbst, in ihrer charakteristisch
holistischen Betonung, unverkennbar dem abgelaufenen
Zeitalter der metaphysischen Total-Einschlußkreise oder
Monosphären angehört; und einen psychologischen: inso­
fern vereinzelte Individuen in Schäumen tendenziell die
Kraft zur psychischen Raumbildung verlieren und zu isolier­
ten depressiven Punkten einschrumpfen, die in ein beliebiges
Ringsum (systemisch zu Recht Umwelt genannt) versetzt
sind; sie leiden an jener Immunschwäche, die durch den Ver­
fall der Solidaritäten ausgelöst wird - um von den neuen
Immunisierungen durch Teilhabe an regenerierten Sphären­
schöpfungen für den Augenblick noch nicht zu reden. Für
die sphärenschwachen Privatpersonen wird ihre Lebens­
spanne zu einem selbstgestalteten Vollzug von Einzelhaft;
ausdehnungslose, aktionsblasse, an Teilhaben arme Iche star­
ren durchs Medienfenster in bewegte Bildlandschaften hin­
aus. Für die akuten Massenkulturen ist es typisch, daß die be­
wegten Bilder um vieles lebendiger geworden sind als die
meisten unter ihren Betrachtern: Wiederholung des Animis­
mus auf der Flöhe der Modernität.
Tatsächlich muß sich die Seele im unrunden Zeitalter auch
unter den günstigsten Bedingungen darauf gefaßt machen,
daß für die Einzelblasen, die selbstergänzenden freigesetzten
Individuen, die ihre Eigenräume medial möblieren, der
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 75

Annika von Hausswolff, Attempting to Deal with Time and Space, 1997
76 Einleitung

hybride Globalschaum etwas Undurchdringliches bleiben


wird; immerhin kann Navigabilität Transparenz partiell er­
setzen. Gewiß, solange die Welt als ganze von einem regie­
renden Punkt aus panoptisch überblickt werden konnte,
schien sie intelligibel durch die Selbsttransparenz, mit der die
göttliche Kugel sich ausleuchtete, um sich in jedem Punkt
vollkommen zu besitzen; die Vorstellung von der menschli­
chen Teilhabe an solchen Transparenzleistungen setzte im­
periale und monologische Vernunftformen frei; die Welt
strahlte als ganze auf im Schein der von der Mitte aus herr­
schenden Umsicht. Gott selbst war ja nichts anderes als das
Zentrum und der Umfang zugleich der von ihm projizierten
und eingesehenen Seins-Kugel, und jedes Denken, das sich
von ihm her begründete, nahm analogisch an der Erhaben­
heit seiner Zentralsicht teil. In den Schaumwelten ist aber
keine Blase zur absolut zentrierten, allumfassenden, amphi-
skopischen Kugel erweiterbar; kein Mittellicht durchdringt
den Schaum insgesamt in seiner dynamischen Trübheit. Da­
her gehört zur Ethik der dezentrierten, kleinen und mittleren
Blasen im Weltschaum die Anstrengung, in einer beispiellos
weiträumigen Welt sich mit einer beispiellos bescheidenen
Umsicht zu bewegen; im Schaum müssen sich diskrete und
polyvalente Vernunftspiele ausbilden, die mit schillernder
Perspektivenvielfalt zu leben lernen und auf das Trugbild des
einen herrscherlichen Blickpunkts verzichten. Die meisten
Straßen führen nicht nach Rom - das ist die Lage, Europäer,
erkenne sie. Denken im Schaum ist Navigieren auf labilen
Strömungen - andere würden sagen, es wandelt sich unter
dem Eindruck der Denkaufgaben der Zeit zu einer pluralen
und transversalen Vernunftpraxis.25
Mit dieser nicht fröhlichen und nicht traurigen Wissen­
schaft von den Schäumen liefert das dritte Buch der Sphären
eine Theorie des gegenwärtigen Zeitalters unter dem leiten­

25 Vgl. Wolfgang Welsch, Transversale Vernunft, Frankfurt 1995.


Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 77
den Gesichtspunkt, daß die Entseelung vor der Reanimation
einen uneinholbaren Vorsprung besitzt. Es ist das unbeseel-
bare Außen, das in wesenhaft moderner Zeit zu denken gibt.
Dieser Befund wird das nostalgische Weltbildverlangen, das
immer noch auf ein lebbares Ganzes im bildungsholistischen
Sinne zielt, unweigerlich in die Resignation treiben. Denn
was auch immer als Inneres sich behauptet, es wird doch mit
stetig zunehmender Evidenz als das Innere eines Außen
bloßgestellt. Kein Glück ist vor der Endoskopie sicher; um
jede selige, intime, vibrierende Zelle treiben sich Schwärme
von berufsmäßigen Desillusionierern herum, und wir treiben
in ihnen - Denk-Paparazzi, Dekonstruktivisten, Innenraum­
leugner, Kognitionswissenschaftler, Komplizen einer Lethe-
Plünderung ohne Grenzen. Das Beobachtergesindel, das al­
les von außen nehmen will und keinen Rhythmus mehr ver­
steht - gehören wir denn nicht längst selbst zu ihm, in den
meisten Belangen, in den meisten Momenten? Und wie sollte
es auch anders sein? Wer könnte denn so wohnen, daß er Al­
les bewohnt? Oder so, daß er in nichts Äußeres sich ein­
mischt? Die Welt, scheint es, ist für Menschen älteren Typs,
die nach realer Gemeinschaft mit Nahem und Fernem streb­
ten, viel zu groß geworden. Seit langem ist die Gastfreund­
schaft der Sapiens-Wesen mit dem, was hinter dem Horizont
heraufkam, über ihr kritisches Maß hinaus gespannt. Keine
Institution, und wäre es eine Kirche, die kata holon dächte
und universal liebte, und erst recht kein Einzelner, der tap­
fer weiter liest, kann sich noch einbilden, offen genug zu sein
für alles, was eindringt, redet und begegnet; die übergroße
Mehrzahl der Individuen, Sprachen, Kunstwerke, Waren,
Galaxien bleibt von jeder Lebensweltstelle her gesehen un­
assimilierbare Außenwelt, und dies mit Notwendigkeit und
für immer. Alle »Systeme«, ob Haushalte, Kommunen, Kir­
chen oder Staaten, und erst recht Paare und Individuen, sind
zu ihrer spezifischen Exklusivität verdammt; der Zeitgeist
zelebriert immer offener seine verantwortungsfreie Mit-
7« Einleitung

Aus: C. V. Boys, Soap-Bubbles, and the Forces whicb Mould Them, London
1902

wisserschaft am vielfachen Äußerlichen. Geistesgeschichte


heute: die Endspiele der äußeren Beobachtung.
Ob diese Diagnosen zu verstörenden und verengenden
Schlüssen führen oder zu heilsamen Öffnungen und Synthe­
sen, mag dahingestellt bleiben. In allen drei Teilen bildet
diese Abhandlung über Sphären als weltbildende Form­
potenzen den Versuch, über die gegenwärtige Welt ohne
Unschuld zu sprechen. Dreifach muß sich zum Verlust der
Unschuld bekennen, wer Erfahrungen der Neuzeit auf sich
bezieht: psychologisch, politologisch, technologisch; er­
schwerend kommt hinzu, daß sich zwischen dem Unschuld­
verlieren und dem Erwachsenwerden ein komplizierter U n­
terschied verrät. Sei’s drum, nicht erst seit heute heißt denken
mit der Harmlosigkeit brechen.

Der vorliegende Rechenschaftsbericht vom Aufgang und


Gestaltwandel der Sphären ist unseres Wissens der erste Ver­
such, nach dem Scheitern von Oswald Spenglers sogenannter
Morphologie der Weltgeschichte wieder einem Formbegriff
eine höchstrangige Stellung in einer anthropologischen und
kulturtheoretischen Untersuchung zuzuweisen. Spenglers
morphologische Prätentionen, mochten sie auch das Patro­
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 79
nat Goethes bemühen, waren zum Mißerfolg verurteilt, weil
sie an ihre Gegenstände einen Begriff von Form herantrugen,
der deren Eigensinn und ihrer Geschichte unmöglich gerecht
werden konnte. Es war bereits ein genialischer Gewalt­
streich, Kulturen insgesamt als »Lebewesen höchsten Ran­
ges« zu isolieren und diese zu fensterlosen Einheiten zu er­
klären, die ganz nach immanenten Gesetzen aufgehen und
verfallen, und erst recht konnte es nicht ohne Forcierung ab­
gehen, wenn Spengler seine Kulturen als jeweils tausendjäh­
rige Reiche einer regionalen Seelenstimmung deuten wollte
- gewissermaßen als Seifenblasen höchster Ordnung, die
durch Innenspannungen okkulter Natur in Form gehalten
würden. Die unter dem Zeichen der Morphologie präsentier­
ten Lebensbeschreibungen der acht von ihm anerkannten
Kulturen mögen als Monument einer großen, vielleicht
unvergleichlichen spekulativen und kombinatorischen Ener­
gie ihren Ehrenplatz in der Geschichte der Kulturphiloso­
phien behaupten; doch wird man dieses Denkmal am besten
in eine stillere Nische stellen. Was die Anwendung morpho­
logischer Begriffe in den Kulturwissenschaften anbelangt, so
gehen von Spenglers Exempel bislang eher entmutigende
Wirkungen aus. Unser eigener Versuch kann daher einem
solchen Modell nicht allzuviel verdanken - es sei denn eine
eindrucksvolle Belehrung über das, was in Zukunft zu mei­
den ist.
Wenn hier von Sphären als Formen, die sich selbst realisie­
ren, die Rede ist, dann in der Überzeugung, keine herangetra­
genen Begriffe zu benutzen, und wenn sie in gewisser Hin­
sicht doch herangetragen wären, dann auf eine Weise, zu der
das Entgegenkommen der Sachen selbst ermuntert. Theorie
der Sphären: das bedeutet, sich den Zugang zu einem Etwas
zu bahnen, das wohl das Allerwirklichste ist und doch das
Ausweichendste und am wenigsten gegenständlich zu Fas­
sende. Schon die Redensart von der Bahnung eines Zugangs
führt in die Irre, weil die Entdeckung des Sphärischen nicht
8o Einleitung

so sehr eine Sache der Zugänglichkeit ist als eine der verlang­
samten Umsicht im Offenkundigsten. Wir sind in sphärische
Verhältnisse immer schon ekstatisch involviert, auch wenn
wir aus tiefsitzenden kulturspezifischen Gründen von ihnen
abzusehen, an ihnen vorbeizudenken und neben ihnen her zu
diskutieren gelernt haben. Die europäische Wissenschafts­
kultur ist, ihrer Zurichtung auf Gegenständlichkeit wegen,
im Ansatz wie im Resultat ein Unternehmen zur Dethemati-
sierung der sphärischen Ekstase. Die animierte Innenräum­
lichkeit, die wir an allen Grundverhältnissen menschlicher
Kultur und Existenz nachzuweisen versuchen werden, ist
tatsächlich ein realissimum, das sich zunächst jeder sprachli­
chen und geometrischen Darstellung - ja überhaupt jeder Re­
präsentation - entzieht und doch, an jeder Daseinsstelle, so
etwas wie ursprüngliche Kreis- und Kugelbildungen er­
zwingt - dank einer Rundungspotenz, die vor allen förm­
lichen und technischen Zirkel-Konstruktionen in Kraft ist.
Die von real Zusammenlebenden geteilten Welten haben
von ihnen selbst her die Gestaltdynamik von Arrondisse­
ments, die sich ohne den Beitrag der Geometer eigensinnig
bilden. Aus der Selbstorganisation der psychokosmischen
und der politischen Räume entspringen jene Metamorpho­
sen des Kreises, in denen sich das Dasein seine sphärisch­
atmosphärische Verfassung gibt. Das Wort Selbstorganisa­
tion - das hier ohne die übliche szientistische Hysterie ver­
wendet wird - soll darauf aufmerksam machen, daß der men­
schenbergende Kreis weder nur gemacht noch nur gefunden
wird, sondern auf der Schwelle zwischen Konstruktion und
Selbstvollzug spontan sich rundet, besser gesagt: in Run­
dungsereignissen sich vollzieht - so wie die um ein H erd­
feuer Versammelten sich frei und bestimmt um die Feuer­
stelle und ihre unmittelbaren Wärmevorteile gruppieren.26
26 Z ur Sphäropoiese durch die Feuerstelle und zur D enkfigur »ther­
mischer Sozialismus« vgl. Sphären II, 2. Kapitel, G efäß-E rinnerun­
gen. U ber den G rund der Solidarität in der inklusiven Form.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune

Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste, Außenseite bei geschlossenen


Flügeln

Daher ist die sphärologische Analyse, die mit diesem ersten


Band, von den Mikroformen ausgehend, in Angriff genom­
men wird, weder nur eine konstruktivistische Projektion von
arrondierten Räumen, in denen Menschen sich ein gemeinsa­
mes Dasein einbilden, noch nur eine ontologische Medita­
tion über den Kreis, in den die Sterblichen kraft einer unver­
fügbaren transzendenten Ordnung eingeschlossen wären.
Als Einführung in eine mediale Poetik der Existenz will
die Sphärologie fürs erste nur die Gestaltbildungen einfacher
82

Immanenzen nachzeichnen, die in den menschlichen (und


außermenschlichen) Ordnungen auftauchen - sei es als O r­
ganisationen archaischer Intimität, sei es als Raumdesign pri­
mitiver Völker oder als theologisch-kosmologische Selbst­
deutung traditionaler Imperien. Auf den ersten Blick könnte
das Vorliegende, vor allem in seinem zweiten Teil, darum
auch wie eine Kulturgeschichte erscheinen, die mit Hilfe
morphologischer, immunologischer und übertragungstheo­
retischer Begriffe verfremdet wurde - eine Auffassung, die,
wenn sie auch noch nicht zum Wesentlichen führt, weder
ganz falsch wäre noch ganz unwillkommen, vorausgesetzt,
man ist bereit zuzugeben, daß nur die Philosophie es sein
kann, von der die Intelligenz erfährt, wie ihre Leidenschaften
zu Begriffen kommen.
83

V orüberlegung

Innenraum denken

Ich lege einen Apfel vor mich auf den


Tisch. D ann lege ich mich in diesen Apfel.
Welche Ruhe!
H enri Michaux, Magie

aß Menschen Wesen sind, die an Räumen teilhaben,


von denen die Physik nichts weiß: Durch die Ausarbei­
tung dieses Axioms hat sich eine moderne psychologische
Topologie entwickelt, die den Menschen, ohne Rücksicht auf
seine ersten Selbstlokalisierungen, über radikal verschiedene
Orte verteilt, bewußte und unbewußte, taghafte und nächtli­
che, ehrenhafte und skandalöse, solche, die dem Ich gehören,
und solche, an denen innere Andere ihr Lager aufgeschlagen
haben. Es macht die Stärke und Eigenständigkeit des moder­
nen psychologischen Wissens aus, daß es die menschliche
Position aus der Reichweite der Geometrie und der Einwoh­
nermeldeämter entrückt hat. Auf die Frage, wo ein Subjekt
sich aufhält, sind durch psychologische Untersuchungen
Antworten gegeben worden, die den physikalischen und zi­
vilen Augenschein Lügen strafen. N ur die Körper von Toten
sind ohne Mehrdeutigkeit zu lokalisieren; der Anatom, der
vor dem granitenen Tisch steht, wird sich nicht zweimal fra­
gen lassen, wo sein Gegenstand ist: Für die Körper im äuße­
ren Raum sind nur die Koordinaten des Beobachters von Be­
lang. In bezug auf Wesen, die auf menschlich ekstatische Art
am Leben sind, stellt sich die Ortsfrage von Grund auf an­
ders, weil die primäre Produktivität der Menschenwesen
darin besteht, an ihrer Einquartierung in eigensinnigen, sur-
realen Raumverhältnissen zu arbeiten.
Bei der Herausstellung dieser Einsicht weiß sich die Psy-
84 Vorüberlegung

chologie zunächst mit der Kulturanthropologie einig: N ur


durch ihre Sezession von der alten Natur sind die Menschen
zu einer ontologischen Randgruppe geworden, die sich
selbst beunruhigt. Sie lassen sich durch das, was an ihnen na­
türlich, besser: alt-natürlich, ist, nicht zulänglich erklären -
auch wenn es nicht an Versuchen fehlt, die Kulturen konti­
nuierlich aus Naturprozessen hervorgehen zu lassen. Die
Menschen führen, inmitten der äußeren Natur und über der
inneren, das Leben von Insulanern, die ihre symbolischen
Handlungen, ihre Gewöhnungen, ihre Verwöhnungen und
ihre Losreißungen von instinktgeführten Mustern zunächst
immer mit dem Selbstverständlichen und insofern wieder
mit dem alten Natürlichen verwechseln. Sie wohnen aber,
sieht man näher zu, fürs erste nur in Gebilden, die aus ihnen
selbst wie zweite Naturen hervorgewachsen sind - in ihren
Sprachen, ihren Ritual- und Sinnsystemen, in ihren konstitu­
tiven Delirien, die freilich auch irgendwo an der Erdoberflä­
che aufgestützt sind. (Das Politische ist das Produkt aus
Gruppenwahn und Territorium.)
Die Revolution der modernen Psychologie erschöpft sich
nicht darin, zu erklären, daß alle Menschen konstruktivi­
stisch wohnen und daß sie ohne Ausnahme dem Beruf von
wilden Innenarchitekten nachgehen, die unablässig an ihrer
Einquartierung in imaginären, sonoren, semiotischen, rituel­
len, technischen Gehäusen arbeiten. Die spezifische Radika­
lität der psychologischen Wissenschaften vom Menschen
manifestiert sich erst, wenn sie das Subjekt als etwas ausle­
gen, das nicht nur sich selbst in symbolischen Ordnungen
einrichtet, sondern auch von Anfang an ekstatisch in die ge­
meinsame Welteinrichtung mit anderen hineingenommen ist.
Es ist nicht nur Designer seines eigenen, mit relevanten O b­
jekten vollgestellten Innenraums, es muß sich immer und un­
vermeidlich auch als befreundetes Mobiliar, als Resonanz­
körper, als feindliche Wand im Behälter der inneren Nahen
und Nächsten hinstellen lassen. Folglich ist die Beziehung
Innenraum denken 85
zwischen menschlichen Subjekten, die ein Nähefeld teilen,
zu beschreiben als die zwischen unruhigen Behältern, die
sich gegenseitig enthalten und ausgrenzen. Wie kann dieses
bizarre Verhältnis gedacht werden? Im physischen Raum ist
es ausgeschlossen, daß ein Ding, das in einem Behälter liegt,
zugleich seinen Behälter enthielte. Ebenso ist es undenkbar,
daß ein Körper in einem Behälter zugleich als etwas vorge­
stellt werden könnte, was aus eben diesem Behälter ausge­
schlossen wäre. Aber genau mit Verhältnissen dieses Typs
hat es die Lehre vom psychologischen Raum von Beginn an
zu tun. Was für geometrische und physikalische Größen eine
unüberwindliche Paradoxie bedeutet, ist für die Lehre von
den psychologischen oder menschlichen Ortern der anfäng­
liche Sachverhalt: Die Individuen, die sogenannten Unteilba­
ren, sind Subjekte nur insofern, als sie Teilhaber einer geteil­
ten und zugeteilten Subjektivität sind. Wollte man die Sache
auf die Spitze stellen und überdies platonische Intuitionen in
aktuellen Formulierungen Wiederaufleben lassen, so dürfte
man sagen: Jedes Subjekt ist der unruhige Rest eines Paares,
dessen entzogene Hälfte nicht aufhört, den Zurückgebliebe­
nen in Anspruch zu nehmen.
Schon mit ihren ersten Strichen löst also die moderne Psy­
chologie den individualistischen Schein auf, der die Einzel­
nen als substantielle Ich-Einheiten auffassen möchte, die wie
die Mitglieder eines liberalen Clubs auf freiwilliger Basis in
Verkehr mit anderen träten, nachträglich, willkürlich, wider­
ruflich, wie es der Ideologie der individualistischen Vertrags­
gesellschaft entspricht. Wo solche Individualismen auftau­
chen, dort läßt sich mit hoher psychologischer Evidenz auf
eine freiheitsneurotische Grundstellung schließen; für die ist
es charakteristisch, daß ein Subjekt sich nicht als enthaltenes,
begrenztes, umgriffenes und besetztes denken kann. Es ist
die Basisneurose der okzidentalen Kultur, von einem Subjekt
träumen zu müssen, das alles beobachtet, benennt, besitzt,
ohne sich von etwas enthalten, ernennen, besitzen zu lassen,
86 Vorüberlegung

und wenn der diskreteste Gott sich als Zuschauer, Behälter


und Mandant anböte. Beharrlich kehrt der Traum von einer
all-inklusiven monadischen Ich-Kugel wieder, deren Radius
das eigene Denken wäre - ein Denken, das ohne Mühe seine
Räume durchläuft bis an die äußerste Peripherie, begabt mit
einer traumhaft mühelosen Diskursivität, der kein reales äu­
ßeres Ding widersteht.
Das Kehrbild dieses souveränen panoptischen Egoismus
zeigt sich in dem Jonas-Komplex, dessen Subjekt im Bauch
eines Wals sich ein glückliches Exil geschaffen hätte, wie je­
ner Dreizehnjährige, von dessen Phantasmen der Psycho­
analytiker Wilhelm Stekel berichtete: In seinen Tagträumen
verlangte der junge Mann danach, das monströse Innere ei­
ner Riesin zu betreten, deren Bauchhöhle sich als ein Ge­
wölbe von zehn Metern Höhe präsentierte. In der Bauch­
mitte der Riesin sollte eine Schaukel stehen, auf der sich der
selige Jonas in die Höhe schwingen wollte, von der Gewiß­
heit erfüllt, daß kein noch so wilder Elan ihn je hinaustragen
werde.27 Das erste Ich, das feststehende, das in seinem Um­
blick alles enthält, und das zweite Ich, das schaukelnde,
das sich von seiner Höhle ganz enthalten läßt, sind insofern
miteinander wesensverwandt, als das eine wie das andere
versucht, sich der gefalteten, verschränkten, partizipativen
Struktur des wirklichen menschlichen Raumes zu entziehen.
Beide haben den ursprünglichen dramatischen Unterschied
zwischen Innen und Außen annulliert, indem sie auf phan­
tastische Weise sich in die Mitte einer homogenen Sphäre
plazieren, die von keinem wirklichen Außen und keinem un-
vereinnahmten Gegenüber herausgefordert wird. Die Alles-
Außen-These ist offensichtlich nicht weniger delirant als das
Verlangen, alles innen zu haben. Die beiden extremen Postu-
late, von denen wohl alle westlichen Individuen auf die eine
oder andere Weise versucht sind, streben hinweg von der
27 Gaston Bachelard, La terre et les reveries du repos, Paris 1948, N ach­
druck 1988, S. 151.
Innenraum denken 87

Federico Fellini, Casanova, Die große Muna

ekstatischen Verflechtung des Subjekts in den gemeinsamen


Innenraum, in dem die real Zusammenlebenden aneinander
zehren.
Die Wahrheit und Weisheit der modernen Psychologie ge­
genüber solchen Phantasmen uneinnehmbarer Innerlichkeit
oder souveräner Äußerlichkeit besteht darin, den Hum an­
raum als Ineinanderverschränkung mehrerer Innenräum­
lichkeiten zu beschreiben. Hier wird das Surreale zum Rea­
len. Jedes Subjekt im realen konsubjektiven Raum ist ein
enthaltendes, sofern es anderes Subjektives aufnimmt und er­
faßt, und ein enthaltenes, sofern es von den Umsichten und
Einrichtungen Anderer umfaßt und verzehrt wird. Das reale
menschliche Nähefeld ist also nicht nur ein einfaches System
von kommunizierenden Gefäßen: Wenn dein Flüssiges in
meinen Röhren emporsteigt und umgekehrt das meine in den
deinen, so gibt das nur den ersten Hinweis auf das, was Men­
schen im Nahbereich kraft ihrer Verfügungen und ihrer
Vorüberlegung

Sammelgefäße: i: Große Flasche für Geister mit Tubus, 2: Einfache bauchige


Flasche, 3: Im Scheitel blindes Auffanggefäß, 4: Bauchiges Zwillingsauffang­
gefäß, 5: Längliches Zwillingsauffanggefäß, 6 : Desgleichen in Flaschenform,
7: Doppelbauchige Flasche, 8: Überleitgefäß

Überläufe ineinanderwirken läßt. Als ein System von hybri­


den kommunizierenden Gefäßen besteht der Humaninnen-
raum aus paradoxen oder autogenen Hohlkörpern, die zu­
gleich dicht und leck sind, die einmal Behälter und einmal
Inhalt spielen müssen und die zur selben Zeit Innenwand-
und Außenwandeigenschaften besitzen. Die Intimität ist das
Reich der surrealen autogenen Behälter.
Intimität - unter diesem geschundenen Leitwort werden
wir uns in den folgenden Untersuchungen den Geheim­
nissen der menschlichen Ortsverrücktheit, die immer als
Verrücktheit nach innen beginnt (um als Verrücktheit nach
außen auffällig zu werden), anzunähern versuchen, da kein
besseres, weniger prostituiertes Wort zur Verfügung steht.
Vielleicht ist es, was die Herausforderung des Gedankens an-
Innenraum denken

Aufnahme- und Überleitgefäße: L: »Tiara« für Rohrschlangen, M: Cydaris,


N: Rohraufsatz, O: Helm für Kühlung, P: Kleine Helme für Kölbchen und
Phiolen, Q: Kombination von Blind- und Schnabelhelm, R: Dreifacher
Blindhelm, S: Dreifacher Schnabelhelm

belangt, von Nutzen, mit dem ausgelaugtesten Ausdruck an


das ungewöhnlichste Verhältnis heranzutreten. Es wäre ver­
früht, schon hier auf Heideggers Wendung einzugehen, daß
Dasein »Hineingehaltenheit in das Nichts« bedeute - denn
wir sind nicht soweit, mit aufgefrischter Explizitheit sagen
zu können, was Dasein, was Gehaltenheit, was Nichts, vor
allem aber was hinein bedeuten.28 Ebenso unzeitig wäre es,
schon jetzt auf das von Deleuze und Foucault lancierte
Theorem einzugehen, das Subjekt sei eine Falte des Außen,
denn wir wissen noch absolut nichts von einer Oberfläche
oder einer Äußerlichkeit, deren Faltung so etwas wie ein In-
2 8 Heideggers Theorem vom existentialen O rt w ird unten im Exkurs 4
»Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.«, S. 336 ff. nä­
her erläutert.
9° Vorüberlegung

terieur oder ein Selbst erzeugen könnte. N ur soviel ist vor­


greifend zu bemerken, daß Intimität, jenseits ihres zuckrigen
ersten Zugangs, allein als eine Abgründigkeit im Nächstlie­
genden verstanden werden kann. Die Theorie des Intimen,
die mit der folgenden Mikrosphären-Analyse in Gang ge­
bracht wird, ist dem Versuch gewidmet, zu zeigen, daß alle
Wissenschaften vom Menschen immer schon Beiträge zu ei­
nem topologischen Surrealismus gesammelt haben, weil es
zu keiner Zeit möglich war, von den Menschen zu reden,
ohne es mit den irrlichternden Poetiken des bewohnten In­
nenraumes zu tun zu bekommen. Die Räume, von denen
Menschen sich enthalten lassen, haben ihre eigene Ge­
schichte - eine Geschichte freilich, die noch nie erzählt
wurde und deren Helden eo ipso nicht die Menschen selbst
sind, sondern die Topoi und die Sphären, als deren Funktion
die Menschen aufblühen und aus denen sie fallen, wenn ih­
nen ihre Entfaltung mißlingt.
Für viele Intelligenzen ist mit dem Gedanken an heimi­
sche Intimitäten ein spontaner Süße-Ekel verknüpft - wes­
wegen es eine Philosophie der Süße sowenig gibt wie eine
ausgearbeitete Ontologie des Intimen. Man muß sich über
die Natur dieses Widerstands Rechenschaft geben, um über
typische Anfangsaversionen hinauszukommen. Das Thema
erscheint, von ferne betrachtet, so unattraktiv und nichtig,
daß vorderhand nur Harmoniegimpel oder theophile Ka­
straten an ihm hängenbleiben können. Der Intellekt, der
seine Kraft auf würdige Objekte ansetzt, mag es in der Regel
scharf, nicht süß. Man bietet Helden keine Bonbons an. Was
könnte angesichts der Ausrichtung an intellektueller und
existentieller Schärfe süßlicher, klebriger, unheroischer er­
scheinen als die Zumutung, sich zu beteiligen an einer Unter­
suchung über den teigigen, den vagen, den demütig-matriar-
chalen Raum, in dem die Menschen, zunächst und zumeist,
als Sicherheitssucher, als gutmütige Einwohner der Norm a­
lität und als Insassen ihrer Zufriedenheitsanstalten sich nie-
Innenraum denken 9 1

Mathematische Knoten
92 Vorüberlegung

dergelassen haben? Was wäre mehr von Verachtung a priori


betroffen als die Hingabe von Individuen an den parochialen
Lebensraum, der ihnen eine gewisse abgespannte Bequem­
lichkeit bei sich selbst zu gewähren scheint? Der Grund,
warum die starken Geister in der Regel Süße-Verächter sind,
läßt sich ein Stück weit durch die subversiven Wirkungen er­
klären, die das Süße, und mehr noch das Klebrige, bei dem
stolzen Subjekt hervorrufen. Friedrich W. Heubach hat in
einem kunstvollen phänomenologischen Mikrodrama ein
Bonbon-Erlebnis explizit gemacht, das die Motive des Nein
zur Süße bloßlegt. Sehen wir zu, wie dieses orale Drama nach
einem entkernenden Vorspiel, dem Auswickeln des »süß­
schwangeren Ovals« aus seiner reizenden Papierhülle, mit
der Aufnahme des Objekts in den Mund des Helden seinem
Höhepunkt zustrebt:
»Die gespitzten Lippen greifen das Bonbon auf, entlas­
sen es umständlich in den Mundraum, wo es schließ­
lich von der Zunge mit erwartungsvollen Wendungen
empfangen wird. Süße entwickelt sich, öffnet sich zu
einem kleinen schmeichelnden O und hat bald den
Mund in eine süße, klebrig-gierig pulsierende Kugel
verwandelt, die, sich ausweitend, mehr und mehr ver­
einnahmt. Man wird selbst eingerundet und existiert
schließlich nur mehr als die feine, immer gespanntere
Peripherie dieser Süßkugel; man schließt die Augen
und implodiert endlich: Selber Kugelcharakteristik
annehmend, bildet man einen Gegenstand mit der im
Süßen rundgewordenen Welt.
Diesem >inneren< Geschehen (parallel) verläuft ein
>äußeres<: Das leere Bonbonpapier wird glatt und glat­
ter gestrichen, bis es ein planes Viereck bildet, das um
den Finger zu einer zylindrischen Röhre gedreht und
schließlich zu immer kleineren Flächen gefaltet wird.
Und wenn die Süßkugel ihre Spannung zu verlieren
beginnt, verflacht und zerfällt, nimmt das Papier zwi-
Innenraum denken 93
sehen den Fingern immer unordentlichere, zuneh­
mend verklumpte Formen an; und wenn dann die Süße
nur mehr die feine zehrende Linie eines Entzugs bil­
det, ist es endlich zu einem kleinen, harten Kügelchen
zusammengepreßt, das man gerne sehr weit weg­
schnippt.«29
Damit liegt ein Grund für Süße-Aversionen offen. Schon
durch den harmlosesten oralen Genuß geschieht etwas, was
für den Freiheitshelden unannehmbar bleiben wird: Das Er­
lebnis Süße-in-mir wirft das genießende Subjekt aus der
Mitte und versetzt es für einige prekäre, immerhin willkom­
mene Augenblicke an den Rand einer eigenmächtigen Ge­
schmackssphäre. Dieser kleinen Überwältigung widerstehen
zu wollen, wäre keine erhabene, sondern eine lächerliche Re­
gung, zumal es im Licht des heroischen Postulats von vorne-
herein beschämend ist, durch den Verzehr eines Konfekts
sich unterwandern zu lassen. Die Lektion dieser Einverlei­
bung wirkt lange nach: Intimität wird hier erlebt als das
Durchschlagenwerden meines Leibesinneren durch die Prä­
senz eines Geschmacks, dessen Stärke in der Gefälligkeit
mich aufschließt und zur Nachgiebigkeit drängt, ja, der mich
aus dem Weg räumt, weil ich ihn nur wahrhaft genieße, wenn
ich mich von ihm zum glücklichen Zaungast seines Triumph­
zugs durch meine Mundhöhle machen lasse. Das schlichteste
Genußmittel ist geeignet, mich davon zu überzeugen, daß ein
einverleibtes Objekt, weit davon entfernt, eindeutig unter
meine Hoheit zu geraten, von mir Besitz ergreifen und mir
sein Thema diktieren kann. Wenn aber schon ein banaler Fall
von Zuckerkonsum das Subjekt durch eine aufflammende
Aroma-Präsenz aushöhlt und es zu einem Schauplatz invasi­
ver Sinnlichkeiten macht, was soll dann aus seiner Überzeu­
gung werden, es sei auf ganzer Linie zu massiver Selbstbe-
29 Friedrich Wolfram H eubach, Das bedingte Leben. E ntw urf zu einer
Theorie der psychologischen Gegenständlichkeit. Ein Beitrag zur
Psychologie des Alltags, M ünchen 1987, S. 163.
94 Vorüberlegung

Bela Vizi, Koordination

Stimmung berufen? Was bleibt vom Traum der humanen


Autonomie, wenn das Subjekt sich als durchdringlicher
Hohlkörper erfahren hat?
Es scheint, daß sich auf der Linie solcher Fragen die Vor­
zeichen zwischen Eigensinn und Hingerissenheit verkehren
und daß der Schwächling auf sich besteht, wo der Starke sich
hingibt. Muß nicht gerade das stärkste Subjekt als der erfolg­
Innenraum denken 95
reichste Stoffwechsler begriffen werden - das heißt der
Mensch, der aus seiner Hohlheit, Durchdringlichkeit und
Medialität am wenigsten ein Geheimnis macht? Wäre nicht
somit das dezentrierteste Individuum als das potentiell
mächtigste zu verstehen? Und ist nicht tatsächlich das psy­
chologische Leitbild der Moderne, der ich-starke Selbstver-
wirklicher, als polyvalenter Stoffwechselmaximierer auf den
Plan getreten, der unter der Maske der kontrollierten Kon­
sumkraft sich vielfältigen Invasionen, Verführungen, Inbe­
sitznahmen ausliefert? Wächst denn nicht das gesamte Uni­
versum menschlicher Intimität, das Geflecht der geteilten
Interieurs im buchstäblichen wie im übertragenen Sinn, aus
solchen Verkehrungen der aneignend-einverleibenden Ge­
sten hervor? Haben wir nicht als Phänomenologen wie als
Psychologen und Topologen von dem Befund auszugehen,
daß Subjekte sich von Anfang an nur durch die Erfahrung:
»beim Nehmen genommen werden« bilden? Das konstitu­
tive Bonbon, seit den Tagen Melanie Kleins von den epi-freu-
dianischen Psychoanalytikern beargwöhnt und vergöttert,
ist kein anderes als »die Mutterbrust«, jenes angebliche erste
»Objekt« (man beachte die Einzahl), das von dem Kind (das
sowenig bis zwei zählen kann wie ein Objektbeziehungs­
theoretiker) nicht hingenommen und einverleibt werden
kann, ohne daß es auf seine Weise an den Rand der milchigen
Süßekugel in ihm gerät. Das frühe Subjekt - soll man von
ihm sagen, es wäre nur ein lustvoller Beobachter an der Peri­
pherie eines euphorischen Schlucks?
Für die Lehre vom Menschen zeitigen Erwägungen dieser
Art beunruhigende Konsequenzen, da sie mit dem Schein
der kuranten Ich-Abgrenzungssysteme brechen. Die Pointe
dieses Spiels an der Ich-Du- und Ich-Es-Grenze läßt sich mit
einem mythologischen Gedankenexperiment verdeutlichen.
Wären Bonbons und Muttermilchgaben Subjekte und keine
bloßen Dinge, wären sie beispielsweise gutartige Dämonen,
so dürfte man ohne Extravaganz erklären, daß sie von ihren
96 Vorüberlegung

Konsumenten Besitz ergreifen und sich in ihnen wie Besat­


zer einrichten, die auf Dauer zu bleiben Vorhaben. Ohne
Zweifel wäre dies eine triftige Methode, die Beseelung des
infans aus seinem Umgang mit Dämonen abzuleiten. Eine
Seele bekommen hieße dann nichts anderes als durch Gei­
sterkontakt und produktive Einverleibungen unter eine gute
Obsession geraten. N un steht einer modernen psychologi­
schen Theorie der Begriff Besessenheit natürlich nicht zur
Verfügung, obwohl die Sachverhalte selbst - die Eröffnung
und Bevölkerung eines geteilten Intimraumes - von der Art
sind, daß eine diskrete Dämonologie als ihre glücklichste
theoretische Auslegung gelten dürfte.30 Gehen nicht wirklich
die Innendimensionen des Subjekts nur dadurch auf, daß
ihm von seinen frühesten Zuständen an Nymphenstimmen
aus dem Wasser etwas zuflüstern?31 Überzeugt sich nicht je­
des Kind, das nicht der Verwahrlosung verfällt, von dem
Vorteil, geboren zu sein, nur dadurch, daß eudämonische
Mamillen, gute Bonbongeister, verschworene Fläschchen,
trinkbare Feen diskret an seinem Lager wachen, um von Zeit
zu Zeit ins Innere stillend einzudringen? Wird nicht durch
eine Summe von vorteilhaften Invasionen im Individuum
eine Liebesgrotte ausgehöhlt, in der für das Selbst und seine
assoziierten Geister auf Lebenszeit gemeinsam Platz sein
wird? Setzt also nicht jede Subjektwerdung vielfältige ge­
glückte Durchdringungen, formative Invasionen und inter­
essierte Hingaben an bereichernde Eindringlinge voraus?
Und ist nicht in jede Regung offensiver Selbstsetzung ein
Zorn über versäumtes Genommenwerden eingeschossen?

30 Das schließt nicht aus, daß sich avancierte Theorien mit däm ono-
logischen Sprachspielen elegant verbinden; vgl. A rth u r Kroker, The
Possessed Individual. Technology and the French Postm odern, N ew
York 1992, besonders das V orwort S. 1-3: »virtual reality is w hat the
possessed. individual is possessed by.«
31 Vgl. 7. Kapitel, Das Sirenen-Stadium. Von der ersten sonosphäri-
schen Allianz, S. 487 ff.
Innenraum denken 97

Aus: Evandro Salles, Ten Dreams o f Oedipus

Wir werden in den acht Kapiteln dieses Buches eine lang­


same Durchfahrt durch die Gewölbe konsubjektiver Intimi­
tät beginnen. Dabei kommen der Reihe nach zur Sprache: die
Räume der hysterischen Herzlichkeit und das interfaziale
Feld, der magnetopathische Rapport in der Hypnose und die
amniotische Umhüllungsposition des Fötus, die plazentale
Doublierung und die Kulturgestalten der Doppelseele, die
psychoakustische Evokation des Selbst und schließlich auch
die theologischen Versuche, die Liaison zwischen Gott und
Seele auf eine intim-topologische Grundlage zu stellen. Die
Beobachtungen, die in all diesen Schichten und Wendungen
des gemeinsamen Innenraums gemacht werden, haben aber
nicht nur den Charakter von metaphorischen Konstrukten.
Das Interieur, von dem hier die Rede sein wird, ist von ande­
rer Struktur als jene »Halle des Gedächtnisses«, die Augusti­
nus Anlaß gab, darüber zu staunen, daß sich im mensch­
lichen Geist eine Dimension entdecken läßt, groß genug, um
die Kleinigkeiten der eigenen Lebensgeschichte ebenso auf­
98 Vorüberlegung

zubewahren wie das unermeßliche Wissen über Gott und die


Welt, das die Generationen vor uns angesammelt haben. Es
gleicht auch nicht jenem submarinen Teil des Eisberges, als
dessen Spitze die Tiefenpsychologien so gerne das mensch­
liche Bewußte ansprechen. Die Intimräume der Mikrosphä-
rologie sind weder die majestätischen Aulen noch die höh­
lenhaften Schlupfwinkel des Einzelbewußtseins, das sich im
Umgang mit sich selbst Raumbilder schafft, die geeignet
sind, sich zu erklären, was es mit seiner Ausgespanntheit
zwischen Größtem und Kleinstem auf sich hat.
Es geht bei dem, was hier das Intime heißt, ausschließlich
um geteilte, konsubjektive und inter-intelligente Innen­
räume, an denen nur dyadische oder mehrpolige Gruppen
Anteil haben, ja, die es nur geben kann in dem Maß, wie
menschliche Individuen durch enge Nähe zueinander, durch
Einverleibungen, Invasionen, Verschränkungen, Ineinander­
faltungen und Resonanzen - psychoanalytisch auch: durch
Identifikationen - diese besonderen Raumformen als auto­
gene Gefäße kreieren. Dieses intime Gewölbesystem als gan­
zes entspricht in keiner Weise dem Unbewußten der tiefen­
psychologischen Schulen, denn der Zugang zu ihm wird
weder durch eine besondere Technik des Zuhörens gewon­
nen noch durch die Unterstellung eines latenten Sinns, der
sich im gehemmten Redestrom manifestiert, noch durch die
Annahme einer unbewußten Wunschproduktion. Jeder Le­
ser kann sich ohne Mühe davon überzeugen, daß die Dimen­
sionen von Innenräumlichkeit, die in dieser Mikrosphärolo-
gie ausgebreitet werden, von himmelweit anderer Struktur
sind als die seriellen Dreizimmerwohnungen des Freudschen
Seelenapparats. Die philosophische Interieurforschung und
die Psychologie des Unbewußten berühren sich, wie man se­
hen wird, nur punktuell; wenn es im folgenden Anleihen bei
psychoanalytischen Vorstellungen gibt, so nur, weil das Ma­
terial es erlaubt und nahelegt, nicht weil die Schule für uns
eine Autorität darstellte. Sollten wir einen Genius für diesen
Innenraum denken 99

ersten Teil des Unternehmens »Sphären« aufrufen, so könnte


es vor vielen anderen Gaston Bachelard sein, der mit seiner
Phänomenologie der materiellen Einbildungskraft, insbe­
sondere mit seinen Studien zur Psychoanalyse der Elemente
einen Schatz an glänzenden Einsichten angelegt hat, auf die
immer wieder zurückzukommen ist. In seinem ideenschwe­
ren Buch La terre et les reveries du repos von 1948 hat der
Autor vielfältige Materialien zu den Träumen der materiellen
Intimität zusammengetragen: zu den Geburtshäusern und
den Traumhäusern, zu den Grotten, den Labyrinthen, den
Schlangen, den Wurzeln, und vor allem zu jenem Jonas-
Komplex, der jeden Menschen, der das Freie kennt, zugleich
in ein unverwechselbares Verhältnis zu einem ermöglichen­
den Innen-Dunklen versetzt. In diesem Werk bemerkt Ba­
chelard, daß jeder Mensch durch die bloße Tatsache, daß er
nach innen schaut, zu einem Jonas werde, genauer: Prophet
und Wal in einer Person. Der große Phänomenologe des er­
lebten Raumes hat nicht vergessen, den Grund hierfür zu
nennen.
»Das Unbewußte ist der Geschlossenheit des Kreises
so gewiß wie der geschickteste Geometer: Läßt man
den Träumereien der Intimität ihren Lauf,... so wird
die träumende Hand den ursprünglichen Kreis zeich­
nen. Es hat also den Anschein, als kennte das Unbe­
wußte selbst eine parmenideische Sphäre als sein Sym­
bol des Seins. Diese Sphäre besitzt nicht die rationalen
Schönheiten des geometrischen Volumens, dafür aber
die großen Sicherheiten eines Bauches.«32
Wir werden im folgenden versuchen, diese unentbehrlichen
Intuitionen weiterzuentwickeln. Aber wir werden sie auch
zum Zweck ihrer Entfaltung aufsprengen müssen, weil wir
zu erklären haben, warum die konsubjektive, intime Sphäre
zunächst durchaus keine euzyklische oder parmenideische

32 Ibid. (s. Anm. 27), S. 124 und S. 150.


IO O Vorüberlegung

Struktur besitzen kann: Die primitive psychische Kugel hat


nicht, wie die schöngerundete philosophische, einen einzi­
gen Mittelpunkt, der alles ausstrahlt und sammelt, sondern
zwei Epizentren, die sich durch Resonanz gegenseitig evo­
zieren. Ferner zeigt sich, daß das Innere der Seelengrotten
nicht immer nur ein O rt des ruhigen Glücks bleiben wird.
Der innerste Zugang zu deiner Lebenszelle gehört, wie wir
sehen, nicht selten einer Stimme, die die Möglichkeit deiner
Existenz erschweren oder verneinen will. Es bezeichnet das
Grundrisiko aller Intimität, daß uns der Vernichter gelegent­
lich näher kommt als der Verbündete.
IOI

K a p it e l i

H erzoperation
oder:
Vom eucharistischen Exzeß

M an hat das H erz als die Sonne, ja als


König begrüßt, w ährend man doch, wenn
man genauer zusieht, nichts anderes findet
als einen Muskel.
Niels Stensen, Opera philosopbica}}

ür Europäer, die auch an der Wende zum dritten Jahr­


F tausend sich unentwegt post Christum natum datieren,
zwingt es sich auf, die Rückfrage nach dem Grund des Inti­
men - falls von einem Grund zu reden der Struktur von In­
timität gemäß wäre - mit einer Erinnerung an das mensch­
liche Herz zu beginnen. Das Herz gilt, auch im Zeitalter
seiner Transplantierbarkeit, in den dominierenden Sprach-
spielen unserer Zivilisation noch immer als das Leitorgan der
verinnerlichten Menschlichkeit. Wie Humanität und Kor-
dialität nicht konvergieren sollten, bleibt für die primären
Intuitionen von Europäern kaum zu fassen. Daß die Asso­
ziation von Herz und innerstem Selbst keine anthropologi­
sche Universalie ist, lehrt allerdings schon ein flüchtiger
Blick in antike und außereuropäische Kulturen; nicht überall
und nicht zu allen Zeiten ist das Innerste des Menschen -
man könnte auch sagen die Quelle seines Selbstgespürs und
seiner Beziehungsfähigkeit - mit dem Herzen gleichgesetzt
worden. Die Auffassungen der Völker über den leiblichen
Sitz der Seelen divergieren in einem Ausmaß, das für euro-
33 B an d I,S . 168, zitiert nach: H einrich Schipperges, Die Welt des H er­
zens. Sinnbild, O rgan und M itte des Menschen, Frankfurt 1989,
S. 63-64.
102 Kapitel i

päische Kardiozentriker erstaunlich bleibt. Sie könnten sich


wohl mit traditionsbewußten Chinesen und Altägyptern
über die Herzmitte des Menschen halbwegs konsonant ver­
ständigen; mühevoller wären schon Gespräche mit Japanern,
die ihre Vorstellungen von der psychischen Zentralsphäre
mit zwei komplexen Ausdrücken, kokoro (Herz, Seele,
Geist, Sinn) und hara (Bauch, Leibmitte), wiedergeben;34
erst recht wäre die Kommunikation mit Kulturen wie denen
der Eskimo problematisch, die drei Arten von Seelen ken­
nen: die Schlafseele, die seitlich unter dem Zwerchfell ruht
und sich beim Aufstehen vom Körper trennt (weswegen man
am Morgen langsam machen soll), die Lebensseele, die am
Halsansatz zwischen Rumpf und Kopf residiert, und die
kleineren Lebensgeister, die in den Gelenken heimisch sind.35
Im Wirkungskreis des Christentums jedoch, der personalen
Religion par excellence, ist die Suche nach dem Beseelungs­
fokus unbeirrt auf das Herz»organ« zugegangen. Christliche
Sprachspiele und Gefühlsdisziplinen haben ein Universum
aus subtilen Physiologien hervorgebracht, die nichts anderes
im Sinn haben, als die Gleichung von Herz und Selbstre­
gungsmitte zu vertiefen und hervorzukehren; Herzlichkeit
steht bei christianisierten Europäern, besonders im Mittel-
alter und in der frühen Neuzeit, für affektive Kernsubjekti­
vität schlechthin. Die kordiale Subjektivität zeichnet sich da­
durch aus, daß sie von vorneherein das Festhalten am eigenen
Herzen zu einer Unmöglichkeit erklärt, allenfalls zu einer
pathologischen Verengung. Herzlichkeit ist als solche immer
schon komplizenhaft und gemeinschaftsbildend wirksam,
und folglich an concordia, Abstimmung der Herzrhythmen,

34 Vgl. G uido Rappe, Kokoro - Versuch einer A nnäherung an das Ver­


ständnis des H erzens in Japan, in: Das H erz im Kulturvergleich, hg.
von G eorg Berkemer und G uido Rappe, Berlin, 1996, S. 41-69; so-
wie: Karlfried Graf D ürckheim , H ara - Die Erdm itte des Menschen,
10. Aufl., Wien und M ünchen 1983.
3 5 Paul-Emile Victor, Boreal, Paris o. J.
Herzoperation I03
interessiert. Es drängt sich somit auf, unsere Annäherung an
den paarig-intimen Raum mit Reflexionen über herzge­
schichtliche Motive zu beginnen, die ihre Fundierung in
christlichen Mustern leiblich-geistiger Kommunion nicht
verleugnen können. Im Durchgang durch eine Folge von
Episoden, als deren Helden kommunizierende Herzen figu­
rieren, soll der Horizont einer radikalisierten interperso­
nalen Intimräumlichkeit, wie europäische Theologen, Philo­
sophen und Erzähler ihn gefaßt haben, in andeutenden
Vorgriffen sichtbar gemacht werden.

Zunächst geben wir das bekannte Herzmaere des Dichters


Konrad von Würzburg aus dem 13. Jahrhundert in einer kür­
zenden Paraphrase wieder; ihm folgt eine Episode aus dem
Leben der italienischen Mystikerin Katharina von Siena aus
der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts - wir zitieren die Le­
gende von ihrem mysteriösen Herztausch mit Christus in
der Fassung, die ihr Beichtvater Raimund von Capua in sei­
ner Vita der Heiligen überliefert hat. Als drittes Exempel
präsentieren wir einen Passus aus Marsilio Ficinos epoche­
machendem Kommentar zu Platons Symposion De amore
aus dem Jahr 1469 über den mechanischen Grund der sinnli­
chen Verliebtheit. Diese metaphysisch, religiös und psycho­
logisch orientierten Modelle für bipolare Herzbeziehungen
werden kontrastiert mit einer Passage aus La Mettries Trak­
tat vom Maschinen-Menschen aus dem Jahr 1748, in der sich
der schärfste Bruch mit der Tradition religiöser Innigkeits­
sprachen manifestiert. Synoptisch aufgefaßt, ergibt diese
Reihe einen vorläufigen Hinweis auf Umfang, Aufgaben und
Bruchstellen einer Theorie zwei-einiger Intimität.
Das Herzmaere, eine Versnovelle des Dichters Konrad
von Würzburg, der im Jahr 1287 als Zweiundsechzigjähriger
in Basel verstarb, ist eine erotisch-romantische Unterhal­
tungsdichtung, als deren Entstehungszeit man die sechziger
Jahre des 13. Jahrhunderts annimmt. Sie handelt von der zum
104 Kapitel

heroischen Scheitern bestimmten hohen Liebe zwischen ei­


nem Ritter und seiner Dame, die beide in Konrads Erzählung
namenlos und im Typischen bleiben. Konrads novellistischer
Einfall vom verspeisten Herzen geht wohl auf altindische
Motive zurück, die auch in der griechischen Pelops-Sage und
im Märchen vom Machandelboom wiederkehren. Die Ge­
schichte selbst war, nach den Auskünften von Mediävisten,
im mittelalterlichen Frankreich weit verbreitet, von wo aus
sie ganz Europa erobert hat; allein Boccaccios Dekameron
bietet von ihr zwei Varianten.36 In Konrads Version wird die
Geschichte von der kannibalischen Herz-Kommunion zum
Instrument einer minne-romantischen Restauration um­
funktioniert. Der Dichter greift das Motiv auf, um hochmin­
nehaft-religiöse Gesinnungen nostalgisch zu verherrlichen
zu einer Zeit, in der Bürger und Ritter längst begonnen hat­
ten, einander im mittelmäßigen Konsensus zu signalisieren,
daß die Liebesart der edlen Seelen für ihresgleichen zu hohe
Ansprüche stelle.
Ein Ritter und seine Dame sind einander nach den
Gesetzen hoher Minne zugetan; sie hatten, so heißt es,
ihr Leben und ihre Seelen (muot) so ineinander verwo­
ben, daß das Innerste der beiden ganz eins {ein dinc)
geworden seien. (Vers 30-32) Das legale Band zwi­
schen der Dame und ihrem rechtens angetrauten Gat­
ten jedoch läßt alle Hoffnungen der Liebenden auf
Erfüllung scheitern; so wird für beide, wie es das
Drehbuch des Liebesdramas vorsieht, ihre innige Ver­
bindung selbst zum Grund von Qual und Untergang:
Als der eifersüchtige Gemahl auf das Verhältnis zwi­
schen den beiden aufmerksam wird, faßt er den Plan,
sich mit seiner Frau auf Pilgerfahrt zum heiligen Grab
zu begeben, um die Liebenden einander zu entfrem­
den. Die Dame überredet ihren Ritter, an ihrer Stelle

36 Erste und neunte Geschichte des Vierten Tages.


Herzoperation I05

»Amour« legt das Herz des Königs in die Hände von » Vif-Desir«, aus dem
Traktat des Königs Rene, Livre du Cuer dAm ours espris (Buch des von
Liebe ergriffenen Herzens), Miniatur eines unbekannten Illustrators, 1457

die Reise in den Orient zu übernehmen. Gehorsam ge­


gen die Dame, die er seine Herrin nennt, willigt der
Ritter in die bittere Aufgabe ein; als Liebespfand über­
reicht die Dame ihm einen Ring von ihrer Hand, der
seine Reise begleiten soll. Im fernen Land mauert der
melancholische Ritter sein qualvolles Leiden in sein
Herz ein (Vers 244-45), und nach einer Phase sehn­
suchtsvollen Siechtums stirbt er in der Fremde. Vor
seinem Tod hatte der Ritter seinem Knappen aufgetra­
gen, ihm das Herz »blutig und trauerfarben« aus dem
Leib zu schneiden und es, gründlich einbalsamiert und
sorgfältig in einem Schrein verwahrt, zusammen mit
dem Ring, gleichsam der Erkennungsmarke seines
io 6 Kapitel I

Herzens, zu der Dame im fernen Abendland zurück-


zubringen. Als der Knappe mit dem balsamierten Her­
zen die Burg der Dame erreicht hat, wird er von dem
Burgherren, dem Ehemann, gestellt und nach dem In­
halt des kostbaren Kästchens gefragt. Nachdem er
durch den Anblick von Herz und Ring begriffen hatte,
was hier vorlag, läßt der Mann das Herz von seinem
Koch als Speise zubereiten und es seiner Gemahlin
frisch auftragen. »Frau, sprach er zu ihr im süßen Ton,
das ist eine köstliche (deine) Mahlzeit, die sollst du al­
lein verzehren, weil du sie nicht teilen kannst.« (Vers
426-29) Als nach dem Mahl die Dame bekennt, daß sie
nie Köstlicheres gegessen habe, verrät ihr der Ehemann
das Geheimnis des Rezepts. Bei seinen Worten erkaltet
das Herz in der Brust der Frau, Blut stürzt aus ihrem
Mund, unter Qualen leistet sie das Gelöbnis, nach die­
ser edelsten aller Mahlzeiten werde sie nie wieder an­
dere Speise berühren. Ihr Herz bricht auf der Stelle,
und indem sie stirbt, wiegt sie, wie der Dichter sagt,
mit schwerem Gewicht all das auf, was ihr Geliebter
ihr vorgeschossen hatte. Das Gedicht endet mit einer
kulturkritischen Mahnrede in liebesdürftiger Zeit: In­
dem er an die Ideale der hohen Minne erinnert, preist
Konrad die beiden Liebenden als Exempel vollendeter
gegenseitiger Hingabe.
Die Novelle bezeugt, wie das klassisch metaphysische
Schema der Einung aus der Zweiheit in die weltliche Erzähl­
kultur der Ritterzeit eingedrungen ist. Daß im profanen
Raum die anspruchsvollste Denkfigur der mystischen Theo­
logie in einer so drastischen Transposition erscheinen konnte;
daß Liebesverhältnisse zwischen Mann und Frau in Analogie
zur mönchischen und mystischen Unierung von Gott und
Seele modelliert werden durften: dies war die gefährlich
großartige Errungenschaft der mittelalterlichen arabisch-
proven9alisch inspirierten höfischen Liebeskultur. Zu deren
Herzoperation 107

Wagnissen gehören die Parallelführung zwischen erotischen


und christologischen Sprachspielen und die Überhöhung des
sexuellen Begehrens durch die metaphysische Einungs-Idee.
Was hier zwischen den Liebenden als Herzminne aus der
Ferne und als Herzverzehr in nächster Nähe vollzogen wird,
transponiert das Abendmahl in eine Dimension hybridisier­
ter Intersubjektivität; das gekochte Ritterherz bildet ein prä­
zises Äquivalent zu der Hostie, über der die Verwandlungs­
worte hoc est corpus meum. gesprochen werden. Die Küche
wird, anstelle des Altars, zum O rt der Transsubstantiation.
Mit seiner Herzgabe stiftet der Ritter, von seinem Dichter se­
kundiert, eine häretische Variante der Eucharistie. Er bekräf­
tigt mit diesem Akt die These, daß Lieben bedeutet, sich als
Selbstoblate dem Verzehr durch den Anderen darzubringen.
Die Oblation gehört aber nicht zum Eros als solchem, son­
dern zur imperialen und feudalen Idee des Dienstes, und nur
wenn, wie im europäischen Mittelalter, Dienen und Lieben
als Urhandlungen der Devotion miteinander radikal legiert
worden waren, konnte die Herzhingabe als gültiger eroti­
scher Rekord verzeichnet werden. Im höfischen Spiel - und
der H of ist in erster Linie eine Versammlung von Dienstleu­
ten - darf sich die Spendung des eigenen Herzens an die ein­
zige Kommunikantin als ein bewunderswert ritterlicher Akt
präsentieren, der sich einer neuen, kühn literarisierten H y­
per-Orthodoxie erotischer Devotion zurechnet. Das Minne­
gesetz hat die blasphemische Gewagtheit der eucharistischen
und einungsmystischen Mann-Frau-Allianz neutralisiert
und mit dem tolerablen Nimbus edelster Höflichkeit umge­
ben. Wenn in den Einsetzungsworten des Abendmahls von
dem Brot gesagt wurde, dies ist mein Leib, so sagt die Novelle
von dem balsamierten, gekochten und gegessenen Herzen:
Dies ist meine Liebe. Folglich geschieht der Frau durch die
zynische Küchenlist des Ehemannes kein Unrecht. Im Ge­
genteil, auch als ein unwürdiger Priester kann der eifersüch­
tige Gatte ihr die Herz-Hostie zubereiten und reichen lassen,
io8 Kapitel

ohne daß ein Mangel an sakramentaler Gültigkeit aufträte.


Der Verzehr durch die Dame ist das Angemessenste, was mit
einem Herzen geschehen konnte, das dem vollkommenen
Dienst gewidmet war. Wozu sonst ist es in seinem Hostien­
schrein vom heiligen Grab bis in die europäische Burg zu­
rückgereist, wenn nicht, um bei IHR zu sein, natürlich nicht
ohne Begleitung des beweiskräftigen Ringes, der die Union
der Liebenden im gemeinsamen Beseelungskreis bezeugt.
Zu ihrer Zeit kam die Geschichte vom verzehrten Herzen
gerade recht, um auf eine von den höfischen Minnespielern
soeben entdeckte Verlegenheit zu antworten: daß es für
vollkommene Liebe, wie sie hier schon am Anfang der
Geschichte festgestellt wird, keine Steigerung und keine
Zukunft gibt, allenfalls Abspannung durch physische Erfül­
lung. Zwei Auswege stehen offen, um der unmenschlichen
Sterilität des erotischen Idealismus zu entgehen - der eine
führt in die monströse Exaltation, der andere in die Lizensie-
rung der niederen Minne. Daß beide Wege ihre Geher fan­
den, beweist die spätmittelalterliche Literatur in einer Fülle
von Varianten. Wer auf Steigerung setzt, wie der neokonser­
vative Dichter, der Unterhaltung durch Faszination mit mo­
ralischer Bekehrung verbinden will, muß die kannibalische
Kommunion als ein gültiges Verfahren gelten lassen, die Ver­
einigung der Liebenden zu einem wilden Abendmahl zu
überhöhen. Es ist nicht ausgeschlossen, daß dieser Exzeß an
eine vergessene Geburt des menschlichen Innenraumbe­
wußtseins aus der Anthropophagie erinnert. Nach Meinung
mancher Anthropologen verweist die Vorstellung von einem
heimlich-unheimlichen Innenraum im menschlichen Körper
zurück auf eine nahezu spurlos verschwundene archaische
»kannibalische Ordnung«, in der das Böse, das sich ins­
besondere unter des Gestalt des störenden Mitmenschen ma­
nifestierte, bei einem gemeinsam genossenen anthropo­
phagischen Mahl in den Bäuchen der Urhordenmitglieder
»interniert« worden sein soll.37 Immerhin hat auch das
Herzoperation 109

christliche Sakrament die Nachbarschaft zu solchen schrek-


kensvollen Archaismen nicht gescheut: Das gemeindebil­
dende Gott-Essen eröffnet für die christliche Welt eine Mög­
lichkeit, das Unzulässige in sublimierten Formen reuelos zu
begehen. Bei Christen wird die Einverseelung des Gottes seit
jeher ohne Scheu von einer Einverleibungsgeste unterstri­
chen; sie verzehren das, wovon sie selbst verzehrt und
gesammelt zu werden wünschen. Wie immer man über die
latenten Bezüge des Herzmaere zu eucharistischen, theopha-
gischen und anthropophagischen Praktiken denken mag: Es
läßt sich aus der Geschichte selbst eine heterodoxe Stimme
heraushören, die den manifesten erbaulichen Sinnabsichten
der Erzählung widerspricht. Daß Leid und Tod der angemes­
sene Lohn der wahren Liebe sein sollen und daß eine herz­
verzehrende Kommunion Liebestage und -nächte des Paares
vertreten muß - dies übt in seiner abgekarteten Ungereimt­
heit auf das höfische Publikum der Zeit eher einen morbiden
Reiz aus, als daß es zu analogen Sublimationen anspornen
könnte. Die Hörer lauschen mehr dem beziehungsreich
Grauenvollen, als daß sie der übersteilen Erbaulichkeit nach­
gäben. Wenn das Herz des Geliebten nicht lebend zu seinem
Gegenstück in der Brust der Frau findet, sondern es zu einer
unio mystica mit ihren Eingeweiden bringt, so hört das welt­
liche O hr aus solchen Bewegungen nicht nur die subversiven
christologischen Parallelismen heraus, sondern weidet sich
vor allem an der novellistischen Monstrosität einer solcher
Magentheologie. In ihr erscheint gerade die Liebe als die Re­
ligion der verkehrten Welt. Das lehrhaft Monströse zeigt an,
wie der Weg zur zwei-einigen Intimität in der Hochkultur
von Fehlumarmungen erschwert wird. Aber gehört es nicht
zu erotischer Erfahrenheit, zu wissen, daß das Hineinwollen
in den anderen sich in den Eingängen irren kann?37

37 Vgl. Jacques Attali, L’ordre cannibale. Vie et m ort de la medecine,


Paris 1979, besonders S. 21-36.
I IO Kapitel

Bei dem folgenden Zeugnis ist die intime Transaktion zu ei­


nem direkten Austausch von Herz gegen Herz gesteigert.
Katharina von Siena, die stigmatisierte Patrona Italiae,
wurde 1347 als fünfundzwanzigstes Kind eines armen Fär­
ber-Ehepaares zu Siena geboren und verstarb im Jahr 1380
im jesuanischen Idealalter von dreiunddreißig Jahren. Wenn
die Dominikaner-Tertiarin an der Stelle ihres eigenen Her­
zens von dem geoffenbarten Christus das seine eingesetzt
erhält, so spiegelt dieser Tausch nicht nur die Herz-zu-Herz-
Konversation der religiösen Poesie-Alben wider. Die über­
lieferte Szene will eine existentielle Totaloperation bezeu­
gen, die nicht gedacht werden kann ohne das entzückte
Grauen einer buchstäblich gemeinten mystisch-physiologi­
schen Verwandlung. Wir zitieren den entscheidenden Passus
aus Raimund von Capuas La vita di Santa Caterina da
Siena,38
»Katharina betete eines Tages inbrünstiger als sonst das
Gebet des Propheten: »Schaffe mir, o Gott, ein reines
Herz und einen neuen, festen Geist< (Ps 51, 12). Ihre
besondere Bitte an Gott war, er möchte ihr ihr eigen­
sinniges Herz wegnehmen. In einer Erscheinung er­
leichterte er ihr bedrängtes Gemüt. Sie sah, wie ihr ewi­
ger Gemahl in der gewohnten Weise auf sie zutrat. Da
öffnete er ihre Brust und nahm ihr das Herz heraus, so
daß sie ohne Herz zurückblieb. Die Erscheinung war
deutlich gewesen und gab ihr das bestimmte Gefühl,
ohne Herz zu sein. In der nächsten Beichte erzählte sie
es dem Beichtvater. Der lachte laut und sogar etwas är­
gerlich heraus. Katharina bekräftigte es jedoch und
sagte: »Doch, gewiß, mein Vater, soviel ich spüren kann,
habe ich kein Herz mehr, jedenfalls fühle ich es nicht
mehr schlagen. Denn der Herr ist mir erschienen und
hat mir die linke Seite meiner Brust geöffnet und hat
38 Raim und von Capua, Das Leben der hl. Katharina von Siena, einge­
leitet und übersetzt von A. Schenker, D üsseldorf 1965, S. 123b
Herzoperation III

* n - i v

Anonymus (15. Jahrhundert), Lo scatnbio dei cnori, Federzeichnung aus


dem Libellus de Supplemento, Stadtbibliothek Siena

daraus mein Herz genommen und ist mit ihm weg­


gegangen. <Ohne Herz könne sie gar nicht leben, hielt
ihr der Beichtvater entgegen. Katharina bemerkte dazu
bloß, daß bei Gott nichts unmöglich sei, und machte
aus ihrer Überzeugung keinen Hehl, sie besäße kein
Herz mehr. Während einiger Tage beteuerte sie immer
wieder und wieder, sie lebe ohne Herz. Da blieb sie
eines Morgens in der Dominikanerkirche zurück, in je-
1 12 K apitel i

ner Seitenkapelle, die dem Gottesdienst der Bußschwe­


stern diente. Alle anderen Schwestern hatten die Ka­
pelle verlassen, und Katharina war aus ihrer gewohnten
Entrückung zu sich gekommen und schickte sich an,
heimzugehen. Da umzuckte sie jäh ein himmlisches
Licht, und mitten darin stand der Herr, seine ehrwür­
digen Hände hielten das purpurstrahlende Herz eines
Menschen umschlossen. Erbebend fiel Katharina bei
dem Einfall der Helligkeit und bei der Begegnung mit
ihrem Schöpfer auf die Knie nieder. Der Herr neigte
sich zu ihr herab, öffnete abermals die linke Seite ihrer
Brust und bettete behutsam das Herz, das er in Händen
hielt, hinein. Er nahm dabei das Wort und sagte zu ihr:
>Schau, meine liebe, teure Tochter, ich habe dir dein
Herz genommen, um dir dafür meines zu geben. So
wird es dir zu einem dauernden Leben schlagen.<«
Auch hier werden nach dem Gesetz der Ähnlichkeit zwei in­
time Größen im gewagten Tausch einander ebenbürtig ge­
macht. Die Erhöhung der Einsätze gegenüber dem Herz-
maere springt ins Auge: Hier wird nicht Menschenleben
gegen Menschenleben getauscht, sondern Menschenherz ge­
gen Gottesherz. Geht man von der Standardsituation des
metaphysischen Ordo aus, so kann Menschliches mit Göttli­
chem nie auf gleicher Ebene, also in direkter Korrespondenz,
verkehren, weil der Riß im Sein eine unüberwindliche
Asymmetrie zwischen dem schaffenden Ursubjekt und den
Kreaturen bewirkt. In der mystischen Ausnahmesituation
erscheint das metaphysische Gefälle zwischen den Polen
gleichwohl nivelliert. Der Mensch ist jetzt nicht mehr nur
das Werk oder der Vasall Gottes; der Rückstand der einzel­
nen Seele gegenüber ihrem jenseitigen Grund scheint auf
mysteriöse Weise aufgeholt; durch eine schwer analysierbare
Vertiefung in innere - hier zählt der Komparativ: weiter in­
nere - Verhältnisse wird der Mensch mit einem Mal Genosse,
Ko-Subjekt, ekstatischer Komplize und gleichaltriger Mittä-
Herzoperation 113

ter des Absoluten. Dieser Aufstieg zur Ebenbürtigkeit hat


zur Voraussetzung, daß das menschliche Subjekt ein Über­
maß an Verlangen nach der absoluten Ichheit des Anderen in
sich hegt, ein Verlangen, das nicht nicht erfüllt werden
könnte. Übermäßig muß das Begehren sein, weil ohne Uner­
sättlichkeit der Durchbruch durch die fetischistischen O b­
jektvorstellungen, die groben wie die subtilen, von dem be­
gehrten höchsten Gut nicht bis zum Äußersten vollzogen
werden kann. Die erbauliche Literatur ist hierin förmlich:
Erst wer sich Gott als reinste Subjektivität »vorzustellen«
vermag, gelangt in die heiße Zone des restlos entdinglichten,
unvorgestellten Subjektseins. Folglich läßt sich das Höchst­
subjekt Gott nur durch Übernahme seiner Seinsweise, ohne
Vorstellung irgendeiner Äußerlichkeit, »in Erfahrung« brin­
gen. Katharinas herzmystische Liaison mit ihrem Herrn ge­
rät immerhin in die Nähe solcher objektloser Mysterien; zu­
gleich manifestiert sich durch die drastische Herzoperation
ein grotesker Physiologismus, der dem hysterischen Aufwal­
len näher steht als der ungegenständlichen Versenkung.
Die Hysterie ist, in klinischer Sicht, nicht nur bei Religiö­
sen, die Fähigkeit, Redewendungen zu somatisieren; man
könnte in philosophischer Perspektive sagen, die Hysteri­
schen sind Individuen, die mit ihrem Zur-Welt-Kommen so­
lange warten, bis sie in überhitzte Sprachspiele heraustreten
können; ihre Existenzweise ist die metaphysische Neurose
schlechthin. Die Hysteriker übersiedeln gleichsam ohne
Zwischenspiel, oder nach einer langen Latenzphase im U n­
auffälligen, vom Mutterleib ins Haus der Sprache - oder in
die Halle der Töne und der großen Klanggebärden. In Spra­
che und Geste wollen sie die vorsprachliche Verlorenheit, das
Infans-Trauma, überspringen und ungeschehen machen. Da­
her vielleicht ihr Vermögen, Redewendungen im eigenen
Körper zum Glühen zu bringen. N un war die sprachliche Fi­
gur, die bei Katharina zur körperlichen werden sollte, ein
theologisch äußerst voraussetzungsvolles Gebet um Entlee-
U4 Kapitel i

Scambio del cuore, Altarbild, ca. 1463, Brüssel, Sammlung Stöcklet


Herzoperation 115

rung vom Eigenen gewesen: Ganz konventionell und zu­


gleich erregt persönlich hatte die junge sienensische Nonne
ihren Herrn ersucht um die Wegnahme von allem, was an ih­
rem inneren Sein ihr selbst gehörte. Sie verlangte danach,
konform mit den ältesten Sprachspielen der neoplatonischen
und monastischen Askese, sich gleichsam von den eigenen
Eingeweiden loszusagen, um im physischen wie im psycho­
logischen Sinn leer zu werden. Ihr Gebet kommt dem
Wunsch gleich nach Entleerung von aller Wirklichkeit, die
nicht geglückte Symbiose wäre. Seit jeher will die Mystik die
vollgestopfte Intimzone des Selbst entrümpeln, deren In­
halte den hysterischen Hunger zwar dämpfen, doch nie be­
friedigen können. Katharinas Hingabe hat also den Sinn, in
ihr ein Vakuum zu schaffen, das dem mystischen Bräutigam
Gelegenheit zu einer tiefen Invasion geben soll.
Es wäre verfehlt, hier den vielbefahrenen Ausfallstraßen
der psychoanalytischen Sexualkunde zu folgen, die auch im
Archaischen das Genitale ansteuert. Der Eingriff des Herrn
in die linke Seite der Nonne ist eben kein Koitus durch die
Rippe. Katharinas großer innerer Anderer ist folglich auch
nicht der Penetrator, der sich ungewöhnliche Eingänge in
weibliche Hohlräume ersonnen hätte. Katharina ihrerseits ist
keine Perverse, die einen himmlischen Liebhaber zum Herz­
verkehr verlockt. Der Herr, der ihr Herz nimmt, antwortet,
zumindest in der ersten Phase des Dramas, lediglich auf das
unwiderstehliche Drängen der Nonne, sich zu entleeren, um
besser in ihr Gegenüber einzudringen. Einmal geleert, ge­
höhlt, ausgeweidet, entherzt, geht von ihrem Hohlraum ein
Füllungssog aus, dem auch, nein, gerade der Gott in ihr nicht
widersteht.39
Sobald das Christusherz in Katharina implantiert ist, wird

39 Erinnern w ir daran, daß Daniel Paul Schreber in seinen D enkw ür­


digkeiten eines N ervenkranken berichtet, wie er nachhaltig von
göttlichen »Strahlen« penetriert w urde und zeitweilig der Ü berzeu­
gung war, keine Lungen mehr zu besitzen.
II 6 Kapitel i

klar, daß es von Anfang an nicht um ihre eigene Intimzone


gegangen war; sie will nicht so sehr das Andere in sich auf­
nehmen als vielmehr sich selbst in die Aura des Anderen tau­
chen. Das Leibesinnere der Nonne dient als physiologische
Bühne, auf der ihr Wunsch nach dem Bad im Inneren des
Andern sich aufführt. Ihr Begehren geht darauf aus, in die
Höhle einer gemeinsamen Selbstheit einzudringen. Um dies
zu erreichen, muß sie das Hohle in sich selbst somatisieren;
sie schafft im eigenen Leib einen Raum, dessen Sog das Le­
ben des Lebens, das höchste Subjekt, zielbewußt herbei­
zwingt.
Auch bei Katharina ist offensichtlich eine Parodie des
Abendmahls im Spiel, insofern sie den Christus dazu bewegt,
seiner Anbeterin ein Sondersakrament zu spenden: Hoc est
cor meum. Im übrigen bleibt zu bemerken, daß der selige
Raimund von Capua, der Beichtvater und Biograph der Hei­
ligen, der ihr als spiritueller Supervisor zugeordnet war, auf
der interpersonalen oder interdeliranten Ebene der stützende
Komplize und stimulierende Mitwisser von Katharinas Ex­
zessen gewesen zu sein scheint; seit jeher war das katholisch
monastische Milieu ein Nährboden für die folie ä plusieurs;
zu dieser gehört auch das Geflüster der Mitschwestern, die
im Bade die Narbe an Katharinas linker Seite gesehen haben
wollten. Indem Raimund die kränkelnde hyperaktive Eksta­
tikerin überwachte, beneidete, vergötterte, beschrieb, wurde
er zum stillen Teilhaber an ihrer Himmelfahrt in die jesuani-
sche Symbiose. Wie alle Heiligenbiographen, die ihre Partner
zu Lebzeiten sorgenvoll beobachten und post mortem ver­
klären, zweigte er aus Katharinas Kampf um die Einswer-
dung Gewinne ab für sein eigenes Begehren nach der höch­
sten Intensivierung. Seiner Partizipation an Katharinas
Partizipation am Herrn der Innenwelt verdankt die Nach­
welt eines der aufschlußreichsten Dokumente zur Phänome­
nologie des Heiligen in spätmittelalterlicher Zeit. In seiner
Biographie gibt er unter anderem ein singuläres Still-Phan-
Herzoperation
HZ
tasma zu Protokoll, nach dem sich das verwundete Herz
des Herrn in eine überfließende Mamma verwandelt haben
soll. In einer früheren Vision soll Christus Katharina an sich
gezogen haben, damit sie von seiner durchbohrten Seite
trinke:
»Als sie begriff, daß sie am Rohr des Lebensbrunnens
trinken sollte, setzte sie ihre Lippen an den unaus­
sprechlichen Strahl und ließ den geheimnisvollen
Trank in ihre Kehle rinnen.«40
Das suggestive Bild von der Stillung der Nonne an der spru­
delnden Blutquelle mag daran erinnern, daß jedes tiefere
Eindringen in die Intimwelt die Verwandlung getrennter
Festkörper in mischbare und inkorporierbare Flüssigkeiten
voraussetzt.

Der Hinweis auf die Innenwelt als einen Mischkrug für ver­
flüssigte Selbste läßt sich durch das dritte Beispiel in unserem
Kurs zur Erkundung bipolarer Intimräumlichkeit weiter
ausbauen; es versetzt uns - ein Jahrhundert nach Katharina
von Siena - ins Zentrum der florentinischen Platon-Renais­
sance, deren Schlüsselfiguren Cosimo von Medici, der 1464
verstarb, und sein junger Protege Marsilio Ficino - 143 3 -
1499 ~ gewesen sind. Cosimo hatte Ficino 1462 ein Haus in
Careggi bei Florenz geschenkt, mit dem Auftrag, die herme­
tischen Schriften und das Corpus Platonicum aus dem Grie­
chischen zu übersetzen. Aus dieser Allianz zwischen einem
Fürsten und seinem Philosophen ging nicht nur die erste
neuzeitliche Ausgabe der Dialoge Platons für die westliche
Kultur hervor; im Jahr 1469, gleichzeitig mit der Vollendung
des Ubersetzungszyklus, lag auch der erste von Ficinos ein­
flußreichen Platon-Kommentaren vor, jenes Commentarium
in convivium Platonis de amore, das für die neuzeitliche Auf­
fassung der sokratischen oder platonischen Liebe von nie zu

40 Raimund von Capua (s. Anm. 38), S. 118.


118 Kapitel

überschätzender Bedeutung wurde. Ficino erklärte in seinen


Widmungen, daß er hoffte, mit dieser Schrift eine liebevolle
Theorie der Liebe verfaßt zu haben; wie ein theoretisches
Amulett möge das Buch selber dafür sorgen, daß niemand es
verstehen könnte, der es nur flüchtig oder mit Widerwillen
läse.
»Denn den Eifer der Liebe versteht man nicht mit an­
maßender Oberflächlichkeit, und die Liebe selbst er­
faßt man nicht mit dem Haß.«
Mit eigenen Mitteln wollte das Werk den Sperrkreis stiften,
in dem es von verwandten Seelen aufgenommen und ange­
eignet werden kann. Darum behauptet Ficinos Buch Uber
die Liebe einen frühen Ehrenplatz in der Literaturgeschichte
des Sympathiezaubers. Es bringt die Einsicht zur Geltung,
daß große Bücher und ihre Sympathisanten in einem eigenen
Resonanzkreis existieren, an dem die weitere Öffentlichkeit,
die sie dem Anschein nach gleichwohl ebenso lesen könnte,
unberührt vorbeigeht. Das große Buch, wie später das emi­
nente Kunstwerk, zieht seine Bahn durch den neuzeitlichen
öffentlichen Raum und erweist sich als eine sphärenbildende
Macht eigenen Ranges. Wo eminente Werke sich großzügig
aufblättern, dort schließen sich die Ungeeigneten selbst übel­
launig aus.
Was Ficino Kommentar nennt, ist ohne Zweifel das Ge­
genteil dessen, was Philologen seit dem 19. Jahrhundert un­
ter diesem Begriff verstehen wollen. Ficino bietet keine
dienstbereite Wort-für-Wort-Erläuterung des alten Textes,
sondern eine rücksichtslose Umschrift des Originals, die
sich die Freiheit nimmt, die sieben Reden des platonischen
Gastmahls durch ebensoviele Gegenreden moderner Teil­
nehmer an einem zeitgenössischen Gastmahl zu überblen­
den. Dieses findet an Platons Geburtstag, dem 7. November,
zu Careggi statt, mit dem Anspruch, einen antiken akademi­
schen Brauch nach zwölfhundertjähriger Unterbrechung
wiederzubeleben. Das Kommentieren erweist sich hier als
Herzoperation ii 9
ein Verfahren, den Wein der Neuzeit in antike Schläuche zu
füllen. In der siebten Rede, gehalten von Cristoforo Marsu-
pini, der die Rolle des Alkibiades, Platons Schlußredners, zu
spielen hat, finden wir den Passus, der unsere herzmytholo­
gischen Erkundungen um ein eklatantes Muster bereichern
wird. In ihm kommt die Sprache auf die physische Liebe als
eine stoffliche Vergiftung und eine Bezauberung aus der
Ferne.
»Stellt euch Phaidros aus Myrrhinus vor und den
Lysias aus Theben, den Redner, der in Phaidros glü­
hend verliebt ist. Mit offenem Mund starrt Lysias dem
Phaidros ins Antlitz. Dieser nun fixiert den Funken­
strahl (scintillas) seiner Augen auf die Augen des Lysias
und sendet zugleich mit den Lichtfunken seinen Le­
bensgeist (Spiritus) hinüber. So wird der (Blick-)Strahl
des Phaidros mühelos mit dem (Blick-)Strahl des
Lysias vereint, und der Lebensgeist des einen leicht mit
dem Lebensgeiste des anderen verbunden. Der Blut­
dunst (vapor), der vom Herzen des Phaidros erzeugt
wird, strebt sofort (durch den Blickstrahl) in die H erz­
gegend des Lysias, wo er sich durch dessen massivere
Teile kondensiert (fit compactior) und wieder zu Blut
wird, und zwar zu dem Blut des Phaidros, das es an­
fangs war. Und so befindet sich - wunderbarerweise -
das Blut des Phaidros im Herzen des Lysias. Folglich
brechen Lysias und Phaidros gegenseitig sofort in Rufe
aus, Lysias, indem er ausruft, >Phaidros, o mein Herz,
mein liebstes eigenes Innerstes« (carissima viscera), und
Phaidros: >Lysias, o mein Lebensgeist, oh mein Blut.«
So folgt Phaidros dem Lysias, weil sein Herz den Blut­
saft zurückfordert, und Lysias kann sich nicht von
Phaidros trennen, weil die Blutflüssigkeit in seinem
Herzen nach ihrem ursprünglichen Gefäß (vas pro­
prium) verlangt und an seinen eigentlichen Wohnort
(sedem) zurückwill. Jedoch ist die Anhänglichkeit des
120 Kapitel i

Lysias an Phaidros größer, denn leichter kann ein Herz


kleine Mengen seines Blutes entbehren, als daß das
Blut ohne sein ursprüngliches Herz leben könnte.«41
Man erkennt in diesem Passus ohne Mühe, wie das Modell
des nachbarschaftlich-innigen Zwei-Herzen-Raums durch
eine quasi telepathische Komponente überlagert wird; diese
macht sich die platonischen Konzepte vom aktiven Licht-
und Blickstrahl zunutze, um zwischen den Herzen der Lie­
benden eine so bizarre wie konkrete Verzauberung, mit dem
Wort des Autors: die fascinatio, zu etablieren. Nach Ficino
erscheint die Verliebtheit als die akute Form einer malignen
Faszination; diese ist kein Spuk im leeren Raum, sondern Er­
gebnis einer durch und durch subtilphysiologisch bedingten
Wirkung in die Ferne.
Um den telepathischen Transport plausibel zu machen,
stützt sich Ficino auf die platonische Radiologie - jene erste
theoretische Fassung des Gedankens einer Verursachung
durch Strahlung, die auf das berühmte Sonnengleichnis in
der Politeia zurückverweist.42 Ebenfalls konventionell ist die
Auffassung vom Herzen als der Sonne der inneren Organe:
sie überträgt das platonische Bild vom Königtum der Sonne
in der Welt der astralen Körper auf das Herz als den Monar­
chen in der tierisch-menschlichen Körperwelt. Platonische
Könige sind naturgemäß Sonnenkönige; de facto herrschen
sie als Herzkönige, die auch die fernsten Punkte an die kar­
diale Ausströmungsmitte binden. In dieser halbmythischen
Physik üben die Sonne wie das Herz Herrschaft im Modus
der Strahlung aus; alle Emanationismen - Modelle von der
Ausströmung urbildlicher Kräfte in leere oder von gestaltlos

41 Marsilio Ficino, U ber die Liebe oder Platos Gastmahl, Lateinisch-


D eutsch, H am burg 1984, S. 326 und 328, Ü bersetzung teilweise ver­
ändert.
42 Z ur platonischen Strahlenkunde vgl. Sphären II, 5. Kapitel, Deus
sive sphaera, und 7. Kapitel, Wie durch das reine Mittel die Sphären­
mitte in die Ferne wirkt.
Herzoperation 12 1

Telepatische Strahlungskausalität: Albrecht Altdorfer, Die Stigmatisierung


des Franz von Assisi, 1507, Stiftung Preußischer Kulturbesitz

dunklen Körpern erfüllte Räume - gehen auf Platons Kon­


zept der solaren Monarchie zurück. Im Bild von der Königs­
herrschaft der Sonne hat der Denker es unternommen, die
Verursachung des sinnlich erfahrbaren Wirklichen durch das
übersinnliche Höchstwirkliche, das heißt das ausströmende
Gute, vorstellbar zu machen. Wo das Sonnenmodell auf das
Herz übertragen wird, dort werden dem Herzen emanative
Eigenschaften zugesprochen.
122 Kapitel i

Diese Radiokratie des Herzens bestimmt Ficinos eroti­


sche Theorie; sie inspiriert das unvergleichliche Phantasma
von der telepathischen Bluttransfusion durch die Phaidros-
Augen in das Lysias-Herz. Tatsächlich stellt sich Ficino die
Augen des Geliebten vor wie einen aktiven Radiostrahl, der
ins Auge des Liebenden ein kleines reales Blutquantum sen­
det. Diese Blutsendung wird durch den beachtlichen Um ­
stand ermöglicht, daß auf dem Weg vom Herzen zum Auge
des Senders das Blut gleichsam in Dampf oder feinen Dunst,
vapor, subtilisiert wird, so daß die Vorstellung, es könne von
einem von Lebensgeist (Spiritus) gefüllten Blickstrahl außer­
körperlich transportiert werden, nicht mehr als völlig absurd
erscheinen muß. Was diesen Weg vom Blut zur Dunstform
und zurück zum Blut plausibel macht, ist das bekannte Mu­
ster der Flüssigkeitsverdampfung und ihre Umkehrung
durch Destillation. Im Empfängerauge kann sich der Vapor-
nebel zwischen Auge und Herz wieder wie ein Kondensat
absetzen, so daß zuletzt authentisches Phaidrosblut ins
Lysiasherz gelangt. Dort angekommen, löst das Blut teilha­
bemystische Wirkungen aus: Es entwickelt am fremden O rt
von sich aus eine Art Sehnsucht nach dem Ursprung, denn es
verlangt danach, in sein Herkunftsherz zurückzukehren,
und kraft dieser Strebung zieht es die gesamte Person des
Lysias magisch mit zu Phaidros hin.
Dieser Sog vom Blutnehmer zum Blutgeber ist es, der Ver­
liebtheit oder Verzauberung heißt. Die niedere erotische Af­
fektion bedeutet also, daß ein Subjekt in den Dunstkreis und
durch diesen in den Blutkreislauf eines anderen hineingera­
ten ist - als wäre es wieder ein Fötus, der durch die Nabel­
schnur in einen Gemeinschaftsblutkreis mit seiner Mutter
eingeschlossen ist. Es ist für die Epoche charakteristisch, daß
Ficino von dieser Blutsymbiose nur eine Hälfte wiederzuge­
ben vermag - nämlich den Hinweg des Blutes vom Herzen
des Absenders zur empfänglichen Peripherie, die hier durch
das zweite, das aufnehmende Auge-Herz-System dargestellt
Herzoperation 123

wird. Im 15.Jahrhundert waren zwei wesentliche Entdek-


kungen, die das Geheimnis der Blutzirkulation betreffen,
noch nicht vollzogen; noch war das organ- und blutgefäß­
theoretische Bild des vollständigen, das heißt durch das Ve­
nensystem geschlossenen Kreislaufs unbekannt; und noch
weniger lag die Rekonstruktion des plazentavermittelten
Blutaustauschs zwischen Mutter und Fötus im Bereich des­
sen, was zu Ficinos Zeit physiologisch-anatomisch denkbar
war. Tatsächlich sollten von 1469 bis zur Darstellung des
vollständigen Blutweges als Kreislauf vom und zum Herzen
durch den englischen Anatomen Harvey noch mehr als an­
derthalb Jahrhunderte vergehen; erst im Jahr 1628 veröffent­
lichte dieser seinen bahnbrechenden Traktat Exercitatio ana-
tomica de motu cordis et sanguinis in animalibus, mit dem die
neuzeitliche Anatomie in die Mechanik der inneren Flüssig­
keitsbewegungen vordringt. Bis dahin blieb - allen physiolo­
gischen Wahrscheinlichkeiten zum Trotz - das Modell vom
Herzen als König der Organe, der sein Blut an die äußeren
Glieder verschwendet, so übermächtig, daß die scheinbar na­
heliegende Vorstellung, das ausgesandte Blut könne auf
Kreiswegen zum Sender zurückkehren, nie zur Entfaltung
gelangen konnte. Dies wäre im Zeitalter starker Monarchie­
gedanken einer Majestätsverletzung gleichgekommen; wäre
nämlich der Kreislauf ein vollständiger, so hätte man den Kö­
nig wie das Herz nicht mehr als absolute Geber vorstellen
können, sondern hätte sie ebensosehr als Nehmer von Gaben
auffassen müssen, die ihnen von der Peripherie her zufließen;
das Zentrum könnte dann nicht länger als Herz von Gottes
Gnaden regieren, sondern nur noch als konstitutionelles
Herz, das einen Eid auf die Verfassung des Kreislaufs hätte
leisten müssen.
Dadurch erklärt sich, wieso Ficino dem Phaidros-Blut im
Herzen des Lysias eine Art Heimweh nach dem Ursprung
zusprechen kann, aber keinen effektiven Weg vorzeichnet,
wie das verausgabte Blut zur Quelle zurückgelangen könnte;
124 Kapitel

er hätte, um dies zu erklären, tatsächlich den vollständigen


Kreislauf postulieren müssen. Darum bleibt die sensationelle
Bluttransfusion auf den Liebenden in Ficinos Traktat nur als
Halbkreislauf ausgeführt; sie bewirkt immerhin den leiden­
schaftlichen magnetischen Zug, der Lysias an Phaidros ket­
tet; er macht auch plausibel, wieso Phaidros seinerseits an
Lysias etwas Attraktives finden mochte. Verliebtheit ist hier
tatsächlich nichts anderes als die magische Aktion telepa­
thisch verausgabten Blutes. Vor allem aber erklärt diese
Fern-Transfusion auf neue Weise jene Asymmetrie zwischen
dem Liebenden (erastes) und dem Geliebten (eromenos), die
seit den Tagen der Alten Akademie ein Thema unerschöpfli­
cher Diskussionen gewesen war; sie führt die unvermeidliche
Ungleichheit des erotischen Wechselbezugs darauf zurück,
daß der Verzauberer und der Bezauberte sich nicht völlig
spiegelbildlich zueinander verhalten können. Nach akademi­
scher Tradition ist der Liebhaber eher ein älterer Mann von
hohen seelischen Qualitäten, der sich bezaubern läßt vom
hinreißenden Vorschein der Vollkommenheit, der ihm aus
dem attraktiven Äußeren eines edlen, vital überlegenen Jüng­
lings entgegenstrahlt. In Ficinos Musterszene liebt in der Tat
der angesehene Rhetor Lysias den unerfahrenen, unwider­
stehlich reizvollen Jüngling Phaidros, an dessen Schönheit,
nach Platons Zeugnis, auch Sokrates schon auf dem berühm­
ten gemeinsamen Ausflug vor die Tore Athens seinen Tribut
hatte zollen müssen.
Was unsere Sondierungen im Raum bipolarer Innigkeit
angeht, so bietet der Passus aus De amore einen entscheiden­
den analytischen Schritt über das sakramentale Modell hin­
aus, das dem Herzmaere wie der Katharina-Episode zu­
grunde liegt. Er beschreibt die gemeinsame Innensphäre
zwischen den beiden zueinander hingezogenen Herzen in ei­
ner quasi anatomischen, rudimentär biotechnischen Sprache
als Effekt eines tiefenphysiologischen Austauschs. Dies lie­
fert einen Beweis für die These, daß die Erotologie der Re-
Herzoperation I25
naissance mehr als die Hälfte des Weges zu einer modernen
Theorie des Seelischen zurückgelegt hat; schon den Protago­
nisten der Renaissance-Psychologie war deutlich geworden,
daß Seele nichts anderes sein kann als ein Studio für Transak­
tionen mit inspirierenden Anderen. Freilich sind diese Er­
rungenschaften des Renaissance-Wissens in unserem Jahr­
hundert fast völlig in Vergessenheit geraten und durch
szientistisch stilisierte und zumeist auch individualistisch
verflachte Neufassungen des psychologischen Raums über­
lagert worden. Wer die Stifterlegenden um Freud, Jung und
ihresgleichen überwinden und ihnen ein gültiges Bild von
der Realgeschichte psychodynamischen Wissens in der Neu­
zeit entgegensetzen möchte, kommt nicht umhin, minde­
stens zwei große Formationen europäischer Tiefenpsycholo­
gie vor die Lehrsysteme des 20. Jahrhunderts zu setzen: an
erster Stelle die platonisch inspirierten magologischen Faszi­
nations-Theorien, die mit subtil physiologischen und ge­
dächtnistheoretischen Mitteln nach den Bedingungen von
Liebe, Einfluß, Bezauberung und Entzauberung fragten;43
vom 15.Jahrhundert an traten kühne Entwürfe zu einer all­
gemeinen Magie der Intersubjektivität44 ans Licht, deren
Schicksal es war, von späteren Systemen blamiert und ausge­
löscht zu werden. An zweiter Stelle folgt das mesmeristisch-

43 H ierzu immer noch unvergleichlich: Ioan P. Couliano, Eros and M a­


gic in the Renaissance. W ith a Forew ord by Mircea Eliade, Chicago
and London 1987, im französischen Original 1984. Couliano arbei­
tet den G rundsatz heraus, daß das, was die frühe N euzeit Magie
nannte, nach dem Verständnis der A utoren nichts anderes als ange­
wandte allgemeine Erotik sein wollte.
44 Einen so unbekannten wie verkannten H öhepunkt dieser T heorie­
tradition bilden G iordano Brunos Schriften De Magia und D e vin-
culis in genere (U ber die Magie, Von den fesselnden Kräften im all­
gemeinen), die erst 1995 erstmals in deutscher Sprache vorgelegt
wurden: G. Bruno, Ausgewählt und vorgestellt von Elisabeth von
Samsonow, M ünchen 1995, S. 115-228; vgl. auch in diesem Band:
3. Kapitel, M enschen im Zauberkreis. Z ur Ideengeschichte der
N ähe-Faszination, besonders S. 223ff.
126 Kapitel

magnetopathische Universum, das zwischen 1780 und 1850


zu einer vollgültigen tiefenpsychologischen Klassik ausge­
baut war; ihr wurden im späteren 19. Jahrhundert der positi­
vistische Zeitgeist und im 20. die organisierte Vergeßlichkeit
der Freud-Schule zum Verhängnis.45

Diesen exemplarischen Parcours durch die Motivwelt reli­


giös-metaphysisch codierter Herzinnerlichkeiten mögen ei­
nige Hinweise auf herztheoretisch relevante Denkmotive aus
dem 16. und 17. Jahrhundert in eine Perspektive rücken, die
schon dem Einschnitt der Moderne Rechnung trägt. Von
dem römischen Priester Filippo Neri, 1515-1595, dem »hu­
moristischen Heiligen«, den Goethe in seiner Italienischen
Reise mit Sympathie erwähnte, ist überliefert, man habe nach
seinem Tod bei der Sektion der Leiche am Brustkorb in
Höhe des Herzens eine handbreite Lücke zwischen den Rip­
pen vorgefunden sowie eine bedeutende Vergrößerung des
Herzens und der Coronararterie. Diese physischen Anoma­
lien wurden von den Zeitgenossen auf Neris häufige Entrük-
kungszustände zurückgeführt, die bei ihm unter dem äuße­
ren Bild von kongestionären Krisen einen überhöhten
Zustrom von Blut zum Herzen sowie physische Aufblähun­
gen an Gesicht und Brustkorb hervorgerufen haben sollen;
es ist bezeugt, daß bei Neri mächtige tumorartige Brustaus­
stülpungen in der Herzregion während des Gebets sowie
Mund- und Wangenaufschwellungen beim Empfang der
Hostie auftraten, die den Eindruck weckten, er trage einen
Knebel im Mund. Nach diesen Befunden gehört auch Neri in
die lange Reihe jener Somatisierer der Schrift, bei denen sich

45 Gegen diese Vergeßlichkeit hat H en ry F. Ellenberger in seiner klas­


sischen Studie Die Entdeckung des U nbew ußten, Bern, Stuttgart,
Wien 1973, vor allem mit seiner D arstellung Mesmers und seiner
N achfolger (S. 89 - 349) eindrucksvoll W iderstand geleistet. W ir wer­
den im folgenden Kapitel die E rinnerung an die magnetopathische
Form ation der Psychologie des U nbew ußten auffrischen.
Herzoperation I27

Allegorie der Imitatio Christi. Christus bietet der Seele sein offenes Herz
zur Wiedergabe dar, Kupferstich aus Anvers 1578, Paris, Cabinet des Estam-
pes

der mystische Text distanzlos in einen barocken Organdia­


lekt übersetzt. Vor allem pfingstliche Motive und Redefigu-
ren christlicher Großherzigkeit transportierten sich bei Neri
in körperliche Forderungen nach Weitung und Ausgriff.
Uberlieferungsfähig waren solche Abnormitäten nur in
der Binnenwelt katholischer spiritueller Physiologien; sie
fanden Platz in einem wohlorganisierten, tausendjährigen
Strom von Reden über die supranaturalen körperplastischen
Wirkungen frommer Intensitäten. Das Reich der katholi­
schen Herztheologien bildet eine Delirienprozession, die
sich in der spätmittelalterlichen Mystik formierte, um in
128 Kapitel i

nachreformatorischer Zeit, insbesondere unter den Einflüs­


sen der Herz-Jesu-Mystikerin Margareta Maria Alacoque,
1647-1690, zu einer breiten kultischen Bewegung anzuwach­
sen; sie erzwang zuletzt auch liturgische Konzessionen und
lehramtliche Formulierungen. Im Strom dieser kirchlich ver­
walteten Innigkeits-Phantasmen treibt auch das Werk des in
der Normandie geborenen Oratorianer-Priesters und Volks­
missionars Johannes Eudes, 1601-1680, der in die katholi­
schen Annalen als Begründer eines liturgisch prägnanten
Zwei-Herzen-Kultus eingegangen ist. Durch sein umfang­
reiches Werk zieht sich die ostinate Vorstellung der neuzeit­
lichen aktiven Mystik, daß das Christenleben, das kontem­
plative wie das werktätige, vollständig in Gott absorbiert
sein müsse. Eudes’ innere Mission war ein Kampf gegen das
unkatholische äußere Sein als das Nicht-Innere Gottes. Nach
Eudes kann das Leben der Heiligen nicht anders beschrieben
werden denn als ein anhaltendes Schweben in der Frucht­
blase des Absoluten. Eudes brachte in das Repertoire katho­
lischer Herzphantasmen eine folgenreiche Neuerung ein, als
er den etablierten Kult des Heiligen Herzens um den Kult
des Marienherzens ergänzte. Die Pointe seines Herz-Mariä-
Engagements bestand, in unserer Sprache gesprochen, darin,
einen bipolaren Herzhimmel zu schaffen, in dem das Soh­
nesherz mit dem Mutterherzen in mystischer Unierung fu­
sionieren konnte. Psychodynamisch gesehen hat Eudes da­
mit dem damals seit langem akuten Bedürfnis nach einer
Fötalisierung des nach-kopernikanischen katholischen Him­
mels entsprochen; die anima naturaliter christiana durfte
nach dieser Doktrin als teilhabende Dritte unter dem Balda­
chin des Doppelherzens von Sohn und Mutter leben. Dies
entsprach dem Zug nach-reformatorischer katholischer Psy-
chopolitik, die Einzelnen nicht nur in dem welken Schoß der
Mutter Kirche zu fixieren, sondern ihnen auch ihren Platz in
einer metaphysisch überhöhten interkordialen Kleinfamilie
zu zeigen.
Herzoperation 129

Das im Zorn-Feuer brennende Herz der Natur rührt an das strahlende Lie-
bes-Herz der Uberwelt. Illustration zu Jacob Böhme, Theosophische
Wercke, Amsterdam 1682
130 Kapitel 1

Frontispiz aus Albrecht von Haller, Elementa Physiologiae Corporis Hu-


mani, 8 Bde., Lausanne 1757-1766, Kupferstich von P. F. Tardieu nach
Charles Eisen

Während sich die Mystik der Gegenreformation bei ihrer


Verteidigung der magisch-religiösen Innerlichkeit in eskalie­
rend frenetische herztheologische Sprachspiele verstrickte,
war durch die medizinische Forschung an den europäischen
Universitäten eine unaufhaltsame anatomische Entzaube­
rung des Herzens in Gang gekommen. Aus der zunächst ver­
pönten Wissenschaft der Leichensektion wuchs zwischen
dem 16. und 18. Jahrhundert eines neues Bild vom Menschen
als einer wundersamen Manufaktur der Organe heran. N e­
ben den Theologen erhoben nun unüberhörbar die Ärzte
ihre Stimme und beanspruchten ein öffentliches Lehramt in
Fragen der menschlichen Natur. Die Sektionstische der Ana­
tomen verwandelten sich in die Altäre der neuen Wissen­
schaften vom Menschen; die Leichen wurden zu Hilfsdozen­
ten der Anthropologie promoviert. Sie lehrten autoritativ,
daß Menschen, vor allen Beziehungen zu ihresgleichen, zu­
erst und zuletzt einzelne, unbezügliche Körper seien - Kör­
per, die in ursprünglicher funktioneller Einheit und orga­
nismischer Individualität existieren, um erst nachträglich
Herzoperation H1
und in zweiter Linie in soziale Gruppen integriert zu wer­
den. Darum ist unter den Quellen des neuzeitlichen Indivi­
dualismus auch ein einflußreicher anatomischer Faktor in
Betracht zu ziehen. Die Absolutsetzung der Einzelnen speist
sich nicht nur aus neuzeitlichen subjektphilosophischen
Motiven und besitzbürgerlichen Interessen, sondern ebenso­
sehr aus jenem anatomischen Individualismus, in dem die
menschliche Leiche als unbezüglicher Körper aufgefaßt
wurde. Vor dem analytischen Blick des Anatomen präsen­
tierte sich der einzelne Menschenkörper als autonome Werk­
statt des Lebens, gleichsam als das physiologische Ding an
sich. Nichts nämlich an den aufgeklappten Eingeweiden der
Leiche läßt einen Zug zum Dasein in inniger Verbundenheit
mit anderen zum Vorschein kommen.
Indes sich in den Ländern der katholischen Reaktion die
Barockkirchen mit Kultbildern von brennenden Herzen
füllten, machten auf einem anderen Schauplatz die Anato­
men dem feudalen Herzen den Prozeß. Sie lancierten einen
kardiologischen Diskurs, der pure Subversion bedeutete, in­
dem sie das Herz von einer Sonne zu einer Maschine, von ei­
nem König der Organe zu einem leitenden Funktionär des
Blutkreislaufs herabsetzten. Mochten Priester wie Johannes
Eudes ihren Kult der allerheiligsten Herzen Christi und Ma­
riae in die frühneuzeitlichen Massen tragen; sein Zeitgenosse
William Harvey ließ sich hiervon nicht abhalten, den Be­
triebsgeheimnissen des entheiligten Herzens auf die Spur zu
kommen. Hundertfünfzig Jahre nach Harveys Durchbruch
schien der Prozeß der kardiologischen Entzauberung soweit
gediehen, daß sich bereits romantische Rehabilitationen der
verlorenen Herzzauberwelt ankündigen konnten; im begin­
nenden 19. Jahrhundert hatte die generelle Abkühlung einen
so prekären Grad erreicht, daß es zu jener kordialen Restau­
ration kommen mußte, für die in Deutschland vor allem Wil­
helm Hauff mit seinem zeitkritischen Märchen vom kalten
Herzen den Ton angegeben hat.46 Seither gehört der Kampf
132 Kapitel

um die Einstellung der Welttemperatur zu den dramaturgi­


schen Konstanten der literarischen und massenmedialen
Modernität. Nach der Wende vom absolutistischen zum bür­
gerlichen Zeitalter war in einem breiten Milieu von neuer Mit­
telschicht-Intelligenz, nicht zuletzt unter Ärzten, Ingenieu­
ren, Gelegenheitenjägern und Literaten, eine Bereitschaft
erwacht, Welt und Leben im ganzen nach den Leitbegriffen
der Physiologie und Mechanik auszulegen, und im Zuge ei­
ner unvermeidlichen Gegendifferenzierung klagten die syn-
thetisch-holistisch orientierten Geister die Wärmerechte der
ausgekühlten und überveröffentlichten Innenwelten ein.
Unter den Vertretern der neuen antimetaphysischen Men­
talität ragt der Arzt, Philosoph und Satiriker Julien Offray de
La Mettrie, 1709-1751, durch die ironische Radikalität und
Angriffslust seines mechanistischen Welt- und Menschenbil­
des hervor. Selbst den Liberalen unter seinen Zeitgenossen
galt La Mettrie wegen seines anarchisch-skeptischen Tempe­
raments als ein Außenseiter, dem man vorwarf, physischen
und moralischen Exzessen Vorschub zu leisten. Als nach der
anonymen Publikation der Skandalschrift L’homme machine
im Herbst 1747 bei Elie Luzac in Leyden seine Position auch
im freigeistigen Holland unhaltbar geworden war, fand er
Zuflucht am H of Friedrichs II. von Preußen, bei dem er sich
auf die Rolle des epikureisch-atheistischen Hofnarren ver­
legte; er soll, wie die anzügliche Legende berichtet, an den
Folgen des übermäßigen Genusses von Trüffelpastete gestor­
ben sein. Der Traktat von der Menschmaschine - den viele
für das verabscheuungswürdigste Buch seines Jahrhunderts
hielten - gibt Proben des neuen Denkstils, der keine Hem­
mung kennt, das Seelische ohne nennenswerten Rest in die
Sprache des Mechanismus zu übersetzen. Hier bricht der
anatomische Naturalismus als anthropologischer und psy-
46 Vgl. M anfred Frank, Steinherz und Geldseele. Ein M otiv im K on­
text, in: Das kalte H erz. Texte der Romantik. Ausgewählt und inter­
pretiert von M anfred Frank, Frankfurt 1978, S. 253-387.
Herzoperation 133

Erste Bluttransfusion vom Tier (Lamm) auf den Menschen durch den Pari­
ser Arzt J. Baptiste Denis

chologischer Leitdiskurs sich Bahn. Das erste, was man die­


ser neuen Wissenschaft zufolge von der Seele wissen muß,
ist, daß das Wort Seele ein leerer Begriff ist. La Mettries Buch
ist voll von kardiologischen und gynäkologischen Motiven,
die allesamt mit der traditionellen Mysteriensprache der In­
: 34 Kapitel

nerlichkeit brechen. Wir zitieren eine Passage aus einem län­


geren Argument, mit dem der Autor den Nachweis führen
möchte, daß für die Erklärung der Eigenbewegungen von
Muskeln und Organen keinesfalls geistige, nicht-körperliche
Ursachen herangezogen werden müssen; eine lange Reihe
von empirischen Beobachtungen stützt seine These, daß den
Organen und Fasern tierischer und menschlicher Körper
eigene Triebfedern - ressorts - innewohnen, die für ihre
Selbstbewegung verantwortlich sind; durch deren Existenz
wird jeder Rekurs auf ein außerkörperliches Prinzip der Be­
wegungen überflüssig. Dieser Ansatz macht Geschichte: Von
der Selbstbewegung der Gewebe bis zur Selbstorganisation
der lebenden Materie werden es im Kontinuum naturalisti­
schen Denkens nur wenige Schritte sein. Anzumerken bleibt,
daß der Begriff des ressort, der anfangs die Uhrfeder bezeich-
nete, eine große Karriere vor sich haben sollte, da er für das
Bedürfnis der neuen Körperwissenschaften, Bewegungen
des Lebendigen mechanistisch zu deuten, eine befriedigende
Lösung zu liefern versprach. Die meisten neueren Trieb­
begriffe, auch die der Psychoanalyse, gehen auf das Metall­
feder-Modell und auf das Schema »Wiederausdehnung des
Zusammengepreßten bis zur Normalspannung« (das nach
Watt vorrangig als thermodynamisches Kraftmaschinenkon­
zept dienen wird) zurück. Unter diesen Prämissen gibt La
Mettrie über die spontanen Herzbewegungen zu Protokoll:
»5. Das Herz des Frosches, vor allem, wenn es der
Sonne oder noch besser auf einem Tisch oder einem
heißen Teller ausgesetzt wird, bewegt sich wieder eine
Stunde lang und länger, nachdem man es aus dem Kör­
per herausgetrennt hat. Scheint die Bewegung dann
rettungslos vorbei zu sein, muß man das Herz nur rei­
zen und dieser Hohlmuskel schlägt erneut. Harvey hat
dieselbe Beobachtung an Kröten gemacht.
6. Der Kanzler Bacon, ein Autor ersten Ranges,
spricht in seiner Historia vitae et mortis von einem des
Herzoperation 135
Verrats überführten Mann, den man bei lebendigem
Leib geöffnet hat, um sein Herz herauszunehmen und
es ins Feuer zu werfen: dieser Muskel sprang zunächst
senkrecht anderthalb Fuß hoch, verlor aber dann seine
Kräfte und sprang bei jeder Wiederholung immer we­
niger hoch, etwa sieben oder acht Minuten lang.
7. Nehmen Sie ein noch im Ei befindliches Küken und
reißen Sie ihm das Herz heraus - Sie werden dieselben
Phänomene unter den fast gleichen Umständen be­
obachten ... Dieselben Experimente... lassen sich bei
Tauben, Hunden und Kaninchen durchführen, bei de­
nen sich einzelne Teile des Herzens ebenso bewegen
wie die ganzen Herzen. Man sieht die gleiche Bewe­
gung an den abgetrennten Pfoten des Maulwurfs.«47
Man erkennt sofort, daß wir mit diesem Text die Zone bipo­
larer Innigkeiten im allgemeinen und das religiöse Herzland
im besonderen verlassen haben, dem Inhalt wie dem Duktus
der Passage nach. Inhaltlich erinnert vor allem das Argument
6 an das Theater des Schreckens, auf dem die Territorialstaa­
ten der frühen Neuzeit in Europa ihre Strafgewalt zu insze­
nieren pflegten.48 Tatsächlich ist das Herausschneiden der
lebenden Herzen von Verrätern und Rebellen ein mehrfach
bezeugtes Verfahren gewesen, etwa bei der Hinrichtung des
adligen Verschwörers Grumbach zu Gotha im Jahr 1567,
dessen Herz jedoch nicht ins Feuer geworfen, sondern ihm
ins Gesicht geschlagen wurde.49 Da es sich bei solchen Akten
öffentlicher Grausamkeit nicht um aztekische Opferri­
tuale,50 sondern um Gesten der Gerichtsbarkeit christlicher
47 L’homme machine, Die Maschine Mensch, übersetzt und herausge­
geben von Claudia Becker, H am burg 1990, S. 97-99.
48 Vgl. Richard von Dülm en, Theater des Schreckens. Gerichtspraxis
und Strafrituale in der frühen N euzeit, M ünchen 1985.
49 Vgl. von Dülm en, S. 128-129.
50 Z ur Rolle des H erzens in der aztekischen K ultur vgl. Georg Berke-
mer, Das H erz im aztekischen Opfer, in: Das H erz im Kulturver-
gleich (s. Anm. 34), S. 23-39.
136 Kapitel

Herrschaften handelte, ist das Verlangen nach einer näheren


Erläuterung des Strafrituals gut motiviert. Ohne Zweifel bot
es eine Antwort auf eine Art von Unrecht, das als Vergehen
an der Lebenswelt selbst, man könnte sagen als ein Verbre­
chen gegen die heilig-öffentliche Sphäre des Staates verstan­
den wurde. Daß man besonders die Hochverräter auf diese
Weise bestrafte, gibt zu erkennen, wie der Angriff auf das
Herz der politischen Ordnung mit einem Gegenangriff auf
das Herz des Angreifers beantwortet wird. Diese expressiv­
ste aller Strafen verstößt den Delinquenten aus dem H erz­
raum der Gesellschaft; sie greift dabei nicht auf die archai­
sche Verbannung zurück, sondern entfernt den Untäter,
indem sie ihn im Innern der politischen Sphäre als Schlacht­
opfer zurichtet. Hier zeigt sich, daß die politische Sphäre, an­
ders als die intime, kein Raum bloßer zwei-einiger Innerlich­
keiten sein kann. Aber weil in Zeiten der absolutistischen
Monarchie und der Landesfürstenherrschaft gleichwohl je­
der Untertan aufgefordert ist, in eine personal getönte Loya­
litätsbeziehung zum Herrn der politischen Sphäre einzutre­
ten, kann Verrat als eine Art von Herzensverbrechen gegen
die Obrigkeit erfahren und geahndet werden; er erscheint
den frühneuzeitlichen Gerichtsherren wie ein Angriff auf das
personale Lebensgeheimnis des politischen Raums - die con-
cor<Aü-Erwartung. Darum wird der Sphärenverbrecher thea­
tralisch ins Zentrum geholt und mit einer pathetischen H in­
richtung aus der politischen Sphärenmitte in ein verruchtes
Außen verstoßen. Die Gebärde der Ausweisung aus dem
Kreis der Lebenden und Geretteten ist gewiß eine allgemeine
Implikation von Exekutionen und Exkommunikationen; bei
dieser hysterischen Hinrichtungsart kommt die Geste der
Verstoßung aus dem Herzraum des gemeinsamen Lebens be­
sonders grell zum Vorschein. Sie bringt zum Ausdruck, daß
Tod und Außen für diese Empfindungsweise dasselbe bedeu­
ten.
Wenn das von La Mettrie im Anschluß an Bacon erwähnte
Herzoperation z37
Strafritual ein expressives Außen ins Spiel bringt, so er­
scheint in der Argumentation des Philosophen selbst ein me­
thodisches oder konzeptuelles Außen, das weiter reicht als
der grausame Ritus. Dem Autor tritt das Muskel- und Ge­
fäßsystem Herz in anatomischer Abstraktion vor Augen; als
Organ per se aufgefaßt, ist es für ihn prinzipiell nicht mehr
als ein isolierbares Stück organischen Gewebes; von sich aus
besitzt dieses keine intersubjektive Dimension, sondern nur
ein automatisches Bewegungspotential, ein Bündel an res-
sorts, die sich nach Gunst und Ungunst der Umstände reali­
sieren. Ein so begriffenes Herz ist, ob herausgeschnitten oder
an seinem natürlichen Ort, immer schon in einer Äußerlich­
keit angesiedelt, die keinem innigen Selbstfeld zugehört und
von keinem Hauch einer Humansphäre erreicht werden
kann. Es existiert seiner eigenen Seinsweise zufolge als orga­
nismische Maschine in einem Kontext aus kooperierenden
Maschinen gleichen Typs. Weil aber La Mettrie nicht dem
metaphysischen Dualismus anhängt, läßt er sein aufgeklärtes
Subjekt nicht wie ein Cartesisches Gespenst in einer körper­
lichen Apparatur spuken; es ist selbst eine Funktion der Ma­
schine, die es ist - einer Maschine, die zugleich mit unerleb-
ten physiologischen Prozessen auch ein erlebtes Inneres
produziert. Mit dieser radikalen Maschinentheorie wird In­
nerlichkeit zu einem Effekt des Außen erklärt, in dem sich
alle »Maschinen«, seien sie Mechanismen oder Organismen,
immer schon aufhalten. Der vorgestellte Körper ist kein Ele­
ment eines Interieurs oder eines erlebten Nähe-Raumes, son­
dern eine Stelle in einer homogenisierten geometrischen
Ortsräumlichkeit.51 Was ist die Anatomie anderes als die
Durchsetzung von ortsräumlich-physikalischen Konzepten

51 Ü ber den Begriff O rtsraum und seine konstitutive Rolle in der neu­
zeitlichen Weltvorstellung vgl. Sphären 11, 8. Kapitel, Die letzte Ku­
gel. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen G loba­
lisierung, dort auch die nötigen Hinweise auf die Explikation des
Begriffs im »System der Philosophie« von H erm ann Schmitz.
i 38 Kapitel

im Bereich des einstigen Leibesdunkels, das jeden lebenden


Körper für jeden anderen zunächst zu einer black box
macht? Zwischen so verstandenen Maschinenmenschen ist
ohne Zweifel auch das möglich, was man intime Beziehun­
gen nennt, aber diese ändern fürs erste nichts daran, daß
die radikal-materialistische Theorie das Vereinzelt-Sein der
Körper ihren Beziehungen untereinander vorhergehen las­
sen muß. Beziehungen zwischen Maschinenmenschen sind
ihrerseits maschinelle Prozesse; diese mögen eine erlebte
Seite haben, gehören ihrer vorgestellten Natur nach jedoch
wiederum ganz dem Äußeren an.
La Mettries Außen will aber nicht - wie die humanistische
Lektüre es mit Entsetzen unterstellt - die Tür sein, durch die
wir ins Tote und Fremde hinaustreten, sondern soll als das
Spielfeld einer neu zu erobernden und anders zu begreifen­
den menschlichen Freiheit verstanden werden. Der Philo­
soph feierte in seinen Schriften das Glück, eine gut erleuch­
tete Maschine zu sein, weil er eine Möglichkeit gefunden zu
haben glaubte, gerade in der Maschinennatur das Interesse an
wohlverstandener menschlicher Freiheit zu befriedigen. Er
setzte emanzipatorische Hoffnungen darauf, daß Maschinen,
die sich selber angemessen verstehen, aus dem Nebel imagi­
närer, religiös verbrämter Sklaverei ins Freie treten, und dies
bedeutet aus sensualistischer Sicht: ins genußreiche, von kei­
ner konventionellen Religionsmoral unterdrückte Leben. So
kündigt eine Ethik der Intensität sich an. Voilä une Machine
bien eclairee.52 Dieses Außen zu erreichen galt ihm als Vor­
bedingung jeder Emanzipation; während durch die theolo­
giegeborene Innerlichkeit nur hervorgekehrt wird, wie wir
uns in Hemmungen, Ängste und Entbehrungen verfangen
sollen, geht die Exteriorität vor uns auf als ein Feld, auf dem
wir das wahrhaft Lebendige, das Intensive, das ereignishaft
Andere, das uns verwandelt und freisetzt, erwarten dürfen.

52 L’homme machine, Die Maschine M ensch (s. Anm. 47), S. 94.


Herzoperation 139

Dieses Motiv hat sich in den radikalen nicht-dialektischen


Materialismen der französischen Philosophie, insbesondere
im philosophischen Projekt von Gilles Deleuze, bis heute er­
halten.53 Um seine glückliche Maschine zu retten, gab La
Mettrie die Begriffe von Gott und Seele preis und machte
sich an die Aufgabe, ihre schwülen Verwachsungen zu rese­
zieren.
Bei dieser Operation verlor der Philosoph die Frage aus
den Augen, ob nicht seine anarchisch heiteren Maschinen
doch anders strukturiert sein müßten als solitäre Automaten;
auch nach der Unterdrückung der metaphysischen Ideen
von Gott und Seele hätte es dem Autor zum Problem werden
können, daß Maschinen, wenn sie Menschen sind, stets auf
Andere hin funktionieren, und dies nicht nur in der Phase
der ersten Justierung, die konventionell Sozialisation oder
Erziehung heißt. Auch für personale Maschinen wäre die
Vermutung sinnvoll, daß sie nur in bipolarer, multipolarer
Ko-Existenz und inter-intelligenter Parallelschaltung erfolg­
reich in Gang zu halten sind. La Mettrie hätte bemerken kön­
nen, daß Menschmaschinen durchwegs in Ensembles funk­
tionieren und daß nur solche von ihnen der Vereinzelung
fähig sind, denen es gelingt, den Umgang mit präsenten So­
ziusmaschinen durch nicht-menschliche Ergänzer-Medien -
etwa durch Spiegel, Bücher, Karten, Musikinstrumente,
Haustiere - zu ersetzen. De Sade hat in seinen erotischen Ar­
rangements immerhin schon Lust-Maschinen aus mehreren
Individuen zusammengesetzt, freilich nur in mechanischen
Kopulationen und unter Verwendung der Menschen als lust­
fähigen Fertigteilen.
Doch mit der Schwierigkeit, Wesen zu denken, für die das
Verschlungensein in ihresgleichen selbst der Grund ist, ste­
hen die modernen mechanistischen Philosophien nicht al­
lein. Auch als es in der Frühphase des theologischen Prozes-

53 Vgl. Eric Alliez, Deleuze Philosophie Virtuelle, Paris 1996.


140

ses, der das Christentum zur intellektuellen Vormacht erhob,


darum ging, die Menschwerdung Gottes in Gedanken zu fas­
sen, sahen sich die Theologen vor die Verlegenheit gestellt,
das Ausmaß richtig zu bestimmen, in dem sich Gottes
Einlassung ins Menschliche vollzieht. Es dauerte Jahrhun­
derte, bis die zweite N atur des Christus, seine menschliche
Schwere und psychosomatische Leidensfähigkeit, durchge­
setzt war gegen die doketische oder spiritistische Versu­
chung, den Gottmenschen nur als Erscheinung von oben
aufzufassen. Erst nach opferreichen Kämpfen um das Dog­
ma war festgeschrieben, daß für den Gott der Weg ins Fleisch
über die Geburt durch eine wirkliche Mutter führt - in mo­
derner Verlängerung: auch über die frühe Symbiose, die un­
bedingte Angewiesenheit auf die Ich-Bildung in geglückten
Interaktionen mit anderen und, wegen deren faktischem
Mißlingen, über die religiöse Psychose. Wenn Gott Mensch
werden will, so kann er seine zweite N atur nur realisieren
in einem defekten Menschen oder einem Wahnsinnigen, der
sich zum Sohne Gottes erklärt. Da nun seit dem 17. Jahr­
hundert die Menschwerdung der Maschine zur Denkauf­
gabe geworden ist, muß auch von Maschinen gefordert wer­
den, daß sie das Kreuz der menschlichen Natur auf sich
nehmen. Die Maschine kann ihre zweite Natur nur verwirk­
lichen in Wahnsinnigen, die sich als menschgewordene, lei­
densfähige und insofern defekte Maschinen offenbaren. Es
sind heute die Menschen als nicht-triviale ontologische Ma­
schinen, die den Ansprüchen einer Zweinaturenlehre genü­
gen müssen. Homo totus, tota machina. In einer technischen
Kultur wachsen Mysterien eigener Art: Ist es nicht Vernunft,
zuzugeben, daß l ’homme machine und la fem m e machine,
indem sie einander umarmen und einander loslassen, einan­
der mehr Rätsel aufgeben, als inter-intelligente Maschinen
bis auf weiteres lösen können? Maschine aus der Maschine,
Mensch aus dem Menschen.
141

K a p it e l 2

Zwischen Gesichtern
Zum Auftauchen der interfazialen
Intimsphäre

U nd unter den Klagen des O rpheus er­


strahlt der Ruhm, doch für einen Augen­
blick das unzugängliche A ntlitz gesehen
zu haben, gerade als es sich abw andte...
Michel Foucault, Das D enken des A ußen

it offenem Munde starrt der Thebaner Lysias dem


M Phaidros ins Gesicht, während Phaidros, der junge
Schöne, seine Augen gegen die Augen des Lysias wendet und
durch sie einen von Blutdunst geschwängerten Blick los­
schickt.54 Mit einer Augenbegegnung, einem infektiösen
face-ä-face, setzt in der von Marsilio Ficino geschilderten
Szene das Geschehen der gegenseitigen Verliebtheit zwi­
schen den beiden Modellgriechen ein. Was zwischen den
Akteuren ein viszerales Bündnis, genauer eine erotische
Blutvergiftung, hervorrufen wird, muß zunächst mit einem
Blickwechsel im Offenen beginnen. Der Vier-Augen-Raum
muß schon offenstehen, bevor aus ihm die radikal intimi-
sierte Zwei-Herzen-Sphäre herausgehoben werden kann.
Die Vergiftet-Verliebten haben die interfaziale Öffentlich­
keit verlassen, um sich, einander von Angesicht zu Angesicht
verzehrend, auf magisch symbiotische Weise ineinander zu
versenken. Wollte man sich aber auf den erotischen Ausnah­
mezustand beschränken, um die Natur des Intimen zu erfor­
schen, so würde man abgelenkt von den Normalformen der
Intersubjektivität, in der sich Individuen im Vollbesitz ihrer
54 Vgl. oben i. Kapitel, H erzoperation oder: Vom eucharistischen Ex­
zeß, S. 119 ff.
142 Kapitel

Abgrenzungskräfte gegenseitig sehen und hören - für vor­


bürgerliche Zeiten muß man wohl auch eine gegenseitige Ge­
ruchswahrnehmung als unvermeidlichen Hinweis auf Prä­
senzen im Begegnungsraum in Rechnung stellen. Wo sich die
Wege von Individuen im alltäglichen Verkehr kreuzen, dort
bietet diesen der Anblick des anderen Gelegenheit, zu be­
merken, daß sie durch ein bloßes Ansehen des Individuums
gegenüber in der Regel nicht aus der Fassung geraten. Wahr­
scheinlich ist vielmehr, daß das Sehen den Seher seiner unge­
fährdeten Lage in der Mitte seines eigenen Umraums ver­
gewissert; es bestätigt ihn in seinen abständigen, nicht­
schmelzenden Formen des Verkehrs mit den Akteuren und
Gegenspielern, die seine Personenumwelt bevölkern. »Ich
bin ich, und du bist du; ich bin nicht in der Welt, um den Er­
wartungen anderer entgegenzukommen; und wenn wir uns
durch Zufall treffen, ist das in Ordnung; wenn nicht, so ist
dagegen nichts zu tun.« Unsere ersten Modellanalysen haben
sich von dieser brutalen Orthodoxie des Normalabstands
zwischen Mir und Dir auf dem offenen Markt der Kontakt­
zufälle abgestoßen, um ohne Umwege in die intersubjektiven
Ausnahmezustände einzutauchen. Es könnte der Verdacht
aufkommen, wir seien bei der Annäherung an die dyadische
Sphäre viel zu schnell auf das fusionär-ekstatische Niveau
durchgebrochen. Die anthropophagische Kommunion, der
mystische Herztausch, die telepathische Transfusion im ero-
genen Zwei-Personen-Blutkreislauf - dies waren Muster für
Begegnungs-Exzesse jenseits des personalen Schmelzpunkts;
unsere interkardialen Szenen beschreiben Endstadien von
Beziehungen, in denen Individuen schon ihre Eingeweide
miteinander teilen. In den erörterten fusionär-dyadischen
Modellen wurde die Ebene alltäglicher, distanzierter Bezie­
hungen zwischen Mir und Ihnen in plötzlichen Exzessen
durchschlagen; ohne jede Vorbereitung tat sich ein schwüler
Mikrokosmos auf, der keinerlei Abstände und Freiräume
zwischen den Personen gewähren wollte. Ohne Prämissen
Zwischen Gesichtern J43
offenzulegen, sind wir in eine Höhlenwelt für Zwei einge­
taucht, wo die Akteure mit geschlossenen Augen die Melo­
dien des anderen mitsummen, diesseits von Handschlag,
Konversation und Blickkontakt. Die Fusion zwischen den
verbundenen Beiden geriet jedesmal so heftig, daß es fürs er­
ste unmöglich blieb, zu sagen, von welchen Urszenen der
Kommunion her solche Teilhaben aneinander in die aktuel­
len Szenen übertragen sein könnten. Darum müssen wir im
folgenden von dem augenlosen Verkehr in phantastischen
gemeinsamen Leibeshöhlen einen Schritt zurücktreten, um
die Begegnung zwischen Zweien in der Normalsituation ge­
genseitiger Wahrnehmung: mit dem Sich-Sehen im öffentli­
chen Licht, beginnen zu lassen. Dabei läßt sich die Entdek-
kung machen, daß auch die scheinbar distanzierte und
abstandbekräftigende optische Begegnung mit dem anderen
zur Produktion einer bipolaren Intimwelt das Ihre beisteu­
ert. (Vom akustisch Intimen wird in einem späteren Kapitel
die Rede sein.55) Die menschlichen Gesichter nämlich sind,
wie zu zeigen bleibt, an sich schon Geschöpfe eines Intimi­
tätsfeldes eigener Art, in dem der Anblick durch den H in­
blick modelliert wird.
Lysias, der thebanische Rhetor, starrt mit offenem Munde
(inhiat) seinem Geliebten Phaidros ins Gesicht: die Schön­
heit des jungen Freundes versetzt den Liebhaber in eine qual­
volle Betörung. Er verspürt den Drang, die Nähe des Gelieb­
ten zu suchen, auch wenn er selbst nicht recht begreift, was
es eigentlich sei, was er von dem Jüngling begehrt. Wie die
Namen verraten, hat Ficino die Modelle auf dem Bezie­
hungstheater seiner Analyse platonischen Vorbildern nach­
gestaltet. Platon zufolge löst der Anblick des Schönen einen
Erinnerungsschock aus, der den Schauenden aus seinen N or­
malansichten von der trivialen Ding- und Personenumwelt
heraussprengt. Inmitten Tausender alltäglicher Anblicke von
55 Vgl. unten 7. Kapitel, Das Sirenen-Stadium. Von der ersten sono-
sphärischen Allianz, S. 487!!.
144 Kapitel

Zeug, von Menschenkörpern, von Umständen leuchten in


auserwählten Augenblicken Gestalten auf, die der Seele be­
zaubernd nahegehen. In der Unruhe über solche Anblicke
fühlt sich der Sehende wie auf eine andere Bühne transpo­
niert. Er spürt, daß in der gegenwärtigen Erscheinung, sei es
ein Menschengesicht oder ein Kunstwerk, ein Ur-Anblick
nach ihm greift und ihn der Alltäglichkeit entzieht. »Wer die
Schönheit angeschaut mit Augen / ist dem Tode schon an­
heim gegeben.« Für Platon scheint gewiß gewesen zu sein,
daß in der Beunruhigung über den schönen Anblick ein im
Alltag verschütteter Gedächtnisspeicher aufbricht: Die eroti­
sche Angst deutet auf ein Anderswo, von dem das Subjekt ur­
sprünglich herkommt und das ihn nach dem Wiedersehen
mit dem Schönen in eine schmerzliche Heimwehspannung
versetzt. Wo diese Sehnsucht sich Rechenschaft gibt über
ihre Natur, dort erweist sie sich als Spur der Erinnerung an
vorgeburtliche Visionen. Dies ist es, was Platon seinen So­
krates in dem Dialog Phaidros erläutern läßt:
»Wer noch frische Weihung in sich hat und das dama­
lige vielfältig geschaut, wenn der ein gottähnliches An­
gesicht erblickt oder eine Gestalt des Körpers, welche
die Schönheit vollkommen darstellen: so schauert er
zuerst, und es wandelt ihn etwas an von den damaligen
Ängsten, hernach aber betet er sie anschauend an wie
einen Gott und fürchtete er nicht den Ruf eines über­
triebenen Wahnsinns, so opferte er auch, wie einem
heiligen Bilde oder einem Gotte, dem Liebling. Und
hat er ihn gesehen, so überfällt ihn wie nach dem
Schauder des Fiebers Umwandlung und Schweiß und
ungewohnte Hitze. Durchwärmt nämlich wird er, in­
dem er durch die Augen den Ausfluß der Schönheit
aufnimmt.« (251, a-b, Übersetzung von Friedrich
Schleiermacher)
Es ist Platons Verdienst, daß er mit seiner ästhetischen Theo­
rie des schönen Körpers zugleich eine Rede vom Erschrek-
Zwischen Gesichtern J45
ken über das schöne Gesicht gestiftet hat. Das Sokrates-Wort
vom gottähnlichen Angesicht (theoeides prösopon) bildet die
früheste Spur eines philosophischen Nachdenkens, das sich
im H of der menschlichen Gesichtlichkeit entwickelt. Für
Platon stellt das Gesicht des schönen Geliebten nicht die
Person selbst oder das Innere des Schöngesichtigen dar; der
Schöne ist nur ein Medium der Schönheit, die ihn, den privi­
legierten oder wahrheitsnahen Körper, durchleuchtet. Wir
erfahren von Platon, daß sich im schönen Menschen, wie in
anderen schönen Körperdingen und schönen Anblicken,
eine vormenschliche Perfektionsstrahlung in bevorzugter
Ungetrübtheit vor unserem schmelzenden Auge offenbart.
Der schönste Menschenkörper ist also der durchsichtigste,
der am wenigsten eigensinnige, eigendunkle, der am meisten
vom Guten durchdrungene, durchlichtete. Wo eine Erschei­
nung wie der junge Phaidros auftritt, wiederholt sich in der
Sinnenwelt ein Sonnenaufgang in fazialer Übersetzung. Die
Leuchtkraft seines Gesichts ist also nicht sein Proprium, sie
bleibt das Eigentum des sonnenhaften Ersten und Guten, aus
dem Platon zufolge alles aufstrahlt und hervorfließt, was in
der sinnlichen Welt gutgeformt und wohlgeraten erscheint.
Sich in Phaidros verlieben heißt einer Wahrheit nachgeben.
Dieser intelligenten Wiederannäherung an die vorgeburtlich
geschaute metaphysische Sonne entspricht die erotische H it­
zewelle, die den verdunkelten und ausgekühlten Menschen­
körper schmilzt und eine pathetische Erinnerung an älteste
Seligkeiten freisetzt. Für den Philosophen bedeutet die Er­
schütterung über das schöne Gesicht den Ernstfall einer Ver­
ursachung durch Strahlung. Wie bei allen wohlgeratenen
Körpergestalten wird nämlich im edlen Antlitz das form­
schaffende Licht, das von drüben her hier einfällt, nicht ganz
von der dunklen Materie absorbiert. Gleichsam durch einen
transparenten fleischlichen Schirm projiziert, fällt das tran­
szendente Licht in die trübende Stoffwelt, in der unsere In­
telligenz vorübergehend einquartiert ist. Daher ist Schönheit
146 Kapitel

nach Platon immer epiphanisch und diaphanisch, offenba­


rungshaft und von durchscheinender Gewalt. Ein gottähnli­
ches Gesicht wie das des Phaidros ist das Dia einer unsichtba­
ren Sonne, die nach der idealistischen Reform nicht mehr
Helios heißt, sondern Agathon. Wer sich dieser durchleuch­
tenden Vollkommenheit offenen Auges aussetzt, gerät in den
Zustand einer erotischen Benommenheit, die eine Clair-
voyance ist.
Platons Anstoß zu einem philosophischen Kult des schö­
nen Menschengesichts bliebe freilich, eben durch die Zuord­
nung des Schönen überhaupt zu einer transzendenten Licht­
quelle, doch auf fatale Weise beim abstrakten Schein stehen
und er müßte das individuelle Gesicht ganz durch das un­
persönliche Gesichtsideal überblenden, wenn er nicht die
reale Gesichtserscheinung mit einem seelenerschütternden
Augenaufschlag auf der Seite des Betrachters verbunden
hätte. Indem Platon die Gesichtserscheinung und die Tiefen­
öffnung des Auges im Bann des Gesichts gegenüber als zu­
sammengehörige Größen erfaßt, wird er zum Entdecker des
undarstellbaren und nie zuvor, wie auch kaum je danach, be­
dachten Dramas, das sich von Anfang an zwischen den Men­
schengesichtern vollzog. Auf die Entdeckung, daß Gesichter
einander etwas antun können, was Wahrheits- und Teilhabe­
fragen ins Spiel bringt, greift Ficino zurück; seine Schilde­
rung von dem faszinogenen Blickkontakt zwischen Lysias
und Phaidros stellt den ersten Versuch der neuzeitlichen Phi­
losophie dar, den interfazialen Raum so zu beschreiben, daß
er nicht länger als Vakuum oder als neutrales Zwischen er­
scheint. Auf den Spuren Platons präsentiert Ficino den
Raum zwischen den Gesichtern als ein von turbulenten
Strahlungen erfülltes Kraftfeld. In diesem Feld arbeiten die
einander zugekehrten fazialen Flächen aneinander auf eine
Weise, daß sie jeweils durch ihr Sein-für-das-andere-Gesicht
sich selbst erst zur menschlich-geschichtlichen Gesichtlich-
keit öffnen.
Zwischen Gesichtern 147

Bereits anderthalb Jahrhunderte vor der florentinischen Pla­


ton-Renaissance hatte die frühneuzeitliche Malerei damit
begonnen, den interfazialen Raum als eine Wirklichkeit eige­
nen Rechts zur Anschauung zu erheben. Nirgendwo ist diese
piktorale Entdeckung einander zugewandter Menschenge­
sichter in ihrer eigensinnigen raumbildenden Kraft so ent­
schieden und vollständig vollzogen worden wie in der Cap­
pella degli Scrovegni der Arena-Kirche zu Padua. Giotto hat
in diesen Fresken, die wohl vor 1306 fertiggestellt waren, ein
Alphabet interfazialer Konstellationen aufgeschrieben. In
Dutzenden von Szenen aus der heiligen Geschichte entfaltet
er einen Bildschirm für piktorale Ereignisse, der wie von
Sternbildern aus einander anleuchtenden Menschengesich­
tern bedeckt ist. Die beiden profundesten Studien Giottos
über das biblische Motiv des Von-Angesicht-zu-Angesicht
finden sich in dem Zyklus von Szenen zur Geburt Mariae
und im Passions-Zyklus: die Begrüßung Joachims durch die
Heilige Anna an der goldenen Pforte von Jerusalem und der
Judaskuß. In diesen beiden Kuß-Szenen bietet Giotto die
sublimsten piktoralen Versuche zu einer Metaphysik der Ge­
sichtsbegegnung.
Nach Auskunft der Kunsthistoriker stützte sich der Maler
für seine Szenen aus der Mariengeschichte auf das Proto-
Evangelium des Jakobus56 sowie auf die Gruppe der Erzäh­
lungen Von der Geburt Mariae aus der Legenda aurea. Jacob
von Voragine, der 1298 verstorbene Erzbischof von Genua,
berichtet in seiner Summe christlicher Heiligenmythen von
den Eltern Marias, Joachim und Anna, daß sie als gottes-
fürchtiges Paar nach zwanzigjähriger Ehe noch immer kin­
derlos zusammenlebten. Eines Tages beschloß Joachim, zum
Fest der Tempelweihe nach Jerusalem zu ziehen, um dort vor
dem Altar Jahwes ein Opfer darzubringen und um den er-
56 Vgl. Giuseppe Basile, La Cappella degli Scrovegni e la cultura di
G iotto, in: G iotto, La Cappella degli Scrovegni a cura di G. B., M i­
lano 1992, S. 13.
148 Kapitel

G io tto , D ie B e g r ü ß u n g J o a c h im s u n d d e r H l. A n n a a n d e r P o rta A u r e a ,
F re s k o

hofften Kindersegen zu bitten. Dort erkannte ihn der Prie­


ster und verstieß ihn in einer Aufwallung von Zorn aus dem
Tempel, da er dem Fluch des Gesetzes verfallen sei: »Wie
dürfe der Unfruchtbare unter den Fruchtbaren stehen, der
das Volk Gottes nicht hätte gemehret.«57 Von Schande ge­
zeichnet, meidet Joachim fortan die Gesellschaft der Eiferer
und nimmt Zuflucht zu Hirten in der Wüste. Eines Tages er­
scheint ihm ein Engel des Herrn und kündigt ihm an, daß
seine Frau Anna ein Kind gebären werde, das sie Maria nen­
nen sollten - die spätere Mutter des Messias; Joachim möge
nach Jerusalem zurückkehren, wo seine Frau ihm entgegen-
57 Die Legenda Aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen
übersetzt von Richard Benz, Heidelberg 10. Aufl. 1984, S. 679.
Zwischen Gesichtern 149

kommen werde. Zugleich erhält Anna Besuch von dem


Engel, der ihr verkündet, was er dem Joachim enthüllt hatte.
Giottos Gemälde gibt den Augenblick wieder, als Anna
schon als werdende Mutter Mariä ihren heimkehrenden
Mann unter der goldenen Pforte von Jerusalem begrüßt.
»Also gingen sie sich beide entgegen auf des Engels
Geheiß und begegneten einander. Da freueten sie sich
beide über das Gesicht, das ihnen zugleich erschienen
war, und waren getrost des Kindes, das ihnen war
verheißen.«58
Giotto hat diese zugleich legendenhaft idealisierte und no-
vellenhaft bewegte Szene auf einer kleinen Brücke vor dem
goldenen Tor plaziert. Joachim und Anna beugen sich einan­
der zu und küssen sich in behutsamer Umarmung, jeder als
Mitwisser vom Geheimnis des anderen. Die Köpfe beider
sind von einer goldenen Doppelgloriole überwölbt, die wie
eine präzise malerische Explikation der sphärischen Kom­
munion um das auserwählte Paar gelegt ist. In der Betrach­
terperspektive schiebt sich Joachims Gesicht ein wenig vor
das der Heiligen Anna, so daß der männliche Beitrag zu die­
sem außerordentlichen Kuß den weiblichen um eine Spur
überschattet. Nicht umsonst ist dies der Kuß, mit dem Joa­
chim seine ungezeugte Tochter Maria als sein eigenes kom­
mendes Kind annimmt; es ist ein Kuß, der, in väterlicher
Resignation, eine Zeugung durch eine Begrüßung ersetzt.
Joachim umarmt eine Mutter, die ein Kind unbekannten, also
wohl göttlichen Ursprungs in sich trägt; Anna ihrerseits be­
grüßt einen Mann, der aus Liebe zum Zukünftigen auf eigene
Zeuger-Prätentionen Verzicht getan hat - es versteht sich
von selbst, daß dieses Elternpaar die spätere Allianz von Jo­
seph und Maria zu präfigurieren hat. Ihre Gesichter bilden
einen gemeinsamen Glücks-Kreis; sie schweben in einer bi­
polaren Sphäre intimer gegenseitiger Anerkennung, die in

58 Ibid., S. 681.
150 Kapitel 2

Giotto, Die Begrüßung Joachims und der Hl. Anna an


der Porta Aurea, Ausschnitt

geteilter Hoffnung und in dem gemeinsamen Entwurf einer


erfüllten Zeit gegründet ist. In ihren Mienen schildert sich
das Mitwissen zweier Menschenwesen von der Auszeich­
nung des anderen. Mit ihrem Kuß erkennen Anna und Joa­
chim einander an als kommunizierende Gefäße eminenter
Schicksale und Aufgaben.
Giotto hat den fruchtbaren Augenblick dieser Begegnung
wie ein geistesgegenwärtiger Zeuge festgehalten. Sein auser­
wähltes Paar begrüßt sich nicht in einer menschenleeren
Welt: Sechs Zeugen umstehen die hervorgehobene Szene und
halten sie mit profanen Augen innerbildlich fest. Nicht nur
der Betrachter nimmt wahr, was der Maler zu sehen geben
will, das Bild selber ist voller Augen, die dem dargestellten
Ereignis beiwohnen und es in eine bildimmanente Öffent­
lichkeit ziehen. Als Maler ist Giotto darum schon mehr N o­
vellist als Legendenerzähler, seine Heilsgeschichte hat mehr
von einer Zeitung aus dem heiligen Land an sich als von einer
Zwischen Gesichtern 151
mönchischen Lektüre. Seine Szenen entrollen sich nicht vor
den Blicken von Mysterientheologen und Eremiten, sondern
vor einer städtischen und höfischen Gesellschaft, die den
Unterschied zwischen heiliger und profaner Geschichte bei
der Wahl ihrer Gesprächsstoffe kaum noch beachtet. Die
Novelle lebt, wie die neuzeitliche Gesellschaft, vom Interes­
santen. Was also die Betrachter vor dem Bild erkennen, das
sehen die Umstehenden im Bilde auch. Vierzig Jahre vor
Boccaccio hat Giotto die Menschenrechte des Auges auf
unterhaltsame Anschauungen neu entdeckt; im Geist der
Novelle kündigt sich die neuzeitlich-gesellige Teilung des
Wissens über Ereignisse an, die unsere affektive und teil­
nehmende Intelligenz erregen. Die Fresken setzen eine er­
zählerische Lebendigkeit ins Werk, die den Horizont ihrer
schriftlichen Quellen, insbesondere der simplistischen Le­
gendenliteratur, auf eine frühneuzeitlich bewegte Welt hin
überschreitet. Man möchte die Behauptung wagen, schon
Giotto habe das Prinzip Unterhaltung fürs Auge dem Gesetz
der religiösen Kontemplation übergeordnet. Dies zeigt sich
besonders scharf am heißen Punkt des Begrüßungsgemäldes.
Denn wo die Gesichter der heiligen Eheleute aneinander
rühren, läßt der Maler durch einen optischen Kunstgriff ein
drittes Gesicht zum Vorschein kommen: Man nimmt es
wahr, wenn man den Blick von den beiden Hauptfiguren ab­
zieht und sich in dezentrierter Betrachtung auf das Mittelfeld
zwischen den beiden Gesichtern einstellt. Die Züge dieses
sichtbar-unsichtbaren Dritten treten, sobald man sie einmal
erfaßt hat, bei erneutem Hinsehen immer wieder in Erschei­
nung - durchaus unheimlich, etwas deformiert, nichtsdesto­
weniger in deutlicher Präsenz, wie eine Anspielung auf das
neue Leben, das sich in Annas Leib zu regen beginnt. Es ist
kein kindliches Gesicht, das aus der Union der beiden El­
terngesichter entsteht, und man ist eher geneigt, an den En­
kel Jesus als an das Kind Maria zu denken. In hermeneuti-
scher Perspektive wäre dieses emergente dritte Gesicht zu
1 52 Kapitel

lesen als Höhepunkt eines malerischen Bemühens, Lehr­


stücke populärer Marientheologie in sprechende Bilder zu
übersetzen. In artistischer Hinsicht fällt das neue Gesicht mit
novellistischer Witzigkeit aus seinem frommen Rahmen und
reklamiert ein ursprünglich piktorales Privileg auf Sichtbar­
machung des Unsichtbaren. Es zeugt für eine Geburt des
Wunderbaren aus dem interfazialen Raum. In diesem und
nur in ihm ist es wahr, daß, wie Levinas sagte, einem Men­
schen zu begegnen, bedeute, von einem Rätsel wachgehalten
zu werden. Es scheint, als seien es die Maler der frühen Neu­
zeit gewesen, die von dieser Wachhaltung des Menschen
durch das ihm zugekehrte Gesicht des anderen als erste N o­
tiz nahmen.
Mit der Szene des Judaskusses begegnet der Betrachter ei­
nem Gemälde, in dem der Raum zwischen zwei mensch­
lichen Gesichtern mit extremen antithetischen sphärischen
Spannungen aufgeladen wird - es ist das Bild, das in der
zwölfteiligen Reihe der Passionsszenen, nach dem Verrat,
dem letzten Abendmahl und der Fußwaschung, an vierter
Stelle auftritt. Giotto hat in diesem Fresko, das beide Ak­
teure im Profil darstellt, eine dreifache Differenz zwischen
Christus und Judas ausgearbeitet. Der Bruch zwischen ihnen
betrifft nicht bloß den Abstand, der jedes Individuum aus
der Menge der Sterblichen von jedem anderen trennt; er zer­
reißt auf dreifache Weise das anthropologische Kontinuum
zwischen den Personen und versetzt sie in radikal verschie­
dene Ränge und Orte des Seins. Als Simultanportraitist des
Christus und des Judas wird Giotto zum Maler der anthro­
pologischen Differenz.
Auf der ersten Ebene stehen bei diesem face-ä-face der
Gottmensch und der bloße Mensch einander gegenüber.
Giotto hat hier wie auf allen Fresken des Scrovegni-Zyklus
die Heiligen und Christus selbst durch eine goldhelmartige
Gloriole um das Oberhaupt von den nicht-leuchtenden ge­
wöhnlichen Sterblichen abgehoben. Mit diesem konventio-
Zwischen Gesichtern 153

Giotto, Der Verrat des Judas

nellen Stilmittel kommentiert der Maler den metaphysischen


Grund für die Ungleichheit zwischen den Menschen; er prä­
sentiert die Heiligen inmitten der Welt wie göttliche Schau­
spieler in einer irdischen Komödie. Auf diese Weise vollzieht
er piktoral den theologischen Gedanken vom Geheimnis der
Ungerechtigkeit nach, der die undurchdringliche Unter­
scheidung zwischen den Auserwählten und den Profanen
statuiert; durch die Aureolen gibt er dem mysterium iniqui-
tatis einen Platz in der Sichtbarkeit. Auf der zweiten Ebene
stehen sich in Judas und Christus der vornehme und der vul­
gäre Mensch einander in realer Gegenwart gegenüber. Giotto
hat zur Verdeutlichung dieser Differenz auf verbreitete phy-
siognomische Überlieferungen zurückgegriffen; sein Chri­
1 54 Kapitel 2

stus überragt den Judas nicht nur durch Körpergröße und


durch die ausgewogene Schönheit seines Hauptes, an dem
sich Stirn, Mittelgesicht und Untergesicht in noblen Propor­
tionen die Waage halten, sondern auch durch seine aristokra­
tische Haltung, an der sich ein Hauch von Herablassung zu
dem fast animalisch geduckt und listig aufblickenden Judas
ablesen läßt. Rudolf Kassner hat in einer physiognomischen
Deutung dieser Gesichtskonstellation auf die bedrohliche
Einkerbung im Profil des Judas zwischen Stirn und Nase
hingewiesen: »Dieser böse Winkel bedeutet in der Tat Unge­
heures: daß der Verstand oder die Verstandeskräfte von den
seelischen geschieden seien.«59 Ohne Zweifel hat Giotto sei­
nen Christus apollinisiert und ihn im Licht westeuropäisch­
feudaler Aristiegedanken dargestellt; ihm steht Judas gegen­
über als ein verschlagener, orientalisch-plebejischer Trieb­
charakter mit disharmonischen Zügen.
Die entscheidende Differenz zwischen Christus und Judas
ist in Giottos Gemälde aber weder die metaphysische zwi­
schen dem Gottmenschen und dem ungeheiligten Sterbli­
chen noch die physiognomische zwischen dem vornehmen
und dem gemeinen Mann. In der Darstellung des Blickkon­
takts zwischen den beiden Gestalten macht Giotto eine
dritte, sphärologisch relevante Differenz sichtbar; erst in ihr
läßt sich der Grund für die Unmöglichkeit einer intimen Al­
lianz zwischen den beiden Protagonisten erkennen. Der Be­
trachter erfährt im fragend-wissenden Augenausdruck der
Christusgestalt eine offene, sphärenbildende Kraft, die selbst
den Verräter in ihren Raum reintegrierte, wenn dieser ihn
nur betreten könnte, während er in Judas eine gierige Iso­
liertheit verkörpert sieht, die auch bei dichter physischer
Nähe zum Gegenüber sich dem gemeinsamen Raum nicht
eingliedern kann. So küßt Judas, was er nicht erreicht, und
sein Kuß gerät zu der obszönen Geste dessen, der in den Lie-

59 R u d o l f K a s s n e r , P h y s i o g n o m i k , D a r m s t a d t 1 9 5 1 , S. r 8 2 .
Zwischen Gesichtern 155

Giotto, Der Verrat des Judas, Ausschnitt

besraum eindringt mit der Gesinnung des Unzugehörigen.


In der Sprache Augustins hieße das: Er krümmt sich ein in
sich selbst wie ein Dieb, der raubt, was ihm schon geschenkt
wurde und was ihm gehörte, wenn er zu nehmen verstünde,
was er hat. Er steht, auch in der Nähe, immer schon abseits,
ein Agent des Egoismus, der sich ins Zentrum einer ekstati­
schen Gemeinde eingeschlichen hat. Sein Blick knurrt gegen
die vornehm offene Aura des Gottmenschen mit lauerndem,
bösdummem Ausdruck; noch in engster körperlicher Nähe
zu dem souveränen Subjekt agiert Judas als ein in seine kal­
kulierende Gier eingeklebter Schauspieler, der die Distanz zu
seiner Rolle verloren hat. Wollte man Sartres Terminologie
bemühen, so verkörpert Judas die mauvaise foi, die auf die
Leugnung des freien Abstands von der eigenen Lebenspan­
tomime folgt. Noch gegenüber dem Lehrer der Freiheit, dem
Inbegriff inspirierender Gegenseitigkeit und teilnehmender
Beseeltheit, kehrt Judas eine erniedrigte Selbsthaftigkeit her­
vor, die in bezug auf Dinge nur habsüchtige Verfügung und
r*6 Kapitel 2

im Hinblick auf Menschen nur manipulative Transaktionen


kennt. Der latente Text zur Szene des Judaskusses lautet un­
mißverständlich: der verkaufte Gott. Giotto zeigt, wie die
zwölffaltig zwei-einige Liebes-Sphäre zwischen Christus
und seinen Jüngern an dieser Stelle zerrissen wird. Sie fällt ei­
nem erniedrigenden Interesse zum Opfer, das sich selber als
das höhere setzt. In Giottos Bild klafft zwischen den Auge in
Auge einander konfrontierten Gesichtem dieser sphärologi-
sche Riß dramatisch auf. Zwischen den Profilen der Protago­
nisten öffnet sich im Bild ein schmaler Hohlraum, der an die
Form eines Kelches erinnert. Christus und Judas tauschen ei­
nen Blick, aus dem kein gemeinsames Leben mehr entstehen
kann. Es ist, von der Christusgestalt her gesehen, ein Blick
durch die zerborstene zwei-einige Sphäre hindurch ins Ent­
seelte, zwei Handbreit vor den eigenen Augen. Für den Ver­
räterjudas steht der sphärenbildende Mensch da wie ein un­
erreichbares, undurchdringliches, fremdes Ding. N un ist es
der Tod, der am Angesicht des Gottmenschen zehrt.
Giottos Erkundungen im Zwischengesichtsraum sollten
nicht folgenlos bleiben; schon unter seinen Nachfolgern tra­
ten Maler hervor, die es wagten, die Madonna und das Jesus­
kind einander zugekehrt, ja einander küssend darzustellen,
als wollten sie den Betrachter in einen Zeugen verwandeln,
der von den Intimitäten der heiligsten Personen nicht mehr
als Seitenansichten gewinnt. Ambrogio Lorenzetti hat in sei­
ner Thronenden Madonna von Massa Marittima ein solches
mütterlich-kindliches tete-a-tete mitten in eine Öffentlich­
keit von Engeln und heiligen Adoranten plaziert; ein Meister
aus Bologna malt zwischen 1360 und 1370 einen Madonna
und Kind-Triptychon mit musizierenden Engelpaaren an den
Seiten, auf dem der Knabe und seine Mutter Wange an Wange
die Augen ineinander versenken. Hier wandelt sich das Kult­
bild, das den Betrachter unter frontaler Zuwendung in seinen
Sinnraum ziehen will, in die gemalte Novelle vom heiligen
und zugleich privaten Eros. Das Jesuskind ist nicht länger im-
Zwischen Gesichtern 157

Ambrogio Lorenzetti, Thronende Madonna, mit Engeln und Heiligen


ij8 Kapitel

mer schon der Erlöser, der auf dem Mutterschoß thronend die
Leidensgeschichte vorwegnimmt; es ist fast ganz zu dem na­
türlichen Kind einer natürlichen Mutter geworden, ohne Sei­
tenblick auf die herandrängenden Gläubigen, die Heilstaten
fordern und am Säugling saugen. Als kindliches Kind kann
das infans Jesus, eine Sekunde lang von Repräsentationsauf­
gaben frei, in Zärtlichkeiten mit seiner Mutter aufgehen; kein
heiliges Skript entführt hier den Säugling in kosmische Kon­
texte; für einen prekären Augenblick genießt der designierte
Erlöser ein Aufatmen von der Heilsgeschichte.
Es ist kein Zufall, daß Spiritualisten verschiedener Cou­
leurs an solchen Italienisierungen des Evangeliums Anstoß
genommen haben. Der russisch-orthodoxe Priester und Iko­
nenmaler Pavel Florenskij, ein Verteidiger des alt-osteuro­
päischen Ikonen-Konzepts, holte zu einem verspäteten Ge­
genschlag aus, als er noch 1922 die These aufstellte:
»Die religiöse Malerei des Westens war eine einzige
künstlerische Unwahrheit, und die Künstler, die, wäh­
rend sie in Worten Ähnlichkeit und Treue gegenüber
der abgebildeten Wirklichkeit verkündeten, keinerlei
Berührung mit d e r Wirklichkeit hatten, die abzubil­
den sie sich anmaßten und die sie abzubilden wagten,
hielten es nicht für nötig, wenigstens den dürftigen
Hinweisen der Überlieferung der Ikonenmalerei Ge­
hör zu schenken, d. h. dem Wissen von der geistigen
Welt, das die katholische Kirche ihnen mitteilte.«60
Wie alle Denker, die vom christianisierten platonischen Furor
gefangengehalten werden, verkennt Florenskij, daß die Male­
rei der Renaissance in einem radikalen Wechsel des Wahr­
heitsmodells ihre philosophische Grundlage hat: Der euro­
päische Westen hat in einem weltgeschichtlichen Akt der
Versinnlichung und Dramatisierung des Wahrheitsbezugs
Urbilder gegen Urszenen ausgetauscht. Infolge dieser semio-
60 Pavel Florenskij, Die Ikonostase. U rbild und G renzerlebnis im
revolutionären Rußland, Stuttgart 1990, S. 74-75.
Zwischen Gesichtern 159

Ambrogio Lorenzetti, Thronende Madonna, mit Engeln und Heiligen, Aus­


schnitt
i6 o Kapitel

Joos van Cleve, Marienbild, nach 1511, Ausschnitt

politischen Grundentscheidung haben europäische Maler


Anblicke der bewegten und belebten Welt als wahrheitsfä­
hige Szenen für die Darstellung wiedergewonnen, während
der platonisierende Osten - einschließlich des Islams61 - sein
61 U ber die Imagologien des Islam informieren die A rbeiten des fran­
zösischen O rientalisten H enry C orbin, insbesondere: Die smarag­
dene Vision. D er Licht-M ensch im persischen Sufismus, München
1989.
Zwischen Gesichtern 161

Bild-Konzept weiterhin an der standbildlichen Erhöhung


und Ruhigstellung der hereinscheinenden Ideen orientierte.
Es gehört zum revolutionären wahrheitstheoretischen Enga­
gement der beginnenden europäischen Neuzeit, daß sie das
Prinzip Forschung mit dem Prinzip Offenbarung zusam­
menzuführen versuchte, während die östliche Orthodoxie,
rechtgläubig platonisch, monarchistisch, hierarchistisch, dar­
auf beharrte, das Streben nach der Wahrheit immer nur als
Heimreise aus dem Abbildlichen ins Urbildliche auszulegen.
Für die Bildkultur wie die Politik des europäischen Ostens
hat sich die Wendung zum Einzelnen nie so vollzogen, wie es
den Italienern und ihren Nachfolgern im Westen zur zweiten
Natur geworden war. Noch die Kunst des sozialistischen
Realismus im sowjetischen Rußland verharrte im platonisie-
renden Protest gegen die westliche Liaison von Novelle und
Urszene: Sie glorifizierte, auf entschieden anti-italienischen
Wegen, die ewigen Ikonen von den Heiligen der Produktion.
Florenskijs Polemik gegen die westliche Malerei hat also
ihren Sachgrund in dem bildtypologischen Gegensatz zwi­
schen Eidos und Novellenszene: Wer Proto-Szenen zu sehen
bekommt, wo er Proto-Typen suchte, kann leicht der Ver­
suchung erliegen, von künstlerischer Unwahrheit zu reden,
während doch von einem veränderten piktoralen und visu­
ellen Wahrheitsmodell zu sprechen gewesen wäre. Folglich
kann Florenskij dem bildererzeugenden Elan der westlichen
Malerei seit der Renaissance nicht gerecht werden, weil er
nicht nachvollzieht, daß in ihr eine nach-platonische szeni­
sche Wahrheitsidee in Führung gegangen ist. Auf ihrer Linie
wird die Geschichte der großen neuzeitlichen Kunst zu ei­
nem Fackellauf der Verlebendigung unserer Ansichten vom
Seienden im Medium von erhöhten Szenen. Erst in ihrer
Folge wurde an der Wende zum 20. Jahrhundert jener zweite
Aufbruch der bildenden Künste zur freien Bildlichkeit mög­
lich, die wir unter dem philosophisch noch immer kaum ein­
geholten Ausdruck »Kunst der Moderne« ansprechen. Sie
i 6z Kapitel

bedeutet in der Sache nicht weniger als die Überwindung des


gemeineuropäischen Dogmas vom Objekt und die Befreiung
der Wahrnehmung vom weltalterlangen Dienst der Gegen-
ständigkeit; zugleich befreit sie die Künstler von der uner­
träglich gewordenen Zumutung, ihre Genialität unter den
Fesseln der Naturnachahmung zu beweisen.62

Die Kunstgeschichtsschreibung hat sich erst in jüngerer Zeit


eine angemessen komplexe Vorstellung von dem langen Weg
der europäischen Bildkultur zur Darstellung des individuali­
sierten Menschengesichts erarbeitet.63 Summarisch läßt sich
dieser Weg als bildnerischer Prozeß vom Christogramm zum
Anthropogramm beschreiben. In dieser Nacherzählung des
aufsteigenden Weges zum Portraitgesicht erscheint die west­
europäische religiöse Andachtskultur als Treibhaus der Seh­
kraft, die nach jahrhundertelangem Ausharren vor den ima-
gines Christi zuletzt auch das profane menschliche Gesicht in
seiner unvertretbaren Einzigartigkeit meditiert und wie ei­
nen weltheiligen Text zu lesen gelernt hat. Die Keimformen
aller späteren Portrait-Optiken wären demnach in Chri­
stusbildern zu suchen, deren typologische Extreme mar­
kiert werden vom katholischen Passionsgesicht und vom
othodoxen Verklärungsgesicht. Die typologischen Grenz­
werte der Christographie sind der westeuropäische Kruzifi-
xus und die osteuropäische Wahre Ikone. Über diesen beiden
Typen entfaltet sich in Ost- und Westeuropa eine unermeß­
lich reiche piktorale Praxis, deren Folgen sich bis in den

62 Vgl. Boris G roys, Kunst-Kom m entare, Wien 1998, S. 119h


63 D okum ente dieses Klärungsprozesses in der Kunstgeschichtsschrei­
bung sind v. a. die Arbeiten von G ottfried Boehm, Bildnis und Indi­
viduum. U ber den U rsprung der Portrait-M alerei in der italieni­
schen Renaissance, München 1985, sowie von H ans Belting, Bild
und Kult. Eine Geschichte des Bildes vor dem Zeitalter der Kunst,
M ünchen 1990; ferner Jean-Jacques C ourtine/C laudine H aroche,
H istoire du visage. Exprim er et taire ses emotions (X VI-XIX siede),
Paris 1988.
Zwischen Gesichtern

Joel-Peter Widkin, The History o f the White World

Augenhintergrund europäischer Menschen sedimentierten.


Diese kultischen Bild-Saaten seien gleichsam in einem tau­
sendjährigen Frühbeet herangezogen worden, um schließ­
lich ins Freie, das heißt in die unverhohlen profane Welt der
aristokratischen und bürgerlichen Selbstbeschreibungen
ausgepflanzt zu werden. In den zahllosen Portrait-Bildern
europäischer Individuen seit der Renaissance wird also nicht
nur der sogenannte neuzeitliche Individualismus malerisch
mitbegründet; die präzisen Lektüren in den Gesichtern von
Menschen aller Temperamente, aller Stimmungen und fast
164 Kapitel

aller Stände bezeugen zudem unmißverständlich, daß für die


Maler wie die Gesellschaften der Neuzeit eine Epoche neu­
artig animierender Geschäfte auf einem befreiten physiogno-
mischen Markt angebrochen war. Auch im isolierenden Por­
trait, das einem einzigen Gesicht einen ganzen Bildraum
einräumt, ist die neo-platonische Bildordnung jetzt aufgeho­
ben; die neuzeitlichen Portraits sind keine Charakter-Iko­
nen, die die Teilhabe eines individuellen Gesichts an einem
ewigen fazialen Eidos bezeugen, sondern szenische Variatio­
nen über eine dramatische faziale Präsenz. Auch im Portrait
als Gattung vollzieht sich der große Modellwechsel von der
Ikone zur Urszene, selbst wenn es den Anschein hat, als sei
das isoliert dargestellte Einzelgesicht aus manifesten Hand-
lungs- und Ereignisbezügen herausgelöst. In Wahrheit dür­
fen isolierte Gesichter jetzt in Einzelbildern herausgehoben
werden, weil sie unter den neuen Prämissen des Sehens auch
in ruhiger, scheinbar statischer Vergegenwärtigung als latent
dramatische Präsenzen erkannt werden können. Jedes ein­
zelne Personenbildnis realisiert ein faziales Ereignis, das aus
der piktoralen Christologie in die profane Dimension über­
gesprungen ist. Hinter jedem neuzeitlichen Portrait verbirgt
sich das Ecce-homo-Gesicht - die Urszene der Menschen­
bloßstellung, mit der Jesus neben Pilatus sein Debüt als
Überbringer des geschichtlich neuen Wahrnehmungs-Impe­
rativs gab: Erkenne im Antlitz dieses Menschen den sterb­
lichen G ott!64 Von der augenöffnenden Gewalt dieser Szene

64 In einem der bedeutendsten jüngeren Versuche zu einer Philosophie


des Gesichts: Vision und Visage. Ü berlegungen zu einer Faszinati­
onsgeschichte der Medien, in: Wolfgang M üller-Funk/H ans U lrich
Reck (Hg.), Inszenierte Im agination. Beiträge zu einer historischen
A nthropologie der Medien, W ien-New York 1996, S. 87-108, hat
Thomas Macho den A kzent darauf gesetzt, daß ein darstellungswür­
diges G esicht zunächst eo ipso ein Totengesicht sein mußte: das des
A hnen, des toten Flerrschers, des Gottes. Das jesuanische Ecce homo
w ürde vor diesem H intergrund bedeuten: E rkennt in diesem Leben­
den den, der nach seiner T ötung der G o tt sein wird.
Zwischen Gesichtern 165

profitiert nach der Wende zur Neuzeit jedes profane Indi­


viduum, das als uomo singolare auf Gemälden erscheint, ja
vielleicht sogar noch jeder Mensch des 20. Jahrhunderts auf
seinen informellsten Privatfotos. Nach der christlichen Seh­
schule kann potentiell jedes nach neueren Techniken gemalte
oder sonstwie wiedergegebene Gesicht zu einer Novelle, zu
einem bemerkenswerten visuellen Zwischenfall werden, weil
jedes Portrait einen Menschen präsentiert, für den, wie abge­
schwächt auch immer, noch immer das »Sehet-welch-ein-
Mensch« gültig ist. Jedes Portrait zeigt ein Gesicht, das dazu
bestimmt ist, andere zur Anerkennung seiner Singularität
herauszufordern. Wenn jede einzelne Seele für Gott interes­
sant ist, so darf ihr Gesicht, unter den gegebenen Prämissen,
auch an die Aufmerksamkeit von ihresgleichen appellieren.
Das Portrait als malerische Handlung ist Teil einer protrahie-
renden, das heißt Züge des Charakteristisch-Individuellen
hervorziehenden Prozedur, die Szenen auf Urszenen zu­
rückbezieht und Ereignisse in Urereignisse einbettet. Durch
diese Fundierung der besonderen Szenen und Anblicke in
Urszenen des bewegten Lebens beginnt der neuzeitliche
Raum der Sichtbarkeiten zu explodieren. Eine neue Sehtech­
nik, eine verfeinerte Gesichtslesekunst, eine physiognomi-
sche Zeichenkunde emanzipieren die fazialen Szenen von der
ikonischen Ruhe. So kann infolge der novellistischen Kultur­
revolution auch das Gesicht des profanen Einzelnen vorrük-
ken in den Raum der Dinge, die zur Darstellungswürde er­
höht sind; Gesichter werden visuelle Würdenträger infolge
ihres Aufstiegs in die künstlerisch nachbildbare und vorbild­
bare Welt.
Von diesem Aufstieg ist eigens zu reden. Er läßt sich unter
keinen Umständen nur als ein Vorgang verstehen, der allein
die Kunstgeschichte anginge; doch auch eine erweiterte Kul­
tur- und Mediengeschichte des Bildes könnte von der Ge­
burt des Gesichts aus dem interfazialen Raum noch nicht
zureichend Rechenschaft geben, weil dies ein Geschehen
Kapitel 2

involviert, das weit vor alle Darstellungsfragen zurück­


verweist. Die Hebung des profanen Gesichts zur Portrait-
würde ist selbst eine sehr späte und prekäre Operation im
Zwischengesichtsraum, die als solche in keinem einzelnen
Portrait erscheinen kann. Portraitkunst, als protrahierendes,
Individualität hervorhebendes oder herausziehendes Verfah­
ren, gehört in eine umfassende gesichterproduzierende Be­
wegung, die über alle kunst- und bildgeschichtlichen Ma­
nifestationen hinaus einen gattungsgeschichtlichen Status
besitzt. Die Möglichkeit von Gesichtlichkeit65 ist mit dem
Prozeß der Anthropogenese selbst verbunden. Die Hervor­
ziehung von Menschengesichtern aus Säugetierschnauzen:
Das deutet auf ein faziales und interfaziales Drama, dessen
Anfänge in die frühe Gattungsgeschichte zurückreichen. Ein
Blick in die Fazialformen der menschennächsten Großaffen
verrät, daß auch sie von ferne unterwegs zu einer menschen­
nahen Gesichtlichkeit sind, obwohl sie von dem evolutio­
nären Bogen zwischen dem Säugetierkopf und dem Men­
schengesicht kaum die Hälfte zurückgelegt haben. Diese
sowohl biologisch als auch kulturell motivierte Heraushe­
bung der Menschengesichter aus den Tiergesichtern nennen
wir die Protraktion. Nicht das Portrait stiftet die Hervor­
hebung des Gesichts bis zur Erkenntlichkeit, sondern die
Protraktion hebt die Gesichter in einem nach vorne offenen
fazialgenetischen Prozeß bis an die Schwelle der Portraitfä-
higkeit herauf. Die Protraktion ist die Lichtung des Seins im
Gesicht; sie stellt die Aufforderung dar, Seinsgeschichte als
somatisches Ereignis zu denken. Durch die Gesichtsöffnung
wurde der Mensch - mehr noch als durch die Zerebralisie-
rung und die Erschaffung der Hand - zum weltoffenen oder,

65 Dieser A usdruck geht u. W. zurück auf Gilles Deleuze und Felix


G uattari, die im 7. Kapitel von Tausend Plateaus: »Das Jahr Null. Die
Erschaffung des Gesichts«, Umrisse zu einer Theorie der historisch
kontingenten visageite nach-christlicher europäischer Individuen
vorlegt haben; Berlin 1992, S. 229-262.
Zwischen Gesichtern

Albrecht Dürer, Selbstbildnis im Pelzrock, Ölgemälde, 1500, Alte Pinako­


thek, München
168 Kapitel

was hier mehr bedeutet, zu dem mitmensch-offenen Tier.


Ihr Grund, in anthropologischen Begriffen ausgedrückt, ist
eine Luxusevolution in einem insulierenden Gruppentreib­
haus; ihr Agens und Medium ist, neben anderen Momenten,
vor allem der Zwischengesichtsraum oder die interfaziale
Sphäre. Wer nach einem Beweis für die Wirklichkeit und
Wirksamkeit sphärischer Intimprozesse sucht, kann hier das
subtile Realissimum mit Händen greifen. Es genügt, sich
darüber Rechenschaft zu geben, daß Menschengesichter in
einem langfristigen evolutionären Drama sich gewisserma­
ßen durch bloßes gegenseitiges Anschauen reziprok aus der
Tiergestalt herausgezogen haben. Natürlich stehen Anblick
und Selektion miteinander in positiver Beziehung. Das
macht: Die Zuwendung von Gesichtern zu Gesichtem ist
beim Menschen gesichtsschöpferisch, gesichtseröffnend ge­
worden, weil über selektionswirksame Bevorzugungen die
Willkommenheitsqualitäten von Gesichtern für die Augen
des potentiellen Geschlechtspartners in Gattungsprozesse
eingehen. Man könnte also sagen, daß Menschengesichter
sich auf gewisse Weise gegenseitig erzeugen; sie blühen auf in
einem Schwingkreis luxurierender wechselseitiger Öffnung
aufeinander hin. Schon die altmenschlichen Gesichter der
Hordenzeit sind Skulpturen der Aufmerksamkeit, die die
einander anblickenden Sapiens-Exemplare sich gegenseitig
entgegenbringen. Der evolutionär erfolgreiche Typus von
Homo sapiens sapiens, der vor 60- bis 70000 Jahren in der
dritten Exodus-Welle (nach dem Homo erectus vor 1 Mil­
lion Jahren und dem Neandertaler vor 200000 Jahren) von
den Rändern der afrikanischen Wüsten nach Südwestasien
und in das Mittelmeergebiet vordrang, verkörperte eine et­
was grazilere Seitenlinie der Gattung Homo; von ihm, der
nach einem Hauptfundort in Südwestfrankreich Cro-Mag-
non-Mensch heißt, ging die Entwicklung zum Homo sapi­
ens aestheticus aus, bei dem sich Anmut mit Selektionsvor­
teilen verbindet. Die jüngere faziale Genesis - mit ihren
Zwischen Gesichtern 169

Vom Frosch zum Dichter, aus der Sammlung Johann Caspar Lavater. Das
Original umfaßt noch weitere Zeichnungen
I70 Kapitel 2

schönen und häßlichen Monstren - geschieht in einem


interfazialen Treibhaus, in dem Menschengesichter wie
physiognomische Orchideen heranwachsen. Diese Faziali-
sierung ist freilich ein gattungsweit akutes noetisch-faziales
Drama. Gilles Deleuze und Felix Guattari, die neben Macho
die originellste Theorie der Gesichtsentwicklung vorge­
tragen haben, sind ihrem eigenen degeneralisierenden Elan
erlegen, als sie in ihren Reflexionen über die Erschaffung
des Gesichts bei den Europäern die Behauptung aufstell­
ten:
»Die >Primitiven< mögen die menschlichsten, die
schönsten, die vergeistigsten (sic!) Köpfe haben, sie ha­
ben kein Gesicht und sie brauchen auch keins. Und
zwar aus einem einfachen Grund. Das Gesicht ist
nichts Universelles. Es ist nicht einmal das Gesicht des
Weißen Mannes, es ist der Weiße Mann selber mit sei­
nen breiten weißen Wangen und dem schwarzen Loch
der Augen. Das Gesicht ist Christus, das Gesicht ist
der typische Europäer... Das Gesicht ist also von N a­
tur aus eine ganz spezielle Vorstellung.«66
Es liegt auf der Pfand, daß diese Zuspitzungen nur möglich
sind, weil die Autoren eine von der Sache her notwendige
elementare Unterscheidung, die zwischen der Protraktion
des Sapiens-Gesichts überhaupt und der charakterologi-
schen »Beschriftung« der fazialen Tafel, nicht vollzogen
haben. Infolgedessen konnten sie das gattungsweit gegen­
wärtige offene Sapiens-Gesicht mit dem kulturspezifisch
geprägten, physiognomischen oder semantischen Gesicht
verwechseln. In ihrer fruchtbaren methodischen Aversion
gegen das trügerisch Universelle machen sich die Fälle-Den-
ker Deleuze und Guattari unnötig blind gegen den Gesamt­
fall der Fazialität, das langfristige fazialgenetische Drama,
das ohne Ausnahme die gesamte Menschengattung umfaßt
66 Gilles Deleuze, Felix G uattari, Tausend Plateaus (s. Anm. 65),
S. 242-243.
Zwischen Gesichtern U1
und das stets in zwei Akten über die primäre Antlitzeröff­
nung und die sekundäre Kultur- und Charaktereinschrei­
bung verläuft.67 Der interfaziale Primärprozeß ist eine für die
Sapientes insgesamt charakteristische genetisch-ästhetische
Bewegung, deren Bahn sich durch den einfachen Vergleich
von Menschenkindergesichtern mit Schimpansenjungenge­
sichtern vergegenwärtigen läßt; dieser Prozeß ist mindestens
eine Million Jahre tief, sein Resultat ist der Cro-Magnon-Ty-
pus in seinen weltweit verstreuten bio-ästhetischen und ras­
sischen Verzweigungen. In der Fazialgenesis resümiert sich
eine Universalgeschichte luxurierender Teilnahmen von
Menschen an der Gesichtsschöpfung von ihresgleichen. Wer
wissen will, was den Inhalt dieser Geschichte ausmacht,
braucht nur nach dem Grund der Differenz zwischen dem
Großaffengesicht und dem Menschengesicht zu fragen. Sind
diese Pole der Protraktion erst einmal markiert und ist die
Bahn der fazialgenetischen Bewegung damit aufgezeichnet,
so läßt sich nach den Motiven oder Motoren fragen, die den
Prozeß zum Menschengesicht hin durch Antrieb oder Zug
bewegen.
Das effiziente Movens oder Protrahens der menschlichen
Fazialgenesis wird faßbar, indem man sich des Treibhauscha­
rakters aller urgeschichtlichen und geschichtlichen homini-
den Lebensformen vergewissert; in ihm ist das interfaziale
Wärmefeld eine entscheidende Zelle. Um eine Vorstellung
davon zu gewinnen, welche affektiven Temperaturen in den
frühgeschichtlichen Hordentreibhäusern herrschten, genügt

67 Die u. E. richtige Gegenthese zu D eleuze/G uattari wird von Fran-


9oise Frontisi-D ucroux in ihrem Buch D u masque au visage. Aspects
de l’identite en Grece ancienne, Paris 1995, S. 21 aufgestellt: »Das
Gesicht ist ohne Zweifel eine universale Realität, es könnte eine In ­
variante sein. U nter allen Klimata, in allen Gesellschaften, wie auch
immer deren K ultur beschaffen sein mag, haben die Menschen im­
mer das, was wir ein Gesicht nennen. A ber es ist nicht sicher, daß alle
Sprachen einen spezifischen A usdruck besitzen, um es zu bezeich­
nen.« (Übers. P. Sl.)
I 72 Kapitel 2

es, an das noch heute gattungsweit verbreitete Entzücken er­


wachsener Frauen wie auch väterlich empfindungsfähiger
Männer vor hübschen Säuglings- und Kleinkindgesichtern
zu erinnern. Erklärungsbedürftig an dieser spontanen N ei­
gung zu entzückt-freundlicher Anteilnahme am Kinder­
gesicht ist nicht sosehr ihre Universalität als vielmehr ihr
gelegentliches Fehlen bei Individuen, die durch Spezialisie­
rungen ihrer Affektivität oder Gefühlsblockaden ausge­
schlossen sind aus dem lieblichen Mikroklima, das sich zwi­
schen Erwachsenen- und Säuglingsgesichtern ansonsten
allenthalben spontan einspielt. Der gattungsweit wirksame
Zwischengesichts-Treibhaus-Effekt - der sich vor allem in
der Freude an der sichtbaren Freude des begegnenden Ge­
sichts zeigt - ist seinerseits eingebettet in die emotionale
Dichte der primären Soziosphären. In diesen sind die H or­
den- und Familienmitglieder füreinander in hohem Maß af­
fektiv durchsichtig; ihre partizipativen Muster sind bipolar
und multipolar a priori miteinander synchronisiert. Im in­
nersten Ring der sozialen Partizipations-Glocken, die das
Gruppenleben emotional rhythmisieren und klimatisieren,
findet sich fast überall ein besonders geschütztes und aufge­
ladenes Feld mit höchst verfeinertem Nest- und Brutkasten­
charakter: der Mutter-Kind-Raum. Man könnte mit sehr
guten Gründen den Versuch wagen, die gesamte Anthropo-
genese von diesem primären rooming-in her zu beschreiben.
Was wir mit dem unglücklichen modernistischen Ausdruck
Gesellschaft bezeichnen, ist in evolutionärer Sicht vor allem
ein Mantel-System aus entbehrlicheren Personen, später un­
ter dem Namen Väter bekannt, deren Funktion es ist, die so
unentbehrliche wie empfindliche Kern-Sphäre des Mütter-
und-Kinder-Feldes zu schützen. In den Mutter-Kind-Sym-
biosen besitzt der Interfazialbrutkasten seine wärmsten, of­
fensten und normalerweise auch heitersten Stellen. Mit dem
Gesichtsverkehr zwischen Müttern und Kindern im Tier-
Mensch-Übergangsfeld beginnt die eigentliche gesichtspla-
Zwischen Gesichtern 173

stische Operation am Menschen. Sie schreibt nicht irgend­


welche ästhetischen Launen in die Gesichtszüge von Indivi­
duen ein, so wie die moderne plastische Chirurgie es für ihre
Kunden tut, die ihr natürliches Gesicht verwerfen; sie gibt
den menschlichen Gesichtern als solchen erst ursprünglich
ihren offenen Tafelcharakter; dieser ist der Goldgrund für
faziale Schönheit und Eigenheit. Es müssen über große
Zeiträume hinweg hohe evolutionäre Prämien auf die Her­
vorbringung von zarteren, offeneren, entzückenderen, freu­
defähigeren Gesichtsbildern bei Menschenwesen ausgesetzt
gewesen sein. Darwins Theorem muß in diesem Punkt abge­
wandelt werden zu einem Gesetz vom Überleben des At­
traktiveren. Erhöhung von Attraktivität von Menschen für
Menschen ist aber das Gegenteil von Umweltanpassung im
Sinne von Fitness-Steigerung: Sie beweist den frühen Zug
der Evolution zur frei luxurierenden Blütenbildung im ero­
tisch-ästhetischen Treibhaus der Menschwerdung. Wie an­
ders hätten die von Deleuze und Guattari erwähnten Primi­
tiven zu ihren so menschlichen, schönen, vergeistigten
»Köpfen« kommen können? Wahrscheinlich sind die ver­
schiedenen Großgruppen der Sapiens-Familie durch eigen­
tümliche Ethno-Ästhetiken voneinander geschieden; des­
wegen ist nicht garantiert, daß alle allen sinnlich gefallen
könnten. Alles Spezifische und Singuläre jedoch, was als
Charakterzug oder als Buchstabe und Linie regionaler Tem­
peramente und erworbener Eigenschaften im Gesicht notiert
wird, kann in die faziale Tafel nur eintreten, wenn diese zu­
vor schon durch die Protraktion als Lichtung für physiogno-
mische Eintragungen und Eigenschaftszufälle geöffnet wor­
den ist. Vom modus operandi dieser Protraktion gibt am
ehesten das gegenseitige, zärtlich aufgeheiterte Sichanleuch-
ten von Mütter- und Kindergesichtern in der Periode des
nachgeburtlichen bonding eine Anschauung. Ihr Hin und
Her ist in alten stammesges'chichtlichen Synchronisationen
zwischen den Akteuren der urszenischen Zärtlichkeitsspiele
z74 Kapitel

verankert; es ist Teil eines Ensembles angeborener Schemata


bipersonalen behutsamen Partizipierens.68
Der lange Weg des homo sapiens zur aktuellen Gesicht-
lichkeit fällt wohl zu mehr als fünfundneunzig Prozent sei­
ner Ausdehnung in prähistorische Zeiten. Während dieser
gesamten Periode kann das Gesicht des anderen noch nicht,
von vagen Vertrautheits- und Verwandtschaftsanmutungen
abgesehen, als Erkennungszeichen oder lebendes Signale­
ment fungiert haben wie in der Zeit der späteren Völker und
Reiche; die Frage nach dem Gesicht als Identitätsausweis
wird nicht vor der Epoche frühantiker Volksbildungen an
Gewicht gewonnen haben, also in jener Zeit, als Menschen­
gruppen zum ersten Mal ihre kritische Größe überschritten
und neue kognitive Orientierungen in einer Umwelt aus
mehrheitlich Nichtverwandten und Unbekannten ausbilden
mußten. Von diesem Zeitpunkt an schärfen sich die Au­
gen der Menschen in Völkern für Gesichtslektüren im Sinne
des Aufspürens von Verwandtschaftsähnlichkeiten und in­
dividuellen Charaktermerkmalen. Altmenschlichen Augen
dürfte diese Verbindung von fazialer Neugier mit dem Iden­
tifikationsinteresse völlig gefehlt haben. Ihre Anteilnahme an
den Gesichtern der anderen muß überwiegend eine bio-äs-
thetische gewesen sein. Vor der Zeit der neolithischen Dörfer
und der ersten Städte sind die nahen Gesichter eher ein Kom­
fort als ein für Identifikationen relevantes Zeichen. Darum
haben Kulturhistoriker und Philosophen, insbesondere An­
dre Leroi-Gourhan und Thomas Macho, zu recht darauf
hingewiesen, daß in der Bilderwelt der Steinzeit Darstellun­
gen von Menschengesichtern durchweg fehlen, als wäre für
die frühen Menschen nicht nur das eigene Gesicht unsicht­
bar, sondern auch das der Mitmenschen.

68 Vgl. hierzu: Rudolf Bilz, U ber das emotionale Partizipieren. Ein


Beitrag zum Problem des Menschen in seiner U m w elt, in: R. B., Die
unbewältigte Vergangenheit des Menschengeschlechts. Beiträge zu
einer Paläoanthropologie, Frankfurt 1967, S. 39-73.
Zwischen Gesichtern l 75
Die Absenz der Gesichter in den ältesten Bildern beweist
aber unzweideutig nur dies: Die Anteilnahme an den Gesich­
tern der anderen gehört in einen Bereich, der die Darstellung
weder erlaubt noch verlangt. Die frühen interfazialen Wahr­
nehmungen sind nicht an Bedeutungen und an Charakter­
merkmalen interessiert, sondern an Vertrautheits- und Auf­
heiterungsqualitäten; sie orientieren sich am fazialem Licht.
Mütter und Kinder malen sich nicht gegenseitig, sie strahlen
sich an. Die Evolution und ihre Zuspitzung in der anthropi-
schen Selbstzüchtung haben wohl vor allem Gesichtsbildun­
gen belohnt, in denen die Fähigkeit, Freude auszudrücken,
protrahiert ist. Wie die Genitalien die Organschöpfungen ei­
nes intergenitalen Lustprinzips sind, so sind die Menschen­
gesichter die Ausdrucksgestalten eines zwischengesichtli-
chen Freude-Prinzips. Für den gesichtlichen Zauber gibt es
eine klare Formel: ursprüngliche Teilung der Freude. Sie ist
das, was das Entgegenkommen von Gesichtern auf Gesichter
zu einer Grundmöglichkeit des menschliches Feldes gemacht
hat. Die Phaidros-Rede vom »gottähnlichen Gesicht« enthält
die erste Annäherung des philosophischen Gedankens an die
protrahierende faziale Resonanz als Glückskontakt. Diesem
fazialen Aufklaren kann eine platonische Semantik jedoch
nicht ganz gerecht werden, weil sie die Gesichtsschönheit
beim Einzelnen nur als Durchscheinen eines Lichts aus der
Überwelt deutet; hingegen böte eine spinozistische Semantik
den Vorzug, die Gesichtsöffnung als Ausdruck einer Kraft
zu begreifen, die nicht, wie die Idee, während sie ins Abbild­
liche einstrahlt, zugleich schlechthin transzendent bleibt,
sondern die sich ganz im Ausdruck vollendet und ver­
braucht:69 Es gibt also genau so viel Öffnung des Gesichts,
wie es Freude gibt, die sich dem Gegengesicht aktuell mit­
teilt. (Analog hierzu gibt es nur so viel reale Sexualität, wie es
aktuelle genitale Performanz gibt.) Diese Resonanzbezie-
69 Vgl. Gilles Deleuze, Spinoza und das Problem des A usdrucks in der
Philosophie, M ünchen 1993.
i ?6 Kapitel 2

L. J. M. Morel d'Arleux, Dissertation sur un traite de Charles le Brun, con-


cernant les rapports de la physiognomie humaine avec celle des animaux,
Paris 1806

hungen gehören ganz prä-personalen und feldhaften Ver­


hältnissen an, weil die Freude weder von den Individuen
angeeignet noch von bedeutsamen Darstellungen besetzt
werden kann. Sobald nämlich das Darstellen nach den Ge­
sichtern greift, protrahiert es in der Regel nicht mehr das Ge­
sicht des Freude-Prinzips, sondern die Gesichter der reprä­
sentativen Macht und ihre Bedeutsamkeitsmienen. N ur dem
Zwischen Gesichtern I 77

Antlitz des Buddha und den lächelnden Engeln der Gotik ist
es gelungen, der Unterwerfung unter die Bedeutsamkeit zu
entgehen. Sie zeigen in ihrer bildlichen Erscheinung die fa-
ziale Lichtung selbst. Wer könnte übersehen, daß es zum Ap­
peal der Mona Lisa gehört, daß sie ein Gesicht zeigen darf,
das sich dem Zwang, Bedeutung statt Freude auszudrücken,
auf die mysteriöseste und subversivste Weise entzogen hat?
Wenn Deleuze und Guattari in guter Epigrammlaune
schreiben: »Das Gesicht ist Christus, das Gesicht ist der
typische Europäer«, so rühren sie, vom Sonderfall des proto-
typischen Europäergesichts ausgehend, an einen Grundzug
des gesichtsschöpferischen Prozesses im Zeitalter der Impe­
rien und Hochreligionen. Tatsächlich erreicht die Protraktion
überall dort, wo Hochkulturen sich etabliert haben - also kei­
neswegs nur im europäischen Raum -, ein Stadium, in dem be­
deutungsträchtig normierende Leit-Ikonen der Gesichtlich-
keit die ältere bio-ästhetische Gesichtsöffnung weitertreiben.
Daß europäische Kulturgesichter bis in nach-christliche
Zeiten gewissermaßen allesamt Erben der Christogramme
sind, ist von verschiedenen Ansätzen her ausgeführt worden;
Deleuze und Guattari stehen mit ihrer fallgeschichtlichen
Gleichsetzung von Christusgesicht und Europäergesicht, die
Überspitzung abgerechnet, nicht allein. Vor allem unter der
Anregung von Johann Caspar Lavaters Physiognomischen
Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und
Menschenliebe, die zwischen 1775 und 1778 in vier Lieferun­
gen erschienen, haben neuere Theologen, insbesonders von
protestantischer Seite, eine Fülle listiger Analogien oder Spie­
gelungen zwischen der Menschwerdung Gottes und der
Christusförmigwerdung von vormals tribalen und ungetauf-
ten Europäergesichtern postuliert.70Die jüngere theologische

70 Inbesondere hat H erm ann Timm, unter der Anregung von Lavater,
Rudolf Kaßner und Max Picard, in seinem Buch Von Angesicht zu
Angesicht. Sprachmorphische A nthropologie, G ütersloh 1992, ver­
sucht, sein theologisches Interesse an »fazialer Epiphanie« direkt zu
i 78 Kapitel

Physiognomik weist darauf hin, daß gerade die Gesichter


nach-christlicher Zeiten der Protraktion durch die christ­
lichen Leit-Ikonen ihre spezifische Sichtbarkeit verdanken.
Im übrigen funktioniert aber schon Lavaters Physiognomik
nicht nur als Vorschule des Gottsehens in jedermann; sie dient
ebensosehr einem christlichen Erkennungsdienst, der Laster
und Tugend aus den Gesichtern von undurchschaubaren
Nachbarn und Fremden mit okkulter Vergangenheit heraus­
lesen will. In allen neuzeitlichen Physiognomiken schwingt
ein polizistischer und ein strategisch-menschenkennerischer
Faktor mit; dies gilt schon für die berüchtigten Tier-Mensch-
Analogien Giovanni Battista della Portas von 1586, denen, bei
all ihrer unverkennbaren Infamie, das Verdienst zukommt,
das Problem der Protraktion als solches in grell-peinlichen
und komischen Zügen exponiert zu haben; es gilt kaum we­
niger für Lavaters moralfrohe Steckbriefe der tugendhaften
und lasterhaften Temperamente und ihrer angeblich zuverläs­
sig erhebbaren Gesichtszüge. Zweifellos wendet sich Lavater
vor allem an die weltangsterfüllte schöne Seele der frühen
Bürgerzeit, die nach Orientierungshilfen in dem unüber­
sichtlich gewordenen Beziehungen-Theater der entstehenden
Marktgesellschaft suchte. Unter Bezug auf die Nachfrage
nach einem physiognomischen Schlüssel, der die Gesichter
von Fremden als charakterologische Texte zu entziffern ver­
spricht, macht sich Lavaters christlich-philanthropische Ge­
sichterkunde für ein breiteres Publikum beflissen nützlich:

befriedigen; auf der gleichen Linie bewegt sich die flam boyant geist­
reiche D issertation seines Schülers Klaas H uizing, Das erlesene
Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, G ütersloh
1992. Beide Bücher bieten münchentypische Exempla für die theo­
logische W endung phänomenologischen Denkens; sie illustrieren
ein Bündnis zur U nterschätzung der Schwierigkeiten, die sich vor
einer historisch-anthropologisch fundierten Theorie der Gesicht-
lichkeit auftun; von diesen erfährt man W eiterführendes in den er­
w ähnten A rbeiten von D eleuze/G uattari (s. Anm. 65) und Macho
(s. Anm. 64).
Zwischen Gesichtern *79

Aus der Sammlung Johann Caspar Lavater: »i: verständig und feingut, 2:
verständig und roh, 3: merklich schwach, 4: Der Bug etwas klüger als Knopf
und Nasloch, 5: Ohne den Nasenflügel vollständig, 6: Schwachgut, 7: den
obern Theil weggerechnet, verständig, 8: etwas unnatürlich unten, doch
nicht ganz dumm, 9: Schwachdumm«
i8 o Kapitel

»Man denke sich in die Sphären eines Staatsmannes,


Seelsorgers, Predigers, Hofmeisters, Arztes, Kauf­
manns, Freundes, Hausvaters, Ehegenossen - hinein,
und schnell wird man empfinden, wie mannichfaltigen,
wichtigen Gebrauch jeder in seiner Sphäre von physio-
gnomischen Kenntnissen machen kann.«71
Natürlich hat der Sphärenbegriff Lavaters mit der fazialge-
netischen Dynamik intimer Freudeteilung nichts zu tun; er
deutet lediglich auf die Erfahrung, daß bürgerliche berufs­
ständische Existenzformen eigene Verkehrskreise mit typi­
schen Erfahrungsradien bilden; die Rede von Sphären deu­
tet hier, wie allgemein im goethezeitlichen Sprachgebrauch,
den sich akzentuierenden Pluralismus der Lebensformen
und Wirklichkeitssegmente in der modernisierenden Gesell­
schaft an.

Was die ostasiatische Welt in hochkultureller Zeit anbelangt,


so kann man für sie die leit-ikonische Bildungsmacht der
Buddha-Darstellungen kaum überschätzen. Wie im christli­
chen Kulturenkreis die Kruzifixe und Verklärungsikonen
sich durch langwierige Modellierungsvorgänge in die Ge­
sichter und Gesichte der Europäer eingeformt haben, so ha­
ben auch die indische, die hinterindische, die chinesische und
japanische Welt einen weitreichenden fazialplastischen Pro­
traktionsimpuls durch die Bildnisse des Voll-Erwachten
empfangen. Der in Versenkung dargestellte Buddha hat in
einem physiognomischen Modellierungsprozeß von minde­
stens sechzig Generationen die Gesichter von Mönchen und
von Meditierern aller Stände in seinen Bann gezogen; seine
nirvanische Ikone hat einem ganzen Kulturenkreis die
Botschaft von der Würde des meditierenden Sitzens mit
geschlossenen Augen eingeprägt. Es stellt die sublimste
Formung des ontologischen Paradoxons von weltoffener
71 Johann Caspar Lavater, Physiognomische Fragmente, Bd. I-IV
Leipzig/W interthur 1775-78, Band I, S. 159.
Zwischen Gesichtern

Buddhistische Protraktion I: Statue des buddistischen Herrschers Jayavar-


man VII., Kompong Svay (?), Wende 12./13. Jahrhundert, Nationalmuseum
Phnom Penh
182 Kapitel

Weltlosigkeit72 dar. Über mehr als zweitausend Jahre hin hat


das Bild des meditierenden Buddha auch den weltlichen
Ständen asiatischer Gesellschaften eine Leit-Ikone der Los­
gelöstheit vor Augen gestellt. Es förderte die Protraktion
von Gesichtern, denen eine Neigung zum Wollen des Nicht-
wollens eingeformt ist. Obwohl es durchweg als stilles Ge­
sicht dargestellt wird, enthält es für jeden Betrachter ein inti­
mes Resonanzversprechen, weil es in seiner lebendigen,
regsamen Ruhe das Gesicht des Mitleids und der Mitfreude
zeigt. Seine Konzentration teilt eine potenzierte Form von
Freude mit, da sie eine Anteilnahme am Mitseienden jenseits
aller mimischen Konventionen und Reflexe abstrahlt. Es
lächelt jenseits der Geste des Fächelns; hierin präsentiert es
die Antithese zur aktuellen amerikanischen Gesichtskon­
vention, die, wie man von Europa aus - via Filmbild - in­
zwischen mit freiem Auge sehen kann, zur Protraktion von
Fitness-Leere geführt hat. Anders als das Christusgesicht,
das entweder auf finales Leiden oder auf Repräsentation von
Transzendenz abzielt, zeigt das Buddhagesicht das reine Po­
tential einer absolut immanenten Berührbarkeit durch das,
was vor es kommt. Durch sein Schweben in Resonanzbereit­
schaft ist dieses Gesicht das verwirklichte Evangelium selbst;
es kündigt nichts an, sondern zeigt, was schon da ist. Als
Ausdrucksgestalt euphorischer Leere bildet das Antlitz des
Voll-Erwachten in der Versenkung das Gegenbild zu den ge­
waltmodellierten, von Entschiedenheit gezeichneten Cha­
rakterköpfen westlicher Caesaren.
Es sind nicht allein die Antlitze der spirituell »maßgeb­
lichen Menschen«, die bei der Gesichtsprotraktion in den

72 Die Form el »weltlose Weltoffenheit«, geprägt von Thomas Macho in


seinem Aufsatz: M usik und Politik in der M oderne, in: Die Wiener
Schule und das H akenkreuz, W ien-Graz 1990, S. 134, habe ich auch
meinen Überlegungen: »Ist die Welt verneinbar? Ü ber den Geist In ­
diens und die abendländische Gnosis« in dem Buch Weltfremdheit,
Frankfurt 1994, S. 212-266, zugrunde gelegt.
Zwischen Gesichtern 183

Buddhistische Protraktion II: Strahlender Lokeshvara, Khmerstatue, Prea-


Khan, Wende 12./13. Jahrhundert, Nationalmuseum Phnom Penh
184 Kapitel

Jahrtausenden der heißen Geschichte zur Auswirkung ka­


men. Neben den Götterbildern und den Darstellungen gott­
menschlicher Mittler und Lehrer haben seit antik-imperialer
Zeit auch Herrscherbildnisse an der Öffnung von Gesichtern
ins Große ihren Anteil. Wenn die Idee eines Reichs Gottes
in einem Menschengesicht zur Anschauung gekommen war;
wenn im Antlitz des Buddha sich das Konzept des Nirvana
seine gestalthafte Erscheinung geschaffen hatte: so gewann in
Herrscherbildnissen der alten Welt die Machtfülle des Im­
periums ein physiognomisches Profil. Es waren in der euro­
päischen Antike vor allem die Alexander- und Augustus-
Bildnisse, die - in gelegentlicher Anlehnung an die anthropo-
morphe Götterstatue der Griechen - eine Gesichtlichkeit des
Prinzips Weltmacht zur Erscheinung brachten. Man könnte
von einem Caesaromorphismus der dargestellten Gesichter
in antiken Machtwelten sprechen. Denn unvermeidlich
schreibt sich die Sphärenerweiterung vom archaischen In­
timraum zum imperialen Universum in die Fazialität der
eminenten Machtrepräsentanten ein. Darum können Herr­
schergesichter wie Programme dargestellt werden.
Im Jahr 38 vor Christus ließ Octavian, der nachmalige
Caesar Augustus, inmitten seines Machtkampfes mit Marc
Anton, eine Münze prägen, auf der das intime face-a-face
zweier Männer als das offene Geheimnis der aktuellen impe­
rialen Politik ausgeplaudert wurde. Auf dem octavianischen
Denar erkennt man links vom Zentrum im Profil das be­
kränzte Haupt Caesars, der als Göttlicher Julius designiert
wird, ihm gegenüber rechts, fast spiegelsymmetrisch ge­
zeichnet, den Kopf seines Großneffen und Adoptivsohns
C. Octavius, der sich zu jener Zeit schon unbeirrbar mit den
Namen Caesar Divi Filius anreden ließ: Sohn Gottes. Was
diese Platzverteilung in einer Kultur, die von links nach
rechts schreibt und liest, bedeutet, ist leicht zu verstehen: Es
geht um innerfamiliäre Machtübertragung von einem älteren
auf einen jüngeren Gott. Octavians Münz- und Namens-
Zwischen Gesichtern 185

Münze Octavians, 38 V. Chr.

politik war Teil seiner Strategie in dem auch theologisch mit


allen Mitteln geführten Bürgerkrieg, in dessen Verlauf er sei­
nen Rivalen Marc Anton nach dreizehnjährigem Kampf um
die Alleindiktatur in die Knie zwang. Die Münze mit dem
Doppelportrait bezeugt das Kerndogma der augusteischen
politischen Theologie: Octavian steht seinem Vater als »Sohn
von Gottes Gnaden« gegenüber.73 Durch Adoption legt der
Vater seinem Sohn die imperiale Mission auf; der Sohn sei­
nerseits wählt den eigenen Vater als seinen idiosynkratischen

73 Vgl. Jean-Paul Sartre, Baudelaire, Reinbek b. H am burg, 1986, S. 15.


186 Kapitel

Gott. Mühelos gehen die julische Familientheologie und die


augusteische Reichstheologie ineinander über. Auf dem klei­
nen Denar wird die mächtigste religiös-politische Fiktion
der Alten Welt verkündet: die Doktrin von der Monarchie
Gottes durch die Nachfolger Caesars. Die kleine Münze ent­
hält das erste westliche Evangelium, die frohe Botschaft nach
Augustus. Aus nächster Nähe schauen zwei Männer einan­
der ins Gesicht; vom Vater fließt das imperiale Mandat auf
den Sohn. Der Sohn kann nicht Sohn sein ohne das Reich,
das ihm zufällt; der Vater ist nicht Vater ohne die Vergottung,
die der Sohn ihm zurückerstattet. Die Zukunft des Reichs im
ganzen ist in eine interfaziale Szene zusammengezogen. Den
Zeitgenossen war von Anfang an die Ähnlichkeit des Jüng­
lings Octavian mit seinem Großonkel und Adoptivvater
Caesar wie ein bedeutsamer Wink aufgefallen, und Octavian
kannte nie eine Scheu, aus dieser Ähnlichkeit Kapital zu
schlagen; zu jedem Zeitpunkt seiner Karriere schien er sich
dessen bewußt zu sein, daß er wie sein Adoptivvater das Im­
perium, als Befehlsgewalt und als Weltform, im Gesicht trug.
Octavians Schlachten zu Wasser und zu Lande waren militä­
rische Gebete zum Caesar-Vater: Dein Reich komme. Wie
das paulinische Christentum ist auch das caesarische Impe­
rium eine Ausgeburt der romantischen Gewalt, vom Sohn
her den Vater zu setzen - und vom Apostel her den Gott.
Hierin gehören Augustus und Paulus als Theologen und ri­
valisierende Strategen zusammen - ihr methodischer Paralle­
lismus ist das abendländische Geheimnis.74 Tatsächlich ver­
körpert schon der octavianische Denar das erste Modell einer
erfolgreichen Trinitätslehre. Denn so wie die Macht des Va­
ters auf den Sohn sich überträgt, so setzt, im einen wie im an­
deren Fall, die Nachfolgewut des Sohnes den Vater als
Reichsquelle auf den Thron der Throne. »Ich und der Vater«
74 Vgl. hierzu Sphären II, 7. Kapitel, Wie durch reine Medien die Sphä­
renm itte in die Ferne w irkt. Zur M etaphysik der Telekom muni­
kation.
Zwischen Gesichtern 187

sind bei Jesus kaum anders eins als der Caesarnachfolger und
der erste Caesar. Das Dritte, das die beiden Väter und ihre
Söhne eint, ist die raumbildende Potenz ihrer innigen Zu­
wendungen zueinander; was zwischen ihnen weht, ist der
Geist der Reiche. Was Imperium oder Kirche werden soll, ist
zuvor face-ä-face gewesen. Gewiß, das jesuanische Reich
fällt zunächst ganz in eine Innigkeit mit dem Vater, die nicht
von dieser Welt zu sein betont; sein Drittes ist eine Liebe, die
höher sein will als alles Streben nach trivialem Erfolg; der rö­
mische Vater und sein Sohn sind hingegen eins durch den
heiligen Geist des Reichserfolges. Wo dieser herrscht, bildet
sich der erste Weltmarkt: ein Geldreich mit allgegenwärti­
gem Reichsgeld. Das Geld ist die dritte Person der Dreifal­
tigkeit römisch - darum sieht, wer auf der Münze den Sohn
Augustus sieht, zugleich den Vater. Vater und Sohn sind ge­
eint vom Geist dessen, was gilt; die Kreisgestalt der Münze
zieht die einigen Zwei in die Idealform zusammen. Für dieses
Geldstück war, solange es im Umlauf war, tatsächlich alles zu
bekommen; es ist die pragmatische Hostie der Roma aeterna.
Vom Sieg Octavians über Marc Anton an konnten Römer
ihre Handlungen von Amts wegen vollziehen im Namen des
Caesars und des Augustus und des Heiligen Reiches.

In Hochkulturen kommt mit Notwendigkeit der Schein auf,


die gesamte Geschichte der fazialen Leit-Ikonen müsse eine
von Männergesichtern sein. Christomorphie, Buddhomor-
phie, Caesaromorphie sind die drei herausragenden Mani­
festationen dieser Männerherrschaft in der antiken und mit­
telalterlichen Gesichtlichkeit. Aber bereits der einfache H in­
weis auf die Marienbildnisse des europäischen Mittelalters ist
geeignet, das männliche Monopol im Feld der dargestellten
Gesichter zu dementieren. Die katholische Marien-Ikonik
bedeutet ihrerseits nur die Fortführung einer unermeßlich
breiten mutterreligiösen Bildkultüberlieferung mit christli­
chen Mitteln. Wo das Universum der großen Mütter sich in
Kapitel

Rex imago Dei; Deus imago regis: Römische Herrscher und ihre Begleiter-
Götter im Doppelprofil; oben Postumus und Herkules; in der Mitte Probus
und Sol invictus, unten Constantin und Sol invictus
Zwischen Gesichtern 189

Bildern darstellt, dort kommt zugleich die paradoxe Natur


der älteren Protraktion zu Bewußtsein: Der Fokus der
Vermenschlichung, das weibliche, das mütterliche Gesicht
selbst, bleibt am längsten der unsichtbare Teil. Obwohl von
ihm die Einladung zur Hominisation wie zur Humanisie­
rung ausgeht, schauen die alten Religionen und ihre Kultbil­
der am Gesicht der Frau, ja, überhaupt am Menschengesicht
vorbei; sie protrahieren und überhöhen, was an weiblichen
Menschen das Nicht-Gesichtliche ist, Gesäß, Brüste, Vulva,
die Attribute weiblicher Geschlechtsmacht. Daß jenseits die­
ser Biologica in den Gesichtern der Frauen, insbesondere der
Mütter, der Weg zur Vergeistigung, Intimisierung, Aufheite­
rung längst beschritten ist, das geht in die älteste Bildkultur
nicht ein; nicht immer sagt ein Bild mehr als zehntausend
Worte. Die Protraktion selbst erscheint in keinem Portrait,
die gesichtseröffnende Macht der mütterlichen Gesichter
bleibt undargestellt. Vom fazialen Matriarchat, wie über­
haupt von der stillen Gattungsarbeit des Fazialisierungspro-
zesses, übersetzt sich keine Spur in die ältesten Produkte
menschlicher Bildkraft. Insgesamt gilt ja, daß man bis ins Zeit­
alter der Hochreligionen und Ersten Philosophien wird war­
ten müssen, bevor die Absenz individualisierter Gesichter in
den Bildwerken behoben wird: Nun erst ist der Moment er­
reicht, von dem an das Sehen gesehen und das Denken ge­
dacht wird; jetzt kommen auch Gesichter zu Gesicht. Wie
die frühe Theorie, die das Denken eigens betonte und das
Schauen eigens in Betracht nahm, so gehört die Entdeckung
des Gesichts durch die Darstellung zur reflexiven Weltbild-
Dämmerung der antiken Kulturen. Aber gerade diese hat für
die Muttergesichter keinen Blick übrig. Wo das Menschenge­
sicht mit darstellerischen Mitteln protrahiert und aufgestellt
wird, dort wird es, dem Weltlauf entsprechend, schon immer
eher das Kultbild männlicher Herrscher-, Meister- und Göt­
tergestalten sein. Das weibliche Gesicht, das hervorrufende,
belebende, begrüßende, ruht wie ein urbildliches Vorbewuß-
190 Kapitel

Eiszeit-Gottheit mit flügelartigen Schultern, Dolni Vestonice, ca. 27 000


26 000 v. Chr.
Zwischen Gesichtern 191

tes auf dem Grund aller gesichtsdarstellenden Prozesse. Sei­


ner Natur nach ist das Gesicht unserer lieben Frau des An­
fangs verborgener als das des Gottes, bei dem das jüdische
Bilderverbot die Herabziehung in Darstellungen verhindern
wollte (eben weil er als Lebender zu denken war, und bisher
gibt es nur Portrait-Monumente von Toten). Das erste ge­
liebte Gesicht, das Anfangsgesicht, das die erste gute Nach­
richt war, und wie oft auch die einzige, muß nicht erst durch
ein Abbildungsverbot versiegelt werden. Wie ein übermaltes
Urbild überdauert es seit jeher im Schutz der Verkennung -
unsichtbarer als das Verschleierte, unzugänglicher als das Ta­
buisierte. War es einst ein Aspekt theologischer Reife, men­
schengemachte Bilder von dem Einen Gott zu verbieten, so
wird es ein Akt zunehmender anthropologischer Besinnung
sein, zu verstehen, warum das beseelende erste Gesicht sich
von sich her aus allen Bildern zurückzieht.

Auch der interfaziale Raum - die empfindliche Sphäre bipo­


larer Gesichter-Nähe - hat seine eigentümliche Katastro­
phengeschichte. Sie beginnt lange vor jener Entfremdung
durch Verrat, von der Giottos Judaskuß Rechenschaft gab.
Interfazialität ist nicht nur die Zone einer Natur-Sozial-Ge-
schichte der Freundlichkeit. Von sehr frühen Zeiten an war
die Geschichte der Begegnungen mit dem Fremden auch eine
Sehschule des Terrors. Das ist es, was die Archaik mit der
Moderne in wesentlichen Zügen solidarisch macht. Die älte­
sten Kulturen besitzen noch keine Medien, sich das radikal
Fremde anzueignen; die modernen besitzen keine mehr.
Darum sind beide auf die Maske angewiesen als das Mittel,
Unmenschlichem, Außermenschlichem mit einem entspre­
chenden Un-Gesicht oder Ersatzgesicht zu begegnen. In der
Archaik wie der Moderne wird, was Gesicht war, in der Ab­
bildung zum Schild gegen das, was Gesichter entstellt und
negiert. Die Maske ist der faziale Schild, der im Krieg der
Anblicke hochgehoben wird.
192 Kapitel

Großes, rot-weißes Terrakottagefäß mit eingeritzten Symbolen aus Vidra,


Rumänien, 5. Jahrtausend v. Chr.
Zwischen Gesichtern m

Die moderne Kunst, wo sie noch Gesichter zeigt, führt


gleichsam Protokoll über eine permanente interfaziale Kata­
strophe. Der archaischen Maskenbildnerei analog zeigt sie
Gesichter, die nicht mehr in intimsphärischen Korrespon­
denzen modelliert sind, Gesichter ohne Anerkennung, ge­
zeichnet von den Weltmächten Entleerung und Entstellung -
wozu nicht zuletzt die Deformation durch den Erfolg
gehört, das Dauergrinsen der Sieger, Gesichter, deren Ge­
genüber keine menschlichen Partner mehr, sondern Moni-
tore, Kameras, Märkte, Evaluationsgremien sind. Gesichtern
jedoch, die sich im Austausch mit monströsen und mechani­
schen Anblicken formieren, kann das klassische neuzeitliche
Portrait nicht mehr entsprechen; darum läßt sich der Ein­
druck verstehen, daß in weiten Teilen der Kunst der Mo­
derne die Protraktion selbst zum Stillstand gekommen sei -
oder daß sie angefangen hat, am Menschengesicht das U n­
menschliche, Außermenschliche hervorzuheben. Detraktion
und Abstraktion haben als fazialplastische Gestaltkräfte ge­
genüber der Protraktion die Oberhand gewonnen. Gesich­
terverzerrende und gesichterentleerende Gewalten haben
das Portrait zum Detrait und zum Abstrait abgewandelt;
dem entspricht eine zweifache Bewegungstendenz der Fazi-
alkunst: zum einen der Zug zum Ausdruck von Zuständen
jenseits des Ausdrucks, zum anderen der Umbau des Ge­
sichts zur posthumanen Prothese. Der charakteristischste
neue O rt in der innovierten Medienwelt ist nicht zufällig je­
nes Interface, das nicht mehr den Begegnungsraum zwischen
Gesichtern bezeichnet, sondern den Kontaktpunkt zwischen
Gesicht und Nicht-Gesicht oder zwischen zwei Nicht-Ge­
sichtern.
Wo Francis Bacons schreiender Papst noch ein Gesicht in
Explosion zeigt, erreichen Andy Warhols Selbstportraits den
Zustand der Selbstlosigkeit im Selbstverkauf. Beide Werke
haben noch einen O rt am Rand der expressiven Kunst, da
nicht nur die Zerfleischung, sondern auch die Erstarrung des
194 Kapitel

Gesichts dem Prinzip Ausdruck untersteht. Von diesem


lösen sich neuere Verfahren der fazialen Ästhetik in der bil­
denden Kunst entschieden ab. Cindy Shermans Montage
Untiteled, #3140 hat das Gesicht aufgelöst in eine faltige
Landschaft von bösen und eigensinnigen Gewebeteilen, mit
einem Mund, dessen Labien ein obszönes Aufklappen zei­
gen. Hier ist von dem, was Benjamin den Sex-Appeal des
Anorganischen genannt hat, nichts mehr zu spüren; das
Fleisch ist zu einer Kunststoffkopie seiner selbst geworden.
Es dürfte in der zeitgenössischen Kunst wenige Werke ge­
ben, die mit ähnlicher Gewalt die Wandlung des Portraits ins
Detrait bezeugen. Ironisch gebrochene Züge zum Detrait
enthüllt auch die Serie von Quasi-Selbstportraits der Kölner
Malerin Irene Andessner, die der Gesichtserwartung des Be­
trachters ausweicht, indem sie weder Gesicht noch Maske
zeigt. Was sie zu sehen gibt, bildet eine Folge von Vor-Ge-
sichtern oder Gesichts-Vorstufen im ernsten Ton - faziale
Rohstoffe, Zutaten der Schönheit, die gleichsam auf die Wie­
dererhebung in den Rang des vollen Frauenantlitzes warten.
Durch starre Augen blickt eine Forschungsenergie hindurch,
die dieses Frauengesicht wie ein wechselhaftes Medium
durchdringt. Das siebenfach variierte Gesicht ist durchschie­
nen von einer immergleichen gefaßten Grausamkeit, die, von
weit her kommend, nicht ganz seine eigene werden kann. Es
hält die Balance zwischen einer schrecklichen Wahrheit, die
beinahe schon entstellt, und einem Uberlebenswillen, der
fast schon die schöne Maske erzeugt. Am Schwebepunkt
zwischen Portrait, Abstrait und Detrait illustriert Irene An-
dessners Gesichter-Serie eine postmoderne Alternative zur
modernen Gesichtsentstellung; gemalt mit einem Humor
ohne Lachen und einer Verzweiflung ohne Tränen, bekundet
sie das Warten des immer noch menschlichen Gesichts auf
sein entzogenes adäquates Gegenüber; dies ist ein Warten,
das die Menschengestaltigkeit zugleich postuliert und
bezweifelt; zugleich verrät sich in der Gesichter-Serie, fast
Zwischen Gesichtern 195

Brettmaske der Mbole, Ober-Zaire, Holz


196 Kapitel 2

wider Willen, das ungläubige Zögern vor der Bitte um die ge­
nugtuende Rücksicht des anderen. Wie man die postmo­
derne Ornamentik als Zeitvertreib beim Warten auf das
unverfügbar Schöne ansehen könnte, so läßt sich Irene
Andessners malerische Vorbereitung für die Schönheit lesen
als Zeichen des Wartens auf den Augenblick des wahren Ge­
sichts.

Für die gesamte ältere Geschichte menschlicher Gesichtlich-


keit ist die Feststellung gültig, daß Menschen ihr Gesicht
nicht für sich selber, sondern für die anderen haben. Das
griechische Wort für das menschliche Gesicht, prosopon,
bringt diesen Sachverhalt am deutlichsten zum Ausdruck: es
bezeichnet das, was man der Sicht der anderen entgegen­
bringt;75 ein Gesicht liegt zunächst nur dem Blick des ande­
ren vor; als menschliches besitzt es aber zugleich das Vermö­
gen, dem Gesehenwerden durch ein eigenes Zurücksehen zu
begegnen - und dieses sieht naturgemäß fürs erste nicht sich
selbst, sondern seinerseits ausschließlich das Gesicht des Ge­
genüber. Somit ist im Gesicht durchaus die reziproke Ver­
schränkung von Ansicht und Gegenansicht angelegt, jedoch
nichts, was auf eine selbstreflexive Wendung deutet. Sieht
man von den seit jeher möglichen prekären Spiegelungen im
glatten Wasser ab, so ist die Selbstbegegnung von Menschen­
gesichtern in Spiegelbildern ein sehr später Zusatz zur
primären interfazialen Wirklichkeit. Es hieße allerdings
Menschen des 20. Jahrhunderts, die ihre Apartments mit
Spiegeln austapeziert haben, das Unvorstellbare zumuten,
wollte man von ihnen verlangen, sich klarzumachen, was es
bedeutet, daß bis vor kurzem die Quasi-Totalität der Men­
schengattung aus Individuen bestanden hatte, die ihr eigenes
Gesicht zeitlebens nie oder nur in extrem seltenen Ausnah­
mesituationen zu sehen bekamen. Die ersten Spiegel sind
75 Z ur griechischen Auffassung von Gesichtlichkeit vgl. Franqoise
Frontisi-D ucroux, D u masque au visage (s. Anm. 67).
Zwischen Gesichtern 19 7

Francis Bacon, Studie nach Vélazques' Portrait von Papst Innocent X .,


Ölgemälde, 1953
Kapitel 2

Andy Warhol, Six Self-Portraits, 1966, Siebdruck


Cindy Sherman, Untitled, # 314 C
200 Kapitel

Irene C. Andessner, Edition von 1 bis 7 . Sieben Selbstportraits, Ölgemälde,


1992
Zwischen Gesichtern 201

typischerweise Gerätschaften vom Beginn der Achsenzeit;


sie blieben bis in die Neuzeit geheimnisumwitterte Objekte
in den Händen weniger Privilegierter; sie gehören auch bald
zum physischen und metaphorischen Besitzstand derer, die
von dem seltenen Gut Selbsterkenntnis redeten. Der be­
kannte bronzene Elfenspiegel vom Heimburg in Hessen
wird auf circa 500 vor Christus datiert. Spräche nicht die
Geographie dagegen, dürfte man ihn als ein vorsokratisches
Instrument bezeichnen. Glasspiegel vom Typus der heute
gebräuchlichen gibt es erst seit circa 1500 - zunächst unter
venezianischem Monopol. Die Versorgung großer Teile von
Populationen mit Spiegeln ist im wesentlichen erst eine Sache
des 19. Jahrhunderts gewesen, und sie dürfte in der Ersten
Welt nicht vor der Mitte des 20. zum Abschluß gekommen
sein. N ur in einer spiegelgesättigten Kultur konnte der
Anschein sich durchsetzen, der Blick ins eigene Spiegelbild
realisiere bei jedem Individuum ein Urverhältnis des Selbst­
bezugs. Und nur bei einer Bevölkerung, die klassenübergrei-
fend als Spiegelbesitzer definiert war, konnten Freud und
seine Nachfolger ihre Pseudo-Evidenzen über den soge­
nannten Narzißmus und die angeblich optisch vermittelte
primäre Auto-Erotik des Menschen populär machen. Auch
Lacans tragisch hybrides Theorem vom Spiegelstadium als
Bildner der Ich-Funktion kann seine Abhängigkeit von der
kosmetischen oder ego-technischen Haushaltsausstattung
des 19. Jahrhunderts nicht überwinden - sehr zum Schaden
derer, die sich von dieser psychologischen Fata Morgana
blenden ließen.76 Der Mythos von Narkissos ist gerade nicht
als Indiz für eine naturwüchsige Beziehung des Menschen
zum eigenen Gesicht im Spiegelbild zu lesen, sondern als
Hinweis auf die beunruhigende Ungewohntheit der begin­
nenden fazialen Reflexion. Nicht umsonst stammt die von
Ovid überlieferte Version der Geschichte - falls sie über-
76 Eine C harakterisierung dieses Theorem s findet sich unten im Ex­
kurs 9: Von wo an Lacan sich irrt, S. 543 - 548.
202 Kapitel 2

Oskar Schlemmer, Abstrakter Kopf, 1923


Zwischen Gesichtern 2°3
haupt vor-ovidische Quellen hat - aus der Zeit, in der das
Auge und das Gesicht, man könnte jetzt auch sagen Subjekt-
Gesicht und Objekt-Gesicht, auf neue schicksalhafte Weise
zueinander in Beziehung gebracht wurden. Wenn Narkissos
das Gesicht im Wasserspiegel umarmen wollte, dann in je­
dem Fall auch deswegen, weil es für ihn noch nicht sein eige­
nes geworden war; sein dummer Sturz ins Bild setzt voraus,
daß bis dahin jedes Gesicht, das zu sehen war, nur das Ge­
sicht eines anderen sein konnte. Das narzißtische Mißge­
schick stellt einen Unfall der beginnenden Selbstreflexion
dar. Daß ein Gesicht, das zu sehen ist, ein bezauberndes zu­
mal, das eigene sein könnte, ist vor der antiken Reflexions­
dämmerung eine Unvorstellbarkeit. Alkibiades scheint die
erste historisch identifizierbare Gestalt in der europäischen
Überlieferung zu sein, in deren Charakteristik sich Hinweise
auf ein ästhetisches Gesichtsbewußtsein in eigener Sache fin­
den: Sokrates nimmt auf diesen Sachverhalt Bezug, indem er
absichtlich einen Bogen um die Eitelkeit seines Zöglings
schlägt und am schönen Gesicht des Alkibiades vorbeiredet,
um sich direkt an dessen Seele zu wenden. Was die weibliche
Seite der Gesichtsdämmerung angeht, so läßt Euripides Kly-
tämnestra nach Agamemnons Abreise selbstgefällig in den
Spiegel blicken und ihre geflochtenen Haare mit Schmuck
behängen, wie um ihren Ehebruch und das spätere Verbre­
chen vorzubereiten. Es sind bei den Griechen ohnehin die
Frauen, denen der exklusive Gebrauch des Spiegels Vorbe­
halten bleibt. Der griechische Mann kann üblicherweise sein
Aussehen nur durch sein Ansehen bei den anderen in Erfah­
rung bringen. Und erst Sokrates lanciert die aparte Idee, die
hübschen Jünglinge, die ihn umgaben, sollten sich so oft wie
möglich in Spiegeln betrachten, um ihren Ehrgeiz aufzusta­
cheln, sich auch im Seelischen ihrer körperlichen Vorzüge
würdig zu erweisen. Die optisch konkretisierte Vorstellung
»eigenes Gesicht« bildet sich, wie diese Andeutungen illu­
strieren, im Gang einer langwierigen individualisierenden
204 Kapitel 2

Evolution heraus - über Etappen, die sich als antik-mittelal­


terliche, neuzeitliche, postmoderne Beiträge zum fazialen
Subjektivismus mehr oder weniger deutlich unterscheiden
ließen.

Die anfängliche Erfahrung der Gesichtlichkeit beruht auf


dem elementaren Sachverhalt, daß menschenanschauende
Menschen ihrerseits von Menschen angeschaut werden und
vom Anblick des anderen her auf sich selber zurückkommen.
Insofern ist das Gesicht, sprich die Vision, das Gesicht, sprich
die Visage, des anderen. Zunächst ist ein Gesicht also immer
etwas, was nur dort drüben und dort oben erschaut werden
kann.77 Im anfänglichen bipolaren interfazialen Spiel sind die
Blicke zwischen den Partnern so verteilt, daß jeder bis auf
weiteres genug von sich selbst erfährt, wenn er dem anderen,
der ihn anschaut, ins Gesicht sieht. Der andere fungiert also
wie ein personaler Spiegel; doch ist er auch das Gegenteil ei­
nes Spiegels, weil er weder die Ruhe noch die Diskretion ei­
nes Reflexes in Glas oder Metall gewährt, vor allem aber, weil
er keine eidetische Wiedergabe, sondern ein Affektecho er­
zeugt. Von einem Blick ins »eigene« Spiegelgesicht kann erst
die Rede sein, wenn das Individuum sich vom anderen abge­
wandt und sich seinem nun erscheinenden und anzueignen­
den Gesicht im reflektierenden Bild zugekehrt hätte.
Ein Gesicht im Spiegel, das ohne Verwechslungskatastro­
phe als das eigene angenommen werden kann, taucht erst
dann auf, wenn sich Individuen aus dem interfazialen Wech-
selblick-Feld - das nach griechischem Verständnis immer
auch das Feld einer Wechselrede ist - habituell zurückziehen
können in einen Zustand, wo sie nicht mehr die Ergänzung
durch den anwesenden Anderen brauchen, sondern gleich­
sam sich selbst mit sich selbst ergänzen können. Faziale Ich-
Identität, als Möglichkeit, ein eigenes Gesicht zu haben,

77 Vgl. Thomas Macho, Vision und Visage (s. Anm. 64).


Zwischen Gesichtern 205

Tizian, Venus im Spiegel


Kiki Kogelnik, Scissor He ad, Glasierte Keramik, 1977
Zwischen Gesichtern 20 7

hängt also von jenem Umbau des subjektiven Raumes ab, der
mit der stoischen Erfindung des Individuums, das sich selbst
genügen soll, einsetzte. Erst seit dem europäischen und asia­
tischen Altertum ist es möglich geworden, daß Menschen
eine Art intimer Exzentrik gegenüber sich selbst aufbauen,
die es ihnen erlaubte, hier sie selber und dort zugleich ihr ei­
gener Beobachter zu sein. Als lebende Beobachter - man
könnte auch sagen: als innere Zeugen des eigenen Lebens -
übernehmen die Individuen im entstehenden Individualis­
mus die Optik einer Fremdsicht auf sie selbst und ergänzen
so ihre interfaziale Sphärenöffnung durch ein zweites Augen­
paar, das nun merkwürdigerweise ihr eigenes noch einmal ist.
Damit beginnt die Geschichte des Menschen, der allein
sein können soll und will. Die Einzelnen im individualisti­
schen Regime werden zu punktuellen Subjekten, die unter
die Herrschaft des Spiegels, das heißt der reflektierenden,
selbstergänzenden Funktion geraten sind. Sie organisieren in
zunehmendem Maß ihr Leben unter dem Schein, sie könnten
nun ohne realen Anderen beide Parts im Spiel der bipolaren
Beziehungssphäre ausführen; dieser Schein verdichtet sich
im Gang der europäischen Medien- und Mentalitätsge­
schichte bis zu einem Zustand, in dem die Individuen ein für
allemal sich selbst für das substantielle Erste und ihre Bezie­
hungen zu anderen für das akzidentielle Zweite halten. Ein
Spiegel in jedem Zimmer jedes Individuums ist das lebens­
praktische Patent auf diesen Zustand. Freilich verlöre das
Spiel der Selbstergänzung der Einzelnen vor dem Spiegel
(und vor anderen ego-technischen Medien, insbesondere
dem Buch, dem zu lesenden wie dem zu schreibenden) seine
Attraktion, wenn es nicht für die erhabene Fiktion der Selb­
ständigkeit verwendbar wäre - jenen Traum von Herrschaft
über sich selbst, der seit den Anfängen antiker Philosophie in
das Leitbild des weisen Lebens eingeflossen ist. Der Weise,
der sein eigener Herr sein kann, muß sich, weil er sich selbst
erkennt, von keinem Herrscherblick durchdringen, ja über-
208 Kapitel

Arnold Schönberg, Tränen, Ölgemälde, ca. 1910


Zwischen Gesichtern 209

haupt von keinem Blick eines anderen mehr fixieren lassen.


Er besäße eine Qualität, die noch Hegel triumphierenden
Tones undurchdringlich genannt hat.
Darum ist es ein kurzer Weg vom »Erkenne dich selbst«
zum »Ergänze dich selbst«. Beides, Selbsterkenntnis wie
Selbstergänzung, sind Operationen in einer schein-bipolaren
Sphäre, die nur formal wie eine Ellipse zwei Brennpunkte
besitzt. In Wahrheit ist das Gesicht vor dem Spiegel in ein
pseudo-interfaziales Verhältnis zu einem anderen, der kein
anderer ist, eingetreten. Es kann den Schein, sich in einem ge­
schlossenen Blickfeld selbst zu sehen, genießen, weil es den
anderen und die anderen aus seinem inneren Raum ausge­
wiesen und durch technische Selbstergänzungsmittel - die
Medien in ihrer modernen Funktion - ersetzt hat. Damit
wird die Welt in ein Innen und Außen zerlegt, die sich wie
Ich und Nicht-Ich unterscheiden. Wo solche Ausweisungen
die Regel und die bewußte Beherbergung und Durchlassung
des anderen zur Ausnahme geworden sind, dort kann erst
eine strukturell moderne Gesellschaft entstehen, bevölkert
von Individuen, von denen die meisten in der machthaben­
den Realfiktion leben: dem Phantasma von einer Intim­
sphäre, die nur einen einzigen Bewohner, diesen Einzelnen
selbst, enthält. Dieses Realtrugbild trägt alle individualisti­
schen Verhältnisse. Es sichert die Einzelhaft jedes Einzelnen
in einer vernetzten Blase. »Du bist selbstansteckend, vergiß
nicht. Laß deinem >Du< nicht die Oberhand.« (Henri Mi-
chaux)
K a p it e l 3

Menschen im Zauberkreis
Zur Ideengeschichte der Nähe-Faszination

M uß in ihrem Zauberkreise
leben nun auf ihre Weise.
Die Verändrung, ach, wie groß!
Johann Wolf gang von Goethe, N eue Liebe,
neues Leben

er Alternativen zum Dasein im stoischen Selbstge-


lügen oder im individualistischen Selbstarrest vor dem
Spiegel entdecken will, tut gut daran, sich an eine Epoche zu
erinnern, in der alles Nachdenken über die conditio humana
durchtränkt war von der Evidenz, daß zwischen Menschen,
in familiärer Nähe wie auf dem offenen Markt, ein rastloses
Spiel affektiver Ansteckungen im Gang ist. Lange bevor sich
die Axiome der individualistischen Abstraktion durchsetzen
konnten, war von den Psychologen-Philosophen der frühen
Neuzeit klargemacht worden, daß der interpersonale Raum
überfüllt ist von symbiotischen, erotischen und mimetisch-
konkurrenziellen Energien, die die Illusion der Subjektauto­
nomie von Grund auf dementieren. Das Grundgesetz der In­
tersubjektivität, wie sie in vor-modernen Auffassungen er­
fahren wurde, ist die Bezauberung des Menschen durch den
Menschen. Wollte man sich die Sicht der Tradition zu eigen
machen, so könnte man so weit gehen zu sagen, daß Men­
schen stets von ihresgleichen besessen sind - um von den
außermenschlichen Okkupatoren vorerst zu schweigen. Fas­
zination ist unter Menschen die Regel, Entzauberung die
Ausnahme. Als begehrende und nachahmende Wesen ma­
chen Menschen unaufhörlich die Erfahrung, daß sie nicht
nur ein einsames Potential an Verlangen nach dem anderen in
212 Kapitel 3

sich tragen; sie erleben zugleich, daß es ihnen auf eine un­
durchsichtige und nicht-triviale Weise gelingt, die Objekte
ihres Begehrens mit ihrem eigenen Verlangen nach ihnen an­
zustecken; zugleich ahmen Individuen wie unter einem in­
fektiösen Zwang das Verlangen des anderen nach einem
Dritten nach. In der Sprache der Tradition figuriert das als
das Gesetz der Sympathie; dieses verfügt, daß Liebe nicht an­
ders kann, als Liebe zu wecken; ebenso generiert auch der
Haß seine kongeniale Antwort; die Rivalität infiziert die Be­
werber um dasselbe Objekt mit der vibrierenden Gier des
Konkurrenten. Wo die Philosophie der frühen Neuzeit sol­
che Resonanz- und Infektionseffekte zur Sprache bringt,
dort bedient sie sich spontan des Wortschatzes magologi-
scher Überlieferungen. Mit dem Nachdenken über affektive
Kausalitäten des magischen Typs hatte schon in der Antike
die Aufklärung jenes interpersonalen oder interdämonischen
Konzerts begonnen, das von Platons Tagen an als ein Werk
des Eros gedeutet worden ist. Auf platonischen Spuren ha­
ben Philosophen des späten 15. Jahr-hunderts einen neuen
erotologischen Diskurs lanciert, dessen Nachhall bis in die
tiefenpsychologischen Umtriebe des frühen 19. Jahrhunderts
und die popularpsychoanalytischen Halbgedanken der Ge­
genwart reicht.

Als Sokrates und Platon damit begannen, die Dynamik der


Hingezogenheit von Menschen zu Menschen ins Licht der
Rede zu stellen, machten sie deutlich, daß das Begehren des
Subjekts nach dem schönen Anderen nicht nur seine private
und eigentümliche Regung sein kann, sondern zugleich als
Funktion eines öffentlichen Kraftfeldes verstanden werden
muß. Wo das Begehren aufflammt, da wird eine schon beste­
hende latente Zugehörigkeit des Subjekts zum Begehrten ma­
nifest. Es gibt mithin kein Privateigentum an Verlangen nach
dem anderen. Im Schönen offenbart sich für die Psychologen
der Antike das Gemeinsame, das den Begehrenden wie den
Menschen im Zauberkreis 213

Der Mensch als Mikrokosmos - Schema der Einflüsse. Aus: Livres des Por-
traits et Figures du Corps humain, 1572, hg. von Jacques Kerver

Begehrten aus der gleichen Quelle versorgt. Was immer Men­


schen vom anderen wollen, ist - auf der richtigen Ebene pla­
ziert - von vorneherein auch eine Antwort auf die Attraktion
und das Entgegenkommen der anderen Seite. Sein und An­
ziehen sind insofern dasselbe. Darum gründet intersubjektive
Magie im Ergänzungszauber, so wie ihn Platon mit dem My­
thos von den leidenschaftlich zueinanderstrebenden Men­
schenhälften aus der Aristophanes-Rede des Symposions klas­
sisch umschrieben hat. Die Bindekräfte, welche zwischen
Liebenden wirken, gehen nach Platon auf ein Heimweh nach
der runden Totalität zurück, deren Spuren auf die Vorge­
schichte des großen Paares verweisen. Wie alle mythischen
Ganzheiten ist auch der runde autarke Urmensch dem dra­
maturgischen Dreitakt von Urvollkommenheit, Trennungs­
katastrophe und Wiederherstellung unterworfen. Der archai­
sche Liebesroman gehorcht hierin dem formalen Gesetz der
214 Kapitel 3

mythischen Narrativik, welches auch das der Dialektik ist.


Für ihn heißt erzählen: den konstitutiven Liebeskummer hei­
len wollen. Das Wirkungsmaximum des Anziehungszaubers
liegt naturgemäß zwischen dem zweiten und dem dritten Akt
des Dramas, wenn das im zweiten Akt Getrennte beginnt, für
Wiedervereinigung bereit zu werden. Wo die zerschnittenen
Hälften einander wiedergefunden haben, dort bildet sich jäh
der interpersonale Zauberkreis, der wie ein unsichtbarer Iso­
lationstank die neu-unzertrennlichen Zwei umschließt. In
ihm müßte das radikalsymbiotische Paar, nach Platons weiser
Auskunft, zugrunde gehen, wenn es nicht durch entspan­
nende Genitalität ein Mittel besäße, vorübergehend wieder
voneinander zu lassen und sich aus der totalitären Beziehung
herauszuwinden. Platon zufolge war die genitale Sexualität
ein nachträgliches Geschenk mitleidiger Götter, die es nicht
mitansehen wollten, wie das wiedervereinigte Halbmen­
schenpaar, von blindseliger Umarmungspanik überwältigt,
seine Selbsterhaltung vergißt und zu Tode kommt. Aus der
Sicht des platonischen Mythos von den zerschnittenen Ur­
mensch-Hälften erscheint Sexualität wie ein nachträglich ein­
gerichtetes Ventil gegen symbiotischen Überdruck; sie ist eine
Sekundärerotik, deren Aufgabe es ist, den totalitären Sog der
Primärerotik umzuleiten. Der zweite Eros, der triebbe­
stimmte, entspannbare, entlastet vom ersten, unerfüllbaren,
der nur eines gelten läßt - das Aufgehen im Glanz. Indem sie
sich sexuell vereinigen, verschaffen sich die Liebenden eine ei­
genwertige Ablenkung von dem, was sie eigentlich voneinan­
der begehren. Was dieses Eigentliche sei, darüber könnte sich
die Erotologie des 19. und 20. Jahrhunderts mit den Liebes-
theorien der metaphysischen Tradition nicht leicht einig wer­
den. Nach den entgröberten Lehrsätzen der jüngeren Psycho­
analyse liegt aller Primärerotik ein Heimweh nach der
weltarmen Vollkommenheit des Fötus und des behüteten
Neugeborenen zugrunde - in der Sprache Bela Grunbergers
die Sehnsucht nach dem Seinsmodus der narzißtischen
Menschen im Zauberkreis 2 I5

Salvador Dali, Harmonische Komposition, Zeichnung 1947


216 Kapitel 3

Monade7S und der prä-natalen »Autonomie«. Dem Kom­


mentar Marsilio Ficinos zu Platons Gastmahl zufolge jedoch
ist der erste Eros nichts anderes als das Verlangen nach dem
Wiedergewinn der Seligkeit, die im Besitzen Gottes besteht
{heatitudo quae in possessione ipsius (Dei) consistit). Weil der
erste Eros in Erinnerung und Heimkehr gründet - anders als
der zweite, dessen Natur Neugier und Ausgriff sind -, muß
Ficino, Platon folgend, eine verlorene Urpräsenz der Seele bei
Gott voraussetzen. Ohne die unauslöschliche Erfahrung von
transzendenten Flitterwochen mit dem Absoluten könnte der
Liebende kein Leitbild des Zustands, auf das sein Begehren
ausgeht, in sich tragen. Darum sind sich Platonismus und Psy­
choanalyse, bei radikalen Gegensätzen in ihren Auffassungen
vom substantiellen Ausgangspunkt des Liebesdramas, doch
einig in der Bestimmung seiner Form: Beide lehren, daß der
primäre, vorgegenständliche und übergegenständliche Eros
seine Quelle in einer verdunkelten, nie ganz vergeßbaren und
immer weiterzündenden Zwei-Einigkeits-Vergangenheit hat.

Die erste Tiefenpsychologie der Neuzeit ist, wie oben in ei­


ner vorausgreifenden Bemerkung festgestellt, in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts aus Impulsen des florentinischen
Neoplatonismus hervorgegangen. Das Kriterium für das
Vorliegen tiefenpsychologischen Denkens kann als erfüllt
gelten, wenn seelische Prozesse in eine erlebte Vorderseite
und eine nicht-erlebte Rückseite zerlegt werden, und zwar
so, daß die Subjekte sich selbst mit Hilfe dieser Unterschei­
dung neu zu verstehen lernen. Solche Modelle beschreiben78

78 Vgl. Bela Grunberger, N arziß und Anubis. Die Psychoanalyse jen­


seits der Triebtheorie, Stuttgart 1988, Band 2, S. 189-205, w o der Ter­
minus M onade für den »extrojizierten Uterus« steht, in dem sich das
N eugeborene in engster Gemeinschaft mit ihren M üttern befinde.
Es lebe »in einer A rt virtuellem R au m ,... den ich M onade nenne.
Die M onade ist eine immaterielle G ebärmutter, die jedoch wie eine
reale funktioniert.« (Ibid., S. 192)
Menschen im Zauberkreis 21/

das Erlebte durch Vorgänge, die sich im Erlebten zwar aus­


wirken, ohne sich doch als solche in ihnen abzubilden;
gleichwohl wird das Erleben selbst durch Einblick in seine
seelische Mechanik umgestimmt, teils durch Umlenkung des
Interesses, teils durch kathartische Reaktionen. Eben diese
Denkweise, die zahlreiche moderne psychologische Kon­
zepte von der Hypnose bis zum reframing kennzeichnet,
bricht sich in Marsilio Ficinos Theorie der tierischen Liebe
Bahn. In ihr, und nicht in seinen weithin sterilen Über­
höhungen des platonischen Eros, den er den sokratischen
nennt, gründet die Originalität seines Beitrags zu einer neu­
zeitlichen Erotologie. Bei seinem Lob auf die sokratische
Liebesart kann sich der Autor kaum von den Konventionen
des Idealismus und seiner Projektionen ins Feld der mittel­
alterlichen Gottesminne lösen; in seinem Tadel der vulgären
Liebe jedoch wird Ficino - Sohn des Leibarztes der Medici -
zu einem ersten Phänomenologen der intersubjektiven Be­
zauberungen. Mit dem Blick eines Psychotherapeuten ante
litteram erhebt er die Faszination von Menschen durch ih­
resgleichen zu einem Thema eigenen Rechts. Ficino bemerkt,
daß Menschen meistens gut vollbringen, was sie häufig voll­
bringen - nur nicht in Liebesangelegenheiten, denn »wir alle
lieben unaufhörlich auf irgendeine Weise, aber fast alle lieben
nur schlecht (tutti quasi amiamo male) und je mehr, desto
schlechter lieben wir (e quanto pik amiamo, tanto peggio
amiamo)«. Man sagt nicht zuviel, wenn man die siebte Rede
aus De amore als ein Gründungsdokument der neuzeitlichen
Tiefenpsychologie bezeichnet. Schon in ihr wird, wie in
ihren späteren Versionen, die Pathologie zum Fenster der
Seele, durch das der Philosoph Einblick nimmt, um die in­
nere Maschine in Bewegung zu sehen.
Ficinos Psychopathologie beschreibt den amor vulgaris
zwischen Individuen gleichen oder verschiedenen Ge­
schlechts als Ergebnis von subtilen Infektionen durch das
Auge. Nach bekannter platonischer Lehre heißt sehen nicht
2 I8 Kapitel 3

einfach von Eindrücken beleuchteter Objekte betroffen wer­


den, sondern aktive Sehstrahlen auf die Dinge richten. Das
Auge ist selber sonnenhaft, sofern es die Dinge mit einem
Licht sui generis anleuchtet. Wie die Geschoße einer kogniti­
ven Artillerie brechen die Sehstrahlen aus den Augen hervor,
und die vorliegende er-blickte Welt ist der Treffer. Zugleich
ist nach Ficino der welt-erblickende Strahl ein Transporter für
feinstoffliche Essenzen, die von dem Schauenden ausgesandt
werden. Nimmt man diese Konzepte versuchsweise ernst, so
läßt sich ohne Mühe nachvollziehen, wie Ficino zu seiner
Auffassung von den okularen Infektionen kommt. Bei der
Blickbegegnung von Menschen verdichtet sich der Raum
zwischen ihren Augen zu einem hoch aufgeladenen Strahlen­
feld und wird Schauplatz für ein Mikrodrama der Energien;
zwischen Blick und Gegenblick müssen sich Interpenetratio­
nen entwickeln, wobei der stärkere Blick es ist, der seine
Inhalte, vor allem Lebensgeister in Form von feinsten Dämp­
fen, vapores, ins Auge des anderen injiziert. So erscheint der
intersubjektive Raum als ein Kampfplatz der Lebensgeister,
die durch die Augen, aber auch durch andere Körperausstrah­
lungen, auf andere einwirken. Ficino bemerkt hierüber:
»Aristoteles schreibt, daß, wenn Frauen während ihrer
Menstruationsperiode in den Spiegel sehen, sie diesen
häufig mit Blutstropfen beflecken. Nach meiner Mei­
nung kommt dies daher, daß der Lebensgeist, welcher
ja Dunst des Blutes ist, gleichsam aus allerdünnstem
Blut besteht, so zwar, daß er sich sonst nicht den Au­
gen darstellt, jedoch, wenn er sich auf der Oberfläche
des Spiegels verdichtet, sichtbar w ird...
... Ist es demnach verwunderlich, daß, wenn das
geöffnete und mit Aufmerksamkeit fest auf jemand
gerichtete Auge nach den Augen des Beschauers sei­
ne Strahlen schnellt, es zugleich mit diesen, welche
das Vehikel der Lebensgeister sind, den Blutdunst
ausström t...? Von dort dringt der giftige Pfeil in die
M e n s c h e n im Z a u b e rk re is 219

Augen ein, und weil er vom Herzen dessen, der ihn ab­
schießt, ausgeht, dringt er in das Herz des Getroffe­
nen, also gleichsam in die ihm eigentümliche und an­
gestammte Gegend ein. ... Hieraus entspringt eine
doppelte Verzauberung (duplex fascinatio). Der An­
blick eines stinkenden Greises oder eines menstruie­
renden Weibes behext einen Knaben, während der An­
blick eines Jünglings einen älteren Mann bezaubert.
Weil aber der Saft des Greises kälter und schwerfälliger
ist, berührt er bei dem Knaben kaum die Oberfläche
des Herzens, und weil er wenig imstande ist einzudrin­
gen, beeinflußt er das Herz, wenn es nicht etwa wegen
des kindlichen Alters gar zu zart ist, nur in geringem
Maße, und darum ist die Bezauberung nicht nachhal­
tig. Sie ist hingegen sehr ernst in dem Falle, wenn die
jüngere Person das Herz der älteren verletzt.«
Trotz seiner bizarren physiologischen Konzepte, die seit lan­
gem keine Verteidiger m ehr finden, ist dieser D iskurs struk­
turell unm ißverständlich dem Feld neuzeitlicher tiefenpsy­
chologischer Theorien zugehörig, weil durch ihn die erlebte
Liebe als Effekt eines nicht-erlebbaren psycho-physiologi-
schen Prozesses beschrieben und vermittelt wird. Zugleich
ist in Ficinos Modell bereits eine latente Idee des U nbew uß­
ten präsent: Es gehört zum Wesen der neuakademisch ver­
standenen tierischen Liebe, Effekt von faszinogenen Prozes­
sen zu sein, die von den Subjekten nur in ihren Ergebnissen,
nicht aber in ihrem physiologischen Mechanismus erfahren
werden können. Indem Ficinos Diskurs über die vulgäre
Liebe die psychomechanische Rückseite der erlebten eroti­
schen Leidenschaften offenlegt, ermuntert er im Stil neu­
zeitlicher psychodynamischer Aufklärung die betroffenen
Subjekte dazu, aus der Einsicht in die maschinenhaft funk­
tionierenden Komponenten ihres psychischen Apparats
praktische Folgerungen für ihre Heilung vom krankhaften
Drang zu ziehen. Der vulgär oder naturhaft Verliebte wäre
220 Kapitel 3

von nun an über den mechanischen Grund seines über­


schwenglichen Wunsches nach Vereinigung mit dem anderen
ins Bild gesetzt. Er weiß jetzt, daß er unter den psychischen
Nebenfolgen einer okular übertragenen Fremdblut-Infek­
tion leidet: Folglich ist er mit Aufklärungswissen gerüstet,
um von seiner Leidenschaft reflektierend Abstand zu neh­
men. Es ist das unbemerkt aufgenommene, von fremden Le­
bensgeistern animierte Blut des anderen, das die Liebenden
dazu bewegt, ihren Samen in das Gegenüber entsenden zu
wollen oder darauf zu brennen, den Erguß des anderen in
sich aufzunehmen. Wer begriffen hat, daß die Raserei des
Wunsches nach Berührung und Vereinigung nur ein Effekt
von unbewußten Transfusionen ist, hat schon den ersten
Schritt zur eigenen Entzauberung und Heilung getan. Dieser
bleibt freilich unmöglich, solange der Unglückliche dem
Zwang erliegt, sein Elend als etwas anzusehen, was doch im
Genuß enden werde; erst nachdem ein kritisches Maß an Lei­
den ihn für die Konversion bereit gemacht hat, kann er sich
nach philosophischer Anleitung umsehen, um eine eher
glückversprechende Liebesart zu erlernen. Wenn die De-
faszination gelingt, wird er vom Zwang zum Agieren des
Wunsches nach Vereinigung befreit. Wo nicht, so gerät das
Subjekt in Gefahr, das Schicksal der Artemisia zu wiederho­
len, deren tristen Exzeß Ficino warnend erwähnt:
»Daß die Liebenden wirklich das Verlangen tragen, die
geliebte Person ganz in sich aufzunehmen, bewies Ar­
temisia, die Gattin des Mausolos, des Königs von Ka-
rien, welche so über alle Maßen ihren Gatten liebte,
daß sie (nach dessen Tod) seinen Leichnam in Staub
verwandelte, diesen in Wasser schüttete und hinunter­
trank (ebibisse).« (De amore, S. 335)
Wie das Beispiel vom Gatten-Trinken zeigt - was im übrigen
die Fortsetzung des inzestuösen Exzesses mit anderen Mit­
teln bedeutete, da der Überlieferung zufolge Mausolos und
Artemisia Geschwister waren -, besteht die Merkwürdigkeit
Menschen im Zauberkreis 221

von Ficinos Theorie der vulgären Liebe darin, daß sie das
Verlangen nach Vereinigung zwischen den Liebenden keines­
wegs aus einem eigenständigen Triebwunsch nach dem geni­
talen Objekt erklärt, sondern sie wie eine zum Scheitern ver­
urteilte Verschiebung des symbiotischen Primäreros auf die
Geschlechterbeziehungs-Bühne vorstellt; dies ist, fünfhun­
dert Jahre vor Freud, Lacan und Kohut, eine Entdeckung, die
selbst darauf wartet, wiederentdeckt zu werden. Freilich
sollte die genitale Liebe als solche auf ihre psychologische
Rechtfertigung lange warten müssen; noch für Jahrhunderte
stand das sexualisierte Dual im Schatten der magischen
Dyade. Die Dualerotik konnte sich erst als Größe eigenen
Rechts behaupten, seit sich die Restauration der jüdischen
Ethik gegen die Vorherrschaft der griechischen Philosophie
im zeitgenössischen Theoriehaushalt geltend machte. Es ist
nicht ausgeschlossen, daß man diesen Vorgang eines Tages im
Rückblick als das Hauptereignis im geisteswissenschaftli­
chen Prozeß des 20. Jahrhunderts wahrnehmen wird. Die
Ethik der Psychoanalyse wurzelt bekanntlich in der jüdi­
schen Gesetzesauffassung - sie fördert nicht Verschmelzun­
gen, sondern hält ein unablässiges Plädoyer für konstruktive
Trennungen; ihr Fokus ist nicht die intime Fusion, sondern
die Diskretion des Subjekts angesichts des anderen. Das Ge­
setz selbst hat vor allem den Sinn, den Abstand zwischen
Gott und Mensch bis in die Einzelheiten des Alltagslebens
zur Geltung zu bringen. Freilich zeigt sich die Grenze der
philosophisch erneuerten jüdischen Dualethik dort, wo sie
dazu neigt, den Anspruch des Infans an die Intimität zu un­
terschätzen: Was schon Freuds Schwäche war, die Unwillig­
keit, die Mutter zu denken, bleibt auch noch die von Emma­
nuel Levinas, der seine Theorie der starken Beziehung
zwischen dem Menschen und seinem Nächsten in exzessiv
bevorzugender Weise am Vater-Sohn-Verhältnis orientiert.79
79 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und U nendlichkeit. Versuch über
die Exteriorität, Freiburg-M ünchen 1987, w o es im A bschnitt
222 Kapitel 3

In Ficinos neu-griechischer Perspektive ist immerhin


schon klar, daß sexualisierte Bezauberung zu nichts führen
kann außer zu Enttäuschung und Erschöpfung. Seine Ana­
lyse der intersubjektiven Faszination macht aus der sinn­
lichen Liebe einen Fall von falsch adressiertem Heimweh
nach dem bipolar integrierten mikrosphärischen Urzustand.
Folglich besteht für ihn die einzige erfolgversprechende Me­
thode, sich von der vulgären Liebe zu heilen, darin, sich zum
sokratischen Modus von Liebe zu bekehren; nur wer in der
Art der Philosophen liebt, könnte die richtige Anschrift auf
den Liebesbrief der Existenz setzen. Sind alle nur mensch­
lichen Liebesobjekte potentiell quälend und enttäuschend,
so gibt das göttliche Uber-Objekt die Gewähr dafür, sei­
nen Adoranten mit unenttäuschbarer Liebenswürdigkeit an­
zuleuchten. Hierin bleibt Ficino an eine mittelalterliche
Grundstellung gebunden; aus ihm spricht noch der Theolo­
genekel vor der Zumutung, für die höchsten Bedürfnisse der
Seele sich an bloße Menschen halten zu sollen. Er wiederholt
als Philosoph das Gelübde der Mönche, sich von keinem an­
deren als Gott selbst ergänzen zu lassen. Die erste Erotolo-
gie der Neuzeit hätte schon unter Kafkas Wort stehen kön­
nen: »Mit einer schönen Wunde kam ich auf die Welt; das
war meine ganze Ausstattung.« Immerhin, als im Spätherbst
des Mittelalters zu Florenz eine neuzeitträchtige philosophi­
sche Rede vom Begehren aufkam, war es ihre Sorge, die
schöne Wunde durch keine schnellen Verbände verschließen
zu lassen.

»Kindschaft und Brüderlichkeit« heißt: »Der Sohn nim m t die E in­


zigkeit des Vaters auf und bleibt dennoch dem Vater äußerlich: D er
Sohn ist einziger Sohn. N icht kraft der Zahl! Jeder Sohn des Vaters
ist einziger S o h n .... Erst der väterliche Eros setzt die Einzigkeit des
Sohnes ein - sein Ich als Ich des Sohnes beginnt nicht im G enuß, son­
dern in der Auserwählung.« (S. 407-408) Diese E thik des Vater­
kindes liest sich wie die ursprüngliche Psychoanalyse, um die N e u ­
rosenlehre vermindert.
Menschen im Zauberkreis

Mehr als ein Jahrhundert nach Ficino hat Giordano Bruno


die frühneuzeitliche Intersubjektivitätsmagie in eine allge­
meine Lehre von den diskreten wechselseitigen Bindungen
der Dinge aneinander eingebettet. In seinen erst jüngst ins
Deutsche übersetzten magischen Schriften,80 insbesondere in
dem Traktat Von den fesselnden Kräften im allgemeinen, De
vinculis in genere, hat Bruno in quasi kosmo-erotologischer
Tonart eine Theorie der starken Wechselwirkungen oder
Entsprechungen zwischen Energiepolen durchgeführt. In
ihr spielt der Begriff der Fessel - vinculum - die Schlüssel­
rolle; auf ihn gründet sich eine Ontologie diskreter multipler
Attraktionen. Ihr zufolge bedeutet Sein für jedes Ding nichts
anderes als einem Spiel ständig bewegter vielfältiger Zugehö­
rigkeiten zu Entsprechendem angehören.
»Die Fessel besteht also in einer gewissen Übereinstim­
mung nicht nur der Glieder untereinander, sondern
auch in einer gewissen übereinstimmenden Disposition
des Hinreißenden mit dem Hingerissenen, um mich
einmal so auszudrücken... Die Fessel reißt die Seele
nicht hin, wenn sie nicht binden und fesseln kann. Sie
fesselt sie nicht, wenn sie sie nicht erreicht. Sie erreicht
sie nicht, wenn sie nicht durch irgend etwas hingerissen
werden kann. Im allgemeinen erreicht die Fessel die
Seele durch Erkenntnis, bindet sie durch den Affekt,
zieht sie an durch Genuß ... (a. a. O., S. 170-171)
... Die Fessel ist nicht in jedem Fesselnden gleich,
noch in jedem Gefesselten dieselbe. (172)
... Am stärksten wird gefesselt, wenn die Fessel etwas
vom Fesselnden transportiert oder wenn der Fesselnde
durch etwas von ihm selbst ein anderes beherrscht. Da­
her genügen die Nägel und Haare der Lebenden, um
über den ganzen Körper Herrschaft zu erlangen... (174)

80 Vgl. G iordano Bruno. Ausgewählt und vorgestellt von Elisabeth von


Samsonow (s. Anm. 44), S. 115 - 228.
224 Kapitel 3

... Mit einer jeweils anderen Fessel küssen wir die


Kinder, den Vater, die Schwester, die Gattin, die Freun­
din, die Hure und den Freund. (176)
... Es wird nichts gefesselt, wenn es nicht in sehr ge­
eigneter Weise vorbereitet worden is t... (172)
... Die Fessel wirkt nicht in der gleichen Weise von
allem her und auf alles, auch nicht immer, sondern in
der entsprechenden Verfassung auf das entsprechend
Verfaßte. (174)
... Durch alle Sinne hindurch läuft dem Fesselnden
das Gefesselte entgegen, und zwar bis zu einem sol­
chen Grade, wenn eine vollkommene Fesselung ge­
schehen ist, daß er in jenes ganz hinübergehen will
oder einzugehen begehrt, insofern es sich um die Fes­
sel der Begierde handelt. (200)
... Es ist nicht möglich, jemand für sich zu fesseln,
dem das Fesselnde nicht auch selbst verpflichtet ist...
Die Freundin... wird von einem Freund tatsächlich
(actu) nicht gefesselt, wenn nicht auch der Freund tat­
sächlich an die Freundin gefesselt wird. (211)
Die Anregungen der älteren florentinischen Intersubjektivi­
tätsmagie haben sich bei Bruno zu einer allgemeinen Attrak­
tionsontologie entfaltet. Diese schließt die Psychologie der
Wechselwirkung in ein umfassendes System der natürlichen
Magie ein. Magie ist für die Denker der frühen Neuzeit die
Chiffre für die Kunst, die Dinge und Lebewesen von spezi­
fischen Wechselwirkungen umgriffen und durchdrungen zu
denken; auf allen Ebenen des Seins gilt für alle Dinge der
Vorrang ihrer Beziehungen - magologisch gesprochen: ihrer
Fesselungskraft und Fesselbarkeit - vor ihrem Ansichsein.
Daher sind für Bruno die dumpfsten Menschen, die idiotisch
Verschlossenen, die am wenigsten fesselbaren, während die
geistvollsten Individuen in einem welthaltigen Konzert der
Fesselungen mitschwingen und sich selbst zu Operatoren
oder Vollbringern vielfacher schöpferischer Wirkungen er-
Menschen im Zauberkreis 225

heben. In Magie-Ausdrücken verständigt sich die frühe N eu­


zeit über den Menschen, der es zu seiner Sache macht, bisher
für unmöglich gehaltene Dinge zu bewirken. Was das
16. Jahrhundert, die große Ermächtigungs- und Steigerungs­
zeit der Europäer, den Magus nennt, ist der enzyklopädisch
reizbare, polyvalent weltoffene Mensch, der sich zur auf­
merksam-kunstreichen Kooperation mit den diskreten
Wechselwirkungen zwischen den Dingen in einem hoch­
kommunikativen Universum ausbildet. Der Magus, als ge­
meinsamer Prototypus des Philosophen, des Künstlers, des
Arztes, des Ingenieurs und des Informatikers ist nichts ande­
res als der Operator-Kuppler in der Welt der Entsprechun­
gen, der Einflüsse und der Attraktionen. Er ist der Agent und
Metapsychologe der Weltseele, durch deren universale Aus­
breitung »ein Aufeinanderzugehen von allem auf alles gege­
ben« ist (149). Bruno, der aus dem Orden ausgebrochene
Dominikanerpriester, hat mit dem Ordenszwang auch die
Kapuze des mönchischen Andenkens an das immergleiche
Eine abgestreift; indem er sich dem mystischen Licht-Sog
entwand, hat er sich zum Denker der vielfältigen, in wandel­
baren Partnerschaften entfalteten, göttlichen Materie und ih­
rer Spuren im Bewußtsein emanzipiert. Als ein Kolumbus
des Beziehungen-Atlantiks hat er auch für das heroische
Heimweh der Seele eine andere Küste entdeckt, die, wie die
sagenumwobene amerikanische, ein diesseitiges Jenseits in
der entgrenzten Welt vorstellt.81
Neben Brunos Korpus magologischer Schriften ist es vor
allem das Werk William Shakespeares, in dem die Einfluß-
und Entsprechungsideen der frühneuzeitlichen Philosophie
kulminieren. Wie Rene Girard in seiner Studie über Shake­
speares dramatische Handlungen gezeigt hat, bilden die

81 Zum M otiv des »anderen Ufers« in dieser »Amerikanistik der W ün­


sche« vgl. Sphären II, 8. Kapitel, Die letzte Kugel. Zu einer philoso­
phischen Geschichte der terrestrischen Globalisierung.
226 Kapitel 3

Stücke des Meisters von Stratford-on-Avon eine Summe von


Versuchen über die Entflammbarkeit von Menschen durch
die »Feuer des Neides«.82 Seine Beziehungswelten spiegeln
soziale Ensembles wider, in denen die Individuen sich unauf­
hörlich gegenseitig mit ihrem Macht- und Lustbegehren in­
fizieren. Shakespeares Akteure operieren wie psychische
Batterien, die durch Anschluß an Rivalitätsspannungen gela­
den werden - ihr Eigenes besteht nur in ihrer Infizierbarkeit
mit Bildern, die ihrem Begehren die Richtung zeigen, und in
ihrer Erregbarkeit durch die Gewaltnachahmung, unter de­
ren Einfluß sie sich ihren heftigen Mitbewerbern in chaoti­
schen Eskalationen angleichen. Durch den sich verdunkeln­
den Psychokosmos des Shakespeareschen Spätwerks zieht
sich eine zunehmend grausame Analyse der mimetischen
Pest, die ihre Infizierten zu Medien macht für gebannten
Neid und eskalierende Nachahmungszwänge. Insofern mö­
gen die Literatursoziologen nicht ganz unrecht haben, die in
Shakespeares dramatischem Universum einen Reflex der ent­
stehenden bürgerlich-imperialistischen Konkurrenzgesell­
schaft sehen wollten.
Aus der Faszinationsanalyse der ersten europäischen Tie­
fenpsychologie ergibt sich eine doppelte Aussage über die
Natur von bipolarer Intimität: Als vulgäre Liebe bedeutet die
Flingezogenheit zum anderen die Wirkung einer gegenwärti­
gen Infektion durch fremde Lebensgeister; als erhabene
Liebe ist die Sehnsucht nach dem anderen die wirksame Spur
der Erinnerung an die Koexistenz mit Gott. Das Präsens er­
scheint so als die Zeit der Besessenheit, die Vergangenheit als
Zeit der Ekstase. Ist das Organ des vulgären Vereinigungs­
triebs das Attraktions- und Fesselungssystem Auge-Blut-
Herz, gefolgt von seinem genitalen Anhang, so ist das Organ
des Verlangens nach Vereinigung mit dem erhabenen Sub­
jekt-Objekt das Gedächtnis. Damit erscheint unter Platons

82 Vgl. Rene G irard, Shakespeare et les feux de l’envie, Paris 1990.


Menschen im Zauberkreis 22/

erneuerter Anregung im Zentrum der wiederaufgebrochenen


Frage nach dem Wesen von Intimität die tiefere Frage nach
der Möglichkeit von Erinnerung. Die neuplatonische Analy­
tik stellt die Mittel dazu bereit, Intimität nicht länger nur als
räumliche Nähe zu verstehen - weder als die zwischen Her­
zen noch zwischen Gesichtern, noch zwischen genital ver­
bundenen Körpern; Intimität als Erinnerung führt in das
Spiel der attraktiblen Körper eine zeitliche Tiefe ein, indem
sie gegenwärtige Nähe als Wiederholung einer vergangenen
Nähe inszeniert. Damit wird ein Denken in Ubertragungsbe­
griffen auf den Weg gebracht. Das Agens der Wiederholung
ist ein urbildmächtiges Nachleuchten eines älteren Zustands
im aktuellen. Intimität ist die wiedergefundene Zeit - plato­
nisch: die Zeit in Gott, psychoanalytisch: die vorgeschichtli­
che Zwei-Einigkeit des Mutter-Kind-Raumes. Auf den von
Platons Erinnerungslehre gebahnten Wegen hat die neuzeit­
liche Tiefenpsychologie die wesenhafte Geschichtlichkeit des
Seelischen aufgedeckt. Sie zeigt, wie in gewissen Leidenschaf­
ten, die von den Renaissance-Denkern die heroischen ge­
nannt wurden, der Magnetismus eines vorgeburtlichen Alter­
tums in die psychische Gegenwart einstrahlt.

Die zweite große Formation europäischer Tiefenpsychologie


- der Komplex aus tierischem Magnetismus, künstlichem
Somnambulismus und Hypnotismus -, der sich vor allem
in Deutschland und Frankreich zwischen 1780 und 185083
zu einem vielfältigen therapeutisch-literarischen Universum
entfaltet hatte, ist durch zahlreiche Traditionsstränge mit den
Doktrinen der frühneuzeitlichen Psycho-Kosmo-Erotologie

83 U m die Blütezeit der ersten tiefenpsychologischen Klassik durch


symbolische Eckdaten einzugrenzen, könnte man auf Mesmers
Übersiedlung von Wien nach Paris im Jahr 1778 und auf das Publi­
kationsjahr der letzten Summe m agnetopathischer Traditionen, Carl
Gustav C arus’ Ü ber Lebensmagnetismus und die magischen Wir­
kungen überhaupt von 1856 hinweisen.
228 Kapitel 3

verbunden. Dies gilt vor allem für die magnetosophischen


Konzepte, die in nahezu ungebrochener Kontinuität - wenn­
gleich auch zunehmend angefochten - von den Magi der Re­
naissance, namentlich Paracelsus, Gilbert und van Helmont,
über Jakob Böhme und Athanasius Kircher (Magnes sive de
arte magnetica, Rom 1641) bis zu Newton und schließlich zu
Franz Anton Mesmer (1734-1815), dem eigentlichen Anre­
ger der romantisch-magnetopathischen Medizin, überliefert
wurden. Bei Mesmer und seiner französischen Schule ist das
platonisch-anamnetische Moment allerdings ganz zugunsten
einer Theorie präsentischer Wechselwirkungen zwischen
planetarischen und animalischen Körperausstrahlungen in
den Hintergrund getreten. Nichtsdestoweniger sollte Mes­
mers Impuls dazu führen, daß das Verständnis magisch­
interpersonaler Intimität in der romantischen Psychologie
den Durchbruch zu einem völlig neuartigen Verständnis der
Psyche als Gedächtnis der subjektiven Urbeziehungen voll­
ziehen konnte. Wie später bei Freud ist schon bei Mesmer
der Szientismus zum produktiven Vorwand innovativer Ar­
rangements im dramatisch-intersubjektiven Intim-Raum
geworden. Mesmers krankheitsphilosophischer Ansatz, der
seit seiner Wiener medico-physikalischen Dissertation Uber
den Einfluß der Planeten von 1766 in wesentlichen Zügen
feststand, fußte auf kosmologischen Vorstellungen von einer
interstellaren Anziehungskraft und einem universalen Flui­
dum, das sich in der Art von magnetischen Strahlungen allen
Körpern, mineralischen ebenso wie animalischen, auf dem
Wege der Selbstausbreitung mitteilt. Es ist nicht ausgeschlos­
sen, daß Mesmer seine Doktrin aus Anregungen entwickelt
hat, die auf den englischen Mediziner und Naturphilosophen
Richard Mead (1673-1754), den Hausarzt Newtons, zurück­
gehen. Für Mesmer gibt es noch keine von der Kosmologie
und der allgemeinen Physik abgetrennte Psychologie. Sein
Verständnis des Intimen enthält kaum Hinweise auf indivi­
dualpsychologische Momente. Individuen sind für ihn bloß
Menschen im Zauberkreis 229

animalische Magnete, die wie alle anderen Körper in einem


fluidalen Konzert von Ein- und Ausflüssen mitbewegt wer­
den. Überträgt man diese naturphilosophischen Maximen in
die erotisch-personale Sphäre, so erhält man geradewegs jene
psycho-chemischen oder magnetischen Wahlverwandtschaf­
ten, die Goethe in die Versuchsanordnung seines kühnen
Romans integriert hat. Mesmers Bedeutung für die spekta­
kulären und vielverdächtigten Aufbrüche der romantischen
Psychotherapeutik hegt vor allem darin, daß sein einfach
imitierbarer magnetopathischer Praxisansatz eine Flut von
Nachfolgeversuchen auslöste, in denen neuartige Anord­
nungen von Nah-Begegnungen zwischen Heiler und Patient,
Künstler und Publikum, schließlich auch zwischen Führer
und Masse durchgespielt werden konnten. So wie die Alter­
nativbewegungen des 20. Jahrhunderts von wilder Psycho­
analyse mitgeprägt wurden, so war das romantische Zeitalter
von 1780 an bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eine Epoche
des wilden Magnetismus - und nur die Tatsache, daß der
seriös ausgeübte magnetopathische Ansatz heilpraktischer
Künste sich von seinen Wildformen, nicht zuletzt von der
Überwucherung durch den Spiritismus, in der öffentlichen
Meinung nicht klar genug zu unterscheiden wußte, hat zu
seiner wissenschaftsgeschichtlichen Katastrophe geführt.
Mesmers Behandlungen trugen Anstöße zu einem neuen
Nachdenken über außergewöhnliche Intimkonstellationen
in die ärztlichen Praxen wie in die diskutierende und experi­
mentierende Öffentlichkeit. Seine Idee, daß alle Körper ein­
ander als magnetische Kraftträger in einem Äther aus tieri­
scher Schwerkraft begegnen, gab unzähligen Individuen
seiner Zeit Gelegenheit, sich vieldeutigen Experimenten mit
unbürgerlichen Attraktions- und Nähe-Erlebnissen auszu­
setzen. In deren Verlauf kam es zu der folgenschweren Ent­
deckung des sogenannten magnetischen Rapports, der in
heutiger Terminologie am ehesten als eine Übertragungsbe­
ziehung zwischen Analytiker und Analysand auf archai-
23° Kapitel 3

sehen Regressionsstufen umschrieben werden könnte. Mes­


mer, der sich bis zuletzt als Physiker-Arzt, nicht als
Psychologe verstand, trug in einer von ihm gegründeten Pa­
riser Geheimloge im Jahr 1784 vor einer Gruppe ausgewähl­
ter Schüler, unter ihnen zeitgenössische und spätere Be­
rühmtheiten wie die Brüder Puysegur, General Lafayette,
der Advokat Bergasse, George Washington und der Bankier
Kornmann, die Prinzipien seiner Heilmethode in einer Serie
von elementaren Lehrsätzen vor. Ein mehrfach neu aufgeleg­
ter Raubdruck aus dem Jahr 1785 machte die Grundzüge von
Mesmers Vorträgen - gegen den Protest des Autors - vor
einer größeren Öffentlichkeit bekannt. Der Vergleich die­
ser Aphorismes de M. Mesmer; dictes ä l’assemblee de ses
Eleves... mit der von Mesmer autorisierten späten Gesamt­
darstellung seines Werks durch den Berliner Arzt Karl
Christian Wolfart Mesmerismus oder System der Wechsel­
wirkungen, Berlin 1814, bezeugt im wesentlichen die Zuver­
lässigkeit der Pariser Nachschriften. In dieser frühen Samm­
lung von 344 Lehrsätzen des animalischen Magnetismus
heißt es unter anderem:
»§ 79. Es gibt ein festes Gesetz der Natur, das darin be­
steht, daß ein gegenseitiger Einfluß auf alle Körper
überhaupt existiert, der folglich auch auf alle Teile, aus
denen sie bestehen, und auf ihre Eigenschaften wirkt.
§ 80. Dieser gegenseitige Einfluß und die Beziehungen
aller miteinander existierenden Körper bilden das, was
man Magnetismus nennt.
§141. Der Zustand des Schlafes des Menschen besteht
darin, daß die Quantität der beim Wachen verlorenen
Bewegung durch die Eigenschaften der allgemeinen
Ströme, in denen sich der Mensch befindet, wieder er­
gänzt wird.
§ 160. Der Mensch befindet sich immerfort in allge­
meinen und besonderen Strömen und wird von densel­
ben durchdrungen.
Menschen im Zauberkreis 23 1

Handzeichnungen Mesmers zur Erklärung des Systems der Wechselwir­


kungen aus Karl Christian Wolfarts gleichnamigem Buch
Kapitel 3

§161. Aus den am meisten hervorstehenden Teilen


oder Extremitäten gehen Ströme aus und ein...
§ 184. Es ist nachweisbar und man hat starke Gründe a
priori, daß wir noch mit einem inneren Sinn begabt
sind, der mit dem Ganzen des Weltalls in Verbindung
steht...
§238. Es ist nicht gleichgültig, welche Stellung zwei
Wesen gegeneinander haben, die aufeinander wirken.
Zwei Wesen haben den größten Einfluß aufeinander,
wenn sie so gestellt sind, daß ihre gleichartigen Teile
aufs genaueste entgegengesetzt sind. Folglich müssen
zwei Menschen, damit sie so stark als möglich aufein­
ander wirken, Gesicht gegen Gesicht kehren. In dieser
Stellung können sie angesehen werden, als machten sie
nur ein Ganzes aus. Aus dem folgt, daß man die rechte
Seite mit dem linken Arm und so gegenseitig berühren
muß, um die Harmonie des Ganzen zu unterhalten...
§ 309. Es gibt nur eine Krankheit und nur ein Heilmit­
tel; in der vollkommenen Harmonie aller unserer Or­
gane und ihrer Verrichtungen besteht die Gesundheit.
Die Krankheit ist bloß die Abweichung von dieser
Harmonie. Die Heilung besteht also darin, daß man
die zerrüttete Harmonie wieder herstellt.
§333. Keine Krankheit kann ohne Krisis geheilt wer­
den; die Krisis ist das Streben der Natur, durch Ver­
mehrung der Bewegung, des Tonus und der Spannung,
die Hindernisse, welche die Zirkulation hemmen, zu
zerstreuen.
§334. Wenn die Natur nicht hinreichend ist, Krisen
hervorzubringen, so unterstützt man sie durch den
Magnetismus...« 84
Wegen ihres elementaren und suggestiven Charakters ließen
sich Mesmers Doktrinen von Enthusiasten wie von skepti-
84 Zitiert nach: Emil Schneider, D er animale Magnetismus. Seine
Geschichte und seine Beziehungen zur H eilkunst, Zürich 1950,
S- 338-347.
Menschen im Zauberkreis 233

Baquet Wolfarts
234 Kapitel 3

sehen und neugierigen Expeximentatoren leicht aneignen


und in vielfältigen Anwendungen überprüfen und modifi­
zieren. Von der epidemischen Wirkung der Mesmerschen
Impulse kann F. A. Murhards siebenhundertseitiges Opus
Versuch einer historisch-chronologischen Bibliographie des
Magnetismus, Cassel 1797, eine grobe Idee vermitteln. Kaum
fünfundzwanzig Jahre nach Mesmers Hervortreten im Wien
der siebziger Jahre hatten sich seine Anregungen zu einer
turbulenten und komplexen Subkultur entfaltet. Sie wurde
im Zeitalter der romantischen Medizin zu einer literarischen
und klinischen Großmacht ausgebaut. Die Geistesgeschichte
kennt wenige Fälle, in denen auf eine so überwältigende
Selbstausbreitung eines Gedankens ein so umfassendes se­
kundäres Vergessen folgte. An diesem ist aber nicht nur die
erwähnte wissenschaftliche Diskreditierung des therapeuti­
schen Magnetismus durch seine theatralischen und unseriö­
sen Nachahmer schuld. Man muß überdies annehmen, daß
der Schub zum Experimentieren mit interpersonalen Ent­
grenzungen, der von Mesmers Ansätzen ausging, sich bre­
chen mußte an der psychohistorischen Generaltendenz des
späteren 19. und 20. Jahrhunderts, schärfere Konturen im
System der Ich-Abgrenzungen der bürgerlichen Gesellschaft
zu erzeugen. Mit dem Fortschritt der Warenverkehrsgesell­
schaft und der individualistischen Abstraktion sowie im Zug
zur Etablierung eines verschärften Machtgefälles zwischen
Ärzten und Laien verflachte die erste große Konjunktur
ich-überschreitender magnetopathischer Verfahren. Erst um
1900 kam es, vor allem unter der synergetischen Wirkung
von Nietzsches Schriften und der lebensreformerischen
Kommune-Ideen, zu einer zweiten Welle interpersonaler
Entgrenzungskonzepte - aus ihr sind unter anderem die
Wiener und die Zürcher Psychoanalysen hervorgegangen,
die doch von Anfang an den verschärften Normen bürger­
licher und szientistischer Distanzregeln einen hohen Tribut
zu zollen hatten. In psychohistorischer Sicht erscheint der
Menschen im Zauberkreis 235

Handzeichnung Mesmers: Darstellung der Entstehung von Ebbe und Flut

tierische Magnetismus wie eine Vorschule zur dionysischen


Subversion bürgerlicher Subjektivitätsformen, wie sie von
Künstlern des 20. Jahrhunderts postuliert wurde; vom Bür­
ger als Magneten war der Weg zum Bürger als göttlichem
Tier weniger weit, als die gängige Kulturgeschichte zur
Kenntnis nehmen mochte. Die dritte Welle - die Gegenkul­
turbewegung der sechziger Jahre unseres Jahrhunderts, die
an ihren romantischen wie an ihren vitalistischen Vorläufern
anknüpfen konnte - bricht sich gegenwärtig am verschärften
Individualismus des aktuellen telematischen Abstraktions­
schubs sowie am ästhetizistischen Neo-Isolationismus der
postmodernen Lebensstilpropaganda.
Aus den magnetopathischen Nähe-Arrangements ging um
1800 in kürzester Zeit eine Fülle von weitreichenden psycho­
logischen Entdeckungen hervor. Besonders der oben zitierte
236 Kapitel 3

Ebenezer Sibly, Mesmerismus: Der Operator löst eine hypnotische Trance


aus, Kupferstich 1794

§ 238, der das magnetopathische face-a-face als eine Art von


bioenergetischer Kommunion deutlich macht, läßt ahnen,
mit welch explosiven Nähe-Verfahren die romantischen
Ärzte und Heiler zu experimentieren begonnen hatten.
Hatte Mesmer noch geglaubt, nichts anderes zu bewirken als
ein fluidales Analogon zu Ebbe und Flut im einzelnen Men­
schenkörper, so bildeten sich zahlreiche seiner Schüler und
Menschen im Zauberkreis 237
Nachahmer zu authentischen Psychologen aus - wobei der
Ausdruck Psychologie hier noch nicht die moderne Univer­
sitätsdisziplin gleichen Namens meint, sondern als allge­
meine Beziehungs-, Erlebnis- und Verwandlungskunde ver­
standen werden soll. Armand-Marie Jacques de Chastenet,
Marquis de Puysegur (1751-1825), der nach einer Lehrzeit
bei Mesmer in Paris eine eigene umfangreiche Praxis auf
seinem Landsitz in Buzancy bei Soisson errichtete, konzen­
trierte sich zunehmend auf einen von Mesmer beiseite gelas­
senen Aspekt der magnetopathischen Kuren, den sogenann­
ten kritischen Schlaf - eine an die Präsenz des Magnetiseurs
gebundene hypnotoide Tiefenregression der Patienten, die
häufig in Zustände mentaler Luzidität mit erhöhter Sinnes­
wahrnehmung und selbstdiagnostischer Einsicht mündete.
Puysegur verlegte seine Behandlungen mit Vorzug unter ma­
gnetisierte Bäume, mit denen die Patienten durch Seile ver­
bunden waren - es sind jene Zauberbäume der volksmedizi­
nischen Tradition, an deren geistesgeschichtliche Bedeutung
erst in jüngerer Zeit wieder erinnert worden ist. Für Puyse­
gur war der von ihm so genannte künstliche Somnambulis­
mus der Königsweg zur magnetopathischen Heilung; er
setzte die luziden Trancen ein, um seinen Heilungswillen für
den Patienten in diesen selbst wie einen unbewußten Impe­
rativ zu implantieren. Zugleich räumte er den Patienten eine
in keiner anderen ärztlichen Beziehungsform bekannte
eigenständige Mitwirkung ein, indem er von ihrer Introspek­
tion und von ihren Selbstverordnungen in der magnetischen
Trance sich entscheidende Hinweise auf die Ursachen ihrer
Leiden und geeignete Abhilfen geben ließ. Von Puysegur
ging die Neudeutung des magnetischen Verfahrens als Wil­
lensübertragung vom Magnetiseur auf den Magnetisierten
aus - eine Vorstellung, die im besonderen auf die Denker des
Deutschen Idealismus Eindruck machte.
Aus der Betonung des Willens als dem eigentlichen Agens
magnetischer Therapien zog Immanuel Kant die Konse-
238 Kapitel 3

Goya, Die blinde Kuh, 1797

quenz, daß auch eine Selbstheilung durch den Willen - den


»bloßen Vorsatz«85 - möglich sein müsse; er wurde damit,
fast hundert Jahre vor Emile Coue (1857-1926), zum Ent­
decker der Autosuggestion. Schellings Naturphilosophie
bietet eine umfassende Rationalisierung des animalischen
Magnetismus; er erprobte selbst magnetopathische Verfah­
ren an Personen seiner nächsten Umgebung - wenngleich
mit überwiegend schlechtem Erfolg - und stand zeitlebens in
Verbindung mit einem Milieu von Magnetiseuren und Sym-

8 5 Immanuel Kant, Von der M acht des Gemüts, durch den bloßen Vor­
satz seiner krankhaften Gefühle M eister zu sein. Ein A ntw ortschrei­
ben an H errn H ofrat und Professor Hufeland, in: D er Streit der Fa­
kultäten, D ritter Abschnitt.
Menschen im Zauberkreis 239

Die Ulme von Buzancy, unter der Puysegur magnetopathische Kuren


durchführte

pathisanten des Mesmerismus; unter diesen ragten sein jün­


gerer Bruder, der Obermedizinalrat Karl Eberhard von
Schelling (1783-1854),86 und der Religionsphilosoph Karl
August Eschenmayer (1786-1862) hervor.87 Franz Xaver von
Baader, Schellings Anreger und Kollege der Münchener
Jahre, hat in seinen Schriften zur philosophischen Anthropo­

86 Vgl. dessen: Ideen und Erfahrungen über den Magnetismus, T übin­


gen 1807.
87 Vgl. dessen: Versuch, die scheinbare Magie des thierischen Magnetis­
mus aus physiologischen und psychischen Gesetzen zu erklären,
Stuttgart und Tübingen 1816; sowie: M ysterien des inneren Lebens.
Hegels A nsichten über den thierischen Magnetismus. Ansichten und
Gegenansichten von Strauß und Fichte, Tübingen 1830.
240 Kapitel 3

logie ausführlich auf Phänomene des Schlafredens und der


magnetischen Luzidität Bezug genommen;88 in seinen Über­
legungen zu einer religiösen Erotik führte er Motive der
frühneuzeitlichen Bezauberungs-Analyse weiter: »Nur die
Liebe ... trennt... das Besitzen nicht vom Besessensein oder
Sichbesitzenlassen.«89 Auch Fichte wandte sich in seinem
Spätwerk dem Studium magnetopathischer Theorien zu und
hospitierte bei Heilbehandlungen des Berliner Mesmerianers
Wolfart, der einen der ersten deutschen Lehrstühle für tieri­
schen Magnetismus innehatte; der preußische Minister Har­
denberg, selbst Anhänger der Mesmerschen Ideen, wie auch
Wilhelm von Humboldt, setzte sich, nicht zuletzt unter dem
Einfluß des königlichen Leibarztes Johann Ferdinand
Koreff, durch die Errichtung von Lehrstühlen an deutschen
Universitäten für die akademische Anerkennung des Magne­
tismus ein; nach Berlin (Wolfart) und Bonn (Nasse, Ennemo-
ser) erhielten auch die medizinischen Fakultäten der Univer­
sitäten von Halle (Kruckenberg), Gießen (Wilbrand) und
Jena (Kieser) Lehrstühle für tierischen Magnetismus. Hegel
integrierte eine umfangreiche mesmeristische Literatur in
seine Anthropologie-Vorlesung, die noch heute - vor allem
in ihren überquellenden mündlichen Zusätzen - als eine der
komplexesten Diskussionen über Phänomene, Prinzipien
und Erfolge der magnetopathischen Psychologie gelesen
werden kann.90 Gerade der »mündliche Hegel« bezeugt die
unauflösliche Verbundenheit zwischen dem Deutschen Idea­
lismus und der Ersten Tiefenpsychologie.

88 Vgl. Gesammelte Schriften zur philosophischen A nthropologie, hg.


von Franz Hoffm ann, Leipzig 1853, N eudruck Aaalen 1987.
89 Vierzig Sätze aus einer religiösen Erotik, M ünchen 1831, S. 185.
90 G eorg Wilhelm Friedrich Hegel, Enzyklopädie der philosophischen
W issenschaften im Grundrisse, 1830, D ritter Teil, Philosophie des
Geistes, §§403-406, in: Werke, Band 10, S. 122-160; Hegel deutet
den schlafhaften magnetischen Zustand als Agens der heilsamen Re­
organisation; er w arnt zugleich vor Fixierungen der Psyche in den
sensitiv-konzentrativen Zuständen.
Menschen im Zauberkreis 2 4I

Der Schlüssel der Symbole, aus: Bergasse, La theorie du monde et des etres
organises, suivant lesprincipes de M.(esmer); gravee d ’A.O E
24 2 Kapitel 3

Schopenhauers Hochschätzung der neuen Disziplin ergab


sich aus der Möglichkeit, die puyseguristische Deutung des
magnetopathischen Agens als Willen für seine eigene Wil­
lensmetaphysik zu reklamieren.
»Weil ferner im animalischen Magnetismus der Wille
als Ding an sich hervortritt, sehn wir das der bloßen
Erscheinung angehörige principium individuationis
(Raum und Zeit) alsbald vereitelt: seine die Individuen
sondernden Schranken werden durchbrochen: zwi­
schen Magnetiseur und Somnambule sind Räume
keine Trennung, Gemeinschaft der Gedanken und
Willensbewegungen tritt ein.. ,«91

Im übrigen war die Ausstrahlung des Mesmerismus keines­


wegs auf seine deutsche Schule beschränkt, auch wenn er
hier, vor allem durch seine philosophische Rezeption und
seine Amalgamierung mit der idealistischen Philosophie,
zu höchsten akademischen und literarischen Ehren aufzu­
steigen vermochte. Auch in der französischen Literatur der
nach-napoleonischen Ära sind die mesmeristischen und
puyseguristischen Motive wieder allgegenwärtig; sie inspi­
rieren nicht nur den romantischen Katholizismus des Re­
staurationszeitalters, sondern auch manche der frühsozia­
listischen Systeme, namentlich die Entwürfe Saint-Simons
und Fouriers, bei denen Attraktions- und Gravitationslehren
Mesmerschen Typs sowie Ansätze zu einer moralischen
Mechanik im Stil der Kompensationstheorie von Pierre-
Hyazinth Aza'fs eine maßgebliche Rolle spielen. Es erübrigt
sich, hier näher auszuführen, wie alle diese Motive in dem
bedeutendsten Erzählprojekt des 19. Jahrhunderts zusam­
menfließen: Balzacs Comedie humaine ist zugleich ein

91 Vgl. A rthur Schopenhauer, Zürcher Ausgabe, Werke in 10 Bänden,


Band V, U eber den Willen in der N atur, darin das Kapitel: Animali­
scher Magnetismus und Magie, S. 294-324; hier S. 299.
Menschen im Zauberkreis 243
Welttheater der moralischen wie der psychischen Gravita­
tionskräfte.92
Mit Puysegurs Abweichung war der Schritt von der Physik
zur Psychodynamik und von der Energetisierung zur Intimi-
sierung des Arzt-Patient-Verhältnisses vollzogen. Von da an
lag das Feld der bipolar-interpersonalen Intimitätsforschung
offen; der Weg zur Neudeutung der Psyche als inszenieren­
dem Gedächtnis ältester Beziehungen und als Reprodukti­
onsquelle vergangener Existentialsituationen war frei. Von
jetzt an konnte die Seele als Feld interpersonaler Resonanzen
gedacht werden - auch wenn zahlreiche Psychologen bis
heute hinter den Möglichkeiten, die das magnetopathische
Experiment und seine szenologische Rationalisierung eröff­
net hatten, Zurückbleiben. Im übrigen hat sich Mesmer selbst
dieser Transformation seiner Tiefenphysik in Tiefenpsycho­
logie widersetzt, in erster Linie wohl deswegen, weil das ahi-
storische Konzept seiner Strömungslehren für die Einführung
der Zeit in den Körper keinen Raum bot. Sein physikalisti-
sches Axiom, wonach alle festen Körper in Strömen der feinen
Materie schwimmen, blieb ganz auf präsentische Prozesse be­
zogen und schloß die Vorstellung von Gedächtnissen aus, die
im Körper- und Beziehungsgeschehen wirken.

Der fruchtbare Augenblick in der theoretischen Durchdrin­


gung der binnen kurzer Zeit unermeßlich angewachsenen
magnetopathischen Empirie - deren Heilerfolge zwar kri­
tisch zu interpretieren, aber kaum in Frage zu stellen waren
- ergab sich aus der Begegnung des tierischen Magnetismus
mit der frühromantischen Naturphilosophie. Für einen per­
sönlichen Austausch zwischen Mesmer und Schelling gibt es

92 U ber Balzacs esoterische Sphärologie vgl. Ernst R obert Curtius,


Balzac, Bonn 1923, S. 37-72; ferner B urkhart Steinwachs, Die Bedeu­
tung des Mesmerismus für den französischen Roman um 1830, in:
Franz A nton Mesmer und der Mesmerismus, hg. von G ereon W ol­
ters, Konstanz 1988, S. i07ff.
244 Kapitel 3

unseres Wissens keinen Beleg. Aber in zahlreichen gemein­


samen Schülern kam es schon im ersten Jahrzehnt des
19.Jahrhunderts zu jenen Kreuzungen beider Gedanken­
ströme, aus denen die Urform der modernen genetischen
Psychologie, gleichsam die Jenaer, Weimarer und Berliner
Proto-Psychoanalyse, entsprang. Wo sich Mesmers quasi-
pantheistische fluidale Physik und Schellings Ideen zur Ver-
zeitlichung der Natur berührten, dort sprang der kritische
Funke über, der eine evolutionäre Theorie des Seelischen und
eine Altertumswissenschaft vom intimen Beziehungsleben
entzünden sollte.
Ihren frühen Höhepunkt erreichte die neue Allianz von
magnetopathischem Nähe-Experiment und evolutionärer
Naturphilosophie in Friedrich Hufelands Versuch Ueber
Sympathie, der 1811 zu Weimar erschien. Der herzoglich
Sachsen-Weimarische Hofmedicus Hufeland (1774-1839),
der jüngere Bruder des bekannten Arztes und Autors Chri­
stoph Wilhelm Hufeland, dessen Buch Makrobiotik oder die
Kunst, das menschliche Leben zu verlängern, Jena 1796, am
Anfang der modernen Diätwissenschaften steht, hatte sich
unter dem Eindruck von Schellings Theorie der Natur als
Aufstieg der Materie zum Selbstbewußtsein zu einer Weltauf­
fassung bekehrt, die das Naturganze unter den Begriff Orga­
nismus faßte. Es wirken hierin ältere fluidistische Konzepte
nach, die sich mit dem neueren Organismus-Denken ohne
Mühe kombinieren ließen. In dem modernisierten Begriff
von Sympathie artikuliert Hufeland die Vorstellung von nied­
rigeren und früheren Evolutionsformen des Organischen -
vor allem der vegetativen oder pflanzlichen »Sphäre« -, die
sich durch ein überwiegendes Vermögen der Passivität gegen­
über äußeren Einflüssen auszeichnen. Schon Tiere setzen sich
von der Pflanzenwelt durch Mobilisierung von Eigenaktivität
und höhere Individualisierung ab. Die evolutionäre Reihe
von den Mineralien zu den Pflanzen, den niederen Tieren, den
höheren Tieren und den Menschen bedeutet für ihn einen
Menschen im Zauberkreis 245

Grandville, Metamorphose eines Traums, aus: Eine andere Welt, 1844

Aufstieg des Organischen von überwiegender Passivität zu


überwiegender Aktivität - in höchster Form manifestiert sich
die letztere bei genialen Menschen, die sich zur Einheit von
freier sittlicher Selbstbestimmung und erfinderisch-techni­
scher Koproduktivität mit der N atur aufgeschwungen haben.
Bei erhöhter Individualisierung und aktivierter Selbstheit des
Organismus sinkt das passivisch-sympathetische Seinsmo­
ment zur Unauffälligkeit herab - darum ist der Mensch, als
246 Kapitel 3

das selbsttätigste Wesen in der Serie der Naturgeschöpfe, zu­


gleich das unabhängigste und das am meisten für den Ruf der
Freiheit offene. Nichtsdestoweniger ist selbst der Mensch, als
das Evolutionsprodukt mit dem höchsten Spontaneitätsin­
dex, weiterhin imstande, von sympathetischen Einflüssen sei­
tens anderer Lebewesen in Mitleidenschaft gezogen zu wer­
den, insbesondere im Zustand vegetativer Introversion, im
Schlaf und in Dämmerungszuständen des Selbstbewußtseins,
vor allem aber bei krankhafter Desorganisation der selbsthaf­
ten Kräfte. In solchen Verfassungen lockert sich der sonst ge­
gen Einflüsse weithin immune Eigenwille des Freiheits- und
Aktivitäts-Sinns und öffnet das Individuum für die subtilen
Einwirkungen magnetischer Ströme - Mesmers Terminus für
diese Kräfte lautete »Flutbarkeiten«. Die wichtigste Manife­
station der »Fähigkeit des Menschen, in ein sympathetisches
Verhältnis zu treten«,93 erkennt Friedrich Flufeland in den
Phänomenen, die durch die magnetopathische Praxis hervor­
gerufen werden.
»Denn nirgend offenbart sich das Verhältnis, welches
wir Sympathie nennen, oder die Abhängigkeit des in­
dividuellen Lebens, von einer fremden Lebenssphäre
deutlicher, als in dem thierischen Magnetismus, durch
welchen das magnetisirte Subject seine eigene Indivi­
dualität, soweit es ohne Verlust seiner Existenz gesche­
hen kann, aufopfernd, und in die Lebenssphäre des
Magnetiseurs eintretend, der Flerrschaft desselben in
dem Grade unterworfen wird, daß es ihm gleichsam
als Theil anzugehören, mit ihm einen und denselben
Organismus zu bilden scheint.« (Lieber Sympathie,
S. 107-8)
Man erkennt sofort, wie in Hufelands Diskurs ein Faszi-
nosum: Sympathie, gemeinsam mit einem Skandal auftritt:

93 Ü berschrift des 3. Kapitels von Hufelands U eber Sympathie, Wei­


mar 1811, S. 45-142.
Menschen im Zauberkreis 24 7

Anonymus, Krisen-Zimmer in Mesmers Pariser Praxis, Kupferstich, ca. 1780

dem Autonomie-Opfer. Es charakterisiert romantische O r­


ganismus-Philosophien, daß sie diese Provokation heiteren
Sinnes riskieren, um ihr höheres Ziel, die Mediatisierung des
Menschen in umfassenden Lebenstotalitäten, zu erreichen.
Im Falle Hufelands verbinden sich bei diesem Unternehmen
ärztliche Motive mit Zügen von Weimarer und Berliner
Ganzheitsoptimismus. Die Totalität, in die das labile Subjekt
einzutreten eingeladen wird, erscheint auf der einen Seite als
der heilsame magnetopathische Pakt zwischen Arzt und Pa­
tient, der ganz in Vertrauensaffirmationen getaucht sein
möchte, auf der anderen als die serene makrokosmische Ku­
gel, von der sich das Individuum als zu erziehender Gott-
Mensch umgriffen wissen darf, ohne Einbußen an seinem
Autonomie-Sinn hinnehmen zu müssen. Für einen kostbar
prekären Augenblick schwang sich das philosophisch- medi­
zinische Denken empor zur vollkommenen Balance zwi­
schen Autonomie und Hingabe. Solchen erbaulichen Emp­
fehlungen zum Trotz haben kritische Zeitgenossen an der
Hingabe-Zumutung des Magnetismus Anstoß genommen;
24 S Kapitel 3

das galt bereits für Mesmers Wiener Wirkungsphase, die von


Verdächtigungen und Eifersüchten umwittert war, erst recht
aber für die magnetopathische Bewegung auf dem Höhe­
punkt ihres therapeutischen und modischen Erfolgs. Das
spätere 19. Jahrhundert, das man zu Recht als das Zeitalter
der strategischen Rationalitätskämpfe und der Entlarvungs­
kritik charakterisiert hat, mußte die Ko-Evolution von Miß­
brauchserwartung und Mißtrauensübung so weit vorantrei­
ben, daß der romantische Heilungsoptimismus mit seiner
frommen Freude an der heilsamen Erreichbarkeit der Psyche
durch Mit-Seelen unweigerlich ins Hintertreffen geriet ge­
genüber der neubürgerlichen Skepsis, die überall mit Aus­
beutung, Übervorteilung und Betrug, auch unter nahen Part­
nern, rechnet. Diesem akuten Widerstand der Zeitgenossen
hatten die ersten Magnetiseure nicht nur ihre Entdecker-Eu­
phorien entgegenzusetzen, sondern auch das ungebrochene
Eigenvertrauen in die Integrität ihrer therapeutischen Mo­
tive. Die meisten von ihnen hätten die späteren Kritiken an
ihrem Paternalismus und an dem magisch-autoritativen
Klima, in dem sich die Arzt-Patient-Begegnungen vollzogen,
kaum verstanden. Für sie war es eine praktische Evidenz, daß
auch stark asymmetrische psychische Beziehungen, wie die
zwischen Magnetiseuren und Somnambulen, in eine intakte
Sphäre geteilten guten Willens und moralischer Ebenbürtig­
keit eingebettet bleiben können. Zudem stand ihnen allen das
entscheidende Merkmal des neuen Therapieverfahrens deut­
lich vor Augen: Nie zuvor war in der Geschichte der Heil­
kunst den Patienten ein so hoher Grad an Subjektwürde zu­
gesprochen worden; aus der magnetopathischen Bewegung
entstand eine Literaturgattung von Fallgeschichten, die den
Patienten ein Maß an klinischer und öffentlicher Aufmerk­
samkeit widmeten, wie man es seit den Tagen mittelalterli­
cher Mystiker-Viten nicht mehr gekannt hatte. Eine Biblio­
thek von Krankenberichten feierte das heilende Unbewußte
als den verborgenen Gott des beginnenden naturwissen­
Menschen im Zauberkreis 249

schaftlichen Jahrhunderts. Justinus Kerners Biographie von


Friedrike Hauffe, der »Seherin von Prevorst«, Clemens
Brentanos Aufzeichnungen über Anna Katharina Emmerich
und Friedrich Schlegels Tagebücher über die magnetische
Behandlung der Wiener Gräfin Lesniowska aus den Jahren
1820-1826 sind typische Monumente dieser neuen Kranken-
hagiographik. Diese geht, unter deutlicher Abkühlung der
Tonart, direkt in die Fallgeschichten Freuds und seiner
Schule über und lebt weiter in der autopathographischen Li­
teratur des 20. Jahrhunderts. Gerade Freud hat sich noch
vorzüglich darauf verstanden, aus jeder Krankengeschichte
eine Novelle, aus jeder Neurose ein anthropologisches Mo­
nument zu machen. Die romantische Medizin hat der
Krankheit die Zunge gelöst und den Kranken selbst zum
Dichter seiner Desorganisation ernannt. Was den magneto-
pathischen Ansatz angeht, so hatte dieser in der Tat zur Vor­
aussetzung, daß die Patienten, als unbewußte Assistenten des
magnetisierenden Arztes, zu Ko-Therapeuten ihrer selbst
werden sollten. Wie das metaphysische Zeitalter letztlich nur
Gott als einzigen Pfeiler anerkannte, so hielt das romantische
an dem Grundsatz natura sanat fest - was nun aber nichts
anderes bedeuten sollte, als daß die Natur im magneto-
pathisch affizierten Patienten sich als ganzmachendes Unbe­
wußtes selber kuriere.

Unter den zahlreichen Autoren, die das Agens dieser myste­


riösen Heilungen zu zweit namhaft machen wollten, ragt der
bereits zitierte Friedrich Hufeland mit seinem Versuch zu
einer Naturgeschichte der Sympathie besonders hervor. Er
war es, der den psychogenetischen Schlüssel für die riskante
Nähe-Beziehung der magnetischen Kur zuerst öffentlich
ausgesprochen hat:
»Es giebt in der organischen Natur nur Ein Verhältniß,
in welchem sich die Sympathie auf ähnliche Weise, wie
bei dem thierischen Magnetismus, durch den höchsten
2 5° Kapitel 3

Grad an Abhängigkeit des einen Individuums von dem


anderen äußert, nämlich dasjenige, welches wir in der
unzertrennlichen Verbindung des ungebornen Kindes
mit der Mutter wahrnehmen. Beide Verhältnisse sind
sich im Wesentlichen vollkommen gleich; ihre Ver­
schiedenheit beruhet bloß in der äußeren Form, und
diese wird durch die Sphäre des Organismus bestimmt,
welche zunächst und ursprünglich in diese Beziehung
eingehet. Bei dem thierischen Magnetismus sehen wir
eine unmittelbare Abhängigkeit der eigentlich thie­
rischen Funktionen, der Sinnesthätigkeit, zum Theil
der willkürlichen Muskelbewegungen, und bisweilen
selbst der höheren geistigen Thätigkeit, folglich des­
sen, was wir oben animalische Sphäre nannten, von
dem Magnetiseur, der Fötus hingegen ist vorzüglich
von Seiten seiner vegetativen Sphäre von der Mutter
abhängig. Die organismische Thätigkeit der letzteren
greift unmittelbar in die des Fötus ein; auf das Central­
organ, (d. h. das höhere Nervensystem, P. Sl.), welches
die vegetative Sphäre der Mutter beherrscht, bezieht
sich auch das seinige; wenn das Herz der Mutter auf­
hört zu schlagen, wird auch seine Circulation ge­
hemmt, und so hat das Kind den eigentlichen Quell
und Mittelpunkt seiner reproductiven Thätigkeit nicht
in sich, sondern außer sich, in dem Organismus der
Mutter.« (Ueher Sympathie, S. 108-109)
Der Passus liest sich wie eine direkte Anwendung von Schel-
lings These, die Aufgabe der Wissenschaft sei eine Ana­
mnese. Aber kaum irgendwo sonst ist ein so ernsthafter Ver­
such unternommen worden - um noch einmal mit Schelling
zu reden -, das Bewußtsein mit Bewußtsein ins Bewußtsein
kommen zu lassen. Hufelands Modell der fötalen Einwoh­
nung in der Mutter bietet für die sphärische Union zwischen
Subjekten - bis auf weiteres - die intimste und historisch tief­
ste aller vorstellbaren Deutungen. Denn über die räumliche
Menschen im Zauberkreis 25*
Einschließung des werdenden Lebens im mütterlichen Kör­
per hinaus denkt Hufeland auch die seelische Verfaßtheit des
Kindes als ein Verhältnis direkter sympathetischer Abhän­
gigkeit von den zentralnervösen Funktionen, also den ani­
malisch-personalen Regulationsinstanzen der Mutter. Dies
kommt der These gleich, daß die Mutter das Kind in ihr
selbst magnetisiert und es mit ihrem eigenen, höher organi­
sierten Leben beseelt. Ähnliches wird Hegel in seiner An­
thropologie-Vorlesung von der Urgeschichte der fühlenden
Seele behaupten: Unter dem Leitmotiv: »Die Mutter ist der
Genius des Kindes« führt er aus, daß in der archaischen Mut-
ter-Kind-Beziehung nur eine Subjektivität für zwei Indivi­
duen zur Verfügung steht; das Kind nimmt solange an der
Selbsthaftigkeit der mütterlichen Existenz teil, bis es zu ei­
nem eigenen substantialisierten Für-sich-Sein herangereift
ist.94 Für Hufeland ist der Fötus gleichsam eine Pflanze, die
im Schoß eines Tieres ihrerseits zu einem Tier heranwächst -
einem Tier, das sich wiederum der geistigen Welt öffnen
wird. Schellings naturphilosophischer Lehre zufolge bewah­
ren höhere Organismen wie in einem somatischen Gedächt­
nisspeicher die integrale Erinnerung an ihre früheren Seins­
weisen auf. Von daher fällt ein erstes Licht auf den ansonsten
völlig dunklen Sachverhalt, daß zwischen erwachsenen Men­
schen Verhältnisse möglich zu sein scheinen, die sich nur als
Reproduktionen frühgeschichtlicher »vegetativer« Bezie­
hungen begreiflich machen lassen. Nicht nur ist jeder Men­
schenorganismus ein Resultat und Speichergedächtnis natur­
geschichtlicher Aufstufungsprozesse vom Stein bis zum
sensitiven und selbstbewußten Lebewesen; in jedem einzel­
nen ist auch ein Gedächtnis angelegt, das seine eigene Wer­
densgeschichte von Mutterleibstagen an aufbewahrt und in
das unter außerordentlichen Bedingungen, wie die magneto-
pathische Kur sie herbeiführt, auf informative Weise zurück-

94 Hegel (s. Anm. 90), S. 124-125.


2S2 Kapitel 3

gegangen werden kann. Diese Rückgangsmöglichkeit ist die


entscheidende Bedingung der neuen Heilkunst; die Patienten
des Magnetismus »entsinnen« sich gleichsam eines Zustan­
des ihrer selbst, in dem sie im Modus ekstatischer Pflanzen-
haftigkeit vom Zentrum der Mutter her beseelt und koordi­
niert wurden.
»Aehnlich dem Fötus bilden auch die Kranken von der
beschriebenen Art keine vollkommen in sich geschlos­
sene Totalität. Ihre animalische Sphäre öffnet sich
leicht dem überwiegenden Einfluß eines fremden Or­
ganismus, und nur wenn sie auf diese Weise in eine
fremde Lebenssphäre eingehen, wird die mangelnde
Energie ihres inneren Lebens durch fremde Kraft er­
setzt; sie nehmen Theil an dem vollkommeneren Le­
ben des Organismus, mit dem sie parasitisch verbun­
den sind, und erfreuen sich in dieser Verbindung eines
ungewohnten Gefühls von Gesundheit und Stärke.
Das Leben dieser Kranken, so wie des ungebornen
Kindes, gleicht also dem abhängigen Leben der Pflan­
zen. Denn wie das Kind im Körper der Mutter, so wur­
zelt die Pflanze in dem Boden, und erhält das positive
Prinzip ihres Lebens zum Theil von außen durch das
Licht, wie jene Kranken durch den belebenden Einfluß
des Magnetiseurs.« (Lieber Sympathie, S. 109-110)
Hufeland bleibt weit davon entfernt, die scheinbar nahelie­
genden psychotherapeutischen Konsequenzen aus seiner
kühnen Identifizierung zwischen dem magnetischen Rap­
port und der dyadischen Mutter-Kind-Union während der
Schwangerschaft zu ziehen. Vor allem läßt er Schlüsse von
der magnetischen Luzidität der Patienten, von ihren erhöh­
ten sensorischen Leistungen - insbesondere von ihren alte-
rierten Gehörsempfindungen, von der häufig geschilderten
Verschiebung der Gesichtswahrnehmung in den Nabelbe­
reich und anderen Merkwürdigkeiten des magnetisch-hyp­
notischen Ausnahmezustands - auf ein fötales Vorleben der
Menschen im Zauberkreis 253
Sinne nicht aufkommen. Der Autor hält den Schlüssel zu ei­
ner allgemeinen Theorie psychischer Ubertragungsphäno­
mene in der Hand und weiß noch nicht recht, welches Tor
mit ihm aufzusperren wäre. Hufelands spekulative Gleich­
setzung von Fötus und Pflanze mußte den scheinbar unver­
meidlichen direkten Fortgang seiner Überlegungen zu einer
prä-natalen Bewußtseinsforschung und einer genetischen
Transfer-Theorie blockieren. Verknüpfungen dieser Art
wurden erst hundertfünfzig Jahre später von der erneuerten
prä-natalen Psychologie - bei Gustav Hans Gräber, Alfred
Tomatis, Athanassios Kafkalides, Ludwig Janus und anderen
- systematisch entfaltet. Es bleibt gleichwohl Hufelands
überragendes Verdienst, daß er den magnetischen Rapport,
wenn nicht erstmals, so doch mit unwiderruflicher Prä­
gnanz, auf die Geschichte des verkörperten Beziehungsge­
dächtnisses bezogen hat. Hypnose oder magnetopathische
Trance ist folglich eine Reproduktion der fötalen Position,
die oft in Verbindung mit einer Anzahl nicht-regressiver
mentaler Leistungen in Erscheinung tritt. Zugleich gewinnt
Hufeland aus der Analogie von Geburt und Genesung die
erste plausible Deutung für das Ende der Kur und das Erlö­
schen der Ausnahmebeziehung zwischen dem Magnetiseur
und dem Magnetisierten.
»So wie aber die Organisation des Fötus, durch die
ihm von der Mutter mitgetheilte Kraft und Nahrung,
allmählich den Grad von Ausbildung und Vollendung
erhält, daß er ein selbständiges Leben zu führen ver­
mag, und so wie er, wenn dieses Ziel erreicht ist, sich
von der Mutter trennt, und das gemeinschaftliche Le­
ben beider in ein doppeltes zerfällt; so wird auch,
durch die Einwirkung des thierischen Magnetismus,
das kranke Subject allmählich auf eine höhere Stufe der
organismischen Vollkommenheit zurückgeführt, seine
animalische Thätigkeit wieder erweckt, und, indem die
höheren Functionen seiner subjectiven Sphäre in regel­
M4 Kapitel 3

mäßige Wirksamkeit gesetzt werden, erlangt es seine


Selbständigkeit wieder, und ist nun des unmittelbaren
Einflusses eines fremden Lebens nicht mehr bedürftig.
So hat also jede, durch den thierischen Magnetismus
bewirkte Kur dieselben Perioden, wie das Leben des
ungebornen Kindes, bis zu seiner Trennung von der
Mutter. (S. n o )
Bei wiederholter Anwendung verschwinden nach und
nach die Erscheinungen, welche in der Empfänglich­
keit dieser Kranken ihren Grund hatten, und mit ihnen
die sie begleitenden Krankheitszufälle. Der Organis­
mus der Kranken fängt nun an, wieder eine in sich ge­
schlossene, scharf begränzte Sphäre zu bilden; ihr pas­
siver Zustand hört auf, sie erlangen wieder die ihnen
von Natur zukommende Selbständigkeit und das Ver­
mögen, sich als etwas Positives gegen die Außenwelt
zu behaupten. (S. 137)
Es tritt nun ein indifferenter Zustand zwischen beiden
Subjecten ein, und, so wie der Fötus, wenn er die Kraft,
ein selbständiges Leben zu führen, sich von der Mut­
ter, das reife Samenkorn sich von der Pflanze trennt, so
trennt sich der genesene Kranke von dem Magnetiseur,
und seine sympathetische Verbindung mit ihm, deren
er nun eben so wenig mehr fähig, als bedürftig ist, hört
auf.« (S. 138)
Hufelands Deutung der Krankheit als Desorganisation der
organismischen Selbständigkeit führt geradewegs zur Ent­
deckung des Prinzips Regression. Die vegetative Körperver­
gangenheit und die archaische Symbiose kehren in gewissen
Krankheitsepisoden und ihrer magnetopathischen Behand­
lung wieder. Wo die Krankheit auftritt, dort zeigt sich auch
eine den Organismen eigene Tendenz, mit ihrer Selbständig­
keit zugleich die Last ihrer Individuationsspannung aufzu­
geben und ins diffuse Ganzverhältnis mit einem umhül­
lenden und ergänzenden Anderen zurückzusinken. Der
Menschen im Zauberkreis 255
Magnetiseur wirkt gleichsam wie ein »uterines Kissen« auf
den regressionswilligen Patienten ein. Folgerichtig münden
Hufelands Reflexionen in Bemerkungen aus, die sich als
Vorwegnahmen von Freuds metapsychologischen Doktri­
nen über den Todestrieb lesen lassen; umgekehrt beweisen
diese Freudschen Theoriestücke die Zugehörigkeit der Psy­
choanalyse im ganzen zum Schellingschen Modell einer tem-
poralisierten Natur. In Hufelands Diktion erscheint der Tod
als Verwirklichung einer transpersonalen Sympathie zwi­
schen Einzelleben und All-Organismus:
»Durch diese Möglichkeit der Rückkehr zur organi­
schen Einheit und Selbständigkeit unterscheidet sich
jene partielle Desorganisation und die mit ihr verbun­
dene größere Abhängigkeit des Menschen von der äu­
ßeren Natur von dem gänzlichen Verlust des inneren
Einheitsprincips und der vollkommenen, unauflös­
lichen Vereinigung mit der allgemeinen Natur, welche
wir den T o d nennen, und wenn das jedem Indivi­
duum innewohnende Streben nach Vereinigung mit
dem Ganzen, welches sich in den Erscheinungen der
Sympathie ausdrückt, so lange es seine Existenz be­
hauptet, nicht vollkommen befriedigt werden kann, so
ist der Tod als die wirkliche Erreichung dieses Zieles
zu betrachten. Aber auch in dem oben geschilderten
Zustand einer partiellen Desorganisation tritt der
menschliche Organismus in eine nähere Verbindung
mit der allgemeinen Natur, und nähert sich, auf eine
tiefere Stufe des Lebens herabsinkend, dem Anorga­
nismus.« (S. 138-139)
Bemerkenswert ist hieran, daß Hufeland für einen kurzen
gefährlichen Moment sich der Grenze seiner Naturtheologie
genähert zu haben scheint.95 Wenn er überall sonst größten
95 H ufeland steht mit seiner vitalistischen Auffassung in der Tradition
der idealistischen und frührom antischen N aturreligion. H ölderlin
hat deren Prinzip in der Todesmeditation Diotimas in dem Roman
256 Kapitel 3

Wert darauf legt, die All-Natur als umfassenden Organismus


anzusprechen und das Prinzip Leben als das Einheitsmotiv
des Universums zu betonen, so entschlüpft ihm an dieser
Stelle mit dem Ausdruck »Anorganismus« ein Wort, das wie
das Geständnis einer verborgenen Furcht gelesen werden
könnte: daß die Natur im ganzen doch kein »Schooß«, keine
bergende Gesamtlebensform, kein dunkler Grund einer hül­
lenden Animalität sei, sondern nur ein anorganisches Aggre­
gat, das als ganzes vorlebendig und in diesem Sinne tot bleibt.
Es ist der logische Urschmerz im romantischen Naturgedan­
ken, daß die Natur im ganzen zwar Leben enthält, aber doch
nicht - oder nur unter der Form des Postulats - als ganze ins
Lebendige integriert werden kann. Auf engem Raum berüh­
ren sich in Hufelands Rede zwei konträre Todeskonzepte:
Das erste denkt romantisch-holistisch den Tod als Vereini­
gung mit dem All-Organismus; das zweite begreift ihn natu­
ralistisch-nihilistisch als Rückfall ins Anorganische. In dem
Wort Anorganismus zeigt sich der Riß, der durch die lebens­
warme Welthülle läuft; es verrät die Zumutung der Aufklä­
rung, die Differenz zwischen Innen und Außen, zwischen
organischem Weltmutterleib und anorganischem Todeswelt­
raum, zu denken. Freuds Lehre vom Todestrieb repräsentiert
nur eine kühlere und resigniertere Fassung dieses Differenz­
gedankens. Sie macht eine Konzession an die gnostische Vor­
stellung, daß nicht der Tod in das Leben einbricht, sondern
daß es eigentlich das Leben sei, das wie ein fremder Eindring­
ling im allgemeinen Unbelebten auftaucht. Aufklärung und
dunkle Gnosis sind hierin miteinander verbündet; sie exeku­
tieren beide menschferne Wahrheiten gegen die selbstwär­
mende Vitalitätsillusion. Nietzsche hat aus dieser Verlegen-
H yperion oder der Erem it in Griechenland (Stuttgart 1968, S. 157)
klassisch ausgesprochen: » - wenn ich auch zur Pflanze w ürde, wäre
denn der Schade so groß? - Ich werde sein. Wie sollt ich mich verlie­
ren aus der Sphäre des Lebens, w orin die ewige Liebe, die allen ge­
mein ist, die N aturen alle zusam m enhält?... Wir sterben, um zu
leb en ... Es leben um einander die N aturen wie L iebende...«
Menschen im Zauberkreis 257
heit die philosophischen Konsequenzen gezogen: »Hüten
wir uns, zu sagen, dass Tod dem Leben entgegengesetzt sei.
Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr sel­
tene Art.« (Die Fröhliche Wissenschaft, § 109)

Auch Johann Gottlieb Fichte hat in seiner theologisierenden


Spätphase den animalischen Magnetismus als eine Chance
wahrgenommen, den Absolutismus des Lebendigen gegen
die todbringende Zumutung, ein autonomes Außen zu den­
ken, zu verteidigen. Zugleich erkannte er in ihm ein mög­
liches Mittel, das von ihm selbst zunehmend empfundene
naturphilosophische Defizit seiner eigenen Doktrin zu behe­
ben und sich zu einer »Physicirung des Idealismus« durch­
zuarbeiten.96 Im September des Jahres 1813- wenige Monate
vor seinem Tod (am 28. Januar 1814) - suchte Fichte die da­
mals schon berühmte Krankenstube des Professors Karl
Christian Wolfart zu Berlin, Französische Straße N o.36, auf,
um bei einer magnetischen Heilbehandlung zu hospitieren.97
Hierbei machte er Bekanntschaft mit dem mysteriösesten
elektrotechnischen Gerät seiner Zeit: dem mesmerschen
Baquet.98 Im Anschluß an diesen Besuch begann Fichte ein
Tagebuch, in dem er seine Beobachtungen in Wolfarts Praxis
sowie Exzerpte aus seinen umfangreichen Lektüren mesme-
ristischer und puyseguristischer Literatur während der fol­
genden Wochen niederschrieb.
»Das Gespräch mit Wolfart geht darauf hinaus: das
Magnetisieren gebe Belebung, und dadurch Heilung,
auch ohne Somnambulismus. Dieser letztere sei nur

96 Vgl. Tagebuch über den animalischen Magnetismus, in: Johann


G ottlieb Fichtes nachgelassene Werke, hg. von I. H . Fichte, D ritter
Band, Bonn 1835, S. 331.
97 Ü ber die Epoche, in der Berlin, nach Wien und Paris, zur dritten
H auptstadt der magnetopathischen Bewegung geworden war, infor­
miert: Walter Artelt, D er Mesmerismus in Berlin, Mainz 1965.
98 Vgl. die Wiedergabe des Wolfartschen Baquets oben, S. 233.
258 Kapitel 3

Eine der Krisen. Indem ich die Sache zugebe, möchte


ich doch erinnern, daß die clairvoyance, Darstellung
des vollkommenen Bewußtseins, die vollkommenste,
tief erschütterndste Krise sei. Freilich ist es eben
darum auch gänzliche Vernichtung der Selbstheit.
Wolfart meint, es möge zu sehr angreifen, man müsse
nicht darauf ausgehen, es der Natur überlassen, auch
hierin ihre angemessenste Krise sich zu wählen... Es
wäre nun allerdings klar, daß die Natur Vernichtung
der Selbstheit zugestehen wird, nur inwiefern sie krank
ist; anbieten darum müßte man ihr immer die totale.«
Was Hufeland unter dem Begriff der völligen Abhängigkeit
des Kranken in der magnetischen Fusion beschrieben hatte,
dramatisiert sich in Fichtes Terminologie, mit Anklängen an
Sprachspiele der mystischen Tradition, zur Vernichtung der
Selbstheit. Der pathetische Ausdruck läßt ahnen, wie die
neue Heilkunde mit dem alten Projekt der Philosophie als
Heilsweg in Beziehung gesetzt werden sollte. Von Ionien bis
Jena hatte das »große Denken« mit dem Motiv gespielt, auf
dem Wege einer lebendigen Wesenserkenntnis zur Erlösung
von Tod und Äußerlichkeit zu führen. So auch zu Berlin im
Herbst 1813, wenige Wochen vor der Leipziger Schlacht, an
der Fichte als patriotischer Feldprediger teilnehmen zu dür­
fen sich vergebens beworben hatte; das preußische Ministe­
rium mochte wohl seinem prominentesten Professor keine
Gelegenheit bieten, seinen Nicht-Glauben an den Tod prak­
tisch zu überprüfen. Fichtes Interesse am Magnetismus er­
klärt sich überdies aus seinem langjährigen Nachdenken
über die Natur der Widerstände, die sich seinen vielfältigen
Versuchen entgegensetzten, die eigenen denkerischen Evi­
denzerlebnisse in haltbarer Weise auf sein Publikum zu über­
tragen. Er suchte nach einem akademisch legitimen und pu­
blizistisch wirksamen sprachlichen Äquivalent zu jener
clairvoyance, in der die magnetisierten Patienten zu voller
Selbstdurchsichtigkeit zu gelangen schienen. Es war seine
Menschen im Zauberkreis 2 59
philosophie-priesterliche Ambition, seine Leser und Hörer
an den Punkt zu führen, von dem an es ihnen zur gegenwär­
tigen Evidenz würde, daß ihr freies Ich medial im Sich-Er-
scheinens Gottes einbegriffen sei - seinen eigenen Selbstbe­
schreibungen analog. Im Gespräch mit Wolfart explizierte
sich Fichte seine Ahnung, daß sein eigener Unterricht immer
schon eine Art von logisch-rhetorischem Magnetismus in­
szeniert hatte. Tatsächlich war Fichte die Vorstellung nicht
fremd, es könne ihm gelingen, seinen Hörern ihre sperrige
Freiheit auf eine Weise zu nehmen, die ihnen wie eine Initia­
tion in die Freiheit Gottes in ihnen zugute käme.
»Gegenstände der Untersuchung: i) das Medium,
durch welches hier der erste Wille des Magnetiseurs
auf die fremde Persönlichkeit wirken mag. 2) Die Ana­
logie mit der Mittheilung einer Evidenz und Ueber-
zeugung. (Halte ich mich an das Fetztere, weil es mehr
reizt.) Warum erzeugt Aufmerken Aufmerken, Be-
trübniß Betrübniß u. drgl? Woher überhaupt die Sym­
pathie? Das Phänomen, daß meine Zuhörer mich ver­
stehen unter meinen Augen, aus dem Auditorio nicht
mehr, ist von gleicher A rt... (Das Phänomen der gro­
ßen Aufmerksamkeit, das ich in meinen Vorlesungen
hervorbringe, hat seine Beschränkungen. Woher und
wie? Z. B. im Anfang, wo sie aus Neugier kommen,
noch betreten werden oder unwillig, mißlingt es. Wer
sind dann die Empfänglichen? Die Unwissenden, U n­
befangenen, Neuen). Alles Wollen ist gemeingültig,
und Freiheit nehmend aller Welt. Kann ich es darum
dahin bringen, die Freiheit des Andern zu einem
Theile der meinigen zu machen, so ist klar, daß sie dem
Andern genommen ist.«
Auch in Fichtes Überlegungen tritt sofort das magnetopathi-
sche Skandal-Moment ins Zentrum: die Hingabe des passi­
ven Teils an den fremden Willen. Aber wie die Magnetiseure
der ersten Stunde baute Fichte darauf, daß sein lehrender
i 6o Kapitel 3

Wille keine egoistische Regung ausdrückte, sondern seiner­


seits nur die reine und loyale Ergriffenheit durch eine gegen­
wärtige Evidenz weitergäbe.
»Was (thut) sodann der Lehrer?... (er) entwirft Bilder,
Combinationen und erwartet die ihn ergreifende
Evidenz__ er wird geleitet durch ein ihm ganz unbe­
kanntes Gesetz und Kraft, zu welchen er ungefähr
eben so sich verhält, wie der Zuhörer zum Lehrer.«
{Tagebuch, S. 301)
Freilich muß im Fichteschen Lehrer, anders als beim Schüler,
das Ich bereits gesetzt und zur Selbsttätigkeit erhoben sein:
er muß sich selbst als sein eigenes Produkt mit Freiheit er­
zeugt haben. Auf dieser Stufe kann die vollzogene Selbster­
zeugung neu gedeutet werden als ergriffenes oder durchgrif-
fenes Leben aus Gott.
»Der Lehrling ist sich dagegen unmittelbar bewußt des
Lehrers. Seine unmittelbare Anschauung geht weiter
und nach Außen. Wie nun bei rechter Hingebung an
den Lehrer? Antwort: es ist eben Anschauung des­
selben, als Princips der Bilder... Die Evidenz ergiebt
sich dann von selbst. Nicht zu erlassen ist das absolut
Individuelle, die Aufmerksamkeit; diese aber ist rei­
nes Hingeben, reines Vernichten der eigenen Thätig-
keit. Hier darum ist schon gänzlich, ebenso wie im
Physischen des Magnetismus, eine Wirksamkeit des
Individuums nach Aussen, und der Grundpunkt der
Individualität gegeben; alles dies vorbildlich für
das Hingeben und Sichvernichten vor Gott.« (Tage­
buch, S. 302)
Bei Fichte lernen heißt demnach sich einer magnetischen
Denk-Kur im Hörsaal unterziehen, um im Zustand der auf­
merksamen Ekstase, ganz wie die Somnambulen Puysegurs,
das vulgäre Selbstbewußtsein einzutauschen gegen ein luzi-
des Durchleuchtet-Sein, in dem sich das Ich als Organ Got­
tes in der Welt begriffe. Nach Fichtes Methode lehren hieße
Menschen im Zauberkreis 261

hingegen, sich in freier rhetorisch-logischer Konstruktion in


Gottes Arbeit gehen lassen. Der Redner, sprachmächtiger
Vorposten des Absoluten in der Erscheinungswelt, bedient
sich der Worte als des »Element(s) der geistigen Mitheilung«;
für den freibeweglichen Redner wird, sprechend, aufrufend,
konstruierend, das Komplizierteste wieder zum Einfachsten:
»Das Wort erregt gewisse Bilder im Zustande der Hingege­
benheit; das Uebrige ergiebt sich dann von selbst.« (Ibid.)
Fichtes Reden vollziehen sich also wie ein autogenes Trai­
ning der Begeisterung durch das, was zu sagen ist: sie geben
Kunde von der virtuellen Gegenwart des göttlichen Ver­
nunftreiches; Fortsetzung des Christentums mit anderen,
Fichte meint sicher vollkommeneren Mitteln.

Unsere ideengeschichtliche Exkursion in die beiden großen


Formationen tiefenpsychologischer Diskurse und Praktiken
vor dem 20. Jahrhundert, die frühneuzeitliche Intersubjekti­
vitätsmagie und die Welt des animalischen Magnetismus, hat
drei halbwegs deutlich umrissene Modelle von dyadischen
interpersonalen Unionen ans Licht gehoben: die magische
Hingerissenheit im erotischen Gegenseitigkeitszauber; die
hypnotoide Reproduktion der Mutter-Fötus-Relation in den
magnetopathischen Kuren; die Ekstase der selbstlosen Auf­
merksamkeit bei Fichtes rhetorischen Gottesselbstbeweisen.
Jede dieser Konfigurationen: Liebender-Geliebter, Magneti-
seur-Magnetisierter, Lehrer-Hörer, kann beschrieben wer­
den, als realisiere sie eine zeitweilig geschlossene bipolare
Blase, in der sich eine einzige gemeinsame Subjektivität über
zwei Partner resonierend verteilt. Der Übergang aus dem un-
bezauberten in den bezauberten, aus dem individuierten in
den verschmolzenen, aus dem zerstreuten in den unbedingt
hörenden Zustand wird zwar durch je verschiedene Techni­
ken bewirkt und durch diverse Medien vermittelt; er hängt in
jedem Fall von der Fähigkeit der passiven Seite ab, sich ganz
in die Beziehung zum aktiven Pol zu entäußern. So wie der
2 Ö2 Kapitel 3

Liebeszauber von der Bereitschaft des zu Bezaubernden, dem


Einfluß zu erliegen, bedingt wird, so setzen die mesmeristi-
schen Kuren eine schrankenlose Unterordnungsbereitschaft
der Patienten unter das ärztliche Fluidum voraus, während
Fichtes psychagogische Reden, stets auf dem Schwebepunkt
zwischen Appell und Beweis, die Folgebereitschaft des intel­
ligenten Ohrs ganz für ihre Entwicklungen in Anspruch neh­
men. Es versteht sich von selbst, daß jedes dieser Verfahren
nur zu seinen eigenen Bedingungen Erfolge erzielen kann.
Erotomagie, Magnetismus und philosophische Hypnorheto-
rik erzeugen daher, wo sie zur Ausübung kommen, zuerst
und zuletzt selbst den Zauberkreis, innerhalb dessen allein sie
in ihr Optimum finden. Wo die Kreisbildung mißlingt, dort
werden die Effekte schwankend - Fichtes Elinweis auf seine
nur neugierigen, unaufmerksam-unwilligen Elörer deutet ei­
nen triftigen Grund zur Sorge um die erwünschten Wirkun­
gen an. Viel empfindlicher noch wurden Mesmers Kreise und
seine Wirkungen in ihnen gestört durch die von Louis XVI.
im Jahr 1784 eingesetzte Akademie-Kommission, die den
Auftrag hatte, Mesmers Theorien und Kuren auf ihren wis­
senschaftlichen Wahrheitsgehalt hin zu überprüfen. Das ne­
gative Gutachten der Kommission erschütterte Mesmers Au­
torität und bewog ihn letztlich dazu, seine Pariser Praxis
einzustellen.99 Was die erotomagischen Theorien und Prakti­
ken der frühen Neuzeit anbelangt, so hatten sie von Anfang
an in der katholischen Kirche einen Gegner, der ihrer Kon­
trolle entzogene magische Zirkel unter die tödliche Zauberei-
Anklage stellen konnte. Für sie gingen potentiell alle psycho­
genen Tiefenintimitäts-Effekte auf dämonische Einflüsse

99 D er H ergang des Verfahrens ist dargestellt bei H enry F. Ellenberger,


Die Entdeckung des U nbew ußten, Bern u. a. 1973, Band I, S. 106ff.,
sowie ausführlicher bei Emil Schneider, D er animale Magnetismus,
Zürich 1950, S. 202ff.; do rt (S. 211-232) auch das unterdrückte Son­
dergutachten des Kommissionsmitglieds Jussieu, der zu einer gün­
stigen Beurteilung von Mesmers Verfahren gekommen war.
Menschen irn Zauberkreis 263

oder Teufelsbündnisse zurück; die zentrale Glaubensadmini­


stration strebte Verhältnisse an, in denen die Kirche es nur
noch mit disziplinierten Einzelnen in gut kontrollierbaren
Rom-Abhängigkeiten zu tun haben würde. Noch Schopen­
hauer erwähnt ein Rundschreiben der Römischen Inquisition
an die Bischöfe aus dem Jahr 1856, in dem sie zum Kampf ge­
gen die Ausübung des animalischen Magnetismus aufgerufen
werden.100 Vierhundert Jahre nach Ficinos Anstoß zur neu­
zeitlichen Erotologie ist es noch immer dieselbe intimitäts­
magische Wetterecke, aus der das Heilige Officium die ihm
gefährlichen Tendenzen heraufziehen sieht.
Aber die »magischen« bipersonalen Blasen sind nicht nur
durch äußere Störungen bedroht; ins Kreisinnere gehen gele­
gentlich Motive mit ein, die zu Sprengungen aus endogenen
Mißverhältnissen führen müssen. Dies hat sich besonders in
der Wirkungsgeschichte des animalischen Magnetismus be­
merkbar gemacht, die von Anfang an in einer Doppelspur: als
Vertrauensgeschichte und als Mißtrauensgeschichte, voran­
kam. In seiner gesamten ersten Welle läßt sich der animalische
Magnetismus als Streit um den Zirkel interpretieren, inner­
halb dessen die magnetopathischen Kuren zu ihren Erfolgen
kämen. Mußten es denn gleich, wie von Mesmer behauptet,
Newtons kosmische Ätherstrahlen sein, die zwischen dem
Magnetiseur und dem Patienten einen heilenden Energiekreis
bildeten? War es denn unentbehrlich, sich bis zu der über­
schwenglichen Hypothese einer »universellen Gravitation«,
die auch die Menschenwelt durchdringt, zu versteigen? Wäre
es nicht genug, anzunehmen, daß zwischen dem Heiler und
seinem Gegenüber ein auratischer Kreis von Körperausdün­
stungen und animalischer Wärme entstünde, um alle Phäno­
mene zureichend zu erklären?101 Sind die sogenannten Kri-

100 A rthur Schopenhauer (s. Anm. 91), S. 324.


101 So der M agnetism uskritiker Johann Stieglitz, königlich-großbri­
tannischer H ofm edikus zu Hannover, in seinem Pamphlet U ber
den tierischen Magnetismus, H annover 1814.
264 Kapitel 3

Jean-Jacques Paulet, Satire a u f den animalischen Magnetismus, Frontispiz


aus: Anti-Magnetismus, Kupferstich, 1784
Menschen im Zauberkreis 2 6 5

sen auch tatsächliche Krisen, die einer erfolgreichen Heilung


vorausgehen müssen, oder scheint es nicht eher gerechtfer­
tigt, sie als selbständige pathologische Phänomene anzuse­
hen? Sollte man Somnambulismus und Hellsichtigkeit nicht
besser als künstliche Krankheiten verstehen, die erst von der
Behandlung hervorgerufen werden? Vor allem aber: Ist denn
auf die moralische Integrität der Magnetiseure selbst in jeder
Weise Verlaß? Und besteht nicht die Gefahr, daß Magnetis­
mus, zur falschen Zeit angewandt, statt Heilung zu bewirken,
psychische Zerrüttungen hinterläßt, die schlimmer sein kön­
nen als die anfänglichen Beschwerden? Diese argwöhnischen
Phantasmen, deren Urheber meistens selber kurz den Zau­
berkreis betraten, um besser aus ihm fliehen zu können, sind
von einer ganzen Literatur entfaltet worden - am prominen­
testen in Edgar Allan Poes Erzählung Die Tatsachen im
FalleWaldemar (1839) und in E. T. A. Hoffmanns Erzählung
Der Magnetisieur (1813). Poes makabre Geschichte doku­
mentiert den Übergriff des Magnetismus ins okkulte Feld -
eine Tendenz, die sich in der Renaissance des Magnetismus
unter dem Empire, besonders aber bei seiner russischen und
amerikanischen Rezeption gezeigt hatte. Der Erzähler be­
richtet von einem makabren Experiment, einen Sterbenden in
articulo mortis zu magnetisieren: der Erfolg hiervon war, daß
die Seele des Moribundus sieben Monate lang in einem phy­
sisch toten Körper zurückgehalten wurde. Aus ihrer Geister­
hölle sprach die fixierte Seele weiter mit den Lebenden, bis sie
schließlich bei einem Erweckungsversuch sich ganz zurück­
zog und einen Leichnam hinterließ, der in weniger als einer
Minute zu einer flüssigen, in ekelhafte Fäulnis übergegange­
nen Masse zerfiel. Für Poe ist die Nachtseite der Natur nicht
länger wie für die Mehrheit der deutschen Naturtheologen
ein bergendes, heilmächtiges, alliiertes Dunkel;sein Experi­
ment will zeigen, daß die vermeintliche Schoßwelt selbst sich
in ein Höllenreich verkehren kann. E. T. A. Hoffmann hin­
gegen deckt eine moralische Nachtseite in der Natur-Nacht-
266 Kapitel 3

Alfred Kubin, Illustration zu E. A. Poes Die Tatsachen im Falle Waldemar

Seite auf: Denn wer könnte verhindern, daß sich im magneti­


schen Raum ein Übergang vom ärztlichen Machtgebrauch
zum politisch-diktatorischen Machtverlangen vollzieht? Für
Hoffmann symbolisiert der Held seiner Erzählung, der
Magnetiseur Alban, wie ein Napoleon der okkulten Mächte,
einen entgrenzten Willen zur Macht, der sich unmöglich da­
mit begnügen kann, Kopfschmerzen und andere menschliche
Kleinbeschwerden nur zu kurieren. Die magnetopathische
Macht will aufhören, bloßes Mittel zu sein, und setzt sich
selbst zum Zweck ihres Daseins. In diesem Geist läßt Hoff­
mann seinen Magnetiseur das philosophische Programm des
in Napoleon angekündigten nihilistisch-vitalistischen Zeital­
ters vortragen:
Menschen im Zauberkreis 267

»Alle Existenz ist Kampf und geht aus dem Kampfe


hervor. In einer fortsteigenden Klimax wird dem
Mächtigem der Sieg zuteil, und mit dem unterjochten
Vasallen vermehrt er seine K raft... Das Streben nach
jener Herrschaft ist das Streben nach dem Göttlichen,
und das Gefühl der Macht steigert in dem Verhältnis
seiner Stärke den Grad seiner Seligkeit.«102
Folgerichtig wird Hoffmanns Magnetiseur seine Opfer nicht
mehr aus seinem Bann entlassen und sie eher töten, als ihre
Ablösung von ihm hinzunehmen. Hier deutet sich die Ge­
burt der modernen Psychosekten aus dem Geist der Intimi­
tätsausbeutung an. Sie entwickeln sich als therapeutisch-
gurukratische Parodien auf die Beziehungen zwischen Feu­
dalherrschern und Vasallen. Das ästhetische Gegenstück
hierzu zeigt sich noch im 20. Jahrhundert in Stefan Georges
auratischem Totalitarismus, für den das Wort vom Kreis als
soziologisches wie spirituelles Emblem zu dienen hatte.
Auch hier hat der Feudalismus mitsamt seiner Metaphysik,
seiner Psychologie und seiner Raumidee das Milieu gewech­
selt. In seiner Verteidigung des Kreises hat Friedrich
Gundolf über seinen Meister verlautbart:
»der kreis ist seine aura, und keins der Mitglieder hat
oder braucht den armen ehrgeiz, krampfhaft und be­
wußt eine >persönlichkeit< zu sein, da ihr sinn ist, luft
und element zu bilden... Das gleiche prinzip, das den
herrscher zur mitte einer lebenskugel macht, der trieb
zur einheit... der gleiche trieb bezieht im geistigen
reich herrschende und dienende aufeinander...« 103

102 Zu dem Komplex »politischer Magnetismus« und Hoffm anns


N apoleon-Erlebnis vgl.: Rüdiger Safranksi, E. T. A. Hoffm ann.
Das Leben eines skeptischen Phantasten, M ünchen - Wien 1984,
S. 294-310.
103 Friedrich G undolf, Das Bild Georges, 1910, in: F. G., Beiträge zur
Literatur- und Geistesgeschichte, hg. von Victor A. Schmitz und
Fritz M artini, Heidelberg 1980, S. 140 und 147-148.
268 Kapitel 3

Phantasmen dieser Art beweisen: Das Form-Motiv Zauber­


kreis läßt sich nicht auf die therapeutische Intimbegegnung
beschränken; es ist fähig, sich von der nähe-psychologischen
Zwei-Einigkeitsfigur zur gruppen- und massenpychologi-
schen Bannformel zu erweitern. Zuweilen potenziert es sich
von der fluidalen Union zwischen dem Heiler und dem Pati­
enten zu einem soghaften Wirbel im revolutionären Rausch­
kollektiv, in dem mitgerissene Glückssucher und bezauberte
Dienstnehmer bis zur Selbstvernichtung bei der Inszenie­
rung ihrer Katastrophe assistieren. Wir werden weiter unten,
im zweiten Buch, vor allem bei der Darstellung des Über­
gangs von der bipersonalen Blasen-Form zur politischen
Kugel-Form, zeigen, wie sich die Projektion ins Große voll­
zieht und welche emotionalen Format- und Kategorienfehler
sich einstellen, wenn Schoßverhältnisse und ihre Krisen in
Soziodramen nachgespielt werden.
269

Exkurs 1

Gedankenübertragung

Sprechen heißt, mit dem K örper des


anderen spielen.

Alfred Tomatis

aß meine Gedanken für andere unsichtbar sind; daß


l J mein Kopf ein Tresor ist, voll von Vorstellungen und
Träumen, die in mir verschlossen ruhen; daß meine Reflexio­
nen ein Buch ergeben, das niemand von außen mitlesen kann;
daß meine Ideen und Kenntnisse exklusiv mir selber angehö­
ren, transparent für mich selbst, undurchdringlich für andere
- und dies bis zu einem Grad, daß ich vielleicht nicht einmal
unter der Folter dazu gebracht werden kann, das, was ich
weiß, gegen meinen Willen mit anderen zu teilen: Dieses
Svndrom von Vorstellungen über die Verborgenheit von Ge­
danken im denkenden Subjekt hat in der jungen Geschichte
des privaten Scheins eine nie zu überschätzende Bedeutung
erlangt. Um so provozierender mag die Zumutung wirken,
zu bedenken, daß eben diese Vorstellungen selbst den priva­
ten Schein erst miterzeugt haben. Sie sind in unserem Kultur­
kreis nur wenig älter als zweieinhalbtausend Jahre - für den
Makrohistoriker erscheinen sie wie ein junger Flaum über
massiven Schichten älterer psychologischer Realitäten. Wä­
ren sie nicht die heute allesbeherrschenden Ideen, so fielen
sie gegenüber der Schwerkraft der menschlichen Geschichte
kaum ins Gewicht. Denn während des größten Teils der Evo­
lution war nahezu die Gesamtheit dessen, was einzelne Men­
schen dachten und fühlten, für ihre Umwelt in so hohem
Maß durchsichtig, als wären es ihre eigenen Erlebnisse; die
Vorstellung von privaten Ideen hatte keinen Anhalt in der
27° Exkurs i

seelischen Erfahrung oder im sozialen Raumkonzept: Noch


waren für die Einzelnen keine Zellen errichtet - weder im
Imaginären noch in den physischen Architekturen der Ge­
sellschaften. In Kleingruppen, unter dem Gegenseitigkeits­
gesetz, ist das Tun des einen das Tun des anderen; so sind
auch die Gedanken des einen in der Regel die Gedanken des
anderen. Dies gilt selbst für die archaischen »Schamkultu­
ren«, in denen die Einzelnen ihr Inneres gerne unsichtbar
machen würden, weil sie unter der übermäßigen Ausgesetzt­
heit ihrer Affekte an die Einfühlung der anderen leiden. Ver­
borgene Gedanken erscheinen in paläopsychologischer Sicht
als vollendete Undinge. Die Vorstellung, daß es ein privates
Inneres gebe, in dem das Subjekt die Tür hinter sich zuma­
chen und sich selber reflektieren und ausdrücken könne,
kommt nicht vor der frühindividualistischen Wende der An­
tike auf; ihre Propagandisten waren die Männer, die man die
Weisen oder die Philosophen nannte - Vorläufer des neuzeit­
lichen Intellektuellen und der postmodernen Singles. Sie ga­
ben dem Motiv, daß wahres Denken nur als eigenes Denken
und als Anders-als-die-blöde-Menge-Denken möglich sei,
zuerst seine revolutionäre Schärfe. Von ihren Impulsen leitet
sich das breitenwirksam gewordene Klausur-im-Kopf-Mo-
dell her: Die Gedanken sind frei, keiner kann sie erraten - das
bedeutet fürs erste nur, daß die Denker neuer Gedanken für
die Hüter konventioneller Gedanken undurchsichtig wer­
den. In der Welt der Neugedanken verliert das Axiom, daß
die Gedanken des einen auch die des anderen sind, tatsäch­
lich seine Gültigkeit: Was ich selbst nicht denke, kann ich
auch bei anderen unmöglich erraten. In ausdifferenzierten
Gesellschaften haben andere Leute regelmäßig andere Ge­
danken im Kopf. Den Psychotherapeuten fällt in solchen
Gesellschaften die Aufgabe zu, dafür zu sorgen, daß die Ein­
zelnen nicht zu weit in die pathogene Andersheit und Eigen­
heit ihrer Gedanken und Gefühle abdriften. Daß in der alten
Soziosphäre Gedanken eher öffentliche Größen waren, hat
Gedankenübertragung 271
zunächst einen medien-physiologischen Grund: Menschen-
zenirne sind, wie Genitalien, von Grund auf paarige, wahr­
scheinlich sogar gesellige Systeme. Wenn der Satz: »Mein
Bauch gehört mir« in polemischen Kontexten einen angeb­
o re n Sinn haben kann: nämlich daß die Mutter es sein soll,
die in Abtreibungsfragen das letzte Wort habe, so wäre der
Satz: »Mein Gehirn gehört mir« sowohl moralisch inakzep­
tabel als auch in der Sache fehl am Platz. Er könnte weder
wahrheitsgemäß bedeuten, daß ich Urheber und Eigentümer
meiner Gedanken bin, noch, daß ich völlig davon dispensiert
wäre, sie mit anderen zu teilen. Auch die These, ich dürfe
denken, was ich wolle, ist immanent unhaltbar. Der zerebrale
Individualismus würde verkennen, daß ein Gehirn nur im
Zusammenspiel mit einem zweiten, und darüber hinaus mit
einem größeren Gehirn-Ensemble, zu einer gewissen Funk­
tionsfähigkeit erwacht - von einer vollen wagt niemand zu
reden. Gehirne sind Medien für das, was andere Gehirne tun
und getan haben. N ur von anderer Intelligenz empfängt In­
telligenz die Schlüsselreize zu ihrer Eigentätigkeit. Wie Spra­
che und Emotion ist Intelligenz nicht Subjekt, sondern Mi­
lieu oder Resonanzkreis. N un ist die prä-alphabetische
Intelligenz, anders als die distanzierungsfähig alphabetische,
auf ein dichtes Partizipationsklima hin angelegt, weil sie,
ganz in Nah-Kommunikationen eingebettet, zu ihrer Entfal­
tung die Erfahrung eines präsentischen Gehirne- und Ner-
ven-Kommunismus braucht. Dieser wird sich im Lektüre-
Zeitalter in die quasi-telepathische Gelehrtenrepublik ver­
wandeln, die nicht umsonst ihre Zeitgeister hat; dank der
Schrift können zudem die Geister der Vorzeit in aktuellen
Aufmerksamkeiten wiederkehren. Die Schrift ist es überdies,
die es möglich macht, daß Individuen sich aus der Gesell­
schaft zurückziehen, um sich selbst mit den Autorenstim­
men zu ergänzen: Wer lesen kann, kann auch allein sein. Erst
die Alphabetisierung macht Anachorese möglich; das Buch
und die Wüste gehören zusammen. Aber auch in der einsam­
272 Exkurs i

sten Klausur gibt es keine eigenen Gedanken letzter Instanz.


Gerade durch den Rückzug in den sozial leeren Raum wurde
die Vorstellung von -Gott als erstem Gedankenleser über­
mächtig; indem ich mich in die Wüste zurückziehe, mache
ich Gott zwingend auf mich aufmerksam. Gerade auf den
Gott der Eremiten gingen Reste der intimen Teilhabefunk­
tion in frühen Gruppen über: Er garantierte, daß der Asket
in der Wüste nie ohne seinen großen Zweiten ist, der ihn um­
hüllt, beobachtet, belauscht, durchschaut.
Erst die Schrift hat die Zauberkreise der Mündlichkeit auf­
gesprengt und die Leser vom Totalitarismus des gegenwärti­
gen, im Nahbereich gesprochenen Worts emanzipiert; Schrift
und Lektüre, zumal in ihrer griechischen, demokratischen,
autodidaktischen Verwendungsart, führten zur Einübung in
die Nicht-Ergriffenheit. Tatsächlich war das mündliche Welt­
alter gleichbedeutend mit der magisch-manipulativen Vorzeit
der Seele, weil in ihm die präsentische Besessenheit durch die
Stimmen und Suggestionen der Stammesmitglieder den N or­
malfall bedeutete. Besessenheit durch das Normale, Durch­
schnittliche, Gegenwärtige fällt als solche naturgemäß nicht
auf: Man hält sie, in den Familien, Dörfern und Nachbar­
schaften bis heute, für die einfache, direkte, selbstverständ­
liche Art der Kommunikation. Dabei wird vertuscht, daß in
der mündlichen Welt alle Menschen Zauberer sind, die sich
gegenseitig unter einen mehr oder weniger mächtigen
Normalisierungsbann setzen (aus dem meist nur ein Ge­
genzauber befreit, etwa durch Reisen oder Gespräche mit
Fremden).
Uber das primäre präsenz-magische Potential legte sich
nach der neolithischen Revolution das Geflecht der Ab­
senzmagien, später auch das der Schrift-Magien, die nach
neuerem Sprachgebrauch erst die eigentlich magischen
Funktionen erfüllen: der Zauber aus der Ferne und die Kom­
munikation mit den Toten. Unter diesen ragen die verstorbe­
nen Gott-Könige und die Götter hervor, die seither die
Gedankenübertragung 273
menschliche Intelligenz heimsuchen und pervertieren; sie
haben die Weltgeschichte als eine Serie von Kriegen zwi­
schen telepathischen und einfluß-psychotischen Besessen­
heitsgruppen, besser bekannt unter dem Namen Kulturen,
in Gang gehalten. Die präsenz-magische Konvivialität der
ältesten Kulturen hatte ihre medienphysiologische Bedin­
gung im neuro-linguistischen und neuro-sensitiven Bereich:
Dichte Parallel-Programmierungen der Gehirn-Ensembles
befähigten die Mitglieder der Gruppen zu einem Funktionie­
ren in großer interpersonaler Nähe und intimer Leitfähig­
keit. Daß Menschen zu so dicht ineinander eingreifenden
Partizipationen befähigt sind, gehört zu ihrer ältesten stam­
mesgeschichtlichen Ausstattung. Diese tritt in der Medien-
Neuzeit, das heißt im Schriftzeitalter, zwar in den Hinter­
grund, wird aber nie ganz eliminiert. Es scheint plausibel,
anzunehmen, daß die unzähligen Berichte über sogenannte
Gedankenübertragungen während magnetopathischer Heil­
behandlungen ihren Sachgrund in einer Reaktivierung prä­
alphabetischer und prä-verbaler Nähe-Funktionen haben.
Dazu gehören auch Episoden von Schmerz-Ubertragung
vom Patienten auf den Heiler - Fichte erwähnt in seinem Ta­
gebuch über den animalischen Magnetismus einen solchen
Fall nach einer französischen Quelle.104 Daß Patienten oft die
Gedanken ihrer Therapeuten zu »lesen« scheinen; daß um­
gekehrt Therapeuten in ihren »eigenen« Regungen und As­
soziationen gleichsam inneres Material ihres Gegenüber
ablichten, um es in das Gespräch mit dem Patienten zurück­
zubringen: dies gehört seit der Gründerzeit der neueren Psy­
chologie zu den Basisbeobachtungen der neuen Nähe-Pra­
xis. Wie William James und Pierre Janet war auch Sigmund
Freud von der aufsässigen Realität »tele«pathischer Effekte
beeindruckt; er zweifelte nicht daran, daß sich in ihnen pa-

104 Johann G otdieb Fichte, Tagebuch über den animalischen Magne­


tismus (s. Anm. 96), S. 315.
274 Exkurs i

läo-psychologische Funktionen reaktivieren. Aber Freud


zögerte mit gutem Grund vor lauten Proklamationen; er
wußte, daß es für die psychoanalytische Bewegung ruinös
gewesen wäre, wenn er sie in einen Kulturkampf zwischen
okkult-archaischen und modern-aufklärerischen Kommuni­
kationsmodellen geführt hätte. Ihm war bewußt, daß die
Chance der Psychoanalyse als einer spezifisch modernen
Kultivierung von Nähe-Beziehungen nur im Bündnis mit
der Aufklärung lag. Dem Wesen der Sache gemäß mußten
sich auch in den analytischen Kuren, wie zuvor im Mesme­
rismus, jene prä-verbalen partizipativen Effekte manifestie­
ren, die unter dem individualistischen Schein zu bizarren
Geheimnissen deformiert worden waren. Aber man versteht
jetzt besser, warum sie sich bei der erstbesten Wiederherstel­
lung prä-individualistischer Nähe-Situationen sofort wieder
als Normalerscheinungen zurückgemeldet hatten.105 Auch in
dieser Flinsicht ist das Kontinuum zwischen Mesmerismus
und Psychoanalyse unverkennbar. Doch solange die »Ge­
dankenübertragung« in dem Ruf steht, ein außernormales
Phänomen zu sein (während die affektive und szenische
Übertragung psychologische Normalität wäre), muß sie als
Faszinosum wahrgenommen und als solches in die Dynamik
von Verzauberungssucht und Entzauberungspathos hinein­
gezogen werden. Wo diese Kräfte sich vordrängen, besteht
keine Aussicht darauf, daß die Kritik der partizipativen Ver­
nunft sich konsolidiert, die das Spiel der Inter-Intelligenz zu
ihren eigenen Bedingungen beschreibt.106

105 Elisabeth L aborde-N ottale hat in ihrer Studie: Das Zweite Gesicht.
Ü bernatürliche Phänomene in der Psychoanalyse, Stuttgart 1995,
eine Geschichte der W echselbeziehungen zwischen Hellsehen und
Psychopathologie skizziert (S. 91-105); darin komm en M omente
non-verbaler fusionärer K om m unikation zur Sprache.
106 Vgl. hierzu unten Exkurs 8, A nalphabetenwahrheiten. N o tiz über
oralen Fundamentalismus, S. 532. ff.
275

K a p it e l 4

Die Klausur in der M utter


Z«r Grundlegung einer negativen Gynäkologie

Vielleicht ist die Wahrheit ein Weib, das


G ründe hat, ihre G ründe nicht sehn zu las­
sen? Vielleicht ist ihr Name, griechisch zu
reden, Baubo? ...
Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissen­
schaft, Vorrede

r ie in der Caesaren- und Päpstezeit alle Straßen nach


W Rom führten, wo Himmel und Erde einander angeblich
näher sind als anderswo, so wurden in der Zeit des Ur­
sprungsdenkens alle prinzipiellen Überlegungen zur Vulva
hingezogen - dem magischen Tor, wo die Innenwelt mit ih­
rem Mutterleibsdunkel ans Öffentliche, Belichtete, Sagbare
grenzt. Der Vulva-Zauber hat seinen Grund in dem Elemen­
targedanken, daß das Muttertor, das von sich her als Ausgang
dient, und nur als solcher, auch als Eingang in Anspruch ge­
nommen werden muß - nicht so sehr in einem sexuell-eroti­
schen, also partiellen Akt, versteht sich, sondern in einem re­
ligiösen, existenzumgreifenden Sinn. Tatsächlich sind von
den altsteinzeitlichen Höhlenkulten an Tendenzen zu einem
Zwei-Wege-Verkehr vor der weiblichen Öffnung, und durch
sie, zu erkennen. Ob die archäologischen Indizien, die der
Forschung bisher vor Augen kamen, wirklich so etwas wie
förmliche Wiedergeburtsmagien der Altsteinzeit107 - also
protoreligiöse Kulte - bezeugen, mag hier eine offene Frage
bleiben. Unleugbar ist aber, daß es eine präzise historische
I07 Vgl. Max Raphael, W iedergeburtsmagie in der Altsteinzeit. Z ur
Geschichte der Religion und religiöser Symbole, hg. v. Shirley
Chesney und Ilse Hirschfeld, Frankfurt 1978.
276 Kapitel 4

Konjunktur für erhöhte religiöse Vulva-Interessen gegeben


hat. Der Massenandrang vor der Passage ins weibliche Innere
läßt sich kulturgeschichtlich datieren: Es ist die berüchtigte
neolithische Revolution, nach welcher die Schoß-Faszination
erst zur Weltmacht sich entfalten konnte. Im neolithischen
Umbruch traten zuerst jene Verhältnisse hervor, durch die
der Territorialismus über die Menschheit kam; nun erst be­
ginnen die bodenverwurzelten Identitäten ihre Blüten zu
treiben; jetzt erst müssen sich Menschen durch ihren Ort,
ihre Bodenhaftungen und schließlich durch ihren Besitz
identifizieren. Die neusteinzeitliche Revolution ließ die bis
dahin nomadisierenden Menschengruppen in die Falle der
Seßhaftigkeit laufen, in der sie sich zu bewähren versuchen,
indem sie mit Verwurzelungen und Ausbrüchen zugleich ex­
perimentieren; so beginnt das agro-metaphysische Gespräch
mit den Nutzpflanzen, den Haustieren, den Hausgeistern
und den Feld- und Flurgöttern. Erst die frühe bäuerliche
Bodenfixierung erzwingt die epochale Gleichung von M ut­
terwelt und bebautem fruchtbaren Raum. Das Weltalter der
Arbeit als Mutterbewirtschaftung setzt ein mit der Nieder­
lassung auf der Erde, der Sau-Erde (John Berger), die von
jetzt an chronisch ein Mehrprodukt, eine Mehrgeburt, einen
Machtüberschuß hergeben soll. In ihm kommt es zu der
verinnerlichten Bindung der Sterblichen an ein heilig-ver­
fluchtes und verseuchtes Territorium, auf dem nun Hütten,
Kloaken und Chefhäuser stehen: Wo über Generationen
hinweg Jahr für Jahr die Felder bestellt werden wollen, wo
Vorräte Projekte möglich machen und wo tote Ahnen ihre
Wiederkehr-Reviere abzirkeln, dort bildet sich der neue
Raumtypus Heimat und der Denktypus Bodenrecht - nomos
- aus.108 Die neusteinzeitliche Gleichung von Mutter und be­
bauter Erde hat die zehntausendjährige konservative Revo­
lution gestiftet, die das Substrat der frühen seßhaften Kultu-
108 Vgl. Carl Schmitt, Vom N om os der Erde, Berlin 1988, S. 36-48, be­
sonders den Passus Nom os als raumeinteilender Grundvorgang.
Die Klausur in der Mutter 277
ren, der archaischen Staaten und der regionalen Hochkul­
turen bildet. Erst seit kaum mehr als einem halben Jahrtau­
send ist die europäische Fraktion der Menschheit in eine Ge­
genrevolution der Mobilität aufgebrochen, die den utero-
fugalen Kräften wieder zur Vorherrschaft verhilft über die
fast unvordenkliche Schoßzentrierung agro-metaphysischer
Zeiten.
Die Doppelbesessenheit durch den Boden und den Ab­
stammungszwang trieb die seßhaft gewordenen Geschlech­
ter den besitzenden Großen Müttern in die Arme. Seit der
Boden die Lebenden und die Toten gleichermaßen an sich
fesselt, beginnt man von den Müttern zu glauben, sie woll­
ten die Ihren für immer bei sich und auf gewisse Weise auch
in sich halten. Nun werden Herd und Landschaft, Schoß
und Acker synonym. Den seßhaften Populationen in den
frühen Dörfern und Städten drängt sich, wie eine erste Er­
fahrung von Schicksalsmacht, die Notwendigkeit auf, sich
durch Herkunftsbezeichnungen zu identifizieren. Tatsäch­
lich hieß, bevor der Staat das Schicksal wurde, das Schick­
sal Verwandtschaft mit territorialisierten Toten. Wie das
Schicksal den unverfügbaren Zwang der Vergeltung bedeu­
tet, so meint Verwandtschaft die geregelte Verknüpfung von
Jüngeren mit Älteren und von Älteren mit bodenfixierten
Ahnen. In frühen Siedlungen, wo Sein durchweg Verwandt­
sein heißt und Dasein Abstammen bedeutet, müssen Men­
schen lernen zu sagen, aus welchem Schoß sie kommen und
in welcher Beziehung sie zu den Müttern und zu den Böden
stehen. Es ist dieser größte Denkformen-Umbruch der al­
ten Welt, durch den sich die altsteinzeitliche Geburts- und
Lebensreligiosität zu der neusteinzeitlichen, schon para­
metaphysisch schillernden Macht- und Todesreligiosität
umzupolen begann.109 Mit der Wende zum genealogischen
109 Die vorm etaphyische Einstellung hat H ans Peter D uerr in seinem
religionswissenschaftlichen H auptw erk Sedna oder Die Liebe zum
Leben, Frankfurt 1984, eindrucksvoll dargestellt.
278 Kapitel 4

Vernunft- und Zurechnungszwang wird der weibliche


Schoß, mitsamt seinem Portal und seinem Flur, einem unab­
sehbaren Bedeutungswandel unterworfen: Er ist von nun an
nicht mehr nur Ausgangspunkt für alle Wege in die Welt,
sondern wird auch zum Terminus für die großen Heimrei­
sen, die im Interesse der dringlich gewordenen Ahnensuche,
der Totenbefragung und der Wiedergeburt - kurzum der
Selbstidentifikation zuliebe - unternommen werden müs­
sen. Für die unruhigen Lebenden wird der Schoß zum O rt
der Wahrheit; er zwingt sich ihrem Denken wie ihren Wün­
schen auf als das intimste Dort, an dem Sterbliche etwas zu
suchen haben; was dort auf sie wartet, wird nie weniger sein
als die Einsicht in ihr wahres Selbst. Vom Schoßgedanken
strahlt die Evidenz aus, daß die Wahrheit einen geheimen
Sitz habe, der sich durch Initiationen und rituelle Näherun­
gen erreichen läßt. So wird man bis zum Ende des Schoß­
zwangzeitalters, wenn schon in den ätiologischen Philoso­
phien der Griechen die erste Aufklärung sich ankündigt, zu
den Müttern hinabsteigen, um bei ihnen und in ihnen etwas
zu finden, was man, ohne zu erröten, Erkenntnis nennen
wird. Dem Selbst dieser Erkenntnis ist es darum zu tun, sich
im mächtigsten Inneren anzupflanzen. Alle Weisheitsbäume
senken sich ins Fraueninnere hinab. In Ursprungshöhlen ha­
ben die Sterblichen, die Geborenen, ihren Anfang und ihr
Ende. Eines Tages wird man sogar verlangen, daß der ganze
Horizont höhlenimmanent werden soll, und die Erschei­
nungswelt im ganzen muß sich dann als eine Innenland­
schaft deuten lassen. Nicht umsonst haben Kulturen jener
protometaphysischen Epoche - Babylonier und Ägypter an
erster Stelle - die sichtbare Welt von großen Wasserringen
umschlossen vorgestellt: Wo die Mutter zu denken gibt, ist
alles innen. Solange Mutterschaft und Trächtigkeit dem
Denken insgesamt die Form vorzeichnen, soll es überhaupt
kein Außen mehr geben; es kommt für die Wissenden immer
nur darauf an, zu lernen, in welchem Sinne diese All-Imma-
Die Klausur in der Mutter 279

Totenpapyrus des Priesters Chonsu-Mes; die nördliche und die südliche N ut


sorgen durch Aufgüsse mit Lebenswasser für die Regeneration der Welthülle.

nenz-Mysterien gültig sind. Wer unter solchem Vorzeichen


in Erfahrung bringen möchte, wer er oder sie in Wahrheit
sei, muß zumindest einmal im Leben die Reise zum Ur­
sprung unternehmen, von dem her das entsprungene Leben
sich erst verstehen kann. Sobald das weibliche Geburtsorgan
nicht mehr nur den Ausgang bedeutet, den realen wie den
imaginären, sondern auch zu einem Eingang geworden ist,
durch den die Suche nach Identität hindurch muß, lädt es
sich mit ambivalenten Faszinationen auf. Das blutende Tor
zum Leben, dessen Klaffendes fasziniert, empört und ab­
stößt,110 wird nun ein Zugang zur Unter- und Uberwelt. Der
Uterus wächst zum Jenseits heran, die Vulva wird zum grau­
enerregend-einladenden Portal dorthin. Sie ist jetzt das, was
i io Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das N ichts. Versuch einer phä­
nomenologischen O ntologie, Reinbek bei H am burg 1993, S. 1049:
»die O bszönität des weiblichen Geschlechtsorgans ist die alles
Klaffenden: es ist ein R u f nach Sein wie überhaupt alle Löcher«.
280
Kapitel 4

Szenen aus dem Einbalsamierungsprozeß lassen erkennen, wie das Bad des
Totenkörpers in der Natronlauge und die Aufgüsse mit dem Ursprungs­
wasser miteinander korrespondieren.

Heidegger das Unumgängliche nennt. In der ältesten Welt


hieß vernünftig sein vor allem eines einsehen: Wer das Tor
nach innen hin durchschreitet, muß sich von seinem bisheri­
gen Leben trennen - sei es in einem symbolischen Tod, wie
Initiationen ihn ritualisieren, oder durch den realen Exitus.
Überwindbar erscheinen beide Tode in der Zuversicht, daß
das Sterben, wenn das Procedere gewahrt wird, allemal einer
Rückkehr in die Mutterinnenwelt Vorschub leistet. Alle
Wahrheitssucher in metaphysischer Zeit sind darum ihrem
Motiv nach Schoßheimkehrer. Sie streben an, was prima fa ­
de unerreichbar scheint - sie wollen das Ende der Suche an
den Lebensanfang knüpfen und durch radikale Kämpfe ge­
gen sich selbst die Geburt umkehren. Wer ist der Held mit
den tausend Gesichtern, wenn nicht der Sucher, der in die
weite Welt hinauszieht, um in die eigenste Höhle heimzu-
Die Klausur in der Mutter 281

Die Giebelfassade der Lomas-Rishi-Höhle in Indien, 3. Jahrhundert v. Chr.


Vulvaförmiger Höhleneingang

kommen? Die Geschichten von den heroischen Wahrheits-


suchern zelebrieren die Mutterleibsimmanenz allen Seins.
Weisheit ist die Erkenntnis, daß auch die offene Welt von der
Höhle aller Höhlen umgriffen wird. Weil Erkenntnis immer
nach Hause führt und somit die Geburt widerruft oder de­
ren Sinn erst enthüllt, müssen die heroischen Heimkehrer
mit dem Drachen am Eingang zum Mutterportal noch ein­
mal kämpfen. N un geht es darum, den Geburtskampf in der
anderen Richtung zu führen. Wird dieser bestanden, so
kommt durch die Einsicht ins Leben vor dem Leben, den
vorgeburtlichen Tod, das Streben nach Erleuchtung zu sich
- und die bringt naturgemäß die völlige Verdunkelung.
282 Kapitel 4

Auch das gewöhnliche Sterben nimmt zunehmend Heim­


kehrbedeutungen an. Darum breiten sich nach der neolithi-
schen Wende nicht nur refötalisierende Bestattungsriten epi­
demisch aus; man könnte von einer Fötalisierung der
Weltbilder im ganzen sprechen. Die Gleichung von Grab
und Mutterleib - mysteriöse und evidente Raum-Prämisse
aller frühen Metaphysiken, die nur die Immanenz und nichts
als diese kennen - beginnt ihre lange Herrschaft über das
Imaginäre der nach-neolithischen Menschenwelt; sie sollte
nicht weniger als zweihundert Generationen lang über Den­
ken und Leben der alten Kulturen ihren Bann ausbreiten.
Erst die antiken Licht- und Himmelsmetaphysiken haben
das Mutterleibs-Monopol des Ursprungsdenkens gebro­
chen, indem sie dem Männlichen, als dem »Transzendenten«,
einen Anteil an der Ursprungsfunktion zuerkannten. Von da
an nimmt das große Heimkehren auch Züge von Sehnsucht
nach dem göttlichen Vaterhaus an; über Jahrtausende hat das
Christentum die Attraktion der Vaterschoß-Idee ausgearbei­
tet. Doch nicht vor dem Beginn der jüngeren europäischen
Neuzeit kann davon die Rede sein, daß Menschen in nen­
nenswerten Zahlen sich von den Lebens- und Denkformen
lösen, die direkt oder indirekt den saugenden Zauber der
Mutterimmanenz-Ontologien weitertrugen. Erst seit weni­
gen Generationen sind philosophische Haltungen aufge­
taucht, die von den Adepten nicht mehr fordern, daß sie sich
entselbsten und in gewisser Weise sterben müßten, um in den
inneren Kreis des Wahren einzutreten; noch um 1810 hielt
der Nürnberger Gymnasialrektor Hegel es für passend, vor
Schülern der Mittelstufe den Gedanken vorzutragen, daß ih­
nen, bevor sie zum wesentlichen Denken kämen, erst einmal,
wie den Initianden der antiken Mysterienkulte, gründlich
Hören und Sehen vergangen sein sollten. Bis zur Romantik
galt bei den metaphysisch Entschlossenen immer ein Tod als
fairer Preis für das Privileg, als vereinzeltes Wesen an den O rt
der Wahrheit zurückzukommen. Aber über den Preis der
Die Klausur in der Mutter 283

Verklärung ließ sich von früh an reden. Der Tod war nicht
die einzige Währung, in der das Entgelt für den Zugang zum
verschleierten Seinsmysterium zu entrichten war; der empe-
dokleische Sprung in den Krater blieb nicht die einzige Form
des Zugangsopfers. Häufig wurden auch Genitalopfer im
Tausch gegen die Nähe zum großen Mutterinneren darge­
bracht - die kastrierten Priester der griechischen Fruchtbar­
keitsgöttin Kybele genossen das Vorrecht, sich im Erdinnern
mit der Göttin im hieros gamos zu vereinigen. Die Institution
des Eunuchenpriestertums war im Kult der römischen und
phrygischen Magna Mater ebenso bekannt wie in dem der
anatolischen Artemis, der syrischen Göttin von Hierapolis
und in den Große- Mutter-Kulten Indiens, wo noch heute in
1eder Generation Zehntausende junger Männer zum Genital­
opfer überredet oder gezwungen werden. Im übrigen spricht
vieles dafür, daß die westlichen Philosophen in ihrer Mehr­
heit typologische Verwandte der heiligen Kastrierten waren,
denn nur wer den All-Immanenzgedanken in seiner strengen
Form verstand, konnte in der Absorption durch das Eine die
Erfüllung sehen. Das Geheimnis der höchsten Metaphysik,
worin hatte es seinen Grund, wenn nicht im logischen
Inzest?111
Beharrlich und mit asketisch-blutiger Konsequenz haben
sich die frühen Para-Metaphysiken an dem ursprünglichen
Mißverhältnis abgearbeitet: Geboren sein und doch »in die
Wahrheit«112 gelangen wollen - das kann unter menschlichen
Bedingungen nur mißlingen, es sei denn, man fände einen

111 D aß mystische Monismen gleichwohl im Gang der D iskursge­


schichte eher die A usnahme als die Regel geblieben sind, erklärt
sich zum einen durch die D um m heit der Philosophen, von der sich
die Profanen selten einen Begriff machen, zum anderen durch den
hohen homosexuellen W iderstandsfaktor bei den klugen Vertre­
tern des Metiers.
112 Zum M otiv »in der W ahrheit sein« vgl. unten 8. Kapitel, M ir näher
als ich selbst. Theologische Vorschule zur Theorie des gemein­
samen Innen, S. 560h
284 Kapitel 4

Votiv an eine Muttergottheit, vermutlich aus dem Heiligtum in Veiji, Südita­


lien, Terrakotta
Die Klausur in der Mutter 285

Weg, die Geburt zu widerrufen und die Vereinzelung ungül­


tig zu machen. Wie anders als durch Selbstauflösung soll das
Geborene den Standpunkt des Ungeborenen wiedergewin­
nen? Die nach-neolithische Menschheit hat mit tausendund-
drei Methoden um das Unmögliche geworben. Was immer
sie dabei erreichen oder verspielen mochte, es gründete im­
mer in demselben paradoxen Ineinander von Vorwärts und
Zurück. Unverkennbar ist allemal nur, daß die Rückkehr in
die Mutter das offene Geheimnis über die Geheimnisse der
alten Welt bildet.113 Darum muß der Tod zum Königsweg
der Erkenntnis werden - vorausgesetzt, es gelingt, eine Art
zu sterben zu entdecken, die nicht vernichtend, sondern zu­
rückführend erlebt werden kann. Ohne Refötalisierung kein
Eintritt in die Substanz. Wo noch die großen Mütter das
Denken für sich einnehmen, hat der Bürgerkrieg zwischen
philosophischer Vernunft und gemeinem Verstand, also das
kognitive Grundereignis der Hochkultur, nicht im Ernst be­
gonnen. Durch Jahrtausende schauen beide, Weise wie Pro­
fane, mit denselben faszinierten Augen den umgreifenden
Müttern in den Schoß. Bei den alten uteromorphen Grabur­
nen der Griechen, denpithoi, die später in den Dionysien als
sakrale Weinbehälter bedeutend wurden, ist die para-meta-
physische Gleichung von Mutterschoß und Grabstätte mit
Händen zu greifen; in ihnen wurden die Toten in fötaler
Hocke aufbewahrt. Der Brauch der Totenbestattung in ute­
romorphen Gefäßen ist vorgriechischen Ursprungs und in
den bronzezeitlichen ägäischen Kulten vielfach belegt; seine
Herkunft scheint kleinasiatisch zu sein; analoge Praktiken in
113 D aß man auch daran vorbeilaufen kann, nicht zuletzt unter dem
Vorwand, eine Kulturgeschichte des Weiblichen zu bieten, erfährt
der Leser, der in Barbara G. Walkers m ehr ärgerlicher als nützlicher
W oman’s Encyclopedia of M yths and Secrets (Deutsch: Das
geheime Wissen der Frauen, Frankfurt 1993 und M ünchen 1995)
versucht, etwas über Stichworte wie G eburt, Fötus, Initiation, Pla­
zenta, Rückkehr, Suche, Trennung, Vulva u. a. in Erfahrung zu
bringen.
286 Kapitel 4

Die ägyptische Himmelsgöttin N ut

Südamerika lassen seine Motivierung durch verwandte ele­


mentargedankenhafte Bedingungen vermuten. In Ägypten
erwartete vornehme Tote auf dem Boden oder am Deckel
ihrer Sarkophage das Bild der Himmelsgöttin Nut, der Wie­
dergebärerin. Vor allem aber sind es die vielfältigen Erd­
begräbnisse, in denen sich die Leitvorstellung von der Re­
integration der Sterblichen in den Schoß der Großen Mutter
geltend macht. Sogar den indischen Totenverbrennungen
fehlt der Bezug zu der unumgänglichen Schoß-Grab-Glei-
chung nicht, sofern sie Transformationen inszenieren, bei
denen der Austritt aus einer Form den Eintritt in eine andere
vorbereitet - eine Wandlung, die nirgendwo anders als in
dem formjenseitigen Weltmutter-Inneren geschehen kann.
Aber nicht nur die nach-neolithischen Bestattungsgewohn­
heiten geraten unter das Zeichen der Großen Mutter. Bei den
meisten seßhaften Völkern jener Zeit sind die Weltbild-
Erfindungen ganz von mutterleibsmythischen Motiven be­
herrscht - ihre vorherrschenden Symbole sind Erde und
Die Klausur in der Mutter 287

Haus, Acker und Grabstock, Geburt und Saatkorn, Ernte


und Unterwelt, Meer und Boot, Höhle und Ei.33
Kein Zweifel: Bei unserer phänomenologischen Expedition
durch die Formenreihe bipolarer Nähe- und Innigkeits-
Sphären haben wir jetzt die Schwelle zum engeren Gravita-
tions- und Graviditätszentrum erreicht. Intimität bedeutet
von hier an Nähe zu der Barriere, die das Innere der Mutter
von der öffentlichen Welt abriegelt. Kommt es zu einer Kon­
frontation von Auge und Mutterleibseingang - man denke
etwa an hinduistische Höhleneingangsskulpturen, die der
Yoni-Vulva nachgebildet sind -, so tritt die Untersuchung
des Intimitätsfeldes in ihre kritische Phase ein. In ihr ent-

33 Diese Bilderwelt w ird ausführlich entfaltet in Erich Neum anns


Buch: Die G roße M utter. Eine Phänomenologie der weiblichen
Gestaltungen des U nbew ußten, O lten und Freiburg i. Br. 1974, ein
Werk, das im m erhin durch M aterialreichtum dafür entschädigt,
daß es auf absurden bewußtseinsgeschichtlichen K onzepten und
völlig falschen kulturgeschichtlichen G rundannahm en beruht.
288 Kapitel 4

Sarg des Tut-ench-amun

scheidet sich, ob Subjekt und Objekt im Sinne der klas­


sischen Erkenntnisrelation auseinandertreten oder ob das
Subjekt so ins Objekt eingeht, daß letzteres seinen Gegen­
standscharakter, ja sein Vorliegen und Gegenüberseinkön­
nen überhaupt aufgibt. Auf dem zweiten Weg bahnt sich
zwischen der Vulva und ihrem Beobachter eine bizarre er­
kenntnistheoretische Affaire an, die der Äußerlichkeit und
Gegenständlichkeit insgesamt den Garaus machen wird. Die
Vulva gehört auf ihre eigene prekäre Weise zu jenen ungege­
benen Objekten - Thomas Macho nannte sie Nobjekte -,
von denen gleich direkt und in allen folgenden Kapiteln mit­
telbar die Rede sein wird. Bei deren »Anblick« kann der Be­
obachter eingesogen oder depositioniert werden - bis an ei­
nen Punkt, wo er nichts gegenständlich Vorliegendes mehr
vor sich hat. Er sieht das Ding der Frau nur solange, wie er
als Frontalbeobachter vor ihm ausharrt. Wählte er das Da­
vorbleiben als Endhaltung, so wäre er kein Sucher im Sinne
Die Klausur in der Mutter 289

der para-metaphysischen Strebung zur Einkehr in den


Grund, sondern ein Beobachter, ein Voyeur, ein Neutralist,
ein Szientist, zum Beispiel ein Gynäkologe, der unbeein­
druckt von jeder wirksamen Heimkehr-Metaphorik sich mit
dem Studium des weiblichen Schamsystems befaßt; allenfalls
könnte er, wie Hans Peter Duerr es in seinem Buch Intimität
demonstriert hat, eine barocke Ethnohistorie der auf die
Vulva bezogenen Vorstellungen, Praktiken und Affekte in
verschiedenen Kulturen liefern.115 In dieser relativ jungen
kognitiven Attitüde ist es möglich, das anatomische oder
ethnographische Objekt Vulva deskriptiv und operativ zu
behandeln, ohne daß motivationale Abkömmlinge des nach-
neolithischen Sog- und Drangverhaltens am Höhleneingang
ins Spiel kämen. Die positive Gynäkologie - im wesentlichen
ein Produkt der aristotelischen Zoologie und ihrer Fort­
schreibung in den neu-europäischen Lebenswissenschaften -
zeichnet sich dadurch vor der älteren Weisheitsüberlieferung
aus, daß sie sogfrei in objektivierender, insofern emanzipier­
ter Abstandsgewißheit vor dem einst so magischen Frauen-
und Mütterportal aushalten kann. Wo der Forscherblick tie­
fer dringt, dort stellt er nur zusätzliche Oberflächenansich­
ten auf weiter innen gelegenen Ebenen her: Die Uteroskopie
ist lediglich die Fortsetzung der Vulvoskopie mit techni­
schen Mitteln. Das Organbild, das sich mit dieser Optik
gewinnen läßt, könnte man Vulvogramm nennen. Wo ein
solches mit den verfügbaren bildgebenden Verfahren kunst­
gerecht erstellt wird, zeigt sich für den Beobachter zu keiner
Zeit ein Grund, an seiner unbefangenen Sehkraft Zweifel zu
hegen. Die Sichtbarkeit der Vulva als Ding gegenüber stellt
sicher, daß der Betrachter nicht vom Objekt absorbiert ist.
Sehen heißt hier, in Übereinstimmung mit den Axiomen der
griechischen Episteme, durch richtigen Abstand von den

115 H ans Peter Duerr, D er M ythos vom Zivilisationsprozeß, Band 2,


Intim ität, Frankfurt 1990.
2 9 0 Kapitel 4

Euterförmiger Bronze-Kessel, li, aus der frühen Shang-Dynastie, ca. 16.-


15. Jahrhundert v. Chr., der bei der Zubereitung von Opferspeisen verwen­
det wurde

Dingen die gelassene Freiheit haben, zu disponierendem


Wissen über sie zu gelangen. - Ganz anders bei der alten
para-metaphysischen Andacht vor dem Tor zur M utter-In­
nenwelt. Wer diesen Eingang aller Eingänge in einer rituellen
Annäherung vor sich zu haben meint oder in symbolischer
Vorstellung ihn imaginiert, gerät sofort in einen Sog, durch
den dem Seher das Sehen und Hören vergehen soll. Wo die
reale Baubo - Nietzsches Kronzeugin für eine wieder dis­
kretgemachte Wahrheitstheorie - vor den Blick kommt, da
Die Klausur in der Mutter 291

IVFT1 IQ V iy A K B IT R A T V ,

Fata homerica. Stich aus: J.-J. Boissarch, Emblematum über 1558. Auch
wenn der Patriarch Zeus die Schicksals-Lose austeilt, stellen die Losgefäße
noch eine Art von Hyperuterus dar. Wie das Leben auch sei, es bleibt formal
auf Schoß-Immanenz verpflichtet.

hat das Sehen selbst nur noch wenig Zukunft. Das Sucher-
Auge will und muß hier an seinem Gegenstand brechen. Vor
dem saugenden Portal weiten sich die Pupillen. Im Näher­
kommen wird dem Sehenden zumute sein, als sei eine ohn­
mächtige Warnlegende vorbeigeglitten: Letzter Gegenstand
vor der großen Erkenntnis! Und wirklich, gleich nach dem
Durchgang durch das Grottentor begänne für den Eintreten­
den die Tropennacht, und mit dem Einfall der erlesenen
Nacht hörten alle Verhältnisse auf, die auf Lichtung, Ab­
stand, Gegenständlichkeit beruhen. Von jetzt an fordert die
Frage nach dem Intimen auch von der analytischen Intelli­
genz einen Preis.

Wir wollen im folgenden die Fiktion ausspinnen, es sei uns


möglich, die abenteuerliche Intelligenz so zu spalten, daß
eine Hälfte von ihr an der Zugangsrampe zur mystischen
292 Kapitel 4

Höhle - also noch in Außenansichts-Position - Stellung be­


zieht, während ihre andere Hälfte sich initiieren läßt, um in
die homogene Dunkelganzheit einzugehen. Die beiden Hälf­
ten sollen während der Exkursion im Austausch miteinander
bleiben - die eingedrungene, indem sie ihre Zustände in der
gegenstandslosen Sphäre nach außen meldet; die ante portas
wartende, indem sie Vorschläge zur Verbalisierung des Unbe­
schreiblichen in die Höhle schickt. Dieses Spaltungsarrange­
ment trägt dem Umstand Rechnung, daß der Fokus unserer
Untersuchung nicht in dem Vorsatz liegt, aktuell mystische
Erfahrung zu erzeugen, sondern in dem Projekt, eine Theorie
der dyadischen Intimität bis in den Bereich voranzutreiben,
wo üblicherweise die redende Theorie in schweigende über­
ging. Das nur allzu bekannte mystische Verstummen erklärt
sich hier durch den Umstand, daß wegen der Einschmelzung
des Beobachters in die intimste Sphäre die bipolare Erkennt­
nis- und Beziehungsstruktur für seine Wahrnehmung er­
lischt. Mit dem vollzogener) Innen-Sein müssen tatsächlich
alle Sprachspiele des Beobachtens und Gegenüberstehens an
ein Ende kommen. Eine kritische Theorie des In-der-Höhle-
Seins wird erst durch die Einführung eines Dritten möglich -
in unserem Fall durch die Verdoppelung des Höhlenfor­
schers in einen mutigen Vorposten und einen vorsichtigen
Zurückbleibenden. Das führt zur Arbeitsteilung zwischen
Sehnsucht und Skepsis, Verschmelzung und Reserve. Dieses
Arrangement enthält das Zugeständnis an die mystische Tra­
dition, daß es für den Eingedrungenen tatsächlich unver­
meidlich ist, die unübersteigbare Höhlenwahrheit zu wieder­
holen: daß hier das Eine alles sei. Wer wirklich ganz im
Inneren wäre, könnte nichts anderes tun, als die monistischen
Grundlehren der letzten Jahrtausende zu bekräftigen, von
der die Mystikinteressenten aller Provenienzen so gerne
sagen, sie sei in allen Kulturen die gleiche. Dagegen hält die
beobachtende Partial-Intelligenz am Höhleneingang, hier in
der Rolle des teilnehmenden Dritten, daran fest, daß es sich
Die Klausur in der Mutter 293

Lasciate ogni pensiero o voi qu’intrate: Höllenmaul im »Heiligen Wald« von


Bomarzo, 1550-1580

bei allem, was mit dem Versuchsmystiker in der Höhle ge­


schieht, immer nur um Momente in der Dyade handeln kann.
Sollte der Pionier innen von faltenloser Einheit zeugen wol­
len, so kann man ihm doch die zwei-einige Verfaßtheit seiner
Lage auf den Kopf Zusagen. Auf diese Weise läßt sich der ein­
heitsmystische Schein, dem der eingeschmolzene Zeuge in
der Höhle ausgesetzt ist, zugleich respektieren und entthro­
nen: Das Interesse am Fortschritt der Dual-Theorie wird
befriedigt, ohne daß die Evidenzen des mystischen Monis­
mus dementiert werden müßten. Das akute Auftreten der Be­
wußtseinsform von Einheit ohne Zweites läßt sich dann
sogar als aussagekräftigste Figur der in actu vollzogenen bi­
polar-sphärischen Einschmelzung begreifen. Zur Wirklich­
keit der Beziehung von Mutter und Ungeborenem gehört auf
gewisse Weise die Inexistenz dieser Beziehung als solcher für
das Kind. Solange es im Mutterinneren lebt, schwebt es tat­
sächlich in einer Art von Nicht-Zweiheit; die Enthaltenheit
in der »Mutter« wird durch die Tilgung des Bezugs zu ihr in
Kapitel 4

Federzeichnung des Höllenmauls von 1599


J:e Klausur in der Mutter 295
der Wahrnehmung als akuter Beweis der gegebenen Fusion
bestätigt. Wer die Szene erlebt, ist entweder primär oder se­
kundär ein infans, das heißt ein Fötus oder ein Mystiker, in
beiden Positionen auf signifikante Weise sprachlos und ohne
Bezug auf ein gegenständiges Gegenüber. Die Relation selbst
nesteht aktuell nur, wenn sie aktuell verneint oder entthema-
risiert werden muß. Es gehört zur Realität dieser singulären
Beziehung, daß sie, wenn sie besteht, für den Enthaltenen
eben als Beziehung nicht besteht: Es gibt für den Fötus kein
Gegenüber, auf das er interpersonal oder interobjektiv bezo­
gen sein könnte; nichts anderes bestätigt sein reales In-Sein.
Für den Mystiker gilt sinngemäß das Gleiche. In der Nähe
zum real anwesenden Nobjekt ist auch das Subjekt entwaff­
net und aufgelöst. Uber diese logische Seltsamkeit: daß eine
Klasse von Nähe-Beziehungen zum Anderen nur wirklich
ist, wenn sie als Beziehungen verneint oder gelöscht ist, ist
im Anschluß an Thomas Machos Bemerkungen zur Logik
psychoanalytischer Grundbegriffe im folgenden Näheres
zu sagen.
2<}6 Kapitel 4

Stefan Zick (1639-1715(?)), Anatomisches Lehrmodell der Schwanger­


schaft, Elfenbeinfigürchen in Holzkästchen
297

Exkurs 2

Nobjekte und Unbeziehungen


Zur Revision der psychoanalytischen Phasenlehre

s gehört zu den veröffentlichten Geheimnissen der


frühen Wiener Psychoanalyse, daß sie mit ihrem thera­
peutischen Arrangement wie mit ihrer begrifflichen Armatur
beim Eindringen in die intersubjektive Nähe-Welt auf hal­
bem Weg stehen geblieben ist. Man hat ihr, in wesentlichen
Punkten zu Recht, nachsagen können, daß sie in Theorie und
Praxis ein System zur Abwehr der unwillkommenen Nähe-
Erfahrungen ausgebildet hat, die sie durch ihr Arrangement
heraufbeschwören mußte. Freuds obstinater Szientismus ist
in den letzten Jahrzehnten vielfach zum Gegenstand von be­
gründeter Kritik geworden - teils in wissenschaftstheoreti­
scher Perspektive, indem der Nachweis geführt wurde, daß
die Wiener Analyse ihren eigenen theoretischen Status falsch
beschrieben hat und eine szenisch-hermeneutische, sprach-
theoretische und erlebniswissenschaftliche Disziplin zwang­
haft an das Modell der Naturwissenschaften heranführen
wollte; teils in psychodynamischen Ausdrücken, indem man
zu zeigen versuchte, mit welchen Manövern und aufgrund
welcher Zwangsmotive - hauptsächlich aus mutterphobi­
schen Quellen - der Gründer der Wiener Psychoanalyse den
unheimlicheren Tiefenschichten des von ihm neu beschrie­
benen Intimbeziehungsfeldes ausgewichen sei. All diese Kri­
tiken konnten jedoch dem elastischen Ansatz des freudiani-
schen Modells immanent bleiben und vermochten von einer
lernbereiten psychoanalytischen Bewegung mehr oder weni­
ger willig integriert zu werden.
Eine wesentlich radikalere Kritik jedoch hat sich an einer
Front formiert, auf deren Entwicklung weder die immanen­
ten noch die externen Kritiker der Psychoanalyse gefaßt wa­
ren. Sie geht aus der Verbindung der jüngeren Prä-Natalitäts-
forschung mit den begrifflichen Umstellungen der neueren
Medienphilosophien hervor. Der Kulturphilosoph und Me­
dienanthropologe Thomas Macho hat vor diesem Hinter­
grund eine fundamentale Fehlanlage der psychoanalytischen
Begrifflichkeit in bezug auf archaische und prä-natale Mut­
ter-Kind-Verhältnisse zwingend nachgewiesen.116 Es läßt
sich in der Tat aufzeigen, daß die Vorstellungen der Psycho­
analyse über frühe Kommunikationen durchweg nach dem
Muster von Objekt-Beziehungen formuliert sind - beson­
ders in den Konzepten der sogenannten Entwicklungspha­
senlehre, in der jeweils ein Organ als Subjekt-Vorläufer mit
einer Außenweltgröße als Objekt-Pol zusammengespannt
wird: in der oralen Phase der Mund mit der Brust; in der ana­
len Phase der Anus mit seinem Produkt, dem Kot; in der ge­
nitalen Phase der Penis mit der Mutter als Liebesobjekt sans
phrase. Es ist bekannt, daß Freud die schicksalhafte Notwen­
digkeit dieser dritten Phase über alles stellte, weil sich in ihr
nach seiner Überzeugug die eigentliche Individuation als
Ausbildung von Sexualsubjektivität im Ausgang des ödipa-
len Dreieckskonflikts vollziehe. In ihr vollendet sich, nach
orthodoxer Lehre, die psychische Objekt-Reife, die dem
Kind von seinem ersten Griff nach der Mutterbrust an als
kulturell verbindliches und organisch plausibles Entwick­
lungsziel vorgezeichnet ist. Macho hat demgegenüber nach­
gewiesen, daß die gesamte psychoanalytische Begrifflich­
keit für Frühbeziehungen durch das Objekt-Vorurteil von
Grund auf deformiert ist - mehr noch, daß die Fixierung an
das Objekt-Beziehungsdenken verantwortlich ist für die ge­
radezu groteske Verkennung der fötalen und frühkindlichen

i i 6 Thomas Macho, Zeichen aus der D unkelheit. N otizen zu einer


Theorie der Psychose, in: Wahnwelten im Zusammenstoß. Die
Psychose als Spiegel der Zeit, hg. von R udolf H einz, D ietm ar Kam-
per und Ulrich Sonnemann, Berlin 1993, S. 223-240.
N'objekte und Unbeziehungen 299
Wirklichkeitsmodi in der älteren psychoanalytischen O rtho­
doxie. Es wäre demnach ein vergebliches, um nicht zu sagen
pathogenes Unternehmen, die frühe Mutter-Kind-Wirklich-
keit in Objekt-Beziehungsbegriffen beschreiben zu wollen,
weil hier in den Sachen selbst noch nirgendwo subjekt-ob-
iekthafte Verhältnisse vorliegen. N ur eine elaborierte Theo­
rie psychosomatischer Medialität könnte es eines Tages da­
hin bringen, die intimen Gespinste der frühesten Dyadik in
einer entsprechend feingewobenen Sprache der Ineinander-
Löslichkeit und des Schwebens in einem bipolaren Bezie­
hungsäther abzubilden. Dies hätte zur Voraussetzung, daß
auf allen Stufen der psychischen Organisation Medienana­
lysen die bisherigen, verschrobenen und gelegentlich sogar
gefährlich desinformierenden Objekt-Beziehungs-Beschrei-
bungen ersetzen müßten. N ur in medialen Ausdrücken läßt
sich die Seinsweise der frühesten präsentischen Begegnungs­
größen, mit denen es das Kind zu tun hat, auf angemessene
Weise zur Sprache bringen. Zudem müssen vor der angeblich
primären oralen Phase mindestens drei prä-orale Stadien und
Zustandsformen angenommen werden, die, jede auf ihre be­
sondere Weise, der Natur ihrer Inhalte zufolge, selbst schon
als Regime radikaler Medialität aufzufassen sind.
i. An erster Stelle ist eine Phase der fötalen Kohabitation
zu konzipieren, in der das Kind im Werden sensorische Prä­
senzen von Flüssigkeiten, Weichkörpern und Höhlengren­
zen erfährt: plazentales Blut an erster Stelle, dazu das Frucht­
wasser, die Plazenta, die Nabelschnur, die Fruchtblase und
eine vage Vorzeichnung von Raumgrenzen-Erfahrung durch
Bauchwandwiderstand und elastischer Umwandung. Als
Vorläufer dessen, was später Wirklichkeit heißen wird, prä­
sentiert sich hier ein fluidales Zwischenreich, das in eine
dunkle, in festeren Grenzen weich gefederte sphärische
Raumgröße eingebettet liegt. Gäbe es schon frühe »Objekte«
in diesem Feld, so könnten sie ihrer Gegebenheitsweise nach
immer nur Objekt-Schatten oder Vorschein-Dinge sein - In­
300 Exkurs 2

halte eines ersten Dort, von dem her sich ein erstes Hier kon­
zipiert, beides zusammengefaßt in einem vage konturierten
Umgreifungsraum mit steigender Enge-Tendenz. Als Kandi­
daten für solche Objekt-Schatten kommen in erster Linie die
Nabelschnur - von der es frühe Tastwahrnehmungen geben
mag - sowie die Plazenta in Frage, die als Vorbote eines er­
sten Gegenüber wie ein nährender Urbegleiter des Fötus eine
frühe diffuse Präsenz besitzt. (Von dem »Verhältnis« zwi­
schen Fötus/Subjekt und Plazenta/Begleiter handeln die bei­
den folgenden Kapitel.) Objekte, die wie die genannten keine
sind, weil ihnen kein subjekthaftes Gegenüber entspricht,
nennt Macho Nobjekte: sie sind sphärisch umgebende Mit-
Gegebenheiten, die im Modus nicht-konfrontativer Präsenz
einem nicht-gegenüberstehenden Selbst, eben dem fötalen
Vorsubjekt, als ursprüngliche Nähe-Wesen im buchstäb­
lichen Sinn des Wortes vorschweben. Ihr Nahe-Hier-Sein
(das eben noch kein aufweisbares Da-Sein ist) teilt sich vor
allem durch ihre erste Gabe, das plazentale Blut, dem Kinde
mit. Plazentales Blut ist unter den Nobjekten der frühesten
»Erfahrungs«welt die unüberholbar früheste Instanz. Als
ursprünglichstes unter den prä-oralen Regimen ist folglich
ein Schwebe-Stadium anzunehmen, dessen wesentlicher In­
halt im unaufhörlichen plazenta-vermittelten Blutaustausch
zwischen Mutter und Kind besteht. Das Blut, das als Blut
der Einen auch immer schon Blut des Anderen wird, stiftet
das erste mediale »Band« zwischen den bipolar-intim ver­
schränkten Partnern der Dyade. Durch das Blut ist die Zwei-
Einigkeit von vorneherein als eine trinitarische Einheit ver­
faßt; das Dritte macht aus Zweien eins. Nicht umsonst be­
schreiben viele Kulturen den engsten Grad an Verbundenheit
zwischen Verwandten als Blutsbeziehung; dies meint alltäg­
lich wohl zunächst das imaginäre Blut der Stammbäume, im­
pliziert aber auf einer tieferen Ebene immer auch die reale
Blutkommunion: mit ihrer Charakterisierung als »Ver­
wandtschaft« wird die archaische Kreislaufgemeinschaft in
Nobjekte und Unbeziehungen 301
eine symbolische Repräsentation gehoben. Nach altägypti­
scher Auffassung ist es das Blut der Mutter, das durch sein
Herabströmen vom Herzen den Fötus tränkt. Noch im euro­
päischen Mittelalter, ja bis ins 18. Jahrhundert war die Auf­
fassung verbreitet, daß Kinder im Mutterleib als Menstruati­
onsblut-Trinker sich am Leben halten.117Tatsächlich läßt sich
der fötale modus vivendi als eine fluidale Kommunion im
Blutmedium beschreiben. Sie lebt in allen post-natal trans­
formierten Flüssigkeits-Kulturen nach - von den Getränken
bis zu den Bädern, den Waschungen, den Besprengungen.
Die medientheoretische Neufassung des Innigkeits-Motivs
läßt verständlich werden, warum Blut in der Tat ein ganz
besonderer Saft ist: Es ist das erste stoffliche Medium zwi­
schen zwei Individuen, die eines Tages - wenn sie moderne
Menschen sind - miteinander telefonieren werden. Von An­
rang an ist Selbstgeschichte vor allem Selbstvermittlungs­
geschichte. Ihre Akteure sind Wesen, die aus jeweils einmali­
gen Kreislaufgemeinschaften und Getränke-Kommunionen
stammen - und die jene Einmaligkeit in immer wieder ande­
ren Übersetzungen wiederbeleben. Zu diesen Kommunar­
den im Flüssigen redet Rilke in seinem Appell an die Lieben­
den aus der zweiten Duineser Elegie:
... Wenn ihr einer dem andern
euch an den Mund hebt und ansetzt Getränk an
Getränk:
o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der
Handlung.

117 Vgl. Lotario de Segni (Papst Innozenz III.), Vom Elend des
menschlichen Daseins. Aus dem Lateinischen übersetzt und einge­
leitet von Carl-Friedrich Geyer, H ildesheim - Zürich - N ew York
1990, S. 45: »Achte nur darauf, wovon das Kind im M utterleib lebt!
M it Sicherheit nährt es sich vom Blute der M enstruation, da diese
bei den Frauen nach der Empfängnis ausbleibt - w ohl doch des­
halb, daß das Kind damit ernährt w erden kann.« Vgl. auch Exkurs
10, Matris in gremio. Eine mariologische Grille, S. 632 ff.
302 Exkurs 2.

Man würde dem Medium Blut aber kaum gerecht, wenn man
es als Träger eines prä-natalen »Dialogs« zwischen Mutter
und Fötus interpretieren wollte; hartnäckige Fixierungen an
die Wortkommunikation haben zahlreiche Analytiker dazu
verführt, für den medialen Austausch in der archaischen
Dyade den irreführenden Ausdruck Dialog ins Spiel zu brin­
gen, und selbst der große Psychologe Rene A. Spitz ließ das
nötige Maß an Hellhörigkeit vermissen, als er im Titel seines
bekannten Buches Vom Dialogm eine medientheoretische
Absurdität duldete.
2. Der zweite Aspekt des prä-oralen Medienfeldes betrifft
die psychoakustische Initiation des Fötus in die mutterleib­
liche Klangwelt. Es liegt auf der Hand, daß akustische Ereig­
nisse nur im Nobjekt-Modus gegeben sein können - denn
sonore Präsenzen haben kein dingliches Substrat, denen in
der Haltung des Gegenüberstehens begegnet werden könnte.
Die Physiologie des Hörens als In-Mitschwingung-Versetzt-
Werdens macht evident, daß es sich bei akustischen Erleb­
nissen um mediale Vorgänge handelt, die sich in Objekt-Be­
ziehungssprachen unmöglich abbilden lassen. Dies gilt im
übrigen für die Position der Hörens im Freien ebenso wie für
die fötale Lage - weswegen Musik die Kontinuum-Kunst par
excellence bedeutet; Musikhören heißt immer In-der-Musik-
Sein,119 und insofern hatte Thomas Mann recht, zu sagen,
Musik sei dämonisches Gebiet; wer hinhört, ist tatsächlich
vom Klang aktuell besessen. (Was die Intimitätsbildung
durch fötale Akustik angeht - wie sie vor allem in der um­
fangreichen Forschung von Alfred A. Tomatis zur Sprache
118 Vom Dialog. Studien über den U rsprung der menschlichen K om ­
m unikation und ihrer Rolle in der Persönlichkeitsbildung, Stutt­
gart 1976.
119 Vgl. vom Verfasser: Wo sind wir, wenn w ir M usik hören? in: Welt­
fremdheit, Frankfurt 1993, S. 294-325; die Frage w ird do rt mit zwei
Lokalisationsformeln beantw ortet: einmal mit der dynamischen
»Im H inw eg und im Rückweg«; ein andermal mit der harm onika-
len »In der Resonanz«.
Nobjekte und Unbeziehungen 303
;ekommen ist so wird von ihr weiter unter im 7 . Kapitel
die Rede sein. Im Licht seiner Forschung wird nicht zuletzt
der mediale Charakter des Fruchtwassers erkennbar, das
Schallwellen zu Vibrationen von auditiver und gesamtkör­
perlicher Relevanz transformiert; mehr noch scheint aber die
Schallübertragung durch Knochen von Bedeutung.) Macho
akzentuiert seinerseits weniger das fötale bonding durch die
Mutterstimme als vielmehr das unmittelbar nachgeburtliche
Selbsterlebnis des Neugeborenen beim Gebrauch der Eigen­
stimme, die als ein vokal-magisches Medium die Verbindung
zur Mutter außerhalb der Leibeshöhle sicherstellt; sie bietet,
gleichsam als akustische Nabelschnur, einen Ersatz für die
verlorene umbilikale Verbindung; Macho betont, daß dieses
Sich-Zusammenhören in der extra-uterinen Dyade die me­
diale Keimzelle aller Gemeinschaftsbildungen bleibt und daß
Verbindung zu Anderen durch akustische Nabelschnüre das
zentrale Prinzip psychosozialer Synthesis darstellt.120 Zu­
gleich bildet sich im Kind beim Hören der eigenen Stimme
ein prä-oraler medialer Ich-Kern aus; im Schreien, Krähen,
Plappern, Wortemachen beginnt die lebenslange Geschichte
der Vermittlungen des werdenden Subjekts mit sich selbst
und seinen vokalen Extensionen; in ihm darf man den archai­
schen Erzeugungspol von Musik und Sprachkunst sehen.
Darum ist bei Macho von einer vokal-auditiven Phase im
prä-oralen Raum die Rede.121 Aber weil Stimmen keine Ge­
genstände sind, ist es unmöglich, zu ihnen in dem »Verhält­
nis« zu stehen, das durch das Wort Beziehung ausgedrückt
wird. Stimmen erzeugen akustische Glocken von sphärisch-
120 Ähnlich die Ausführungen vom Verfasser über Musik in modernen
Massenmedien und tonalen Populism us in: Technologie und W elt­
management. U ber die Rolle der Inform ationsm edien in der Syn­
chronweltgesellschaft; in: P. SL, M edien-Zeit. D rei gegenwartsdia­
gnostische Versuche, Stuttgart 1993, S. 67-105, bes. 99ff.; vgl. auch
unten den Exkurs 8, A nalphabetenwahrheiten. N o tiz über oralen
Fundamentalismus, S. 532ff.
121 Macho, Zeichen (s. Anm. 116), S. 237.
3°4 Exkurs 2

präsentischer Ausbreitung, und der einzige Modus der Teil­


habe an stimmlichen Präsenzen ist als In-Sein in der aktuel­
len Sonosphäre zu beschreiben;122 auch die vokale Nabel­
schnur ist, wie die physische, von nobjektaler Struktur.
Tauschen Mutter und Kind im direkten Zärtlichkeitsspiel
vokale Botschaften miteinander aus, so ist ihre Wechselbe­
ziehung die perfekte Selbstverwirklichung einer intim-aku­
stischen bipolaren Sphäre.
3. Als dritte unter den neu zu konzipierenden prä-oralen
Phasen nennt Macho die respiratorische. Tatsächlich ist der
erste außenweltliche Partner des neugeborenen Kindes - vor
allen Neu-Kontakten mit der mütterlichen Hautkörperflä­
che - die Atemluft, die nun als Nachfolge-Element das ver­
lorene Fruchtwasser ersetzt. Auch die Luft ist eine mediale
Größe und als solche niemals in Objektausdrücken zu be­
stimmen. Außermütterliches In-der-Welt-Sein bedeutet für
das Kind zuerst und zuletzt: In-der-Luft-Sein und an der
Fülle dieses Mediums - nach einer Episode initiatischer
Atemnot - kampflos teilnehmen. Die Luft, wie sie sich in der
ersten Erfahrung mitteilt, besitzt unmißverständliche Nob-
jektqualitäten, da sie dem Subjekt im Werden eine erste Mög­
lichkeit von Selbsttätigkeit in respiratorischer Autonomie
gewährt, ohne doch je als ein Ding, mit dem eine Beziehung
einzugehen wäre, in Erscheinung zu treten. Es ist kein Zufall,
daß bis vor kurzem kein Psychoanalytiker - den verspäteten
Fluidisten Wilhelm Reich ausgenommen - zu dem Komplex
Luft, Atem und Selbst Zitierenswertes zu sagen hatte,123
wohl deswegen nicht, weil schon die einfachste Atem-Ana-
122 Vgl. Michael Hauskeller, A tm osphären erleben. Philosophische
U ntersuchungen zur Sinneswahrnehmung, Berlin 1995, besonders
das Kapitel III, 2 »Der G ehörraum «, S. I 0 2 f f .
123 Freuds eigene Hinweise im Zusammenhang mit der Analyse von
A ngst und hysterischer Atem not kom m en wegen ihrer Schmalbrü­
stigkeit als Sockel einer psychologischen A tem -Theorie nicht in
Betracht; vgl. Studienausgabe, Band VI, H ysterie und Angst,
Frankfurt 1982, S. 3off., 46, 149F, 231, 273.
N objekte und Unbeziehungen 3°5
■vse die fundamentale Unangemessenheit des Redens in Ob-
ekt-Beziehungsausdrücken offengelegt hätte.124 Gerade der
elementarste mediale Prozeß, zu seinen eigenen Bedingun­
gen begriffen, hätte die psychoanalytischen Prätentionen
und Begriffsgewohnheiten ins Leere laufen lassen. Macho
schließt seine Überlegungen mit der Feststellung, daß die
Psychoanalyse selbst in ihrer Theoriesprache eine Gefangene
der altabendländischen Grammatik geblieben sei, auch wo
sie in ihren Begegnungs-Arrangements längst Gründe ent­
deckt hätte, die scheinbaren Subjekt-Objektbeziehungen in
mediale Prozesse aufzuheben. Erst nach einer grundbegriff-
dchen Revision könnte die Psychoanalyse - immer noch die
ihrem theoretischen wie therapeutischen Potential nach in­
teressanteste interpersonale Nähe-Praxis in der modernen
Welt - sich auch in einer angemessenen Nähe-Sprache dar­
stellen. Von da an könnte sie offen aussprechen, daß jede
Beseelung ein Medienereignis ist - und daß alle seelischen
Störungen Teilhabeverzerrungen sind, man könnte sagen
Medienkrankheiten. Die Fixierung an die Objekte ist selbst
die logische Matrix der Neurose. Unnötig zu erklären, wel­
che Zivilisation es ist, die an ihr wie keine andere leidet.

124 Die erste zitierfähige Ä ußerung zum Thema stammt u. W. aus jü n ­


gerer Zeit: Jean-Louis Tristani, Le stade du respir, Paris 1978; wie
der Titel verrät, geht der A utor auf eine Revision der psychoanaly­
tischen Phasenlehre durch Einführung eines eigenständigen Atem-
Stadiums aus.
Die Klausur in der Mutter 3°7

'as ist, nach dem Gesagten, unter negativer Gynäko­


W logie zu verstehen? Sie ist in erster Linie ein Verfahren,
;ewiß zu machen, daß die Frau und ihre Organe in keine
Objektivität eingehen. Negativ oder philosophisch ist eine
Gynäkologie dann, wenn sie einen doppelten Verzicht
iurchhält: auf die naheliegende Möglichkeit, die Vulva in äu­
ßerer Draufsicht als Gegenstand zu konzipieren (gynäkolo-
;ische und pornographische Vulvogramme); und auf die nie
;anz inaktuelle Versuchung, die Vulva wieder initiatisch als
Tor zur Innenwelt zu passieren (Para-Metaphysik und my­
stischer Holismus). Sind diese beiden Haltungen und Auf-
tassungsweisen ausgeschaltet, so läßt sich auch an der weib-
ßcheti Nicht-Öffnung ohne Mühe ihr Nobjektcharakter
deutlich machen. Sie ist das Nicht-Ding, das von jedem auf
natürlichem Wege geborenen Individuum in einer einzigen
Ereignissequenz in Erfahrung gebracht wird; sie ist das enge
Ur-Etwas, das es nur einmal und in einer unwiederholbaren,
dramatisch gedehnten Szene »gibt«. Was die beobachtende
Intelligenz vor der Höhle als das weiche weibliche Organ an­
sieht, das erlebt die eingedrungene Hälfte, wenn sie wieder-
^eboren werden will, als eine Geberin der ungeheuerlichsten
Härte. In der Nobjekt-Auffassung ist das objekthaft genom­
men scheinbar bekannte, überschaubare, sympathische und
nachgiebige Organ ein Entscheidungstunnel, in dem der Fö­
tus motiviert wird, sich zusammenzuraffen, um ein schlecht­
hin Durchbrechendes, ein Ich-komme-Projektil zu werden.
Als Medium gedacht, vermitteln Geburtskanal oder Vulva
dem Subjekt im Kommen die präsente Erfahrung, daß eine
undurchdringliche Wand existiert, die zugleich auch eine
Öffnung sein muß; die Öffnung ist eine Funktion des Anren­
nens gegen die Wand. Die Aussichtslosigkeit des Vor-der-
Wand-Stehens geht für den Ankömmling direkt in die N öti­
308 Kapitel 4

gung über, durch die Wand zu brechen. Als Nobjekt ist die
Vulva die Mutter des Granits. Es ist im Augenblick des
Kampfes evident unmöglich, die Wand zu durchdringen,
aber indem sie irgendwie doch, in extremis, durchquert wird,
erlebt sich der Initiand, der hinausgeht, als den härteren, den
steinbrechenden Stein. Geboren werden heißt für die mei­
sten Geborenen über eine Wand triumphieren.
Das oben vorgeschlagene Arrangement, den Höhlenfor­
scher in zwei Hälften zu spalten, von denen die eine im
dunklen Inneren sich experimentell auflöst, während die an­
dere außen die Tagesweltanschauung festhält, scheint unmit­
telbar dazu geeignet zu sein, Nobjekt-Forschungsergebnisse
aus erster Hand zu gewinnen; es fingiert etwas, was die Psy­
chologie nicht voraussetzen darf: das Vorkommen eines be­
schreibungsmächtigen Fötus. Der eingedrungene Teil wäre
dann eine erlebende Sonde in aktueller Mutterleibsversen­
kung; sie dürfte nur nicht schweigend im Erleben aufgehen,
sondern müßte, unterstützt vom außen wachenden Teil, als
Phänomenologin ihres In-der-Höhle-Seins - heideggerisch
gesprochen: ihrer Noch-nicht-Geworfenheit - intellektuell
satisfaktionsfähig bleiben.

Chinesische Überlieferungen aus der Blüte des Taoismus


bieten für die paradoxe Position des Zugleich-innen-und-
außen-Seins ein eminentes Beispiel. Die im Westen fast un­
bekannte Legende über die Geburt des Meisters Lao Tzu
illustriert vollkommen das Phantasma einer Schwanger­
schaft, die zugleich eine Reifezeit innerhalb und ein Studium
außerhalb der Höhle einschließt. Nach altchinesischer Auf­
fassung bedeutet die Einnistung des Kindes im Mutterleib
bereits die eigentliche Geburt des Menschen; die intraute­
rine Zeit wird daher zur Lebenszeit des Menschen hinzuge­
zählt; Neugeborene gelten als Einjährige. Die zehn Mond­
zyklen der intrauterinen Nacht bilden das Äquivalent zu
einem Sonnenjahr. Zudem stellt das innere Leben ein pro-
Die Klausur in der Mutter
3〇 9

»Die Entstehung des Neugeborenen«: Meditationsbild der taoistischen


Alchemie. Durch die Vereinigung von k'an und li entsteht ein Embryo, der
die von Taoisten geschaffene unsterbliche Seele bezeichnet.

portionales Äquivalent zur äußeren Existenz dar: Weil die


Tragzeit der Mutter ein Modell der realen Lebenszeit vor­
gibt, legt ihre Dauer das Maß für das Dasein in der Außen­
welt fest. Zehn Monde entsprechen der Lebensspanne eines
gewöhnlichen Menschen; die göttlichen Helden verweilen
310 Kapitel 4

zwölf, die großen Weisen achtzehn Monate im Mutterleib.


Das Innenwelt-Leben Lao Tzus, das mit einundachtzig Jah­
ren berechnet wird, entspricht einer mit Himmel und Erde
selbst ausdehnungsgleichen Langlebigkeit - es ist der volle
Zyklus der Weltzeit als Tragzeit.125 In allem geht nach taoisti-
scher Lehre - von Tschuang Tzu häufig ausgesprochen - das
Innere dem Äußeren voraus. Leitbild der taoistischen Göt­
tersphäre ist das Wahre Eine, das als unsterblicher Embryo
das Land, das Innen heißt, bewohnt. In vielfältigen Variatio­
nen berichten theogonische Erzählungen vom Vorleben des
Lao Tzu in seiner Mutter Li, die seit dem 4. Jahrhundert den
Beinamen Mutter Pflaumenbaum, Jadetochter vom Dunklen
Glanz trägt.126 Der Sinologe Kristofer Schipper hat in seiner
sympathetischen Studie über die mystische und soziale Phy­
sik des Taoismus eine Version des Lao-Tzu-Geburtsmythos
wiedergegeben, die er im August 1979 in Taipeh nach der
mündlichen Erzählung eines 74jährigen taoistischen Mei­
sters aufgezeichnet hatte.
»Es gab eine Frau, die zum Clan der Reinen gehörte.
Der Alte Herr (d. h. Lao Tzu vor der Empfängnis) trug
damals noch keinen Namen. Man kann sagen, daß am
Anfang eine Inkarnation geschah, eine Inkarnation in
einer keuschen Frau. Sie hatte keinen Ehemann, aber
sie wurde schwanger, nachdem sie einen Tropfen vom
>süßen Tau< geschluckt hatte.127 Ihr Bauch wurde dick,
was bedeuten will, daß sie bei Tag schwanger war;
während der Nacht war dies nicht der Fall, denn zu
dieser Zeit verließ der Alte Herr ihren Körper, um das
Tao zu studieren, und währenddessen war er nicht da.

125 Vgl. Kristofer Schipper, Le corps taoiste, corps physique - corps


social, Paris 1982, S. 161.
126 Vgl. ibid., S. 162 und 301L
127 Vgl. Tao te king Kap. 32: »Wenn Him m el und Erde sich vereinigen,
erzeugen sie den süßen Tau.« Kanlu, süßer Tau, ist der chinesiche
N am e für Ambra.« (Anm. Schipper)
Die Klausur in der Mutter

Der Alte Herr, das war nicht irgendwer! Obwohl er


sich als Embryo im Bauch seiner Mutter verkörpert
hatte, wollte er mit seiner Geburt warten bis zu einem
Tage, an dem es in der Welt weder Geburt noch Tod
gäbe. So wartete er über achtzig Jahre, ohne erscheinen
zu können.
Der Gott der Hölle und der Gott des Himmels unter­
hielten sich nun und sprachen: >Es geht um die Inkar­
nation der Konstellation des Schicksals. Wie könnte
man zulassen, daß sie nicht zur Welt kommt! Laßt uns
einen Tag auswählen, an dem wir dafür sorgen, daß es
an ihm weder Geburt noch Tod gibt, dann wird er an
diesem Tag zur Welt kommen können.«
Es war dies der fünfzehnte Tag des zweiten Mondes.
An diesem Tag wurde der Alte Herr geboren. Er kam
durch die Achsel seiner Mutter zur Welt (vgl. die Ge­
burt des Gautama Buddha durch die mütterliche
Hüfte, P. Sl.). O, in diesem Moment waren seine Haare
und sein Bart ganz weiß, und da er schon laufen
konnte, machte er sich auf der Stelle davon.
Seine Mutter sagte zu ihm: >Du! mein altes Kind!
warum läufst du weg, ohne mir zu erlauben, dich an­
zusehen? Warum, kaum daß du geboren bist, gehst du
schon fort? Ich könnte dich später nicht einmal wie­
dererkennen!« Da drehte er sich plötzlich um, mit we­
hendem Bart und fliegenden Haaren. Als seine Mutter
ihn sah, wurde sie von Furcht ergriffen, wurde ohn­
mächtig und starb auf der Stelle.
Er aber ging weiter immer geradeaus, ohne stehenzu­
bleiben, bis zu einem Hain von Pflaumenbäumen. Dort
lehnte er sich gegen einen Stamm und sagte zu sich:
>Ich kenne weder meinen Namen noch meine Familie.
Ich lehne mich an diesem Baum, am besten wird es sein,
ich nehme ihn als Familiennamen. Wie heiße ich?
Meine Mutter rief mich altes Kind, folglich ist mein
312 Kapitel 4

Name Lao Tzu.< Alter Herr nämlich ist ein Respekts­


titel; sein wirklicher Name lautet >altes Kind<.«128
Skandalgeschichte und initiatische Erzählung: Schippers
Charakterisierung des Mythos weist auf seine intim beleh­
rende Funktion wie auf seine paradox in sich geschlungene
metaphysische Logik hin. Es würde eine umfangreiche Studie
erfordern, seine Implikationen auszuschöpfen: Lao Tzus Va­
terlosigkeit; die mystische Selbstbefruchtung der Mutter; die
heterologe Geburt durch die (linke) Achsel; die numerologi­
schen Implikationen der Zahl 81; die Geburtsverweigerung
und die Forderung nach einer geburts- und todlosen Welt;
das von den Göttern gewählte Datum; die sofortige Trennung
des alten Kindes von der Mutter; deren Schrecktod beim An­
blick des monströsen Sprößlings; die genealogische N ull­
punktsituation und die eigene Namengebung; der Bezug zur
Fruchtbaumkultur129 - dies alles würde neben manchem
anderen detaillierte erzähltheoretische, kulturhistorische,
kosmologische und religionsphilosophische Explikationen
fordern; wir beschränken uns auf zwei Aspekte der unge­
wöhnlichen Geschichte: das Motiv des gelehrten Embryos
und das Verhältnis von In-der-Mutter-Sein und Welterfah­
rung. Für beide ergibt sich unbemüht ein Bezug zu unserer
methodischen Finte, Mutterleibsimmanenz und äußere Be­
obachtung trotz der strikten Unmöglichkeit ihres gleichzei­
tigen Vorkommens miteinander zu verbinden. Was wäre der
fötale Student des Tao, der nachts aus der Mutter heraustritt,
um bei Tag in ihrem Bauch zu wohnen, anderes als eine prä­
zise Verkörperung der Vorstellung, daß es möglich sei, den
Unterschied zwischen Innensein und Außensein in einer
Einheit höherer Stufe zu überwinden? Sieht man näher zu, so
erweist sich der Hinweis auf Lao Tzus nächtliche Studienaus­
flüge aus der Mutter als einheitsmystische Denkfigur: Sie
128 Ibid., S. 162-163, Ü bersetzung vom Verfasser.
129 D er Ü berlieferung zufolge soll auch Konfuzius aus einem hohlen
Pflaumenbaum geboren sein, vgl. Schipper, ibid., S. 309.
Die Klausur in der Mutter 313

macht deutlich, daß der göttliche Weise nicht durch äußere


Zeugung ins Mutterinnere gelangt sein kann; was als Leib der
Mutter erscheint, ist seines Einwohners eigene Schöpfung.
Die Differenz von Innen und Außen fällt ihrerseits in Lao
Tzus Innen: Das Kind ist es, das Mutter und Kind in sich ent­
hält - nicht umsonst heißt Lao Tzu das Alte Kind, das Fötus
und Kosmos in einem darstellt. Wenn auch der Text nicht
ausdrücklich sagt, daß der Weise seine eigene Mutter sei, so
steuert doch die Erzählung ihrer immanenten Logik nach un­
mißverständlich auf diese These zu. Wer einundachtzig Jahre
im Mutterschoß zubringt, muß selber der H err der Innenwelt
sein; die äußere Mutter kann nur als Hülse und Supplement
erscheinen - daher auch ist die Trennung von ihr so leicht
vollzogen. Nach anderen Varianten des Mythos projiziert
tatsächlich Lao Tzu selbst die Mutter Li aus sich heraus, um
in die eigene Schoßform einzugehen. Wenn nach einundacht-
zigjähriger Gestation alles Äußere - auch der Tod - ins Innere
aufgenommen wurde und kein Ereignis aus dem Nicht-Inne­
ren mehr den vollkommenen Weisen überraschen kann, dann
darf die Mutter keine reale äußere Größe bleiben. Die mythi­
sche Handlung vollzieht sich in der Form einer paradoxen
Schleife; was die Mutter dem Fötus zu geben hat, ist nichts
anderes, als was der Fötus sich selber durch die Mutter gibt -
das ewige Innen-Sein-Können in einem todlosen, in sich
selbst kreisenden Sein. Der Weise wird geboren, um nicht
bloß als geborener Sterblicher zur Welt zu kommen; er geht
in einen Mutterschoß ein, um gerade nicht nur in einen kurz­
atmigen Menschenlebenszyklus einzugehen. Ähnlich schlei­
fenförmig paradox sind andere, hier nicht wiedergegebene
Varianten des Mythos geformt, in denen die kurze Phase der
Begegnung zwischen Mutter und Kind als eine Zeit darge­
stellt wird, in der Lao Tzu sich von der Mutter initiieren läßt
in eben jenes Geheimnis der Langlebigkeit, von der sein über­
dehnter Aufenthalt im Mutterleib doch schon zeugt. Das
gleiche Paradoxon erscheint noch einmal in dem Umstand,
3H Kapitel 4

daß Lao Tzu geboren wird an einem Tag, an dem es Geburt


und Tod nicht gibt - seine Geburt ist keine Geburt in die Au­
ßenwelt, und sein Heraustreten bleibt eine Bewegung in der
außenlosen Immanenz. Der taoistische Weise versteht sich
somit letztlich als eine trächtige Frau, die mit ihm selber
schwanger geht; das endliche Mütterliche gebiert aus sich das
unendliche Mütterliche, von dem es selbst die Ausgeburt ist.
Das Mütterliche besitzt die Kraft, den Unterschied von Au­
ßen und Innen selbst im Innen zu halten. Selbstbezügliche
Paradoxien dieser Art gehören zum logischen Formenschatz
aller metaphysischen Systeme, in denen das Unendliche in
endlichen Medien zur Erscheinung gebracht werden soll.
Auch der endliche Sohn Gottes, der um den See Genezareth
wandert, ist via Trinitätsparadoxie als sein eigener unend­
licher Vater bekannt geworden. Etwas massiver erscheint die­
ses Paradoxon in den Apokryphen zum Neuen Testament,
wo Jesus vor seiner Menschwerdung ein Engel unter Engeln
gewesen sein soll; als Erzengel Gabriel habe er seiner eigenen
Mutter die Verkündigung seiner Geburt gebracht.130 Wenn
der legendäre Christophoros das Jesuskind durchs Wasser
trägt, während das Jesuskind die ganze Weltkugel in seiner
Hand hält, so ergibt sich die ebenso paradoxe Frage, wohin
Christophoros beim Tragen seine Füße setzen soll, da der
Fluß, den er durchwatet, ohne Zweifel ein Teil der Welt in der
Hand des Kindes auf seiner Schulter ist.

Der Taoismus gelangt - sofern diese knappen Andeutungen


so weite Folgerungen tragen - wenn nicht zu einer negativen,
so doch zu einer polaritätsphilosophischen Gynäkologie.
Seine weltbildlichen Abstraktionen sind noch nicht bis zur
Unsichtbarmachung der Dyade getrieben. Selbst in seinen
sublimsten Begriffen von Einheit bleiben die bipolare Ver­
mittlung und die Wechselbeseelung von Kind und Mutter

130 Epistula A postolorum 13, 14.


Die Klausur in der Mutter 315
leitmotivisch präsent. Aus seiner Ontologie der Mutterleibs­
immanenz leitet er jene Ethik der Feminisierung ab, für die
er in jüngerer Zeit auch im Westen bekannt geworden ist.
»Das Männliche kennen, und doch das Weibliche bewahren,
das heißt zum Tal der Welt werden.« {Tao te king, Kap. 28)
Dem Inneren gegenüber verhält er sich freilich eher evokativ
als forschend. Der gelehrte Embryo, der sich nachts aus der
Höhle davonmacht, um das Tao zu studieren, erforscht nicht
so sehr die kleine dunkle Eigenhöhle, sondern das große
Runde, das die gelichtete Welthöhle ausmacht. Wollen wir
psycho-physiologisch Konkreteres über das Sein in der en­
gen, ungelichteten Höhle in Erfahrung bringen, müssen wir
uns nach Erkenntnissen umsehen, die andere Forscher, am
Höhleneingang und im Inneren, zutage gebracht haben.

Unter den Pionieren der jüngeren psychognostischen H öh­


lenforschung ragt der Psychosentherapeut und Psycho­
analytiker Ronald D. Laing (1927-1989) hervor; er erwarb
sich seinen Ruf als Avantgardist der psychologischen Theo­
riebildung durch die radikale Entgrenzung des psychogene-
tischen Modells in Richtung auf ultratiefe Quellen psychi­
scher Störung; in seinen berühmten Knoten-Modellen
beschrieb er interpersonale Nähe als Spindeln oder Wirbel
von ineinandergreifenden Erwartungen und Erwartungser­
wartungen - das absurde Theater der Intimität. Als Thera­
peut beeindruckte er seine Zeitgenossen durch die selbst­
gefährdende Entschlossenheit, psychisch Kranke bis in
extremste Zustände zu begleiten. Zur Höhlenforschung war
Laing vor allem disponiert, weil er den Weg nach innen nicht
nur als Glückssucher betrat; die Höhle war für ihn nicht so
sehr ein Ort, wo das Denken in Befriedigung endet; sie be­
deutete für ihn ebenso eine Quelle, aus der ältester Schmerz
und früheste Verstimmungen in die Gegenwart des gestörten
Lebens einfließen können. (Woraus die erkenntnisethische
Maxime folgt: Die Analyse geht weiter als die Erleuchtung.)
3i 6 Kapitel 4

Die existentielle Verlegenheit, daß der Forscher naturge­


mäß keinen Zugang zur Höhle der Vergangenheit mehr be­
sitzt, versuchte Laing durch die Methode der freien regressi­
ven Assoziation auszubalancieren. Er analysierte die Höhle
auf indirekte Weise, indem er gegenwärtige mentale Spuren
des In-ihr-gewesen-Seins als Hinweise auf die Originalsitua­
tion las und sie zu theoretischen Vorstellungen ausarbeitete;
sein Verfahren ist dem der psychoanalytischen szenisch-au­
tobiographischen Explorationstechnik nachgebildet. In dem
berüchtigten 5. Kapitel von The Facts o f Life aus dem Jahr
1976, das von dem Leben vor der Geburt handelt, hat der
Autor ein Drei-Phasen-Schema entworfen, das ohne Rück­
sicht auf äußere Dauer ein Übergewicht der Innenphasen er­
zeugt. Nach Laings Konzept fallen zwei von drei Akten des
Lebens »Zyklus« in die vorgeburtliche »Existenz«. Unsere
Zitate werden Anlaß geben zu der Bemerkung, daß der Bür­
gerkrieg zwischen Philosophie und gemeinem Verstand, der
spätestens seit der Gründung von Platons Akademie den
geistigen Haushalt der okzidentalen Zivilisation skandiert
hatte, nach seinem scheinbaren Abflauen im 20. Jahrhun­
dert als Bürgerkrieg zwischen der Tiefenpsychologie und
der Vulgärontologie wiederkehrt. Ideengeschichtlich stehen
Laings Spekulationen offenkundig der Gegenkulturbewe­
gung und dem Orientalismus der sechziger Jahre nahe.

» A b s c h n i t t e in me i n e m Le b e n
A von der Empfängnis zur Nidation
B von der Nidation zur Geburt
C Leben nach der Geburt
M0 Mutter vor der Empfängnis
M, Mutter von der Empfängnis zur Nidation
M|, Mutter von der Nidation bis zur vollendeten
Geburt
M2 Mutter nach der Geburt
Die Klausur in der Mutter 317
Es scheint eine unserer großen Aufgaben, uns klarzu­
machen, daß M 0 = M , = M 2
Haben wir einen genetischen geistigen Plan für unse­
ren gesamten Lebenszyklus mit seinen verschiedenen
Abschnitten - geistige Muster, die biologische For­
mungen und Umformungen widerspiegeln?
Glaubhaft scheint mir zumindest, daß in unserem mit
der ersten Zelle beginnenden Lebenszyklus unsere
ganze Erfahrung von Anfang an absorbiert und gespei­
chert wird, vielleicht sogar vornehmlich am Anfang.
Wie sich das abspielen kann, weiß ich nicht.
Wie kann eine einzige Zelle die Milliarden und Aber­
milliarden von Zellen hervorbringen, aus denen ich
heute bestehe?
Wir sind unmöglich, nur ist da eben die Tatsache, daß
wir sind.
Wenn ich embryologische Abschnitte in meinem Le­
benszyklus ansehe, empfinde ich so etwas wie sympa­
thetische Schwingungen, die mir heute anzeigen, wie
ich nach heutigem Empfinden damals empfand.
Fotografien, Illustrationen oder Filme von frühen em­
bryologischen Abschnitten aus unserem Lebenszyklus
wecken oft sehr starke Gefühlsregungen.
Angenommen, du würdest jetzt sterben
und heute nacht neu empfangen werden:
für welche Frau würdest du dich entscheiden? In
welchem Leib würdest du die ersten neun Monate dei­
nes nächsten Lebens zubringen wollen?
Daß viele Menschen ähnliche und oft starke sympathe­
tische Schwingungen (Resonanzen, Widerhall) spüren,
wenn sie sich unbedacht der Vorstellung überlassen,
wie sie von der Empfängnis bis zur und während der
Geburt und frühen Kindheit empfunden haben könn­
ten, ist eine Tatsache,«131
131 Ronald D. Laing, Die Tatsachen des Lebens, deutsche Ausgabe
M ünchen 1990, S. 38.
3j 8 Kapitel 4

Laings Meditation über die Form des Lebenszyklus ähnelt


in wichtigen Aspekten der altchinesischen Auffassung: Vor
allem seine Insistenz darauf, daß dieser Zyklus nicht erst mit
der Geburt beginne, sondern schon mit der Empfängnis, gibt
dem Höhlenjahr seine Würde als prägendem Introitus jeder
biographischen Gesamtform ausdrücklich zurück. Die N i­
dation - Einnistung der befruchteten Eizelle im Uterus -
müßte demnach als Urereignis der Lebensgeschichte ernst
genommen werden, auch wenn niemand zu sagen wüßte, ob
es an ihm eine erlebte Seite und deren projektive Wiederho­
lung in späteren Erlebnissen geben kann. Man kann dies le­
sen, als wolle Laing durch seine Einbeziehung des Frühesten
aus dem Komplott gegen das Ungeborene austreten, an dem
fast alle gesellschaftlichen Instanzen der Moderne, ein­
schließlich der Frauen, die Abtreibungen zur Selbstverständ­
lichkeit machen möchten, auf direkten und indirekten
Wegen teilhaben. Weniger taoistische als platonisierende Fi­
guren klingen in Laings Auffassung mit, daß von der ersten
Zelle ausgehend in uns ein Gesamtgedächtnis aller Zustände
und Veränderungen aufgebaut werde; die starken Gefühle,
die bei unwillkürlichen Berührungen mit Embryonalmoti­
ven in Menschen aufkommen können, haben daher nach
Laing Reminiszenz-Charakter; sie sind ein Modus von
Selbsterfahrung im archaischen Material. Laings Attacke auf
die vulgäre wie die normalpsychoanalytische Weltanschau­
ung geht von seiner radikal monadologischen Zumutung aus,
den Lebenszyklus als Bildungsroman der Eizelle zu verste­
hen. Diese ist, Laing zufolge, nicht a priori in einer Innenwelt
geborgen, sondern muß sich ihre geschützte Innenlage erst in
einem risikohaften Übergang erwerben.

»Nidation

Die Nidation war vielleicht so schreckenerregend und


so wunderbar wie die Geburt;
Die Klausur in der Mutter 319

Sie klingt in unserem ganzen Leben nach und schwingt


in unseren Erfahrungen mit
wenn wir eingesogen, mitgerissen, hereingezogen, her­
abgezerrt werden; wenn wir gerettet, wiederbelebt,
unterstützt, freundlich aufgenommen werden; wenn
wir irgendwo einzudringen versuchen und doch aus­
gesperrt bleiben; wenn wir vor Müdigkeit und Er­
schöpfung umkommen; wenn wir außer uns sind, hilf­
los, impotent usw....
... Um meine These kurz zusammenzufassen: die Ge­
burt ist eine Umkehrung der Nidation, und der Emp­
fang, den einem die postnatale Welt bereitet, erzeugt in
uns eine sympathetische Resonanz unserer ersten Auf­
nahme in unserer pränatalen Welt.« (S. 47-48)

Laings Interesse gilt nicht nur, wie es nach diesen Zitaten


scheinen mag, einer historischen Monadologie - dem Epos
von den Schicksalen der Einheit Ei; die Geschichte des Eies
ist darüber hinaus die Geschichte seiner Einbettung in einem
prä-objektiven Raum schlechthin.

»Die Welt ist mein Mutterleib, und der Leib meiner


Mutter war meine erste Welt.
Der Mutterleib steht am Anfang der Reihe
von Zusammenhängen
Behältern
allen Dingen, in denen man ist:

ein Zimmer
ein Raum
eine Zeit
eine Beziehung
eine Stimmung
320 Kapitel 4

alles, was einen umgibt, was in der Nähe ist


jeder,132 den ich in meiner Nähe spüre
meine Atmosphäre
meine Umstände (a'r«<mstances)
meine Umgebung
die Welt.133 (S.45-46)

Ausgehend von solchen assoziativen Notizen über das Ent-


halten-Sein in Umgebungen, skizziert Laing ein delirantes
Diagramm, das den Mythos von der Geburt des Helden -
nach O tto Ranks berühmter Untersuchung - auf das Ei als
zellulären Heros bezieht. Hierbei hört der Autor auf, Sach­
verhalte in wohlgeformten Sätzen zu behaupten; er bedeckt
das Blatt vor sich mit Wortlisten, Einzelwörtern und Blök-
ken, die durch ihre Lage auf der Seite so etwas wie Sachbe­
züge andeuten. Am ehesten lassen sie sich von links nach
rechts als Parallelen lesen.

»Ke i mbl a s e

Shelleys Kuppel aus buntem Glas, die dem weißen


Glanz der Ewigkeit Farbe verleiht?
eine geodätische Kuppel fliegende Untertasse
eine Kugel Sonnengott
ein Ballon Fußball
der Mond
eine Raumkapsel

132 Eine Frau sagt: M e in Vater w ar zw ar da, aber er w ar nie in der


Nähe.« (Anm. Laing).
133 »So wie ich das sehe, gibt es nie etwas anderes als den M utterleib...
In der Unfähigkeit, die Welt als M utterleib zu erkennen, liegt zum
großen Teil die Ursache unseres Elends.« H enry Miller, The Enor-
mous Womb, in The W isdom of the H eart, N ew York (N ew Direc-
tions Publishing C orp.) i960, S. 94. (Anm. Laing).
Die Klausur in der Mutter 3^1

die Zygote und Keimblase in der Zona pellucida


Zona Pellucida eine Schachtel
ein Kästchen
ein Korb
ein Schwan
Eileiter das Wasser der Ozean ein Fluß
Weg durch den Eileiter Zeit im Ozean oder in den
zur Nidation im Mutterleib Wellen eines Flusses bis
zur Rettung durch Tiere oder
Schäfer usw.
deshalb die Empfängnis in Mythen die Geburt
Weg durch den Eileiter in einer Schachtel oder
einem Kästchen dem Meer oder einem Fluß
ausgesetzt sein
Nidation Adoption durch Tiere
Einbettung in der Gebär- oder einfache Leute
mutterschleimhaut (S. 46-47)
Ich überlege mir nicht, ob diese Entsprechungen >rich-
tig< sind, falls das ein empfindlicher Punkt sein sollte,
sondern nur, daß es sie wirklich gibt. Ich habe von
ihnen allen gehört oder gelesen und bin auch selbst auf
sie gestoßen, bevor oder nachdem ich von ihnen gehört
oder gelesen hatte.
Gibt es möglicherweise eine Plazenta-Nabelschnur-
Uterus-Entwicklungsphase, die der mammal-oralen
Phase vorausgeht?« (S. 59)

Wir haben so ausführlich zitiert, um zumindest an einem Bei­


spiel Laings Schwankungen zwischen Normalargument und
träumerischer Assoziation zu illustrieren. Seine Höhlenson­
dierungen arbeiten nicht nur mit den bekannten Mitteln der
psychoanalytischen Affekt-Erinnerungen; wer Laings Pro­
zedur in seinem theoretisch-autobiographischen Experiment
als kreative Projektion einer archaischen Raumauffassung be­
wertet, kann zu der Deutung gelangen, daß die assoziativen
322 Kapitel 4

Listen auf den locker beschrifteten Blättern selbst in einer


quasi-repräsentativen Beziehung zu ihrem amorphen Gegen­
stand stehen. Sie machen deutlich, daß es dort, von wo der Au­
tor zu reden versucht, keine wohlgeformten Sätze gibt; das in­
tra-uterine Wachträumen kennt keine Zeilen; noch ist alles,
was zum Syntaktischen gehören wird, nur eine ferne Ahnung.
Das fötale Sein-im-Raum wird tatsächlich besser durch ein
aufgelöstes, satzloses Schweben von Kernwörtern in einer
Blase als durch Diskurse wiedergegeben. Indem sich Laing
schreibend exzentrisch in die fötale Position hineinträumt,
entsteht in seinem Denken eine schöpferisch vage Löslichkeit;
sein Text zielt auf ein Schweben im Raum ohne Verben und
ohne These - auf eine Traumzeit der Vernunft, in der das Mög­
liche das Wirkliche in sich resorbiert. Tagtraumhaft gleiten
Wörter über die Seiten, einem amorphen Text vor allen Texten
zugehörig. Es scheint somit, als komme dem biographisch­
spekulativen Tagtraum selbst eine fötalitäts-mimetische Qua­
lität zu. Nichts wird in ihm wirklich behauptet, kein System
wird gebaut, kein Satz ins Wirkliche abgeschickt; das Nach­
denken bleibt ganz in jener Möglichkeitsförmigkeit, von der
sich formierte Diskurse abstoßen, um etwas zu sagen; zu ihr
streben die Dekonstruktionen zurück. Von dem, was gesagt
werden könnte, ist nicht mehr gegeben als ein semantisches
Plasma - der Traum von einem wahren Zusammenhang, der,
als These erscheinend, schon gewiß ein falscher wäre.
Dürfte man aus Laings Höhlen-Tagtraum-Versuch Auf­
schlüsse über die N atur seines Gegenstandes ziehen, so wäre
als ein erster Befund von ihm soviel abzulesen: Die Höhle ist
ein Behälter, in den der Bewohner nur als Eindringling ge­
langt. Das uterine Eigenheim muß selbst erst in einer gewag­
ten Annäherung bezogen werden. Die Frage, ob Nidations­
verläufe, mögen sie sanft oder problematisch sein, eine Spur
im Erlebten erzeugen können, ist selbstverständlich unent­
scheidbar; ohne eine Neigung zu einem gewissen Eizellen-
Platonismus könnte nicht einmal die Frage gestellt werden.
Die Klausur in der Mutter 323

Nach der Einnistung aber bedeutet Intrauterinität Freiheit


von Drama und Entscheidungsnot. Der Aufenthalt im Schoß­
inneren hat von da an bis in die finale Engezeit durchweg den
Charakter des Schwebenden; der Fötus ist in träumerische,
doch tendenzhaft vorwärtsträumende Unentschiedenheit ge­
taucht. Für ihn gibt es noch keinen »Aberglauben ans Vorhan­
dene«; als Schwebewesen hält er sich am Nullpunkt der Sätze
- im neutralen Kern der schlummernden Verkettungen,
gleichsam präsyntaktisch souverän. Besäße der Fötus schon
ein Weltbild, so wäre sein Verhältnis zu ihm das der romanti­
schen Ironie; der stumme Souverän ließe jede Figur in ihren
Grund zerfließen; verfügte er schon über eine Logik, so wäre
es eine einwertige, die zwischen wahr und falsch sowenig un­
terschiede wie zwischen wirklich und unwirklich, ganz wie in
gewissen indischen Mythologien, in denen die Welt als Traum
eines Gottes erscheint: In dem phänomenalen Orkan von
Ereignissen, Lüsten und Leiden geschieht für den Gott im
Grunde nichts.134 Die fötale Befindlichkeit ist die einer »me­
dialen Indifferenz«;135 sie okkupiert eine Mitte llage, in der
sich eine beginnende Ausgedehntheit andeutet. Für den Fötus
der optimalen Schwebemonate ist S. Friedländers Aphoris­
mus wahr: »Indifferenz ist die conceptio immaculata der gan­
zen Welt.«136 In kinetischer Hinsicht bedeutet die fötale Be­
findlichkeit eine Schwebe, die dabei ist, dranghafte Schwere in
sich anzusammeln. Obwohl ganz in die mütterliche Klausur
eingeschlossen, wirkt in ihm eine prä-tendenziöse Schwel­
lung. Trotz mancher Nirvanazüge seiner Befindlichkeit sprie­
ßen Tendenzpfeile in ihm auf, die weltwärts zielen, vorsichti­
ger gesprochen etwaswärts. Durch dieses Auf-die-Welt-zu-
Brüten - wie auch durch eine erste schattenhafte Polaritäts­

134 Vgl. H einrich Zimmer, Maya - D er indische M ythos, Frankfurt


1978, S. 42h
135 S. Friedländer, Schöpferische Indifferenz, 2. Auflage, M ünchen
1926, S. 22.
136 Ibid., S. 352.
3 24 Kapitel 4

prägung im medialen Austausch mit inneren Nobjekten - ent­


zieht sich der Fötus, obwohl er vielleicht einige Attribute
des Göttlichen verwirklicht, den extremen Idealisierungen
der mystischen Theologien - etwa dem anspruchsvoll nega­
tiven Bild des Nirguna-Brahman, das der indische Logiker
Shankara gezeichnet hatte: das eines Gottes ohne Eigenschaf­
ten, der über einem Gebirge von Negationen thront. Mehr
noch widerspricht der fötale Alltag in seinem faden, leicht to-
nisierten sub-euphorischen Dunkelgrau den para-theologi­
schen Phantasmen mancher Psychoanalytiker, die es für klug
hielten, von einem fötalen »Ich-bin-der-Ich-bin« und von in­
trauterinen Allmachts-, Unsterblichkeits- und Reinheitsge­
fühlen zu schwärmen.137Mit solchen Träumereien verglichen
bietet Kasimir Malewitschs Schwarzer Kreis eine realistische
Momentaufnahme der fötalen Wirklichkeit. Was immer es
mit der Gleichung von Mutterleib und Nirvana auf sich haben
mag - von einem Zustand völliger Leere kann im Hinblick auf
das werdende Individuum zu keiner Zeit die Rede sein. Der
Fötus, mit dem die Mutter schwanger geht, ist seinerseits
schwanger mit seiner eigenen Tendenz, seinen Raum auszu­
füllen und sich in ihm zu affirmieren. Die Kindsbewegungen
mit ihren heiter-rätselhaften Katze-im-Sack-Impressionen
zeugen von diesem intrauterinen Expansionismus. Erst recht
verbieten die Erkenntnisse der jüngeren Forschung zur föta­
len Psychoakustik alle Illusionen über eine anfängliche Leere
an Erfahrung: Das Schwebewesen im amniotischen Gewässer
bewohnt einen akustischen Ereignisraum, in dem sein Gehör
einer ständigen Stimulation ausgesetzt ist.138
Für das tendenzhafte Wesen der fötalen Schwellung hat in
unserem Jahrhundert kein Autor so evokative Formulierun­
gen gefunden wie der expressionistische Schelling-Marxist

137 Bela Grunberger, N arziß und Anubis (s. Anm. 78), Band 2, S. 207.
138 Z ur fötalen Psychoakustik vgl. unten das 7. Kapitel, Das Sirenen-
Stadium, Von der ersten sonosphärischen Allianz, besonders
S. 511 ff.
Die Klausur in der Mutter 325

Ernst Bloch. Im generativen Zentrum seiner Reflexion wirkt


eine Wandlungsfigur von schwangerschafts-mimetischer
Qualität. Bloch sieht aus dem Dunkel des gelebten Augen­
blicks in jedem bewußten Leben Tendenzspannungen auf­
steigen, die auf Lichtung, Weltbildung und Befreiung in
Zuwendungen zum Konkreten zugehen. Seine berühmten
Auftakt-Lormeln sind gleichsam Parolen einer zum Spre­
chen gebrachten Totalität:

»AUS SIC H H E R A U S
Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir
erst.
Das Bin ist innen. Alles Innen ist an sich dunkel. Um
sich zu sehen und gar was um es ist, muß es aus sich
heraus. (Tübinger Einleitung in die Philosophie)139

ZU N A H E D A R A N
Ich bin also an mir. Doch eben, das bin hat sich nicht,
wir leben es nur dahin. Alles ist hier nur zu fühlen, leise
kochend, leicht brausend. Bei mir zu fühlen freilich,
indes auch dieses hebt sich noch kaum heraus. Alles
fast hält in diesem fühlend Dumpfen des bloßen Le­
bens noch an sich...

D R E H U N G IM B L IC K
Wir sehen jedenfalls nicht, was wir erleben. Was gese­
hen werden soll, muß vor uns gedreht w erden...
(Experimentum Mundi, Frage, Kategorien des Heraus­
bringens, Praxis)140

Liest man diese Vom-Dunkel-zum-Licht-Lormeln als peri-


natale Geburtsdrang-Liguren, so fällt an ihnen ein Numerus-
Lehler auf: In psychologischer Sicht bedeutet Zur-Welt-
139 Werkausgabe Band 13, Frankfurt 1985, S. 13.
140 Werkausgabe Band 15, F rankfurt 1985, S. 13.
326 Kapitel 4

Kommen gerade nicht die Bewegung vom Ich zum Wir, son­
dern die Zerlegung der archaischen Wir-Zwei-Einigen in das
Ich und seinen Zweiten bei gleichzeitiger Auskristallisation
des Dritten. Diese Zerlegung ist möglich, weil die Zwei-Ei­
nigkeit ihrer medialen Bedingtheit wegen immer schon drei­
stellig angelegt ist; die dyadische Trias wird in unverzerrten
Entwicklungen immer nur umbesetzt, konkretisiert, erwei­
tert, modernisiert:
1 Fötus - 2 (plazentares Blut/Mutterblut) - 3 Mutter;
1 Neugeborenes - 2 (Eigenstimme/Mutterstimme/
Muttermilch) - 3 Mutter;
1 Kind - 2 (Sprache/Vater/Mann der Mutter/) - 3 Mut­
ter.
Indem das Mittlere an Komplexität gewinnt, wächst das
Kind allmählich zum kompetenten Exponenten seines kultu­
rellen Systems heran. Die trinitarische Struktur der primären
Dyade ist aber von Anfang an gegeben. Was man in subjekt­
objektsprachlicher Verkürzung »Mutter und Kind« nennt,
sind ihrer Seinsweise nach immer nur Pole eines dynami­
schen Zwischen.

Es kann also, wie aus diesen Überlegungen folgt, im frühe­


sten psychischen Leben nichts geben, was als »primärer Nar­
zißmus« beschrieben werden dürfte. Zwischen dem Primä­
ren und dem Narzißtischen besteht vielmehr ein Verhältnis
strikter gegenseitiger Ausschließung. Die verworrenen Nar-
zißmus-Konzepte der Psychoanalyse sind vor allem ein Aus­
druck ihrer grundbegrifflichen Fehlanlage und ihrer Irre­
führung durch das Objekt- wie das Imagokonzept. Die
wirklichen Sujets der fötalen und perinatalen Primärwelt -
Blut, Fruchtwasser, Stimme, Klangglocke und Atemluft -
sind Medien eines prä-optischen Universums, in dem Spie­
gelkonzepte und deren libidinöse Besetzungen nichts zu
suchen haben. Die frühesten »Auto«erotismen des Kindes
sind eo ipso in Resonanzspielen und nicht in Selbstspiegelun­
Die Klausur in der Mutter 327
gen begründet. Gereifte Subjekthaftigkeit besteht darum
nicht in der angeblichenen Wende zum Objekt, sondern in
der Fähigkeit, innere und äußere Handlungen auf höheren
Medienebenen zu meistern; das schließt beim erwachsenen
Subjekt die libidinöse Genitalresonanz mit Liebespartnern
ein - was den wohltemperierten Abschied von den ältesten
Medien und ihre Aufhebung in die späteren zur Vorausset­
zung hat. Eine medientheoretisch reformulierte Theorie der
Sexualität hätte dies zu zeigen.

Bei unserer Exploration des bipolaren Intimraums haben wir


mit diesen Hinweisen auf die fötale Klausur in der Mutter
das Äußere des inneren Rings berührt. Von dem Gesagten
halten wir für das Folgende fest, daß durch die Grundregel
einer negativen Gynäkologie die Versuchung abgewiesen
werden muß, sich mit Außenansichten der Mutter-Kind-Be­
ziehung aus der Affaire zu ziehen; wo es um Einsicht in In­
timverhältnisse geht, ist die äußere Beobachtung schon der
Fehler. Das intime Atlantis läßt sich zwar nicht mehr dazu
bewegen, zum Zwecke seiner Erforschung wieder aus dem
Meer zu steigen; noch weniger ist es möglich, als Forscher di­
rekte Tauchfahrten zu unternehmen. Weil der verschollene
Kontinent nicht im Raum, sondern in der Zeit versunken ist,
stehen zu seiner Rekonstruktion nur archäologische Wege
offen - vor allem Spurenlesungen in emotionalen Altertums­
funden. Die aktuellen Atlantier, die neuen Föten, verweigern
die Auskunft. Doch dürfen aus ihrem Schweigen nicht länger
falsche Schlüsse gezogen werden. Man kann, indem man
werdendes Leben mit zarter Empirie beobachtet, versuchs­
hafte Umrisse ihres In-der-Höhle-Seins zeichnen.
328

Exkurs 3

Das Prinzip Ei
Verinnerlichung und Umhüllung

O m ne vivum ex ovo.
O m ne ovum ex ovario.
Eduard von H artm ann, Philosophie des
U nbew ußten141

uf dem Titelkupfer von William Harveys Tieratlas De


A .generatione animalium von 1651 erscheint die Hand
des Göttervaters Jupiter, auf der ein halbiertes Ei zu sehen ist:
soeben ist eine Vielzahl von Lebewesen ausgeschlüpft, dar­
unter ein Kind, ein Delphin, eine Spinne und eine Heu­
schrecke; Legende: ex ovo omnia. In der Geburtsstunde der
neuzeitlichen Biologie darf, wie zum letzten Mal, die Ur­
sprungsphilosophie Pate stehen bei der Publikation dessen,
was ihren Untergang erzwingt. Das Ovum der Biologen ist
nicht länger das Ei der Ursprungsmythologen; nichtsdesto­
weniger bemühen auch die beginnenden modernen Lebens­
wissenschaften das alte kosmogonische Motiv von der Ent­
stehung allen Lebens, ja der Welt insgesamt aus einem
ursprünglichen Ei. Durch seine magische Symmetrie und
seine quintessentielle Form hatte seit den Tagen der neoli-
thischen Weltbildschöpfungen das Ei als Ursymbol für die
Kosmisierung des Chaos gedient. An ihm ließ sich mit ele­
mentargedankenhafter Evidenz darlegen, daß geburtliche
Schöpfungen immer einen Zweitakt darstellen - zum einen
die Hervorbringung des Eies durch eine mütterliche Macht,
zum anderen die Selbstbefreiung des Lebewesens aus seinen
anfänglichen Hüllen oder Schalen. So ist das Ei ein Symbol,
141 Vgl. Eduard von H artm ann, Philosophie des U nbew ußten, 3. Band,
12. Auflage 1925, S. 350.
Das Prinzip Ei 329

Ausschnitt aus dem Frontispiz von William Harvey, De generatione anima-


lium, 1651

das von sich her lehrt, die bergende Form und ihre Sprengung
zusammenzudenken. Der Ursprung wäre nicht er selbst,
wenn nicht Entsprungenes von ihm frei würde. Aber er wäre
als Ursprung entmachtet, wenn er das Entsprungene nicht an
sich zurückbinden könnte; wo Sein durch Entspringen aus­
gelegt wird, dort hebt in letzter Instanz die Ursprungsbin­
dung die Freiheit auf. Unter dem para-metaphysischen
Formbedürfnis können die zerbrochenen Schalen nicht das
letzte Wort über die wahre Gestalt des Ganzen sprechen, und
so wird, was im einzelnen verlorengehen muß, im Großen als
330 Exkurs 3

Die Die Ur-Teilung innerhalb des Welten-Eies, Rajasthan/Indien, 18. Jahr­


hundert, Gouache auf Papier

unverlierbare Gesamthülle um Welt und Leben wiederherge­


stellt; die antiken Himmelsschalen wurden aufgerichtet als
kosmische Garanten dafür, daß das vereinzelte menschliche
Dasein auch nach seinem Auszug aus Hüllen und Höhlen
von unzerstörbaren Behältern umschlossen bleibt. Darum
bedeutet Dasein in klassischer Zeit nie schon Hineingehal-
tenheit in das Nichts,142 sondern immer nur den Umzug von
der engsten Hülle in die weitere Nähe.
Der Übergang von der Ursprungsmythologie zur Biolo­
gie des Eies bei William Harvey vollzieht sich nicht ohne ob­
jektive Ironie; für dies eine Mal ist es die Wissenschaft, die
bei der Bestimmung eines Gegenstands weiter geht und
überschwenglicher redet als der Mythos. Aus Harveys For­
schungen geht das Prinzip Ei überwältigend gestärkt, erwei­
tert, universalisiert hervor. Den Mythos entzaubern bedeutet
in dieser singulären Materie den Gegenstand in unerhörter

142 M artin Heidegger, Was ist M etaphysik?, 12. Auflage, Frankfurt


1991.S.35.
Das Prinzip Ei 331
Weise verallgemeinern. Obwohl Harvey kein hinreichend
starkes Mikroskop zur Verfügung stand, entwickelte er aus
einzelnen Beobachtungen die später triumphal bestätigte
Hypothese, daß sämtliche Embryonen von Lebewesen aus
Eizellen hervorgehen, von denen die meisten - anders als die
auffälligen Eier von Vögeln und Reptilien - unscheinbar, ja
sogar für das menschliche Auge unsichtbar sind. Mehr als
eine Generation nach Harvey führte der holländische Ama­
teurbiologe und Mikroskopbauer Anton van Leeuwenhoek
(1632-1723) den Nachweis, daß zahlreiche Kleinlebewesen
nicht, wie von alters her geglaubt, aus Spontanzeugungen in
verschiedenen kreativen Milieus entstehen, sondern aus win­
zigen Eiern, die ihre Mütter im Sand, im Getreide oder im
Schlamm abgelegt haben. Damit war der Mythos durch die
Wissenschaft überboten; dem Phänomen Ei wurde eine
Quasi-Universalität in der Ontogenese der geschlechtlich
vermehrten Lebewesen zugesprochen, von der selbst die Ur-
sprungsmythologen nicht zu träumen gewagt hatten. Mit
dem Prinzip Ei kommt das ontogenetische Motiv des Her-
vortretens von Lebendigem aus einem Inneren ins Freie erst
zu seiner äußerst möglichen biologischen Geltung. Als ein­
zige Zelle vermag das Ei auch außerhalb seines produzieren­
den Organismus zu überleben; es steht damit Modell für die
Idee der mikrokosmischen Monade. Das Verhältnis des Eies
zum Nicht-Ei präfiguriert alle Theoreme vom Organismus
in seiner Umwelt. Die späteren Monadologien und System­
theorien sind gleichsam nur Exegesen des Phänomens Ei.
Von dem Gameten Ei her gedacht wird jede Umwelt zum
spezifischen Um-Sein-für-das-aus-dem-Ei-Kommende.
Das in seiner biologischen Universalität begriffene Ei lei­
tet das biologische Denken dazu an, die Endogenese des Le­
bendigen allen Außenbeziehungen überzuordnen: Drau­
ßensein kann in der Folge immer nur noch Fortsetzung des
Innenseins in einem anderen Milieu bedeuten. Damit ist die
Urform der später so genannten Autopoiesis von Systemen
332 Exkurs 3

aus fortpflanzungsbiologischer Sicht etabliert. Das Sein-aus-


dem-Ei wird für die Neuzeit zum Ernstfall der Endogenese.
Für das Lebendige heißt Dasein nunmehr, verbindlicher als
in aller Mythologie: Von-innen-Kommen. Die Ei-Hüllen,
seien es Membrane, Gallerthüllen oder Schalen, stehen für
das Prinzip Grenze; sie schließen das Innere gegen das Au­
ßere ab; zugleich erlauben sie hochselektive Kommunikatio­
nen zwischen Ei und Umwelt - etwa Feuchtigkeitsaustausch
und Lüftung. Als materialisierte Unterscheidungsinstanzen
zwischen Innen und Außen fungieren Schalen und Mem­
branhäute somit als Medien im Grenzverkehr. Sie lassen,
nach dem spezifischen Bedarf der Innenwelt, nur ein extrem
reduziertes Quantum an externen Informationen und Stof­
fen passieren, in erster Linie Gas, Wärme, Flüssigkeit.
Was die menschliche Embryogenese anbelangt, so steht sie
- wie bei den verwandten warmblütigen, lebendgebärenden
Säugern - unter der evolutionär späten und hochriskanten
Bedingung, daß das Ei nicht länger, wie bei der überwältigen­
den Mehrzahl der Arten, in äußere Medien oder Behälter ab­
gelegt wird, sondern sich in den Mutterorganismus selber
einnistet. Diese Verinnerlichung des Eies setzt so revo­
lutionäre Organschöpfungen wie die Uterogenese und die
Plazentogenese voraus - organgeschichtlich gesehen Trans­
formationen des Dottersystems in mutterleibsimmanente
Nest- und Nährsysteme. In ihnen liegen die evolutionären
Quellen der hominidentypischen Interiorität. Durch sie erst
werden Geburten als stammesgeschichtlich neue Ereignis­
typen im ontogenetischen Prozeß nötig gemacht. Der Austritt
aus dem Mutterleib steigt der Ovulation nach innen wegen
zum Protodrama des animalischen Herauskommens auf. Er
stiftet den Urtypus eines ontischen Ortswechsels von onto­
logischer Relevanz: Durch die Geburt wird das Innerste und
Nahe einem unumgänglichen Aufgerissenwerden durch das
Ferne ausgeliefert. Was ontologisch Weltoffenheit heißt, ist
ontisch durch die Nötigung, geboren zu werden, mitbedingt.
Das Prinzip Ei 333

Ausschnitt aus: Hieronymus Bosch, Der Garten der Lüste

Die luxurierende Entwicklung zur Interiorisierung des Eies


- mitsamt der chronischen, endogenen Ovulationszyklik -
schafft den Hintergrund für die riskante Gewinnung des Au­
ßen durch den neuen Organismus.
Geburt bedeutet bei warmblütigen lebendgebärenden
Säugern einen dreifachen Hüllenbruch: zum einen das Zer­
platzen der Fruchtblase, die als elastisches Äquivalent der Ei­
schale für die Separatheit des Fötus im mütterlichen Milieu
zu sorgen hat; zum anderen den Austritt aus der Gebärmut­
ter durch den Muttermund - der organische Exodus, den die
Wehen ermöglichen; zum dritten den Durchgang durch den
Geburtskanal in das außermütterliche, das ganz andere Mi­
lieu, das sich als eigentliche Außenwelt gegenüber der Intra-
uterinität und der Fruchtblasenimmanenz erweist. In topo­
logischer Sicht führt dieser dreifache Ent-Hüllungsvorgang
jedoch nicht notwendigerweise zum Sturz des Säuglings in
eine hüllenlose Seinsweise, weil unter Normalbedingungen
die bleibende Mutternähe als sphärische vierte Hülle für den
Verlust der stofflichen ersten drei entschädigt. Dieser abge­
dämpfte Milieuwechsel von einem inneren zu einem äußeren
334 Exkurs 3

Fortunius Licetus, Haupt der Medusa, gefunden in einem Ei, Frontispiz von
De Monstris, 1665
Das Prinzip Ei 335
Schoßraum tritt bei allen höheren Lebewesen auf, die hoch­
gradig unreife und nestabhängige Nachkommen hervorbrin­
gen. Alle diese Lebewesen sind daher im Prinzip psychopa-
thisierbar: ihre Reifung zur Partizipation an erwachsenen
Verhaltensspielen kann durch Verletzungen der extrauteri­
nen vierten Hülle verzerrt werden. Homo sapiens genießt -
zusammen mit seinen Haustieren - das prekäre Privileg, un­
ter sämtlichen Lebewesen am leichtesten psychotisch werden
zu können, sofern man unter Psychose die Spur des miß­
glückten Hüllenwechsels versteht. Sie ist das Resultat jener
Fehlgeburt, die ich selber als leidgestimmtes Subjekt eines
Fehlumzugs ins Haltlose, Hüllenlose bin. Orientiert man
sich an diesem Begriff der Psychose als Nachhall einer frü­
hen Sphärenkatastrophe, so wird begreiflich, warum die Psy­
chose das latente Urthema der Moderne sein muß. Weil der
Prozeß der Moderne eine Initiation der Menschheit ins ab­
solute Außen impliziert, kann eine Theorie der wesentlichen
Modernisierung nur als Mitschrift der ontologischen
Prozeß-Psychose zu glaubwürdigen und existentiell griffi­
gen Formulierungen führen. Als Epoche systematischer
Grenzverschiebungen, kollektiver Schalen-Pathologien und
epidemischer Hüllen-Störungen verlangt das gegenwärtige
Zeitalter nach einer historischen Anthropologie der prozes­
sierenden Verrücktheit.
336

Exkurs 4

»Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz


a u f Nähe.«143
Heideggers Lehre vom existentialen O rt

ur wenigen Heidegger-Interpreten scheint klarge­


N worden zu sein, daß sich unter dem sensationellen Pro­
grammtitel von Sein und Zeit auch eine keimhaft revolutio­
näre Abhandlung über Sein und Raum verbirgt. Unter dem
Bann von Heideggers existentialer Analytik der Zeit hat man
meist übersehen, daß diese in einer entsprechenden Analytik
des Raums verankert ist, so wie beide wiederum in einer exi­
stentialen Analytik der Bewegung gründen. Daher kommt
es, daß man über Heideggers Lehre von Zeitigung und Ge­
schichtlichkeit - die Ontochronologie - eine ganze Bib­
liothek lesen kann, über seine Bewegtheitslehre oder Onto-
kinetik einige Abhandlungen, über seine Ansätze zu einer
Theorie der ursprünglichen Einräumung des Raums oder
Ontotopologie - außer unzitierbaren pietistischen Paraphra­
sen - nichts.
Heideggers Analytik der existentialen Räumlichkeit ge­
langt zur positiven Nachzeichnung von Daseinsräumlichkeit
als Näherung und Orientierung über zwei destruktive
Schritte. Tatsächlich müssen die Raumkonzepte der vulgären
Physik wie der Metaphysik beiseite geräumt sein, bevor die
existentiale Analytik des In-Seins zum Zuge kommen kann.
»Was besagt In-Seint Den Ausdruck ergänzen wir zu­
nächst zu In-Sein >in der Welt< und sind geneigt, dieses
In-Sein zu verstehen als >Sein in .. .<Mit diesem Termi­
nus wird die Seinsart eines Seienden genannt, das >in<

143 M artin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1967, S. 105.


Heideggers Lehre vom existentialen Ort 337
einem anderen ist wie Wasser >im< Glas, das Kleid >im<
Schrank... Wasser und Glas, Kleid und Schrank sind
beide in gleicher Weise >im< Raum und >an< einem Ort.
Dieses Seinsverhältnis läßt sich erweitern, z. B.: Die
Bank im Hörsaal, der Hörsaal in der Universität, die
Universität in der Stadt usw. bis zu: Die Bank >im
Weltraums Diese Seienden, deren >In<-einandersein so
bestimmt werden kann, haben alle dieselbe Seinsart des
Vorhandenseins als >innerhalb< der Welt vorkom­
mende D inge...
In-Sein dagegen meint eine Seinsverfassung des Da­
seins und ist ein Existential. Dann kann damit aber
nicht gedacht werden an das Vorhandensein eines Kör­
perdinges (Menschenleib) >in< einem vorhandenen
Seienden... >in< stammt von innan-, wohnen, habitare,
sich aufhalten; >an< bedeutet: in bin gewohnt, vertraut
mit, ich pflege etwas; es hat die Bedeutung von colo im
Sinne von habito und diligo... Sein als Infinitiv des
>ich bim d. h. als Existential verstanden, bedeutet
wohnen b e i... vertraut sein m it...« (Sein und Zeit,
S- 5 3 - 54 )
Mit dem Hinweis auf das altdeutsche Verbum innan, bewoh­
nen, legt Heidegger bereits an einem frühen Punkt seiner
Untersuchung die Pointe der existentialen Analyse von
Räumlichkeit offen; was er das In-der-Welt-Sein nennt, be­
deutet nichts anderes als die Welt »innen« in einem verbal­
transitiven Sinn: ihr einwohnen im Genuß ihrer Erschlossen-
heit durch vorgeleistete Einstimmungen und Ausgriffe. Weil
Dasein eine immer schon vollzogene Wohn-Tat ist - Ergeb­
nis eines Ur-Sprungs ins Einwohnen -, gehört Räumlichkeit
der Existenz wesenhaft zu. Die Rede vom Einwohnen in der
Welt heißt eben nicht, den Existierenden einfachhin Häus­
lichkeit im Riesenhaften unterstellen: Denn gerade das Zu-
hause-Sein-Können in der Welt ist das Fragliche, und von
ihm wie einer Gegebenheit auszugehen, wäre schon der
338 Exkurs 4

Schulbank im Weltraum, Fotomontage,


Konzeption Andreas Leo Findeisen, Ausführung David Rych
Heideggers Lehre vom existentialen Ort 33 9
340 Exkurs 4

Rückfall in die Behälter-Physik, die hier überwunden wer­


den soll - der Ur-Denkfehler übrigens, der in allen holisti-
schen Weltbildern und Mutterleibsimmanenzlehren began­
gen wird und zu frommem Halbdenken verfestigt vorliegt.
Das Haus des Seins ist aber auch kein Gehäuse, in dem die
Existierenden ein- und ausgehen. Seine Struktur gleicht eher
einer Kugel der Sorge, in der sich das Dasein in ursprüng­
lichem Außersichsein ausgebreitet hat. Heideggers radikale
phänomenologische Aufmerksamkeit entzieht den vieltau­
sendjährigen Reichen der Behälter-Physik und Metaphysik
den Boden: Der Mensch ist weder ein Lebewesen in seiner
Um-Welt noch ein Vernunftwesen im Gewölbe des Himmels
noch ein vernehmendes Wesen im Inneren Gottes. Folge­
richtig fällt auch das Umwelt-Gerede, das seit den zwanziger
Jahren im Aufkommen ist, unter die phänomenologische
Kritik: Die Biologie denkt nicht, sowenig wie irgendeine an­
dere Standardwissenschaft. »Die heute vielgebrauchte Rede
>der Mensch hat seine Umwelt< sagt ontologisch solange
nichts, als dieses >Haben< unbestimmt bleibt.« (Sein und Zeit,
S. 57) Aber was ist mit dem »Umhaften der Umwelt« ge­
meint?
»Das In-Sein ist nach dem Gesagten keine »Eigen­
schaft«, die es (das Dasein, P. Sl.) zuweilen hat, zuwei­
len auch nicht, ohne die es sein könnte so gut wie mit
ihr. Der Mensch >ist< nicht und hat überdies noch ein
Seinsverhältnis zur >Welt<, die er sich gelegentlich zu­
legt. Dasein ist nie »zunächst« ein gleichsam in-seins-
freies Seiendes, das zuweilen die Laune hat, eine »Be­
ziehung« zur Welt aufzunehmen. Solches Aufnehmen
von Beziehungen zur Welt ist nur möglich, weil Da­
sein als In-der-Welt-Sein ist, wie es ist. Diese Seinsver­
fassung entsteht nicht erst dadurch, daß außer dem
Seienden vom Charakter des Daseins noch anderes
Seiendes vorhanden ist und mit diesem zusammen­
trifft. »Zusammentreffen« kann dieses andere Seiende
Heideggers Lehre vom existentialen Ort 341

>mit< dem Dasein nur, sofern es überhaupt in einer


Welt sich von ihm selbst her zu zeigen vermag.« {Sein
und Zeit, S. 57)
Die existentiale Raumblindheit des herkömmlichen Denkens
manifestiert sich in den alten Weltbildern darin, daß sie den
Menschen mehr oder weniger umstandslos in eine umschlie­
ßende Natur als Kosmos integrieren.144 Im neuzeitlichen
Denken liefert Descartes’ Zweiteilung der Substanzen in die
denkende und die ausgedehnte das massivste Beispiel für die
Unwilligkeit, den O rt des »Zusammentreffens« eigens noch
für fragwürdig zu halten. Weil alles, was Descartes zum
Thema Räumlichkeit zu sagen hat, auf den Komplex Körper-
und-Ding als einzigen Inhabern von Ausdehnung bezogen
144 In seiner A nalytik des O rtes hat Aristoteles im merhin bereits eine
großartig explizite A nnäherung an die Problemstellung einer »exi­
stentialen« Topologie erreicht, auch wenn für ihn das Sein von »et­
was in etwas« gerade nicht in existentialer H insicht interessant sein
konnte. Im vierten Buch der Physik findet sich folgende Darlegung
über den achtfachen Sinn von »In«:
»H iernach ist die Frage aufzunehmen, in wie vielen Bedeutungen
(der A usdruck) »eines in einem A nderem (dllo en dllo) ausgespro­
chen wird. (1) A uf eine Weise so: D er Finger ist >an der Hand«, der
Teil ist >in dem Ganzen« (enthalten). (2) A uf eine andere so: Das
Ganze (besteht) >in seinen Teilen«; denn neben seinen Teilen gibt es
ein Ganzes gar nicht. (3) A uf eine andere Weise so: »Mensch« ist (in­
begriffen) in »Lebewesen«, und allgemein, A rt in Gattung. (4) Auf
eine andere Weise so: Die G attungsbestim m ung (genos) ist (enthal­
ten) »in der Artbestimmung« (etdos), und allgemein, das Teilstück
der A rtbestim m ung in deren Begriffserklärung (lögos). (5) Weiter
so: G esundheit besteht >in< (einem bestim mten Verhältnis von)
Warmem und Kaltem, und allgemein, die Form (verwirklicht sich)
in dem Stoff. (6) Weiter so: »In« (der H and) des G roßkönigs liegen
die Geschicke der Hellenen, und allgemein, beim ersten Bewegen­
den. (7) Weiter so: »In einem Guten«, und allgemein, in einem Ziel
(liegt der Sinn von Handlungen); das aber ist ein »weswegen«. (8)
Die hauptsächlichste Bedeutung unter allen ist jedoch diese: »in ei­
nem Gefäß« (en aggeio), und allgemein, »an einem Ort« (en töpo). -
M an könnte nun die schwierige Frage stellen, ob denn auch etwas,
als dies selbst, in sieb selbst sein kann, oder ob nichts (dies kann),
sondern alles entw eder nirgends ist oder in einem Anderen.«
342 Exkurs 4

bleibt, kann die Frage, worin sich Denken und Ausdehnung


treffen, für ihn nicht auftreten. Das denkende Ding bleibt
eine weltlose Instanz, die sich, seltsam genug, der Laune hin­
geben zu können scheint, zuweilen eine Beziehung zu ausge­
dehnten Dingen aufzunehmen und zuweilen nicht. Die res
cogitans trägt Züge eines gespenstischen Jägers, der sich zu
Beutezügen ins erkennbare Ausgedehnte aufrafft, um sich
danach in seine weltlose Festung im Ausdehnungslosen zu­
rückzuziehen. Dem hält Heidegger das ursprüngliche In-
Sein des Daseins im Sinne von In-der-Welt-Sein entgegen.
Auch das Erkennen ist nur ein abkünftiger Modus des Auf­
enthalts in der Geräumigkeit der durch umsichtiges Besor­
gen erschlossenen Welt:
»Im Sichrichten a u f... und Erfassen geht das Dasein
nicht etwa erst aus seiner Innensphäre hinaus, in die es
zunächst verkapselt ist, sondern es ist seiner primären
Seinsart nach immer schon >draußen< bei einem begeg­
nenden Seienden der je schon entdeckten Welt. Und
das bestimmende Sichaufhalten bei dem zu erkennen­
den Seienden ist nicht etwa ein Verlassen der inneren
Sphäre, sondern auch in diesem >Draußen-Sein< beim
Gegenstand ist das Dasein im rechtverstandenen Sinne
>drinnen<, d. h. es selbst ist es als In-der-Welt-Sein, das
erkennt. Und wiederum das Vernehmen des Erkann­
ten ist nicht ein Zurückkehren des erfassenden H in­
ausgehens mit der gewonnenen Beute in das >Gehäuse<
des Bewußtseins, sondern auch im Vernehmen, Be­
wahren und Behalten bleibt das erkennende Dasein als
Dasein draußen.« (S. 62)
In seinen positiven Aussagen über die Räumlichkeit von Da­
sein hebt Heidegger vor allem zwei Charaktere hervor: Ent­
fernung und Ausrichtung.
»Entfernen besagt ein Verschwindenmachen der
Ferne, das heißt der Entferntheit von etwas, Nähe­
rung. Dasein ist wesenhaft ent-fernend ... Entfernung
Heideggers Lehre vom existentialen Ort 343
entdeckt Entferntheit... Das Entfernen ist zunächst
und zumeist umsichtige Näherung, in die Nähe brin­
gen als beschaffen, bereitstellen, zur Hand haben...
Im Dasein liegt eine wesenhafte Tendenz a uf Nähe.
(S. 105)
... Das Dasein ist gemäß seiner Räumlichkeit zunächst
nie hier, sondern dort, aus welchem Dort es auf sein
Hier zurückkom m t... (S. 107)
Das Dasein hat als entfernendes In-Sein zugleich den
Charakter der Ausrichtung. Jede Näherung hat vorweg
schon eine Richtung in eine Gegend aufgenommen,
aus der das Entfernte sich nähert... Das umsichtige
Besorgen ist ausrichtendes Entfernen. (S. 108).
Das für das In-der-Welt-Sein konstitutive Begegnen­
lassen des innerweltlich Seienden ist ein >Raumgeben<.
Dieses >Raumgeben<, das wir auch Einräumen nennen,
ist das Freigeben des Zuhandenen auf seine Räum­
lichkeit ... Das Dasein kann als umsichtiges Besorgen
der Welt nur deshalb um-, weg- und >einräumen<, weil
zu seinem In-der-Welt-Sein das Einräumen - als
Existential verstanden - gehört__ das ontologisch
wohlverstandene >Subjekt<, das Dasein, ist räumlich.«
(S-111)
Wer geglaubt hätte, daß auf diese mächtigen Auftaktwen­
dungen das Stück selber hätte folgen müssen, sähe sich in sei­
ner Erwartung enttäuscht. Die existentiale Wo-Analyse geht
mit einem Schlag zu der Wer-Analyse über, ohne daß auch
nur ein Wort darüber verloren würde, daß nur der Anfang ei­
nes Fadens herausgezogen worden war, der zum größten Teil
auf der Spule blieb. Hätte man ihn weiter entrollt, so hätten
sich unweigerlich die vielsinnigen Universen der existentia­
len Geräumigkeit aufgetan, die hier unter dem Leitwort
Sphären neu zur Sprache kommen. Das Einwohnen in Sphä­
ren läßt sich aber nicht ausführlich explizieren, solange das
Dasein vor allem von einem angeblichen Wesenszug zur Ein-
344 Exkurs 4

samkeit her begriffen wird.145 Die Analytik des existentialen


Wo verlangt danach, alle Suggestionen und Stimmungen von
wesenhafter Einsamkeit einzuklammern, um sich der Tiefen­
strukturen des begleiteten und ergänzten Daseins zu verge­
wissern. Der frühe Heidegger blieb angesichts dieser Auf­
gabe im problematischen Sinn des Wortes ein Existential
ist. Seine eilige Wendung zur Wer-Frage läßt ein einsames,
schwaches, hysterisch-heroisches Existentialsubjekt zurück,
das meint, beim Sterben der Erste zu sein, und das über die
verborgeneren Züge seiner Einbettung in Intimitäten und
Solidaritäten kläglich im Ungewissen lebt. Ein überspanntes
Wer in einem konfusen Wo kann böse Überraschungen mit
sich selbst machen, wenn es sich bei Gelegenheit im nächst­
besten Volk verankern will. Als Heidegger bei der nationalen
Revolution in imperialer Mitgerissenheit als großer Jemand
zum Genuß kommen wollte, da zeigte sich, daß existentielle
Eigentlichkeit ohne radikale Klärung ihrer Lage im Raum
der Politik Verblendung ergibt. Ab 1934 wußte Heidegger,
wenn auch eher nur implicite, daß seine Bewegtheit im natio­
nalsozialistischen Aufbruch ein Im-Sog-Sein gewesen war:
zum Raum war hier die Zeit geworden. Wer in den Sog gerät,
lebt, während er hier zu sein scheint, in einer anderen Sphäre,
auf einer entfernten Bühne, in einem undurchschauten inne­
ren Dort. Heideggers Spätwerk zieht aus dem Lapsus diskret
die Konsequenzen. Von der geschehenden Geschichte ver­
spricht der betrogene völkische Revolutionär sich nur noch
wenig; vom Werk der Mächte hat er sich pensioniert. Er
sucht sein Heil künftig in noch innigeren Nähe-Übungen.
Beharrlich setzt er auf seine anarchische Provinz und veran-

145 So noch in Heideggers bedeutendster Vorlesung in Freiburg:


Grundbegriffe der M etaphysik. Welt - Endlichkeit - Einsamkeit
vom W intersemester 1929-1930, Gesamtausgabe Band 29-30,
hg. von Friedrich-W ilhelm von H erm ann, 2. Auflage, Frankfurt
1992. In den A nkündigungen am schwarzen Brett des Freiburger
Instituts hatte es statt Einsamkeit Vereinzelung geheißen.
Heideggers Lehre vom existentialen Ort 345
staltet Führungen durch das Haus des Seins, die Sprache,
ganz magischer Concierge, mit schweren Schlüsseln ausge­
stattet, zu sinnreichen Winken immer bereit. In bewegten
Augenblicken beschwört er die parmenideische heilige Ku­
gel des Seins herauf, als wäre er ins Eleatische zurückgekehrt,
der Geschichtlichkeit wie eines heillosen Spukwesens müde.
Heideggers Spätwerk spielt die Resignationsfiguren einer
aufbruchshaften Vertiefung des Denkens immer von neuem
durch, ohne je wieder an den Punkt zu gelangen, von dem
aus die Frage nach der ursprünglichen Einräumung der Welt
sich hätte wiederaufnehmen lassen.
Das vorliegende Projekt »Sphären« läßt sich auch als Ver­
such verstehen, das in Heideggers Frühwerk subthematisch
eingeklemmte Projekt Sein und Raum - in einem wesentli­
chen Aspekt zumindest - aus seiner Verschüttung zu bergen.
Wir sind der Meinung, daß von Heideggers Interesse an Ver­
wurzelung durch eine Theorie der Paare, der Genien, der er­
gänzten Existenz so viel zu seinem Recht kommt, wie über­
haupt von ihm gerettet werden kann. In der existierenden
Zweiheit Grund gefaßt haben: soviel an Autochtonie oder
Verankerung im Realen muß auch erhalten bleiben, selbst
wenn die Philosophie ihre unverzichtbare Losreißung von
der empirischen Kommune weiterhin aufmerksam betreibt.
Für das Denken geht es jetzt darum, die Spannung zwischen
Autochtonie (ab ovo und von der Gemeinschaft her) und
Freisetzung (vom Tod oder vom Unendlichen her) von
neuem durchzuarbeiten.
347

K apitel 5

D er Urbegleiter
Requiem fü r ein verworfenes Organ

Q ue farö senza Euridice?


Dove andrö senza il mio ben?
Chr. W. Gluck, Orfeo ed Euridice

Wir können unsere Engel nicht gehen lassen.


Wir sehen nicht, daß sie nur gehen, damit
Erzengel kom m en mögen.
Ralph Waldo Emerson, Kompensation

as Schwarze im Auge muß sich erweitern, wenn im


D Dunkeln die Sicht erhalten bleiben soll. Wird das Dun­
kel so tief wie in der erlesenen Nacht, dann wäre es hilfreich,
die Pupille könnte so groß werden wie das Auge selbst. Viel­
leicht wäre ein solches Sphärenauge bereit für das, was vor
uns liegt - die Reise durch ein schwarzes Monochrom. Wenn
das Subjekt im Dunkeln ganz Pupille geworden wäre und die
Pupille ganz Tastorgan, das Tastorgan ganz Klangkörper,
könnte sich das homogene Massiv der Schwärzekugel in
geahnte Landschaften entwickeln. Auf einmal begänne eine
Welt vor der Welt sich anzudeuten; ein vages Vorschwebe-
Universum nähme Konturen an, hauchartig, prä-diskret.
Weiterhin bliebe die salzige Nacht geborgen in ihrer unaus­
sprechlichen Dichte, ihr Kreis wäre nach wie vor ausganglos
geschlossen; und doch finge in ihrem Dunkel ein organisches
Etwas an sich abzuheben wie eine Skulptur aus schwarzem
Quecksilber vor schwarzem Grund. Im Ununterschiedenen
träten Vorzeichnungen von Gegenden auseinander, und in
der innigen Nähe polarisierte sich ein erstes Dort, durch das
ein beginnendes Hier auf sich zurückkommt.
348 Kapitel 5

Odilon Redon, Göttliche Allwissenheit, Lithographie, in: Dans le reve, 1879


D e r U rb e g le ite r 349
Wie könnte man sich einstimmen auf die stummen Expe­
ditionen in der monochromen Nacht? Auf welchen anderen
Schauplätzen - oder Blindplätzen - wäre das Auge zu schu­
len für die Fahrt ins schwarze Land? Wäre es hilfreich, sich
im Lotossitz niederzulassen und sich mit geschlossenen Au­
gen vom Sichtbaren und Vorgestellten vorübergehend los­
zusagen? Doch wie viele haben das Boot der Meditation be­
stiegen und sind nur ins Ungegenständliche hinausgedriftet,
wo die Forschung in Neugierlosigkeit ausklingt. Sollte man
mit Drogen experimentieren und als neugieriger Psychonaut
durch alternative Kosmen reisen? Aber solche Innenreisen
zerren meist nur anstelle der alltäglichen Bilder exzentrische
herbei, die wie endogene Aktionsfilme durch die Höhle flak­
kern; durch diesen Spuk wird der dunkle Raum als solcher
erst recht überblendet, und die Kunst, im schwarzen Mono­
chrom Figuren zu lesen, kommt nicht von der Stelle. Wirft
man einen Blick in LSD-Sitzungsprotokolle, die von Patien­
ten des Drogenpsychotherapeuten Stanislav Grof über ihre
sogenannten amniotischen oder Fruchtblasen-Regressionen
verfaßt wurden, so drängt sich der Eindruck auf, daß diese
Personen erleben, was sie gelesen haben, und daß sie beredte
Bilder vom hortus conclusus als Uterusphantasie reproduzie­
ren; sie geben Bildungsreisen im gynäkologischen Atlas als
eigene Erfahrung aus; Paradiesbildchen aus dem Kindergot­
tesdienst mischen sich mit archaischen Raumerinnerungen;
in aufdringlich optischen Vorstellungen schweben ihnen
Wiesen des Himmels und Lichtchöre um den göttlichen
Thron vor Augen, wie sie gewiß kein Mutterleibseinwohner
je so vor sich hatte. Daraus ist der Schluß zu ziehen, daß auch
die psychognostische Wunderdroge LSD bestenfalls nur
synthetische Erfahrungskonglomerate heraufholt, in denen
szenisch Frühes mit sprachlich und bildlich Späterem so ver­
quickt ist, daß von der Rückführung in einen authentischen
Primärzustand kaum die Rede sein kann. Was also tun, wenn
selbst die Wahrheitsdrogen Desinformationen liefern? Sollte
35° Kapitel 5

man lieber die Bergleute bei ihrer Fahrt in den Schacht be­
gleiten und auf ihren Spuren in die Stollen einfahren, ohne
Licht und Lageplan, um irgendwo im Tiefen innezuhalten
und zu ermessen, wie der Berg seine Dichte um den atmen­
den Lebenspunkt nach allen Seiten ausbreitet? Aber ein sol­
ches Exerzitium wäre nur eine sportliche Selbstprüfung und
würde damit enden, daß der Prüfling im stillen Steinraum
seinem eigenen Herzschlag ausgeliefert wäre und seinen vor­
panisch aufgeregten Gedanken Zügel anlegen müßte. Auch
dieses Unternehmen führt nicht in die Szene vor allen Szenen
zurück. Für die Erforschung der einzigen Nachthöhle, die
uns etwas angeht, wäre damit nichts gewonnen. In den
unvergleichlichen schwarz monochromen Grund, vor dem
dein Leben einst sich als vibrierende Figur abzuheben be­
gann, führen Abstiege zu fremden Schächten nicht zurück.
Das Sehen in dem einzigen Dunkel, das dich betrifft, läßt sich
nicht an einem anderen Dunkel üben. Es bleibt kein anderer
Weg, als es mit dem eigenen schwarzen Monochrom aufzu­
nehmen. Wer es mit diesem zu tun bekommt, begreift
schnell, daß das Leben tiefer ist als die Autobiographie. Nie
dringt die Schrift ins eigene Schwarz weit genug vor. Wir
können nicht aufschreiben, was wir anfangs sind.

Das erste Wo - noch immer ist es ohne den geringsten Umriß


von Struktur und Inhalt. Selbst wenn ich wüßte, dies ist
meine Höhle, so hieße das fürs erste nur: Hier liege ich, als
tiefgraue Hegelsche Kuh in meiner Nacht, und unterscheide
mich von nichts und niemand. Mein Sein ist noch eine falten­
lose Schwere. Als schwarze Basaltkugel ruhe ich in mir, ich
brüte in meinem Milieu wie in einer Nacht aus Stein. Und
doch, soviel an mir ist, muß in dem dunklen Massiv, in dem
ich lebe und webe, schon eine Ahnung von Unterschied auf­
gebrochen sein. Wäre ich nur ein basaltenes Schwarz, wie
könnte es sein, daß in mir ein vages Gefühl von In-Sein auf­
gekeimt ist? Worauf will dieses Gespür, diese schwebende
Der Urbegleiter 351

Kasimir Malewitsch, Der schwarze Kreis

Schwellung hinaus? Wenn mein Schwarz fugenlos eins wäre


mit dem gleichschwarzen ewig toten Gebirgsinneren - wieso
regt sich in mir das hastige Klopfen, und über diesem die
langsamere ferne Pauke? Wäre ich ohne Differenz mit der
schwarzen Substanz verschmolzen, wie könnte ich dann
schon etwas sein, was einen Raum erahnt und sich darin in
ersten Dehnungen bewegt? Ist eine Substanz möglich, die
zugleich Spüren wäre? Gibt es ein Gebirge, das mit Nicht-
Felsen schwanger steht? Hat man je von einem Basalt gehört,
der sich als Beseelung und Selbstbewußtsein entwickeln
wird? Seltsame Gedanken, Ausdünstungen von dunklen Ge­
wölben - sie scheinen von der Art der Probleme zu sein, über
35* Kapitel 5

Salagrama (Andenkenstein für indische Pilger), durchbohrter, Ammoniten


enthaltender Stein, Länge 90 mm. Die Bohrung repräsentiert den Beginn der
Schöpfung durch eine Öffnung nach außen.

die tote Pharaonen in ihren Kammern jahrtausendelang ohne


Fortschritt grübeln. Mumien-Meditationen, Glimmen im
Mineralischen, Grübeleien ohne Subjekt. Läßt sich ein Zwi­
schenfall denken, durch den aus dergleichen die Fragen eines
Lebenden würden?
Wir werden uns fürs erste doch nach Unterstützung von
außen umsehen müssen - freilich nicht die der Gynäkologen;
die rennen mit Organbezeichnungen und Straßenschuhen
durchs Fraueninnere wie Touristen von weither durch orien­
talische Etablissements, geblendet von ihren gebuchten
Interessen. Nein, der Beobachter am Eingang, auf dessen
Beistand jetzt zurückzugreifen wäre, darf alles sein, doch
fürs erste kein Benutzer von anatomischen Ausdrücken. Er
müßte eher einem älteren Psychoanalytiker gleichen oder
Der Urbegleiter 353
einem Eremiten, den Menschen mit wortscheuen Sorgen auf­
suchen, vielleicht einer Person, die sich dem widmet, was wir
oben die magnetopathischen Nähe-Praktiken genannt ha­
ben, einem Menschen jedenfalls, der sich darauf versteht, ge­
genwärtig zu sein, ohne andere Eingriffe ins Dasein seines
Gegenüber vorzunehmen als die, die mit seiner diskreten
aufmerksamen Präsenz selbst gegeben sind. Wir müssen nun,
wie oben angekündigt, um mit der inneren Beobachtung
voranzukommen, eine zusätzliche Sicht von außen ins Spiel
bringen, die nicht kraft ihrer Einmischung, sondern durch
bloße Zeugenschaft mit dem Geschehen in Verbindung
stünde. Verabreden wir uns also mit dem Helfer vor der
Höhle, und vertrauen wir ihm die Aufgabe an, die stockende
Aufklärung über die sphärische Nacht voranzubringen.
Der Psychoanalytiker Bela Grunberger hat in seinen Stu­
dien zu dem, was er die »monadische« Kommunion nennt,
ein so bedenkliches wie bedenkenswertes Beispiel für eine
Begegnung in der Kernzone des bipersonalen Intimraums
veröffentlicht:
»Es handelt sich um einen jungen Mann, der wegen ver­
schiedener Beziehungsschwierigkeiten, einiger somati­
scher Symptome und sexueller Störungen usw. in die
Analyse kam. Nachdem er sich die Grundregel, die der
Therapeut ihm mitteilte, angehört hatte, legte er sich auf
die Couch und schwieg für den Rest der Stunde. Er kam
zur folgenden Sitzung und verhielt sich einige Monate
lang genauso. In einer bestimmten Sitzung äußerte er
sich schließlich und sagte: >Das ist es noch nicht, aber
es geht schon bessern Danach versank er wieder in
Schweigen, und nach einigen Monaten, in denen er
abermals absolut stumm blieb, stand er am Ende auf, er­
klärte, daß er sich heute gut fühle, hielt sich für geheilt,
bedankte sich bei seinem Therapeuten und ging fort.«146

146 Bela G runberger, N arziß und Anubis (s. Anm. 78), Band 2, S. 195.
354 Kapitel 5

Die bizarre Fallgeschichte - nach Ton und Inhalt fast eine


Legende - wäre nie an der Tag gekommen, hätten sich nicht
mehrere Umstände verbunden, um ihre Veröffentlichung zu
motivieren. Zum einen ist ihr Erzähler in seinen Kreisen ein
Autor von so hoher Autorität, daß er sich die Freiheit neh­
men konnte, in problematische Gebiete auszuschweifen,
ohne sich selbst unmittelbar in Gefahr zu bringen; so mochte
die zitierte therapeutische Idylle unter dem Mantel seiner In­
tegrität unbeanstandet durchgehen. Zum anderen scheint
sich die Begebenheit in der Praxis eines Kollegen zugetragen
zu haben, so daß für den Fall, daß das Mitspielen des Analy­
tikers in dem Schweige-Duo, das der Patient vorgab, ein
Kunstfehler gewesen sein sollte - was ohne Kontextkennt­
nisse nicht auszuschließen ist -, dieser dem Kollegen und
nicht dem Autor anzulasten wäre; zum dritten trägt der
Autor eine, wie er glaubt, neuartig präzisierte Theorie der
frühen Mutter-Kind-Kommunion vor, in deren Rahmen die
seltsame Fallgeschichte zu einem sprechenden Kasus erklärt
werden kann. Es ist tatsächlich Grunbergers Ambition, ein
Theorem vom sogenannten »reinen Narzißmus« zu entwik-
keln, das zu einem Konzept von Psychoanalyse »jenseits der
Triebtheorie« führen soll. Zu den Merkmalen von reinem
Narzißmus gehören nach Grunberger die Freiheit des Sub­
jekts von Triebspannungen und sein Streben nach einer
glanzvoll-allmächtigen, störungsfeindlich-glückseligen H o­
möostase. Diese reine Tendenz könnte sich ipso facto nur un­
ter dem Schutz einer Form entfalten, die dem Subjekt einen
hinreichend abgedichteten psychischen Brutkasten zur Ver­
fügung stellt - wofür die geschilderte Szene nach der Mei­
nung des Autors ein so gewagtes wie glänzendes Beispiel bie­
tet. Grunberger nennt diese schützende Idealform die
Monade - zweifellos in bewußter Abwandlung des Leibniz-
schen Terminus und absichtsvoll absehend von dem Um ­
stand, daß der Inhalt der Monade eben dem entspricht, was
andere Psychoanalytiker die Dyade nennen. Der sachliche
D e r U rb e g le ite r 355
Grund, den Ausdruck Monade vorzuziehen, besteht darin,
daß die Monade eine F o r m bezeichnet, die eine einende Be­
hälterfunktion ausübt; die Eins fungiert gleichsam als die
Gestalt-Kapsel, die die Zwei beherbergt. Die Monade wäre
also eine bipolare Matrize oder eine einfache psychosphäri-
sche Form ganz im Sinne des hier ausgebreiteten Begriffs der
primären Mikrosphäre. Monaden sind für Grunberger - weil
formale Größen - inhaltlich variabel besetzbar; so treten sie
sowohl im Mutter-Kind-Original auf als auch in lebensge­
schichtlich erreichten Neubesetzungen und Substitutionen.
Wo immer Individuen ihre imaginäre Perfektion in intimer
psychischer Raumgemeinschaft mit dem idealen Anderen
genießen, macht sich das monadische Motiv geltend. Die pri­
märe Union ist darstellbar in Romeo-und-Julia-Verhältnis­
sen ebenso wie in Philemon-und-Baucis-Symbiosen; sie tritt
auf als Spielgemeinschaft von Kind und Tier oder Kind und
Puppe, ja, sogar mit virtuellen Tieren und mit den Flelden
von Computerspielen kann der monadische Pakt eingegan­
gen werden; in seiner reifsten Gestalt mag er sich als Vereh­
rungsbeziehung zwischen einem Erwachsenen und einer
charismatischen Persönlichkeit präsentieren; und schließlich
kann er als therapeutischer Vertrag zwischen dem Analytiker
und dem Klienten inszeniert werden. Diese große szenische
Variabilität bestätigt, daß Monade tatsächlich ein Formbe­
griff ist, der wie eine algebraische Formel in gewissen Gren­
zen beliebige Einsetzungen erlaubt. Wie Grunberger be­
merkt, besteht »die Monade aus Inhalt und Behälter«,147
mithin aus einer stabilen Zwei-Einigkeits-Form und einem
größeren Sortiment an Ausfüllungen durch konkrete bipo­
lare Nähe-Modelle, sofern diese imstande sind, das Phan­
tasma von der ungestörten Vollmacht des Selbstgenießens im
gemeinsamen Innenraum zu stützen.
Was mag in den monatelangen stummen Sitzungen des

147 Ibid., S. 196.


356 Kapitel 5

jungen Mannes mit dem schweigenden Analytiker tatsäch­


lich vorgefallen sein? Läßt sich dieses gemeinsame Warten in
der Stille, das zuletzt zu einer Art von Heilung zu führen
schien, wirklich als eine monadische Formbildung im Grun-
bergerschen Sinn interpretieren? Geschieht in der Szene ef­
fektiv nichts anderes als das Eintauchen des Patienten in das
heilsame Dual, das keine anderen Prämissen fordert außer
dem puren Sich-Aufhalten-Dürfen in einem Raum, der von
der Nähe des wohlwollenden Intimzeugen imprägniert ist?
Man darf sich fragen, woher der junge Mann die mutwillige
Sicherheit nimmt, die Situation durch sein beharrliches
Nicht-Reden zu beherrschen, wo doch im allgemeinen, in
Frankreich zumal, Psychoanalysen in dem Ruf stehen,
Sprachkuren zu sein - um nicht zu sagen Verbositäts-Exerzi-
tien und Vorschulen des Romans? In welche Art von Kom­
plizenschaft hat der Patient seinen Analytiker gezogen, als er
ihm durch zwei Halbzeiten von jeweils mehreren Monaten
hindurch sein Schweigen aufzuzwingen verstand? Wie auch
immer man diese Fragen beantworten wollte - eines scheint
offenkundig: Von einer prä-ödipal-symbiotischen Mutter-
Kind-Beziehung zwischen dem jungen Mann und dem Ana­
lytiker kann nach dem szenischen Befund keine Rede sein.
Käme der Klient zum Analytiker wie ein Problemsäugling
zur Ersatz-Mutter, so läge in einer solchen Annäherung der
Keim zu dramatischen Entwicklungen, die sich in der analy­
tischen Beziehung als spannungsvolles Hin und Her rein-
szenieren müßten. Wer monatelang mit seinem Analytiker
schweigt, um danach eigener Bekundung zufolge geheilt
nach Hause zu gehen, mag alles sein, nur nicht ein Subjekt,
das Nachforderungen an eine versagende Mutter mit dem
Analytiker bewußtgemacht und durchgespielt hat. Diesem
wird vielmehr hier die Rolle, von der er seinen Namen hat,
genommen. Er wird seiner Deutungskompetenz und Diffe­
renzierungsmacht entkleidet und umfunktioniert in ein We­
sen, das durch sein bloßes schweigendes Mit-Dasein Voraus-
Der Urbegleiter 357
Setzungen zu einer heilsamen Selbstintegration bieten soll.
Aber als wer oder was vermag die Anwesenheit des Analyti­
kers - der hier besser Integrator oder Monitor hieße - solche
Effekte anzubieten? Auf welcher alten Bühne spielt dieses
schweigende Beieinander von einem Mann auf der Couch
und einem anderen auf einem Sessel? Wie rätselträchtig diese
Frage ist, kommt erst ganz zum Vorschein, sobald man sich
vergegenwärtigt, daß es im Repertoire an frühen Nähe-For­
men zwischen Kind und Mutter keine einzige Szene gibt, die
auch nur von ferne dieser duellhaften Verschmelzung zweier
Schweigenden über Monate hin als Vorbild gedient haben
könnte. Was immer zwischen Müttern und Kindern vorfal­
len mag, eine stille Meditationsgruppe bilden die beiden in
ihrem Interaktionsprozeß zu keiner Zeit. Was also spielen
die Figuren in Grunbergers Fallgeschichte für ein Spiel? Was
stellen sie füreinander dar - auf welchem Schauplatz, wel­
chem Blindfeld treffen sie zusammen? Wo liegt das Dort,
von dem her die beiden einander anschweigenden Menschen
auf ihr Hier zurückkommen?
Unser Verdacht scheint wohlbegründet: Hier könnten wir
es mit einem szenischen Äquivalent zur fötalen Nacht zu
tun haben. Im Studio des Analytikers befinden wir uns, für
dies eine Mal, mitten in dem therapeutischen Monochrom:
Das monadische Feld vergegenwärtigt hier, wie es scheint, die
schwarze Urszene, in der das sprachlose Subjekt von einem
umfassenden Milieu vorsprachlich enthalten und gefördert
wird. Zwar geschieht in dieser Szene nichts, was den Namen
Ereignis verdiente, und doch vollzieht sich in ihr - immer
vorausgesetzt, daß die Heilungsaussage des jungen Mannes
am Ende auf gutem Grund beruhte - ein integrierendes Bei­
einandersein mit lebenspraktisch konkreten Folgen. Ob in
dem geteilten Nichts an Worten nicht doch etwas hin- und
hergeht, was sich äußerer Beobachtung entzieht, bleibt für
uns naturgemäß unentscheidbar; sicher ist jedoch, daß sich
der homogene dunkle und zeichenlose Raum in eine archai-
35« Kapitel 5

sehe Zweipoligkeit gegliedert hat. Ein erstes amorphes Ge­


genüber ist aufgetreten, zu dem weder Auge noch Stimme ge­
hören. Nehmen wir an, der junge Mann sei unser mystischer
Höhlenforscher: Wer ist dann der Andere, der im Analyti­
kersesse] ausharrt und Stunde für Stunde seine schweigende
Präsenz der des Klienten gegenübersetzt? Wessen Wieder­
gänger stellt dieses prekäre Gegenüber dar? Welchem verlo­
renen Dasein leiht er seinen gegenwärtigen Körper? Welche
Rolle spielt er, wenn er sich so demütig und beharrlich auf
seinem Sitz in der Nähe des Patienten ruhig hält und auf allen
eigenen Ausdruck verzichtet? Welche Mission aus welcher
Vergangenheit mag es sein, die von dem Analytiker verlangt,
sein eigenes Leben, sein Temperament, sein Wissen so zu­
rückzustellen, daß von ihm selbst nichts weiter im Raum
bleibt als ein Schwamm, der das Schweigen des Patienten in
sich aufnimmt und es mit seinem Gegenschweigen nährt?
Der Analytiker vertritt also nicht die Mutter im gewöhn­
lichen Sinn, obwohl er einen Teil der therapeutischen Mo­
nade, also der metaphorisch-uterinen Immunform, bildet.
Sollte man annehmen, er sei dann eben der Uterus selbst, das
ichlose Organ oder Milieu, in dem sich die Individuation ei­
nes neuen Organismus vollzieht? Ist er die samtene Wand, an
deren Oberfläche sich einst das Ei nach seiner ersten Reise
angesiedelt hatte? Hält er sich zur Verfügung wie die mütter­
liche Schleimhaut, in der sich das Ei als dankbarer Parasit
eingenistet hat, so wie gewisse Pilze sich an den Stämmen
von alten Bäumen anlagern, um an ihnen friedlich zu w u­
chern? Eine solche Annahme mag einen Augenblick lang
suggestiv wirken, doch sie verliert ihre Plausibilität schnell,
sobald man sich in die gegebene therapeutische Szene ver­
setzt: Viele Monate hindurch treffen zwei Männer beharrlich
in einem geschlossenen Raum züsammen und liefern sich ei­
nen kampflosen Kampf im Unhörbaren. Jeder von beiden
breitet seine Schweigeglocke um sich aus und stülpt die
eigene Stille der des anderen prüfend entgegen. Dieser prä­
Der Urbegleiter 359
dialogische, fast duellhafte Zug in dem Stille-an-Stille-, Ohr-
an-Ohr-Geschehen ist etwas ganz anderes als nur ein Nisten
an einer lebenden Wand, auch mehr als nur ein unverant­
wortliches Schwimmendürfen in einer Blase, die nichts for­
dert und jede Freiheit gewährt. Im Schweigen zu zweit prägt
sich schon eine prä-konfrontative Dual-Struktur aus. Das
Schweigen des einen ist nicht identisch mit dem Schweigen
des anderen. Die beiden Schweigeglocken stoßen aneinander
und bilden einen tonlosen Zweiklang mit Zügen einer frühen
Hier-Dort-Struktur.
Wer also - oder was - ist der Analytiker in dieser Szene?
Er vertritt, wie es scheint, ein archaisches, unpopuläres Or­
gan, dessen Aufgabe es ist, dem fötalen Prä-Subjekt als Part­
ner im Dunkeln zur Verfügung zu stehen. Dieses Organ des
ersten Gegenüber und des ursprünglichen Zusammenseins ist
unter physiologischen Aspekten betrachtet absolut real: Wer
mit endoskopischen Verfahren in den Mutterleib eindringen
wollte, würde es mit Augen sehen und mit Händen greifen;
er könnte es fotografieren und in anatomische Karten über­
tragen; er könnte über das Gefäßsystem und die Zottenstruk­
turen des merkwürdigen Gewebes dissertieren und seine
Funktion im Blutaustauch zwischen Mutter und Fötus prä­
zise beschreiben. Aber da wir hier auf ein Verfahren der ne­
gativen Gynäkologie verpflichtet sind, hat es fürs erste keinen
Sinn, das Organ, das im ursprünglichen inneren Zusammen­
sein dort ist, mit seinem anatomischen Namen zu benennen.
Würde dieser Name zu früh ausgesprochen, fiele die Unter­
suchung in einsichtslose Äußerlichkeit zurück und würde er­
neut das anatomische Vorstellen mit Erster Psychologie ver­
wechseln. Wie schnell dergleichen geschehen kann, läßt sich
am Schicksal der kaum entstandenen und doch in dieser H in­
sicht schnell gealterten Disziplin der perinatalen Psychologie
erkennen. Auch in ihr sind die Herren mit den Straßenschu­
hen im Prä-Objektiven unterwegs und machen mit verding­
lichenden Terminologien die Nacht zum falschen Tage. Um
360 Kapitel 5

den Irrweg in die Objekt-Beziehungstheorie zu vermeiden,


geben wir dem Organ, mit dem das Prä-Subjekt in seiner
Höhle kommunizierend schwebt, einen vor-gegenständli-
chen Namen: Wir nennen es das Mi t . Wäre es möglich, den
Terminus Fötus seinerseits auszustreichen und ihn durch ei­
nen ähnlich entdinglichenden Namen zu ersetzen, so wäre
auch für ihn dieser Rückzug ins Anonym zu bevorzugen; zu
seinem Unglück haftet dem vorgeburtlichen Prä-Subjekt sein
medizinischer Name schon allzufest an, und jeder habilitierte
Metzger darf von Föten reden wie von öffentlichen Gegen­
ständen. Wäre der Name des Wesens neu zu bilden, so müßte
es das A u c h heißen, weil sich das fötale Selbst nur aus dem
Zurückkommen vom Mit dort auf das Hier, das »auch-hier«
ist, ergibt. Was das Mit angeht, so ist es seiner Gegenwarts­
qualität nach weder Person noch Subjekt, sondern ein leben­
diges und lebensspendendes Es, das sich dort-in-der-Nähe
aufhält. Dem Mit gegenüber sein heißt darum: Von dem Dort,
das einen ersten O rt markiert, auf das Hier, wo das Auch
sprießt, zurückzukommen. Das Mit fungiert somit als ein in­
timer Platzanweiser für das Auch-Selbst. Es ist die erste nahe
Größe, die den anfänglichen Raum mit dem Auch teilt, indem
es dieses fördert und begründet. Daher gibt es das Mit nur im
Singular - was Mit für einen anderen wäre, könnte eo ipso das
meine nicht sein. Darum dürfte das Mit aus gutem Grund
auch das Mit-Mir heißen - denn es begleitet mich, und mich
allein, wie ein nahrhafter Schatten und ein anonymes Ge­
schwister. Dieser Schatten kann mir zwar nicht folgen - nicht
zuletzt deswegen, weil ich nicht wüßte, wie ich mich selber
wegbewegen sollte aber er spielt mir unaufhörlich durch
sein Dabeisein und Vorschweben meinen O rt im Raum vor
allen Räumen zu; indem er anhaltend treu und nährend nahe
d o r t ist, gibt er mir einen ersten Sinn für mein bleibendes
Hier. Was einst mein sprechendes Ich sein wird, ist eine Ent­
faltung jenes zarten Orts, auf den ich zurückzukommen
lernte, solange das Mit dort nahe war. Der Beschatter geht in
Der Urbegleiter 361
gewisser Weise dem Beschatteten voraus. Sofern es ihn »gibt«,
so »gibt es« mich auch. Das Mit ist das erste, was gibt und was
sein läßt. Wenn ich das Zeug dazu in mir habe, von Auch zum
Ich zu werden, so nicht zuletzt deshalb, weil mir das Mit den
O rt zu fühlen gegeben hat, an dem ich als ergänzbares, hin­
überfühlendes, polhaft offenes Wesen hier Grund zu fassen
begonnen habe. Das Mit führt - wie ein unmerklicher lang­
gedehnter Blitz, der die Nachtlandschaft erhellt - in das ho­
mogene Monochrom eine unerschöpfliche Differenz ein, in­
dem es in die auflebende Hier-Dort-Sphäre Ansätze zum Hin
und Her einprägt. Von ihm her strömen mir Energien zu, die
mich bilden. Gleichwohl bleibt es an sich selbst unscheinbar
und ohne Forderung nach eigener Präsenz. So selbstverständ­
lich ist das Mit uns beigesellt, daß sich kaum eine Vor-Idee
von seiner Unentbehrlichkeit im persönlichen wie im allge­
meinen Bewußtsein bilden kann. Als das demütigste, leiseste
Etwas, das uns je nahe gekommen sein wird, zieht sich das Mit
sofort zurück, sobald wir ihm mit feststellenden Blicken fol­
gen wollten. Es ist wie ein dunkles Brüderchen, das uns an die
Seite gestellt wurde, damit die fötale Nacht nicht zu einsam
wäre, ein Schwesterchen, das für den ersten Blick nur dazu da
ist, mit dir im selben Zimmer zu schlafen. Man könnte glau­
ben, es habe keine andere Mission als die, seine Ruhe mit der
deinen zu teilen. Wie ein intrauteriner Butler hält es sich nahe
und am Rande, diskret und nährend, eingeschworen auf unser
Geheimnis zu zweien, das außer ihm und dir kein Mensch je
in Erfahrung bringen wird. Das Mit hat zwar Züge eines phy­
sischen Organs, aber es ist für dich - weil du selbst noch ein
Wesen ohne Organe bist - eben kein reales Körperding, und
wenn doch, so nur eines, das ganz zu deiner Begleitung ge­
bildet wurde, ein Organ-Engel und ein Geheimagent im Auf­
trag jener Lieben Frau, die du bewohnst, weil sie dich zum
Kommen einlud. Das Mit ist ein intrauteriner Bewährungs­
helfer für dich allein, dich, das sorglose Sorgenkind der alche-
mistischen Nacht. So wie Kafkas Bittsteller vor dem Tor des
36 2 Kapitel 5

Gesetzes, das nur für ihn offengehalten wurde, bis zu seinem


Ende ausharrt, so ist das intimste und allgemeinste Bezie­
hungs-Organ, das Mit, nur auf dich bezogen, und es ver­
schwindet aus der Welt in dem Augenblick, in dem du als die
Hauptperson erscheinst; dann hörst du auf, ein Auch zu sein,
weil dir mit deinem äußeren Erscheinen sofort ein Eigenname
angelegt wird, der dich aufs Individuum-Werden vorbereitet
- das Mit hingegen wird nicht getauft und verschwindet den
Lebenden aus den Blicken - wie auch dir selbst. Obwohl das
Mit dein privates Reagens war, das deinen Destillierkolben
mit dir teilte, dein Katalysator und dein Mittler, bleibt es dazu
verurteilt, nur dein verlorener Uberschuß zu sein. Du bist das
Opus One, das Mit wird untergehen. Für immer bist du davon
dispensiert, an es zu denken - und mangels eines Denkens an
das Verlorene gibt es keinen Anlaß zu Rückschau und Dank.
Weil eben dein Mit in seinem Dasein als Organ-für-dich sich
aufzehrt und verschwindet, sobald es seinen Dienst getan hat,
hat es eine gewisse Richtigkeit damit, daß du es nicht zu ken­
nen pflegst und nicht einmal weißt, y/ie man es anstellen
sollte, nach ihm zu fragen. Würde es dir bei Licht begegnen
- wer könnte versprechen, daß du dich nicht vor Widerwillen
abwendest? Könntest du denn einen blutigen Schwamm, eine
flache rotbraune Gallerte als dein Seelengeschwister aus der
Vorzeit erkennen? Man darf darauf schwören: Würden G y­
näkologen oder Hebammen es vor dir bei seinem anatomi­
schen Namen nennen, es bliebe für dich doch das fernste Es,
mit dem je in Beziehung gewesen zu sein für dich nicht in
Frage kommt. Darum bleibt es bis zuletzt wichtig, das Mit als
wesenhaft namenlos und erscheinungslos zu begreifen - wir
würden zurückprallen, wahrscheinlich mit dem Ekel kämp­
fend, wenn das schwammige Etwas, so wie es für die Augen
gegeben wäre, uns zu Gesicht käme - dieses elendeste Phan­
tom in der Oper der Eingeweide. Wir würden uns erinnert
fühlen an Sartres Analyse des Klebrigen (le visqueux), bei des­
sen Berührung wir, anders als beim Eintauchen in klares Was-
D e r U rb e g le ite r 363

Figürlicher Anhänger, Keramische neolithische Peri­


ode, 5. Jahrtausend v. Chr.

ser, ein Anhaften erleben, das uns als obszöner Anschlag auf
unsere Freiheit erschiene.148 Wir müßten uns selber verdäch­
tigen, Mißgeburten zu sein, wenn wir die Zumutung spürten,
148 Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das N ichts. Versuch einer phä­
nomenologischen O ntologie. D eutsch von H ans Schöneberg und
Traugott König, Reinbek bei H am burg 1993, S. 1036- 1052.
364 Kapitel 5

ein Gefühl von Verwandtschaft mit dem visuell wahrgenom­


menen Mit-Klumpen zu entwickeln. Das von realen Augen
angesehene äußere Mit würde uns unterwandern, »wie eine
im Alptraum gesehene Flüssigkeit, deren Eigenschaften sich
alle mit einer Art Leben beseelten und gegen mich richte­
ten«.149 Aber leugnerische Motive können die historische
Wahrheit und genetische Wirklichkeit nicht ganz auslöschen:
Zu seiner wesentlichen Zeit war das Mit unsere private N ym ­
phenquelle und unser eingeschworener Genius; geschwister­
licher war es mit dir verbunden als jede äußere Schwester, je­
der äußere Bruder es je zu sein vermöchten. Was es für uns
bedeutete, das zeigen wohl gewisse archetypische Träume
und symbolisch-bildliche Projektionen besser als jede anato­
mische Repräsentation, und sogar wer sich vor dem Einschla­
fen für einige Momente dankbar unter seinem Federbett ein­
rollt, hat von dem Mit bereits mehr in Erfahrung gebracht, als
äußere Blicke auf es von ihm je ablesen könnten. Tatsächlich
besitzen Betten und ihre Utensilien, insbesondere die Kissen,
die Tuchente, die Federbetten und die Plumeaus einen so
deutlichen wie diskreten Bezug zu dem anfänglichen Organ-
für-dich. In freundlicher Unscheinbarkeit führen diese All­
tagsgegenstände die Funktion des Mit als ursprünglichem Er-
gänzer und Intimraumbildner auch für erwachsene Subjekte
weiter. Sobald wir uns auf die Nacht vorbereiten, gleiten wir
fast immer in einen Habitus, in dem wir nicht anders können,
als uns auf eine Selbstergänzung im Dunkeln einzurichten,
bei der ein zeitgemäßer Mit-Nachfolger seine Rolle spielen
wird. Auch wer nicht an Engel und Doppelgänger glaubt,
kann sich mit seinen unmittelbarsten Schlafhelfern in die Ge­
heimnisse prä-personaler Freundschaft einüben; wer keinen
Freund hat, kann immerhin eine Bettdecke haben. Die Theo­
rie der Mit-Projektionen wird nicht zuletzt eine psychohisto-
rische Deduktion der Bettkulturen erlauben.

149 Ibid., S. 1042.


D e r U r b e g le ite r 365

Solange also das Mit unter solchen freien Anonymen im


kulturellen Raum auftaucht und zirkuliert, sind sublimierte
und symbolisch gedeckte Wiederbegegnungen mit ihm we­
der unmöglich noch selten. Auch der junge Mann, der sich
während vieler Monate im Schweigen mit seinem Analytiker
übte, scheint zu denen zu gehören, die es verstanden haben,
ihr verlorenes Mit außerhalb des Bettes zum Rendezvous zu
bestellen. Träfe diese Vermutung zu, so würde die Antwort
auf die Frage, welche Rolle der Analytiker in Grunbergers
Legende zu spielen hatte, lauten: Er verkörperte das verlorene
und wiedergefundene Mit seines Klienten. Während einiger
Monate stummer Mit-Gefühlsübungen hätte sich der »Ana-
lysand« der Mit-Gegenwart in solchem Maße vergewissert,
daß er eines Tages gewußt hätte, er wäre von da an »allein«
imstande, das ihn Ergänzende auch außerhalb der therapeu­
tischen Monadenform bei sich zu halten. So hätte in seinem
Fall Pfeilung nichts anderes bedeutet als das beruhigte Wie-
deranknüpfen an der inneren Aussicht auf die nicht so leicht
wieder verlierbare Schattengegenwart des inneren Begleiters.
Wer vermeiden möchte, das Mit durch veräußerlichende De-
projektionen zu entstellen und es ins anatomisch-Dingliche
366 Kapitel 5

herunterzusetzen - was verblendender zu wirken pflegt als


das übliche Nie-daran-Denken muß sich um bildliche
Projektionen bemühen, in denen das Mit-Nobjekt in ange­
messener Sublimationshöhe zum Vorschein gebracht würde.
Die Anhebung des Mit ins nicht-anatomische Erhabene wäre
erreicht, sobald die bildliche Darstellung der ursprünglich
raumbildenden Polarisierungsenergie der Mit-Auch-Sphäre
gerecht würde. Es gibt hierfür in der früh- und hochkulturel­
len Symbolgeschichte zahlreiche Dokumente, die nicht zu­
letzt im Feld der Integrationssymboliken zu finden sind, ins­
besondere in dem weiten Gestaltzyklus der Lebensbäume
(vgl. Exkurs 5) und der Mandalafiguren. Die aktuellste Sym-
bolisierung psychischer Primärdualität geschieht aber in je­
nen Doppelgänger-, Zwillings- und Seelengeschwistermy­
thologien, denen wir im folgenden eine eigene Untersuchung
widmen werden.150 Um die Extreme dieses Mit-Symbolis-
mus zu markieren, wollen wir zunächst zwei eminente
Modelle für die fötale Raumschöpfung kommentieren, von
denen das erste einen theologischen, das andere einen künst­
lerischen Zugang zum Mit als Erscheinung bahnt.

In einer Vision der Heiligen Hildegard von Bingen aus dem


ersten Teil ihrer Niederschrift mystischer Schauungen Sci-
vias von 1147 findet sich eine beispiellos sublime intrauterin­
theologische Kommunion. Hildegard hat ihre audiovisionä-
ren Eingebungen bekanntlich zunächst selbst in einer Ver­
balparaphrase niedergeschrieben und sodann in ergänzenden
Bildauslegungen kommentiert; zuletzt wurden ihre Schau­
ungen von einem Handschriften-Illustrator in buchmaleri­
sche Formen übersetzt. Die Legende zur vierten Vision aus
dem ersten Safizhs-Zyklus lautet wie folgt:150

150 Vgl. unten 6. Kapitel, Seelenraumteiler. Engel - Zwillinge - D o p ­


pelgänger, S. 419ff-
D e r U rb e g le ite r 367
»Und dann sah ich einen überaus großen und sehr hel­
len Glanz, der wie mit vielen Augen aufflammte. Seine
vier Ecken wiesen in die vier Himmelsrichtungen
(perates mundi); das bezeichnet ein Geheimnis des
himmlischen Schöpfers, das mir in einem großen
Mysterium offenbart wurde. Darin erschien auch ein
anderer Glanz wie Morgenrot, das die Helligkeit eines
purpurnen Blitzes besitzt. Und da sah ich auf der Erde
Menschen, die Milch in ihren Gefäßen trugen und dar­
aus Käse bereiteten. Sie war teils dick und ergab kräf­
tigen Käse, teils dünn und gerann zu magerem Käse,
teils verdorben ..., und es entstand bitterer Käse dar­
aus. Ebenso sah ich eine Frau, die in ihrem Schoß
gleichsam einen voll ausgebildeten Menschen trug.
Und plötzlich regte sich nach der verborgenen Anord­
nung des himmlischen Schöpfers diese Gestalt mit leb­
hafter Bewegung, so daß eine Feuerkugel das Herz
dieser Gestalt in Besitz zu nehmen schien. Sie war
ohne menschliche Körperumrisse, berührte ihr Gehirn
und ergoß sich durch alle ihre Glieder.
Doch als dann dieses belebte menschliche Gebilde aus
dem Schoß der Frau hervorging, wechselte es, je nach
der Bewegung, die diese Kugel in ihm ausführte, seine
Farbe. Und ich sah, wie viele Stürme über eine derar­
tige Kugel in einem Menschenleib hereinbrachen und
sie bis zur Erde niederdrückten. Doch sie sammelte
ihre Kräfte, richtete sich mannhaft auf und widerstand
ihnen tapfer.«151
Die Bildillustration zu dieser Vision aus dem Rupertsberger
Kodex übersetzt wesentliche Züge des hier Geschauten in die
Sprache äußerer Visualität. In seiner Längsachse ist das Bild
durchschnitten von einem Stamm oder einem Seil, das mit
151 Hildegard von Bingen, Scivias. Wisse die Wege. Eine Schau von
G ott und M ensch in Schöpfung und Zeit, Ü bersetzt u. herausgege­
ben von Walburga Storch OSB, F re ib u rg -B a se l-W ie n 1992, S. 58.
Kapitel 5

Hildegard von Bingen, Scivias, Die Erschaffung der Seele, Illustration aus
dem Rupertsberger Codex
D e r U rb e g le ite r 369

kurioser oder bestürzender Konkretheit vom Bauch des Fö­


tus in der liegenden Mutter am ovalen Bildboden aufsteigt zu
der schwebenden, von Augen übersäten Raute im oberen
Feld. Wenn es je eine Darstellung des Mit gegeben hat, die
vor anatomischer Entsublimierung geschützt war, dann steht
sie hier konkret vor Augen. Das beseelende vis-a-vis des Kin­
des im Mutterleib erscheint geradewegs zur magischen Vie­
rung im Flimmelsraum emporgehoben; durch die exzentri­
sche Nabelschnur ist der Fötus mit der Sphäre göttlicher
Geisthaftigkeit sinnenfällig verbunden; diese manifestiert
sich als Ansammlung reiner Intelligenzen und weltstiftender
Augen in der oberen Welt. Daß diese von Augen überfüllte
Vierung tatsächlich eine sehr gottnahe Emanation symboli­
siert, bezeugt die erste der Scivias- Visionen, worin Flildegard
in dichtester Nähe zu der überglänzenden Gestalt des Höch­
sten eine Erscheinung wahrnahm, »über und über mit Augen
bedeckt. Ich konnte vor lauter Augen keine menschliche Ge­
stalt erkennen.«152 Hildegards Vision von der Erschaffung
des Menschen und seiner Seele konzipiert also das Mit nicht
als ein intrauterines Phänomen, sondern als einen himm­
lischen Subjektivitätskörper, der von weither durch eine
Hypernabelschnur oder ein Engel-Kabel mit dem Fötus in
Verbindung steht. Durch diese Schnur steigt zu einem be­
stimmten Zeitpunkt eine kugelförmige Einzelseele aus dem
hohen Mit in das Kind herab - ganz so, als löse sich eines der
Augen oben aus seinem himmlischen Ensemble und dringe
durch den Nabel in das Herz des Fötus ein. Damit wird der
psychognostische Charakter der vierten Scivias-Vision evi­
dent: Sie bietet eine Gesamtschau der menschlichen O nto­
genese. Während die exzentrische Nabelschnur die innige
Fernverbindung des Fötus zu seinem beseelenden Mit im
gottnahen Raum augenfällig macht, stellen die Menschen im
Oval, die in Gefäßen ihre Käselaibe herbeibringen, die physi-

152 Ibid., S. 10.


37° Kapitel 5

sehe Erschaffung des Menschen dar. Zum Verständnis von


Käselaibern als Menschenleibsymbolen ist an die sehr alte, im
Christentum durch das Buch Hiob allgegenwärtig gemachte
Vorstellung zu erinnern, daß der Menschenkörper im M ut­
terschoß sich nicht anders bilde als Käse in der fermentieren­
den Milch: durch Eindickung und Gerinnung. So wie bei der
Käseherstellung aus flüssigem Material ein fester Körper
konkresziert, so entsteht im Mutterleibsinnern durch Blutge­
rinnung die menschliche Gestalt.153 Daher konnte Hiob in
seinen Klagen gegen Gott die Fragen Vorbringen:
»Ließest du nicht wie Milch mich gerinnen und wie
Käse mich fest werden? ...
Warum denn ließest du mich aus dem Mutterschoß
kommen, warum verschied ich nicht, ehe mich ein Aug
sah?« (Hiob io, io und 18)
Aber wie nicht alle Milchgerinnungen zu guten Ergebnissen
führen, so ergeben nicht alle Konkreszenzen im Mutter­
schoß solide Menschenleiber: Hildegard wußte durch eigene
chronische Kränklichkeit, wie prekär es um menschliche
Leibesschöpfungen stehen kann; sie selbst war ein typisches
Produkt von »magerem Käse« - wobei einzuräumen ist, daß
dieser ohne Zweifel seinen eigenen Wert besitzt und nicht
von vorneherein als mißraten gelten muß; auch das Magere
ist ein legitimes Resultat von Prozeduren in der Schöpfungs­
werkstatt; ja, mit ihm hat der erste Hersteller, nach den Ein­
sichten esoterischer Psychologen, oft Besonderes vor, sofern
die Mageren die besseren Medien sind; nur vor dem Bitter­
werden müssen sich Menschen hüten wie vor der Verdamm­
nis. Hildegards Modell zufolge wiederholt die Schwanger­
schaft die Erschaffung Adams: physisch als Körperbildung
durch Konkreszenz von Festem aus Flüssigem, psycho-
pneumatisch als Einhauchung der Seele durch Abstieg einer
Geistkugel aus dem angelischen Raum in den fötalen Leib;
153 Vgl. hierzu auch unten Exkurs io, Matris in gremio. Eine m ariolo­
gische Grille, S. 632ff.
D e r U rb e g le ite r 3 71
das letztere geschieht nach traditioneller Ansicht um die
Mitte der Schwangerschaft - zu einem Zeitpunkt also, der in
den älteren Frauenweisheitslehren mit dem Einsetzen der
spürbaren Kindsbewegungen gleichgesetzt wurde. Die aus
der Gottnähe herabgestiegene, vom Kinderkörper absor­
bierte Kugel ist es, die in Hildegards Vision auch nach der
Geburt des Menschen sein Schicksalszentrum bildet; sie ist
dazu berufen, sich in weltlichen Anfechtungen zu bewähren.

Neben Hildegards theologischer Vision der Mit-Struktur


werden alle psychologischen oder endoskopischen Konzep­
tionen vom intrauterinen Partner prosaisch und trivial er­
scheinen. Auch wenn zeitgenössische Interpreten nicht un­
mittelbar an Hildegards religiöser Vorstellungswelt werden
anknüpfen können, so finden sie hier doch ein Dokument,
das bezeugt, in welchen Höhen ältere Visionsdiskurse das
geheimnisvolle Zusammensein des Fötus mit einem besee­
lenden Gegenüber angesetzt haben. Die Nabelschnur ist
mehr als eine Ader zwischen dem Kind und einem blutigen
Schwamm in seiner Nähe - sie bildet das physische M onu­
ment von realer Angebundenheit des werdenden Lebens an
eine einströmende Ergänzungskraft. Man mag diese Kon­
zepte ihrer religiösen Überschwenglichkeit wegen heute in
Klammern setzen: Nach Tonhöhe und Form schützen sie
auch den modernen Forscher auf diesem Feld vor dem phy­
siologischen Schwachsinn der Weiberkennerschaft mitsamt
ihrer gynäkologischen Vorhut und ihrem populärpsycholo­
gischen Nachtrab. Sie deuten die Ebene an, auf der die Reden
von der intrauterinen Bipolarität angesiedelt sein müßten,
wenn das Risiko einer unangemessenen Entsublimierung ge­
bannt werden soll.
Ebenbürtige Formulierungen aus unserer Zeit ließen sich
am ehesten im Bereich der phantastischen Bildkunst erwar­
ten, wo psychische Tiefensymbolismen zu visuellen Figura­
tionen ausgestaltet wurden. Ein eminentes jüngeres Beispiel
372 Kapitel 5

hierfür bieten einige mysteriöse Baum-Bildnisse des surreali-


stischen Malers Rene Magritte, insbesondere ein Werk mit
dem Titel La Reconnaissance Infinie (Das unendliche Wie­
dererkennen) aus dem Jahr 1964: Magrittes Bild, eine Goua­
che von kleinem Format, zeigt, mitten in einem hohen herz­
förmigen Baum von dichter, schwammartig feingeäderter
Belaubung, zwei kleine Fferren mit Hüten in langen dunklen
Mänteln in Rückenansicht, wie Zwillinge, die im oberen
Drittel des Laubwerks gleichsam in der Herzgegend des
Baums stehen. Ihre Anwesenheit in dem Baum erweckt den
Eindruck von großer Selbstverständlichkeit, obwohl die bei­
den Figuren darin zugleich klein und etwas verloren wirken.
Das Bild liest sich wie ein verschlossener Traktat über das Zu­
sammengehören: Was die beiden einander so ähnlichen Män­
ner, die wie Chaplin-Miniaturen in dem Laub dastehen, mit­
einander zu tun haben, bleibt ebenso ungeklärt wie der
Grund ihrer Zugehörigkeit zu dem Baum - doch scheinen die
beiden Ungeklärtheiten ineinander verschlungen; das eine
Nichtwissen kommentiert das andere. Der Titel des Bildes
läßt offen, ob das unendliche Wiedererkennen - das auch un­
endliche Dankbarkeit bedeuten kann - eines ist, das zwischen
den beiden Männern stattfindet, oder ob es sich auf die Lage
der beiden im Innern des Baumes bezieht. In beiden Fällen ist
das erkennende Danken oder Denken auf den Baum selbst
bezogen: in dem einen Fall als Entdeckung der Ähnlichkeit
zwischen den beiden Figuren - dann stünden sie in einem
Baum der Erkenntnis; im anderen als Zeugnis für die Zuge­
hörigkeit beider zu dem Baum als solchem, den man dann als
Baum des Lebens begreifen müßte. So nimmt Magrittes sym­
bolischer Bilddiskurs, obschon ganz in malerischer Eigen­
wertigkeit der gestalteten Formen verankert, das Gespräch
mit alten judäo-christlichen Mythostraditionen auf. Räumt
man ein, daß das Motiv des Lebensbaums ein ursprüngliches
Mit-Symbol darstellt, so führt Magrittes Rätselbild unmittel­
bar ins Feld der archaischen Bipolarität ein: Der O rt im Baum
Der Urbegleiter 373

Rene Magritte, La reconnaissance infinie

ist tatsächlich jener, von dem das unendliche Wiedererkennen


wie die Dankbarkeit ohne Grenzen sich herleiten. Zugleich
wahrt das Baumsymbol, diskret und sublim, das Anonym des
Mit und verschafft ihm Präsenz in der Anschauung, ohne es
an die anatomische Trivialität zu verraten.
In noch höherem Maß gilt dies für die berühmte Serie von
Gemälden unter dem Titel La voix du sang (Die Stimme des
374 Kapitel 5

Blutes), in der Magritte zwischen 1948 und den frühen sechzi­


ger Jahren das Motiv des Wunderbaumes meditierte. In einem
von tiefem See-Blau und Schwarzgrün dominierten Bild, das
mit einem Format von 90 auf 110 Zentimeter suggestive Prä­
senz entfaltet, sind die mythischen Motive von Lebensbaum
und Baum der Erkenntnis in eins zusammengezogen. Das
Bild scheint von sich her eine Wahrnehmung in drei Blickfol­
gen vorzuschreiben: Als erstes springt in der Bildmitte der
zweifach aufgeklappte Baumstamm ins Auge. Die Fächer im
Stamm stehen offen wie die Fenster eines Adventskalenders,
in denen sich naive Glückssymbole zeigen - die verschlos­
sene weiße Kugel und das von innen her vielversprechend
erleuchtete Plaus. Es scheint nicht ausgeschlossen, daß in
dem adventlichen Baum über dem Kugelfenster noch ein
drittes, schon nahezu im Laub verborgenes Fenster aufgehen
könnte. Kaum löst sich der erste Blick von den figürlichen
Attraktionen in der Mitte, so wird er in einem zweiten Akt
hinaufgezogen in das archetypische Geäst des Riesenbaums,
der die gesamte obere Bildhälfte mit seiner dunklen,
unwiderleglichen Autorität ausfüllt. Das vom blauen H in­
tergrund durchschienene Laubwerk in seiner kleinteilig
schwammig-sphärischen Struktur bildet eine organische An­
tithese zu den geometrisch-künstlichen Figuren im Baum-
stamm-Innern. Obwohl das Bild menschenleer erscheint,
diskutiert es doch gleichsam über einen menschlich bedeut­
samen Gegensatz - den zwischen der organischen Verzwei-
gungs- und Laubform und den geisthaft idealisierten und
konstruierten Figuren von Haus und Kugel. Aber wie ertönt
die Stimme des Blutes? Sie erscheint als der Ruf des Lebens­
baums selbst: Sie ist es, die zwischen den geometrischen Fö­
ten im Baumstamm und der nährenden Laubsphäre vermit­
telt. Dem Baum, der die Kugel und das Haus in seinem
»Schoß« trägt, geht es offensichtlich nicht um Früchte eige­
ner Art und Gattung. Er produziert, als Baum des Lebens
und der Erkenntnis in einem, nicht das Eigene und organisch
Der Urbegleiter 375

Rene Magritte, La voix du sang

Ähnliche, sondern seinen Gegensatz, die anorganischen gei­


stigen Formen, die für denkende Subjekte von Bedeutung
sind, weil sie ihre eigene Konstruktivität bezeugen. So steht
Magrittes Baum für ein Mit, das als vegetative Natur geistige
Bewohner fördert. Der Baum des Lebens ist mit Häusern,
Kugeln und menschlicher Subjektivität schwanger. Deswe-
37^ Kapitel 5

Rene Magritte, La voix du sang, Ausschnitt


Der Urbegleiter 377
gen sind im Inneren des Adventsbaums die intrauterinen
Pole deutlich kontrastiert: im Stamm das Auch, die geome­
trischen Bilder-Föten, im organischen Laubwerk das Mit,
das lebenspendende Nähewesen. - Was den dritten Blick auf
das Gemälde angeht, so wird dieser erst freigegeben, wenn
die Betrachtung vor den undurchdringlich offenen Geheim­
nissen des Lebensbaumes resigniert hat. Irgendwann schaut
man an der Baum-Intimsphäre vorbei ins Weite, das sich
überraschenderweise wirklich als befreite Zone erweist: Eine
tiefe Flußlandschaft tut sich auf, links mit Gebirgszügen,
rechts einer offenen Ebene. Es ist eine Landschaft ohne Sym­
bollast und Rätselschwere. In sie könnte gelangen, wer sich
aus dem Vordergrund-Schallkreis löst, in dem die Stimme
des Blutes über alles herrscht. Wäre es also ganz falsch zu
vermuten, daß der Künstler selbst sich in diesem blauen
Fernraum versteckt und von dort aus, ein wenig mutwillig
und ohne Glauben an seine Symbole, seinen Betrachtern die
Figuren im Vordergrund wie Scheinrätsel vor Augen führt?

Welche Schlüsse dürfen wir aus diesen symbolischen Mit-


Darstellungen auf seine Struktur und Seinsweise ziehen? Auf
jeden Fall wird in diesen Bildern dem intimen Raumpartner
ein prägnanter Rang im Wirklichen zugesprochen. Ob es als
gottnahe Vierung voller Augen und Seelenkugeln vorgestellt
wird oder als adventischer Lebens- und Erkenntnisbaum: In
beiden Projektionen erscheint das Mit als eine souverän er­
gänzende Instanz, die dem Ich Grund zu innigem und dank­
barem Andenken gäbe. Nichtsdestoweniger bleibt die Frage
berechtigt, ob das Mit wirklich nur in solchen sublimen Pro­
jektionen und indirekten Manifestationen sichtbar werden
kann. Ist das »andere Organ« tatsächlich darauf angewiesen,
ausschließlich in erhabenen Umschreibungen angedacht zu
werden? Läßt sich von ihm nur reden wie von dem unsicht­
baren Monarchen eines Nachbarstaates, von dessen Wohl­
wollen unser eigenes Glück abhängt, ohne daß wir ihn je zu
37« Kapitel 5

einem offiziellen Besuch empfangen dürften? Gibt es kein


Mittel, den intimen Anderen als Gast aufzunehmen, ohne
ihn zu unterschätzen oder ihn durch ungebührliche Überhö­
hungen aus den Augen zu verlieren? Wenn er ein unentbehr­
licher Partner unseres Höhlenlebens gewesen ist, was hindert
uns daran, bei unserem eigenen Austritt aus der Höhle dar­
auf zu achten, ob nicht der Andere mit uns zugleich er­
scheint? Wenn das Mit die persönlichste Höhle mit dir geteilt
hat, nicht als Gespenst und als imaginäres Nachtschatten­
gewächs, sondern als reales, unentbehrliches, körperliches
Zweites, so kann es nicht ausbleiben, daß es mit dir die Höhle
verläßt, sobald es für dich an der Zeit ist, den Umzug zu be­
treiben.
Für diesen Fall scheint das oben eingerichtete Arrange­
ment mit dem doppelten Beobachter in und vor der Höhle
gute Dienste leisten zu können: Der äußere Zeuge müßte in
der Lage sein, ohne Umschweife anzugeben, ob zusammen
mit mir, dem Ankömmling erster Klasse, auch mein Mit ins
Freie gelangt ist. In diesem Fall bräuchten wir nicht zu be­
fürchten, einer falschen gynäkologischen Draufsichts-Prosa
zu erliegen; es ginge jetzt nicht darum, innere Wirklichkeiten
unangemessen nach außen zu zerren und durch plattes Ein­
ordnen zu entsublimieren. Der äußere Beobachter hätte ja
nicht mehr zu bezeugen als das, was von sich her bei dem im­
mer drastischen und erhabenen Geburtsdrama am Höhlen­
ausgang ins Licht kommen muß. Was also wird der äußere
Beobachter über das, was mit dir kam, zu Protokoll geben?
Wird er dir auf den Kopf Zusagen: Du warst allein? Oder
wird er bestätigen: Es waren zwei? Doch gerade in diesem
Moment der Entscheidung wird der Beobachter, auf den wir
hoffen, uns in der Regel enttäuschen. Jetzt erst läßt sich das
ganze Ausmaß unserer Verlegenheit ermessen: Hatte denn
von allen, die wir kennen, je einer die Möglichkeit, seine
Hebamme oder den Hausarzt zu konsultieren? Und wie
selbstverständlich scheint es zu sein, daß unter Millionen
Der Urbegleiter 37 9
nicht einer die eigene Mutter über solche Dinge ins Verhör
nimmt. Von vorneherein stellen wir keine Fragen, als sei die
Unmöglichkeit, Antwort zu bekommen, erwiesene Sache. So
gewiß ein äußerer Beobachter das Neugeborene und sein Mit
als Augenzeuge gesehen haben müßte, wenn beide das Licht
der Welt nacheinander erblickt hätten, so sehr sind nachträg­
liche Verifikationen erschwert, weil die Zeugen so gut wie
nie mehr zu vernehmen sind. Sollte das Mit zugleich mit mir
zutage gekommen sein, so könnte ich mich seiner Existenz
doch nicht mehr vergewissern, es sei denn, ich fände Mittel,
die Mauer des Schweigens zu durchbrechen, die von meiner
ersten Stunde an um mich und meinen Ergänzer errichtet
wurde. Sollte es das Mit je gegeben haben: Ich bin in jedem
Fall der, der offensichtlich von ihm schlechthin getrennt sein
soll.
Eine Mauer des Schweigens - in der Tat: Je mehr sich das
intrauterine Monochrom lichtet oder konturiert, als desto
hartnäckiger erweisen sich die Widerstände, die sich einer
Beschreibung in den Weg stellen. Selbst wenn ich mich mehr
und mehr einnehmen lasse von der Vermutung, daß wir da­
mals, in der erlesenen Höhle, immer zu zweit gewesen sind,
so verweisen mich doch alle meine lebensgeschichtlichen
Spuren ausschließlich auf mich selbst allein. Wurde ich denn
von Anfang an betrogen? Hat man mein Mit heimlich ent­
fernt und vertauscht, wie einen Kaspar Hauser unter den O r­
ganen? Lebt es vielleicht heute noch anderswo gefangen, un­
terirdisch, verwahrlost und vereinsamt, wie der unselige
Kaspar, das Karlsruher Phantom, das Kind von Europa in
seinem fränkischen Verließ? Und wenn es tot wäre, und ich
wäre verwaist, warum hat man es nicht förmlich bestattet,
wäre es auch nur auf einem Friedhof für Organe, die mit uns
verwandt sind? Wer hat beschlossen, daß wir Wesen sein sol­
len, die unser verlorenes Mit weder suchen noch besuchen -
nicht an unseren Geburtstagen, nicht an Allerseelen? Worin
besteht der Sinn dieser Mit-Losigkeit, zu der jeder einzelne
380 Kapitel 5

heute wie durch allgemeine Verabredung verurteilt ist? Was


könnte unternommen werden, um die lückenlose Schweige­
allianz zu unterlaufen, die aus dem Mit das unbedingte U n­
thema zu machen gewußt hat?
Es gibt immerhin ein Detail, das aus dem Hebammenge­
flüster ins allgemeine Wissen durchdringt: Stets kann eine
Geburt erst dann als glücklich beendet gelten, wenn auch die
Nachgeburt den Mutterleib ohne Rückstände verlassen hat.
Die Verschwörung des Schweigens gegen das Mit hat hier
ihre schwache Stelle. Tatsächlich wissen die Geburtshelfer,
daß es immer zwei Einheiten sind, die bei gelingenden Ge­
burten ins Freie gelangen. Das Kind, dem naturgemäß der
Hauptanteil der Aufmerksamkeit gehört, kommt aus der
Höhle nie allein - ihm folgt ein unvermeidliches organisches
Supplement, das man im alten Frankreich arriere-faix oder
delivrance nannte, die Nachgeburt, das Nachgemächte, die
Erlösung. N ur Geburt und Nachgeburt zusammen erfüllen
den Tatbestand einer vollständigen Entbindung. Seit etwa
1700 hat sich im Deutschen wie in den übrigen europäischen
Nationalsprachen für die Nachgeburt der medizinische Ter­
minus Plazenta ausgebreitet. Der Ausdruck ist eine gelehrte
Entlehnung aus dem lateinischen Wort für Flachkuchen oder
Fladenbrot, placenta, das seinerseits auf das gleichbedeu­
tende griechische plakous, Akkusativ plakounta, zurück­
geht; dieses wiederum ist mit dem österreichisch-ungari­
schen Ausdruck Palatschinke, Pfannkuchen, verwandt. Die
metaphorischen Wurzeln des Ausdrucks liegen offenkundig
im Vorstellungsfeld des alten Bäckerhandwerks; seinen Sitz
im Leben hatte der Ausdruck in der Feldküche der römi­
schen Legionen. Tatsächlich hatte bereits Aristoteles das Ver­
hältnis von Mutterleib und Kind mit dem zwischen Ofen
und Brotteig verglichen. Für ihn bedeutete der Aufenthalt
des Kindes in der Mutter eine Erschaffung durch Konkreti­
sierung oder Festwerdung des Weichen. Den älteren Hebam­
mentraditionen zufolge jedoch war das Gebäck der Mutter
Der Urbegleiter 381

nicht so sehr das Kind selbst, sondern jener mysteriöse Mut­


terkuchen, mit dem das Kind in utero gespeist zu werden
schien, bis es imstande wäre, das Licht der Welt zu erblicken
und die Milch der Welt zu trinken. Somit wurde der trächtige
Schoß von Müttern und Wehmüttern in alter Zeit immer
schon als eine zweifache Werkstatt vorgestellt - als Plazenta­
bäckerei und als intime Kindsküche. Während in dem Ute­
ruskessel das Kind selbst zubereitet wird, sorgt das zweite
Werk der Mutter, der flache Kuchen, für die angemessene
Nahrung während der längsten Nacht. Er kommt darum bei
der Geburt als zweite Lieferung an den Tag, die noch von der
neueren Gynäkologie als secundinae mulieris bezeichnet
wird. Wo Vorstellungen einer magischen Mutterleibsküche
vorherrschend waren, dort versteht es sich von selbst, daß
die Plazenta, als das opus secundum der Mutter, als wesentli­
che Miterscheinung bei jeder Geburt mit Hochachtung, ja
mit numinoser Scheu in Empfang genommen wurde. Jedem
neugeborenen Kind war in Gestalt der Nachgeburt etwas
Ungesagtes mitgegeben, das vor allem für die Frauengemein­
schaft im Geburtsbezirk in schicksalhafter Beziehung zum
Leben des Kindes zu stehen schien. Oft galt die Nachgeburt
als dessen Doppelgänger, weswegen die Behandlung der Pla­
zenta unmöglich gleichgültig sein konnte. Sie mußte wie ein
Omen gehütet und wie ein symbolisches Geschwister des
Neugeborenen in Sicherheit gebracht werden. Vor allem war
zu verhindern, daß Tiere oder fremde Menschen sich ihrer
bemächtigten. Oft wurde sie vom Vater des Kindes im Keller
oder unter den Stiegen des Hauses begraben, damit das
Hauswesen von ihrer fruchtbaren Kraft profitierte, mitunter
dienten auch Scheunen oder Ställe als Begräbnisplätze.154
Gelegentlich wurde die Plazenta auch im Garten oder im
Acker vergraben, wo sie möglichst ungestört in der Erde zer-
154 Vgl. Jacques Gelis, Das Geheimnis der G eburt. Rituale, Volksglau­
ben, Überlieferung, Freiburg - Basel - Wien 1992, darin das Kapi­
tel: »Die Plazenta, der Doppelgänger des Kindes«, S. 253-262
38i Kapitel 5

fallen sollte. Allgemein verbreitet war der Brauch, sie unter


jungen Obstbäumen zu bestatten - wobei die morphologi­
sche Verwandtschaft zwischen dem plazentaren Gewebe und
dem Wurzelwerk von Bäumen wie ein Analogiezauber mo­
tivierend mit ins Spiel gekommen sein mag; auch die Ge­
wohnheit, die Nabelschnur unter Rosenstöcken zu beerdi­
gen, entspringt magisch-analogischen Überlegungen.155 In
Deutschland wählte man für Knabenplazenten einen Birn­
baum, für die der Mädchen einen Apfelbaum. Wurden über
begrabenen Plazenten Fruchtbäume gepflanzt, so sollten
diese zu den Kindern zeit ihres Lebens in sympathetischer
Beziehung stehen; von dem Kind und seinem Baum glaubte
man, daß sie gemeinsam gedeihen, gemeinsam erkranken
und gemeinsam sterben. In anderen Traditionen wurde die
Plazenta an verborgenen Winkeln des Hauses, etwa in Kami­
nen, zum Trocknen aufgehängt - ein Brauch, der angeblich
noch heute im Norden Portugals erratisch fortbesteht. Ge­
trocknete und zu Pulver zermahlene Plazenta-Substanz galt
in vielen Gegenden Europas als ein unübertreffliches Heil­
mittel für zahlreiche Leiden; schon im Corpus Hippokrati-
cum ist es erwähnt, und von den Ärzten der Schule von Sa­
lerno an bis ins 17. Jahrhundert wurde es von Medizinern
und Apothekern gerühmt, vor allem als Mittel gegen Leber­
flecken, Muttermale und akute Geschwülste, auch gegen
Epilepsie und Schlaganfälle. Was Frauenleiden und Frucht­
barkeitsstörungen anging, so schienen diese die Anwendung
von Plazentapulvern gebieterisch zu fordern. Auch bei der
Reanimation von leblosen Neugeborenen wurde der Pla­
zenta eine überragende Bedeutung zugeschrieben; man ver­
sprach sich von dem Mutterkuchen, der als warme Kom­
presse aufgelegt wurde, wie zum letzten Mal unterstützende
Wirkungen für die unglücklichen Geschöpfe, die aus dem
Geburtskampf scheintot hervorgegangen waren. Die Reisen-
155 Vgl. Franfoise Loux, Das Kind und sein K örper in der Volksmedi­
zin. Eine historisch-ethnographische Studie, Stuttgart 1980, S. 1 iS.
Der Urbegleiter 383

= Hl Ye
Eigen­
name
= £ Yong

7^ = «fl Dae Großer


König
3 L “ 5£ Wang

/ f ê - eff Tae Plazenta

tjj7 = Shih Zimmer

Das Grab der Plazenta eines Prinzen, des späteren 8. Königs der Yi Dynastie
(1468-1469). Es befindet sich vor dem Heimatmuseum der Stadt Chonju in
der Provinz Cholla Pukdo. Die Zeichen auf der Schildkrötenstele (Schild­
kröte = Symbol für langes Leben) sind nebenstehend erläutert.

den des 16. Jahrhunderts versäumten es nicht, verwundert


oder schockiert zu notieren, daß bei manchen Völkern, etwa
bei brasilianischen Indianern, der Brauch bestand, gleich
nach der Geburt die Plazenta zu verzehren - wie es auch bei
der Mehrzahl der Säugetiere zu beobachten ist. Bei den Jaku­
ten bildet die Plazenta-Mahlzeit ein Ritual, das der Kindsva­
ter seinen Freunden und Verwandten schuldet. Auch in Eu­
ropa war bis ins 18. Jahrhundert die Vorstellung verbreitet,
daß es für stillende Mütter von Vorteil sei, wenn sie zumin­
dest ein kleines Stück frischer Plazenta verzehrten. Aus ei­
nem Rezeptbuch der Hildegard von Bingen sind Angaben zu
Fleischrouladengerichten mit Plazentafüllung überliefert.
Noch in einem Handbuch der Geburtshilfe von 1768 finden
sich leidenschaftliche Erörterungen über die Frage, ob Adam
nach der Geburt seiner Nachkommen selbst die Nachgeburt
aufgegessen habe.156 Im pharaonischen Ägypten wurde vor
allem bei Königsentbindungen der Nachgeburt ein hoher
kultischer Rang zuerkannt. Die Plazenta des Pharao galt als
156 Vgl. Gélis (s. Anm. 154), S. 261.
384 Kapitel 5

Inkarnation seiner äußeren Seele; sie wurde als sein »heim­


licher Helfer« beschrieben und gelegentlich in Bildern dar­
gestellt. Uber die elaborierten plazenta-kultischen Institu­
tionen des alten Ägypten sind eindrucksvolle Details
überliefert.157 Nicht selten wurde die Plazenta das Pharaos
nach der Geburt mumifiziert und als Talisman zeitlebens
aufbewahrt; von diesem »Bündel des Lebens« gingen be­
schützende und unterstützende Wirkungen aus; es galt als
der mystische Alliierte des Königs. Mit großen Ehren wurde
die Plazenta-Mumie von Tempelpriestern verwahrt und be­
wacht. Der altägyptische Brauch, die Pharaonenplazenta bei
Prozessionen vor dem Herrscher herzutragen, hat sich seit
dem vierten Jahrtausend vor Christus bis in die Ptolemäer­
zeit erhalten; von ihm leiten sich spätere Fahnenkulte ab.158
Während der 4., 5. und 6. Dynastie existierte ein eigenes
Büro, dessen Beamte als »Offner der königlichen Plazenta«
fungierten. Vermutlich war es ihre Aufgabe, nach dem Tod
des Pharaos dessen »Bündel des Lebens« symbolisch zu öff­
nen, damit die äußere Seele für die Unterweltreise befreit
würde; zugleich gab dieser Abschiedsritus dem Thronnach­
folger den Weg frei. Die Plazenta-Mumie wurde dann entwe­
der in eigenen Alabasterurnen beigesetzt oder zusammen mit
dem balsamierten Leichnam des Königs als dessen Mütze
oder Kopfkissen ins Grab gelegt. Die Röntgenaufnahme ei­
ner Königsmumie im Britischen Museum zeigt eine Plazenta,

157 Zum folgenden siehe Reimar H artge, Z ur Geburtshilfe und Säug­


lingsfürsorge im Spiegel der Geschichte Afrikas, in: Curare, Zeit­
schrift für Ethnom edizin, Sonderband 1/1983, S. 95 -108.
158 Im Licht dieses kulturhistorischen Zusammenhangs ist besonders
pikant, was H arold Bloom in seiner Studie über die neueste ameri­
kanische N ationaltheosophie, den von ihm so genannten American
Orphism, bemerkt: daß diese in der Fahne und im Fötus ihre zen­
tralen Symbole besitzt. Vgl. H . B., The American Religion. The
Emergence of the Post-C hristian N ation, N ew York 1992, S .45:
»The flag and the fetus together symbolize the American Religion,
the partly concealed but scarcely repressed national faith.«
Der Urbegleiter 385

die mit Bandagen am Hinterkopf des Toten fixiert wurde. In


einigen Gegenden Nordafrikas soll der Brauch, Plazenta-
und Nabelschnur-Amulette in Lederbeutelchen zeitlebens
am Leib zu tragen, noch heute lebendig sein. Auch im Alten
Testament finden sich Spuren der Vorstellung, daß die Pla­
zenta als Lebensbeutel eine zweite Seele oder ein alter ego
des Menschen berge. (1. Buch Samuel, 25, 29):
»Wenn sich aber ein Mensch erhebt, um dich zu verfol­
gen und dir nach dem Leben zu trachten, dann sei das
Leben meines Herrn beim Herrn, deinem Gott, einge­
bunden in den Beutel des Lebens; das Leben deiner
Feinde aber möge der Herr mit einer Schleuder fort­
schleudern.« (Die Neue Jerusalemer Bibel, 5. Auflage
I985.S.373)
Nach koreanischen Überlieferungen war es üblich, die Pla­
zenta dem Meer zu übergeben oder sie zusammen mit Reis-
und Hirsespelzen zu verbrennen und ihre Asche als Glücks-
Omen auf Wege zu streuen. Zahlreiche Kulturen kennen den
386 Kapitel 5

Brauch, Plazenten in Bäumen aufzuhängen; gelegentlich


wird die Nachgeburt mit einem Kattunhemd bekleidet, mit
einem Seil umgürtet und, wie ein menschliches Wesen mit ei­
ner Kopfbedeckung versehen, in den Asten von Bäumen an­
gebracht. Die vier Hauptmethoden der Plazenta-Versorgung
- Beerdigung, Aufhängung, Verbrennung und Versenkung
im Wasser - entsprechen den Elementen, denen als Mächten
der Schöpfung das Ihre zurückgegeben werden soll. Pla­
zenta-Asche galt bei den Völkern im Norden als mächtiges
Zaubermittel. Wird hingegen die Plazenta in Kotgruben ge­
worfen, so bringt dies nach einem volkstümlichem Glauben,
der vor allem im alten Frankreich verbreitet war, der Frau
nach den Wechseljahren Krebs und elenden Tod.
Wie auch immer die rituellen und kultischen Plazentaver-
sorgungs-Prozeduren beschaffen gewesen sein mögen: In
fast allen älteren Kulturen stand die intime Korrespondenz
von Geburt und Nachgeburt außer Zweifel. Ein sorgloser
Umgang mit dem plazentalen Double des Kindes wäre al­
lenthalben als eine fluchträchtige Vernachlässigung des N ö­
tigsten verstanden worden. Es hat den Anschein, als seien
erst in der hellenistischen Medizin Ansätze zu einer Entzau­
berung des gesamten perinatalen Feldes und mithin auch eine
Profanierung des Plazentabewußtseins aufgekommen, aber
auch diese Tendenzen - wie das Beispiel der Hildegard-Vi­
sion zeigt - vermochten keine allgemeine Entsublimierung
der Fötus-Plazenta-Allianz in den nach-hellenistischen eu­
ropäischen Geburtspraktiken auszulösen.
Erst seit dem späteren 18. Jahrhundert setzt, von der hö­
fisch-großbürgerlichen Sphäre und ihren Ärzten ausgehend,
eine durchgreifende Plazenta-Entwertung ein. Die geburts­
hilfliche Literatur normiert von diesem Zeitpunkt an eine
von Abscheu und Peinlichkeit geprägte Einstellung der Ge­
bärenden wie der Zeugen zu dem makabren Objekt, das »da­
nach« aus der Mutter kommt. In einem epochalen Ekel-Trai­
ning verlernen es bürgerliche Frauen, aber auch Dichter und
Väter der aufgeklärten Gesellschaft, für die Nachgeburt ei­
nen Platz im kulturellen Imaginären offenzuhalten. Für das
intime Mit beginnt eine Ära der bedingungslosen Ausschlie­
ßung. N un wird die Plazenta zu dem Organ, das es nicht
gibt. Was im Dunklen die Instanz eines ersten Es-Gibt gewe­
sen war, wird im Hellen zu etwas, was selbst schlechthin
ohne Dasein ist. Das innerste Zweite wird das unbedingt
Verschwundene, das widerwärtige Verworfene par ex­
cellence. Tatsächlich breitet sich erst seit dieser Zeit bei Kli­
nik- wie bei Hausgeburten in den Städten die Gewohnheit
aus, die Plazenta als Abfall zu behandeln. Sie wird nun mehr
und mehr als Aas weggeschafft und als Müll »entsorgt«, das
heißt vernichtet. Im 20. Jahrhundert beginnt die kosmetische
und pharmazeutische Industrie sich für plazentales Gewebe
zu interessieren, weil es als Rohstoff für Kurmittel und rege-
3 88 Kapitel $

nerative Hautmasken in Betracht gezogen wird; dieses Inter­


esse fließt nebenbei in den mehr oder weniger blinden mo­
dernen Konsensus ein, daß Kliniken der rechte O rt für
Geburten seien; denn wo, wenn nicht in Kliniken lassen sich
solche Sammelstellen einrichten? Werden die Plazenten nicht
pharmazeutisch verwertet, so kann es geschehen, daß sie zu­
sammen mit totgeborenen Föten zu Granulat verarbeitet
und als Brandbeschleuniger in Müllverbrennungsanlagen
eingesetzt werden - so der aktuelle Stand der Technik in der
deutschen Hauptstadt nach der Vereinigung.
Zu sagen, die Plazenta sei in moderner Zeit im Müll, sei es
auch im Recyclingmüll, gelandet, hieße freilich schon zu viel
behaupten. Das Organ, das uns darauf vorbereitet, von zwei
an zu zählen und von dort nach hier zu kommen, wird in der
neuen Welt der unbegleiteten Einzelnen im Grunde offiziell
nie wirklich existiert haben. Noch rückwirkend wird das
Subjekt isoliert und auch in seinem prä-natalen Sein als Er­
stes ohne Zweites präpariert. Manches spricht dafür, daß der
moderne Individualismus erst in seine heiße Phase eintreten
konnte, als in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die all­
gemeine klinische und kulturelle Exkommunikation der Pla­
zenta begann. Die verfaßte Ärzteschaft nahm es auf sich, wie
eine gynäkologische Inquisition sicherzustellen, daß der
rechte Glaube an das Alleingeborenwerden in allen Diskur­
sen und Gemütsverfassungen fest verankert wurde. Der bür­
gerlich-individualistische Positivismus setzte - gegen schwa­
che Widerstände der Seelenpartnerschafts-Romantik - die
radikale imaginäre Einzelhaft der Individuen in den Mutter­
schößen, in den Wiegen und in der eigenen Haut gesell­
schaftsweit durch. Des Zweiten beraubt, werden nun alle
Einzelnen unmittelbar zu den Müttern und, gleich danach,
unmittelbar zur totalitären Nation, die durch ihre Schulen
und Armeen nach den vereinzelten Kindern greift. Mit der
Etablierung der bürgerlichen Gesellschaft beginnt ein Welt­
alter der falschen Alternativen, in dem die Einzelnen nur vor
Der Urbegleiter 389
der Wahl zu stehen scheinen, einsam am Busen der Natur zu
schwelgen oder in kollektiven Fusionen mit ihren Völkern
zu potentiell tödlichen Machtabenteuern aufzubrechen.
Nicht umsonst findet man den Meisterdenker der Regres­
sion in die absorbierende Natur wie in den pathetischen N a­
tionalstaat, Jean-Jacques Rousseau, als charmant-groteske
Portalfigur am Eingang zur strukturell modernen, individua-
listisch-holistischen Welt. Rousseau war der Erfinder des
Menschen ohne Freund, der das ergänzende Andere immer
nur entweder als unmittelbare M utter-Natur oder als unmit­
telbare Nationaltotalität denken konnte.159 Mit ihm beginnt
das Zeitalter der letzten Menschen, die sich nicht schämen,
als Produkte ihrer Milieus und als Einzelfälle sozialpsycho­
logischer Gesetze aufzutreten. Darum ist seit Rousseau die
Sozialpsychologie die wissenschaftliche Form der Men­
schenverachtung.
Wo hingegen, wie in der Antike und in den populären Tra­
ditionen, im kulturellen Imaginären ein Platz für das Double
der Seele offengelassen war, konnten Menschen bis an die
Schwelle der Moderne sich dessen vergewissern, daß sie we­
der unmittelbar zu den Müttern sind noch unmittelbar zur
»Gesellschaft« oder zum »eigenen« Volk, sondern zeitlebens
vorrangig verbunden bleiben mit einem innersten Zweiten,
dem eigentlichen Alliierten und Genius ihrer besonderen
Existenz. Dessen höchste Formulierung scheint auf in dem
christlichen Gebot, daß man Gott mehr gehorchen müsse als
den Menschen. Das bedeutet: Kein Mensch ist ein »Fall«,
weil jeder einzelne ein Geheimnis ist - das Geheimnis einer
ergänzten Einsamkeit. In antiker Zeit konnte das plazentale
Double auch mühelos bei den Ahnen und den Geistern des
Hauses Unterschlupf finden. Das archaische intime Mittel

159 Seltsamerweise hat ausgerechnet Rousseau Pate gestanden bei


Tzvetan Todorovs Versuch, eine euro-kom m unitarische E thik zu
begründen. Vgl. La vie commune. Essai d ’anthropologie generale,
Paris 1995.
390 Kapitel 5

seiner selbst räumt dem Subjekt Abstand ein gegenüber den


beiden primären Obsessionsmächten, wie sie sich neuzeitlich
manifestieren: den distanzlosen Müttern und den totalitären
Kollektiven. Wo aber, wie in der jüngsten Neuzeit, durch die
Plazenta-Vernichtung der Mit-Raum von Anfang an annul­
liert und eingezogen wird, dort fällt der Einzelne mehr und
mehr den manischen Kollektiven und den totalen Müttern
anheim - und in deren Abwesenheit der Depression. Von da
an wird das Individuum, das männliche zumal, tendenziell
immer tiefer in die fatale Alternative zwischen autistischem
Vereinsamungstrotz und Sich-Verschlingen-Lassen von O b­
sessionsgemeinschaften - zu zweit oder zu vielen - getrie­
ben. Auf dem Weg in den scheinbaren Eigensinn entsteht der
Mensch ohne Schutzgeist, der Einzelne ohne Amulett, das
Selbst ohne Raum. Wenn es den Einzelnen nicht gelingt, sich
in erfolgreich geübten Einsamkeitstechniken160 - etwa in
musischen Übungen und schriftlichen Soliloquien - selbst zu
ergänzen und zu stabilisieren, sind sie dazu prädestiniert,
von totalitären Kollektiven absorbiert zu werden. Denn der
Einzelne, dessen Double im Abfall unterging, hat immerfort
Grund, sich selbst zu beweisen, daß er recht hatte, ohne sein
Mit zu überleben und nicht dem innigen Anderen im Müll
Gesellschaft zu leisten.
In der Tat: Seit das intime Mit nicht mehr im Haus oder
unter Bäumen und Rosenstöcken begraben wird, sind alle
Individuen latent Verräter, die eine Schuld ohne Begriff zu
leugnen haben; mit ihrem resoluten Eigenleben streiten sie
ab, daß sie in ihrem reuelos autonomen Sein den Verrat an
ihrem intimsten Begleiter fortwährend wiederholen. Manch­
mal glauben sie, eine eigene Tiefe zu entdecken, wenn sie sich

160 D er Terminus »Einsamkeitstechnik« ist u. W. von Thomas Macho


in einer Vorlesung über die Kulturgeschichte des Rückzugs aus der
K ultur unter dem Titel »Ideen der Einsamkeit« im W intersemester
1995 -1996 an der Berliner H um boldt-U niversität eingeführt w or­
den.
Der Urbegleiter 39 1
einsam fühlen; doch hierbei verkennen sie, daß auch ihre
Einsamkeit nur halb ihre eigene ist, die kleinere Hälfte einer
Einsamkeit, von der das im Müll verschwundene Mit den
größeren Teil auf sich genommen hat. Das einsame moderne
Subjekt ist nicht das Ergebnis seiner Selbstwahl, sondern das
Spaltprodukt aus der formlosen Trennung von Geburt und
Nachgeburt. Seinem positiv eigensinnigen Sein haftet der nie
zu gestehende Makel an, daß es auf der Vernichtung des in­
nigsten Prä-Objekts beruht. Sein eigener singulärer Wert ist
mit dem Abstieg des Zweiten in den Abfall erkauft. Weil der
Verbündete im Müll verschwand, ist das Subjekt ein Ich ohne
Doppel: ein unabhängiger, unwiederholbarer Meteor. Sei­
nem Nabel gegenüber findet der freigesetzte Einzelne an­
stelle des Mit-Raums nicht das ansprechbare Offene, son­
dern ablenkende Geschäfte und das Nichts. Betriebe das
Subjekt das, was man im Westen verächtlich Nabelschau
nennt, so fände es nur den eigenen unbezüglichen Knoten.
Nie würde es begreifen, daß der durchtrennte Faden im Ima­
ginären wie im Psycho-Sonoren unweigerlich zeitlebens in
einen Mit-Raum hinüberzeigt. Von seiner psychodynami­
schen Quelle her ist der neuzeitliche Individualismus ein pla-
zentaler Nihilismus.
In den modernen städtischen Entbindungsritualen, den
klinischen ebenso wie den häuslichen, hat sich die imaginäre
und praktische Gleichung von Plazenta und Nichts weitge­
hend durchgesetzt; ausgenommen vom allgemeinen Trend
blieben nur kleine Traditionsinseln, auf denen Spuren von äl­
terer Generationenpsychologie und Frauenweisheitslehren
wenig bemerkt überlebten; von diesen Inseln her formiert
sich in jüngerer Zeit ein Widerstand gegen den klinischen
Positivismus samt seinem kulturellen Überbau, nicht zuletzt
in Form von neu-alten geburtshilflichen Praktiken. In diesen
wird vor allem der Durchtrennung der Nabelschnur wieder
eine gewisse ritualhafte Bedeutsamkeit und symbolische Ak­
zentuierung zurückgegeben. Wo dergleichen fehlt, dort wird
392 Kapitel 5

in der Regel der andere Pol der Nabelschnur, die Plazenta, als
Abfall konzipiert, von dem getrennt zu werden für das Sub­
jekt keine Bedeutung haben kann. Man darf sogar vermuten,
daß für die große Mehrheit der modernen Mütter keineswegs
Klarheit in physiologischen Ausdrücken darüber besteht,
was eigentlich durchtrennt wird, wenn Nabelschnüre abge­
schnitten werden - es herrscht allgemein nur eine vage Vor­
stellung davon, daß das Kind auf der einen Seite läge und die
Mutter auf der anderen.161 In Wahrheit sind der Fötus und
seine Plazenta, gemeinsam aus der Unterwelt aufsteigend,
miteinander liiert wie Orpheus und Eurydike, und obwohl
Eurydike durch die vis maior verlorengehen muß, so sind
doch die Modi ihrer Abtrennung keine gleichgültigen. Ge­
burtshelfer und Hebammen müssen wissen, daß sie, wenn sie
den für das Subjekt konstitutiven Schnitt führen, als reife
Geber der Trennung sich dem Kind gleichsam erklärend und
verdeutlichend zuzuwenden haben. Sie müssen sich selber
als Offizianten der Kultur begreifen, die den Schnitt als ur­
sprüngliche symbolische Gabe, ja als Initiation in die symbo­
lische Welt schlechthin übermitteln.
Was man gemeinhin die Abnabelung nennt, ist ihrem dra­
matischen Gehalt nach die Einführung des Kindes in die
Sphäre der ich-bildenden Deutlichkeit. Schneiden heißt mit
dem Messer Individualität konstatieren. Wer den Schnitt
führt, ist der erste Trennungsgeber in der Geschichte des
161 D aß das Kind in utero nicht unm ittelbar zu r M utter ist, sondern zu­
sammen mit dem plazentalen D ouble in einer Zwischenwelt eige­
nen Rechts lebt, hat unter anderem dramatische im munologische
Implikationen. Jüngere U ntersuchungen scheinen gezeigt zu ha­
ben, daß bei H lV -positiven Schwangeren n ur in 30 % der Fälle die
K rankheit auch auf die Kinder übergeht, während die M ehrheit auf
eine kaum nachvollziehbare Weise gleichsam von einem plazenta­
len Schutzengel profitiert. Es bleibt unter gynäkologisch-geburts-
helferlichen G esichtspunkten eine offene Frage, ob man die Pla­
zenta als ein O rgan der M utter oder als ein O rgan des Kindes
ansehen soll - es spricht allerdings mehr und m ehr für die zweite
Lösung.
Der Urbegleiter 393
Subjekts; er vermittelt dem Kind mit der Gabe der Abtren­
nung den Anstoß zum Dasein in den äußeren Medien. Als
Trennungsgeber kann der Geburtshelfer jedoch nur fungie­
ren, wenn er selber in reifer Übersicht beide Pole des zu
Trennenden im Auge hat. Soll Orpheus auf richtige und er­
wachsene Weise entbunden werden, so muß auch Eurydike
auf einfühlsame und erwachsene Weise verabschiedet wer­
den. Als Erwachsener gegenüber dem Kind handeln können
heißt im Grunde nichts anderes als imstande sein, zur richti­
gen Zeit die richtige Trennung zu geben. Moderne Indivi­
duen, die selbst schon im Regime des plazentalen Nihilismus
herangewachsen sind, haben jedoch ihre Kompetenz, er­
wachsene Gesten auszuführen, eingebüßt. Wo sie in guter
Deutlichkeit die erste Trennung geben sollten, dort nehmen
sie meistens infantil-nihilistisch Zuflucht zu Gesten eines
niederträchtigen Beiseiteschaffens und eiligen Verschwin-
denmachens. Sie agieren als Müllabführer für Eurydike. Ha­
stig, informell und ahnungslos vernichten sie die Nachgeburt
und zerstören in Orpheus den Ansatz zu der Melodie, die
aus seiner freien Frage nach dem anderen Teil entspränge.
Die Urszene der Muse wird bei den schlecht entbundenen
Subjekten der Moderne überspielt; die Freiheit zur Klage um
das verlorene Andere geht in Dumpfheit und Unförmlich­
keit unter. Damit hat die Kultur im Individuum ihre erste
Szene verspielt. Woher soll das Kind nun je erfahren, daß
Engel nur gehen, damit Erzengel kommen mögen?
Natürlich wird auch in moderner Zeit überall die Nabel­
schnur nach den Regeln der Kunst abgebunden; auch heute
bildet der Nabel am Körper des Subjekts die Hieroglyphe
seines Individualisierungsdramas. Aber der Nabel hat seinen
Gedanken, seine Melodie, seine Frage verloren. Der mo­
derne Nabel ist ein Resignationsknoten, und seine Inhaber
wissen mit ihm nichts anzufangen. Sie verstehen nicht, daß er
Eurydikes Spur ist, das Denkmal ihres Rückzugs und ihres
Untergangs. Von ihm geht urspünglich alles aus, was mit gu-
394 Kapitel 5

Thronende Göttin und Omphalos (Nabelsteine) in der Nymphenhöhle bei


Vari/Attika
Der Urbegleiter 395
ter Entschiedenheit gesprochen oder intoniert werden wird.
Am symbolisch lebendigen Leib bezeugt er die Möglichkeit,
sich von Blutkommunionen zu trennen, um in die Atem-,
Getränke- und Wortewelt überzutreten - in eine Sphäre mit­
hin, die sich eines Tages im günstigsten Fall zu Tischgemein­
schaften und zu versöhnten Gesellschaften entfaltet. In der
Moderne wissen selbst die Dichter kaum, daß die volle Spra­
che Trennungsmusik ist: Sprechen heißt durch den Nabel
singen. Allein Rilke scheint in jüngerer Zeit den tiefen
Sprachpol berührt zu haben:
Sei immer tot in Eurydike -, singender steige,
preisender steige zurück in den reinen Bezug.
(.Sonette an Orpheus, Zweiter Teil XIII)
Unser Requiem für das verlorene Organ setzt also mit einer
Nachforderung an Deutlichkeit ein. Das Mit denken meint
zuerst, die Hieroglyphe der Trennung von ihm, den Nabel,
entziffern. Soll es gelingen, die Psychologie mit philosophi­
schen Mitteln zu erneuern, so müßte ihr erstes Projekt eine
Hermeneutik des Nabels sein - oder um ein wenig griechisch
und metaphysisch zu reden: eine Omphalodizee. So wie die
Theodizee die Rechtfertigung Gottes angesichts des Mißlun­
genen in der Welt war, so ist die Omphalodizee die Rechtfer­
tigung der Sprache, die unentwegt zum Anderen hinüber
will, angesichts der durchtrennten Nabelschnur und ihrer
Spur am eigenen Leib.
Unter den wenigen Autoren und Autorinnen, die den N a­
bel als existentielles Engramm kommentiert haben, verdient
die französische Psychoanalytikerin Frangoise Dolto mit ih­
rer Theorie der Nabel-Kastration - castration ombilicale -
besondere Aufmerksamkeit. Dolto hat darauf hingewiesen,
daß der Erwerb eines Nabels viel mehr bedeutet als nur eine
banale chirurgische Episode, die sich in einer unerlebten
Frühphase des Menschenlebens ereignet. Indem sie von um-
bilikaler Kastration redet, unterstreicht sie die These, daß die
Abnabelung eine erste kulturstiftende Geste am Kinderleib
bedeutet. Dolto spricht über den Kindeskörper, als wäre die­
ser ein Paß, in dem unter der Rubrik »besondere Kennzei­
chen« der Eintrag stehen muß: »Nabelkastriert«. Die Rede­
weise wird verständlicher, wenn man berücksichtigt, daß der
Terminus Kastration in der französischen Linie der Psy­
choanalyse dazu verwendet wird, persönlichkeitsbildende
Trennungen, Versagungen und Verbote zu bezeichnen. U n­
verkennbar ist der Ausdruck von der Theorie des Ödipus­
komplexes abgeleitet, in dem das Kind nach orthodox ana­
lytischer Auffassung es lernen muß, durch einen gut
verinnerlichten Verzicht auf das verbotene innerfamiliäre
Liebesobjekt, sprich in erster Linie Mutter oder Vater, für
spätere genitale Liebespartner aus der eigenen Generation
frei zu werden. Durch die symbolische genitale Kastration -
also das Inzest-Verbot - werde das künftige Genitalsubjekt
von seinem umstandslosen Direktverlangen nach dem nahe­
liegenden ersten Liebespartner getrennt. N ur durch die gut
verinnerlichte Kastration lernen die Genitalsubjekte, nun so­
zusagen am Begehren beschnitten, einen Bogen um das
schlechthin untersagte Liebesziel zu schlagen; ihre Libido
wird extravertiert und extrafamilial ausgerichtet; sie wird frei
von der bequemen und doch unerträglich lästigen Besessen­
heit durch das am nächsten liegende erste Liebesobjekt. So
wäre der Verzicht auf das unbedingt Verbotene der Anfang
der späteren erotischen Disponibilität; er schafft die Voraus­
setzung dafür, daß die Subjekte in reiferen Tagen eine Nicht­
mutter oder einen Nichtvater als Liebespartner wählen kön­
nen. Aber selbst wenn man diesem gewiß zu einfachen und
zu optimistischen Modell eine gewisse Plausibilität zugesteht
- warum sollte auch die Durchtrennung der Nabelschnur
schon einen kastrativen Sinn aufweisen? Wie andere Psycho­
analytiker französischer Schule verwendet Dolto den Aus­
druck Kastration - immerhin manchmal mit einem Hauch
von Verlegenheit - als technisches Synonym für progressive
Der Urbegleiter 397
Entwöhnungen - gerade im vor- und außergenitalen Feld; sie
setzt ihn gelegentlich in Anführungszeichen, ohne Zweifel
im Bewußtsein dessen, daß er für unvoreingenommene H ö­
rer und Leser befremdlich oder sogar abstoßend wirken mag.
Aber da die Autorin, bei aller Souveränität, doch mehr an die
Schule als an die öffentliche Kommunikationsgemeinschaft
gebunden zu sein scheint, wiederholt sie die Formel von der
Kastration wie einen Treue-Eid gegenüber der analytischen
Scholastik, obwohl sich andere, weniger anstößige Kunst­
ausdrücke für die gemeinte Sache - die symbolschaffende
Emanzipation des Kindes von überholten ersten Lustpart­
nern - ohne weiteres bilden ließen.
Es geht hier nicht darum, sich über die terminologischen
Bratenröcke einer ungebührlich verschulten und unterwürfi­
gen Psychoanalyse lustig zu machen. Tatsächlich liegt dieser
Sprachregelung ein sehr ernstes, säkularistisch und wissen­
schaftlich verschleiertes religiöses Motiv zugrunde: Wie der
jüdische Beschneidungsbrauch erinnert der Ausdruck Ka­
stration daran, daß Menschen, sofern sie autonom, kulturfä­
hig und regelgehorsam leben sollen, nicht nur den Impulsen
ihrer Augenblickslibido gehören dürfen; sie sollen sich vom
beschränkten und ungeduldigen Genießen primitiver Güter
lösen, um zu einer entgrenzten und geduldigen Freude an
Gegenständen reiferer Anteilnahme aufzusteigen. Dies ent­
spricht genau der für die jüdische Religion konstitutiven Idee
der Freiheit unter dem Gesetz. N ur durch eine Serie von ge­
glückten Trennungen, von Sublimationen oder eben von
»Kastrationen« - je auf den spezifischen Entwicklungsstufen
der Oralität, Analität und Genitalität - erobert das unver-
stümmelt vorwärtslebende Kind den freien Gebrauch der
Welt. Dem gut getrennten, begehrenden, fruchtbaren Sub­
jekt ist die Erde - im wohlverstandenen Sinn - untertan. Die
klassische Psychoanalyse bekennt sich noch durch ihre ter­
minologischen Seltsamkeiten zu einem pathetischen Begriff
vom erwachsenen, gut entzauberten Leben. Volle Erwach-
398 Kapitel 5

senheit entsteht, wie sie glaubt, aus einem Curriculum von


welterschließenden Verzichten. Im Verzicht fallen Weisheit
und Freiheit ineinander; Entsagung macht das Subjekt kul-
tur- und gemeinschaftsfähig und verankert es in lebendigen
Sprachspielen unter kooperationsfähigen Erwachsenen. Mit
ihrer Lehre vom befreienden Verzicht hat die Psychoanalyse
französischen Stils also eine suggestive Reformulierung der
jüdischen Spiritualität und ihrer christlichen Ableitungen ge­
schaffen - eine Formulierung, die um so missionsfähiger ist,
je weniger den Akteuren bewußt ist, in welcher Nachfolge
sie denken und handeln.
Nach Doltos Überzeugung sind die trennenden »Kastra­
tionen« nicht nur symbolische Handlungen, sondern selbst
symbolschaffende oder »symboligene« Akte; durch sie wer­
den die infantes auf den Weg zur Sprache gebracht. Symbol­
bildungen dienen der Defaszination des Subjekts und seiner
Öffnung zur weiteren Welt; sie emanzipieren es von der ob­
sessiven Direktheit des Bezugs zum ersten Milieu und seinen
libidinösen Inhalten. Wenn folglich auch schon die Abnabe­
lung als eine Art von Kastration verstanden werden soll,
dann deswegen, weil sie für das Kind mit der Zumutung ver­
bunden ist, auf die komfortabel unmittelbare Blutkommu­
nion mit der Mutter zu verzichten und sich einzulassen auf
die riskanteren und variableren Umstände der oralen Ernäh­
rung und der äußeren Umarmungen. Das Trinken, ob an ei­
ner Brust oder einem Substitut derselben, ist eine Kommu­
nion, die eine Kommunion ersetzt. In diesem Sinn, und nur
in diesem, stellt es einen Schritt zum Symbolischen hin dar.
Wer an einer äußeren Quelle trinkt, ist immerhin schon vom
Verlangen nach Blutaustausch befreit - es sei denn, er trinkt,
wie manche Alkoholiker es tun, bis zur Selbstverflüssigung
und bis zur Auflösung der Weltkonturen. Milch und äquiva­
lente Getränke substituieren die älteste sanguinische Kom­
munion. Weil es zum Wesen des Symbolischen gehört, Frü­
heres durch Späteres und stofflichere Medien durch subtilere
Der Urbegleiter 39 9
zu ersetzen, kann tatsächlich der kindliche Abschied von der
uterinen Unmittelbarkeit als eine Kastration im präzisierten
technischen Sinn aufgefaßt werden - dies um so mehr, als
Fran§oise Dolto keinen Zweifel daran läßt, daß dem Säugling
selbst eine Art von »Verständnis« für die Notwendigkeit die­
ser progressiven Übergänge unterstellt werden muß. Dies
wird noch plausibler, wenn man in Betracht zieht, daß das
Neugeborene an der Luft im Austausch gegen die Blutkom­
munion nicht nur die Atmung, sondern auch einen post-ute-
rinen Gebrauch der Stimme hinzuerobert; durch diese übt es
seine Macht, sich seiner Mutter im Bedürfnisfall beharrlich
hörbar zu machen. Die Stimme sichert die Entbehrlichkeit
der Blutgemeinschaft, sofern sie die Herbeirufbarkeit von
Milch »bedeutet«. Draußensein heißt Rufenkönnen; ich rufe,
also bin ich; Dasein bedeutet von diesem Moment an im Er­
folgsraum der eigenen Stimme existieren. So setzt die Sym­
bolgenese, wie auch die Ichbildung, durch Stimm»bildung«
ein; mit gutem Recht haben Thomas Macho und andere der
Stimme, die zum O hr der Mutter führt, Eigenschaften einer
vokalen Nabelschnur zugeschrieben.162 Das physische umbi-
likale Band muß in der Tat einen Nachfolger haben, der si­
cherstellt, daß auch das entbundene Leben unter dem Zei­
chen der Bindung163verbleibt. Die Ausbildung symbolischer
Kompetenzen setzt daher ein Kontinuum-Prinzip voraus;
dieses artikuliert die Forderung, daß im Substitutionsprozeß
das Frühere nicht einfachhin verlorengehen darf,-sondern im
nächsten Stadium funktional aufbewahrt und erweiternd er­
setzt werden soll. Geglückte Symbolbildung im psychischen
Prozeß geschieht durch konservativ-progressive Kompro­
misse.
Werden aber für verlorene ältere Lust-Balancen nicht ak­
zeptable neue angeboten, dann prallt das Subjekt auf einen
162 Vgl. oben Exkurs 2, N objekte und U nbeziehungen, S. 302ff.
163 Vgl. Boris C yrulnik, Sous le signe du lien. U ne histoire naturelle de
l’attachement, Paris 1989.
400 Kapitel 5

unüberwindlichen Widerstand und zerschellt an seiner U n­


lust. N un wird die gute Welt unerreichbar. Es findet mit dem
Frustrierten keine Progression mehr statt, und sein Leben,
das sich bis hierher herausgewagt hatte, sitzt in der Falle; für
ein Zurück ist es zu spät, und für ein Vorwärts sind ausrei­
chende Übergangshilfen nicht mehr in Sicht. Damit wird
seinem Organismus ein starres Diskontinuum eingeprägt;
es entsteht eine weiße Stelle im symbolischen Feld, der
Schmerz bleibt in sprachfernen Körperprozessen gefangen;
der Lebensdruck kann sich nicht in Ausdruckslibido um ­
wandeln. Unter diesem Blickwinkel ist Doltos Auffassung
gut begründet, daß die versäumte oder schlecht mitgeteilte
umbilikale Trennung zu einer frühen Symbolbildungskata­
strophe geraten kann. Das Subjekt wird sich dann nicht
durch gute Resonanzspiele mit der Mutter vom Vorteil,
geboren zu sein, überzeugen. Der Ausdruck »umbilikale
Kastration« bezeichnet folglich nicht nur den Akt, der
zwischen Mutter und Kind mit Messer oder Schere die
befreiende Entzweiung herbeiführt; er steht für die gesamte
Anstrengung, das Kind zu dem Glauben zu bekehren, es sei
für es von Vorteil, geboren zu sein.164 Erfolgreich »kastrie­
ren« hieße auf dieser Ebene: einen lebenslang wirksamen
Vorrat an guten außenweltlichen Resonanzerfahrungen anle-
gen. In diesem prä-verbalen Schatz von primären Eindrük-
ken, die die Erreichbarkeit der Welt bestätigen, gründet die
Fähigkeit, an Versprechen zu glauben; was üblicherweise
Glauben heißt, ist nur ein anderes Wort für vorsprachlich
eingespieltes Sprachvertrauen. Dieses wächst ausschließlich
im Treibhaus gelungener Kommunionen heran; wer in ihm
lebt, überzeugt sich kontinuierlich von dem Vorteil, zu spre­
chen und auf Gesprochenes zu hören. Vielleicht konnte die

164 Zum Komplex der prekären K ooperation mit dem Status quo vgl.
Peter Sloterdijk, Was heißt: sich übernehm en? Versuch über die Be­
jahung, in: P. Sl., W eltfremdheit, Frankfurt 1994, S. 267-293, bes.
286ff.
Der Urbegleiter 401

Sprache nur darum zu der gattungsweit bestimmenden an-


thropogonischen Größe werden, weil sie allenthalben die si-
renische Kraft artikuliert, die ans Leben bindet? Was wäre
eine mächtigere Werbung für das menschliche Leben als die
Weitergabe des Vorteils, reden zu können, an Sprachlose, die
unterwegs zur Sprache sind? Wo die Überzeugungsarbeit
seitens der Sprechenden gegenüber den Noch-nicht-Spre-
chenden mißlingt, setzen sich im liegengelassenen Subjekt
Neigungen zum Urstreik gegen das enttäuschende Außen
und seine tauben, lästigen, überflüssigen Zeichen fest; die
Nicht-Begrüßten, Nicht-Verführten, Nicht-Belebten wer­
den, man möchte sagen: zu Recht, gegen die Sprache agno-
stisch und zynisch gegen die Idee der Kommunion. Sie zie­
hen erst gar nicht ein in das Haus des Seins. Für sie bleibt die
Sprache der Inbegriff von Falschgeld: Kommunikation be­
deutet für sie nichts anderes als den Versuch von Falschmün­
zern, neben all den anderen auch ihre eigenen Blüten in Um ­
lauf zu bringen.
402

Exkurs j

Die schwarze Plantage


N otiz über Lebensbäume und Belebungsmaschinen

. . . und die Blätter des Baumes sind die


Heilm ittel der Völker.
O ffenbarung des Johannes, 22, 2

s Individuen werden die Menschenwesen konstituiert


durch einen Trennungsschnitt, der sie in der Regel nicht
so sehr von der Mutter, jedoch für immer vom anonymen
Zwilling entfernt. Daher ist zu erwarten, daß sich am Indivi­
duum, als entpaartem, entschwistertem, entwurzeltem Rest­
subjekt außer dem physischen auch ein psychischer und sym­
bolischer Nabel bildet, genauer ein umbilikales Feld, in dem
Erinnerungsspuren aus der formativen Phase der plazentalen
Supplementierung eingezeichnet bleiben. Das werdende Sub­
jekt kann sich als es selbst, wie es scheint, nur integer entfalten,
wenn der Bezug auf den Fundus eines intim liierten Parallel-
Lebens möglich ist, aus dem ihm nährende, stützende, pro­
phetische Zeichen zufließen, die ihm ein Gedeihen in Verbun­
denheit und Freiheit versprechen. Die ingeniöse Idee des
Plutarch, die Lebensgeschichten von großen Griechen und
Römern in der Form von biographischen Paarläufen vorzu­
tragen,165birgt darum, jenseits ihrer historiographischen Wit­
zigkeit, auch ein religionsphilosophisches und tiefenpsycho­
logisches Potential, das sich freilegen läßt, sobald man das
Prinzip der bioipardlleloi nicht zwischen zwei analogen Men­
schenleben spielen läßt, sondern zwischen dem manifesten
165 Plutarch hat in seinen Parallelen Lebensgeschichten 23 Biogra­
phienpaare vorgestellt, unter anderem Perikles/Fabius Maximus,
Alkibiades/Corialan, Pyrrhos/M arius, Alexander/Caesar, D io n /
Brutus.
Die schwarze Plantage 403

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Der siebenkammerige Uterus der mittelalterlichen Gynäkologie als ok­


kulter Hybridbaum. Guido von Vigevano: Anatomia designata per figuras,
Paris 1345
4 °4 Exkurs 5

Leben eines Einzelnen und dem okkulten oder virtuellen Le­


ben seines ursprünglichen Begleiters. Unter unzähligen Vari­
anten taucht in volkstümlichen Vorstellungen die Idee auf,
daß es für jedes Individuum ein spirituelles Double oder ein
magisches, vegetatives Parallel-Leben geben müsse, insbe­
sondere jene Lebensbäume, von denen oben unter Bezug auf
Arbeiten von Rene Magritte die Rede war. Die Pflanzung sol­
cher Bäume geschieht in der Regel gleich nach der Geburt ei­
nes Kindes, meistens in der Gestalt von Fruchtbäumen und
nicht selten an der Stelle, wo die Nabelschnur oder die Pla­
zenta des Kindes vergraben wurde, normalerweise im nähe­
ren Umkreis des Geburtshauses. Auch Martin Luthers be­
rühmtes Wort vom Apfelbäumchen, das zu pflanzen wäre,
selbst wenn man wüßte, daß morgen die Welt untergeht, wird
nur verständlich durch diesen Allianzgedanken: Der Mensch
gehört unter allen Umständen enger zu seinem Lebensbaum
als Baum und Mensch gemeinsam zum Rest der Welt.
Die Lebensbaum-Mythologie bietet den überzeugendsten
und am weitesten verbreiteten Ausweg aus dem für alle Kul­
turen konstitutiven Dilemma, daß das plazentale Double den
Einzelnen wie den Gruppen weder erscheinen noch nicht er­
scheinen darf. Sein besonderer Seins-Status zwischen not­
wendiger Verborgenheit und notwendiger Vergegenwärti­
gung verleiht ihm den dunklen Glanz eines proto-religiösen
(Un)dings. Ließe es sich allzu umstandslos sehen, so würde
es, als bloßes Organ-Ding aufgefaßt, die Gefahr einer nihili­
stischen Krise heraufbeschwören, weil es für Menschen zu­
nächst unzumutbar bleibt, die Bedingungen ihrer existentiel­
len Integrität von diesem überflüssigen und verworfenen
Gewebeklumpen her zu denken, während es im Fall seines
völligen Fernbleibens den Einzelnen der individualistischen
Vereinsamung überließe. Man könnte Kulturen klassifizie­
ren nach ihrem Modus, das Problem der zugleich verbotenen
und gebotenen Plazentophanie zu lösen, sei es durch H ypo­
stasen der Lebenskraft in alliierten Pflanzen oder durch die
Die schwarze Plantage

Lebensbaum vom Altar der Klosterkirche Stams/Tirol


40 6 Exkurs 5

Darstellung des Lebensprinzips in spezifischen Tieren, ins­


besondere in den Seelenvögeln,166sei es durch die Zuordnung
von Schutzgeistern und unsichtbaren spirituellen Doppel­
gängern, die überdies zu integrierenden Gemeinde-Geistern,
Stadtgöttern und Gruppen-Genien erweitert werden kön­
nen. Auch durch die Beziehung zu einem eminenten Amu­
lett oder zu einer spirituellen Leitfigur wie einem Guru oder
einem Großen Lehrer ist die plazentophanische Allianz mit
dem nährenden Anderen in eine lebbare symbolische Form
zu heben. Was man die Religionen nennt, sind im wesent­
lichen symbolische Systeme, die den intimen Alliierten der
Einzelnen in innere Aufseher umzuwandeln haben.
Der Fall der Moderne läßt freilich erkennen, daß kultu­
relle Klimata möglich sind, in denen das plazentophanische
Dilemma als solches nicht mehr artikuliert werden kann (ob­
wohl es in der Latenz mächtiger wird denn je), weil die Ein­
zelnen entweder als nicht substantiell ergänzungsbedürftige
Freiheitswesen oder als Bündel von prä-personalen Partial­
energien vorgestellt werden, bei denen der Bezug auf einen
integrierenden Zweiten nicht mehr in Sicht kommt. Die
modernen selbst-supplementierenden Lebensformen haben
überdies den Durchbruch zu technischen Medien erreicht
und damit einen reellen posthumanen Horizont eröffnet.
Andy Warhol hat das klassisch zum Ausdruck gebracht:
»So in the late yo’s Istarted an affairwith my television
which has continued to the present... But I didn’t get
married until 1964 when I got my first tape recorder.
My w ife... When I say >we< I mean my tape recorder
and me. A lot o f people don’t understand that.«167

166 Vgl. Thomas Macho, Himmlisches Geflügel - Beobachtungen zu


einer Motivgeschichte der Engel, in: C athrin Pichler (Hg.), :Engel
:Engel. Legenden der Gegenwart, Wien - N ew York 1997, S. 83-
100.
167 A ndy Warhol, The Philosophy of A ndy Warhol. From A to B and
back again, N ew York 1975, S. 26.
Die schwarze Plantagi 407

Die hier baumförmige Göttin Isis säugt den Pharao; aus dem Grab Thutmo-
sis’ III., Theben, Tal der Könige, 18. Dynastie, 15. Jahrhundert v. Chr.

Die vor-nihilistischen Kulturen - man könnte auch sagen die


Gesellschaften, die keine technischen Selbstergänzungsme­
dien besaßen - waren dazu verurteilt, unter allen Umständen
eine mythische Antwort auf die Frage zu finden, in welche
fundierenden Allianzen die Seelen der Einzelnen und der Völ-
ker einbezogen sein sollen; keine religiöse oder metaphysi­
408 Exkurs 5

sehe Psychologie kam an ihr Ziel, wenn sie nicht ein Konzept
für den Imperativ der plazentalen Doublierung anzubieten
wußte. Im Blick auf diese Aufgabe gehören die babylonischen
und die späteren essenischen Lebensbaum-Mythologeme zu
den eindrucksvollsten symbolischen Arrangements, weil in
ihnen die Stelle des transzendenten Parallel-Lebens gleich in
verdoppelten Projektionen besetzt erscheint. Auf einem Fi­
gurenfries des Palasts von Assurnaßirpal II. in Kalchu aus
dem 9. Jahrhundert vor Christus erkennt man eine Serie von
cherubartigen Vogelmännern oder geflügelten Kriegergenien,
von denen ein jeder einen Lebensbaum zu pflegen beauftragt
scheint. Offenbar ist hier das Gesamtfeld der Doppelseele ins
Bild gesetzt, wobei die Allianz zwischen der spirituell-an-
thropischen und der vegetativen Seele besonders klar in Err
scheinung tritt.168 Kaum irgend- wo scheint aber die Ver­
knüpfung zwischen Engellehre und Lebensbaum-Modell so
eng gewesen zu sein wie im Kult der Essener, den der Ange-
lologe Malcolm Godwin wie folgt resümiert:
»Mittelpunkt ihres Glaubens war der Baum des Le­
bens. Er hatte sieben Äste, die an den Himmel reich­
ten, und sieben Wurzeln tief in der Erde. Diese standen
in Beziehungen zu den sieben Morgen und sieben
Abenden der Woche und entsprachen den sieben Erz­
engeln der christlichen Hierarchie. In einer kom­
plizierten Kosmologie... liegt der Standort des Men­
schen in der Mitte des zwischen Himmel und Erde
schwebenden Baumes.«169
Hier ist der Lebensbaum nicht nur zum integrierenden
Symbol der Sekte überhöht; er wird darüber hinaus zu einem
Inbegriff der Weltkräfte erweitert; die spiritualistische Ge-

168 Vgl. H einz M ode, Fabeltiere und D äm onen in der Kunst. Die fan­
tastische Welt der Mischwesen, Stuttgart u. a. 1974, S. 52
169 M alcolm G odwin, Engel. Eine bedrohte A rt, F rankfurt 1991,
S. 62-64.
Die schwarze Plantagie 409

Assyrischer Lebensbaum, Alabasterrelief von Nimrud, 9. Jahrhundert v.


Chr.

gengesellschaft ist offenkundig, mehr noch als die imperia­


listische erste, darauf angewiesen, sich in einem machtvollen
psychokosmologischen Integrationssymbol zu fundieren -
im gegebenen Fall in einem Bild von dem arbor vitae, der als
Weltinnenraum und als kommunizierende Höhle in einem
fungiert. Kein Zweifel, daß eine Soziologie der gemein­
schaftsbildenden Delirien in Doktrinen dieses Typs ihre
stärksten Belege finden könnte.
Wenn Bonifazius auf seiner Missions-Offensive im Jahr
724 die Donar-Eiche bei Geismar fällte oder wenn die Agen­
ten Karls des Großen, unter dem Einfluß des Bischofs Lul
von Mainz, beim Feldzug gegen die Sachsen die Irminsul, das
als Weltenbaum gedeutete Sachsenheiligtum auf der Eres-
burg, zerstörten, so waren diese Gesten mehr als Ausdrücke
410 Exkurs 5

der üblichen christlichen Polemik gegen heidnische Sym­


bole. Es handelt sich bei diesem Krieg gegen die Bäume um
Frontalangriffe auf die plazentophanischen Integrationsfigu­
ren der Fremdgesellschaft, also um Schläge gegen die imagi­
nären und partizipativen Ressourcen, aus denen die rivali­
sierende Gruppe die Möglichkeit ihrer symbolischen und
sphärischen Kohärenz geschöpft hatte. Wer andere Hörig­
keitsverhältnisse einführen möchte, muß die älteren Grup-
pentape-recorder ersetzen. Dies wird auch dadurch verdeut­
licht, daß die Christen anstelle der gestürzten heidnischen
Baumsymbole ihren eigenen arbor vitae aufzurichten pfleg­
ten: das Kreuz als das sprechende Holz, an dem der Tod be­
siegt worden war. Die Geschichte der kämpfenden Heilsver­
bände, die als Religionsvölker und ideologisch virulente
Staaten hervortreten, ist immer auch ein Krieg der Lebens­
bäume. Es wäre falsch, dies nur für ein Merkmal archaischer
und vormoderner Gesellschaften zu halten, denn gerade die
massenmediale Moderne hat die Mittel hervorgebracht, rie­
sige Populationen in synchronisierten polemischen Delirien
und gewaltträchtigen Regenerationsphantasmen aufschäu­
men zu lassen. Hatte nicht einer der Gründerväter der ame­
rikanischen Demokratie, Thomas Jefferson, förmlich dekre­
tiert, der Baum der Freiheit verlange danach, in jeder
Generation mit dem Blut der Patrioten gewässert zu wer­
den? Die Einberufung aller zur Bewässerung des Gemein­
schaftsbaumes setzt ein effizient durchgreifendes Schul-,
Post-, Militär- und Mediensystem voraus; die Nationalisie­
rung der Massen unter den revolutionären Freiheitsbäumen
oder den patriotischen Linden ist ein psychopolitisches
Großprojekt, das die Populationen Europas seit der Grün­
dung der Nationalstaaten in Atem hält. Wer sich dem Schat­
ten des totalitären Baumes entziehen wollte, hätte nur durch
die Zuflucht zu Gegenmedien sich retten können: Vor der to­
talen Volksgemeinschaft schützen allein undurchdringliche
Symbiosen der Einzelnen mit subversiver Literatur; neuer-
D ie s c h w a rz e P la n ta g

Die Esche Yggdrasill als Weltbaum, aus: Northern Antiquities


412 Exkurs 5

dings erweist sich auch das Abtauchen in die Idiotie der eige­
nen tape recorders als ein effektives Exil. Die totalitäre
Wirkung von Erfassungsmedien kann nur durch Selbstab­
dichtungsmedien gebrochen werden.

Kurz bevor die Lebensbäume der unvordenklichen agrari­


schen Folklore sich in die Freiheitsbäume der Französischen
Revolution verwandeln sollten, kam es unter der Anregung
des Wiener Arztes Mesmer und des Marquis von Puysegur
zu der Metamorphose des Lebensbaums in das Emblem
jener ersten modernen Psychotherapiebewegung, von der
oben unter dem Stichwort »intersubjektive Nähe-Prakti­
ken« die Rede war.170 Henry F. Ellenberger hat in seiner
Studie Die Entdeckung des Unbewußten171 die Urszene
des neuen Verfahrens unter dem »Zauberbaum« festgehal­
ten:
»Der öffentliche Platz des kleinen Dorfes Buzancy,
umgeben von strohgedeckten Hütten und Bäumen,
war nicht weit entfernt von dem majestätischen Schloß
der Puysegurs. Inmitten dieses Platzes stand eine
schöne, große, alte Ulme, an deren Fuß eine Quelle ihr
klares Wasser hervorsprudelte. Sie war von Steinbän­
ken umgeben, auf denen sich die Bauern niederließen;
in die Hauptäste des Baumes und um den Stamm
herum hängte man Seile; die Patienten wickelten die
Seilenden um die erkrankten Teile ihres Körpers. Die
Prozedur begann damit, daß die Patienten eine Kette
bildeten, indem sie einander bei den Daumen hielten,
und sie fühlten in stärkerem oder geringerem Maß, wie
das Fluidum sie durchströmte. Nach einer Weile befahl
der Meister, die Kette solle aufgelöst werden und die

i 7° Vgl. oben 3. Kapitel, M enschen im Zauberkreis. Z ur Ideen­


geschichte der N ähe-Faszination, S. 211 ff.
171 Bern/Stuttgart/W ien 1973, Band I, S. 115 f.
D ie s c h w a rz e P la n ta g i 413

Magnetisierte Bäume, Umschlagszeichnung von Bockmanns Archiv, 1787


414 Exkurs 5

Patienten sollten sich die Hände reiben. Dann wählte


er einige von ihnen aus und versetzte sie durch eine Be­
rührung mit seinem eisernen Stab in eine vollkom ­
mene Krise<... Um sie wieder zu >entzaubern<, befahl
ihnen Puysegur, den Baum zu küssen, worauf sie er­
wachten; sie erinnerten sich an nichts von dem, was ge­
schehen war.«172
Mit all ihren primitiven und bukolischen Zügen verkörpert
die Szene gleichwohl den entscheidenden Augenblick in der
psychologischen Sezession Puysegurs von Mesmers doktri­
närem naturphilosophischem Physikalismus. Denn indem es
zur Entdeckung und zur systematischen Anwendung der
später so genannten Hypnose führte, bedeutete dieses bi­
zarre Arrangement unter dem Lebensbaum mit seinen umbi-
likalen Anschlüssen den Durchbruch zum szenischen Prin­
zip in der psychotherapeutischen Kur und damit zu jener
Historisierung des seelischen Raumes, deren philosophische
Prinzipien durch Schelling und Hufeland und deren biogra­
phisch-physiologisches Substrat durch die Freudsche Psy­
choanalyse zur Entfaltung gebracht worden sind. Im übrigen
ist es mehr als wahrscheinlich, daß die Idee Puysegurs, seine
Patienten durch Seile mit der magnetisierten Ulme in Bezie­
hung zu setzen, durch das Vorbild des magnetischen baquet
hervorgerufen worden ist, an dessen Kabelausläufern Mes­
mer in seiner Pariser Praxis seine Klienten angeschlossen
hatte. Es liegt nahe, die Ulme und das baquet als zwei In­
szenierungsmittel für dasselbe kontaktmagische Motiv, die
therapeutische Tiefenregression, zu verstehen, so daß der
Lebensbaum von Buzancy eine vegetabilische Magnetisier­
maschine dargestellt hätte und umgekehrt das baquet einen
mechanisierten Lebensbaum. In beiden Arrangements deu­
ten die Seile und Kabel eine metaphorische Nabelschnur an,
durch die das Individuum in eine schmelzende Beziehung zu

172 Vgl. die A bbildung der magnetischen Ulme oben S. 239.


D ie s c h w a rz e P lantag« 415

Franz Anton Mesmer, Correspondance de M. Mesmer sur les nouvelles de-


couvertes du baquet octogonal, de l'homme-baquet et du baquet moral, pou-
vant servir de suite aux aphorismes, Paris 1785
Baquet von Franz Anton Mesmer, 1784

seinem wieder nahegekommenen Begleiter versetzt werden


soll. Beide Konstrukte repräsentieren die Verlegenheit der
neuzeitlichen Psychologie, an das verlorene, unbekannte
und peinliche Double als Bedingung der Möglichkeit von
psychischer Ergänztheit zu erinnern. Denn während sich die
progressiven Fraktionen der bürgerlichen Gesellschaft auf
den Weg machen, eine Menschheit ohne Erbsünde zu kon­
struieren, in der jeder für sich allein potentiell vollkommen
sein darf, setzen die radikalen unter den modernen Psycho­
logen zu einer Neuformulierung der conditio humana an, in
der die Erbsünde als Urtrennung wiederkehrt. Du mußt
selbst »doch nichts begangen« haben, um schon Anteil zu
D ie s c h w a rz e P la n ta g e
417
haben am allgemeinmenschlichen Vermögen zu verzweifeln.
Niemand hat dies klarer auf den Begriff gebracht als Franz
Kafka, der in seinen Tagebüchern zur Zeit des Ersten Welt­
kriegs notierte:
»Warum klagen wir wegen des Sündenfalls? Nicht sei­
netwegen sind wir aus dem Paradies vertrieben wor­
den, sondern wegen des Baumes des Lebens, damit wir
nicht von ihm essen.
Wir sind nicht nur deshalb sündig, weil wir vom Baum
der Erkenntnis gegessen haben, sondern auch deshalb,
weil wir vom Baum des Lebens noch nicht gegessen
haben. Sündig ist der Stand, in dem wir uns befinden,
unabhängig von der Schuld.«173
Gibt man den religiösen Ausdruck Sünde durch den psycho­
logischen Begriff der Trennung wieder, so deutet er ins Herz
der Unanalysierbarkeit. Für die Beharrung auf der Getrennt­
heit, die sich dem Verständnis durch bloße Mitmenschen ent­
ziehen möchte, hat Kafka wenige Zeilen später die Parole
ausgegeben: »Zum letztenmal Psychologie!«174

173 Betrachtungen über Sünde, Leid, H offnung und den w ahren Weg,
Nr. 83, 84.
174 Man könnte dieses Kafkawort versuchsweise abbilden auf die
Schlußzeilen von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge:
»Er w ar jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur
Einer dazu imstande sei. D er aber wollte noch nicht.«
K a p i t e l 6

Seelenraumteiler
Engel - Zwillinge - Doppelgänger

U nd im folgenden sagt Johannes Dama-


scenus: >Wo der Engel handelt, do rt ist er.<
Thomas von A quin, V o n d e n g e t r e n n t e n
S u b s ta n z e n o d e r v o n d e r N a tu r d e r E n g e l

U nser U nbew ußtes ist einquartiert. U n ­


sere Seele ist eine W o h n u n g ... Jetzt sieht
man es, die Bilder des Hauses bewegen sich
in zwei Richtungen: sie sind in uns ebenso,
wie w ir in ihnen sind.
G aston Bachelard, P o e t ik d e s R a u m e s

Sag mir jetzt, in welcher Gesellschaft oder


neben wem du lebst, und ich sage dir, wer
du bist; beschreibe deinen Doppelgänger,
deinen Schutzengel, deinen Parasiten, und
ich w erde deine Identität erkennen.
Michel Serres, A t l a s

lle Geburten sind Zwillingsgeburten; niemand kommt


_/~JL unbegleitet und ohne Anhang zur Welt. Auf jeden An­
kömmling, der zum Licht hinaufsteigt, folgt eine Eurydike,
anonym, stumm und zum Anschauen nicht geschaffen. Was
übrigbleiben wird, das Individuum, das nicht noch einmal
Teilbare, ist schon das Ergebnis eines Trennungsschnitts, der
die vorzeitlich Unzertrennlichen in Kind und Rest aufteilt.
Eurydike geht unter, doch ihr Verschwinden ist nur schein­
bar ein spurloses, denn außer dem Nabel - jenem im Fleisch
festgehaltenen Denkmal der aufgelösten Verbindung mit ihr
- hinterläßt sie eine sphärische Leerstelle im Umraum des
Kindes, ihres Proteges und Zwillings. Die Begleiterin, die ur-
420 K a p ite l 6

Miniatur 1461, Brüssel, Bibliotheque Royale

sprünglich dort in der ersten Nähe war, verabschiedet sich


diskret, indem sie ihre Absenzstelle offenläßt. Das erste Dort
hinterläßt nach seiner Ausräumung den Umriß zu einem er­
sten Fort. Einen Augenblick lang, während das Mit beseitigt
wird, ist das Kind einem Hauch von Unbegleitetsein ausge­
setzt - doch dieser gefährdete Moment bleibt in der Regel
flüchtig und wird »vergessen«, weil in der extrauterinen Po­
sition sofort neue Präsenzen ihre Ansprüche anmelden. Dem
zurückgebliebenen ausgesetzten Kind ist zumute, als sei Eu­
rydike im Trubel verlorengegangen und werde sich gleich
wieder zeigen; und wirklich taucht das Etwas, das sie war, in
gewisser Weise wieder auf, doch als ein anderes. Sobald eine
neue Gleichgewichtslage sich eingestellt hat, haben andere
Instanzen sich Eurydikes Platz bemächtigt. Der große Um­
bruch, so dramatisch seine Formen und Folgen sind, gibt
sich wie eine gesetzmäßige Selbstverständlichkeit; alles ist
völlig anders geworden, und doch bleibt alles vage dasselbe
wie bisher. So macht jedes Neugeborene seine Revolutions-
Seelenraumteiler 421

erfahrung; irgendwie wird das ganz Andere doch den Ver­


hältnissen gleichen, die es umstürzt. Das hat Folgen für alles
Spätere, denn die wesentlichen Passagen und die geglückten
Revolutionen - sind sie nicht jene, die ein Kontinuum aus
Kontinuum und Nicht-Kontinuum ins Werk setzen? Die ge­
glückte Revolution ist der Übergang in das ganze Andere,
dem eine Anknüpfung am guten Alten gelingt.
Der Anfang des Außenseins, wie der Philosophie, ist das
Staunen. Eurydikes Abschiedsgeschenk an Orpheus ist der
Raum, in dem Ersetzungen möglich sind. Ihr Fort schafft
eine freie Sphäre für neue Medien. Eurydike schenkt O r­
pheus seine seltsame Freiheit; dank ihres Rückzugs kann er
der Gefährtin von einst seine ewige Untreue widmen. Er­
setzbarkeit ist Eurydikes unauslöschliche Spur. Ihretwegen
kann sich der von ihr getrennte Gefährte unablässig von
neuem mit anderen einlassen, die unter wechselnden Gesich­
tern immer an derselben »Stelle« auftauchen. Die »Mutter«
wird die erste dieser anderen sein, die an der gewissen Stelle
erscheinen. Ihre leiblichen Ausstrahlungen und Absonde­
rungen, die Kissenqualitäten des Mutterleibes sind Mit-Sub-
stitute erster Instanz; sie führen neue Resonanzniveaus in die
orphische Blase ein. Orpheus ist nun immer tot in Eurydike,
aber Eurydike lebt in ihm weiter in ihren Ersetzungen.
Durch sein Zusammenspiel mit immer neuen Eurydike-Sub­
stituten wird Orpheus für komplexere Stücke fortwährend
neu gestimmt. Wenn die Psyche eine historische Größe ist,
dann deswegen, weil sie durch progressive Umbesetzungen
und Anreicherungen des primitiven Sphären-Duals von sich
her einen Zug hat zu dem, was man gedankenlos das Erwach­
senwerden nennt.

In den Götter- und Geisterlehren der europäischen Antike


liegen die Spuren eines relativ unkomplizierten Dual-Be­
wußtseins noch unverschlüsselt zutage. Der Rhetor Censu-
rinus hat um das Jahr 238 nach Christi Geburt in einer ge-
422 K a p ite l 6

lehrten Prunkrede auf den neunundvierzigsten Geburtstag


seines Gönners Caerelius unter dem Titel de die natali eine
förmliche Summe des auf den Tag der Geburt bezüglichen
Wissens seiner Zeit vorgetragen. Darin findet sich eine Über­
legung zu der Frage, »wer nämlich der Genius« sei, von dem
es heißt, er begleite das Leben jedes einzelnen Menschen,
»und warum wir gerade ihm jeweils an unserem Geburtstag
huldigen«.
»Genius ist der Gott, in dessen Schutz (tutela) jeder
lebt, sobald er geboren wird. >Genius< heißt er sicher
von >geno< (zeugen), sei es, weil er dafür Sorge trägt,
daß wir gezeugt werden, sei es, weil er selbst gleichzei­
tig mit uns gezeugt wird, oder sei es auch, weil er uns
als Gezeugte übernimmt (suscipi) und beschützt. Daß
Genius und Lar identisch sind, haben viele alte Auto­
ren überliefert... Diese Gottheit, hat man geglaubt, hat
über uns die größte, ja sogar alle Gewalt. Einige Ge­
lehrte vertraten die Ansicht, man müsse zwei Genien
verehren, allerdings nur in Häusern, in denen Ehepaare
wohnten. Andererseits behauptet der Sokrates-Schüler
Eukleides, uns allen wäre in jedem Fall ein doppelter
Genius zugeordnet (adpositus) ... In aller Regel opfern
wir als dem Genius jährlich das ganze Leben hin­
durch ... Der Genius ist uns aber als wachsamer Be­
schützer (adsiduus observator) in der Weise beigegeben
(adpositus), daß er sich auch nicht den kleinsten Augen­
blick weiter entfernt (longius abscedat), sondern uns
von der Übernahme vom Mutterleibe an bis an den
letzten Tag des Lebens begleitet (comitetur).«175
Das Dokument bringt klar zum Ausdruck, daß es für Römer
keine Einzelgeburtstage gibt - weil eben bei Menschen nie
von Alleingeburten die Rede sein kann. Jeder Geburtstag ist
175 C ensurinus, Betrachtungen zum Tag der G eburt. D e die natali, in
deutscher Ü bersetzung herausgegeben von Klaus Sallmann, Wein­
heim 1988, S. 15-17.
Seelenraumteiler 423
ein Doppelgeburtstag; an ihm wird nicht allein des soge­
nannten freudigen Ereignisses gedacht, sondern mehr noch
der unauflöslichen Verknüpfung zwischen dem Individuum
und seinem Schutzgeist, die von diesem Tag an corampopulo
besteht. Römische Geburtstage sind also Allianzfeste - sie
werden begangen wie Stiftungs- oder Vertragsjubiläen; an ih­
nen gedenken die Individuen des Bündnisses mit dem Beglei­
ter-Geist, der ihnen als externe Seele in unauflösbarer sphä­
rischer Allianz beigesellt ist. Der Einzelne steht demgemäß
zu seinen Erzeugern, selbst zur Mutter, in einer weniger di­
rekten Beziehung als zu seinem Genius - (es sei denn, man
wollte diese, wie noch Hegel es tat, als den eigentlichen Ge­
nius des Kindes identifizieren176); er ist unmittelbar nur zu
dem Intimgott, der für die gesamte Strecke seiner Existenz
ein Parallelleben in nächster Nähe und intimster Höhe füh­
ren wird. Deswegen kann er - mit dem Prädikat beharrlich
als einzigem Beiwort - als observator bezeichnet werden; der
Beobachter ist aber zugleich Konservator - ein spezialisierter
Gott, dessen Aufmerksamkeits- und Schutzbereich sich nur
auf dieses Einzelleben erstreckt. Wohl kann der Mensch in
bezug zu Menschen und Dingen seinerseits Beobachter sein,
aber innerhalb des existentiellen Tandems mit dem Genius ist
er exklusiv das Beobachtete - Partner und Empfänger einer
auf ihn allein eingestellten Aufmerksamkeit. Für Römer
wäre daher der Grundsatz der neuzeitlichen Philosophie
cogito ergo sum völlig unverständlich geblieben, weil sie im­
mer nur die Passivwendung hätten erwarten können: An
mich wird gedacht, daher bin ich.177 (Erst in viel späteren
176 Vgl. unten A nm erkung 193 sowie oben 3. Kapitel, S. 240.
177 Die Figur cogitor ergo sum taucht u. W. zuerst in Franz von Baaders
M etaphysik der Erkenntnis auf: cogitor a Deo, ergo cogito, ergo
sum. Vgl. Werke, 16 Bände, Leipzig 1851-60, I, S. 370 und S. 395,
X II, S. 238 und S. 324. Aus verw andten M otiven hat der christ­
liche Geschichtstheologe und Sprachphilosoph Eugen Rosen-
stock-H uessy eine Prozeßm etaphysik der angesprochenen und
ernannten Existenz entwickelt. Vgl. Die Sprache des M enschen-
424 Kapitel 6

Apotheose des Antonius Pius und der Faustina.


Der Kaisergenius, mit der imperialen Sphaira in der Hand,
trägt das Herrscherpaar zum Himmel empor.
Seelenraumteiler 425
426 K a p ite l 6

Epochen, wenn der Beobachter-Genius ganz interiorisiert


sein wird, kann jenes bis heute dominierende Konzept vom
sich selbst ergänzenden, an sich selbst denkenden, sich selbst
besorgenden Individuum aufkommen, das sich als eine auto­
nome, selbsttransparente Kugel begreift; in dieser muß nun
tatsächlich alles Vorstellen von einem Ich-denke und alles
Handeln von einem mitlaufenden Ich-weiß-was-ich-tue be­
gleitet werden können; Gewissens-Zeit, Schrift-Zeit, Zeit
des von außen nach innen verlegten Genius.178) Die Geburts­
tage dienen dazu, den Begleitungspakt zwischen Individuum
und Genius zu besiegeln und auf die Grundlage von Gegen­
seitigkeit zu stellen. Dies meint keinesfalls, das vom Genius
bewachte Subjekt könne nun seinerseits den Observator ob­
servieren: Wenn sich am Geburtstag der Mensch seinem Ge­
nius ausdrücklich zuwendet, so geschieht dies in der Weise,
daß er, aus Pietät und Dankespflicht, diesem ein rituell ge­
ordnetes Andenken widmet. Das Individuum feiert sein Be­
seelungsbündnis mit dem Genius, indem es der Gottheit, die
ihm exklusiv beigegeben ist, durch wohldefinierte Opfer Ge­
nugtuung leistet. Dazu gehören vor allem Trankspendungen
mit unvermischtem Wein. Unter keinen Umständen sollen

geschlechts. Eine leibhafte G ram m atik in vier Teilen, Heidelberg


1963-1964; hierzu auch: Sphären II, 7. Kapitel, Wie durch reine
Medien die Sphärenmitte in die Ferne w irkt. Z ur M etaphysik der
Telekommunikation.
178 Die technische Form ulierung dieses Axioms potentieller Selbster­
gänzung durch Selbstbeobachtung liefert Kant in seinem Theorem
von der transzendentalen Apperzeption; vgl. K ritik der reinen Ver­
nunft, Werkausgabe Band III, hg. von W ilhelm Weischedel, Frank­
furt a. M. 1976, S. 136f.; Thomas Macho hat in seiner Studie H im m ­
lisches Geflügel - Beobachtungen zu einer Motivgeschichte der
Engel, in: C athrin Pichler (Hg.): Engel : Engel. Legenden der G e­
genwart, Wien - N ew York 1997, S. 94, auf die »selbstschutzengel­
artige« Q ualität des Kantischen »Ich denke« wie der Fichteschen
»intellektuellen Anschauung« hingewiesen; für eine m editations­
philosophische »östliche« Version des Selbstbeobachtungs-Postu­
lats vgl. das Werk des spirituellen Lehrers Jiddu Krishnamurti.
Seelenraumteiler 427
Schlachtopfer dargebracht werden, weil an dem Tag, an dem
Menschen das Licht der Welt erblickten, keinem anderen
Wesen das Leben genommen werden darf. Besonders signifi­
kant scheint die Bestimmung, daß von der Opfergabe, die
dem Genius dargebracht wird, niemand vor dem Opferer
selbst, dem Geburtstagskind, kosten darf. Zwischen dem
Subjekt und seinem Genius kann nicht einmal ein Pontifex
vermitteln, denn in bezug auf den eigenen Lebensgeist ist je­
des römische Individuum gleichsam Protestant ante litteram
und muß daher, einmal jährlich, zum Priester in eigener Sa­
che werden. Gleichwohl ist sein Privatfeiertag auch ein so­
ziales Ereignis, und nicht umsonst zelebrieren die Verwand­
ten und die familiäres den Geburtstag mit dem Jubilar
gemeinsam. Im übrigen läßt Censurinus die genaueren Kon­
ditionen der Verbündung zwischen Kind und Genius offen.
Ob der Genius selbst die Zeugung bewirkt oder ob er seiner­
seits mitgezeugt wird, oder ob er schließlich erst nach der
Zeugung hinzutritt, um das Kind zu übernehmen, das darf
bis auf weiteres unentschieden bleiben. Im letzteren Fall
wäre der Genius eine Art von göttlichem Vatervorläufer, weil
nach römischem Verständnis die Väter es sind, die den Nach­
kömmlingen einen Status im Leben verleihen, indem sie sie
auf den Arm nehmen (infantem suscipere) und somit als ihre
legitimen Kinder anerkennen.179Nicht zufällig wird nach ge­
meinrömischem Verständnis unter genius zunächst die spezi­
fische Lebenskraft des Mannes verstanden, während Frauen
ihr Leben von Juno erhalten. Uber die Formalien römischer
Frauengeburtstage ist bei Censurinus nichts zu erfahren. Die
von dem Autor für sicher gehaltene Identität von Genien
und Laren scheint immerhin den Schutzgeistern eine gewisse
häusliche Kompetenz und stabilitas loci zuzugestehen, denn
von alters her gelten die Geister des Hauses, die Laren, als
179 Vgl- D ieter Lenzen, Vaterschaft. Vom Patriarchat zu r A lim enta­
tion, Frankfurt 1991; zum K onzept der suszipitiven Vaterschaft bei
den Röm ern S. 91 ff.
428 Kapitel 6

ortsgebundene und raumerfüllende Präsenzen, die in der Re­


gel Ahnengeister sind. Sie sind die Nahbereichsgottheiten
par excellence. Wenn aber die Ahnen an den Häusern haften,
so deswegen, weil Häuser in antiker Zeit fast immer auch
Gräber sind und an genau bestimmten Stellen, im Ahnen­
winkel oder im Lararium, Urnen oder Särge verwahren. Was
man später als Spuk wahrnehmen wird, ist zunächst nichts
anderes als die in Zeiten der Seßhaftigkeit in vielen Kulturen
selbstverständlich gewordene Okkupation des häuslichen
Intimraums durch Totengeister. Die hier von den Laren be­
zeugte Liaison von Haus und Geist bleibt während des ge­
samten Zivilisationsprozesses bis in die jüngste Zeit allerorts
in Kraft; sie lebt weiter in den modernen Gespensterge­
schichten, die noch immer den Zusammenhang von Gehäuse
und Beseelung bestätigen.

Wenn der Erzähler von Henry James’ großartiger Doppel­


gänger-Novelle The Jolly Corner (Das glückliche Eck) sein
ruchloses und verwildertes alter ego aufspürt, so geschieht
dies mit psycho-topologischer Notwendigkeit im Inneren
eines großen leeren Wohnhauses, das sich als providentieller
Schauplatz für das Drama einer unheimlichen Selbstergän­
zung anbietet. Bei James hat der Begleiter eine Mutation zum
genius malignus vollzogen, er ist zum para-noogenen Verfol­
ger geworden, aber der äußere Schauplatz, das heimlich­
unheimliche Haus, inmitten der Metropole New York, lie­
fert noch exakt die sphärische Form, in der das gespaltene
Subjekt seinem verfolgerischen Double ausgeliefert werden
kann.180

180 A uf sinnverwandte Weise hat G uy de M aupassant in seiner E rzäh­


lung D er H orla (le hors la, der/das D raußen-D a) die Infektion eines
Hauses in der N orm andie durch einen aus der südamerikanischen
Ferne eingeschleppten D äm on durchgespielt. Die raum philosophi­
schen Im plikationen dieser Erzählung hat Michel Serres in einer in­
spirierten Interpretation entfaltet: Atlas, Paris 1996, S. 61-85.
Seelenraumteiler 429
Tatsächlich gibt es keine Häuslichkeit, ohne daß die ein­
wohnenden Subjekte sich auf jeweils eigentümliche Weise im
Raum ausdehnen und etablieren. Mit dem Häuserbau be­
ginnen Interieur-Schöpfungen von unmittelbarer psycho-
sphärischer Bedeutsamkeit. Von Anfang an korrespondiert
die Poetik des häuslichen Raums mit psychischen Raumtei­
lungen zwischen den Polen des intimen Subjektivitätsfeldes.
Wohnen in hausartigen Behältern hat zunächst immer einen
Doppelcharakter: Es bedeutet sowohl das Zusammensein
von Menschen mit Menschen als auch die Wohngemein­
schaft der Menschen mit ihren unsichtbaren Begleitern. Es
waren in gewisser Hinsicht seit jeher die Geister des Hauses,
die einem bewohnten Gebäude erst Würde und Bedeutung
gaben. Das Interieur wird geboren aus der Verbindung von
Architektur und unsichtbaren Einwohnern. Tatsächlich ist es
nicht unwahrscheinlich, daß die ältesten mesopotamischen
Schutzgeistervorstellungen sich auf Gebäude, insbesondere
Tempel und Paläste bezogen haben und von dort her erst auf
Individuen und personale Instanzen übertragen wurden. Vor
den assyrischen Palästen wachten zuerst jene berühmten ge­
flügelten Stiere, die Kerub-Kolosse, deren Imago nach lan­
gen Wanderungen über jüdische und hellenistische Etappen
in die christliche Engel-Ikonologie eingegangen sein soll.
Diese Wächter-Geister waren noch nicht mobile göttliche
Kuriere, sondern ortsgebundene Hüter einer Monarcho-
Sphäre im engeren Sinn, das heißt eines königlichen Inte­
rieurs, das eine »machtgeschützte Innerlichkeit« der beson­
deren Art darstellt. Der Raum, den der Fürst mit den Seinen
teilt, muß architektonisch gesichert sein, bevor routinemä­
ßige Fern-Kommunikationen, die vom Palast ausstrahlen,
eingerichtet werden können. Wie das Haus, so das Reich;
ist das Reich draußen ungesichert, so kann sich der Herr­
scher noch nicht in den Palast, die Sende-Zentrale der ruhi­
gen Macht, zurückziehen, sondern er muß selbst in eigener
Person den Boten der Macht spielen, die ihm zukommt, und
430 Kapitel 6

diese an kritischen Schauplätzen mit physischem Gewalt­


risiko vergegenwärtigen. Es kennzeichnet den Monarchen,
daß er nicht nur den Palast, sondern das ganze Herrschafts­
gebiet als seine Selbstausdehnung auffaßt; wäre das Reich
nicht im Inneren seiner Träger als Raumvorstellung und Be­
sorgungsaufgabe gegenwärtig, so ließe es sich auch außen
nicht halten. Sobald aber eine Innenwelt vom Umfang eines
Königreiches mitsamt einem Palastinterieur sich konsoli­
diert hat, entsteht Bedarf an volatilen, schnellreisenden Zwi­
schenwesen, die für die rasche Erreichbarkeit aller Punkte
im Großinnenraum sorgen. Darum wird die Zeit der eta­
blierten Reiche zur goldenen Ara der geflügelten und unge­
flügelten Boten werden. Sie sind die neuen Medien der
himmlischen und irdischen Königskommunikation - ihr
Geschäft heißt angelia, Herrenbotschaft, sei sie gut oder
schlecht. Im übrigen haben die politischen Theologen früher
Hochkulturen nie gezögert, auch ganze Imperien - wie be­
seelte Häuser - unter den Schutz von Reichsgeistern und
-göttern zu stellen, und die christlichen Reiche machten von
dieser Regel selten eine Ausnahme. Auf die Bitte Karls des
Großen hin wurde von Urban VI. der Erzengel Michael, der
sich in transzendenten Kampagnen als Heerführer der
himmlischen Scharen hervortut, zum karolingischen Reichs­
patron erhoben; die katholische Kirche begeht sein Fest am
29. September. Man kann nicht behaupten, daß der militante
Erzengel Europas seiner Aufgabe nicht gerecht geworden
wäre; unter der Michaelsfahne schlug im Jahr 955 das
Reichsheer Ottos I. auf dem Lechfeld den Angriff der unga­
rischen Reitertruppen zurück. Man darf an diesen Vorgang
erinnern, wenn man (zum letzten Mal) den Unterschied ver­
gegenwärtigen möchte zwischen einem Substanz-Europa,
das durch seinen Engel geeint wurde, und einem Funktions-
Europa, das in einer gemeinsamen Währung sein Einheits­
motiv suchen wird.
Seelenraumteiler 431

Figur eines Kriegers mit Keule und dem »zweiten Ich«, Archäologischer
Park, San Augustin, Kolumbien

Der römische Genius ist ein Vertreter aus der unermeßlichen


Gestaltenwelt von Seelenbegleitern und Schutzgeistern, von
denen die Mythologien der Völker und der Hochreligionen
Zeugnis geben. In religionstypologischer Sicht gehört er zum
432 Kapitel 6

Formenkreis der äußeren Seelen, die wie der ägyptische ka


oder die mesopotamischen Schutzgeister ilu, ishtaru, shedu
und lamassu den inneren Lebenskräften der Individuen als
externe Supplemente beigesellt waren.181 Auch das sokrati-
sche daimonion, selbst wenn es sich schon als verinnerlichter
Schutzgeist, gleichsam als frühes Argument des Gewissens,
zu artikulieren pflegte, gehört typologisch noch als eine
Grenzfigur in die Gestaltenreihe der äußeren oder supple­
mentären Seelen; Sokrates spricht über diesen subtilen Gast,
der in sein Selbstgespräch interveniert, als käme er aus einem
äußeren Nähe-Raum. Qualitäten der externen Seele besitzt
auch der Charakter-Daimon, der nach dem großen Jenseits­
mythos aus dem zehnten Buch von Platos Politeia (620 d-e)
von Lachesis, der Schicksalsparze, jeder Seele, die sich ein
neues Erdenlos gewählt hat, als Führer und Los-Hüter zuge­
ordnet wird.
Wie die meisten Figuren dieses Typus tritt der römische
Genius als eine unmodulierte fixe Größe auf; er wohnt den
Lebensgeschäften seines Schützlings wie ein gutwilliger stil­
ler Teilhaber bei, der keine eigenen Geltungs- und Entwick­
lungsansprüche anmeldet; es macht seine Ständigkeit aus,
daß er ein Geist mit wenigen Eigenschaften ist. Unter inva­
riabler Gestalt und als mysteriöse Einheit aus dem Wunder­
baren und dem Zuverlässigen sorgt er dafür, daß der psychi­
sche Raum, den das antike Subjekt bewohnt, diskret und
kontinuierlich an eine nahe Transzendenz angrenzt. Daher
kann das Einzelleben bei den Alten nie nur als ein aparter
Seelenpunkt, als eingeschlossener Funke oder als aparte
Flamme vorgestellt werden; das Dasein hat allemal schon
eine sphärische und mediale Struktur, weil das Subjekt im­
mer in ein halbgöttliches Schutz- und Aufmerksamkeitsfeld

181 Vgl. Bernard Lafont und H enri de Saint-Blanquat, Figures de notre


absence, in: Le réveil des anges, messagers des peurs et des consola­
tions, dirigé par Olivier Abel, Collection M utations, no. 162, Paris
1996, S. 92.
Seelenraumteiler 433
plaziert ist. Jedes Individuum schwebt in einer geisthaften
Umgebung, gleich ob man sich den Schutzgeist als einen per­
sonhaften Begleiter vorstellt, der in einem unsichtbaren Vis-
à-vis residiert, oder ob man ihn auratisch-umgebungshaft als
»göttliches Milieu« konzipiert, das mit dem Subjekt wan­
dert. In jedem Fall stellt die Präsenz des Genius sicher, daß
das Individuum sein psychisches Prinzip nicht nur wie einen
isolierten Kraftpunkt in sich einschließt, sondern daß es sein
innerstes Anderes wie eine Feldkraft um sich trägt - und
ebensosehr von dieser getragen und umhüllt wird. Das Feld
ist von sich her nähestiftend, weil es dem Genius eigentüm­
lich ist, sich nie sehr weit von seinem Schützling zu entfer­
nen. (Hierin weicht die römische Schutzgeist-Idee wesent­
lich ab von der vieler archaischer Völker, in denen die
Vorstellung verbreitet ist, die äußeren Seelen könnten sich
zurückziehen und in der Ferne verlieren; was man als Scha­
manismus bezeichnet, ist unter anderem eine Technik, ver­
lorengegangene freie Seelen aufzuspüren und zu ihren Gast­
gebern zurückzubringen - der historische Prototyp aller
Depressionsbehandlungen.182) Was die Struktur des dualen
Feldes in den psychohistorischen Diskursen und Symbo­
liken der Antike angeht, so ist evident, daß es nennenswerte
Modifikationen innerhalb des Duals noch nicht kennt; es ist
wesenhaft starr und duldet kaum irgendwelche lebensge­
schichtlich bedingten Entwicklungen. Noch sind wir weit
von einem nicht-theologischen, dynamischen Sphärenbegriff
entfernt. Nicht umsonst verwendet Censurinus die Rede­
wendung, der Schutzgeist sei zu dem Einzelnen »hinzuge­
stellt«, adpositus; bei dieser Hinzustellung kommen offen­
kundig keine internen Modulationen, geschweige denn
Umbesetzungen und Aufstufungen der Resonanzregister in
Betracht. Allenfalls blitzt in dem kurzen Hinweis auf die

182 Vgl. loan Couliano, Jenseitsreisen von Gilgamesch bis Einstein,


M ünchen 1995, S. 58 ff.
434 Kapitel 6

Doktrin des Sokratesschülers Eukleides von den zwei Ge­


nien (binos genios) ein Ansatz zu einer dialektischen Auffas­
sung der Begleitgeister auf; Eukleides könnte gemeint haben,
daß es eine Arbeitsteilung, wenn nicht einen Streit unter den
Genien gebe, sofern man den einen vielleicht als einen guten
Dämon, den anderen als einen schlechten konzipieren
darf.183 Aber auch bei doppelter Begleitung bleibt die Struk­
tur des metaphysisch vorgestellten Dualraums unverändert
starr. Eine dynamische und psychologische Sicht wird erst
durch das moderne Konzept der Ergänzungsvariablen er­
möglicht, das die getrennt-verbundenen Pole des Duals auf
jeweils neuen Ebenen durch veränderte Volumen und rei­
chere Inhalte beschreibt. Damit stehen die Mittel zur Ana­
lyse sphärenimmanenter Umbesetzungen bereit - und nur
aus dieser läßt sich eine Phänomenologie des erwachsenen
Geistes entwickeln: Gut erwachsen wäre diejenige Subjekti­
vität, die ihre Genien von mikrosphärischen zu makrosphä­
rischen Funktionen entfaltet hätte, ohne das Kontinuum zu
zerbrechen. Die neue Mikrosphärologie schafft damit die
Voraussetzungen dafür, daß die Rede über den Dualraum
sich von den religiösen Sprachen emanzipieren kann, ohne
diesen ihre virtuellen Wahrheitsgehalte zu nehmen. N ur in
sphärologischen Ausdrücken läßt sich wiederholen, was my­
thisch-religiöse Diskurse an frühkulturellem Psychosphä-
renwissen bewahrt und vor der Korruption durch falsche
Begriffsbildungen geschützt haben.
Daß die Zuordnung zwischen dem Individuum und sei­
nem Begleitgeist in einem religiös-metaphysischen Vorstel-
183 In dem frühchristlichen O ffenbarungs-Traktat D er H irte des H er­
mas aus dem 2. Jahrhundert findet sich eine Transposition der
Zwei-G enien-Lehre in christliche Vorstellungen: »Zwei Engel sind
bei dem Menschen«, sagte der H irte, »einer der Gerechtigkeit und
einer der Schlechtigkeit. . . vertraue dem Engel der Gerechtigkeit.
Von dem Engel der Schlechtigkeit sage dich lo s ...« Zitiert nach:
Alfons H eilm ann und H einrich Kraft, Texte der Kirchenväter,
5 Bde, M ünchen 1963 -1966, Band 1, S. 254h
Seelenraumteiler 435
lungsrahmen nicht ohne logische Komplikation gedacht
werden kann, beweisen zahlreiche Zeugnisse aus der alten
Welt. Denn sobald die subtilen Beschützer nicht, wie in der
römischen Genius-Lehre, als permanente diskrete Präsenzen
im Lebenskreis des Individuums vorgestellt werden, sondern
eher als episodisch auftauchende Delegierte an sie herantre­
ten - und dies ist in der biblischen Welt die Regel -, entsteht
zwischen dem Subjekt und seinem Begleiter eine prekäre Er­
kenntnisrelation; in den meisten Fällen erkennt das Subjekt
den manifestierten Engel nicht unmittelbar als den »seinen«,
weil zwischen beiden keine Vertrautheitsrelation existiert.
Deswegen lautet die biblische Anrede des Engels an den
Menschen stereotyp: Fürchte dich nicht! Et die ne timeas.m
Vor der Gottesfurcht kommt die Engelfurcht und ihre Auf­
hebung durch den Boten selbst. Bei der Befreiung des Petrus
aus dem Kerker des Herodes Agrippa wird dem Apostel
nicht einmal bewußt, daß es sich hier um eine »reale« angeli-
sche Intervention und nicht um ein Traumgesicht handelte
(.Apostelgeschichte 12, 7-10). Umgekehrt ist von manchen
neuplatonisch orientierten Angelologen die These vertreten
worden, die Engel ihrerseits könnten, als reine Geister, die
Individuen nicht kennen, weil sie nur von Allgemeinbegrif­
fen, nicht aber von Einzelwesen, den singularia, Kenntnis
hätten. So vermöchten die Engel wohl Völker, Gemeinden
oder die menschliche Gattung im ganzen zu intendieren,
nicht aber Einzelkenntnisse von Individuen, geschweige
denn lokale Beziehungen zu ihnen zu haben; diese These
kann sich auf die mystische Autorität des Pseudo-Dionysius 184

184 Petrus Abaelardus, In A nnuntiatione Beatae Virginis, aus: Lauda


Sion, Stuttgart 1868. Im übrigen ist zu betonen, daß das »Fürchte
dich nicht!« hier nicht den üblichen Trem endum -A spekt bei Be­
gegnungen zwischen dem Menschen und dem N um inosen artiku­
liert, sondern als A usdruck der prekären kognitiven Beziehung
zwischen dem Subjekt und seinem Inform anten verstanden werden
muß.
436 Kapitel 6

»Fürchte dich nicht«, Mathias Grünewaldt, Isenheimer Altar,


Außenflügel-Innenseite
S e e le n ra u m te ile r 437

Das Mysterium der Erreichbarkeit


Carlo Crivelli, Verkündigung, i486, Ölgemälde
438 Kapitel 6

Seraphim auf einem Wandgemälde der Kirche von S. Clemente, Tahull, 13.
Jahrhundert
Seelenraumteiler 43 9
berufen, dessen Schrift Über die himmlische Hierarchie zeit­
weilig so verstanden worden war, als wirkten die Engel nur
auf Allgemeines, nicht auf Individuelles. Thomas von Aquin
hat in seiner Abhandlung vom Wesen der Engel versucht,
diese exzessiv platonisierende Auffassung, die den persona­
len Hauch der biblischen Engel-Mensch-Berührungen zer­
stört, durch die Autorität der Schrift und den Hinweis auf
den Konsensus von Gelehrtenmehrheit und Volk zu wider­
legen. Für ihn stand fest, daß es Gottes Allmacht zukommt,
durch die angelischen Zweitursachen hindurch auch bis ins
Einzelne gehende Wirkvollmacht und Vorauserkenntnis zu
besitzen.185
Um die Spannungen zu umgehen, die aus dem Gefälle
zwischen körperlosen und verkörperten Geistern, man
könnte auch sagen aus der ontologischen Differenz zwischen
Engeln und Menschen, entstehen müssen, haben zahlreiche
fromme Autoren von Individualengel-Geschichten einen li­
stigen Ausweg gewählt: Sie lassen den personalisierten Engel
als Zwillingsgestalt in Erscheinung treten. Hierfür bieten die
Apophtegmata Patrum Aegyptiorum in der ersten der Anto­
nius-Legenden das Muster.
»Als der Altvater Antonius einmal in verdrießlicher
Stimmung und mit düsteren Gedanken in der Wüste
saß, sprach er zu Gott: >Herr, ich will gerettet werden,
aber meine Gedanken lassen es nicht zu. Was soll ich in
dieser meiner Bedrängnis tun? Wie kann ich das Heil
erlangen?< Bald darauf erhob er sich, ging ins Freie und
sah einen, d e r ih m g l i c h (Hervorhebung vom Au­
tor). Er saß da und arbeitete, stand dann von der Arbeit
auf und betete, setzte sich wieder und flocht an einem
Seil, erhob sich dann abermals zum Beten; und siehe, es
war ein Engel des Herrn, der gesandt war, Antonius
185 Vgl. Thomas von Aquin, Vom Wesen der Engel. De substantiis se­
paratis seu de angelorum natura, Ü bersetzung, Einführung und Er­
läuterungen von W olf-Erich Klünker, Stuttgart 1989, S. 97-116.
44° Kapitel 6

Belehrung und Sicherheit zu geben. Und er hörte den


Engel sagen: >Mach es so und du wirst das Heil erlan­
gen^ Als er das hörte, wurde er von großer Freude und
mit Mut erfüllt und durch solches Tun fand er Ret­
tung.« 186
Die erbauliche Zwillings-Pantomime bricht einem mögli­
chen Erkenntnisproblem, das die Mensch-Engel-Beziehung
trüben könnte, von vorneherein die Spitze ab. Der Mann,
der »ihm glich«, ist allemal schon eine eindeutig auf Anto­
nius zielende immanent-transzendente Erscheinung; zwi­
schen dem Wüstenvater und seinem Double entsteht ein
Spiegelungsraum, in dem sich die informative Kommunion
umstandslos einstellt. Der gutgestimmte Engel ist die Ant­
wort auf die menschliche Verstimmung; der Zwilling er­
scheint als exakt dosiertes angelisches Simile für sein
menschliches Pendant; er heilt ihn durch Vorbildverhalten -
ein Fall von monastischer Homöopathie. Für unseren Kon­
text ist es ohne Belang, daß wir die Urszene des ora et labora
(bete und halte dich fit) vor uns haben; entscheidend ist viel­
mehr die Wendung zur Individual-Angelologie, die hier so
naiv wie nachdrücklich vollzogen scheint. In dem Augen­
blick, wo der Engel Zwillingsgestalt annimmt, entsteht
gleichsam eine Mikro-Spezies aus zwei Individuen. Das
Zwillingspaar aus Mensch und Engel besteht aus zwei Sin­
gularitäten, die zusammen eine Spezies, ein zwei-einiges All­
gemeines, bilden. Im gegebenen Fall wäre schon die Engel­
seite für sich allein ein individuelles Allgemeines, weil sie das
Einmalige, die Antonius-Förmigkeit, als Spezies begründet:
Sie besitzt darum wunderbarerweise Erkenntnis a priori
vom Einzelnen.187 Auch die Menschseite profitiert in onto­

186 Weisung der Väter, Apophtegm ata Patrum , auch G erontikon oder
Alphabeticum genannt, Einleitung von W ilhelm Nyssen, Ü berset­
zung Bonifaz Miller, Trier, 3. Aufl. 1986, S. 15.
187 Vgl. Jean-Louis Chrétien, La connaissance angélique, in: Le réveil
des anges (s. Anm. 181), S. 13 8 f.
Seelenraumteiler 441

logischer Hinsicht von dieser Ergänzung und Begegnung,


denn sie wird, obwohl als Individuum singulär, in eine hei­
lige zwei-einige Menge aufgenommen, in der sie sich meta­
physisch stabilisiert; sie kann an dem Engel erkennen, daß
sie selber eine Idee Gottes ist. In kognitionstheologischer
Sicht spricht viel dafür, daß ein göttlicher Intellekt sich nur
solche zwei-einigen Mensch-Engel-Mengen merken könnte;
isolierte Nur-Menschen würden für ihn unsichtbar und ent­
zögen sich durch ihren singularischen Autismus jedem Mit­
wissen. So ist der Individualengel gleichsam die optische
Linse, durch die der göttliche Intellekt das Individuum er­
blickt. Verschwindet der Engel, so erlischt auch das intelligi­
ble Individuum; es könnte von da an nur noch erfaßt, aber
nicht mehr erkannt werden. Das engellose Subjekt ließe sich
zwar noch äußerlich beschreiben, wie die moderne Psycho­
logie es mit den sogenannten Unanalysierbaren tut, aber es
ließe sich auf keine Weise mehr durch kommunikative In­
tentionen erreichen.
Die spätantiken Zwillings-Engel-Phantasmen erreichen
ihren Höhepunkt in den Erzählungen um Mani, 216-277
nach Christus, den Stifter der gnostisch-semichristlichen
Zwei-Prinzipien-Religion, die als Manichäismus, das heißt
die Mani-lebt-Bewegung, berüchtigt wurde und deren Name
dank einer erfolgreichen katholischen Denunziationspropa­
ganda noch von der heutigen säkularen Kultur als Schimpf­
wort verwendet wird.
». . . als sein zwölftes Lebensjahr vollendet war, über­
kam i h n ... die Inspiration seitens des Königs der Pa­
radiese des Lichtes ... Der Name des Engels, der ihm
die Offenbarungsbotschaft brachte, war at-Tom; das
ist nabatäisch und bedeutet in unserer Sprache >der
Gefährte<... Und als er das vierundzwanzigste Jahr
vollendet hatte, kam at-Tom (wieder) zu ihm und
sprach: >Nunmehr ist die Zeit für dich da, daß du her-
vortrittst<...
44 2 Kapitel 6

... Und Mani behauptete, er sei der Paraklet, den Jesus


verheißen hatte.«188
Natürlich springt die Verwandtschaft des Namens at-tom mit
dem aramäischen toma, der Zwilling, ins Auge. Daß Manis
»Gefährte« oder Syzygos tatsächlich Eigenschaften einer ver­
klärten Zwillingsgestalt an sich trug, geht aus den Erzählun­
gen über Manis Berufung nach dem Kölner Mani-Codex so­
wie aus mitteliranischen Quellen unmißverständlich hervor:
»(Aus) den Wassern erschien mir eine Menschenge­
stalt), die mich mit der Hand auf die Ruhe hinwies, da­
mit ich nicht sündigte und N ot über sie bringe. Auf
diese Weise wurde ich vom 4. Jahr, bis ich zu meiner
körperlichen Reife kam, von den Händen der heilig­
sten Engel... behütet.
... Zu jener Zeit nun, da mein Körper die Vollendung
erreicht hatte, kam alsbald jenes wohlgestaltete, gewal­
tige Spiegelbild meiner Person und erschien vor mir.
... Auch jetzt begleitet er mich selber, und er selber
behütet und beschützt mich. Mit seiner Kraft kämpfe
ich gegen Az und Ahrmen, lehre die Menschen Weis­
heit. Und dieses Werk der Götter und die Weisheit und
das Wissen des Seelensammelns, die ich von dem Zwil­
ling empfangen habe...«
Der Fall Manis ist vor allem informativ, weil er zeigt, wie die
intime psychische Supplementierung durch den Zwilling mit
einer missionarischen Funktion von kosmischen Implikatio­
nen gekoppelt werden kann. Daß der Zwilling - wenn wir
richtig lesen - zuerst aus einer Wasserspiegelung zu Mani
sprach, bietet eine Variante des Mythos von Narziß - mit
dem Unterschied, daß keine tödliche Verwechslung zwi­
schen Subjekt und Eigenbild erfolgt -, wie überhaupt mit
dem Erscheinen des Doubles hier keinerlei Unheils- und To-
188 Die Gnosis. D ritter Band: D er Manichäismus. U n ter M itw irkung
von Jens Peter Asmussen eingeleitet, übersetzt und erläutert von
Alexander Bühling, Zürich - M ünchen 1980, S. 76.
5eeLenraumteiler 443
iesbedeutungen assoziiert zu sein scheinen, wie sonst so oft
in der Doppelgänger-Mythologie; vielmehr begegnet das In­
dividuum einem potenzierten alter ego, in dem es sein Ich-
Ideal und den Dozenten seines Lebensprogramms erkennt.
Im übrigen haben schon aufklärerische Varianten des My­
thos aus spätantiker Zeit dem Narziß eine über alles geliebte,
völlig gleichaussehende und gleichgekleidete Zwillings­
schwester an die Seite gestellt, nach deren Tod er Erleichte­
rung von seinem untröstlichen Kummer gesucht habe im An­
blick seines eigenen Wasserspiegelbildes.189 In dieser Version
gewinnt das Motiv der Zwillings-Ergänzung den Vorrang
vor dem der todbringenden Verwechslungsdoublierung; frei­
lich ist es nun die verlorene Zwillingsschwester, die für die
pathologische Gleichung von Doppelgänger-Erscheinung
und Tod zu zahlen hat. Was Manis Zwilling angeht, der zur
Gruppe der hellen Ergänzer gehört, so besitzt er nicht mehr
die bescheidenen Umrisse des römischen Genius. Zwar ist
auch das Double des Religionsstifters Mani mit dessen Exi­
stenz in mikrosphärischer Intim-Allianz geniusartig verbun­
den; zugleich hat es sich aufgeladen mit dem expansiven Elan
vorderorientalischer Missionsreligiosität und ist vollgesogen
von den kosmischen Prätentionen juden-christlicher und
hellenistischer Universaltheologie. Mani wird somit durch
seinen Zwilling nicht nur subtil supplementiert, sondern
auch von ihm zu Unternehmungen von weltausgreifender
Spannweite angeregt. In typologischer Sicht weist Manis
Zwillings-Liaison Parallelen zu Mohammeds Allianz mit
dem Erzengel Gabriel auf, der den Koran diktieren wird. Wir
befinden uns offenkundig im Herzland des monotheisti­
schen Mediumismus: Hier heißt Subjekt sein eo ipso eine pro­
phetische Ladung tragen. In diesem Sinne läßt sich sagen, daß
die Prophetologie die Grundwissenschaft vom Subjekt im

189 Vgl. O tto Rank, D er Doppelgänger. Eine psychoanalytische Stu­


die, Wien 1993, S. 94 und 96.
444 Kapitel 6

expansiven Monotheismus nach-jüdischen Typs ist.190 Der


Fall Manis bezeugt - wie schon der jesuanische - eine Welt­
lage, in der mikrosphärische und makrosphärische Struktu­
ren wirkungsvoll ineinander eingeschachtelt werden können.
Von dieser historischen Wende an ist die Intimreligion befä­
higt, auch schon die Sprache der Universalreligion zu spre­
chen. Wir erreichen das Zeitalter der entfremdungsgefährde­
ten Einzelnen, die nur gegen den Weltlauf und abseits der
Reichszwänge verinnerlichende Wege zu ihrem Heil finden
können. Bevor aber im Manichäismus von einem robusten
kosmologisch relevanten Prinzipienkampf zwischen Gut
und Böse die Rede sein konnte, mußte in Manis eigener Bil­
dungsgeschichte erst einmal die subtile Idee einer integren
Dualform gewonnen werden. N ur so wird die Intimreligio­
sität des Zwillingsgeist-Glaubens anschlußfähig an univer­
salistische und expansionistische Programme. Die Religion
antwortet auf den Durchbruch der Politik zur Weltreichs­
idee, indem sie auch für den göttlichen Geist weltkirchliche
Gehäuse postuliert. Wie dies im christlichen Fall geschehen
ist, werden wir später zur Sprache bringen.191 Nicht zufällig
hat Mani - nach seinem 26tägigen Kettenmartyrium im Jahr
276 - eine Kirche hinterlassen, die sich von Rom bis nach
China erstreckte. Das Wärmezentrum dieses para-christli­
chen Verkündigungsimperiums war kein anderes als die stille
Begegnung des jungen Mani mit dem Bild seines Zwillings im
Wasser. Wie solche Expansionen von mikrosphärischen Dya-
den - Mani und sein Zwilling, Jesus und sein Abba - zu Welt­
kirchen strukturell und psychohistorisch möglich wurden,
das wird ein Thema des zweiten Bandes sein.

190 U ber die A bwandlung der prophetischen Subjektstruktur zu einem


»apostolischen Pakt« vgl. Sphären II, 7. Kapitel, Wie durch reine
M edien die Sphärenmitte in die Ferne w irkt. Z ur M etaphysik der
Telekommunikation.
191 Ibid.
Seelenraumteiler 445
Genius, Zwilling, Wächter-Engel und äußere Seele bilden
eine Gruppe von elementaren und langlebigen Konzepten
für den zweiten Pol im psychosphärischen Dual. Alle diese
Figuren entstehen aus Umbesetzungen des ersten Dort, das
im Individuum eine Stelle für förderndes nahes Begleitendes
offengelassen hat. Während aber das ursprüngliche fötale
Dort und Mit wesenhaft anonym und unbewußt ist, müssen
die späteren Begleiter unter öffentlichen Namen und an­
schauungsfähigen Konzepten vorgestellt werden - sei es in
Analogie zu natürlichen Personen wie beim Zwilling, sei es
nach dem Muster von Vorstellungen unsichtbarer Kraftsub­
jekte oder Geister, wie sie im Imaginären aller Kulturen anzu­
treffen sind. Man könnte die genannten Seelenbegleiter-
Konzepte, sofern sie als Nachfolger und Platzhalter eines
archaischen Anonyms erscheinen, Figurationen des plazen-
talen Doubles nennen; tatsächlich könnten diese Größen ihre
seelenraumsichernden Eigenschaften nicht entfalten, wenn
sie nicht schon eine primitive, in der intrauterinen Blase an­
gelegte Dort-Hier-Struktur vorfänden, in die sie als Dort-Fi-
guren und Alliierte höherer Stufe eintreten könnten. Es ist
wohl anzumerken, daß die subtilen Teiler des Seelenraums in
psychologischer Sicht archaische und unter Unreife-Ver-
dacht stehende Begleiterfiguren darstellen. Wo solche Gestal­
ten sich langfristig festsetzen, drohen sie ihre Ersetzung
durch ihre evolutionären Soll-Nachfolger zu blockieren, vor
allem durch jene Eltern-Imagines, die im Subjekt ein inneres
Doppel-Leitbild fruchtbaren Lebens in guter Geschlechter­
spannung etablieren sollen. Daher müssen, der analytischen
Orthodoxie zufolge, auch die Bilder von Engeln und Zwillin­
gen untergehen, damit ihre Stelle durch erneute Umbeset­
zung endlich den Leitbildern der Geschlechtsreife - und über
diese hinaus: den Kulturvorbildern - zufällt; nicht für immer
soll das Individuum der unzertrennliche Gefährte seines pri­
mitiven intimen alter ego bleiben, sondern sich zum Pol eines
psychisch und physisch fruchtbaren Paares entwickeln. Les-
446 Kapitel 6

sing hat in seinem Stück Nathan der Weise schön gezeigt, wie
das Bild des Retter-Engels in einer Mädchenseele untergehen
muß, damit das des realen Mannes an seiner Stelle aufgehen
kann. Das heteroerotische Paar inmitten eines sehr irdischen
Haushalts wäre - nach der psychoanalytischen Vulgata - das
Mindestziel jeder psychischen Reifungsgeschichte. Logisch
gesprochen bedeutet Reifung nichts anderes als die wach­
sende Bereitschaft, bis drei, vier und fünf zu zählen; sie wäre
die Endstufe eines an Etappen und Übergangs-Subjekten und
-Objekten reichen Umbesetzungsprozesses.
Was die plazentalen Doubles angeht, so bezeugt ihr Auf­
treten schon die Ausbildung eines psychischen Raumes mit
ausgeprägten Mikrokosmoseigenschaften. Das Ich und sein
alter ego, das Individiuum und sein Genius, das Kind und
sein Engel: Sie bilden jeweils kleinweltliche Blasen, in denen
die dichte Weltlosigkeit der intrauterinen Position mit ihrer
Vorskizze zur Dort-Hier-Struktur bereits ein wenig gelich­
tet ist und abgewandelt wurde zu der gemäßigten Weltlosig­
keit des frühen Ego-und-Alter-Ego-Duals; in dieses werfen
spätere komplexere Wirklichkeiten ihre Schatten voraus.
Für die kleine Welt sind fünf Strukturmomente konstitu­
tiv: Die ersten beiden bestehen, trivialerweise, aus den Inha­
bern des Hier-Pols und des Dort-Pols, also aus Selbst und
Mit-Selbst, die, wie gezeigt, in ursprünglicher Ergänzung
immer schon aufeinander bezogen sind und sich durch Tren­
nungen und Neuverbindungen bereichern und differenzie­
ren. Das dritte wird durch die Behälterform als solche gelie­
fert, in die das Hier-Dort-Feld eingebettet wird. Das vierte
Charakteristikum ist die freie Erreichbarkeit der beiden Pole
füreinander, und es ist für den Zwilling wie für den Engel
und ihre Pendants kennzeichnend, kein Problem des Zu­
gangs zu ihrem Gegenüber zu haben - die Begleiter sind im­
mer schon im Zimmer. Der Engel, wie das Genie, sucht
nicht, er findet; für ihn, das Nähe-Wesen, das von vorneher-
ein dabei ist, ist der andere Pol durch Renonanz a priori er­
Seelenraumteiler 447
schlossen; umgekehrt ist für das Subjekt, sofern es sich zum
Begleiter hinwendet, ein gewisses behütetes Außer-sich-Sein
die Regel; im Innern der Blase ist die Ekstase, das Sein beim
Anderen, der normale Zustand: Weil die Blase der absolute
O rt ist, bin ich in ihr - und in ihr am anderen Pol - immer am
Platz. Wir werden im folgenden Kapitel zeigen, daß dies zu­
nächst und vor allem ein psychoakustisches Verhältnis ist,
das durch die Ekstase des zuvorkommenden Hinhörens ge­
bahnt wird.
Das fünfte Strukturmoment der kleinen Welt sind die
Membran-Funktionen, die dem Begleiter von Anfang an zu­
kommen. Als ursprünglicher Ergänzer sorgt dieser ebenso
für die Bildung und Öffnung des Raums wie für seine
Hegung und Schließung. Insofern hängen »Chance und Ver­
hängnis des Subjekts« ganz von der Qualität der psychischen
Membrane ab, die ihm den Weltzugang zugleich gewährt
und vorenthält. Der Zwilling ist gleichsam eine Schleuse,
durch die sich der Stoffwechsel zwischen Subjekt und Welt
vollzieht. Der Grad ihrer Öffnung entscheidet über Aus-
trockung oder Überflutung. Ist die Begleiter-Membrane
nicht porös genug, um wachsende Weltvolumina durchzu­
lassen, so kann sie sich zum Gefängnis des Subjekts entwik-
keln; sie sperrt es von der sogenannten Außenwelt, man
würde besser sagen: von den außer-symbiotischen Sphären,
ab. Geht der Begleiter hingegen durch einen traumatischen
Zwischenfall zu früh verloren oder bleibt lange gleichgültig
oder abwesend, dann erleidet das Subjekt einen Offenheits­
schock, es stürzt in die schlechte Ekstase der Vernichtungs­
angst »hinaus«; es macht Bekanntschaft mit einem exosphä-
rischen Außen, in dem es sich selber nicht erträgt. Beide
Extreme - Zwillingsautismus und pathologische Angst vor
dem Außen als Vernichtungsraum - markieren charakteristi­
sche Folgen aus dem Versagen der Membranfunktion des Be­
gleiters. An ihnen läßt sich ablesen, was übermäßiger und
ungenügender Raumschutz in frühen psychischen Prozessen
448 Kapitel 6

zu bewirken vermag. Der Fall der englischen Zwillings­


schwestern June und Jennifer Gibbons, die sich jahrelang
durch ihr beharrliches Schweigen von der Außenwelt ab­
schotteten, um radikalsymbiotisch in einer »eigenen Welt«
zu leben, hat bis in die Boulevardpresse hinein Aufsehen er­
regt.192 Sie bezeugen die Gefahr, daß der intime Begleiter -
falls er in allzu realer, obsessiver und unporöser Gestalt er­
scheint - die Blase nach außen so stark abdichtet, daß ein her­
metisches Binnenleben unter Formen eines Autismus zu
zweit zu blühen beginnt. Immerhin haben solche Fälle den
Vorzug, daß sie auch vor den Augen von Profanen, sprich
Anti-Tiefenpsychologen, die Wirklichkeit der psychosphäri-
schen Binnenverhältnisse in handgreiflichen Formen unter
Beweis stellen. Umgekehrt lassen sich zahlreiche Fälle von
frühkindlichem Autismus, von denen die klassischen Arbei­
ten der Psychologen René A. Spitz und Bruno Bettelheim
handeln, als Spuren von Invasionen einer malignen Unend­
lichkeit in den frühen Intimraum deuten. Die leeren Festun­
gen des Autismus sind in erster Linie Verteidigungsanlagen,
die das Subjekt gegen die Raumpanik und den Verlassen­
heits-Tod sichern. An ihnen zeigt sich die Seelenraumzerstö­
rung im entgegengesetzten Extrem; denn während die über­
begleitete Seele in hermetische Kommunionen gebannt zu
bleiben droht, zieht sich die unterbegleitete in eine akommu-
nikative Sicherheitsstarre zurück und macht sich für alle An­
gebote der Außenwelt unerreichbar. Am Schicksal der auti­
stischen Kinder läßt sich ablesen, daß die Todesangst von
derselben Seite kommt, auf der sich der integre Begleiter
hätte zeigen müssen - weswegen Autismustherapie nur vor­
ankommt als Aufbau eines zweiten Vertrauens und als Ein-
spielung neuer Resonanzkreise, an der Vernichtungsnarbe
vorbei. Wo aber die diskreten Begleiter ihre Membranaufga­
ben gut erfüllen, dort wächst das Subjekt im Schwingungsbe-

192 Vgl. Marjorie Wallace, Die schweigsamen Zwillinge, Berlin 1987.


Seelenraumteiler 449

Jennifer und Junifer tauschen ihr geheimes Zeichen aus, aus: Marjorie Wal­
lace, Die schweigsamen Zwillinge

reich jener geschützten Offenheit heran, die das menschen­


gemäße Optimum bietet: in der wohltemperierten Ekstase.
Die äußere Seele - eine Membrane: Mit diesem Konzept
läßt sich verständlich machen, daß nur durch dieses Medium,
diese Schleuse, diesen Austauscher hindurch überhaupt so
etwas wie Weltaufbau im subjektiven Feld, also in der sym­
biotischen Sphäre und ihren Nachfolgeräumen, geschehen
kann. Als zweiseitige Form stellt die Membrane zum einen
sicher, daß die Welt nur mittels des »Zwillings« - der sich
vorübergehend vor allem als Mutter präsentiert - gleichsam
in das Subjekt hineingelangen kann, zum anderen bewirkt
sie, daß das Selbst immer schon draußen ist bei seinem
Double. Das Subjekt und sein Ergänzer bilden gemeinsam
zunächst eine weltlose - oder eigenweltliche - Intimitäts­
zelle; aber weil das Subjekt von seinem Double, und zu­
nächst nur von ihm, über das Volumen der »Welt« in der ge­
450 Kapitel 6

gebenen Kultur informiert wird, hängt der Zugang zum


Außen für das werdende Subjekt ganz von den Membran­
qualitäten des inneren Anderen ab. Indem es dem innigen
Anderen entgegenfliegt, entfaltet es sich selbst auf dessen
weitere Welt hin. Die Offenheit der Welt ist das Geschenk
des Doubles als Membran.
N ur wenn das Subjekt sich von Anfang an in einer Struk­
tur schützend-durchlässiger Zweiheit konstituiert hat - und
die Vorzeichnung dieses Duals beginnt, wie gezeigt, im vor­
geburtlichen Raum -, kann sich die Anreicherung des sub­
jektives Feldes durch hinzutretende Pole bis zur Gemein­
schaftstauglichkeit entfalten: Die hinreichend gute Mutter ist
selbst nicht die unmittelbare Zweite, sondern die Dritte im
Bunde der Zwillinge, von denen das Ich der manifeste und
der Urbegleiter der latente Teil sind. Mutter-und-Kind bil­
den immer schon ein Trio, in dem der unsichtbarer Partner
des Kindes mitspielt. Wird das Feld weiter aufgebaut, so fü­
gen die Figur des Vaters ihm die vierte, die Figuren der Ge­
schwister (als der nahen Fremden) und der Unverwandten
(als der fremden Fremden) den fünften Pol hinzu. Erwach­
sene Subjektivität ist demnach kommunikative Beweglich­
keit in einem fünfpoligen Feld. Sie ist die Fähigkeit, mit dem
Genius, mit der Mutter, mit dem Vater, mit Geschwistern
oder Freunden und mit Fremden in differenzierte Resonan­
zen einzutreten. In musikalischen Ausdrücken gesprochen,
geht die elementare Entwicklung vom Duett zum Quintett.
Auf jeder Stufe ist es der Begleiter, der sein Subjekt forma­
tiert und freigibt; ein diskreter Genius evoziert ein diskretes
Individuum in einer ausreichend definierten Welt.
In traditionellen Kulturen müssen die Kinder psychisch
mindestens ebenso geräumig werden wie ihre Eltern, um in
das Welthaus ihres Stammes einziehen zu können. In avan­
cierten Kulturen treten zusätzlich professionelle Provokati­
onsgeister und Seelenvergrößerer auf - ein Vorgang, der bei
den Griechen zur Entdeckung der Schule führte und zur
Seelenraumteiler 4SI
Umwandlung von Dämonen in Lehrer. (Der Lehrer tritt hi­
storisch als Zweiter Vater auf den Plan; er betreut den emp­
findlichen Übergang von der Quartettstufe, die noch familial
beschränkt bleibt, zum Quintett - das heißt zur Mindest­
form von Gesellschaft. Seit es die Lehrer gibt, schauen Väter
hinter unähnlichen Söhnen her.)
An der Geschichte der verfaßten Pädagogik läßt sich able­
sen, daß in allen höheren Kulturen an der Schwelle zwischen
Aufzucht und Erziehung den Müttern ihr psychokratisches
Monopol in bezug auf die Kinder genommen wird. Wenn He­
gel in seiner Psychologie-Vorlesung sagt: »Die M utter ist der
Genius des Kindes«,193 so beschreibt er damit - unzulänglich
- den Ausgangspunkt der Erziehung auf dem Niveau der füh­
lenden Seele und der spürenden, noch begriffsleeren Subjek­
tivität. Gewiß muß das Individuum, nach seinen plazentalen
und fötal-akustischen Vorprägungen, zunächst von der M ut­
terseele durchseelt und nach Hegels Ausdruck »durchzittert«
werden; doch nach vollendeter Bildung soll der Einzelne dem
idealistischen Schema gemäß allein von dem selbstgewissen
Begriff, der nicht mehr zittert, durchgeistert sein.194
Der Modus, in dem die Präsenz des Begleiters anfangs er­
fahren wird, ist zunächst überwiegend ein nicht-optischer,
denn die subjektive Alte Geschichte fällt ganz in die Domäne
des Prä-Visuellen und Prä-Imaginären. Für die (In-)Existenz
in der uterinen Nacht versteht sich dies von selbst; aber auch
für die Neugeborenen sind - von dem elementar bedeu­
tungsvollen faszinogenen Augenkontakt mit der Mutter
abgesehen - die nicht-visuellen Berührungs- und Bezie-
193 G. W. F. Hegel, Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften,
Band III, Werke Band XXX, Frankfurt a. M., S. 124.
194 Wie es möglich ist, diese mortifizierende Bildungsforderung zu­
gunsten einer bis zuletzt »zitternden«, erschütterbaren Subjekt­
form zurückzuweisen, habe ich in einer m usikphilosophischen U n ­
tersuchung zu erläutern versucht: »Wo sind wir, wenn w ir Musik
hören?«, in: Weltfremdheit, Frankfurt 1993, S. 294-325, besonders
S- 317 ff-
Joseph Beuys, Die Hüterin des Schlafs
Seelenraumteiler 453
454 Kapitel 6

hungsmedien bei weitem führend. Selbst ein leibhaftiger


Zwillingsbruder wäre in der frühesten Auffassung des Kin­
des für lange Zeit kein Anblick, sondern mehr eine gespürte
Präsenz, ein Geräuschzentrum, ein Tastgefühl, ein Puls, eine
Aura, eine Quelle von Druckeinwirkungen, und erst an letz­
ter Stelle auch eine Sichtbarkeit. Dies gilt erst recht für die
Frühkonzepte vom anwesenden und abwesenden Gegen­
über, die sich bei dem Kind im Umgang mit dem Gesicht und
dem Leib der Mutter an Stelle des archaischen Mit ausbilden.
Genius-Präsenz und Nähe-Erlebnis ist daher zuerst und zu­
letzt eine Gespürs-Sache; nur sekundär ergänzend kann eine
optische Evidenz zu dem Feldgrund des Sichspürens hinzu­
treten. Auch das angebliche frühe Selbst»bild« des Kindes ist
in Wahrheit nicht so sehr Sache einer Bildvorstellung oder
einer Im ago195 als vielmehr ein Sachverhalt im gespürten
Selbstfeld. Zum großen Schaden für Theorie und Praxis hat
schon die klassische Psychoanalyse das frühe Ich in eine fun­
damentale Abhängigkeit von optischen Selbstbildern brin­
gen wollen, und dies gegen alle schlichte Wahrscheinlichkeit,
da das Infans gewiß eine Unzahl von Erfahrungen über sich
selbst und seine Integrität oder Zersetzung im gespürten
Austausch mit seiner Mutter gewinnt, aber nur relativ we­
nige auto-eidetische Informationen von Belang in sich auf­
nimmt. Auch sein eventuell in einem Spiegel wahrgenomme­
nes und als solches erkanntes eigenes Bild wird unweigerlich
im inneren Licht des vorangehenden Selbstgespürs gedeutet.
Die prägende Information über das Wie des Selbst liegt im­
mer schon als vager ganzheitlicher Empfindungskomplex im
gespürten Feld vor, und nur als visueller Zusatz zum geleb­
ten Vorurteil des Selbstgespürs kann das Spiegelbild vom Ich

195 D er Begriff Im ago ist von Carl Gustav Jung 1911 in seiner Schrift
W andlungen und Symbole der Libido in die psychoanalytische Ter­
minologie eingeführt w orden, zunächst als diskretes Instrum ent
zur Bestimmung verinnerlichter Beziehungen, dann als w eltan­
schaulich verklumpte psycho-ontologische Kategorie.
Seelenraumteiler 455
als Erscheinung im optisch erschlossenen Raum zu seinen
Rechten kommen.196
Für das gewöhnliche, mehr oder weniger gut abgenabelte
Individuum gehört es zu den trivialen Gegebenheiten seiner
Existenz als einzelnes unter einzelnen, daß der Platz seinem
Nabel gegenüber - der im Fötalraum durch das Band zum
Mit besetzt war - von nun an und für immer frei, wenn auch
nicht leer, zu bleiben hat. Deswegen kennen Menschen eine
scharfe Differenz zwischen ihrem Rückenselbstgefühl und
ihrem Vorderseitenbewußtsein: das Vorne ist die Gesichts­
seite, die Genitalseite und vor allem auch die Nabelseite. An
dieser Front liegen nicht nur die wichtigsten Öffnungen und
Sensoren, auch die Trennungsnarbe ist dort in den Leib ein­
gezeichnet. Der Nabel steht an der menschlichen Vorderseite
wie ein Denkmal für das Undenkbare; er erinnert an das,
woran sich niemand erinnert. Er ist das pure Zeichen dessen,
was für das Bewußtsein auf der anderen Seite des Wißbaren
liegt - weswegen, wenn man sichs recht überlegt, wer vom
Nabel nicht reden will, auch vom Unbewußten schweigen
sollte. Er bezeichnet das Wissen von einem Ereignis, das
mich mehr als jedes andere betrifft, obwohl ich als aktuelles
Subjekt dieses Wissens nicht in Frage komme. Der Nabel-

196 W ir haben weiter oben (im Schlußabschnitt des 2. Kapitels, Zwi­


schen Gesichtern, S. 195 ff.) Argum ente für die These vorgetragen,
daß Spiegel erst in hochkultureller Zeit als Medien des Selbstbezugs
bei W ohlhabenden, M ächtigen und Weisen auftauchen (in der Mitte
des ersten Jahrtausends vor C hristi G eburt) und daß nicht vor dem
19. Jahrhundert, zusammen mit der Alphabetisierung und der
Hygienisierung, eine Flächenversorgung m oderner Populationen
mit Spiegeln durchgesetzt wurde. In diesem Punkt weist Lacans
A rgum ent von einer angeblich konstitutiven, prä-sozialen »Spie­
gelphase« eine medien- und technikgeschichtliche Schwachstelle
auf. O b man Lacans These mit Bezug auf Wasserspiegelungen oder
auf den Schatten des Infans reformulieren könnte, ist m ehr als u n ­
gewiß; sicher ist, daß eine semantische Täuschung vorliegt, wenn
das Auge der M utter als jederzeit gegebener organischer »Spiegel«
vorgeschoben werden soll.
456 Kapitel 6

eigentümer schaut an dem Monument in seiner Leibmitte


zeitlebens vorbei wie ein Passant an einem Reiterdenkmal, an
dem er täglich vorübergeht, ohne je darauf zu verfallen, wis­
sen zu wollen, wen es darstellt. Dieses Desinteresse an der ei­
genen Urgeschichte hat kulturell Methode, denn die Euro­
päer werden von alters her unter einem Nabelschau-Verbot
erzogen: sie sollen sich schämen, es auch nur für möglich zu
halten, sich an dieser Stelle auf sich zu selbst zu beziehen. An
der diskreten Vertiefung in der eigenen Leibesmitte ist das
Gebot festgemacht, sich immer und ausnahmslos auf anderes
zu beziehen. Der Nabel ist das Zeichen unserer Pflicht zur
Extraversion. Er deutet schlechthin nach vorne in das Pan­
orama der Dinge und Subjekte, die für uns und mit uns da
sind. Die Welt soll alles werden, was dem Nabel gegenüber
der Fall ist.
Vladimir Nabokov hat in einer Erzählung unter dem Titel
Szenen aus dem Leben eines Doppelungeheuers den Fall
eines bei Karas am Schwarzen Meer geborenen siamesischen
Zwillingspaares geschildert, das durch ein »fleischiges Knor­
pelband« am Nabel zusammengewachsen war - »omphalo­
pagus diaphragmo-xiphodidymus, wie Pancoast einen ähnli­
chen Fall bezeichnet hat.«197 Das Faszinosum dieses Typs
von verwachsenen Zwillingen scheint vor allem darin zu be­
stehen, daß sie den sonst regelmäßig freien Platz dem Nabel
gegenüber als einen besetzten zeigen. Daher ist die Schaulust,
die sich auf diese Monstren - sprich Vorzeige- und Mahnwe­
sen - bezieht, nicht nur eine Variante der unspezifischen
Neugier auf alles Abweichende, Kuriose, Anekdotische,
Überraschende. Auf Jahrmärkten und in Zirkussen wittern
die Besucher, die von weither zusammenströmen, um das

197 Vgl. Doppelgänger. Phantastische Geschichten, hg. von Renate Bö­


schenstein, M ünchen, 1987, S. 279-290; der amerikanische C hirurg
William P. Pancoast verfaßte einen aufsehenerregenden Bericht
über die Sektion der siamischen Zwillinge Chang und Eng, die 1874
verstorben waren.
Seelenraumteiler 457
Doppelungeheuer zu sehen, einen Bezug zu ihren eigenen
Individuationsgeheimnissen. Der Hunger nach der siamesi­
schen Obszönität verbirgt die unformulierbare Frage nach
dem Double, das alle Individuen unsichtbar begleitet, ohne
daß sein Bezug zum eigenen Nabel je explizit vor Augen
kommen könnte. Bei den siamesischen Zwillingen hat der in­
time Begleiter alle drei Gestalten zugleich angenommen, die
dem Mit-Nachfolger, alias plazentalem Ergänzer, zukom­
men können: Er ist Doppelgänger, Genius und Verfolger in
einem. Als Doppelgänger verkörpert der Zwilling die Zwei
als Primzahl des seelischen Raumes; als Genius bezeugt er
das ich-bildende Glück positiver Ergänzung; als Verfolger
inkarniert er das Grundrisiko der Beseeltheit, daß der inner­
ste Zugang zu dir deinem Verneiner gehören kann. (In die­
sem Sinn wären auch politische Erbfeinde siamesische Zwil­
linge auf der Ebene psychohistorischer Verwachsungen -
und ihre Trennung voneinander geschieht am ehesten noch
im chirurgischen Krieg, dem eine Friedensstiftung folgt. Carl
Schmitt/Theodor Däubler: »Der Feind ist unsere eigne Frage
als Gestalt.«)
Nabokovs russische Zwillinge, Lloyd und Floyd - das
sind freilich schon ihre späteren amerikanischen Variété-Na-
men -, sind Unzertrennliche, bei denen sich der archaische
Schatten zu einem körperlich anwesenden Bruder materiali­
siert hat. In ihnen ist das Undenkbare Fleisch geworden und
wohnt unter uns, und die Welt erkennt es nicht ungern, kei­
nesfalls aber als Aspekt ihrer eigenen Wahrheit, sondern als
äußere Sensation und als Teil der natürlichen Komödie. Wo
auch immer die Zwillinge sich angaffen lassen müssen, ent­
steht eine makabre und verfluchte Zone, in der das Heilige
als das Kuriose aufscheint. Weil das mystische Band als grau­
same Laune der Natur aufgefaßt wird, läßt hier sich wie eine
zoologische Tatsache anschauen, was sonst zwischen den
Heiligen und ihrem Gott verborgen bleibt. Für die vorge­
führten zusammengewachsenen Kinder liegt das Quälende
458 Kapitel 6

ihrer Lage besonders darin, daß man von ihnen verlangt, mit­
einander zu spielen und zu kommunizieren, als wären sie
normale Getrennte:
»Unsere Angehörigen tyrannisierten uns so, daß wir
solchen Wünschen willfährig waren, und konnten
nicht begreifen, was daran so qualvoll war. Wir hätten
uns auf unsere Schüchternheit berufen können; aber
die Wahrheit war, daß wir nie wirklich miteinander
sprachen, selbst wenn wir alleine waren, denn die
knappen, abgehackten Grunzlaute, seltenen Proteste,
die wir bisweilen wechselten... konnten schwerlich
als Dialog gelten. Die Verständigung über einfache we­
sentliche Empfindungen zwischen uns vollzog sich
wortlos: lose Blätter, die der Strom unseres gemeinsa­
men Blutes mit sich führte. Auch dünnen Gedanken
gelang es, durchzuschlüpfen und vom einen zum ande­
ren zu gelangen. Bedeutungsvolleres behielt jeder für
sich, aber auch da kam es zu seltsamen Phänomenen...
Ärzte haben die Vermutung geäußert, daß wir in unse­
ren Träumen unseren Geist gelegentlich vereinten. Ei­
nes graublauen Morgens hob er einen Zweig auf und
zeichnete ein Schiff mit drei Masten in den Staub. Die
Nacht zuvor hatte ich mich selbst das gleiche Schiff in
den Staub meines Traumes zeichnen sehen.«198
Das Raffinement von Nabokovs Geschichte beruht in der er­
zähltechnischen Entscheidung, sie vom Standpunkt eines der
beiden Zwillinge aus zu entwickeln, so daß der Leser das Da­
sein als Doppelmonstrum von innen her wahrnimmt wie
eine normale Individualität. Die Zwillinge selbst besaßen -
nach Nabakovs Darstellung - in den ersten Jahren ihres Le­
bens kaum eine Spur von Einsicht in die Ungewöhnlichkeit
ihrer Existenz. Floyd, der Erzähler, empfand sich als ein
durchschnittlicher Erdenbürger mit einem dauernd anwe-

198 Nabokov, ibid., S. 284/287.


Seelenraumteiler 459
senden Partner an seiner Seite, und erst spät gelangte er zu
dem Gefühl seiner Außerordentlichkeit.
»Jeder für sich war durchaus normal, doch zusammen
bildeten sie ein Ungeheuer. Tatsächlich ist es sonder­
bar, sich zu vergegenwärtigen, daß das Vorhandensein
eines bloßen Gewebebandes, eines Fleischlappens, der
nicht größer ist als die Leber eines Lammes, imstande
ist, Freude, Stolz, Zärtlichkeit, Bewunderung und
Dankbarkeit gegenüber Gott in Entsetzen und Ver­
zweiflung zu verwandeln.« (281)
Damit erklärt Floyd nachträglich den Tod der Mutter, die aus
Kummer über die Monstergeburt verstorben war. Die Ur-
szene der Bewußtwerdung ereignet sich für Floyd bei der
Begegnung mit einem gleichaltrigen, sieben- oder achtjähri­
gen Kind, das ihm und seinem Bruder eines Tages unter ei­
nem Feigenbaum gegenüberstand und herüberspähte:
». . . (da) wußte ich, wie ich mich erinnere, den wesent­
lichen Unterschied zwischen dem Neuankömmling
und mir voll und ganz zu würdigen. Er warf einen kur­
zen blauen Schatten auf den Boden; ich auch; doch zu­
sätzlich zu diesem skizzenhaften, flachen und ver­
änderlichen Begleiter, den er und ich der Sonne
verdankten und der bei trübem Wetter verschwand,
besaß ich noch einen anderen Schatten, eine handgreif­
liche Spiegelung meines körperlichen Ichs, die ich zu
meiner Linken ständig bei mir führte, wohingegen
mein Besucher die seine irgendwie verloren oder los­
gehakt und zu Hause gelassen hatte. Lloyd und Floyd,
zusammengewachsen, waren vollständig und normal;
er war weder das eine noch das andere.« (281)
Nabokov stellt die Frage nach dem Kriterium seelischer
Normalität aus der Sicht des siamesischen Zwillings, der sein
Verwachsensein mit dem Zweiten als das Urverhältnis ange­
nommen hat. Mit dieser Optik ausgerüstet, durchschaut er
das halbierte Wesen der übrigen: Man muß ein Monstrum
460 Kapitel 6

Zirkustheologie: Chang und Eng - oder: Der gefangene Ergänzer

der Vollständigkeit sein, um zu erkennen, daß die normalen


Individuen jene sind, die ihren Begleiter abkoppeln können.
Aus der Perspektive Floyds steht der fremde Junge als Mon­
strum der Vereinzelung da - und es wird noch eine Weile
dauern, bis er versteht, daß die Monstrosität auf seiner Seite
liegt und nicht bei den Getrennten, die ihren Ergänzer zu
Hause oder wo auch immer gelassen haben. Die siamesi­
schen Zwillinge verkörpern die unterlassene »umbilikale Ka­
stration«, das versäumte körperliche Loslassen des anderen.
In ihrem Nabelfeld haben sich nicht, wie bei den gewöhnli­
chen Individuen, unsichtbare Begleiter und träumerische In­
tentionen des Verlangens nach ihnen etablieren können. An
den Zwillingen bleibt das Double fleischlich, allzu fleischlich
erhalten. Eben darum lassen sich die siamesischen Zwillinge
Seelenraumteiler 461

auf Jahrmärkten vorführen: Sie stehen vor der faszinierten


Menge als Individuen, die ihren Engel in die Falle gelockt ha­
ben: Ihr Begleiter ist zum Erscheinen verdammt, ihr Genius
muß den Sturz in den Körper miterdulden. Angesichts der
monströsen Ausnahme ahnt der dunkelste Gaffer das Gesetz
der Menschwerdung: Wo körperliches Band war, soll sym­
bolische Verbundenheit werden. Wer die Zwillinge sieht, at­
met auf und ist froh darüber, daß Gott, wenn es ihn gibt, sich
im eigenen Fall im Hintergrund hält. In keinem Tempel ließe
sich diese Wahrheit ausdrücklicher bekennen als im Variété:
kein Spiegel, kein Glas, keine optische Täuschung, alles reine
obszöne Natur. Hier hat sich der reale Zwilling ins Nabelfeld
vorgedrängt und behauptet hartnäckig seine Präsenz gegen
befreiende Umbesetzungen. Ohne beschönigende Schleier
hat der Beobachter die heilige Unfreiheit der Auserwählten
unter seinem Blick. Den Zusammengewachsenen ist der
Ausweg in die psychische Banalität, der allen normalen Indi­
viduen offensteht, versperrt; sie sind zur ständigen Beglei­
tung verdammt, so wie der Mystiker chronisch wehrlos ist
gegen den Gott, der ihn überschwemmt und vertrocknen
läßt, wie es ihm beliebt. Monströs ist ein Leben unter der Be­
sessenheit durch einen Genius, der nicht Abstand hält. Der
angewachsene Zweite - stellt er nicht dar, was niemals hätte
sichtbar werden dürfen, nicht jetzt, nicht hier, nicht in so auf­
sässig körperhafter Gestalt? Er ist die Plazentophanie als
Bruder, der an der eigenen Seite torkelt. Immerhin dient die
makabre Komik des Anblicks dem Unsäglichen als schüt­
zendes Incognito, »da wir wohl aussahen wie ein Paar be­
trunkener Zwerge, die sich gegenseitig stützten«.

Robert Musil hat im dritten und vierten Teil seines Romans


Der Mann ohne Eigenschaften das Motiv der siamesischen
Zwillinge als Metapher für den fusionären Eros aufgenom­
men. Das siamesische Band erscheint hier freilich völlig ent-
stofflicht und verinnerlicht, es dient als eine symbolische
462 Kapitel 6

Marke in einer epischen Erkundung über die Bedingungen


der Möglichkeit von Intimität zwischen Partnern, die sich
gegenseitig zu einer exzessiven Offenheit füreinander ver­
führen. Der Umstand, daß die Pole des Musilschen Fusions­
experiments, Agathe und Ulrich, leibliche Geschwister sind,
besitzt nur literarische, nicht psychologische Notwendig­
keit. Musil versäumt es nicht, die Ausgangspunkte des Ver­
schmelzungsprozesses möglichst weit auseinanderzulegen:
Die beiden Geschwister, ungleichaltrig im übrigen, weil eben
keine physischen Zwillinge, lebten an getrennten Orten und
hatten sich über viele Jahre hinweg innerlich wie äußerlich
aus den Augen verloren. Erst der Tod ihres Vaters bot An­
laß für eine Wiederbegegnung, die zum Anfang einer kühn
konstruierten magnetopathisch-inzestuösen Liaison werden
sollte. Notwendig ist die geschwisterliche Verwandtschaft
zwischen Ulrich und Agathe für Musils Erzählökonomie aus
zwei Gründen: zum einen, um die zugleich erotische und
symbiotische Apriori-Attraktion zwischen beiden auf die
einfachste und plausibelste Weise zu motivieren, zum ande­
ren, um die Frage nach den Grenzen des Eros an einem ex­
zeptionellen und illegitimen Fall von Geschwisterliebe zu
untersuchen. Dabei tritt die Suche nach einem Tausendjähri­
gen Reich für zwei als Vergehen gegen das Grundgesetz aller
Gesellschaftsbildungen ins Licht. Nicht umsonst sollte der
Zyklus der Geschwisterkapitel in Musils Opus magnum den
Titel »Die Verbrecher« tragen. Agathe und Ulrich müssen
Geschwister sein, damit die Äquivalenz von Inzest und my­
stischer Kommunion ins Auge springt. Denn sowenig die ge­
nealogische Ordnung der Gesellschaft als System von Ab­
ständen und Unterschieden in Kraft bleiben könnte, falls
Mütter mit Söhnen, Väter mit Töchtern und Brüder mit
Schwestern sexuell verkehrten, so wenig könnte sich die
Wirklichkeit als symbolische Gesamtinstitution behaupten,
wenn die mystische Versuchung überhandnähme, die den in­
stitutionalisierten Abstand zwischen Subjekt und Objekt
Seelenraumteiler 463

Leonardo da Vinci, Le da mit dem Schwan. Ihre vier Kinder sind aus den bei­
den Eiern geschlüpft (Ausschnitt)
464 Kapitel 6

und zwischen Ding und Zeichen zu liquidieren trachtet. In­


diskretion - oder Verweigerung der Unterscheidung - ist das
ontologische Verbrechen, gegen das sämtliche gemeinver­
bindlichen Konstruktionen von Wirklichkeit, also alle ethi­
schen Weltanschauungen, Einspruch erheben. Mögen sich
auch die Individuen stets auf einer gewissen Ebene nach dem
Zerfließen im Gegensatzlosen sehnen: Kultur gründet im ka­
tegorischen Imperativ der Diskretion: Du sollst unterschei­
den! Und du sollst die ersten Unterschiede als unbedingt
gültige Gesetze achten, auch wenn es dir vorkommt, als sei
das Gesetz, wie der König im Märchen, nackt oder, was hier
dasselbe meint, willkürlich und gleichgültig. Alle verfaßten
Weltbilder sind Absagen an die Ununterschiedenheit. Zu­
gleich ist bei zahllosen Individuen mit einer anarchischen
Entdifferenzierungstendenz zu rechnen. Die Gleichgültig­
keit gegen alles ist schon mehr als die Hälfte der Mystik. Es
ist nicht nur eine Spezialität des österreichischen Sozialcha­
rakters, den Weltuntergang aus Wurstigkeit als eine stündlich
aktuelle Lösung aller Wirklichkeitsprobleme in Erwägung
zu ziehen. Der ontologische Anarchismus bildet eine Ver­
suchung, die zumindest in Spuren allen Hochkulturen und
allen Leistungsmilieus bekannt ist. Musils Essaykunst stellt
sich vor als eine Versuchsanordnung zur Erprobung des U n­
terschieds zwischen der Existenz, die in gültigen Unterschei­
dungen befangen und behütet lebt, und jener, in der die ver­
fassungsmäßigen Unterschiede der Auflösung überlassen
werden. Dies muß zum permanenten Konflikt zwischen dem
Normalzustand und dem anderen Zustand führen. Musils
großes Thema ist die Rivalität zwischen dem realistischen
und dem mystischen Daseins-Modus. Im Universum des
Romans figuriert, wie man weiß, Ulrich, der Mann ohne Ei­
genschaften, als lebender Schnittpunkt zwischen der diskre­
ten und der indiskreten Seinsweise. Seine sogenannte Eigen-
schaftslosigkeit markiert die lebenspraktisch unmögliche
Position auf der Grenze zwischen purer Beobachtung und
Seelenraumteiler 465
absoluter Teilhabe. In seiner Idee von Geschwisterliebe wird
die utopische Koinzidenz von epoché und Verschmelzung
erwogen.
»(Ulrich)... >Kaum willst du ganz und mitten in etwas
sein, siehst du dich schon wieder an den Rand gespült:
das ist heute das Erlebnis in allen Erlebnissen^
(Agathe): >Nach deiner Erfahrung kann man also nie
wirklich aus Überzeugung handeln und wird es nie
können. Ich meines verbesserte sie sich, >mit Überzeu­
gung nicht irgendeine Wissenschaft, auch nicht die
moralische Dressur, die man uns beigebracht hat, son­
dern daß man sich ganz bei sich sein fühlt und daß man
sich auch bei allem andern sein fühlt, daß irgendetwas
gesättigt ist, was jetzt leer bleibt, ich meine etwas, wo­
von man aus geht und wohin man zurückkehrt<...
>Da meinst du gerade das, wovon wir gesprochen ha-
ben<, antwortete Ulrich sanft. Und du bist der einzige
Mensch, mit dem ich so darüber sprechen kann...
Eher muß ich wohl sagen, daß ein >Mitten-inne-Sein<,
ein Zustand der unzerstörten >Innigkeit< des Lebens -
wenn man das Wort nicht sentimental versteht... -
wahrscheinlich mit vernünftigen Sinnen nicht zu for­
dern ist.< Er hatte sich vorgebeugt, berührte ihren Arm
und sah ihr lange in die Augen. »Wirklich ist nur, daß
wir sie schmerzlich entbehren! Denn damit hängt
wohl das Verlangen nach Geschwisterlichkeit zusam­
men, die eine Zutat zur gewöhnlichen Liebe ist, in ei­
ner imaginären Richtung auf eine Liebe ohne alle Ver­
mengung mit Fremdheit und Nichtliebe.<
... »Man müßte ein Siamesisches Zwillingspaar sein<,
sagte Agathe noch.«199

199 R obert Musil, D er M ann ohne Eigenschaften, Reinbek bei H am ­


burg 1952, S. 907-908.
466

Exkurs 6

Sphärentrauer
Ü ber den N objektverlust und die Schwierigkeit,
zu sagen, was fehlt

Ich besaß es doch einmal


Was so köstlich ist!
D aß man doch zu seiner Qual
N im m er es vergißt!
J. W. von Goethe, A n den M ond, letzte Fassung

ürften Psychologen noch offen mythologisch reden -


in codierten Formen haben sie ohnedies zu keinem
Zeitpunkt aufgehört, es zu tun -, so könnten sie, um das
theoretische und therapeutische Ärgernis der depressiven
oder melancholischen Disposition auf den Begriff zu brin­
gen, zu der Formulierung Zuflucht nehmen, die Melancholie
sei die psychische Spur einer Götterdämmerung in einem
einzelnen Fall. Diese Ausdrucksweise böte den Vorzug, die
melancholisch-depressive Verstimmung durch einen authen­
tischen Trauerfall in der nächsten Umgebung des Subjekts zu
erklären, wobei die angebliche strukturelle Differenz zwi­
schen Trauer und Melancholie, von der Sigmund Freud in
seinem oft interpretierten Aufsatz von 1916 einiges Aufhe­
ben gemacht hatte, das meiste von ihrem theoretischen
Glanz verlöre. Der Melancholiker wäre dann zunächst ein
Trauernder wie jeder andere, nur daß der Verlust, der ihn be­
troffen hätte, über die gewöhnlichen zwischenmenschlichen
Trennungen hinausreichte. Es wäre der Genius oder der In­
timgott, der in einer Einzel-Götterdämmerung verlorenge­
gangen wäre, und nicht bloß ein profaner Verwandter oder
ein Geliebter; die Trauer um einen verlorenen geliebten
Menschen nähme nur dann auch Züge der Melancholie an,
Sphärentrauer 467
wenn dieser zugleich der Genius des verlassenen Individu­
ums gewesen wäre. Beim Geniusverlust wie beim Verlust ei­
nes Intimpartners liegen psychologisch reale und insofern
objektive Trauerfälle vor, und weit davon entfernt, die Reali­
tät des einen Falls gegen die Irrealität des anderen auszuspie­
len, ist es die Aufgabe einer Psychologie, die etwas von Sphä­
rengesetzen weiß, die subjektive Äquivalenz zwischen dem
Verlust eines Lebenspartners und dem Verlust eines Genius
psychodynamisch zu begründen. Psychologie kann sich als
Wissenschaft der Verteilung der Subjektivität nur ausweisen
durch ihre Kompetenz, innere Sachverhalte unter deren ei­
genen Gesetzlichkeiten zu beschreiben. Würde sie - bei allen
gebotenen methodischen und weltanschaulichen Reserven -
die Melancholie als eine chronische Form der Trauer um ei­
nen verlorenen Genius kennzeichnen, so hätte sie das Wesen
der depressiv-melancholischen Verstimmung als eine quasi
individual-atheistische Krise bestimmt: In einer religiösen
Kultur wäre der Melancholiker ein Individuum, das zu der
offiziellen Lehre »Gott existiert« die private subversive und
rebellische Zusatzvorstellung »aber er ist außerstande, mich
zu beleben« hinzugefügt hätte - weswegen in der alteuropäi­
schen metaphysischen Tradition problemschwere Bilder
vom Rückzug des Genies in weit- und gottferne Zonen sug­
gestiv werden konnten; nicht zufällig haben Dante und Mil­
ton mit ihren Portraits des trübsinnigen Satans gleichsam
offizielle Ansichten der ursprünglichen Geisteskrankheit:
anderer Meinung zu sein als Gott, entfaltet. In einer atheisti­
schen Kultur hingegen wäre das melancholische Individuum
ein Subjekt, das die offiziell lizensierte These »Gott ist tot«
ergänzt hätte durch die private Zusatzaussage »und tot ist
auch mein eigener Verbündeter« - wobei es zunächst nahezu
gleichgültig bliebe, ob diese privaten Gedanken in dem Sub­
jekt als bewußte oder unbewußte wirksam sind. Die depres­
sive Verarmung ist die exakte Abbildung des Nichts-mehr-
zu-sagen-habens nach dem Entzug des wichtigsten Ergän-
468 Exkurs 6

zers: darum war ja in der alten Welt die reale Melancholie vor
allem die Krankheit der Verbannten und der Entwurzelten,
die nach Kriegen und Seuchen ihre Familien und ihre rituel­
len Kontexte verloren hatten. Aber gleichgültig ob ein In­
dividuum den Kult seiner Götter oder seine Intimpartner
entbehren muß: Auf jeden Fall verkörpert das depressiv-me­
lancholische Subjekt die Überzeugung vom Nicht-mehr-
Sein seines Genius. Der Melancholie verfallen heißt nichts
anderes, als sich mit ungeteilter Glaubensintensität an die
bewußte oder unbewußte Behauptung hinzugeben, daß ich
von meinem intimen Förderer, Mitwisser und Motivator
aufgegeben worden sei. Melancholie stellt die Exilspatholo­
gie in Reinheit dar - die Innenweltverarmung durch den
Entzug des lebenspendenden Nähefeldes. In diesem Sinn
wäre der melancholische Mensch ein Häretiker des Glau­
bens an seinen guten Stern - ein Atheist in bezug auf den ei­
genen Genius oder den unsichtbaren Doppelgänger, der ihn
von dem unüberbietbaren Vorteil, er selbst und niemand
sonst zu sein, hätte überzeugen sollen. Melancholie ist die
massive Form des Glaubens, von dem intimen Ergänzungs­
gott, oder der Göttin, verlassen zu sein, durch dessen oder
deren anfängliche Gegenwart das eigene Dasein seine ge-
burtliche Bewegung begonnen hatte. Mit tiefster Verstim­
mung anwortet das verlassene Subjekt auf die Erfahrung
eines metaphysischen Betrugs: von dem intimen großen
Anderen zum Leben verführt worden zu sein, um dann auf
halbem Wege von ihm aufgegeben zu werden. Angesichts
der melancholischen Trauer um den verlorenen Animator
müßte - weiter im mythologischen Ansatz gesprochen - die
Therapie darin bestehen, in dem isolierten Subjekt die An­
sätze zu einem erneuerten Glauben an die Möglichkeit von
psychischer Ergänzung zu stärken. Dies kann im wesentli­
chen auf drei Wegen geschehen - sei es, daß der Therapeut
sich selbst dem Patienten als Ersatzgenius auf Zeit zur Verfü­
gung stellt, wie es bei anspruchsvollen Übertragungsbezie­
Sphärentrauer 469

hungen in den sogenannten großen Analysen notwendiger­


weise geschieht; sei es, daß er den Trauernden auf einen
nichtgestorbenen Gott höheren Ranges aufmerksam macht,
wie es in pastoraltheologischen Beratungen und Sekten­
kommunikationen üblich ist.200 Die dritte Variante bestünde
darin, daß das Subjekt sich in den Gebrauch von nicht-reli­
giösen und nicht-intimen Selbstergänzungstechniken ein­
führen ließe. Für diesen dritten Weg hat Andy Warhol die
Akzente gesetzt:
»Mit dem Erwerb meines Tonbandgeräts (im Jahr
1964) ging das, was ich an Gefühlsleben gehabt haben
mag, endgültig zu Ende, und ich war froh darüber.
Nichts ist jemals wieder zu einem Problem geworden,
weil ein Problem jetzt immer nur ein gutes Tonband
war, und sobald sich ein Problem in ein gutes Tonband
verwandelt, ist es kein Problem mehr. Ein interessantes
Problem war ein interessantes Tonband. Jeder wußte
das.. .«201
Nicht wirklich jeder. Solange die Umformulierung von psy­
chischen Problemen in Medienprobleme nicht als autothera­
peutische Regel allgemein akzeptiert ist, zwingen sich die
beiden älteren, quasi individualtheologischen Wege in der
Behandlung der melancholischen Störung auf, mit der un­
umgänglichen Konsequenz, daß hier statt technischer Auf­
zeichnungsgeräte menschliche Zuhörer ins Spiel gebracht
werden müssen. In einer durchweg psychologisierten Zivili­
sation wird aber auch die priesterliche Betreuung zuneh­
mend obsolet oder verwandelt sich ihrerseits in einen religiös
bemäntelten psychotherapeutischen Dienst, so daß in der Sa­

200 Das klassische M uster religiöser »Trauerarbeit« liefert Aurelius


Augustinus im 4. Buch seiner Confessiones; vgl. Sphären II, 1. Ka­
pitel, Aufgang der Fern-N ahe. D er thanatologische Raum, die Pa­
ranoia, der Reichsfrieden.
201 A ndy Warhol, Die Philosophie des A ndy Warhol. Von A bis B und
zurück, M ünchen 1991, S. 35.
470 Exkurs 6

che dieser als einzige Form von personaler Melancholiebe­


treuung übrigbleibt. Das methodische Problem bei dem ge­
nuin psychologischen Ansatz ist aber, daß dessen Grund­
lehren, insbesondere die freudianischen, unter dem massiven
Verbot, mythologisch zu reden, operieren, weshalb es für sie
nicht in Betracht kommt, die Behandlung der Melancholie
als die Wiederherstellung des Glaubens an den Genius oder
eine höhere Gottesrepräsentanz - beziehungsweise als spiri­
tuelle Sinngebung der empirischen Verlassenheit - zu defi­
nieren. Sie muß also den Verlust, unter dem die melancho­
lischen Patienten leiden, in einer nicht-mythologischen
Sprache glossieren und ist dazu verurteilt, eine psychologi­
sche Vorstellung von Heilung zu konzipieren, ohne auf den
Begriff des wiedergefundenen Geniusglaubens zurückzu­
greifen - mit dem Ergebnis, daß sie zunächst, und in der Ge­
samtbilanz bis zuletzt, nicht mehr sagen kann, was über­
haupt als das verlorene Gut des Melancholikers gelten soll.
Diese unvermeidliche Verrätselung eines vormals sehr ein­
fach aussagbaren, wenn auch keineswegs einfach zu analysie­
renden psychischen Grundverhältnisses hat Freud in dem
bekannten Aufsatz über Trauer und Melancholie mit ein­
drucksvoller Umsichtigkeit vorgeführt:
»In einer Reihe von Fällen ist es offenbar, daß auch sie
(die Melancholie) Reaktion auf den Verlust eines ge­
liebten Objekts sein kann; bei anderen Veranlassungen
kann man erkennen, daß der Verlust von mehr ideeller
N atur ist... In noch anderen Fällen glaubt man an der
Annahme eines solchen Verlustes festhalten zu sollen,
aber man kann nicht deutlich erkennen, was verloren
wurde, und darf um so eher annehmen, daß auch der
Kranke nicht bewußt erfassen kann, was er verloren
hat. Ja dieser Fall könnte auch dann noch vorliegen,
wenn der die Melancholie veranlassende Verlust be­
kannt ist, indem er zwar weiß w e n , aber nicht, w a s er
an ihm verloren hat. So würde uns nahegelegt, die Me-
Sphärentrauer 471

lancholie irgendwie auf einen dem Bewußtsein entzo­


genen Objektverlust zu beziehen.. .«202
Die Exkommunikation der mythologischen und poetischen
Ausdrücke zwingt die psychoanalytische Rede von der me­
lancholischen Psyche in das interessante semantische Manö­
ver, den Bruch der Beziehung zu dem konstitutiven Anderen
in Ausdrücken eines Objektverlusts seitens des Patienten
wiedergeben zu müssen. Diese Operation ist informativ, weil
sie zum Scheitern verurteilt ist, ohne sinnlos zu werden: Ihr
relativer Erfolg wird sich messen an ihrer Fähigkeit, den Au­
genblick des Fehlschlags immer weiter hinauszurücken, so
daß sie vor ihrem Abbruch eine Fülle von so noch nie gese­
henen und gesagten Verhältnissen aus dem Feld der ver­
schränkten Konsubjektivitäten ins Licht heben wird. Den
Anfang hierzu hat Freud selbst in seinem genannten Aufsatz
gemacht, in welchem er folgenreiche Hypothesen über die
verwickelte Natur der melancholischen Anhänglichkeit an
das verlorene Objekt präsentierte. Entscheidend ist hier die
Wendung des Analytikers zu der Auffassung, daß der Melan­
choliker zwar wie jeder Trauernde zunächst seine »Libido« -
die wie ein Privatkapital an sexuell gestimmter Lebensener­
gie vorgestellt wird - von dem verlorenen Objekt ins Ich
»zurückziehe«, jedoch nicht, um sie in ein neues Liebesob-
jekt zu investieren, sondern um sich auf eine noch viel radi­
kalere Weise - man begreift allerdings von Freuds Prämissen
her nicht recht, wie dies geschehen soll - an das verlorene alte
Objekt zu binden. Die Konsequenz hieraus sind notwendi­
gerweise der emotionale Bankrott und die äußerste seelische
Verarmung. Die Formel hierfür lautet nun: » I d e n t i f i z i e -
r u n g des Ichs mit dem aufgegebenen Objekt.«203 Das wi­
dersinnige Festhalten an der ruinösen Libido-Investition
wird versuchsweise wie folgt erklärt:
202 Sigmund Freud, Trauer und Melancholie, 1916, Gesammelte
Werke, Z ehnter Band, Frankfurt, 6. Auflage 1973, S. 430-431.
203 Ibid., S. 435.
472 Exkurs 6

»Der Schatten des Objekts fiel so auf das Ich, welches


nun von einer besonderen Instanz wie ein Objekt, wie
das verlassene Objekt beurteilt werden konnte. Auf
diese Weise hatte sich der Objektverlust in einen Ich-
verlust verwandelt.. ,«204
Behält man im Auge, daß hier von der lautlosen Tragödie die
Rede ist, die wir mit der mythologisch-poetischen Wendung
vom Verlust des Genius umschrieben haben, so fällt an die­
sen Formulierungen zunächst die versachlichende Tendenz
auf. Dennoch kann man der Meinung sein, daß das Verding­
lichungsrisiko, das mit solchen Diskursen auftritt, reichlich
kompensiert werde durch den Gewinn an Differenzierung in
der Deutung des Selbstverhältnisses beim melancholischen
Subjekt. Dieses erscheint nun unter einem Licht, in dem sich
die Paar-Relation mit dem intimen Zweiten als intern ver­
doppelte zeigt: Was der reale Andere für das Subjekt bedeu­
tet, wiederholt sich im Subjekt für dieses selbst noch einmal.
Das Subjekt ist demnach zugleich es selbst und die Spur all
seiner Umgangserlebnisse mit dem Anderen. Geht der reale
Andere real verloren, so fällt sein »Schatten«, wie Freud my­
steriös formuliert, auf das Ich. Wie diese Ich-Verschattung
im einzelnen geschieht, wird in den technischen Diskursen
der Psychoanalyse mit mehr oder weniger fabulösen, oft sehr
komplizierten Deutungen umschrieben, die als festen Kern
in allen Fällen nur die These bewahren, daß das Subjekt zu
seinem eigenen Schaden danach verlangt, in einer übergro­
ßen, illusionären, mehrdeutigen und möglicherweise auch
haßgetönten und schuldhaften, in jedem Fall aber unreifen
Nähe zu dem unentbehrlichen Objekt weiterzuleben. Der
wesentliche Andere kann, wie es scheint, unter diesen Prä­
missen nicht verlorengehen, ohne daß das Subjekt um we­
sentliche Züge seines eigenen Lebens beraubt würde - es sei
denn, es hätte sich schon von vorneherein darin geübt, den

204 Ibid.
Sphärentrauer 473
Anderen so zu verlieren, daß seinem Verschwinden nicht
auch der Ichverlust auf dem Fuße folgt. Das Ärgernis der
Melancholie für die psychoanalytische Theoriebildung und
die ihr zugrunde liegende individualistische und dingontolo­
gische Dogmatik besteht nun darin, daß im melancholischen
Verlust unleugbar ein Etwas verlorengeht, das es dem Theo­
riemodell zufolge gar nicht geben dürfte: ein Objekt, das nie
wirklich ein solches gewesen wäre, weil es dem Subjekt auf
so intime Weise nahesteht, daß ein integres Alleinzurückblei­
ben des letzteren nach dem Rückzug des ersten psycholo­
gisch sich als ein Ding der Unmöglichkeit erweist. Der Me­
lancholiker verliert also das Objekt nicht so, wie er es nach
den Regeln der Kunst verlieren sollte: so nämlich, daß er
selbst in fine als Trennungsgewinner zurückbliebe - existen­
tiell frei zu neuen Libidoinvestitionen und symbolisch inspi­
riert zur schöpferischen Klage -: vielmehr verlöre er mit dem
»Objekt« zugleich den größten Teil seiner kommunikativen
und musikalisch-erotischen Kompetenz. Dadurch wird aber
klar, warum der Begriff des Objektverlusts hier fehl am Platz
ist. In einem rechtverstandenen Objektbegriff muß schon
dessen Wohlabgegrenztheit gegenüber einem Subjekt mitge­
dacht sein, so daß ein realer Objektverlust im präzisen Wort­
sinn unter keinen Umständen den Ichbestand in Frage stellen
könnte. In einem objektiven Duett kann die erste Geige für
die zweite Ersatz besorgen, wenn diese durch einen Zwi­
schenfall verlorengegangen wäre. In den prä-objektiven oder
konstituierenden Duetten des Lebens jedoch ist das Spiel des
einen auch immer schon das Spiel des anderen, und wenn
dem werdenden Subjekt der Gegenspieler entzogen wird, so
stirbt die Musik an dieser Stelle, weil weder die Stücke bis
zur Objektivität ausdifferenziert sind noch die Instrumente
sich bis zur eigenständigen Bespielbarkeit auskristallisiert
haben. Der aus den Proben gerissene Einzelne kann seinen
Part nicht kontextfrei irgendwo anders weiterspielen. Eine
sinnvolle psychologische Theorie dieses Verhältnisses legt
474 Exkurs 6

also nahe, den Melancholiker als einen unfreiwilligen Soli­


sten zu verstehen, der nach der Trennung vom konstitutiven
Duettpartner ohne Stück, ohne Instrument und ohne bele­
bende Übung zurückgeblieben ist. Die Redeweise vom O b­
jektverlust verrät, daß die Psychologen bei ihren ersten
Sprechversuchen in dem vagen Feld der archaischen Dualitä­
ten selbst nicht verstehen konnten, was sie sagten, weil es
Objekte im psychologischen Sinn erst geben kann, wenn sich
die Stücke und die Instrumente von den Spielern trennen las­
sen, ohne daß diese ihr performatives Potential verlören.
Wenn es sinnvoll ist, so etwas wie die Existenz psycholo­
gischer Objekte in Betracht zu ziehen, dann nur insofern, als
diese definiert sind als Pole von Beziehungen, die vom Ich
ohne akute Selbstverarmung ersetzt und transponiert wer­
den können. Objekt ist nur, was besetzt und losgelassen wer­
den kann. Was psychologische Objektivität heißt, entsteht
durch die Auskristallisation der dialogischen Kompetenz zu
einem Repertoire, das sich auch mit anderen Partnern wei­
terspielen läßt. Das starke Merkmal des psychologischen
Objekts ist seine Verlierbarkeit oder, was hier dasselbe be­
deutet, seine Ersetzbarkeit und die Neu-Spielbarkeit des ein­
geübten Stücks mit anderen Partnern. Umgekehrt gilt, daß
ein Objekt, das nicht, oder noch nicht, als verlierbares, auf-
gebbares, ersetzbares, übersetzbares auskristallisiert ist, kein
Objekt im psychologischen Sinn darstellen kann.
Dieses unaufgebbare intime Etwas, in dessen Gegenwart
und unter dessen Resonanz das Subjekt allein vollständig ist,
nennen wir hier, in Anlehnung an den von Thomas Macho
geprägten Ausdruck, das Nobjekt.205 Nobjekte sind Dinge,
Medien oder Personen, die für Subjekte die Funktion des
lebenden Genius oder des intimen Ergänzers wahrnehmen.
Diese Größen, die in der vorpsychologischen Tradition häu­
fig als äußere Seelen vorgestellt worden waren, dürfen auch

205 Vgl. oben Exkurs 2, S. 297 ff.


Schärentrauer 475

in einer psychologisierten Kultur keinesfalls unter der Ding­


form aufgefaßt werden, weil damit eine Trennbarkeit vom
Subjekt, besser vom Prä-Subjekt, postuliert oder vorausge­
setzt würde, die, solange das Subjekt sich in seiner formati -
ven Phase befindet, in psychologischer Sicht eben nicht er­
reicht sein kann. Es wird seine übertragbaren Stücke nur
lernen, wenn es sich in formativen Duetten und konstituti­
ven Trios (von den Quartetten und Quintetten muß hier
nicht die Rede sein) erfolgreich zu einem Könner des eigenen
Parts entwickelt hat. Wenn aber die Nobjekt-Ergänzer den
Einzelnen verfrüht aus dem Herzen gerissen werden, durch
die höhere Gewalt oder die höhere Vergewaltigung, die in
der trivialen Misere allgegenwärtig am Werk ist, so ist die de­
pressiv-melancholische Verstimmung die adäquate Antwort
des nobjekt-amputierten Einzelnen auf die Verkümmerung
seines psychischen Feldes. Der Grundbestand der Konsub-
jektivität, die von der psychologischen Theorie zu rekon­
struieren wäre, erscheint also weder in sachlichen Beziehun­
gen zwischen Subjekt und Objekt noch in affektiven
Transaktionen zwischen Subjekt und Subjekt, sondern allein
in jenen Subjekt-Nobjekt-Einheiten, die als resonierende
Zellen des psychischen Stoffwechsels allen übrigen stoffli­
chen und kommunikativen Aktivitäten vorausliegen. Im üb­
rigen müßte man, wie angedeutet, den Ausdruck Subjekt
oder Ich seinerseits durch eine entsprechende Negativwen­
dung aufheben, weil auch in ihn das falsche Postulat der Ab­
trennbarkeit von seinen Ergänzern und Alliierten einge­
zeichnet ist - es wäre also von einem Prä-Subjekt oder einem
(N)Ego zu sprechen, eine terminologische Tendenz, die sich
in den nachgereiften psychoanalytischen Diskursen der letz­
ten Generation tatsächlich beobachten läßt.

Eine Teilmenge von dem, was das Nobjekt-Konzept zu den­


ken gibt, hat Jacques Lacan bereits in seiner bekannten Vor­
lesung über Die Ethik der Psychoanalyse von 1959 bis 1960
476 Exkurs 6

aasjggg

■■

Marcel Duchamp und Eve Babitz posieren für den Fotografen Julian Wasser
im Pasadena Art Museum, 1963 (Ausschnitt)
Sphärentrauer 477
ins Auge gefaßt, in der er unter dem Kennwort das Ding oder
la Chose einen vorgegenständlichen psychologischen Ge­
genstand zur Sprache zu bringen versuchte: Von diesem sei
vor allem zu bemerken, daß er, zum einen, immer schon als
verlorener zu gelten hat, daß sein Entzug jedoch, zum ande­
ren, immer nur dem Besten des Subjekts diene. Lacans genia­
lische Ausführungen über la Chose - in deren Konzept eine
Obertonreihe anklingt, die von Meister Eckarts Gottesbe­
griff bis zum kantischen Ding an sich reicht - sind von un­
auflöslichen Mehrdeutigkeiten zerklüftet, so daß es unmög­
lich bleibt, aus ihnen trennscharf herauszufiltern, was auf
eine Analyse der nobjektalen Kommunionen zusteuert und
was auf die erbauliche, psychoanalytisch und psychohygie-
nisch erneuerte paulinische Lehre vom begehren-ermögli-
chenden Verbot abzielt. Unannehmbar bleibt aber die Über-
grifflichkeit, mit der Lacans Bekräftigung des Inzestverbots,
bei deren Vortrag sein Katholizismus ins Auge springt, in
eine idiosynkratische tragische Anthropologie übergeht:
durch die wird der »Verlust der Mutter« - was immer das
heißen mag - schon auf archaischer Ebene als allgemein-
menschliches Schicksal proklamiert. Alle Menschen erschei­
nen als Wesen, die gleich gute Gründe hätten, Melancholiker
zu werden - denn Mutteramputierte, machen wir uns nichts
vor, das sind wir doch alle. Vor der Unerreichbarkeit der
Chose sind alle Menschen gleich. Du meinst, du seist beson­
ders beraubt? Keineswegs, schau dich um, wir sind alle nur
Waisen der Chose. Doch als starken Geistern stünde es uns
gut an, uns damit abzufinden, daß Einsamkeit in der Wiege
beginnt! Mit dieser Einebnung der psychotischen und neu­
rotischen Leiden in ein allgemeinmenschliches Patiententum
kündigt die Psychoanalyse à la parisienne ihre Orientierung
an der psychischen N ot und der Nachfrage nach Hilfe auf
und wandelt sich zu einer philosophischen Schola neoanti­
ken Typs. Lacans stoisch-surrealistische Ethik zielt auf die
Widerlegung der therapeutischen Hoffnung: Geholfen ist dir
47 8 Exkurs 6

nicht eher als in dem Augenblick, in dem du begreifst, daß dir


von niemandem zu helfen ist. Zieht man aus dieser Botschaft
die Konsequenzen, so erweist sich auch der dritte Weg, der
psychotherapeutische, zur Behandlung der melancholischen
Verstimmungen als Sackgasse. Mein Genius ist tot, und was
ich für meinen Helfer hielt, der ihn vorübergehend ersetzen
sollte, entpuppt sich als eine sprechende Attrappe. Sollte dies
ein Grund sein, zu verzweifeln? Am Ausgang von Lacans
Praxis wartet Warhol mit seinem tape recorder. »Sobald sich
ein Problem in ein gutes Tonband verwandelt, ist es kein
Problem me hr . .. Jeder wußte das.« Es spricht sich herum.
Wo Untröstlichkeit war, soll Medienperformance werden.
479

Exkurs 7

Uber den Unterschied zwischen einem Idioten


und einem Engel

s ist das gemeinsame Verdienst von Dostojewskij und


E Nietzsche, in den modernen Religionsdiskurs den Be­
griff des Idioten eingeführt zu haben. Was mit diesem Aus­
druck geleistet ist, wird begreiflich, sobald man ihn gegen
den des Engels abhebt, als dessen Gegensatz und Kontrast­
mittel er seinen Wert gewinnt. Was eine Engel-Erscheinung
sei, und wie sie ins profane Leben eingreife: dies hat die alt­
europäische religiöse Tradition in tausendfältigen Wendun­
gen ihrer Neugier und Bildgier ausgearbeitet; daß es aber
auch eine Idioten-Erscheinung gibt, die das Menschenleben
affiziert, dies zu begreifen blieb dem größten Romanpsycho­
logen des 19. Jahrhunderts und dem Autor des Antichrist
Vorbehalten. Für beide trägt das Wort Idiot eine christologi-
sche Ladung, denn beide gehen das Wagnis ein, mit dem Prä­
dikat idiotisch - auch wenn die Vorzeichen gegensätzliche
sind - an das typologische Geheimnis des Erlösertums zu
rühren. Darin liegt religionspsychologischer Explosivstoff,
denn alle überlieferten Versuche, das Auftreten von Erlöser­
figuren herzuleiten, hatten sich unvermeidlich am Engel­
oder Boten-Modell orientiert, also an der Vorstellung, daß
ein Gesandter mit einer transzendenten Botschaft bei den
Sterblichen vorstellig wird und diese als Retter-Heros aus
physischer N ot und moralischer Verlorenheit befreit. Der
Erlöser ist folglich zunächst nur eine potenzierte Form des
Boten - wobei erst die hellenisierte Christologie den Katego­
riensprung einführte, nach dem der Bote nicht mehr nur die
Nachricht bringt, sondern die Nachricht ist. Das Boten- oder
Engel-Schema war in seiner Blütezeit offenkundig mächtig
480 Exkurs 7

genug, um die Erlöserlehre mitzutragen. Immerhin, um den


Erlöser als Boten aller Boten durchzusetzen, mußten die
christlichen Theologen diesen zum Sohn der Substanz ma­
chen und ihn als einziges volladäquates Zeichen des Seins206
ausrufen. Es spricht für die Leistungsfähigkeit des angeleti-
schen Modells, daß es dieser Beanspruchung gewachsen war.
Die klassische Christologie zeigt die Gesandten- und Bot­
schaftsmetaphysik auf dem Höhepunkt ihrer Macht. Sie ge­
hört einer Welt- und Theoriesituation an, die durch das
Dogma des starken Absenders charakterisiert ist. Ja vielleicht
ist die diskursive Struktur, die wir Metaphysik zu nennen ge­
wohnt waren, nur ein Reflex der Unterwerfung des Denkens
unter die Vorstellung von einem Sein, das als absoluter Ab­
sender alle Throne, Mächte und Gewalten mitsamt ihren
Ausflüssen an Zeichen und Vermittlern monopolisiert. In
diesem unbedingten Absender-Sein konnten der Gott der
Bibel und der Gott der Philosophen konvergieren.
Verständigt man sich für das weitere auf die Formel, daß
die Neuzeit ein Informationsprozeß ist, der die Krise der
Absender-Metaphysik erzwingt, so hält man auch schon das
Mittel in der Hand, zu begreifen, wieso eine zeitsensible
Theologie nach Gutenberg mit einer angeletischen207 Lehre
vom Erlöser als Gesandten nicht mehr durchkommt. In der
neuzeitlichen Vermehrung der Absender-Mächte und in der
Boteninflation auf dem freien Nachrichtenmarkt kann ein
Hyperbote vom Typus Erlösergott, vergegenwärtigt durch
apostolische Vertreter, seine feudale Vorrangstellung nicht
behaupten. Wer auf die Menschen in einem spezifischen
Sinn befreiend einwirken möchte, darf in Zukunft nicht
206 Ü ber Zeichen des Seins vgl. Sphären II, 7. Kapitel, Wie durch reine
Medien die Sphärenmitte in die Ferne wirkt. Z ur M etaphysik der
Telekommunikation.
207 D en A usdruck »angeletisch« verdanken wir Rafael C apurro; zur
Begriffsgeschichte von angelia vgl. dessen Buch, Leben im Infor­
mationszeitalter, Berlin 1995, siebtes Kapitel »Genealogie der In ­
formation«, S. 97-114.
Über den Unterschied zwischen einem Idioten und einem Engel 481

mehr so sehr ein Bote mit einer transzendenten message sein,


sondern muß als ein menschliches Wesen erscheinen, dessen
unmittelbar auffällige Andersheit in realer Gegenwart den
Überbringer einer Botschaft von drüben vollständig ersetzt.
Es bezeichnet Dostojewskijs religionsphilosophische Ge­
nialität, daß er die Chance, die Christologie von der Angele-
tik auf die Idiotik umzustellen, als erster erkannt und bis
zum äußersten durchdacht hat.208 Gerade weil die moderne
Welt überfüllt ist vom Lärm der Machtpartei-Boten und
vom Kunstgetöse der Genies, die auf ihre Werke und Wahn-
systeme aufmerksam machen, läßt sich die religiöse Diffe­
renz nicht länger im Modus des Botschafterwesens über­
zeugend markieren. Nicht als Bote kann der präsente Gott­
mensch die Sterblichen erreichen, sondern nur noch als
Idiot. Der Idiot ist ein Engel ohne Botschaft - ein distanz­
loser intimer Ergänzer aller zufällig begegnenden Wesen.
Auch sein Auftritt ist erscheinungshaft, aber nicht, weil er
im Diesseits einen transzendenten Glanz vergegenwärtigte,
sondern weil er inmitten einer Gesellschaft von Rollenspie­
lern und Ego-Strategen eine unerwartbare Naivität und ein
entwaffnendes Wohlwollen verkörpert. Wenn er redet, dann
niemals mit Autorität, sondern immer nur mit der Kraft sei­
ner Offenheit. Obwohl ein Fürst der Abstammung nach, ist
er ein Mensch ohne Statuszeichen - er gehört hierin vorbe­
haltlos der modernen Welt an, denn wenn zum Engel die
Hierarchie gehört, dann zum Idioten der egalitäre Zug. (En­
gelhierarchien verstehen sich von selbst, während Idioten­
hierarchien verblüffen.) Er bewegt sich zwischen den Men­
schen der hohen und niederen Gesellschaft wie ein großes
Kind, das es nie gelernt hat, den eigenen Vorteil zu berech­
nen.

208 Allenfalls H erm an Melville könnte den A nspruch erheben, in sei­


ner Erzählung Bartleby, publiziert 1856, die Wende von der Ange-
letik zu Idiotik antizipiert zu haben, die Dostojewskijs Roman von
1868/69 dann spektakulär vollzieht.
482 Exkurs 7

Von diesem modernen religions-ästhetischen Befund aus -


man vergesse nicht, daß Dostojewski) die Figur des Idioten
als einen Versuch angelegt hatte, den »vollkommen schönen
Menschen« und sein unumgängliches Scheitern an der Men­
schenhäßlichkeit darzustellen - zog Nietzsche in seiner
Kampfschrift Der Antichrist von 1888 die religions-psycho-
logischen Konsequenzen. Für ihn ist schon der historische
Jesus selbst typologisch auf einen dostojewskijschen Nenner
zu bringen - er ist, in Nietzsches Terminologie, die Inkarna­
tion eines décadent ante litteram.
»Man hätte zu bedauern, dass nicht ein Dostoiewsky
in der Nähe dieses interessantesten décadent gelebt
hat, ich meine Jemand, der gerade den ergeifenden
Reiz einer solchen Mischung von Sublimem, Krankem
und Kindlichem zu empfinden w usste...« {Der Anti­
christ, § 31)
Ungeeignet sind folglich alle Charakterisierungen, die auf
den historischen Jesus die Sprache des Heroismus und der
Geniekultur projizieren wollten - ebenso wie die Sprache
des Fanatismus und der apostolisch-apologetischen Arro­
ganz. In all dem drücken sich nur Vertreterwut und Nach­
folgerambitionen aus. Was den konkreten Typus des evan­
gelischen Erlösers angeht, so sollte endlich mit der einzig
zuständigen medizinischen Kategorie an ihn herangetreten
werden. »Mit der Strenge des Physiologen gesprochen, wäre
hier ein ganz anderes Wort eher noch am Platz: das Wort
Idiot.« {Der Antichrist, §29)
Das Sublime, das Kindliche, das Kranke - wie es möglich
wäre, daß diese Aspekte in einem einzigen Qualifikativ -
idiotisch - zusammenfielen -, dieses Rätsel zu entwirren
nimmt sich Nietzsche in seiner turbulenten Polemik gegen
das Christentum keine Zeit, zum großen Nachteil für die Re­
ligionswissenschaft und die allgemeine Psychologie. Wollte
man die Intuitionen Dostojewskijs und Nietzsches über die
Gleichung von Idiotologie und Erlöserlehre geduldig zu­
Über den Unterschied zwischen einem Idioten und einem Engel 483

sammensetzen, so ergäbe sich eine tiefreichende Revision der


tradierten Auffassungen vom religiösen Prozeß.
In den üblichen angeletischen Systemen tritt der Erlöser
den Menschen als metaphysischer Informant gegenüber und
bewegt sie, aus der Haltung absendergedeckter Stärke, durch
seine penetrierende Botschaft. Im idiotistischen System hin­
gegen ist der Erlöser ein Niemand, der keinen hohen Man­
danten hinter sich hat. Seine Äußerungen werden von den
Anwesenden als kindliche Nichtigkeiten und seine Gegen­
wart als eine nicht-verpflichtende Beiläufigkeit wahrgenom­
men. Dostojewskij läßt gerade an diesem Zug keinen Zwei­
fel; von einer der Figuren des Romans, Ganja, heißt es: »Vor
dem Fürsten genierte er sich nicht im mindesten, als wäre er
allein in seinem Zimmer, denn er achtete ihn glattweg für
nichts.«209 Nichtsdestoweniger ist die Präsenz des Fürsten
Myschkin für alle Vorgänge, die in seiner Nähe geschehen,
eine auslösende Bedingung; er katalysiert auf entscheidende
Weise die Charaktere und Schicksale derer, die ihm begeg­
nen. Gerade als Nicht-Bote löst er mit einer undurchschau-
ten Methode das Problem der Zugangs zum Inneren seiner
Gegenspieler. Weder Sirene noch Engel, schließt er die O h­
ren und psychischen Regungszentren seiner Gesprächspart­
ner auf. Es ist auch nicht seine Kindlichkeit im durchschnitt­
lichen Wortsinn, die ihm seinen besonderen Zugang zu den
Menschen eröffnet, es sei denn, man gäbe dem Ausdruck
kindlich einen heterodoxen Sinn: kindlich könnte die Bereit­
schaft heißen, im Umgang mit anderen nicht das eigene
Selbst auszuspielen, sondern sich als Ergänzer des anderen
zur Verfügung zu halten. Wenn eine so verstandene Möglich­
keit von Kindlichkeit zur Haltung gerinnt, liegt vor, was D o­
stojewskij mit dem Wort Idiotie artikuliert hat - ein Aus­
druck, der offenkundig nur im oberflächlichsten Gebrauch
denunziatorisch klingen sollte. Mit dem Titel Idiot markiert
209 Fjodor M. D ostojewskij, D er Idiot. Ü bertragen von A rth ur Luther,
M ünchen 1976/1990, S. 115.
484 Exkurs 7

Dostojewski] als Religionsphilosoph und Subjektivitätskriti­


ker eine Ich-Position, die ihm nobel und - zumindest in be­
zug auf andere - heilswirksam erscheint, obwohl sie in keiner
Weise auf eine angeletische Potenz zurückgeführt werden
kann. Das idiotische Subjekt ist offenbar jenes, das sich ver­
halten kann, als sei es nicht so sehr es selber als vielmehr der
Doppelgänger seiner selbst und potentiell der intime Ergän-
zer jedes begegnenden Anderen. Es gibt in einigen Schweizer
Kantonen die unzarte Redensart: bei dir haben sie wohl statt
dem Kind die Nachgeburt aufgezogen -, und es spricht man­
ches dafür, dies für eine psychologische Entdeckung zu neh­
men. Der Idiot plazentalisiert sich selber, indem er jedem,
der seinen Weg kreuzt, wie ein intrauterines Kissen eine un­
erklärliche Nähe-Erfahrung anbietet - eine Art von unvor­
denklicher Verbundenheit, die zwischen Personen, die sich
zum ersten Mal sehen, eine Offenheit stiftet, wie sie nur beim
Jüngsten Gericht oder im wortlosen Austausch zwischen
Fötus und Plazenta gegeben sein mag. In der Gegenwart des
Idioten wird harmlose Gutmütigkeit zur verwandelnden In­
tensität; seine Mission scheint es zu sein, keine Botschaft zu
haben, sondern eine Nähe zu stiften, in der sich konturierte
Subjekte entgrenzen und neu fassen können. Seine Moral ist
seine Unfähigkeit, zurückzuschlagen. Dieser Zug ist es, der
Nietzsche an der vermuteten jesuanischen Idiotie interessie­
ren mußte, weil er auf eine infantile Weise das Ideal des vor­
nehmen, ressentimentfreien Lebens inkarniert - freilich
nicht von der Seite des aktiven Selbst her, sondern von der
des Begleiters, des Förderers, des Ergänzers. Es gäbe dem­
nach eine vornehme Idiotie, die sich in einer vormenschlich-
übermenschlichen Verfügbarkeit und Dienstbereitschaft
äußerte. Der idiotische Erlöser wäre jener, der nicht als
Hauptperson der eigenen Geschichte sein Leben führte, son­
dern der mit seiner Nachgeburt den Platz getauscht hätte,
um für sie, als sie selbst, ein In-der-Welt-Sein einzuräumen.
Handelt es sich um einen krankhaften Exzeß an Loyalität?
Über den Unterschied zwischen einem Idioten und einem Engel 485

Um einen Fall von vorgeburtlicher Nibelungentreue? Um


einen Dotter- und Kissenwahn, in dem das Subjekt sich mit
dem archaischen Förderer und Nähe-Geist verwechselt?
Vielleicht ist es die Weisheit des Idioten, daß er zu seinem
intimen Abfall, der plazentalen Schwester, in ihre Verloren­
heit hinabsteigt? Zieht er es vor, eher ihr Leben weiterzu­
leben, als die gemeinsamen Anfänge im ergänzten Zusam­
menschweben zu verraten? »Wenn ihr nicht werdet wie die
Kinder... ?« Möglicherweise hätte es heißen sollen: Wenn
ihr nicht werdet wie dieses idiotisch freundliche Di ng... ?
4§7

K a p it e l 7

Das Sirenen-Stadium
Von der ersten sonosph drisch en Allianz

. . . In der Tat, nur lamellenweise bin ich hart


geworden;
wenn man erst wüßte, wie weich ich
geblieben bin im Grunde.
G ong bin ich und W atte und Schneegesang,
Ich sags und weiß, was ich sage.
H enri Michaux, Mes propriétés, 1929,
Gong bin ich, deutsch von Paul Celan

W ohin sollte ich dich rufen, da ich doch in


dir bin? U nd von w oher solltest du in mich
k om m en?... Ich will dieser deiner Stimme
nachlaufen und dich fassen.
Aurelius Augustinus, Confessiones, x. Buch,
2,2 und 5,5

m Anfang werden die begleiteten Tiere, die Menschen, von


I etwas umgeben, was nie als Ding erscheinen kann. Sie sind
zunächst die unsichtbar Ergänzten, die Entsprechenden, die
Umfaßten und, im Fall der Unordnung, die von allen guten
Begleitern Verlassenen. Darum heißt philosophisch nach
dem Menschen zu fragen an erster Stelle: Paar-Ordnungen
untersuchen, offensichtliche und nicht so leicht sichtbare,
solche, die mit umgänglichen Partnern gelebt werden, und
solche, die Allianzen mit problematischen und unerreichba­
ren Anderen stiften. Vom unbegleiteten Einzelnen spricht
weiter nur die Ideologia perennis, die sich im Elauptstrom
der individualistischen Abstraktion treiben läßt. Die Psy­
chologie mag ihre Zwillingsforschung kultivieren, und die
Sozialwissenschaft wird ihre Schimäre, den homo sociologi-
Kapitel 7

eus, weiter jagen; für die philosophisch reformulierte Wis­


senschaft vom Menschen sind die Paarforschung und die
Theorie des Dualraums konstitutiv. Sogar was neuere Philo­
sophen das menschliche Existieren genannt haben, ist also
nicht länger zu verstehen als das Hinausstehen des einsamen
Einzelnen ins unbestimmte Offene, auch als nicht die private
Hineingehaltenheit des Sterblichen in das Nichts; Existieren
ist ein Paar-Schweben mit dem Zweiten, durch dessen Nähe
die Mikrosphäre ihre Spannung wahrt. Zu meiner Existenz
gehört das Umschwebtsein von einem vergegenständlichen
Etwas, das dazu bestimmt ist, mich sein zu lassen und zu för­
dern. Darum bin ich nicht, wie die aktuellen Systemiker und
Bio-Ideologen es mir in den Mund legen, ein Lebewesen in
seiner Umwelt; ich bin ein Schwebewesen, mit dem Genien
Räume bilden. »Wenn man erst wüßte, wie weich ich geblie­
ben bin im Grunde.«
Wie läßt sich die N atur dieser Weichheit verstehen? Wie
kann dieselbe Stimme von sich sagen, sie sei Watte und
Schneegesang und zugleich der Gong, der vom Unerträg­
lichen widerhallt? Es scheint, daß in unserem Gang durch die
nobjektalen Zonen der innerste Ring noch immer nicht be­
rührt wurde. Denn wenn es sich auch plausibel machen läßt,
daß Menschen, in archaischen Hordenformationen wie in
klassischen Reichszeiten und modernen Projektkulturen,
Sphärenwesen sind, die nur im Zusammenspiel mit ihren Er-
gänzern, Begleitern und Verfolgern Lebensrisiken in der
Weltoffenheit meistern, so ist das Mysterium ihrer Zugäng­
lichkeit für den Zuspruch ihrer Nähewesen doch nicht aus­
gesprochen. Man mag es einräumen: Der Genius sucht nicht,
er hat gefunden; der Engel klopft nicht an die Tür, er ist im
Raum; das Daimonion läßt sich nicht anmelden, es hat be­
reits das O hr des Subjekts! Aber wie kann in diesen intimen
Raumteilungsverhältnissen das Eine sich der Erschlossenheit
des Anderen von vorneherein vergewissert haben? Aus wel­
chem Fundus schöpfen die prästabilierten Innigkeiten, die
Das Sirenen-Stadium 489

zwischen den unzertrennlich Verbundenen die widerstands­


lose Übertragung von Regungen gewähren? Wie ist es mög­
lich, daß ich für Milliarden von Botschaften ein Fels bin, ge­
gen den sie ohne Resonanz anbranden, während gewisse
Stimmen und Weisungen mich aufschließen und zittern ma­
chen, als wäre ich das auserwählte Instrument für ihr Laut­
werden, ein Medium und Mundstück nur für ihren Drang zu
ertönen? Bleibt hier nicht noch ein Zugangs-Rätsel zu be­
denken? Hat nicht meine Erreichbarkeit für gewisse unab-
weisliche Botschaften einen dunklen »Grund« in einem Wi­
derhallenkönnen, von dem bisher noch nicht zureichend die
Rede war? Wie ist das Offenstehen quasi a priori möglich,
kraft dessen Sokrates seinen Dämon in seine Selbstgespräche
abmahnend eingreifen hört? Was hat es auf sich mit jener
entgegenkommenden Empfänglichkeit, der unbefleckt ge­
nannten, die es dem Verkündigungsengel - dem meist von
links erscheinenden - erlaubt, das Unmögliche in Marias
O hr zu sagen, ohne daß sich ihre Ergebung in Verweigerung
verwandelte? Auf welcher Welle wird die Rede gesendet, die
dich ohne Reserve in Resonanz versetzt und bei deren Anhö­
rung das O hr aufgeht und schwillt, als wäre es mit einemmal
engagiert im Mitsingen einer Hymne, in der seine frühesten
und letzten Erwartungen klingen?
Wer nach den elementarsten und innersten Schichten psy­
chischer Erreichbarkeit fragt, muß nicht zuletzt wissen wol­
len, wie die Wieder-Entwaffnung eines harten, vorsichtig
und eng gewordenen Gehörs geschieht. Tatsächlich ist in
psycho-akustischer Auffassung der Übergang ins innige H ö­
ren immer mit einem Haltungswechsel vom eindimensiona­
len Alarm- und Distanzgehör zum polymorph ergriffenen
Schwebegehör verbunden. Dieser Wechsel kehrt die allge­
meine Entwicklungstendenz um, die vom magisch-proto-
musikalischen Horchen zum Alarmhören und Sorgenhören
hin verläuft - oder wie man aufklärerisch zu sagen pflegt: von
der unkritischen Anteilnahme zur kritischen Aufmerksam­
490 Kapitel 7

keit. Vielleicht ist die Geschichte selbst ein Titanenkampf um


das menschliche Gehör; in ihm ringen die nahen Stimmen
mit solchen aus der Ferne um den bevorzugten Zugang zur
Ergriffenheit, die Stimmen der Ahnen mit denen der Leben­
den, die Stimmen der Machthaber mit denen der Gegen­
mächtigen. Unter den Gebärden des Rechts auf Ergreifen­
dürfen tritt von alters her die Macht als Wahrheit auf; jedoch
in der Verweigerung der Ergriffenheit kommt eine mühevoll
erworbene strategische Klugheit zur Geltung, die weiß, daß
durch das gutgläubige O hr auch die Lügen gehen. Wer klug
wird, gewinnt Abstand von Kretern, Priestern, Politikern,
Repräsentanten.
Durch Widerstand setzt sich das Subjekt als Kraftpunkt ei­
ner Nicht-Ergriffenheit. Nach den psychohistorischen Stan­
dards der letzten zweieinhalb Jahrtausende kann als erwach­
sen zunächst nur gelten, wer sich einem umfassenden
Defaszinations-Training unterworfen hat. In dem soll das
Subjekt bis an die Schwelle gebracht werden, von der an für
es ein unergriffener Umgang mit einverständnis-fordernden
rhetorischen und musischen Vorführungen möglich wird.
Daß auch das O hr zur Scheidung der Geister und der Gefäl­
ligkeiten erzogen wird: darin zeigt sich die Spannung, die
Hochkulturen in ihren Trägern aufrechterhalten müssen, um
erhöhte Weltoffenheit mit gesteigerter Nicht-Verführbarkeit
zu kombinieren. Die kritische Subjektivierung beruht auf
Entfaszinierung als Zurückhaltung der Ergriffenheit. Seit­
dem die Schriftkultur ihr Gesetz geltend gemacht hat, bedeu­
tet Subjekt sein vor allem: den begegnenden Bildern, Texten,
Reden und Musiken zunächst und zumeist widerstehen kön­
nen, ausgenommen jenen, deren Recht auf die Erzwingung
meiner Zustimmung und Einstimmung aus irgendwelchen
Gründen von vorneherein zugestanden ist - wir nennen sie
Ikonen, Heilige Bücher, Väterschriften, Hymnen und Klassi­
ker. In diesen erkennen wir die kulturtragenden Uberzeu­
gungspotentiale, die das Examen der Kritik oft genug bestan-
Das Sirenen-Stadium 491

Rotfigurige Vase aus Voici, 5. Jahrhundert v. Chr. Die Sirenen umfliegen als
vogelartige Frauen Odysseus

den haben, um auch uns, die aktuellen Träger der Verneinung,


in einem gewissen Ausmaß entwaffnen zu dürfen. Überzeu­
gung ist nur ein Name für nach-kritische Ergriffenheit - sie
meint die Wiederkehr des zustimmenden Urteils auf den H ö­
hen der reflexiven Besinnung. Aber nicht nur die offiziellen
Dogmen der geteilten reifen Überzeugung haben die Lizenz,
unsere Distanzbarrieren zu unterlaufen; de facto können
auch Bezauberungen aus bedenklichen oder verpönten Quel­
len unser Gründrecht, unter Verweigerung des Beifalls zuzu­
hören, außer Kraft setzen und uns zu verfallenen Hörern ma­
chen. Soll man darüber die Schultern zucken und erlauben,
was gefällt? Vielleicht wäre es doch nützlich, sich daran zu er­
innern, daß höhere Kultur nur so lange besteht, wie es ihr ge­
lingt, zureichende Zahlen an Individuen hervorzubringen, in
denen das Bedürfnis lebt, den Unterschied zwischen H ypo­
thesen und Verzauberungen zu verteidigen.
49 2 Kapitel 7

Homer hat in dem zwölften Gesang der Odyssee die Urszene


der alten musikalischen Überwältigung und eines neuartigen
Widerstandes gegen sie dargestellt. Von der Zauberin Kirke,
seiner Geliebten eines Jahres, hat Odysseus, der nach dem
Willen der Götter endlich seine Heimfahrt vollenden soll,
den Rat erhalten, sich auf seiner Meerfahrt vor der tödlichen
Verführung des Sirenengesangs zu hüten. Hiervon setzt
Odysseus nun seine Gefährten während der Reise ins Bild.
»Freunde! Was die erhabene Kirke, die Göttin,
erzählte,
Diese herrliche Kunde ist nicht nur für zwei oder
einen.
Darum will ich es sagen, damit wir wissentlich sterben
Oder dem Tode entgehn und entrinnen dem tödlichen
Schicksal.
Zunächst gab sie Befehl, der wundervollen Sirenen
Lieder und blumige Auen ja zu vermeiden. Sie sagte,
Ich nur sollte sie hören. So müßt ihr denn schmerzhaft
mich binden,
Denn ich muß ja fest an O rt und Stelle verbleiben,
Aufrecht stehend am Halter des Mastbaums.
Knüpft dann die Enden fest an den Mast, und sollt’ ich
euch bitten
oder befehlen, mich zu befreien, so solltet ihr nur noch
stärker mich fesseln.«
(Odyssee, Zwölfter Gesang, V. 154-164)
Worin gründet die homerische Überzeugung, daß die Si­
renen mit ihrem Gesang allen Menschen - »wer immer sie
träfe« - den Tod bringen? Woher weiß überhaupt der Sänger
von der Existenz dieser bestrickenden Wesen - es sind zu­
nächst wohl nur zwei an der Zahl210 -, und kraft welcher

210 Bei H om er lassen die Dualisform en auf zwei Sirenen schließen;


spätere Ü berlieferungen, wie die der Argonautica des Apollonios
Das Sirenen-Stadium 493
Verzauberungen gelingt es diesen, die Unberatenen zu ver­
locken? Welche Reize setzen die tödlichen Singvögel in
Frauengestalt ein, um jeden, der sie hört, außer sich zu brin­
gen? Was wissen die Sirenen von ihren Opfern, daß sie ihnen
so nahezugehen verstehen? Auf welche Weise schlüpfen die
beiden lustmächtigen Sängerinnen ihren Hörern so tief ins
Ohr, daß um sie der Ruf sich verbreiten konnte: Wer ihnen
zu nahe kommt und anhört, was sie ihm singen, der kehrt
nicht mehr nach Hause zurück; der erlebt nie mehr, wie ihm
»sein Weib und die lallenden Kinder in herzlicher Lust zur
Seite« treten? Und warum, um alles in der Welt, türmen sich
in der Nähe der Sirenen Haufen von verfaulendem Men­
schenfleisch auf, »samt Knochen und schrumpfenden Häu­
ten an ihnen« (XII, 40-46)? Welche Angst, welche Er­
fahrung, welche Imagination haben es vermocht, bei den
griechischen Mythenerzählern die Assoziation zwischen Ge­
sang und Vernichtung zu stiften? Auch wenn sich die mei­
sten dieser Fragen im Hinblick auf Homers Anschauungen
und deren Quellen nicht mit Sicherheit beantworten lassen,
so macht die Sirenen-Episode der Odyssee doch eines gewiß:
Die frühpatriarchalische homerische Welt hat es gelernt, sich
vor einer bestimmten Art des Ohrenzaubers zu fürchten.
Nicht alles, was seefahrenden Männern zu Ohren kommt,
kann von diesen wahrgenommen werden wie eine Musik, die
tröstet oder nach Hause versetzt. Es ist, nachdem die weitge­
wanderten, vieles hörenden Männer zahlreicher geworden
sind, auf eine Weltlage einzugehen, in der selbst die Ohren
auf tödliche Täuschungen gefaßt sein müssen. Das Ohr, das
von sich aus das Organ zur gutgläubigen Hingabe an das
Muttersprachliche, das Vaterländische, die häuslichen Musen
Rhodos, wissen von drei oder vier Gestalten und geben sogar ihre
N am en an: Thelxiope, die H erzbetörende; Thelxinoe, die Sinnbe­
törende; Molpe, die beim Singen Tanzende; A glaophonos, die mit
der herrlichen Stimme. In anderen Sirenenterzetten treten zusätzl-
lich N am en hervor wie Aglaopheme, die herrlich Berühmte, und
Ligeia, die mit der schrillen Stimme.
494 Kapitel 7

»Die Luft voller Töne« - Mosaik aus Thugga, um 300 n. Chr.

darstellt, kann genarrt werden von Gesängen, die anziehen­


der klingen als das Eigenste und doch, wie es scheint, die Mu­
sik eines feindlichen Prinzips sind. Durch die Sirenen-Stim-
men fängt ein Sog an zu tönen, der kampfbewährte Männer
und welterfahrene Reisende zur Unzeit entwaffnet; er spielt
ihnen ein Trugbild von Heimat und Beisichsein vor, dem zu
widerstehen vor Odysseus, dem in solchen Klangzaubersa­
chen Besserberatenen, noch keinem gelang. Es ist eine
Fremdmusik in der Welt, vor der gerade die Tüchtigsten sich
hüten sollen: Denn diese Klänge führen, wie die Mythologen
zu verstehen geben, den Hörer nicht zu sich, ins eigene Gute,
sondern in den heimatfernen Tod. Immerhin kommt der Si-
Das Sirenen-Stadium 495

renentod nicht in Schreckensgestalt daher, sondern als unwi­


derstehliche Einschmeichelung ins innerste O hr des verein­
zelten Hörers. Es ist, als ob draußen auf hoher See, an den
blumigen Sirenen-Küsten, eine Heimwehfalle aufgestellt
wäre, in die zu gehen die Männer brennen, sobald sie in den
Klangbereich der beiden einstimmig rezitierenden Frauen­
stimmen eingetreten sind. Homer gibt sich Mühe, das
Machtfeld dieser seltsamen Musikerinnen deutlich abzu­
grenzen: Wo die Sirenen singen, dort hören die Winde auf zu
wehen, die Schiffe gleiten lautlos durch das Meer, nur von
der Ruderkraft bewegt; keine Naturlaute, kein Meeresbrau­
sen, kein flatterndes Segel konkurrieren mit den magischen
496 Kapitel 7

Stimmen um das O hr der Opfer. Die See verwandelt sich in


einen entrückten Konzertsaal, die Hörer rudern sich lautlos
in die göttliche Klangglocke hinein, und die geflügelten Sän­
gerinnen gießen die Milch ihrer Stimmen in die lustsüchtig
aufgesperrten Männerohren - es sei denn, diese wären, wie
bei der odysseischen Mannschaft, vorsorglich mit Wachs
versiegelt worden.
Welche Art von Musik ist es, welches Melos, welcher
Rhythmus, die den Sirenen soviel Gewalt über das Gehör der
sterblichen Männer verleihen? Sobald man versucht, dem si-
renischen Konzert näherzukommen, zeigt sich sogleich, daß
es nicht die Sängerinnen an sich sind, die das Geheimnis ihrer
Verführungserfolge hüten. Zwar gehört das Beiwort »ver­
führerisch« zum Namen Sirene so stereotyp wie das Attribut
»allmächtig« zum monotheistischen Gott, und das Verfüh-
rend-Sein wird den fatalen Musikantinnen wie eine stehende
Eigenschaft zugeschrieben. Sirenen zu erliegen wäre dem­
nach der Normalfall von Sirenenwahrnehmung, und das
Hinstreben und Vergehenwollen zu ihren klauenbewehrten
Füßen wäre die adäquateste Entsprechung zu den Reizen je­
ner griechischen Soubretten. Gestatten sie eben nicht den
Seefahrern zu tiefe Blicke in ihre dekolletierten Kehlen? In
Wahrheit entspringt das Verführende der Sirenenmusik nicht
einer sirenischen Natur-Sinnlichkeit, wie noch Adorno irr­
tümlich annahm. Es scheint vielmehr, es sei die Natur dieser
Sängerinnen, keine eigenen Reize zur Schau zu stellen: Ihr
Konzert ist nicht die Darbietung eines lasziven Programms,
das bislang das Glück hatte, allen Vorbeifahrenden zu gefal­
len - und das doch schon morgen dem ersten kritischen oder
gleichgültigen Hörer begegnen könnte. Die Unwidersteh­
lichkeit der Sirenen hat ihren geheimnisvollen Grund in dem
Umstand, daß sie seltsam skrupellos nie ihr eigenes Reper­
toire vortragen, sondern immer nur die Musik des Passanten;
auch die Idee einer eigenen Melodie ist ihnen fremd; sogar
die Süße ihrer Stimmen ist keine musikalische Eigenschaft,
Das Sirenen-Stadium 497
die ihrem Vortrag unentäußerlich anhaftete, und die Tra­
dition nennt ihre Stimmen öfter schrill als schön. Wenn die
Sirenen in allen Hörern bis zu Odysseus - und in diesem
besonders - begeistert hingezogene Opfer fanden, so deswe­
gen, weil sie vom Ort des Hörenden her singen. Es ist ihr Ge­
heimnis, genau die Lieder vorzutragen, in die sich das Ohr
des Passanten hineinzustürzen begehrt. Sirenen hören heißt
folglich: in den Kernraum einer intim ansprechenden Tonart
eingetreten sein und von da an in der Regungsquelle des un­
entbehrlichen Klangs bleiben wollen. Die fatalen Sängerin­
nen komponieren ihre Lieder im O hr des Hörers - sie singen
durch den Kehlkopf des anderen. Ihre Musik ist jene, die das
Rätsel der Erreichbarkeit von sonst verschlossenen Ohren
auf die einfachste Weise löst. Sie vollführt ruchlos treffsicher
genau die Tongebärde, mit der das hörende Subjekt sich
selbst entriegelt und nach vorne tritt. Für einen Achilles,
wäre der nicht vor Troia gefallen, hätten die gefiederten Sän­
gerinnen Achilles-Verse rezitiert, deren Großartigkeit den
Helden wehrlos gemacht hätte gegen sein eigenes Lied; für
einen Agamemnon, wäre er vorbeigekommen, hätten sie na­
turgemäß Agamemnon-Hymnen übers Wasser gesungen, in­
fam gefällig und unwiderstehlich verherrlichend, und wie
hätte der gefährdete Held nicht zustimmen sollen zu dem
Gesang, der vom Hügel herabtönte wie aus seinem eigenen
Innern? Es ist die Kunst der Sirene, dem Subjekt seine Selbst­
aufwallung in die Seele zu legen. Was bei ihnen Unwider­
stehlichkeit heißt, ist die Versetzung des Subjekts ins Zen­
trum der hymnischen Regung, die aus ihm selber auf­
zuquellen scheint und die ihn unter die Sterne versetzt. Da­
rum muß es nicht Wunder nehmen, wenn die Sirenen für
den vielgewanderten Odysseus gut abgestimmte Odysseus-
Hymnen bereithalten - eine Odyssee in der Odyssee, eine
musikalische Oase, in der der Held zu rasten eingeladen ist,
als sei er nach soviel Mühen nach Hause gekommen. Mit
wunderbarer Präzision sind diese Stücke in sein von vielen
498 Kapitel 7

Leiden und Gefahren moduliertes Gehör gefügt, so daß von


diesen Versen nicht ergriffen zu sein für den Gerühmten
nicht in Frage kommt. Das Sirenenlied besingt ihn selbst, den
Näherkommenden, der seinem Gesang entgegengleitet; im
gehörten Lied singt er spontan bejahend mit, als wäre in die­
sem einzigartigen Augenblick des Hörens schon der Auf­
schrei des Selbersingens mitenthalten. Verführung ist Er­
weckung der Regungsquelle der schlechthin von mir zu
singenden Melodie. Homer hat es nicht versäumt, in des
Odysseus eigener Erzählung jene Sirenen-Verse anzuführen,
die den Helden in Bann schlagen mußten. Diese Verse hätten
unfehlbar sein Verderben auf den Sirenenwiesen bewirkt,
wäre er nicht, an den Mastbaum gefesselt, von seinen wachs­
tauben Gefährten durch den erregenden Musik-Trichter hin­
durchgerudert worden.
»Hierher, Odysseus, Ruhm aller Welt, du Stolz der
Achaier!
Treibe dein Schiff an Land, denn du mußt unsere
Stimmen erst hören!
Keiner noch fuhr hier vorbei auf dunklen Schiffen,
bevor er
Stimmen aus unserem Munde vernommen, die süß
sind wie Honig.
So einer kehrt dann mit tieferem Wissen beglückt in
die Heimat.
Alles wissen wir dir, was im breiten Troja die Troer,
Was die Argaier dort litten nach göttlicher Fügung.
Und allzeit
Wissen wir, was auf der Erde geschieht, die so vieles
hervorbringt.« (XII, 184-191)
Sirenenmusik beruht auf der Möglichkeit, dem Subjekt beim
Ausdruck seines Begehrens einen Schritt voraus zu sein.
Vielleicht ist solches Vorausseinkönnen der anthropologi­
sche Grund für das Interesse von Nicht-Künstlern an Künst-
Das Sirenen-Stadium 499
lern, das in den modernen Gesellschaften seinen Höhepunkt
erreicht und in der postmodernen überschritten hat. Da­
durch wirkt der sirenische Gesang auf das Subjekt nicht nur
wie von außen ergreifend. Er erklingt vielmehr, als vollzöge
sich durch ihn, vollendet und wie zum ersten Mal, die eigen­
ste Regung des Subjekts, das sich jetzt aufschwingt, sich aus­
zusprechen.
Auf bislang unerklärliche Art haben die Sängerinnen das
Problem des Zugangs zum musischen Regungszentrum des
Subjekts gelöst; unheimlich bleibt dabei der Umstand, daß
ihnen dies nicht nur gelegentlich bei einem einzelnen Passan­
ten, sondern bei vielen verschiedenen Opfern gelingt, als sei
für die Sirenen das Eindringenkönnen ins von sich selber
träumende O hr der Männer keine zufällig ins Ziel führende
Intuition, sondern eine virtuos gemeisterte Psychotechnik.
Ohne halbgöttliche Privilegien ist dergleichen für die Grie­
chen homerischer und späterer Zeiten nicht denkbar. Ihnen
gelten die Sirenen gleichsam als melodische Hellseherinnen,
und tatsächlich sind mantische Fernblicke und göttliche Mit­
wisserschaften vonnöten, um auch nur zu ahnen, daß gerade
auf diesem dunklen Schiff, das den Sirenenfelsen passiert,
niemand geringerer als der listenreiche Troia-Heimkehrer
sich befindet. Weiß man erst dies, so ist der Sprung des Ge­
sangs ins Innere des Heldenohrs nicht mehr so ganz unmög­
lich; denn wovon wird ein von fatalen Winden und weibli­
chen Listen aufgehaltener Seeheld auf verzögerter Heimfahrt
hören wollen, wenn nicht von den Leiden der Seinen vor
Troia, von seinen gegenwärtigen Prüfungen und von seinem
verhüllten künftigen Schicksal. Die Sirenen stimmen tonart­
sicher sofort das Epos an, dessen Heros Odysseus heißt -
aber sie singen es nicht im Stil der volksbildenden Muse, die
für ganz Griechenland den Namen des Odysseus als Em­
blem einer neuen, nach-heroischen Menschlichkeit verständ­
lich zu machen wußte; sie singen von Odysseus, dem Ruhm
aller Welt, nur für Odysseus allein, als habe der seinen H ori­
5 0 0 Kapitel 7

zont verloren und sein Projekt vergessen; sie betören ihn, als
wollten sie sagen: »Laß die Ägäis schrumpfen zu deinem pri­
vatesten Gewässer! Hast du dich draußen als Held unter an­
deren bewährt und hast reden gemacht von deinen Taten un­
ter den Taten der anderen, so wartet auf dich hier ein
Binnenmeer aus Tönen, in dem ausschließlich du zur Verklä­
rung gelangst! Verzichte auf das Rauschen der Welt und gehe
ein in deine eigene Musik, deine erste und letzte!« Vergessen
wir nicht: Auch Odysseus widersteht diesem Gesang nicht
deswegen, weil er in sich selbst Kräfte, ihn zu verwerfen,
hätte mobilisieren können, sondern nur, weil er dem Sog der
Musik, die ihn durchflutet, die Seile entgegengesetzt hat, die
ihn an den Schiffsmast binden. Ist es ein Zufall, daß diese
Seile im Griechischen kaum anders heißen als die Sängerin­
nen, die von der anderen Seite ziehen? Weiß schon Homer,
daß gegen Fesselungen nur andere Fesselungen helfen? Ist
ihm schon deutlich, daß Kultur im allgemeinen und Musik
im besonderen kaum etwas anderes ist als Arbeitsteilung im
Bestricken?
Auch im Fall des Odysseus ist also der Sirenengesang
ohne Vorbehalt erfolgreich: Er setzt sich im Hörer durch als
musikgewordene höhere Gewalt. N ur durch eine listige Tei­
lung der Bindegewalten entzieht sich der Held dem sireni-
schen Sog. Gleichwohl haben wir keinen Grund zu behaup­
ten, daß die Attraktion der Sirenenmusik schon richtig
begriffen sei. Denn es ist noch nicht deutlich geworden, wo­
hin der Mann eigentlich strebt, der beim Hören der Sirenen­
stimmen nicht ruhig hält, wie sonst jeder gebildete Bürger im
Konzertsaal, sondern von dem übermächtigen Drang ergrif­
fen wird, sich den Sängerinnen physisch zu nähern. Welches
ist die N atur dieses Annäherungswunsches? Welcher Ur-
szene des Nahe-Seins mag das Hinstürzen zu den Sänge­
rinnen nachgebildet sein? Von woher wirkt im Fall dieser
akustischen Verzauberung das Ubertragungsprinzip? Beim
zweiten Hören erst wird die Partikularität der Sirenen-Szene
Das Sirenen-Stadium 501
recht erkennbar: Wenn solche Musik eine unwiderstehlich
süße sein muß für jeweils diesen einzigen besungen-singen-
den Hörer, dann deswegen, weil sie dem Helden seinen kon­
stitutiven Wunsch als erfüllten vorspielt. Die Sängerinnen
besitzen den Schlüssel zur Himmelfahrt des hörenden Sub­
jekts, und ihre Art, zu verführen, gibt den entscheidenden
Hinweis auf die Intimzone des Gehörs, das bestimmten Ein­
flüsterungen willig offensteht. Hier darf von der erfolgrei­
chen Verführung auf die Wunschtendenz selbst zurückge­
schlossen werden, ja mehr noch darauf, daß das sirenische
Lied als solches das Medium ist, in dem der Wunsch sich ur­
sprünglich formt. Das Lied, der Wunsch und das Subjekt ge­
hören immer schon zusammen. Tatsächlich kann sich die
Subjektivität der Heldenzeit nur im Hinhören auf das Epos
und die mythische rühmende Rede bilden. In den Kinderstu­
ben der Hochkulturen, wie schon in den meisten prä-alpha­
betischen Gesellschaften, formt sich das Ich in einem Besin-
gungs-Versprechen: dem eigenen Dasein ist eine Zukunft aus
Tönen vorausgeschickt. Ich bin ein Tonbild, ein Vers-Blitz,
eine dithyrambische Regung, gerafft in einer Anrede, die mir
von früh auf vorsingt, wer ich sein kann. Der Held, die Hel­
din: sie werden sein, wie sie sich voraushören - denn Leben
in der Zeit der heroischen Subjekte ist immer unterwegs zur
Verswerdung. Jedes Subjekt geht, solange es der Entmuti­
gung widersteht, auf seine aktuelle Vertonung zu. N ur mo­
notheistische Priester schwelgen in dem selbstbezüglichen
Mißverständnis, der Mensch wolle sein wie Gott. Sind die
Priester nicht dabei, so stellt sich heraus, daß Menschen nicht
wie Gott, sondern wie ein Schlager werden wollen. Das Un­
terwegssein zum rhapsodischen Augenblick gibt der Exi­
stenz das Gefühl für ihr Vorwärts und Hinauf. Eine unvor­
denkliche Neigung auf Auf schäumen in der Kantilene geht
dem Ich voraus, seine Frequenz ist seine Substanz. Darum
können bis heute Tenöre und Primadonnen Stadien erregen
und große Häuser zum Zittern bringen; sie zeigen auch den
502 Kapitel 7

In der Antitzipation:
Werner Schroeter, Willow Springs, 1972

musikalisch Ärmsten einen einfachen Zugang zur Aufschäu­


mung des Selbst in vokalen Paraden. Sursum - bum bum,
und keiner schlafe. Noch tiefer steigen die Popstars in die
Unterwelt der Ich-Orgasmen zu Discountpreisen hinab, in­
dem sie mit Beißkrämpfen am Mikrophon ihr Herauskom­
men Vorspielen. Aber die Tenor-Hysterie und das Pop-Agie-
Das Sirenen-Stadium 5°3
ren wären nicht so anziehend, böten sie nicht immer noch
ergreifende Projektionen von alten Mächten, die Ich-Bildun-
gen durch das O hr bewirken. Sie verführen ihre Hörer in
dem Maß, wie sie den entscheidenden Auftritt des Subjekts
im Lied-Kern plausibel verheißen. Das primitiv-musische
Tollwerden hat psychologisch Methode. Das sprungbereite
Warten der Hörer auf das Aufschäumen in ihrer eigensten
Tongeste bezeugt die Realität eines archaisch ich-bildenden
Sirenen-Stadiums, in dem das Subjekt sich bei einer sonoren
Wendung, einem Stimmklang, einem Tonbild einhakt, um
von da an auf die Wiederkehr seines musikalischen Augen­
blicks zu hoffen. Die Wahrheitsmomente, die Lacan seinem
irrlichternden Theorem vom Spiegelstadium mitgegeben hat,
treffen der Sache nach nicht auf das optische, sondern auf das
auditive und audiovokale Selbstverhältnis des Subjekts zu.
Im Voraus-Hören des Ich-Motivs knüpft das Individuum
den Pakt mit seiner eigenen Zukunft, aus dem die Freude er­
wächst, auf die Erfüllung hin zu leben. Jedes unresignierte
Subjekt lebt in der orthopädischen Erwartung der intimsten
Hymne, die sein Triumphmarsch und sein Nachruf in einem
sein wird. Das läßt so viele vom musikalischen Auftreten
und vom rezitierenden Herausplatzen träumen. Wer seine
Hymne hört, der hat gesiegt. Für die Unbesungenen geht der
Kampf weiter, sollte auch Troia längst gefallen sein. Sie haben
die Wahrheit noch vor sich, daß im Intonieren das Subjekt
sich am nächsten kommt. Wer auftritt, um seine Lautgeste
anzubringen, liest nicht vom Blatt und weiß vor allem von
Selbst bildern nichts; denn in der mündlichen Welt schauen
die werdenden Subjekte nicht in den Spiegel, sondern ins
Lied - und im Lied auf die Stelle, die mir mich verspricht:
mein Regungs-Motiv, mein Hymnen-Takt, meine Selbst-
Fanfare. Die frühen Menschen, wie noch die meisten heuti­
gen, wollen nicht aussehen wie etwas, sondern wie etwas
klingen; es brauchte die Entfesselung der modernen Bilder-
Maschinerie, die seit dem Barock ihre Klischees in die Bevöl-
5°4 Kapitel 7

kerungen preßt, um dieses Grundverhältnis zu verdecken


und die Massen unter den Bann des visuellen Individualis­
mus mit seinen schnellen Ansichten, seinen Spiegeln und
Modemagazinen zu bringen. Nicht umsonst ist der Video-
Clip das Symptom-Genre der Gegenwartskultur, die auf die
optische Verklebung des Gehörs und die globale Synthesis
durch Bilder hinarbeitet. Die alten Gesänge von großen
Männern und Frauen sind hingegen noch in einem Regime
sonosphärischer Gemeingeister zu Hause; sie errichten klin­
Das Sirenen-Stadium 5°5
gende Monumente, Ruhmeshallen oder sonore Grabhügel,
aus denen die Heroen gestiegen sind, um im Gehör der fol­
genden Generationen weiterzuklingen. Vom heimgesuchten
O hr her wird das Subjekt zu sich geführt. In seinem akusti­
schen oder rhapsodischen Frühgedächtnis sammeln sich ei­
nige wenige magische Takte und Lautgebärden an, die wie
Leitmotive aus einem hymnischen Himmel vor dem Einzel­
nen herklingen - bisher noch ungespielt und aufgeschoben,
und zugleich seit jeher im Begriff, endlich zur Aufführung zu
gelangen. So klinge ich - so werde ich sein, wenn ich sein
werde. Ich bin das Aufschäumen, der Klangblock, die be­
freite Figur, ich bin die schöne, die kühne Stelle, ich bin der
Sprung in den höchsten Ton; die Welt klingt nach mir, wenn
ich mich zeige, wie ich mir versprochen bin.
Offenbart nicht das Flehen des Odysseus am Mast, losge­
bunden zu werden, seine Bereitschaft, mit dem akustischen
Trugbild seiner Vollendung zu kooperieren? Am Erregungs­
pol intim getroffen, will er dorthin, von woher er besungen
wird: Ist nicht der Kosmos geschaffen, damit ich, wenn ich
ihn umrunde, an einer providentiellen Stelle mich vollendet
höre? - Nicht zufällig sprechen griechische Überlieferungen
außerhalb der Odyssee davon, daß die Sirenen üblicherweise
die Totenklage ausführten. Ihre Macht ist bei der Unterwelt
geliehen und von ihren Herren, Hades und Phorkys; darum
eignen sich ihre Stimmen besonders für Lobgesänge und Lie­
der auf Verstorbene. Ihr Vorauswissen erstreckt sich auf
Menschenschicksale und ihr verhülltes Ende. Von den anti­
ken Autoren werden die Sirenenstimmen zugleich als honig­
süß und schrill beschrieben - was vielleicht daran erinnert,
daß die antike Musik ihre vielfältig bekundeten magischen
Wirkungen nicht durch das hervorruft, was neuzeitliche H ö­
rer seit der Romantik als melodisch und harmonisch empfin­
den; sie zwingt sich vielmehr auf durch eine Art von entrük-
kender Unerbittlichkeit - magisch-überartikuliert, bohrend
prägnant und nachhaltig bis zur Erschöpfung. Der antike
50 6 Kapitel 7

Sprechgesang verhängt über die Ohren der Versammelten


den Ausnahmezustand einer Deutlichkeit, die vergrößert, er­
regt und wehrlos macht; wie mit Großbuchstaben wird die
Musenrede ins Gehör geschrieben; ihre Sänger rücken gegen
die Hörer vor wie narkotisierende Versschreibmaschinen; als
lebende Trommeln ziehen die Rhapsoden ihren Kreis um die
tonisierte Versammlung. Ohne Widerreden zu dulden, er­
hebt die Muse ihren lautdeutlichen Ergreifungsanspruch,
dem das mundartlich murmelnde Alltagssubjekt nichts ent­
gegenzusetzen hat.
Eine solche Klangerscheinung zerreißt die triviale Zeit.
Wer sie hört, muß eine neue Balance zwischen Geduld und
Erregung finden; wer in ihr aufgelöst ist, kehrt so schnell
nicht zurück; wer endlich zurückkehrt, weiß, daß das Leben
von nun an ein Warten auf die Wiederkehr der Verse ist. Ge­
wisse Indizien deuten darauf hin, daß die homerische Sire­
nenmusik für moderne Ohren größte Ähnlichkeit hätte mit
dem in Wellen organisierten Geheul von Klageweibern, das
sich in einigen kulturellen Nischen der östlichen Mittel­
meerwelt bis heute erhalten haben soll. (Hat nicht Nikos
Kazantzakis in Alexis Sorbas hieran erinnert?) Nichtsdesto­
weniger finden die Hörer der Sirenen in deren herben Stro­
phen ihre eigene übermenschlich süße Stelle, so wie die Sire­
nen in den Hörern den musikalischen Punkt treffen, von
dessen Erregung an das Subjekt weiß, daß seine Stunde ge­
kommen ist. Odysseus am Mastbaum wirft den Kopf zu­
rück und fleht um seine Entbindung, wenn er das hexametri­
sche Knattern von der Küste her vernimmt. »Hierher,
Odysseus, Ruhm aller W elt...!« —so bellt es über dem Was­
ser, während die tauben Gefährten sich in die Ruder legen.
Das also sind die Himmelstöne, die Odysseus in den Seilen
suchen. Die Rezitation der Sirenen durchdringt den immo­
bilisierten und zutiefst rege gemachten Hörer wie eine Lau­
datio aus dem Jenseits. Sie vernehmen heißt erkennen, daß
das Lebensziel erreicht, die Liedwerdung vollzogen ist.
Das Sirenen-Stadium 5°7
Odysseus macht keine Ausnahme von dieser liedmetaphysi­
schen Regel. Wer sich so besungen hört, darf davon ausge­
hen, daß das eigene Leben jetzt Gesprächsstoff an Götter­
tafeln ist. Darum also wird der Sirenenfels zu der Klippe, an
der die vorzeitig Besungenen scheitern. Von dem Lied-Grab
zu Lebzeiten führt kein Weg mehr ins alltägliche unbesun-
gene Dasein zurück.
Odysseus ist der erste, der seinem Eingehen ins Lied le­
bend entkommen konnte - er steht am Anfang einer Ge­
schichte, die aus göttlichen Helden zuletzt heimkehrende
Menschen machte. Aus epischen Monstren sollten schließ­
lich listige Virtuosen werden - und Namen, die in der Kul­
turbeilage stehen. Deswegen hatten erfolgreiche Künstler
der neueren Zeit gute Gründe, in dem verschlagenen Seefah­
rer ihren Ahnherrn zu erkennen. Denn wie der antike Held
etwas vom Schwindler sich zu eigen machte, um seine Lied-
werdung zu überleben, so müssen moderne Künstler, sobald
sie Erfolg haben, sich aus den Katalogen und Kunstgeschich­
ten davonstehlen wie Hochstapler, die unerkannt ihren näch­
sten Coup vorbereiten. Im übrigen haben nach-homerische
Kommentatoren typologische Analogien zwischen Odys­
seus und Ödipus gezogen und den Sirenen ein Schicksal
nachgesagt, das vom Ende der thebanischen Sphinx abgele­
sen ist: Sie sollen sich aus Gram über das Entkommen des
Odysseus in den Tod gestürzt haben. Die Logik dieser Bezie­
hung scheint durchsichtig; entweder ist es Odysseus, der
sterben muß, oder die Sirenen. Die sanfte Trübnis der Mo­
derne träumt aber davon, daß alle leben sollen, die Künstler
wie die Rezensenten (deren Stimmen noch immer eher schrill
als süß klingen). Was die antiken Sirenen angeht, so bleibt
merkwürdig, daß ein Jahrtausend lang - von Homer an bis
zu seinen späthellenistischen Kommentatoren - kaum ein
bezeugtes Wort fällt über den materiellen Grund für den Tod
der Männer auf der Sireneninsel. Alle Rezipienten nehmen
wohl auf dunkle Weise den Zusammenhang zwischen Besun­
508 Kapitel 7

genwerden und Sterbenmüssen für gegeben hin. Sicher


scheint ihnen nur, daß die Sirenen bei ihren Opfern auf keine
Weise Hand anlegen; direkte Gewalt ist die Sache der Sänge­
rinnen nicht. Alles spricht bei ihren Opfern für einen Tod
durch das, was man im Mittelalter Verkümmerung nannte;
die zu früh besungenen Männer enden durch Verhungern
und Verdursten auf der exterritorialen Insel, weil diese außer
der rhapsodischen Verführung nichts zu geben hat.
Daß aber das Schöne ohnedies nichts Besseres kennt, als
im Lied begraben zu sein, dafür hat um das Jahr 1800 Fried­
rich Schiller, als bürgerlicher National-Thanatologe, wie für
eine höhere Selbstverständlichkeit immer noch - oder besser
von neuem - geworben:
»Auch ein Klaglied zu sein im Mund der
Geliebten ist herrlich,
Denn das Gemeine geht klanglos zum
Orkus hinab.«
In solchen Versen rüstet sich die neue bürgerliche Öffent­
lichkeit für ihre Aufgabe, die Sterblichkeit und das kollektive
Gedächtnis in der entstehenden Massenkultur zeitgemäß zu
konfigurieren. Von 1800 an wird die Kulturgeschichte zu
dem Lied, in dem die eminenten Menschen ihre Verklärungs­
stätte finden wollen und sollen. Die großen Erzählungen
vom Festzug der Kunstkräfte durch die Stilepochen locken
die höchsten Ambitionen an, und die bürgerlichen Museen
öffnen ihre Pforten für alles, was angeblich in der nationalen
Sammlung wirklich zu überdauern verdient. Für die übrigen
halten die kommunalen Friedhofsverwaltungen Ruheplätze
unter bescheiden beschrifteten Grabsteinen bereit. Wer die
Gnade des Glaubens besitzt, darf weiter darauf zählen, daß
Gott, der keine Speicherprobleme kennt, sich Menschen bes­
ser merken kann als die mundanen Medien. Mit einer gewis­
sen Vorverurteilung zur Vergessenheit ist in bürgerlichen
Zeiten bei allen, die nicht sehr hoch aufragen, immer zu rech-
Das Sirenen-Stadium 509

nen; nur die weltgeschichtlichen Individuen, denen Hegel


den Segen aus dem Begriff gab, und die kunstgeschichtlichen
Individuen, die in der ästhetischen Religion zur Ehre der Al­
täre erhoben werden, entgehen dem allgemeinen Schicksal,
mehr oder weniger unbesungen zu verschwinden. Gäbe es
nicht bei vielen noch die Fähigkeit zur positiven Anteil­
nahme an der Verklärung der großen Anderen, so beschriebe
Andy Warhols stumpfes Bonmot vom Fünfzehnminuten­
ruhm für alle tatsächlich den letzten Horizont einer Zivilisa­
tion, in der mehr als jede Währung der Ruhm durch Inflation
entwertet wird.
Der Erzähler Jean Paul, der in reflektierenden Schwärme­
reien erfahrene Zeitgenosse Schillers, hat in diesen Dingen
tiefer geblickt als der moderne Zyniker, indem er in seinem
Roman Titan über seinen Helden schrieb: »Er las die Lobre­
den auf jeden großen Menschen mit Wollust, als wären sie
auf ihn.« Er rührt mit dieser Beobachtung an das psychody­
namische Funktionsgeheimnis von Bürgergesellschaften, die
ohne dieses »Als wären sie auf ihn« unmöglich Bestand ha­
ben könnten. Von der Antike an sind geschichtete Gesell­
schaften ruhmverteilende Systeme, die ihre öffentlichen
Chöre mit den intimen Liederwartungen der Einzelnen syn­
chronisieren. Uber den historischen Völkern wölbt sich der
Ruhmesraum wie eine politische Konzerthalle; in dieser hört
sich das einzelne Leben, das seine Liedwerdung erreicht hat,
vor der Menge besungen. Odysseus am Mast - das ist heute
ein Kunstpreisträger, der mit geneigtem Kopf seine Laudatio
übersteht. Wo es gelingt, den Sirenen-Effekt mit dem Pan­
theon-Effekt zu verknüpfen, dort breitet sich die Schallwelle
der Kultur in den Subjekten diskret und unwiderstehlich aus.
Kultur ist das Integral aller erwarteten und ausgesprochenen
Laudationen.

Unsere Analyse der Begegnung zwischen Odysseus und den


Sirenen hat sich ausgeweitet zu Hinweisen auf eine Theorie
510 Kapitel 7

der ergriffenen Kommunikation in großen Gesellschaften.


Was den einzelnen Hörer intim berührt und ihm die Gewiß­
heit gibt, sein eigenes Lied zu hören, ist jene spezifisch sireni-
sche Musik, die im Offenen rezitiert, was die Eigen-Regung
weckt. Die homerischen Sirenen demonstrieren das Vermö­
gen, an das audiovokale Regungszentrum des anderen zu rüh­
ren. Doch mit der Kunst, seefahrende Helden zum Schmel­
zen zu bringen, ist die sirenische Kompetenz noch nicht
erschöpft. Die Gebeine der Verführten auf der Insel der Sän­
gerinnen stellen nur eine Teilwirkung von Sirenenmusik un­
ter Beweis und, wie zu zeigen ist, nicht die bedeutsamste. In
Wahrheit kommen sirenische Komponenten überall ins Spiel,
wo Menschen sich ans ergriffene Hören entäußern. Im Hören
auf die äußere Stimme quillt, wie gezeigt, die eigentümlichste
Eigenregung des Hörenden auf. Wo also Sirenen, das heißt
unbedingt zu bejahende und bewegende Klänge, hörbar wer­
den, beginnt der Ernstfall für das Selbstgefühl des Subjekts.
Sirenen hören heißt »sich« hören; von ihnen angerufen wer­
den heißt sich aus dem »eigensten« Antrieb auf sie zu bewe­
gen. Es gehört im übrigen zu den typischen Selbstoffenbarun­
gen unseres Jahrhunderts - und zu seinen kennzeichnenden
Zynismen -, daß es die Heulmaschinen auf Fabrikdächern, in
Kriegszeiten auch die Alarmanlagen, die aus der Luft attak-
kierte Städte in Schrecken versetzten, als Sirenen bezeichnet
hat. Diese Namensschöpfung spielt mit der Einsicht, daß Si­
renenhören archaische Regungen bei den Hörenden auslösen
kann, aber sie verzerrt den Hinweis mit niederträchtiger Iro­
nie, indem sie die Sirene mit dem zwanghaften Alarm assozi­
iert. Damit wird das offenste Hören an den Terror verraten:
als wäre das Subjekt nur seiner Wahrheit nahe, wenn es rennt,
um sich zu retten. Zugleich wird die Sirenenstimme, so um­
benannt, unmäßig vergröbert, für die brutalsten Massensi­
gnale instrumentalisiert. Sirenen dieser Art sind die Glocken
der Industrie- und Weltkriegsepoche. Sie markieren nicht die
Sonosphäre, in der sich eine frohe Botschaft ausbreiten
Das Sirenen-Stadium 5 11

könnte. Ihr Schall trägt den Konsensus, daß alles trostlos und
gefährlich ist, in sämtliche erreichbaren Ohren.
Wenn hingegen hier von einem Sirenen-Effekt die Rede
ist, so ist die intime Erreichbarkeit der Individuen für Klang­
botschaften gemeint, die eine Art Glückshypnose und ein
Gefühl des Ankommens im erfüllten Augenblick übertra­
gen. Die Tatsache, daß manche Hörer von gewissen Klängen
sich erreichen und erwecken lassen, wäre nicht vorstellbar,
wenn nicht dem Klang selbst ein spontanes, dringliches Ent­
gegenkommen aus dem Hörenden entspräche. Wie unsere
Überlegungen zu den Wirkungen der Sirenenrezitation auf
Odysseus gezeigt haben, beruht die Unwiderstehlichkeit des
Gesangs nicht auf einer musikeigenen Süße, sondern auf
dem Bündnis des Klangs mit der verschwiegensten Hörer­
wartung des Subjekts. Das O hr bringt von sich her eine Se­
lektivität mit, die beharrlich auf den unverkennbar eigenen
Ton wartet: Bleibt dieser aus, so hält sich die intime Klanger­
wartung im Hintergrund, und das Individuum geht im wört­
lichen Sinne ungerührt seinen Lebensgeschäften nach, oft
ohne auch nur die Möglichkeit eines anderen Zustands zu
ahnen.
Die jüngere psychoakustische Forschung, insbesondere
jene des französischen Oto-Rhino-Laryngologen und Psy-
cholinguisten Alfred Tornatis und seiner Schule, hat für die
ungewöhnliche Selektivität des menschlichen Gehörs, die
sich im Sirenen-Effekt manifestiert, einen suggestiven Er­
klärungsvorschlag erarbeitet. Nicht nur ist im Laufe dieser
Untersuchungen über das menschliche Gehör und seine
Evolution zweifelsfrei festgestellt worden, daß Kinder im
Mutterleib aufgrund der Frühentwicklung des Ohrs schon
ausgezeichnet hören - und dies möglicherweise vom em­
bryonalen Zustand an, mit Sicherheit in der zweiten Hälfte
der Schwangerschaft; es sprechen auch eindrucksvolle Beob­
achtungen dafür, daß dieses frühe Hörvermögen nicht zu ei­
ner passiven Auslieferung des Fötus an das Geräuschinnen-
Kapitel 7

leben der Mutter und an die wassergefilterten Stimmen und


Lärmquellen der Außenwelt führt; vielmehr entwickelt
schon das fötale O hr die Fähigkeit, sich durch eigenmächtig­
lebhaftes Hinhören und Weghören in seiner dauernd gegen­
wärtigen invasiven Geräuschumwelt aktiv zu orientieren.
Wie Tornatis zu betonen nicht müde wird, wäre der Auf­
enthalt des Kindes im Mutterleib ohne die Fähigkeit zum
spezifischen Weghören und zum Abdunkeln großer Ge­
räuschbereiche unerträglich, weil die Herztöne und die Ver­
dauungsgeräusche der Mutter, aus nächster Nähe wahrge­
nommen, dem Lärm einer bei Tag und Nacht betriebenen
Baustelle entsprechen oder dem Geräuschpegel einer pral­
len Wirtshausunterhaltung gleichkommen. Würde das Ohr
nicht von früh auf lernen wegzuhören, so würde das wer­
dende Leben durch eine permanente Lärmfolter verwüstet.
An die Risiken des primären Höhlen- und Höllenlärms erin­
nern zahlreiche prä-natale und peri-natale Mythen, wie etwa
die ägyptischen Unterweltsbücher, in denen von der Durch­
querung einer Lärmwüste bei der Nachtfahrt der Seele die
Rede ist. Wenn also Menschenkinder zur Welt kommen,
ohne vom Intimlärm zerrüttet zu sein, dann deswegen, weil
sie als eine der ersten Regungen ihres Ich-kann das Weghö­
ren beherrschen. Dies widerspricht der gängigen Mythologie
von der schicksalhaften Unverschließbarkeit des Ohrs. Weg­
hören und Hinhören sind ursprüngliche Modi vor-subjekt-
haften Könnens - sofern Können immer mit der Verfügung
über eine Alternative verbunden ist. Mit Hilfe dieser frühe­
sten Sinneskompetenz wird in die intrauterine Nacht eine
erstrangige Unterscheidung eingeführt: Sie etabliert die
Differenz zwischen den Tönen, die den Hörer angehen und
denen er entgegenkommt, und jenen, die ihm gleichgültig
oder widerwärtig bleiben und die er ausblendet. Mit dieser
Urwahl zwischen Hinwendung und Abwendung tritt die er­
ste Differenz des kommunikativen Verhaltens in Kraft. Das
O hr entscheidet, in gewissen Grenzen, über die Willkom-
Das Sirenen-Stadium 5 X3

menheit und Unwillkommenheit von akustischen Reizen.


Diese Unterscheidung geht der zwischen Bedeutendem und
Unbedeutendem voraus. Es ist ein typischer Irrtum der zeit­
genössischen Semiotik, das Bedeutende als etwas aufzufas­
sen, was durch eine Selektion aus dem Unbedeutenden her­
vorgehoben wird - so als träfe das Subjekt aus einem
anfänglichen indifferenten Geräuschangebot, das es über-
»blickt«, eine willkürliche Auswahl, um zu privat sinnvollen
Daten zu gelangen. In Wahrheit entsteht das Feld des Unbe­
deutenden seinerseits erst durch die Abkehr des Ohrs von
den lästigen Geräuschpräsenzen; diese werden damit als
nicht-informativ oder gleichgültig »gesetzt« und in der Folge
aus der wachen Wahrnehmung ausgeschlossen. Es gibt nicht
zuerst ein Feld aus Rauschen und dann die Ausfilterung ei­
ner Information aus diesem, sondern das Rauschen fällt an
als Korrelat zum Nichthinhören auf Unwillkommenes. Um­
gekehrt aber geht das Gehör in besonderer Weise auf die
Töne zu, von denen es sich seine eigentümliche Belebung
verspricht. Im Hinhorchen vollzieht das Gehör die Urhand-
lung des Selbst: Alles spätere Ich-kann, Ich-will, Ich-komme
schließt notwendigerweise an diese erste Regung spontaner
Lebhaftigkeit an. Indem es hinhorcht, öffnet sich das wer­
dende Subjekt und geht einer bestimmten Stimmung entge­
gen, in der es das Seine wunderbar deutlich vernimmt. N a­
turgemäß kann solches Horchen sich nur auf Willkommenes
beziehen. Willkommen im engsten Sinn sind für das Subjekt
im Werden nur die Töne, die ihm seinerseits zu hören geben,
daß es willkommen geheißen wird.
Man muß wohl annehmen, daß Schwangere, die von ih­
rem Zustand Notiz genommen haben, anfangen, für den In­
timzeugen in ihrem Leib zu sprechen, in gewisser Weise auch
direkt zu ihm. Ist die Kenntnisnahme vom Schwangersein
bei einer Frau positiv getönt, so entwickelt sich in ihrem Ver­
halten ein Gespinst aus zarten Vorwegnahmen des Zusam­
menseins mit dem neuen Leben, und die Mütter fangen an,
514 Kapitel 7

sich zu benehmen, als stünden sie von nun an unter diskreter


Beobachtung. Sie nehmen sich für den Zeugen, die Zeugin in
ihnen etwas mehr als üblich zusammen - sie hören sich selber
deutlicher reden, sie fühlen sich verantwortlich gemacht für
ihre Stimmungen und ihre Lebenserfolge, und sie wissen,
daß sie selbst keine gleichgültige Randbedingung für das Ge­
lingen des kommenden Lebens sind. Insbesondere verspüren
sie, wie diskret und implizit auch immer, die Pflicht, dem
Kind zuliebe glücklich zu sein. Verhalte dich so, daß deine ei­
gene Stimmung jederzeit eine zumutbare Vorgabe für ein ge­
teiltes Leben werden könnte: Das ist der kategorische Impe­
rativ, mütterlich. Das Gesetz der Teilhabe an Glück und
Unglück des Intimsphärenpartners reicht tiefer als das Sit­
tengesetz, das in der Befolgung allgemeinster Normen Fuß
faßt. Daher ist die Pflicht, glücklich zu sein, sittlicher als je­
des formale oder materiale Gebot. In ihr kommt die Ethik
der Schöpfung selbst zum Ausdruck. Im günstigsten Fall
werden die Schwangeren zu beschwingten Schauspielerin­
nen, die dem augenlosen Zeugen in ihnen das Dasein wie eine
klingende Pantomime des Glücks vorführen. Flier werden
Vorführung und Verführung eins. Selbst wenn die Mütter
Gründe hätten, unglücklich zu sein, haben sie nun einen stär­
keren Grund, sich glücklicher zu geben, als sie sein können.
Es ist ihr Glück, ganz ernsthaft an das Glücklichseinsollen
erinnert zu sein, und völlig ungeeignet wäre nur die Mutter,
die ganz Unwillens wäre, zu wollen, was sie soll. Das Ge­
meintsein von der Erwartung der Mutter überträgt sich auf
audiovokalen Wegen zum fötalen Ohr, das seinerseits, wenn
der Begrüßungsklang zu hören ist, sich ganz entriegelt und
der sonoren Einladung entgegengeht. Durch Aufrichtung ins
Hinhören gibt sich das glückliche aktive O hr an die will­
kommen heißende Ansprache hin. In diesem Sinn ist H in­
gabe die subjektbildende Tat par excellence; denn sich hinge­
ben heißt sich aufraffen in die Wachheit, die erforderlich ist,
um sich dem Ton, der dich angeht, zu öffnen.
Das Sirenen-Stadium SJS
Dieses Aus-sich-Gehen ist die erste Geste des Subjekts.
Proto-Subjektivität meint zuallererst eine entgegenkom­
mende Regung und ein Vibrieren in der Begrüßung. Entge­
genkommend kann sie nur sein, weil ihr selber entgegenge­
kommen wurde. Indem das Prä-Subjekt sich aufrichtet zum
Entgegenhören, wird es vom Vorteil, zu hören, überzeugt.
Gehör bedeutet bis hierher aktive Hinspannung auf freund­
liche Botschaften. Es bewirkt die Geburt der Intentionalität
aus dem Geist des Hinhörens auf Begrüßungs- und Bele­
bungslaute. In solchem Hören beginnt auch das Genießen
als erste Intention. Was die phänomenologische Forschung
als Intentionalität oder noetische Hingespanntheit auf Sach-
vorstellungen beschrieben hat, geht also zunächst hervor aus
dem auditiven Entgegenkommen des fötalen Ohrs für Klän­
ge der hinreichend guten Mutterstimme. Der Strahl der
Intentionalität, mit der sich ein Subjekt auf etwas Gegebenes
»bezieht«, hat schon in seinen frühesten Anfängen Echocha­
rakter. N ur weil es von der Mutterstimme intendiert wird,
kann es von sich her die belebende Stimme intendieren. Der
audiovokale Pakt erzeugt Gegenverkehr in einem Strahl; Be­
lebendes wird mit Selbstaufrichtung zur Lebhaftigkeit be­
antwortet.
Die Theorie des Sirenen-Effekts mündet somit in eine U n­
tersuchung der ersten Begrüßung. Was zunächst bloß Ver­
führung durch das unspezifisch sehr Angenehme zu sein
scheint - der sirenische Klangzauber -, erweist sich im letz­
ten Horizont der Untersuchung als Wiederholung einer
konstitutiven Begrüßung des Menschen in seiner ersten At­
mosphäre. Der Mensch ist das mehr oder weniger gut be­
grüßte Tier, und soll sein Regungszentrum neu angesprochen
werden, so ist die Begrüßung zu wiederholen, mit der seine
Initiation in die Welt ursprünglich vollzogen wird. Die rich­
tige Begrüßung oder Willkommenheißung ist die tiefste Ent­
sprechung, die einem Subjekt widerfahren kann. Gewiß läßt
sich das Sirenenlied aus dem zwölften Gesang der Odyssee
5ï 6 Kapitel 7

auch als Begrüßungshymnus hören. Das Lied vom Helden


bedeutet eben nur - ohne daß der Hörer recht wüßte, wie
ihm geschieht - schon eine Willkommenheißung im Jenseits,
denn die fabelhaften Sirenen sind, wie die Alten wußten, der
anderen Seite zugehörig. Ihr Gesang schließt die Akte eines
Heldenlebens mit dem Vermerk: besungen und vollendet.
Doch während die homerischen Sängerinnen den Männern
unwiderstehliche Einladungen zur Vollendung ins O hr träu­
feln, übermitteln die guten Mutterstimmen den Zeugen in ih­
rem Leib die Einladung, mit einem eigenen Dasein lebhaft zu
beginnen. Die Merkwürdigkeit des Sirenen-Effekts ist also,
daß er eine Art von evangelischer Intimität stiftet; er erzeugt
eine frohe Botschaft, die der N atur der Sache nach nur von
einem oder zweien211 vernommen werden kann.
Nehmen wir diesen audiovokalen Intim-Akt zum Krite­
rium, so hat auch die christliche Evangelisation in mehrfa­
cher Hinsicht am Sirenen-Effekt Anteil: Durch den Engels­
gruß wird die Mutter des außerordentlichen Kindes
verpflichtet, sich auf das Kommende in der höchsten seeli­
schen Frequenz zu freuen. Von der mystischen Predigt wird
der Einzelne aufgefordert, mit dem göttlichen Funken
schwanger zu werden und den Sohn in sich selbst zu gebä­
ren. Und insgesamt hat die christliche Botschaft in ihren
vitalen Funktionen die Höherstimmung des bedrückten
Lebens zum Inhalt: evangelizo vobis gaudium magnum. Das
Christentum als Kulturmacht hat sich dadurch ausgezeich­
net, daß es ihm immer wieder gelang, eine Balance zwischen
der individualisierenden und der gemeinschaftsbildenden
Wirkungskomponente evangelischer Kommunikation zu
finden, man könnte auch sagen einen Ausgleich zwischen
Muse und Sirene. Während die sirenische Religiosität inti-
mistische und mystische Tendenzen freisetzt, in prekären
211 Vgl. oben die Rede des O dysseus an die G efährten über die R at­
schläge der weisen Kirke: »Diese herrliche Kunde ist nicht nur für
zwei oder einen.«
Das Sirenen-Stadium
HZ
Fällen auch Sektenzauber und Himmelfahrtswahnsinn, so
bewirkt die musische religio gemeindliche Integrationen und
volkskirchliche Kohärenz, im gefährlichen Extrem aber
auch Massenpsychosen und aggressive Auserwählungsof­
fensiven.
Schenkt man den Ergebnisen der jüngsten psychoakusti-
schen Forschung Glauben, so empfängt der Fötus im Mut­
terleib eine schicksalhafte akustische Taufe. Diese geschieht
nicht so sehr durch das faktische Eingetauchtsein in den in­
trauterinen Jordan, sondern durch das Tauchen in dem ex­
quisiten Klang, der hörbar wird, wenn die Mutterstimme auf
ihren Begrüßungsfrequenzen zu dem ankommenden Leben
spricht. Taufen und begrüßen sind miteinander identisch; sie
prägen dem willkommen geheißenen Wesen das unauslösch­
liche Siegel auf. Mit seiner Einprägung beginnt die wenig un­
tersuchte Geschichte der affektiven Urteilskraft: Sie ist das
Vermögen, Gesamtumstände auf atmosphärische Tönungen
hin auszulegen. Durch sein Hinhören-Können ist das fötale
O hr imstande, aus dem permanenten intrauterinen Lärm die
bejahende Mutterstimme selektiv hervorzuheben. In dieser
Geste erfährt das werdende Subjekt eine euphorisierende Sti­
mulierung; es sind nach Tornatis insbesondere die Obertöne
des mütterlichen Soprans, die dem O hr einen unwiderstehli­
chen Glücksreiz Zuspielen. Um diese Thesen plausibel zu
machen, hat Tomatis den Mutterkörper insgesamt als ein
Musikinstrument interpretiert: freilich eines, das nicht dazu
dient, einem Hörer ein Stück vorzuspielen, sondern das die
ursprüngliche Stimmung des Gehörs bewirkt. Die Möglich­
keit einer Übertragung hoher und höchster Frequenzen in
dem schallschluckenden weichen Leibesmilieu wird Tomatis
zufolge gewährleistet durch die ungewöhnliche Leitfähigkeit
und Resonanzqualität des Knochengerüstes; vor allem das
Becken der Mutter soll imstande sein, wie ein Celloboden die
feinsten hochfrequenten Schwingungen der Mutterstimme
bis zu dem Kinderohr zu übermitteln. Dieses lauscht am
5 ï 8 K a p ite l 7

Beckenboden und an der Wirbelsäule der Mutter wie ein


neugieriger Besucher an einer Tür, hinter der er beglückende
Geheimnisse vermutet. Was der kleine Gast noch nicht wis­
sen kann, ist, daß dieses Lauschen sich selbst belohnt und
daß es vergeblich wäre, auf die andere Seite kommen zu wol­
len. Die Vorfreude enthält schon die Fülle des Erfreulichen.
Offenkundig hat die aktuelle psychoakustische For­
schung den volkstümlichen Überlieferungen über die Prä­
gungswirkungen von Erlebnissen werdender Mütter auf das
Ungeborene neue Aktualität verliehen und sie durch den
Hinweis auf den spezifischen Übertragungskanal, nämlich
den auditiven Kontakt, physiologisch konkretisiert. Zu blei­
benden Prägungen durch das O hr kann es freilich nur kom­
men, wenn schon in der fötalen Phase beim Kind ein neuro­
logischer Apparat vorhanden ist, der es erlaubt, akustische
Engramme aufzuzeichnen und festzuhalten. Solche neuralen
»Eingravierungen« oder Imprintings würden dann - gleich­
sam wie erworbene akustische Universalien - alles Später­
zuhörende vorstrukturieren; sie fungierten folglich wie ef­
fektive platonische Ideen des Gehörs. Durch prä-natale
Auditionen würde das O hr mit einem Schatz an himm­
lischen akustischen Vorurteilen ausgestattet, die ihm bei sei­
ner späteren Arbeit im Geräuschkessel der Wirklichkeit die
Orientierung und vor allem die Selektion erleichtern. Das
wunderbar voreingenommene O hr wäre so imstande, in der
größten Entfernung vom Ursprung seine Urmuster wieder­
zuerkennen: Auch beim Hören wäre folglich Erinnerung
alles. Und wie Platon in seinem Diskurs über die Wirkungen
des schönen Gesichts von qualvollen Unruhen und Hitze­
wallungen spricht und von der Neigung des Liebhabers, dem
Geliebten wie einem Gott zu opfern,212 so sprechen die
neuen Audio-Psycho-Phonologen von den erschütternden
Wirkungen der präparierten Mutterstimmen (unter dem
212 Vgl. oben 2. Kapitel, Zwischen Gesichtern. Zum Auftauchen der
interfazialen Intim sphäre, S. 144 f.
Das Sirenen-Stadium 5 1?

elektronischen Ohr) auf ihre Patienten. Diese erleben fast


ausnahmslos, und ziemlich unabhängig von ihrem Lebens­
alter, plötzliche Exkursionen in prä-natale Zustände und
vollziehen eine umwälzende Besinnung auf ihr ursprüngli­
ches Talent, in Integrität, Verbundenheit und Willkommen-
heit zu existieren. Alfred Tornatis hat mit seiner platonischen
Akustik einen Erinnerungsapparat konstruiert, der die Seele
an ihre Zustände am überhimmlischen O rt wiederanknüpfen
läßt - dem ersten Anschein nach zuverlässiger und wir­
kungsvoller als jede philosophische Anamnese. In akusti­
schen Tiefenregressionen verschafft er den Ohren von Ver­
härteten, Fixierten und Unglücklichen eine Audienz bei der
ursprünglichen Stimme.
Hierbei zeigt sich, daß Menschen ausnahmslos aus einem
vokalen Matriarchat hervorgehen: In dem hat der Sirenen-
Effekt seinen psychologischen Grund. Aber während bei
Homer die Sirenen süße Nachrufe hervorbringen, ist die
mütterliche Sirenenstimme antizipierend: sie weissagt dem
Kind ein klingendes Fatum. Im Hinhören auf sie begibt sich
der fötale Held auf seine eigene Odyssee.213 Die unersetz­
liche Stimme spricht eine unmittelbar sich selbst wahrma­
chende Prophezeiung aus: Du bist willkommen, du bist nicht
willkommen. So wird die Stimmfrequenz der Mütter zu ei­
nem an den Anfang des Lebens zurückversetzten Jüngsten
Gericht. Tatsächlich begrüßen die Mütter, wen sie wollen,
und ihr Wille, zu begrüßen, ist nicht unter allen Umständen
gesichert, selten jedoch verweigern sie die Willkommenhei-
ßung völlig. Insofern ist das Jüngste Gericht des Anfangs
milder als das des Endes - auch weil es eine zweite Instanz,
eine therapeutische, kennt.
Augustinus hatte mit großer psychologischer und logi­
scher Folgerichtigkeit die Chancen der gefallenen Seele, beim
letzten Urteilsspruch zu Gott zurückgerufen zu werden, als
213 Vgl. Alfred Tomatis, Klangwelt M utterleib. Die Anfänge der K om ­
m unikation zwischen M utter und Kind, M ünchen 1994, S. 179.
520 K a p ite l 7

sehr prekär beurteilt; seine Eschatologie schildert eine göttli­


che Ökonomie, in der nur die Wenigen aufgespart werden
und heimkehren, während die meisten verlorengehen - ein­
gebunden in den umfassenden Klumpen des Verderbens
(massa perditionis). In dem bleiben die dunklen Mehrheiten
befangen, die von ihrer zweiten Chance, dem Evangelium
der wahren Religion, keinen guten Gebrauch zu machen
wußten. Ihnen wird die Fixierung in ihrer gottfernen Eigen­
hölle als letzter Dauerzustand in Aussicht gestellt. Die tie­
fenpsychologische Protoakustik entwickelt eine etwas ver­
söhnlichere Lehre, indem sie das Endurteil umformuliert in
ein Anfangsurteil über jedes einzelne Leben: das Vorurteil
der initialen Stimmung. Dieses Urteil kann jetzt mit psycho-
phonologischen Methoden revidiert werden. Im therapeuti­
schen Revisionsprozeß bestehen gute Aussichten auf eine
akustische Wiedergeburt - vorausgesetzt, es gelingt, die
Mütter verstörter Individuen zu bewegen, ihre Stimmen mit
einer nachträglichen Liebesbotschaft an das Kind aufzeich­
nen und dem intrauterinen Milieu entsprechend transformie­
ren zu lassen. Wenn die Berichte über die Wirkungen des
Verfahrens nicht trügen, so können seine Effekte außeror­
dentlich sein. Sie bewirken nicht selten fast magische Rück­
führungen in verschollene Lebensanfänge. Für Unzählige
scheint auf dem Weg solcher akustischer Immersionen ein
zweiter Zugang zum guten Leben freigeworden zu sein. Die
psycho-phonologischen Manipulationen stellen der Sache
nach erste Schritte in Richtung auf ein theotechnisches Ver­
fahren dar; sie spielen die zweite Phase der Erschaffung
Adams: die pneumatische Belebung, mit den Mitteln der
avanciertesten audiophonen Technologie nach; sie reinsze-
nieren die erste Liebe im virtuellen Raum.
Auf diese Weise etabliert sich die Psychoakustik als Tech­
nik der ersten Dinge. Sie definiert den Prototypus der radikal
transformativen, immersiven und regenerativen Psychothe­
rapie, die in unserer Zeit die entkräftete Erlösungsreligion
Das Sirenen-Stadium 521

ersetzen muß. Die audiophone Psychotechnik hebt die spe­


zifische Differenz zwischen Protomusikalität und Proto-
religiosität auf. Wer in diesen Bereich vordringt, kann nicht
mehr - wie Max Weber so prägnant von sich bekannte - reli­
giös unmusikalisch sein. Hier genügt es, die hohen Klänge,
die dein Leben willkommen heißen, zu hören, um beides zu
werden, religiös und musikalisch, und beides in der freiesten
und beweglichsten Form. Zugleich wird durch audiovokale
Technik die Grenze zwischen Seele und Maschine aufgeho­
ben. Wie schon bei manchen Formen traditioneller Musik er­
weist sich auch die intime therapeutische Rührung als etwas,
was bis zu einem gewissen Grade herstellbar ist. Der innerste
Ring der Nähe-Techniken gehört, mehr noch als der mesme-
ristischen Kur und der Hypnose, den psycho-akustischen,
neuro-musikalischen und neurolinguistischen Verfahren.

Bei unseren Versuchen, den Grund der Erreichbarkeit von


Individuen für die Botschaften von ihresgleichen aufzudek-
ken, haben wir nun den Bezirk der subtilsten Resonanzspiele
berührt. Was wir in der Sprache unvordenklicher Traditio­
nen Seele nennen, ist in seinem empfindlichsten Kernbereich
ein Resonanzsystem, das in der audiovokalen Kommunion
der prä-natalen Mutter-Kind-Sphäre eingespielt wird. Hier
beginnt im buchstäblichen Sinn des Menschen Hörigkeit als
Hellhörigkeit und Schwerhörigkeit. Die Erreichbarkeit von
Menschen für Intimappelle hat ihren Ursprung in der Syn­
chronie zwischen Begrüßung und Hinhören; dieses Aufein­
anderzu bildet die intimste Seelenblase. Wenn die werdende
Mutter nach innen redet, betritt sie die Urszene für die freie
Kommunion mit dem innigen Anderen. Bei einer hinrei­
chend guten Begrüßung filtert das fötale O hr aus dem müt­
terlichen Milieu ein genügendes Maß an hohen belebenden
Frequenzen heraus: Es reckt sich diesen Klängen entgegen
und erlebt im guten Hörenkönnen die Lust, sich auf dem
aufsteigenden Ast des Seinkönnens überhaupt zu fühlen. Da­
522 Kapitel 7

bei wird wie von selbst die ursprüngliche Einheit von Wach­
heit, Selbstregung, Intentionalität und Vorfreude eingeübt.
In dieser Vierfaltigkeit breiten sich die ersten Blütenblätter
der Subjektivität auseinander. Und das glückliche Unterwas­
serohr läßt sich nichts nur zweimal sagen; wenn es der ge­
liebten Stimme glauben soll, muß diese ihre Botschaft hun­
dertmal wiederholen, doch die Wiederholungen fallen der
hinreichend guten Mutter so leicht, wie es dem hinreichend
angesprochenen Fötalgehör ein leichtes ist, sich immer wie­
der neu aufhorchend auf die wiederkehrende Vibration ein­
zuspielen, als hörte sie es zum ersten Mal. Es merkt die Ab­
sicht und ist erheitert. Hier ist die Wiederholung der Nerv
des Glücks. Das Glitzern in der Stimme der Mutter bereitet,
lange bevor es in ihrem Auge wiederkehrt, das Kind vor für
seinen Empfang bei der Welt; nur im Hinhören auf die intim­
ste Begrüßung kann es sich einstimmen auf den unübertreff­
lichen Vorteil, es selbst zu sein.
Intimität ist also in ihrer frühesten Übung ein Weitergabe-
Verhältnis. Ihr Modell wird nicht abgelesen vom symmetri­
schen Bündnis zwischen Zwillingen oder Gleichgesinnten,
die sich ineinander spiegeln, sondern von der unaufhebbar
asymmetrischen Kommunion zwischen Mutterstimme und
Fötalohr. Sie ist der unbedingte Ernstfall von Begegnung,
aber in ihr kommen die Zwei nicht jeweils aus ihren eigenen
Räumen oder Situationen aufeinander zu, sondern die M ut­
ter ist die Situation des Kindes, und die kindliche Situation ist
in der mütterlichen eingeschachtelt. Die akustische Kommu­
nion verleiht der primordialen Begegnung ihren Sitz im
Wirklichen. Zwischen dieser Stimme und diesem O hr gibt es
nichts, was einer Spiegelung gleichkäme, und doch sind beide
in sphärischer Union unauflösbar aufeinander bezogen. In
realer Verschiedenheit sind sie real miteinander geeint. Die
Stimme redet nicht zu sich selbst, und das O hr ist nicht ins
Hören von Eigenlauten verkrochen. Beide sind immer schon
außer-sich-bei-sich: die begrüßende Stimme in der Hinwen-
Das Sirenen-Stadium 523
dung zum intimen Mithörer, das fötale O hr im Hinhorchen
auf den euphorisierenden Klang. Es gibt in diesem Verhältnis
keine narzißtische Spur, kein unrechtmäßiges Genießen sei­
ner selbst durch trügerische Kurzschlüsse im Selbstbezug.
Was dieses ungewöhnliche Verhältnis auszeichnet, ist eine
fast schrankenlose Auslieferung des einen ans andere und die
fast fugenlose Verschränkung der beiden Regungsquellen in­
einander. Dies ist, als ob Stimme und O hr in einem gemein­
samen sonoren Plasma aufgelöst wären - die Stimme ganz
auf Lockung, Begrüßung und herzliche Umhüllung ge­
stimmt, das O hr ganz mobilisiert zum Entgegenkommen
und zum auflebenden Hineinschmelzen in den Klang.

In diesen Beobachtungen kann, wenn man sichs recht über­


legt, nichts wirklich Neues zur Sprache kommen, weil sie
Grundverhältnisse aussprechen, die immer in irgendwelchen
Vorstellungen schon gewußt und betreut werden müssen.
Was als Novum hinzutritt, kann in diesen Dingen nie etwas
anderes sein als die knisternde, vielleicht dämonische Expli-
zitheit der Darstellung. Man muß hier, wenn die theoretische
Entfaltung wirksam sein soll, das Geschenkpapier rascheln
hören, in dem etwas Fast-Bekanntes und auch fast Vergesse­
nes dem Besitzer wie etwas Neues noch einmal überreicht
wird. Es ist dies das typische Begleitgeräusch der Geschenke,
die die Phänomenologie zu machen hat, denn phänomenolo­
gisch schenken heißt nichts Neues ganz neu geben. Selbst­
verständlich haben von alters her Hebammen, Mütter und
große Mütter diesen Erkenntnisbezirk mit richtigen Intui­
tionen umhegt, und erst durch die siegreichen individualisti­
schen Abstraktionen der letzten Jahrhunderte ist die Sphäre
der fötalen Kommunionen für das Gefühl wie für das Mit­
wissen der Individuen mehr und mehr ferngerückt worden.
Wir haben oben im dritten Kapitel über die Sozialgeschichte
neuerer Nähe-Praktiken, insbesondere über den Mesmeris­
mus und animalischen Magnetismus, eine markante Welle
524 Kapitel 7

von jüngeren Intimitäts-Techniken in Umrissen charakteri­


siert, deren Ausläufer bis heute virulent sind, und es ergab
sich Gelegenheit, darzustellen, wie die hellsichtigsten Auto­
ren dieser Bewegung die Eigenart des magnetischen Rap­
ports als direkte Nachbildung und Reaktivierung der fötalen
Position interpretierten. Es waren vor allem Friedrich Hufe­
land und Hegel, die es in diesem Punkt zur höchsten Aus­
drücklichkeit gebracht haben. Nicht nur konzipierten sie
den Fötus als eine Pflanze, die in einem Tier heranwächst, ei­
ner eigenen Animalität und Spiritualität entgegenstrebend;
sie verstanden das werdende Subjekt mehr noch als eine Art
von bildbarem Psychoplasma, in das heftige mütterliche
Vorstellungen ihren Stempel einzugravieren fähig sind.
Gleichwohl ist die klassische Stelle für die neuzeitliche
Theorie der psychoplastischen Wirkungen durch die Mutter
auf den Fötus schon mehr als hundert Jahre älter als der Psy-
chomagnetismus und seine Reflexion im Deutschen Idealis­
mus; sie findet sich bereits in Nicole Malebranches Recher­
che de la vérité von 1674. In seiner ungewöhnlich radikalen
Theorie der Einbildungskraft, imagination, entwickelt der
Autor eine resolut mediale Theorie der Mutterschaft, die sich
durch die Möglichkeit eines intrauterinen Fernsehens und
Fernfühlens auszeichnet. Der Oratorianermönch und Psy­
chologe Malebranche konzipiert Mutterschöße als Projekto­
ren, durch die hindurch gute oder schlechte Bilder - gleich­
sam wie Ur-Vorurteile über die Außenwelt - auf die weiche
Matrix der Kinderseele geworfen werden.
»Die Kinder also sehen, was die Mutter sieht... Der
Körper des Kindes ist mit dem Körper der Mutter der­
selbe, sie haben beide das Blut und die Lebensgeister
gemein... Ungefähr vor sieben oder acht Jahren lebte
in dem Hospital Aux Incurables zu Paris ein junger
Mensch, der von Jugend auf irre war und dessen Kör­
per an den Orten gerade zerbrochen war, an denen
man die Missetäter zu rädern pflegt. In diesem Zu-
Das Sirenen-Stadium S25
stande lebte er an die zwanzig Jahre; viele Leute sahen
ihn, sogar die verstorbene Königin-Mutter ging zu
ihm, berührte seine Arme und Schenkel da, wo sie zer­
brochen waren.
Nach den eben vorgetragenen Grundsätzen war die
Ursache hiervon die, dass die Mutter des Unglück­
lichen, mit dem sie eben schwanger ging, einen Misse­
täter rädern sah. Alle Schläge, welche er bekam, trafen
mit nicht weniger Gewalt die Einbildungskraft der
Mutter und durch eine Art von Mitempfindung das
feine Gehirn ihrer Leibesfrucht - die Fibern im Gehirn
dieser Frau wurden ausserordentlich erschüttert, viel­
leicht durch den ausserordentlichen Lauf der Lebens­
geister bei einer so fürchterlichen Handlung an einigen
Orten gebrochen, sie hatten aber doch Festigkeit ge­
nug, die völlige Zerstörung ihres Baues abzuhalten.
Hingegen die Fibern im Gehirn der Frucht vermoch­
ten einem so wütenden Sturme der Lebensgeister nicht
zu widerstehen, sie wurden ganz auseinandergerissen,
und diese Verwüstung war so gross, dass darüber
ihr Verstand geschwächt und sie folglich ihrer Sinne
beraubt das Tageslicht erblickte. N un müssen wir auch
die Ursache aufsuchen, warum gerade diejenigen
Gliedmaßen gebrochen waren, an denen ihre Mutter
den Missetäter rädern sah.
Beim Anblicke dieser einem Frauenzimmer so
schrecklichen Hinrichtung ergossen sich bei der Mut­
ter und folglich auch bei ihrer Frucht die Lebensgeister
mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit in die Teile, an
denen jener gequält wurde. Da aber die Knochen der
Mutter ihrer Gewalt widerstehen konnten, wurden sie
auch nicht zerbrochen... Die weichen und feinen Teile
in den Knochen der Frucht wurden von dem unauf­
haltsamen Lauf jener Geister zerbrochen...
Es ist noch nicht ein Jahr, als eine Frau, die bei der öf-
526 Kapitel 7

fentlichen Feier der Kanonisation des heiligen Pius


sein Bildnis zu scharf ansah und hernach mit einem
Kinde niederkam, welches diesem Heiligen vollkom­
men glich... Seine Arme waren auf der Brust kreuz­
weise übereinandergelegt, seine Augen gen Himmel
gewandt... Sogar schien auf den Schultern eine zu­
rückhängende Art von Mitra zu sein, an dem Orte, wo
dergleichen Bischofsmützen mit Edelsteinen verziert
zu sein pflegen, waren runde Flecke... Ganz Paris und
auch ich selbst haben sich von der Wahrheit dessen
überzeugt. Denn man hat es sehr lange in Spiritus auf­
bewahrt.«214
Diese Auszüge aus Malebranches Darlegungen machen
deutlich, in welchem Ausmaß die prä-natalistischen Refle­
xionen schon der frühen Neuzeit von optischen Modellen
voreingenommen waren. Die bizarre Idee, daß Schreckens-
bilder aus der Mutterseele auf den Kinderkörper durchge­
paust werden, beweist, daß die intime Kommunion zwischen
Mutter und Kind vorwiegend zeichnerisch oder eidetisch ge­
dacht wurde. Hier wird die schaffende Natur als eine Gra­
phikerin vorgestellt, die durch Mütter hindurch, über die
Vermittlung von aktiven Lebensgeistern, Umrißzeichnun­
gen von pathologischen außenweltlichen Objekten und Sze­
nen ins fötale Plasma einzuprägen vermag.
Daß es jedoch neben dieser Einbildungskraft zugleich eine
konstitutive Einhörungskraft gibt, die für die Eingemein­
dung des Kindes in die Welt eine noch größere, ja die ent­
scheidende Rolle spielt: Diesen Gedanken haben unseres
Wissens zuerst Psychologen und Otologen des 20. Jahrhun­
derts ernsthaft entwickelt, und dies nicht zufällig zumeist in
Absetzung von den Dogmen der Zürcher und Wiener Psy­
choanalysen, die mit ihrer Imago-Orientierung, und deren

214 N icole Malebranche, Erforschung der W ahrheit, hg. v. A rtur Bu­


chenau, Erster Band, M ünchen 1914, S. 197 und 200-203.
Das Sirenen-Stadium 527

Anita Glatzer, Pulcherrima, aus: Human Time Anatomy. Aufgenommen im


pathologisch-anatomischen Bundesmuseum Wien

Fortschreibung in der Theorie der inneren Objekte und der


Archetypenlehre, den herrschenden optischen Vorurteilen
ihres Milieus unkritisch Tribut gezollt haben. Die Vertreter
des Primats der Einhörungskraft können sich auf eindrucks­
volle evolutionäre Evidenzen berufen, die dem O hr eine
Schlüsselrolle bei der Ausbildung höherer Organisationsfor­
men von Leben überhaupt zusprechen. Schon bei den Sing­
vögeln treten Spuren von auditiver Prägbarkeit in ovo auf:
5i 8 Kapitel 7

VP Y b<^v>, «a i i-vv VI , I '"K d \ t S ch^ , <? 4 •»

J? Te ocj1e b t « . 2*»“

Experimente haben gezeigt, daß das Junge im Ei eine artspe­


zifische Musikerziehung durch den Gesang der Mutter ge­
nießt; von stummen Müttern bebrütete Jungvögel erweisen
sich als stimmlich unsicher oder tonlos; von artfremden sin­
genden Müttern ausgebrütete Junge zeigen die Tendenz, die
Melodien der anderen Art zu adoptieren. Wer Platon natura­
lisieren wollte und Belege für eine prä-natale Information
der »Seele« sucht, findet in solchen Beobachtungen die sug­
gestivsten Argumentationshilfen. Erst recht bestätigen die
prä-natalen Gehörsverhältnisse bei Säugetieren diesen Be­
fund; hier geht die Bindung zwischen fötalem O hr und Mut-
Das Sirenen-Stadium 52 9

C y \-C n e. ow e*C o *•{ ç ,

— * l ' L+ 1vv*\ t^vUUI ’l’V**"' <?£*<, ^ Pv-l w tv c? f* £ vt W CJ


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no" f i n n - e . "f"roic^1''f-io> e-lL »> -_ -S v ^ e -L » iv

terstimme bis zur eindeutigen Individualisierung weiter;


nach Mitteilungen von Evolutionsbiologen sind neugebo­
rene Ferkel oder Zicklein von Anfang an imstande, die M ut­
terstimme aus Tausenden ähnlicher Stimmen mit größter Si­
cherheit herauszuhören - eine Prägungsleistung, die sich nur
durch eine Art von prä-natalem tuning erklären läßt. Beim
Menschen ist der Prozeß symbiotischer Feinabstimmungen
in audiovokalen Resonanzraum noch höher differenziert
und umfaßt emotionale Tonarten, sprechgesangliche Ak­
zente, Typen des sonoren Milieus und vor allem individuelle
Frequenzen der Willkommenheißung. Beim Sich-Einhören
53° Kapitel 7

in den klingenden Raum, der später den Namen Mutter an­


nehmen wird, entwickelt das menschliche Fötalgehör die
entscheidenden Ansätze zur motorisch-musikalischen Sub­
jektivität. Durch Kammermusik kommen Menschen zur
Welt; in ihr nur lernen sie, daß Hinhören auf die andere
Stimme die Voraussetzung dafür ist, selber etwas zu spielen
zu haben. Daher ist vom Menschen zu sagen, daß sein Welt­
aufenthalt wie bei keinem anderen Lebewesen bestimmt ist
von der Notwendigkeit, sich in einem psychoakustischen -
allgemeiner: in einem semiosphärischen - Kontinuum zu
halten und zu entfalten.
Wie wir im Gang unserer Überlegungen vielfach behaup­
tet und gezeigt haben, sind Menschen von Anfang an Sphä­
renbewohner und in diesem spezifischen Sinne Lebewesen,
die auf Innenweltteilung hin angelegt sind. N un sind wir im­
stande, das Zentralgespinst dieser konstitutiven Innenhaftig-
keit, die Mitwirkung an der Hervorbringung eines intimisie-
renden Klangphänomens, näher zu charakterisieren. Es ist
die konstitutive Hörgemeinschaft, die Menschen in die unge­
genständlichen Ringe gegenseitiger Erreichbarkeit füreinan­
der einschließt. Im O hr besitzen Intimität und Öffentlich­
keit ihr verbindendes Organ. Was auch immer sich als
soziales Leben präsentieren mag, es bildet sich zunächst nur
in der spezifischen Weite einer akustischen Glocke über der
Gruppe - einer Glocke, deren sonore Präsenzen, insbeson­
dere in den europäischen Kulturen, der Verschriftung fähig
sind. N ur in der sozialen Sonosphäre kann Kammermusik in
Chorpolitik übergehen; nur hier, im gesprochenen Strom, ist
der Mutter-Kind-Raum an die Bühnen der Erwachsenen­
mythen und die Arena des politischem Streits um das Rich­
tige angeschlossen. In einem Synergiebereich aus naturge­
schichtlichen und symbolgeschichtlichen Prägungen sind
Menschenohren zu den führenden Agenturen ethnischer
Assoziationen aufgestiegen. N ur aufgrund der erregenden
Höchstentwicklung des Gehörs ist menschliche Existenz als
Das Sirenen-Stadium 531
Aufenthalt in einem sonosphärischen Treibhaus möglich ge­
worden. Auch wenn die natürlichen Sprachen sich zu Laut­
systemen ohne jeden Anspruch auf Referenz und Bedeutung
entwickelt hätten - wenn also nur Chöre, keine Arbeitsge­
meinschaften existierten -, wären die Menschen in allen fun­
damentalen Hinsichten genau dieselben, die sie jetzt sind -
die Arbeiter-Autismen abgerechnet. Im wandlosen Haus der
Töne sind die Menschen zu den Tieren geworden, die sich
zusammenhören.215 Sie sind, was auch immer sie ansonsten
noch sein mögen, sonosphärische Kommunarden.

215 Ü ber die Motive »Wand« und »Wandlosigkeit« siehe Sphären II,
2. Kapitel, G efäß-Erinnerungen. Ü ber den G rund der Solidarität in
der inklusiven Form.
532

Exkurs 8

Analphabetenwahrheiten
N otiz über oralen Fundamentalismus

s gibt in der europäischen Geistesgeschichte eine aparte


E und nicht ganz ohnmächtige Tradition, nach welcher
Wahrheit etwas ist, was sich nicht durch das Sagen und erst
recht nicht durch das Schreiben, sondern nur durch das
Singen artikulieren läßt, am meisten aber durch das Essen.
Bei diesem Konzept von Wahrheit geht es nicht um die Dar­
stellung oder Vorstellung einer Sache in einem anderen Me­
dium, sondern um die Einverleibung oder Integration einer
Sache in eine andere Sache. Offenkundig stoßen hier zwei
radikal verschiedene Modelle von wahrheitsermöglichender
Adäquation aufeinander: Während bei der allgemein be­
achteten und geachteten Darstellungswahrheit von einer
Angleichung zwischen Intellekt und Ding oder Satz und
Sachverhalt die Rede ist, zielt die eher mißachtete Einverlei­
bungswahrheit auf die Angleichung des Inhalts an den Be­
hälter oder des Verzehrers an das Verzehrte. Oft genug haben
uns Semiotiker und Theologen mit ihren entsprechenden
Beispielen zermürbt: Der Satz, es regnet jetzt, ist, wie wir ge­
hört haben, genau dann und nur dann wahr, wenn es tatsäch­
lich Grund gibt zu der Feststellung, daß es eben jetzt regnet;
hingegen ist mein Hören von Musik wohl genau dann ein
wahres Hören, wenn ich in Gegenwart dieses Stücks selbst
musikförmig werde; und mein Essen der Hostie wiederum
ist dann und nur dann heilsproduktiv, wenn ich durch das
Verschlucken der Opfergabe selbst christusförmig werde.
Mit dem Modus von Adäquation der beiden letzten Beispiele
hat es offenbar eine besondere Bewandtnis. Es liegt auf der
Hand, daß wir es hier nicht nur mit verschiedenen Wahr-
Analphabetenwahrheiten 533
heits- und Entsprechungskonzepten zu tun haben, sondern
daß auch völlig unvergleichbare Dimensionen von Angemes­
senheit und Genau-sein-können ins Spiel kommen. Wenn
für die Darstellungswahrheiten meistens hinreichend präzise
angegeben werden kann, wann die Voraussetzungen ihres
Zutreffens vorliegen, läßt sich für die Einverleibungswahr­
heiten nie ganz präzise sagen, von welchem Moment an sie
als vollzogen gelten sollen. Die Entsprechungen, die durch
Einverleibungen entstehen, sind konstitutiv vage, aber diese
Vagheit wäre nicht als ein Mangel zu verstehen, sondern
macht die besondere Seinsweise und Chance dieses Wahr­
heitsfeldes aus. Vielleicht darf ich unbeanstandet sagen, daß
dieser Ärmel, wenn und weil er paßt, ein wahres Gegenstück
zu diesem Arm sei. Aber ich könnte nicht, ohne Wider­
spruch zu ernten, feststellen, wo der Hörer ist, wenn er in
den Ereignisraum eines gegenwärtigen Musikstücks ein­
taucht oder wo der Christus ist, wenn die Hostie im Schlund
des Kommunikanten verschwindet.
Etwas in sich aufnehmen und sich in etwas aufnehmen las­
sen: mit diesen beiden Gesten sichern sich die Menschen das,
was man ihre partizipative Kompetenz nennen kann. Durch
Verzehren nehmen sie Speisen und Getränke auf, und durch
Platznehmen in einer Runde von Verzehrern machen sie ihre
Aufnahme in eine Tischgemeinschaft sichtbar. Der nicht­
wahnsinnige, nicht-perverse Mensch besitzt Urteilskraft
nicht zuletzt aufgrund der Fähigkeit, zu unterscheiden,
woran er als Aufnehmender und woran er als Aufgenomme­
ner teilhat. Wenn er nicht ganz die Vernunft, das heißt den
Sinn für Entsprechung, verloren hat, weiß er immer genau
genug, wann er Gefäß ist und wann Inhalt; wann er ver­
braucht und wann er selbst das Verbrauchte ist. Alle orale
Wahrheit, könnte man sagen, beruht auf der Unterscheidung
der Tische. Man muß, um ein hinreichend vollständiger
Mensch zu werden, lernen, an welchen Tischen wir die Es­
senden sind und an welchen Tischen wir zu den Gegessenen
534 Exkurs 8

werden. Die Tische, an denen wir essen, heißen Speisetafeln;


die Tische, an denen wir gegessen werden, heißen Altäre.
Aber sind wir als menschliche Wesen überhaupt direkt altar­
fähig? Ist es möglich und zulässig, Menschen zu beschreiben
unter dem Aspekt ihrer Eignung, auf den Tisch zu kommen?
Es ist das Axiom aller Kultur, daß kommunizierende Men­
schen an den Tisch kommen, aber nicht auf ihn. Der Mensch,
der legitimerweise auf den Tisch käme, wäre - im christlichen
Horizont gesprochen - nicht mehr Mensch, sondern der
Gottmensch, der sich durch orale Kommunion in uns verge­
genwärtigen und uns in seinen imaginären Leib integrieren
will; und der hierfür bereitete Tisch wäre eben nicht mehr die
profane Tafel, sondern der Altar - das heißt der Tisch des
Herrn, auf dem serviert werden darf, was sich von uns ver­
zehren läßt in dem Bewußtsein, daß es an anderer Stelle uns
verzehren oder ausspeien wird. Der andere Tisch gehört al­
lein dem Gott, der ohne Einschränkung gibt und nimmt. Der
eßbare Gott ist der Gründer der Tischgemeinschaft als der
wahren Kommune, deren Mitglieder sich auf die Exophagie
geeinigt haben. N ur durch den Verzicht auf endophagische
Beziehungen erkennen Menschen sich untereinander als ih­
resgleichen an. Gleich sind in der wahren Gemeinschaft alle
in letzter Instanz nur vor dem Gesetz, sich nicht gegenseitig
als Nahrungsmittel in Betracht zu ziehen. Und wenn wir
schon Fleisch essen, dann soll es unter allen Umständen
Fremdfleisch sein, zum einen das von erlaubten Tieren, die
uns als profane Gruppe ernähren, zum anderen das des wah­
ren Gottes, der uns als heilige Gruppe vereint.
Das Feld der Einverleibungswahrheiten ist für die Kon­
struktion der menschlichen Vernunft deswegen von grundle­
gender Bedeutung, weil gerade auf ihm der lebenswichtige
Unterschied zwischen Wahr und Falsch in Kraft gesetzt
wird. Wie im Feld der Darstellungswahrheiten bringt auch
hier - und hier vor allem - das Falsche in letzter Instanz den
Tod; hingegen darf als das Wahre gelten, was Leben ermög­
Analphabetenwahrheiten 535
licht und erweitert. Wer Gift in sich aufnimmt, wird daran
sterben, und ebenso wer ins Innere des falschen Wals gerät.
Deswegen darf selbst in einer extrem an Darstellungswahr­
heit orientierten Kultur wie der modernen das Bewußtsein
von den einverleibenden oder partizipativen Verhältnissen
und ihren Wahrheits- und Irrtumswerten unter keinen Um­
ständen verwahrlosen. Es gibt Grund zu der Feststellung,
daß die Kritik der Einverleibungsverhältnisse heute wie nie
zuvor im argen liegt; zumal die Philosophie, die hierfür tra­
ditionell kompetent war, leistet sich auf diesem Feld, zieht
man die Bilanz der letzten zwei Jahrhunderte, eine Ahnungs­
losigkeit, die kulturgeschichtlich ohne Beispiel ist, und wä­
ren nicht psychologische und mythenkritische Disziplinen
im Laufe des 20. Jahrhundert als Statthalter in die Lücke ge­
treten, so wäre das Aufgabengebiet einer philosophischen
Kritik der partizipativen Vernunft noch mehr verwildert, als
es sich jetzt darstellt. Die Formel »partizipative Vernunft«
impliziert die These, daß es angemessene und unangemes­
sene Partizipationen gibt, die sich wie Wahr und Falsch zu­
einander verhalten. Auch die angemessenen oder vernünfti­
gen Formen von Teilhabe sind aber nicht nur als freiwillige
Mitgliedschaften in öffentlichen Projekten vorzustellen,
sondern mehr noch als Einbezogensein in zehrende Kom­
munionen - und zwar unter der Prämisse, daß es auch zwi­
schen Nicht-Kannibalen notwendige, diskrete, willkom­
mene endophagische Beziehungen gibt.
Die positiven Paradigmen hierfür finden sich natürlich in
der Welt der frühen Mutter-Kind-Beziehungen: Wenn man
die normale Schwangerschaft als die Hingabe der Mutter an
ihre Verzehrung durch den Fremdkörper in ihr charakteri­
sieren könnte, so wäre die Stillzeit das aktive Entgegenkom­
men des weiblichen Körpers für die kannibalische Beanspru­
chung durch den Säugling. Setzt man den Akzent auf die
Kindesperspektive, so zeigt sich, daß das werdende Subjekt
das unbedingte Recht beansprucht, sich in dem Milieu, das
53é Exkurs 8

es vorfindet, als absoluter Konsument einzunisten - einem


Milieu, das es offensichtlich von Urzeiten her gibt und das
anscheinend keine andere Bestimmung kennt als die, unter
allen Umständen die Bedürfnisse des Eindringlings zu erfül­
len. Die ontologische Ironie des mütterlichen Milieus be­
steht darin, daß kein Fötus, kein Säugling, kein kleines Kind,
ja überhaupt kein Menschenwesen im voraus wissen kann,
daß die Welt nur so lange den Charakter eines magisch dis­
poniblen Milieus zeigt, wie sie als bewohnbare, kannibali-
sierbare, abrufbare Mutter zur Verfügung steht. Und nichts
deutet darauf hin, daß sie eines Tages unverfügbar werden
könnte, solange die hinreichend gute, hinreichend eßbare
Mutter Partei ergreift für das Verlangen des Menschenfres­
sers nach ihr. Sie signalisiert ihm, daß er in jeder Hinsicht
recht hat, sich fürs erste ganz allein von ihr und durch sie er­
nähren zu wollen. So wird die ursprüngliche orale Wahr­
heitsfunktion, die elementare Stimmigkeit der verzehrenden
Teilhabe des Kindes an der Mutter, durch die verzehrte Par­
tei bekräftigt. Der Muttermenschenfresser hat immer recht,
und er hat recht, recht zu haben: Seinem Einverleibungstrieb
liegt ein unvordenkliches biologisches Wahrheitsverhältnis
zugrunde in dem Sinn, daß sein Anspruch auf Ernährung
durch die Mutter in der Regel dem Entgegenkommen der
Mutterbrüste begegnet; wo der unverwechselbare Appetit
ist, dort ist auch die unverwechselbare Dosis. Es ließe sich
hier von einer Synthesis a priori im Somatischen sprechen.
Ein nicht allzusehr frustriertes Kind erwirbt im mütterlichen
Milieu den proto-religiösen Glauben, daß zwischen dem Ruf
und dem Trinken eine immergültige pragmatische Gleichung
in Kraft ist. Diese Überzeugung ist der Kern des Glaubens,
zaubern zu können - ein Glaube, ohne den auch das Gegen­
teil des Zauberns, das Arbeiten, letztlich sinnlos bleibt:
Denn man arbeitet auch nur so lange erfolgreich, wie man
noch glauben kann, daß Anstrengung nach dem Glück ruft
und daß es bei getaner Arbeit kommt. Das Erwachsenwer­
Analphabetenwahrheiten 537
den besteht nun darin, einzusehen, daß die magie-ermögli-
chende Gleichung von Ruf und Erfolg die Tendenz in sich
trägt, mit der Zeit zu verblassen, um schließlich so gut wie
völlig zu erlöschen. Wie aber, wenn nicht mehr findet, wer
sucht? Wenn nicht mehr kommt, was gerufen wird? Die er­
ste Magie löst sich allmählich in Kampf und Arbeit auf, bis
der Punkt erreicht ist, wo das Subjekt - hart an der Grenze
zur Verbitterung - zugibt, daß nicht essen soll, wer nicht ar­
beitet, und daß nicht genießen darf, wer nicht verzichten
kann. Das Wort Arbeit faßt einen Weltzustand zusammen, in
dem es für niemanden mehr genügt, einfach zu rufen oder
magische Formeln anzuwenden, um Befriedigung zu finden.
Wo die Arbeit in den Horizont gekommen ist, läßt sich die
Erfahrung, daß rufen hilft, nur mit religiösen oder ästheti­
schen Mitteln verteidigen. Und der Glaube daran, daß das
gerufene Glück in angemessener Zeit kommen wird, bleibt
nur dadurch am Leben, daß man es offenlassen kann, wer in
letzter Instanz als der Geber des täglichen Brotes zu gelten
hat. Religion überlebt als Erinnerung an die Zeit, als das Ru­
fen noch geholfen hat.
Die zehrende Partizipation am mütterlichen Milieu durch
die eigene infans-Stimme ist, so archaisch sie sein mag, nicht
die früheste Form des Einverleibungszaubers. Bevor für das
Subjekt die Notwendigkeit auftreten konnte, zu rufen, um zu
essen, war ihm eine noch tiefere Teilhabeform gewährt, die als
fötale, sanguinische, endo-akustische Kommunion das abso­
lute Maximum an einverleibtem Leben bot. Dorthin strebt
zurück, wer weder arbeiten noch rufen möchte, um die ar­
chaische Homöostase wiederzufinden. Vor dem infans, dem
Nichtsprechenden, kommt das inclamans, das Nichtrufende.
Es zeichnet die moderne Massenkultur aus, daß sie es verstan­
den hat, an den Tischen und den Altären der Hochkultur vor­
bei, neue direkte Befriedigungen für das Verlangen nach der
homöostatischen Kommunion anzubieten. Dies ist der psy­
chodynamische Sinn der Pop-Musik mit allen ihren Deriva-
538 Exkurs 8

ten. Sie inszeniert für ihre Konsumenten die Möglichkeit, in


einen rhythmischen Lärmkörper einzutauchen, in dem kriti­
sche Ichfunktionen temporär entbehrlich werden. Wer als
unbeteiligter Zeuge die Gesten des Diskotheken- und Sound­
paradenverhaltens beobachtet, muß zu dem Befund kommen,
daß das aktuelle Massenmusikpublikum ein enthusiastisches
Selbstopfer anstrebt, indem es sich freiwillig und auf eigenes
Risiko in den Soundkrater stürzt. Es verlangt offensichtlich
danach, von dem akustischen Moloch nach innen geholt und
in seinen Eingeweiden in ein rhythmisiertes, sauerstoffknap­
pes, prä-subjektives Etwas verwandelt zu werden. Die Pop-
Musik hat die religiösen Kommunionen, namentlich die
christlichen, auf dem archaischen Flügel überholt, indem sie
die Einverleibungschancen, die sich an Altären bieten, durch
das Angebot übertrifft, sich an psychoakustische Leibeshöh­
len wie an gegenwärtig vorüberziehende Ton-Götter216 an­
zuschließen. Dies ist besonders bei den Berliner love-parades
der neunziger Jahre und ihren Repliken in europäischen Städ­
ten zu beobachten, die in kulturanthropologischer Hinsicht
als besonders explizite Inszenierungen von »wahren« Einver­
leibungsverhältnissen interessant sind. Sie könnten, ihrem
immanenten Konzept nach, ebensogut truth-parades heißen,
weil es in ihnen darum geht, große Zahlen von Menschen, die
ausnahmslos auf die Attribute ihrer Individualität Wert legen,
in glückliche, symbiotische, reversible und insofern »wahre«
Sonosphären zu absorbieren. Diese Kommunionen mit den
Ton-Göttern oder den rhythmischen Molochen beruhen ex­
akt auf demselben Wahrheitsmodell wie die nach-freudiani-
sche Psychoanalyse, mit dem Unterschied, daß diese ihren
Klienten nahelegt, eine strikt individuelle Rhetorik der
Trauer um das verlorene Urobjekt zu entwickeln, während
die integristische Musiktherapie in den Straßen auf drogen-
216 W ir verdanken diesen A usdruck Andreas Leo Findeisen (Institut
für K ulturphilosophie und M edientheorie der Akademie der bil­
denden Künste, Wien).
Analphabetenwahrheiten 539
unterstützte Gruppeneuphorien setzt, die zwar momentan
das Spiel mit der Selbsteinverleibung in einen sphärischen Ur-
körper vorantreiben, aber für die eigene mediale Kompetenz
der Teilnehmer in den ernüchterten Folgezeiten wenig Ge­
winn abwerfen. Immerhin läßt sich an den love-parades wie
auch an zahllosen anderen Inszenierungsformen für die
Kollektiv-Ekstase ablesen, wie die Moderne daran arbeitet,
das Grundverhältnis menschlicher Ensembles überhaupt,
den psycho-akustischen Integrismus, immer direkter, immer
vorwandloser und immer religionsfreier herstellbar zu ma­
chen.
Insofern gehören die Couch und die Disco-Ekstase wie die
konkave und die konvexe Seite derselben Wahrheitslinse zu­
sammen. Sie haben beide denselben theotechnischen Bezug,
insofern sie Verhältnisse zu einer entrückten, aber nicht völlig
erloschenen Ur-Sache, einem sonoren göttlichen Ding an
sich, arrangieren. Ohne diesen Bezug auf das intime Absolute
würde die menschliche Ausdrucksrede von jedem transzen­
denten Grund oder Referenten abgekoppelt und verfiele dem
Hang zur selbstbezüglich geschlossenen Sprachspielerei. Die
unaussprechliche Wahrheit ist jedoch, nach dem Schema der
Psychoanalyse und der love/truth-parade, nur einem vor­
sprachlichen Subjekt geoffenbart. Ob dieses sich paradox
weigert, lesen, schreiben und sprechen gelernt zu haben, wie
Mystiker und Ekstatiker es tun, oder ob die Analysanden sich
erst recht ins Lesen, Schreiben, Singen stürzen, um das U n­
sagbare zu sagen - das ist nur die Wahl einer Strategie vor dem
Hintergrund desselben Modells. - Weswegen der ideale Pa­
tient sich darum bemüht, mit den verfeinerten Mitteln von
Rede und Schrift nach dem großen Verlorenen zu greifen,
während der ideale Kultteilnehmer sich in realer Gegenwart
des Lautsprecherwagens der Lärmoffenbarung hingibt. Daß
ohne die Orientierung des begehrenden Subjekts an einem
psychischen Ding an sich - man könnte auch sagen an einer
analphabetischen Transzendenz - letztlich keine psychoana-
54° Exkurs 8

Im Radius eines Sound-Molochs:


Berliner Love-Parade 1998

lytische Kur möglich wäre, hat Julia Kristeva in einer luziden


Überlegung offengelegt:
»Die Besessenheit durch das ursprüngliche Objekt,
das zu übersetzende Objekt, setzt voraus, daß eine ge­
wisse, wie auch immer unvollkommene Adäquation
zwischen dem Zeichen, und zwar nicht dem Referen­
ten, jedoch der nicht-verbalen Erfahrung des Referen­
ten im Umgang mit dem Anderen möglich ist. Ich
kann wahre Namen geben. Das Sein, das mich über­
greift (déborde) - einschließlich des Affekts, der mich
an dieses Sein bindet -, kann seinen angemessenen
Analphabetenwahrheiten 541
oder nahezu angemessenen Ausdruck finden. Die
Wette auf die Übersetzbarkeit ist zugleich eine Wette
auf die Beherrschbarkeit des ursprünglichen O b­
jekts ... Mit ihrer Besessenheit durch die Übersetzbar­
keit ist die Metaphysik ein Diskurs des gesprochenen
Schmerzes, der eben durch sein Gesprochensein (no­
mination) erleichtert wird. Man kann das ursprüng­
liche Ding ignorieren und verneinen, man kann den
Schmerz ignorieren zugunsten der Leichtigkeit von
Zeichen, die, ohne Wahrheit und ohne Innen, spiele­
risch kopiert und rekopiert werden. Der Vorteil von
Kulturen, die nach diesem Muster verfahren, besteht
darin, daß sie sich eher dazu eignen, das Eingetaucht­
sein des Subjekts in den Kosmos, seine mystische
Weltimmanenz zu bezeichnen. Aber wie mir ein chine­
sischer Freund gesteht, steht eine solche Kultur mittel­
los da angesichts des hereinbrechenden Schmerzes. Ist
dieses Fehlen ein Vorzug oder ein Mangel?
Der westliche Mensch hingegen ist davon überzeugt,
seine Mutter übersetzen zu können ... aber nur, um sie
zu verraten, zu transponieren, sich von ihr zu befreien.
Dieser Melancholiker triumphiert über seine Trauer
der Trennung vom Liebesobjekt durch eine unglaubli­
che Anstrengung, die Zeichen zu meistern, bis sie den
ursprünglichen, unsagbaren, traumatischen Erlebnis­
sen entsprechen.
Darüber hinaus und endlich führt dieser Glaube an die
Übersetzbarkeit (>Gott ist nennbar, Mama ist nenn-
bar<) zu einem hochindividualisierten Diskurs, der Ste­
reotype und Klischees meidet, und zu einem Über­
reichtum an persönlichen Stilen. Aber gerade dadurch
enden wir bei dem Verrat schlechthin an dem einzigar­
tigen Ding an sich - an der res divina Wenn alle Ar­
ten, sie zu rufen, legitim sind, muß sich dann nicht das
angebliche Ding an sich in tausendundeiner Art von
542 Exkurs 8

Benennung auflösen? Die Forderung nach Übersetz­


barkeit mündet in die Vielzahl möglicher Übersetzun­
gen. Der potentielle Melancholiker, der das okziden-
tale Subjekt immer schon ist, vollendet sich, hartnäckig
übersetzend, als wirklicher Spieler und möglicher
Atheist. Der anfängliche Glaube an die Übersetzung
verwandelt sich in den Glauben an die stilistische per­
formance, für welche das Diesseits des Textes, sein An­
deres, auch wenn es das Ursprüngliche wäre, weniger
zählt als das Gelingen des Textes selbst.«217

Selbst wenn alle Probleme der Repräsentation und der


Selbstreferenz geklärt sein werden, so wären die Fragen der
Einverleibung, der Teilhabe und der Immanenz noch nicht
einmal berührt.

217 Julia Kristeva, Soleil noir. D épression et mélancholie, Paris 1987,


S. 77-78 (Ü bersetzung P. SL).
543

Exkurs 9

Von wo an Lacan sich irrt

ie von Anbeginn problematische Imago-Orientiert-


D heit der psychoanalytischen Beziehungs-Theorien
wurde durch Jacques Lacan mit seinem legendären Theorem
vom »Spiegelstadium als Bildner der Ich-Funktion«218 von
1949 ins Extrem getrieben. Lacan setzt ein frühkindliches
Befinden voraus, das immer schon geschlagen ist von der
Unmöglichkeit, sich selbst zu ertragen. Für Lacan ist jeder
Säugling von unheilbaren Vernichtungszuständen zersplit­
tert. Die Psychose ist seine Wahrheit und Wirklichkeit, von
Anfang an und unausweichlich. Er stürzt in die Welt, ohn­
mächtig und verraten, als der immer schon zerstückelte Kör­
per, der seine Fragmente kaum zusammenzuhalten vermag.
Die Wahrheit wäre, daß die Zerstückelung der Ganzheit
vorausginge und daß einer Urpsychose überall das erste
Wort gehörte. Für ein so von Grund auf dissoziiertes, in sei­
ner Verlorenheit gärendes Wesen müßte begreiflicherweise -
läßt man sich für einen Moment auf die Suggestionen des
Analytikers ein - der Anblick seines eigenen umrißstabilen
Bildes dort drüben im Spiegel überaus erbaulich sein, weil
das Subjekt sich in jenem imaginären Dort endlich und zum
ersten Mal als Ganzform ohne Riß und Makel wahrzuneh­
men vermöchte. Das Selbstbild im Spiegel käme hier als Be­
freier von einem unerträglichen Selbstgefühl ins Spiel. Erst
das Bild dort im Spiegelraum bewiese mir, gegen mein evi­
dentes Selbstgefühl, daß ich kein Monstrum bin, sondern ein
wohlgeratenes Menschenkind in den schönen Grenzen sei-

218 Vgl. Écrits, Paris 1966, S. 93-100; deutsch in: Schriften I, Frankfurt
1975, S. 63-70.
544 Exkurs 9

ner organischen Gestalt. Sich im Spiegel als »das bin ja ich


selbst« erkennen hieße demnach: das mit einem Male auf­
blitzende Bild anzulachen, seine Integrität als Heilsbotschaft
zu vernehmen und jubelnd befreit in einen imaginären
Ganzbildhimmel emporzufahren, in dem die vorangehende
wirkliche und wahre Zerrissenheit nie mehr eingestanden
werden müßte. Endlich könnte das Infans seine demüti­
gende Zerstückelung und seine tobende Ohnmacht hinter
sich lassen; es wäre ihm mit einemmal gegeben, neu-unver­
wundbar durchs Spiegelglas hindurch in den Bildraum hin­
auszuschweben und wie ein transfigurierter Held ins Reich
einer wahnhaften Integrität einzugehen - strahlend erlöst
von dem elenden Primärzustand, in den es von nun an nie
wieder zurückkehren zu müssen meint, vorausgesetzt, daß
der Traumschild des inkorruptiblen Bild-Ichs sich gegen alle
späteren Störungen behauptet. Demnach müßte die Ich-
Entwicklung stets und unvermeidlich mit einer rettenden
Selbstverkennung einsetzen: Die imaginäre Erscheinung
dort draußen und drüben - mein Bild als heiles, ganzes, ret­
tendes - holte mich, indem ich nun es radikal an meiner Statt
annehme, aus der bildlosen Hölle meines gespürten Frühle­
bens heraus und böte mir das wunderbar trügerische Ver­
sprechen, künftig immer auf dieses Bild zu - wie unter Illu­
sionsschutz - leben zu dürfen. Mein illusionäres Bild von
mir dort draußen in der Sichtbarkeit - im Imaginären oder
im verklärten Visuellen - wäre durch seine Wohlgeratenheit
und Ganzheit gleichsam ein für mich allein verfaßtes Evan­
gelium, es wäre ein Versprechen, das mich vorwegnimmt
und mich konsolidiert. Sobald ich es in mich aufgenommen
hätte, läge es auf dem Grund meiner selbst als frohe Bot­
schaft von meiner Auferstehung aus der Frühvernichtung.
Mein Bild, meine Urtäuschung, mein Schutzengel, mein
Wahn.
Es läßt sich ohne Aufwand zeigen, daß dieses berühmteste
frühe Theoriestück aus dem Korpus der Lacanschen Doktri­
V o n w o a n L a c a n s ic h i r r t 545
nen eine glanzvolle Fehlkonstruktion darstellt - errichtet auf
der Basis mutwilliger und pathetischer Falscheinschätzun­
gen der frühen dyadischen Kommunikation zwischen dem
Kind und seinem Ergänzer-Begleiter, der, von den prä-nata-
len Supplementierungsmedien abgesehen, in der Regel die
Mutter ist. Das eigene Spiegelbild kann nämlich als solches
nichts in den »Selbst«befund des Kindes einbringen, was
nicht in diesem schon längst auf der Ebene von vokalen, tak­
tilen, interfazialen und emotionalen Resonanzspielen und
deren inneren Sedimenten angelegt wäre. Vor jeder Begeg­
nung mit dem eigenen Spiegelbild »weiß« ein nicht-vernach-
lässigtes Infans sehr gut und sehr genau, was es heißt, ein un­
versehrtes Leben im Inneren eines tragend-enthaltenden
Duals zu sein. In einer hinreichend wohlgeratenen psychi­
schen Zwei-Einigkeitsstruktur taucht die bildliche Selbst­
wahrnehmung bei dem Kind, das okkasionell seine Spiege­
lung in einem gläsernen, metallischen oder wässerigen
Medium bemerkt, als erheiternde, neugierig machende zu­
sätzliche Wahrnehmungsschicht über einem bereits dichten,
vertrauenspendenden Gewebe von Resonanzerfahrungen
auf; keineswegs erscheint das Bild im Spiegel als die erste und
allesüberflügelnde Information über das eigene Ganz-Sein-
Können; es gibt allenfalls einen initialen Hinweis auf das ei­
gene Vorkommen als kohärenter Körper unter kohärenten
Körpern im realen Sehraum. Aber dieses integre Bild-Kör-
per-Sein bedeutet fast nichts gegenüber den prä-imaginären,
nicht-eidetischen Gewißheiten von sinnlich-emotionaler
Dual-Integrität. Ein Kind, das in einem hinreichend guten
Kontinuum heranwächst, ist über die Gründe seines Enthal­
tenseins in einer Erfüllungs-Form längst aus anderen Quel­
len ausreichend unterrichtet. Sein Interesse an Kohärenz ist
weit vor der spiegeleidetischen Information mehr oder weni­
ger befriedigt. Es lernt durch sein erblicktes Spiegelbild keine
radikal neue, exklusiv im Visuell-Imaginären fundierte
Glücks- und Seinsmöglichkeit kennen. Im übrigen bleibt zu
546 Exkurs 9

beachten, daß - wie schon bemerkt219- v o r dem 19. Jahrhun­


dert die meisten Haushalte Europas keine Spiegel besaßen,
so daß schon unter dem schlichtesten kulturgeschichtlichen
Aspekt das Lacansche Theorem, das sich wie ein überzeitlich
gültiges anthropologisches Dogma gebärdet, gegenstandslos
erscheint.
Ist freilich das Resonanzspiel zwischen dem Kind und
seinem ergänzenden Gegenüber durch Ambivalenzen, Ver­
nachlässigungen, Sadismen belastet, so wird sich im Kind na­
türlich eine Neigung anbahnen, sich an die dünnen Momente
positiver Ergänzungserfahrung zu klammern - seien es pre­
käre Freundlichkeiten der Bezugspersonen, seien es autoero­
tische Rückzugsträume, seien es Identifizierungen mit den
unverwundbaren Helden von Märchen und Mythen. Ob der
frühe Anblick des eigenen Bildes im Spiegel psychotischen
Kindern auf der Schwelle von der Säuglings- zur Kleinkind­
zeit wirklich zu imaginären Auferstehungen durch optisch
gestützte Integritätsphantasmen verhilft, ist eine empirisch
völlig ungeklärte Frage. Der von Lacan überhöhte Sonder­
fall, daß das werdende Subjekt sich aus sich heraus ins Bild
stürzt, um dem gespürten Mißverhältnis in der eigenen zer­
stückelten Haut zu entgehen und in der Bild-Welt etwas
trügerisch Ganzes zu werden, stellt jedenfalls, sollte er je
eine kasuistische Realität besitzen, nur einen pathologischen
Grenzwert dar. Seinen Sitz im Leben könnte er nur in ver­
elendeten Familienstrukturen und in Milieus mit einer Nei­
gung zu chronischer Säuglingsvernachlässigung haben. Für
jede Ich-Gründung, die sich so über die Flucht in die Bild-
Illusion der Intaktheit vollzogen hätte, ließe sich in der Tat
jene paranoide Labilität Vorhersagen, die Lacan, von seiner
Selbstanalyse ausgehend, zu Unrecht als allgemeines Merk­
mal der Psyche in den Kulturen aller Zeiten heraussteilen

219 Vgl. oben den Schlußabschnitt des 2. Kapitels, Zwischen Gesich­


tern. Zum Auftauchen der interfazialen Intim sphäre, S. 201 ff.
Von wo an Lacan sich irrt 547
wollte. Immerhin wäre, wenn auf dem Grund eines Selbst
sich wirklich überall ein selbstverblendendes Imaginäres die­
ses Typs finden ließe, auch schon erklärt, warum das Subjekt
in einem Lacanschen Universum nur im Symbolischen sein
Heil oder zumindest seine Ordnung finden sollte. Vor einer
konstitutiven Psychose rettet nur die Unterwerfung unter
das symbolische Gesetz. Aber was ist das, wenn nicht die
Fortsetzung des Katholizismus mit scheinbar psychoanalyti­
schen Mitteln? Gewiß wird niemand Verletzungen von über­
all her so rasend hellsichtig wittern wie ein Subjekt, das sein
Ganz-Sein-Können von der Verteidigung phantastisch über­
spannter Hochglanzbilder des eigenen Ich abhängig gemacht
hätte; aber daß basale Ich-Bildungen im Imaginären nach
diesem Modus die universelle Regel wären, kann nur be­
haupten, wer die eine Extravaganz durch eine zweite stützt.
Dies heißt die Psychologie selbst in den Dienst der Psychose
stellen. Schon früh hat sich Lacan einem Urpsychose-Dog-
matismus ausgeliefert, der seinen Motiven nach nicht psy­
choanalytischen, sondern kryptokatholischen, surrealisti­
schen und paraphilosophischen Interessen verpflichtet war.
Seiner Tendenz und Tonart nach ist Lacans épatantes Theo­
rem vom Spiegelstadium eine Parodie auf die gnostische
Lehre von Befreiung durch Selbsterkenntnis; nach proble­
matischem Vorbild wird hier die Erbsünde durch die Erbtäu­
schung ersetzt, ohne daß je deutlich würde, ob die Täu­
schung etwas sei, was besser zu konservieren oder zu
überwinden wäre. Es sei in jedem Fall die anfängliche Selbst­
verkennung, die den Subjekten so unentbehrliche wie ver­
hängnisträchtige Trugbilder ihrer selbst zuspielte - Lacan
sprach gelegentlich von der »orthopädischen« Funktion des
primären Trugbildes. Wer also könnte ohne das Rückgrat der
Selbsttäuschung psychisch integer überleben - und wer soll
ein Interesse daran haben, es dem Subjekt zu brechen? Zu­
gleich soll aber die Täuschung sein, was sie ist - ein Trugbild,
das durchschaut werden muß, sofern von ihm selbstgefähr­
548 Exkurs 9

dende Verlockungen ausgehen. Sich selbst erkennen oder


nicht erkennen - das ist hier die Frage. Um so schlimmer für
die, denen niemals aus einem angeblichen Imaginären - und
erst recht nicht aus einer realen Liebe - das glaubwürdige
Bild des eigenen Ganz-Seinkönnens entgegenkam.
549

K a p it e l 8

M ir näher als ich selbst


Theologische Vorschule zur Theorie des
gemeinsamen Innen

... die ontologische K onstitution der In-


heit selbst ist herauszustellen...
Was besagt In-S ein ? . . . In -S e in ... meint
eine Seinsverfassung des Daseins ...
M artin Heidegger, Sein und Zeit, S. 53 f.

»Was ist dieses In?« forschte Agathe nach­


drücklich. U lrich zuckte die Achseln, dann
machte er ein paar A ndeutungen.
» . . . Vielleicht ist die psychoanalytische
Legende, daß die Menschenseele in den
zärtlich geschützten intrauterinen Zustand
vor der G eburt zurückstrebe, ein Mißver­
ständnis des In, vielleicht auch nicht. Viel­
leicht ist In die geahnte H errschaft alles
Lebens (aller M oral) von G ott. Vielleicht
ist die Erklärung auch einfach in der Psy­
chologie zu finden; denn jeder Affekt trägt
den Totalitätsanspruch in sich, allein zu
herrschen und gleichsam das In zu bilden,
w orin alles andere getaucht sei.
R obert Musil, D er M ann ohne Eigenschaf­
ten, S. 1332

o also sind wir, wenn wir in einem kleinen Innen


W / sind? In welcher Weise kann eine Welt, ihrer Öffnung
aufs Unermeßliche hin ungeachtet, eine intim geteilte Rund­
welt sein? Wo sind die Zur-Welt-Kommenden, wenn sie in
bipolaren Intimsphären oder Blasen sind? Im Durchgang
durch manche Faltungen und Wendungen in den menschen­
bildenden Mikrokosmen der verschränkten Interiorität ha-
55 ° K a p ite l 8

ben sich bisher sieben Schichten einer Antwort auf diese


Frage voneinander abgehoben.
Wir sind in einer Mikrosphäre immer dann, wenn wir
- erstens im Interkordialraum sind;
- zweitens in der Interfazialsphäre,
- drittens im Feld »magischer« Bindekräfte und hypnoti­
scher Nähe-Einwirkungen,
- viertens in der Immanenz, das heißt im Innenraum der ab­
soluten Mutter und ihrer nachgeburtlichen Metaphorisie-
rungen,
- fünftens in der Mit-Dyade oder der plazentalen Doublie-
rung und ihren Nachfolgebildungen,
- sechstens in der O bhut des unabtrennlichen Begleiters und
seiner Metamorphosen,
- siebtens im Resonanzraum der willkommen heißenden
Mutterstimme und ihrer messianisch-evangelisch-musi-
schen Nachbildungen.

Man wird bemerken, daß in dieser Liste die intergenitale Be­


ziehung und die intermanuelle Verbindung fehlen, als sollte
suggeriert werden, daß Koitus und Handschlag aus dem in­
timsphärischen Feld ausgeschlossen seien. Tatsächlich gehö­
ren die beiden Gesten, auch wenn sie - zumal die sexuelle -
für das Alltagsbewußtsein prototypische Intimverhältnisse
repräsentieren, aus der Sicht der Mikrosphärenanalyse eher
an den Rand; vor allem die Sexualität, obschon sie okkasio­
nell suggestive Intimitätserlebnisse freisetzt, hat für sich ge­
nommen kein intimes Licht, sowenig wie die Begegnung von
Kämpfern im Innern eines Rings von sich selbst her intim­
sphärisch relevante Berührungen stiftet. Kommt hier de facto
Intimität ins Spiel, dann nur durch Übertragung von Nähe-
Verhältnissen aus realen Intimszenen der aufgezählten Art in
die genitalen oder athletischen Duelle und Duale. Solche
Übertragungen zeichnen die menschliche Sexualität vor der
tierischen aus. Wenn Tiere sich damit begnügen können,
Mir näher als ich selbst 551
beim Geschlechtsakt ihre Zeugungsorgane ineinander einzu-
klinken, sind die Menschen anläßlich derselben Verlegenheit
dazu motiviert, einen Mehrwert an Intimität zu erzeugen.
Dieser kann nur aus dem Reservoir übertragungsfähiger
Nähe-Erinnerungen von anderswoher geschöpft werden -
bis hin zu der Tristan-Umarmung, bei der die Liebespartner
gegenseitig die Heimkehr in den Ursprungsschoß inszenie­
ren. Daß Menschen zum Intim-Surrealismus verurteilt sind,
zeigt sich in nichts so deutlich wie in der Tatsache, daß sie so­
gar die Interaktionen ihrer Genitalien meistens als ein Ereig­
nis auf einer virtuellen innenweltlichen Bühne arrangieren
müssen.

Für den ersten Blick haben die behandelten Varianten von


Intimitätsverhältnissen nur eine einzige formale Eigenschaft
gemeinsam: Sie trennen das Subjekt nie von seinem Umfeld
ab und stellen es nicht in die Konfrontation zu etwas, das ge­
genständlich vorliegt oder als Sachverhalt gegenübersteht;
vielmehr integrieren sie es in eine umgreifende Situation und
nehmen es auf in einen zwei- und mehrstelligen Beziehungs­
raum, in dem die Ich-Seite lediglich einen Pol bildet. Der ge­
meinsame Nenner dieser Siebenfaltigkeit ist also, wenn der
Ausdruck erlaubt und gängig wäre, ihre »Strukturierung«
durch die Inheit. Dieses Kunstwort, das in Heideggers Früh­
werk spukhaft auftauchte,220 bringt, befremdlich genug, zum
Ausdruck, daß das Subjekt oder das Dasein nur als enthalte­
nes, umgebenes, umgriffenes, erschlossenes, angehauchtes,
durchtöntes, gestimmtes, angesprochenes da sein kann.
Bevor ein Dasein den Charakter von In-der-Welt-Sein an­
nimmt, hat es schon die Verfassung von In-Sein. Dies zuge­
geben, scheint es berechtigt, zu fordern, die heterogenen
Aussagen über intimsphärische Umschlossenheit und Auf­

220 Sein und Zeit, § 12, S. 53; vgl. auch oben Exkurs 4, »Im Dasein liegt
eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.«
55 2 Kapitel 8

geschlossenheit in einem übergreifenden Muster zusammen­


zufassen. Gesucht wird also eine Theorie der existentiellen
Geräumigkeit, man könnte auch sagen: eine Theorie der In­
terintelligenz oder des Aufenthalts in Beseelungssphären.
Diese Lehre vom intimen Beziehungsraum müßte klarma­
chen, wieso ein Leben immer ein Leben-inmitten-von-Le-
ben ist.221 In-Sein ist also zu denken als das Zusammensein
von Etwas mit Etwas in Etwas. Folglich wird hier - wir wie­
derholen die These - nach dem gefragt, was man in aktueller
Terminologie eine Medientheorie nennt. Was sind Medien­
theorien anderes als Vorschläge, das Wie und Wodurch des
Zusammenhangs von verschiedenen Existierenden in einem
gemeinsamen Äther zu erläutern?
Sieht man sich um nach Vorbildern für ein solches Unter­
nehmen, so wird man nolens volens auf das weite Feld der
alteuropäischen theologischen Überlieferung gezogen. Es
sind vor allem die Autoren der griechischen und mehr noch
die der lateinischen Väter- und Lehrerzeit, die sich in ihren
Trinitätstraktaten, ihren mystischen Theologien und ihren
Doktrinen von der Verschränkung der beiden Naturen im
Gottmenschen über die Frage beugten, wie das Enthalten­
sein der gezeugten und geschaffenen Naturen in dem einen
Gott und wie die Beziehung Gottes zu sich selber zu denken
sei. Unvermeidlich mußten diese Zweige der Dogmatik zu
einer Schule der Reflexion über das Sein von intimen Be­
ziehungen werden. Während es für das moderne Denken
charakteristisch ist, daß es mit dem In-der-Welt-Sein des
Daseins oder dem In-seiner-Umwelt-Sein des Systems be­
ginnt, ist es das Proprium des christlichen und mehr noch des
philosophischen Monotheismus, daß er mit dem In-Gott-

221 Einen Schritt zur Erhellung dieser Frage hat Gilles Deleuze in sei­
nem letzten Text getan: LTmmanence - une v ie . . . , in: Philosophie
47, September 1995, p. 3 -7; deutsch in: Gilles Deleuze, Fluchtlinien
der Philosophie, hg. v. Friedrich Balke und Joseph Vogl, München
1996,8.29-33.
Mir näher als ich selbst 553
Sein aller Dinge und Seelen einsetzen muß.222 Da nun auch
der allesdurchdringende Gott, der allen endlichen Lokalisie­
rungen überlegen ist, nirgendwo anders sein kann als überall
in sich selbst,223 gibt es für theonomes Denken zum In-Sein
scheinbar keine Alternative: Gott ist in sich und die Welt in
Gott - wo könnte also der geringste Rest von Seiendem sich
aufhalten, wenn nicht im Bannkreis dieses absoluten In? Von
Äußerlichkeit kann in einer Welt, die Gottes Werk und Aus­
dehnung wäre, im Emst niemals die Rede sein. Nichtsdesto­
weniger wird das totalisierte Innen Gottes von einem wider­
setzlichen Außen provoziert. Dessen theologisch korrekter
Titel lautet Schöpfung nach dem Fall. Denn wo sind die
Menschen, die in der Sünde oder im Eigenwillen oder in ih­
rer Freiheit leben, wenn nicht gewissermaßen außen, in einer
lizenzierten Äußerlichkeit immerhin, die, weil Kreatürlich-
keit verpflichtet, ihren Bezug zum Urheber nie gänzlich soll
verleugnen können? Und wo, wenn nicht dort draußen un­
ten, müßte ein Erlöser die gefallenen heimzuführenden See­
len auf suchen?
Der Ernstfall für die theologische Frage nach dem In wird
also durch zwei logisch beunruhigende Verhältnisse ausge­

222 Insoweit die biblische Theologie einen zurückgezogenen oder se­


paraten G ott doziert, ist die Im manenz alles Seienden in ihm m odi­
fiziert zu etwas, was unter G ott, in bezug a u f G ott oder am Rande
von G ott vorkom m t, freilich niemals ganz außer G ott. In gewisser
Weise w ar die klassische Theologie die erste analysis situs, denn alle
O rte im Seienden stellen Situationen im Verhältnis zu r absoluten
M itte dar. Radikale O ntologie ist darum nur als Situologie möglich
- ein Sachverhalt, der nirgendwo deutlicher als in Heideggers frü­
hem D enken zum Vorschein komm t; vgl. oben Exkurs 4, »Im D a­
sein liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe«, S. 336, sowie unten
das U berleitungskapitel Von ekstatischer Im manenz S. 639 ff.
223 G ott ist in der Sicht der klassischen M etaphysik, d. h. der absoluten
Situologie, die Einheit von Bei-sich-Sein und Außer-sich-Sein - ein
Merkmal, das auch dem endlichen Dasein zugesprochen werden
kann, wenn man es mit Heidegger als insistent und ekstatisch auf­
faßt.
554 Kapitel 8

löst: zum einen durch die problematische Beziehung zwi­


schen Gott und der menschlichen Seele, von der fürs erste
durchaus unklar ist, wie sie nach dem Sündenfall weiterhin in
Gott oder bei ihm sein könnte; zum anderen durch die
exzentrisch-intimen Beziehungen Gottes zu sich selbst, die
angesichts seines Herausgehens in die Erlösergestalt den
grüblerischsten Nachforschungen Nahrung gaben. Wie also
und in welchem Sinn könnte vom Menschen - oder von der
menschlichen Seele - im Stand des Verderbens noch ein
Enthaltensein in Gott ausgesagt werden? Und wie und in
welchem Sinn soll Gott, nach seinem Hervorgang in die
Menschwerdung und in die pfingstliche Ausgießung, weiter­
hin als fugenlos in sich selbst enthalten zu denken sein? Die
beiden Fragen lösen zwei mächtige Wellen theologischer Re­
flexion über die Bedingungen des Eins-Seins und In-Seins
aus; das christliche Weltalter gibt sich zu erkennen in dem
Drang, über Gott und Raum grundlagentheoretisch zu re­
flektieren; es ist das goldene Zeitalter der subtilen Topolo­
gien, die von Orten im Nicht-Wo handeln. Denn wenn Gott
das absolute Gefäß wäre, wie steht es mit der Dichte seiner
Wände? Wie war es möglich, aus ihm ins Außen hervorzuge­
hen? Warum wollte er nicht alles Geschaffene bedingungslos
in sich zurücknehmen? Und durch welche Vermittlung käme
Verlorenes eventuell nach Hause? Während die Frage nach
dem Verhältnis von Gott und Seele überwiegend im Modus
von Zwei-Einigkeitstheorien beantwortet wird, findet die
Frage nach der Art des Innewohnens Gottes in sich selbst
ihre Antwort vor allem durch Drei-Einigkeitslehren.
Für die aktuelle Sphärologie sind diese Diskurse nicht in
ihrem religiösen Anspruch und ihrem dogmatischen Eigen­
sinn interessant; wir visitieren sie nicht als Sehenswürdigkei­
ten der Geistesgeschichte. Sie gehen uns rechtens nur etwas
an, insofern sie bis vor kurzem ein nahezu unangefochtenes
Monopol auf intimitätslogische Grundlagenreflexion besa­
ßen. Allein die platonische Erotologie hatte es vermocht, in
Mir näher als ich selbst 555
zeitgemäßen Adaptionen die Vorherrschaft der christlichen
Theologie über das Feld der Theorie inniger Beziehungen zu
brechen. Wer vor dem Auftauchen moderner Tiefenpsycho­
logien im 18. Jahrhundert Näheres über den Geist der Nähe
und Intimeres über den Geist der Intimität in Erfahrung
bringen wollte, sah sich unweigerlich an die verschlossensten
Bezirke der theologischen Tradition verwiesen. In dieser
führte, was die eher esoterischen Aspekte der Gott-Seele-Be-
ziehungen anbelangte, die mystische Überlieferung nahezu
allein das Wort; wer sich für das Innenleben des so reich und
abgründig auf sich selbst bezogenen göttlichen Lebens inter­
essierte, mußte sich an das abschreckende Massiv der Trini­
tätsspekulation heranwagen. In diesen noch immer schwer
zugänglichen Feldern lagern die patinierten Schätze eines
vor-modernen Primärbeziehungswissens. Vieles von dem,
was modernen Psychologen und Soziologen unter den Be­
griffen Intersubjektivität oder Interintelligenz zu denken
gibt, ist präfiguriert in den theologischen Diskursen, die in
tausendjähriger Abgeklärtheit von der verschränkten Ko-
subjektivität der Gott-Seele-Dyade und von der Kointelli-
genz, Kooperation und Kondilektion der innergöttlichen
Dreiheit handeln. Wenn es also gilt, mit grundbegrifflichem
Anspruch von Teilhabephänomenen und Strukturen konsti­
tutiven Ineinander- und Miteinander-Seins zu handeln, kön­
nen Teile der theologischen Überlieferung für den freien
Geist zu einer überraschend informativen Quelle werden. Im
theologischen Surrealismus hält sich, wie zu zeigen ist, der
erste Sphären-Realismus verborgen. Durch seine Rekon­
struktion erst kann zureichend geklärt werden, was Imma­
nenz überhaupt bedeutet.

Dies gilt zunächst und besonders für das Feld der Gott-
Seele-Verhältnisse. Wer versucht, die Sprachspiele der mysti­
schen Theologie über die Wieder-Hineinnahme der Seele in
die göttliche Sphäre nachzuvollziehen, bekommt es sofort
556 K a p ite l 8

mit einem subtilen Gespinst von Aussagen über entgegen-


ständlichte Verschränkungen zu tun. Fragt man nämlich
nach dem Grund der möglichen gegenseitigen Zugewandt­
heit von Gott und Seele, so tut sich der Abgrund einer Bezie­
hungsbereitschaft auf, die tiefer reicht als alles, was sonst
zwischen einander begegnenden Personen oder Wesenheiten
an verwandtschaftlichen oder sympathetischen Dispositio­
nen angenommen werden kann. Die Natur des Bandes zwi­
schen ihnen läßt sich auf keine Weise durch Zuneigungen a
posteriori oder aus Begegnungen auf halbem Wege erklären.
Es mag für die menschliche Liebe in einer gewissen Hinsicht
richtig sein, zu sagen, daß sie, bevor sie sich ereignet, auf
keine Weise existiert. Was der menschlichen Liebe voran­
geht, sind - in der Perspektive der individualistischen Mo­
derne gedacht - zwei Einsamkeiten, die durch die Begegnung
entwurzelt werden. Also könnte gelten, was Alain Badiou
anläßlich der Liebesmeditation des späten Beckett gesagt hat:
»Die Begegnung ist für die Zwei als solche grundgebend.«224
Was Gott und die Seele angeht, so stehen sie sich nicht gegen­
über wie Parteien oder Geschäftsleute, die in gelegentlichen
Koalitionen ihren gemeinsamen Vorteil wahrnehmen; sie bil­
den auch nicht nur ein Paar Liebender, die okkasionell, von
Gnaden des Begegnungszufalls, füreinander entflammen.
Kommt es zwischen den beiden zu einer intimen Reaktion,
so auf keinen Fall nur aufgrund dessen, was die Psychoana­
lyse - mit einem Ausdruck von beschränkter Weisheit - eine
Objektwahl nennt. Wenn Gott und Seele miteinander zu tun
haben, so aufgrund eines Beziehungsradikals, das älter wäre
als jede Partnersuche und jede sekundäre Bekanntschaft.
Und wenn ihr Verhältnis zuweilen als ein leidenschaftliches
erscheint, so nur, weil zwischen ihnen unter gewissen Um-

224 Alain Badiou, C onditions, Paris 1992, S. 3 58; es liegt auf der H and,
daß dies nicht unserer Aufassung entspricht, denn Badious These
m acht u. E. zu große Konzessionen an die Ideologie der vorgängi­
gen Einsamkeit.
Mir näher als ich selbst 557
ständen eine so radikale Resonanz stattfindet, daß diese un­
möglich nur auf eine empirische Kontaktnahme beider mit­
einander zurückgeführt werden könnte. Die fundamentale
Resonanz jedoch, wenn sie als eine anfängliche oder konsti­
tutive gewürdigt werden sollte - wie wäre sie zu denken,
wenn doch von der Seele zunächst und zumeist gilt, daß sie
»in der Welt« ist und sich folglich an einem O rt aufhält, der
sich - um sehr wenig zu sagen - durch eine gewisse Entfer­
nung zum transzendenten Pol auszeichnet? Wie soll man
sich das Zusammengehören- und Aufeinanderansprechen-
können von Gott und Seele deuten, wenn doch außer Zwei­
fel steht, daß beide im status quo nicht ungetrübt miteinander
verbunden, geschweige denn miteinander identisch sein kön­
nen. Klafft zwischen den beiden seit dem Zwischenfall im
Paradies nicht ein urschmerzhafter Entfremdungsgraben
auf? Gewiß, die religiöse Predigt ist nie müde geworden zu
versichern, daß zwischen den einander entfremdeten Polen
eine Wiederbegegnung möglich sei, ja, daß diese für die Seele
den Inbegriff des Suchens- und Findenswerten darstelle und
daß Gott nur darauf warte, die fremdgegangene Seele zu sich
zurückzuführen. Aber ein solches Eintauchen der Seele in
eine erneute Vertrautheit mit ihrem verlorenen großen An­
deren kann sich nie nur aus einer Zufallsbekanntschaft ent­
wickeln. Auch wird die Seele Gott nicht »zu sich« mitneh­
men, sowenig wie die Seele von Gott einfach mitgenommen
werden kann; denn wo wären die beiden je für sich zu Hause
außerhalb ihrer Begegnung? Wenn sie sich kennenlernen,
dann eben indem die Seele dessen inne wird, daß sie längst
kennt, was sie wieder kennenlernt; solches Sichkennen
schließt ein, daß sie vor Zeiten einander in gewisser Hinsicht
mitgenommen haben oder von einander mitgenommen wor­
den sind. Auf durchaus unklare Weise sind sie also schon in-
einandergefügt, da sie einander nicht wieder kennenlernen
könnten, wenn sie nicht voneinander entfremdet wären,
voneinander aber nicht entfremdet sein könnten, wenn sie
55« Kapitel 8

sich nicht von alters her kennten. (»Wirklich, ich habe sein
Gesicht schon irgendwo gesehen«, läßt Dostojewskij seine
Heldin Nastasja Filippowna über den Fürsten Myschkin,
den Idioten, nach der ersten Begegnung sagen.) Ihre Ineinan­
derfügung umfaßt die älteste Offenheit aufeinander hin
ebenso wie den primordialen Bruch. Aber weil der Bruch die
Beziehung als solche erst ermöglicht und erkennbar macht,
so kann, wie es scheint, die Wahrheit über das Gesamtver­
hältnis nur nachträglich vor Augen kommen - und wie man
verschärfend sagen könnte: von vornherein nachträglich. Im
Nachträglichen muß das Immer-Schon in Erscheinung tre­
ten, während im Zufälligen das seit jeher Gültige sich mit
verzögerter Gewalt geltend macht. Der Inbegriff dieser Ver­
zögerungen heißt Heilsgeschichte, sofern diese von der
Ökonomie Gottes handelt - also von seinen Versuchen, See­
lenverluste nachträglich wiedergutzumachen. Gott und Seele
lernen sich kennen, weil sie sich kennen, aber ihr Sichkennen
ist früh - oder sogar von vorneherein? - geprägt von der Nei­
gung zu einem Verkennen, das sich als Widerstand, Eifer­
sucht, Entfremdung und Gleichgültigkeit manifestiert.

Es ist Aurelius Augustinus, der in seinen Bekenntnissen die


Dialektik des Wiedererkennens aus der Verkennung in mo­
dellhaften Zuspitzungen durchgeführt hat. Obwohl Augu­
stinus nach dem Konsensus der Kirchenhistoriker nicht der
mystischen Tradition im engeren Sinne zuzurechnen ist,225
darf er als der große Intimitätslogiker der westlichen Theo­
logie gelten. Dies bekundet sich auf überragende Weise im
ersten und zehnten Buch der Confesssiones sowie in den Bü­
chern seines kryptischen Hauptwerks De trinitate, die von
der Zugänglichkeit Gottes durch seine innerseelischen Spu-

225 Z ur Stellung des Augustinus als Portalfigur christlich-abendlän­


discher M ystik vgl. K urt Ruh, Geschichte der abendländischen
Mystik, Band I, Die G rundlegung durch die Kirchenväter und die
M önchstheologie des 12. Jahrhunderts, M ünchen 1990, S. 86f.
Mir näher als ich selbst 559
ren handeln (insbesondere vom achten bis vierzehnten
Buch). Zumal die Bekenntnisse bilden ihrer Schreibweise
nach ein epochales Dokument intimistischer Rede. Durch
ihre Form - die eines erzählenden Monumentalgebets mit
eingeschobenen Dissertationen - stellen sie eine paradoxe
Intimsituation coram publico her: Was Augustinus seinem
Gott während einer Art Ohrenbeichte im Ton peinlicher
Selbstentäußerung vorträgt, ist zugleich ein literarischer und
psychagogischer Akt vor ekklesialer Öffentlichkeit. Der Au­
tor stützt sich auf die etablierten Redeformen von Gebet und
Beichte, die seit frühchristlichen Tagen den theo-psychi­
schen Raum mitstrukturieren. Das glorifizierende Gebet will
das subalterne Herrenlob durch die Jubilation ersetzen, wäh­
rend die Beichte das erzwungene Geständnis durch eine
erleichterte Zuflucht zur Wahrheitsaussprache überbieten
möchte; beide Redeformen sind somit dazu bestimmt, eine
Art von »unerschütterlichem Fundament« für die wahr­
haftige Rede christlichen Typs zu bilden. Die christliche
Sprachanalyse läßt sich leiten von der Annahme, daß die
offenlegende Kraft der Beichtrede tiefer reicht als die
Zwangsoffenlegung der Wahrheit durch die antike Sklaven­
folter vor Gericht.226 Was Wahrheitsförderung angeht,
scheint das religiöse Beichtgeständnis produktiver als das ju­
ridische Zwangsgeständnis, weil es schon in der Hoffnung
auf eine entgegenkommende Milde ausgesprochen werden
darf; hingegen läßt sich unter der Folter das Motiv, eigene
oder fremde Taten zu verschweigen oder zu verzerren, nie
dauerhaft und mit innerer Zustimmung der Geständigen ent­
kräften. Wer dem Folterschmerz standhält, kann leugnen bis
zuletzt und sich im Widerstand gegen die peinlichen Befra-
ger endgültig verschließen. In der Beichte hingegen wäre die
Lüge ein Widersinn, weil die Idee der confessio selbst auf der
Einsicht in den Vorteil, die Wahrheit zu sagen, beruht. Der

226 Vgl. Page DuBois, Torture and Truth, N ew York 1991.


jéo Kapitel 8

Lohn der Konfession ist, daß, wer die Wahrheit sagt, »in die
Wahrheit« kommt:227 eben damit setzt das intimitätslogische
Drama ein, das dem augustinischen Denken seine lebhafte
Modulation verleiht. Denn nach dem Umschwung zur
»wahren Religion« kann Wahrheit nicht mehr nur als Eigen­
schaft von Sätzen und Reden gelten; Wahrheit soll gleichsam
das In bilden, in das alles Reden und Leben getaucht sein
will.228 Der Prüfstein dafür, daß ein Beichtender sich »wahr­
haft öffnet«, ist der Geständnisschmerz, der ihn bewegt, be­
glaubigt, reinigt und von seiner Vergangenheit trennt. Die
Beichte zeichnet der Seele gleichsam die Flucht in die Unver-
hohlenheit vor: Unmißverständlich gibt die Konfession der
griechischen Idee von Wahrheit - aletheia oder Unverbor­
genheit - eine Wendung ins Christliche, und damit ins Dia­
logische; nun erscheint das wahre Wort menschlicherseits als
Geständnis, göttlicherseits als Offenbarung, wobei Offenba­
rung und Geständnis dies gemeinsam haben, daß sie je auf
ihre Weise die nachträgliche (christlich gesprochen: gnaden­
hafte) versöhnende Wiederöffnung eines verlorenen Zugangs
zum Inneren des anderen Teils bewirken. Dies führt zur
Wiederholung der tragischen Katharsis mit christlichen Mit­
teln; kaum nötig zu sagen, daß mit dem Wahrheitsspiel des
Beichtgeständnisses ein Prototypus alteuropäischer Psycho-
therapeutiken die historische Bühne betreten hat.
Aus dem so suggestiven wie voraussetzungsvollen Mo­
dell, daß »in der Wahrheit sein« schon muß, wer die Wahr-

227 Zum M otiv des »In-der-W ahrheit-Seins« oder der R ückkehr in den
»Schoß der Wahrheit« vgl. oben das 4. Kapitel, Die K lausur in der
M utter, S. 283 f.
228 Vgl. N ikolaus von Kues, Dialogus de D eo abscondito: »denn es
gibt keine W ahrheit außerhalb der W ahrheit. . . D aher findet man
keine W ahrheit außerhalb der W ahrheit, w eder anders noch in an­
derem« (extra veritatem non est ve rita s... N on reperitur igitur ve ­
ritas extra veritam nec aliter nec in alio)', in: N . v. K., Die philoso­
phisch-theologischen Schriften. Lateinisch-Deutsch, Wien 1989,
Band I, S. 300-301.
Mir näher als ich selbst 561

heit über sich selbst zu sagen unternimmt, hat Augustinus


in seinen Konfessionen die äußersten Konsequenzen gezo­
gen. Daß ein Individuum die Wahrheit über seine Wandlung
zur Wahrheit bekennen möchte, gibt einen ersten Hinweis
auf sein In-Sein in ihr; der Umstand schließlich, daß der Be­
kenner sagen kann, was ihm zu sagen gegeben wird, kommt
einem schlagenden Beweis oder einem Gottesurteil durch
die Feder gleich. Das Bekennen vor Gott und dem Kirchen­
publikum wäre ja, dem Modell zufolge, zum Scheitern ver­
urteilt, wenn nicht Gott selbst das Bekenntnis vorhergese­
hen, gutgeheißen, eingegeben und bewirkt hätte. Damit ist
in der exemplarischen Beichtrede auch schon die Unmög­
lichkeit, die Unwahrheit zu sagen, statuiert. So wenig ein
aktuell inspirierter Prophet die Unwahrheit sagen könnte,
so wenig kann ein Autor, der sich im Modus Augustins
selbst der Sünde bezichtigt, die Wahrheit verfehlen. Indem
Augustinus sich als Unterautor der Sprach-Regie Gottes
unterstellt, läßt er sich seine Konfessionen gleichsam von
höchster Seite in den Mund legen: Der Verfasser aller Dinge
gibt durch seinen illuminierten Bischof heilswichtige Nach­
träge zu seinen bisherigen Selbstbekundungen schriftlich
bekannt. Unterautor ist ein analytischer Ausdruck für das,
was üblicherweise ein Apostel heißt: denn Apostel ist, wer
als Vertreter des absoluten Autors spricht oder schreibt.229
Folgerichtig äußert sich Augustinus in der Geschichte sei­
ner Widerstände gegen Gott als ein therapeutischer Apostel.
Die Confessiones lassen sich stimmig als eine Krankenge­
schichte ex cathedra lesen; sie handeln von der Heilbarkeit
des Unglaubens an Gott durch Gott. Auf diese Weise bringt
es der Bischof von Hippo Regius zuwege, die Differenz
zwischen menschlichem Sündenbekenntnis und göttlicher
Offenbarung diskret zu unterwandern; sein Bekennen pro-
229 Z ur makrosphärologischen D eutung des Apostolats vgl. Sphä­
ren II, 7. Kapitel, Wie durch reine Medien die Sphärenmitte in die
Ferne wirkt. Z ur M etaphysik der Telekommunikation.
562 Kapitel 8

voziert eine Fortsetzung der Offenbarung mit anderen Mit­


teln. Wer solcherart vom eigenen, durch die Gnade über­
wundenen Unheilsleben berichtet, verfaßt evangelische
Apokryphen - frohe Zusatzbotschaften von der Bekehrbar-
keit der Widerstrebenden zur frohen Botschaft; auch so
schreibt die heilige Schrift sich selber weiter als Erfolgsge­
schichte ihrer Ausbreitung.230
In-Sein bezeichnet hier eine Lage im Strom der wahren
Sprache: Wer in diesem spricht, schließt die eigene Rede als
Untertext so in den göttlichen Generaltext ein, daß (wenn
möglich) kein äußerer Rest verbleibt. Doch in der vita Chri­
stiana geht es nicht nur um die Einordnung eigener Worte in
die Herrenwortausbreitung; die ganze Existenz soll umge­
bildet werden von einer eigensinnigen zu einer in Gott ent­
haltenen. Gewiß, bei einem Eigensinnigen vom Rang Augu­
stins ist das Opfer des Eigensinns der Rede wert: So diskret
wie möglich und so deutlich wie nötig machen die Confessio­
nes kund, daß dies eine Mal mit Gottes Hilfe die Reduktion
eines Genies auf einen Apostel gelungen sei. Seine eigene Be­
kehrung ist daher für Augustinus selbst von epochal exem­
plarischem Wert. Er ist selber die Antike, die sich zum Chri­
stentum bekehrte; er ist Antike als heilloses Genie und als
Agent einer entgeisterten, in Ehrgeiz- und Gier-Atome zer­
fallenen Gesellschaft; aber er ist auch schon das christliche
Weltalter als Miterfinder einer neuen Gottes-Sphäre, die U n­
zähligen Unendliches verspricht. Als Zeuge dieser Differenz
gibt Augustinus in seinen Bekenntnissen zu Protokoll, daß
die heidnische egoistische Äußerlichkeit überwunden sei
durch ein Sphärenwunder - durch die im Gottmenschen ma­
nifest gewordene und von den apostolischen Nachfolgern
organisierte Heilsinnenwelt, die sich inmitten dieser ver­
äußerlichten Gewaltwirklichkeit auf neue Weise manife­
stiert.
230 Z um Phänom en Religionsgeschichte als Fortschreibung des evan­
gelischen Prozesses durch Apostelgeschichte vgl. Anm. 190.
Mir näher als ich selbst 563
Die in Gott zurückgenommene, vormals rebellische Seele
muß sich, Augustinus zufolge, nachträglich Rechenschaft
davon ablegen, daß sie ohnedies zu jedem Zeitpunkt ihres
scheinbar eigenwilligen Laufs von vorneherein durchschaut
und in eine göttliche Ökonomie einbezogen war. N un gibt
sie zu, ihr Glück gefunden zu haben in der allesdurchdrin-
genden ständigen Überwachung durch ihren großen Ande­
ren.
»Dir freilich, Herr, vor dessen >Auge offenliegt< der
Abgrund des menschlichen Bewußtseins (abyssus hu­
manae conscientiae), was in mir wäre Dir verborgen,
auch wenn ich nicht bekennen wollte? So täte ich wohl
mein Auge weg von Dir, aber Du nicht das Deine von
mir. Aber nun, da doch mein Seufzen Zeugnis gibt, daß
ich mir mißfalle, nun erstrahltest Du, und auf Dich
geht Gefallen, Liebe, Verlangen, so daß ich erröte über
mich, mich verwerfe, dich wähle und wie Dir so mir al­
lein in Dir gefallen will {et nec mihi nec tibi placeam
nisi de te). Dir also, Herr, bin ich offenbar, mag ich sein
wie im m er... Und wenn ich so mit Worten zu den
Menschen rede, sage ich Ihnen nichts Wahres, was
nicht Du zuvor von mir vernommen, und Du ver­
nimmst von mir Wahres nur, wenn Du zuvor es mir ge­
sagt hast.« {Confessiones. X, 2,2)231
So wie Augustinus hier seine Durchsichtigkeit für die abso­
lute Intelligenz und sein Mediumsein für den Wahrheitsaus­

231 Zitiert nach: Augustinus, Bekenntnisse. Lateinisch und Deutsch,


eingeleitet, übersetzt und erläutert von Joseph Bernhart, Frankfurt,
1987, S. 487-489; die Stelle n e c m ih i.. .placeam nisi de te wäre wohl
besser so zu übersetzen: »ich möchte mir nicht gefallen, es sei denn
von dir her«. Die Form el in te, »in Dir«, von Augustinus häufig ver­
wendet, bezeichnet eher die topologische oder situologische Struk­
tu r der Ich-Gott-Beziehung; hier hingegen w ird durch die Wen­
dung de te die Beziehung zum eigenen Ich in dynam ischer Sicht als
Binnenbeziehung der Beziehung zu G o tt hervorgehoben: Wenn ich
mir etwas bin, dann, weil ich D ir etwas bin.
5é 4 Kapitel 8

druck des großen Anderen klassisch artikuliert, so bringt er


an anderer Stelle seine existentielle Verschränkung mit dem
Umfassenden in Wendungen zum Ausdruck, die das Verhält­
nis zu Gott dilemmatisch als ein Da-Sein-in-einem-Umfas-
senden-und-Durchdringenden darstellen.
»Wie aber soll ich meinen Gott anrufen... da ich doch,
wann ich ihn rufe, in mich hinein ihn rufe? Und wel­
ches ist der O rt in mir, wohin er kommen soll, mein
Gott? {Et quis locus est in me, in quo veniat in me deus
meus?) Wohin soll Gott in mir denn kommen, Gott,
der >den Himmel gemacht hat und die Erde<? Ja ist
denn, Herr, mein Gott, etwas in mir, das Dich fassen
könnte {capiat te)} Aber Himmel und Erde, die Du ge­
macht hast, fassen die Dich denn? Oder - weil ohne
Dich nicht wäre, was da immer nur ist: steht es so, daß
alles, was ist, Dich faßt? N un aber bin auch ich, was
bitt ich also noch, daß Du kommest in mich, der ich
nicht wäre, wenn Du nicht wärest in m ir?... Nicht
also wäre ich, mein Gott, ja gar nicht wäre ich, wenn
Du nicht wärest in mir. Oder vielmehr, wär ich nicht,
wenn ich nicht wär in Dir, >aus dem alles, durch den al­
les, in dem alles< (Römer 11,36)? Auch so ist’s, Herr,
auch so. Wohin soll ich Dich denn rufen, da ich in Dir
doch bin? Und von woher kämest Du in mich? Wohin
sollte ich mich, über Himmel und Erde hinaus, zu­
rückziehen, daß dorthin in mich mein Gott käme, der
gesagt hat: >Himmel und Erde erfülle ich<?« {Confes­
siones I, 2,2)232
Diese Denkbewegung zeigt ein endliches Bewußtsein in der
Tendenz, sich selbst zugunsten des unendlichen aufzugeben.
Hierin betritt Augustinus die Bahnen der griechischen Meta­
physik, die dem vergänglichen Leben den Untergang in der
ewigen Substanz nahelegt. Wenn Gott die Wahrheit und die

232 Ibid., Ü bersetzung leicht modifiziert.


Mir näher als ich selbst 565

Wahrheit die Substanz ist, dann muß die haltlose Subjektivi­


tät der Einzelnen, wenn es ihnen mit der Wahrheit ernst
ist, sich von sich selber losreißen und sich aus der eigenen
Unwesentlichkeit und Scheinhaftigkeit ins Wesentliche und
Wirkliche retten. Wer könnte leugnen, daß ein Großteil
christlicher Theologien sich stets in einem mehr oder weni­
ger expliziten Einverständnis mit diesem Grundgedanken
der Substanzmetaphysik befand? Wo metaphysische Be­
griffe herrschen, wird Wahrheitssuche als Anlauf zur Kon­
version vom Nichts zum Sein verstanden; christlich gespro­
chen: als Streben vom Tod im Schein zum Leben in der
Wahrheit. Für dieses Sichhinüberretten in die Substanz
kennt die lateinische Tradition den Ausdruck Transzen­
dieren - ein Wort, von dem man zuwenig sagt, wenn man
bemerkt, daß es im Denken und Empfinden Alteuropas
Geschichte gemacht hat. Transzendenzdenken, auch als
christliche Metaphysik, organisiert gleichsam die Flucht des
nichtigen Daseins in den guten Grund. Für das Ingenium der
augustinischen Theologie ist es kennzeichnend, daß sie damit
begann, das unumgängliche metaphysische Loskommen von
sich selbst durch ein Entgegenkommen Gottes in das schein­
bar nichtige Selbst auszubalancieren. Von Augustinus wird
die illuminierte Seele dazu angehalten, sich in ihre eigene
Komplexität zu versenken, um in dieser die Spuren des drei­
fach in sich selbst gefalteten Gottes aufzudecken. Der Aus­
stieg des nichtigen Subjekts aus sich selbst und sein Über­
stieg in die Substanz werden erwidert oder belohnt durch
einen Einstieg der Substanz in das Subjekt: Dieses wird von
nun an wesenhaft gebraucht zum Kennenlernen Gottes
durch die Kreatur und zum Festhalten an dieser Bekannt­
schaft. Auf diese Weise wird der Subjektivität, augustinisch:
dem inneren Menschen - von nun an zum Träger der Gottes­
spur erhoben -, eine ungewöhnlich erhöhte Würde zuge­
standen. Der menschliche Geist mag das Universum der ge­
schaffenen Dinge in allen Instanzen durchstreifen, er wird
j6é Kapitel 8

doch niemals außen fündig werden. Wenn Gott sich finden


läßt, dann nur nach einer Wendung des Suchers ins eigene In­
nere. An seinen eigenen geistigen Vermögen erfährt der er­
folgreiche Sucher einen Abglanz des Gesuchten.
»Siehe, welchen Raum ich durchmesse in meinem Ge­
dächtnis, um Dich zu suchen, Herr, und es war nicht
äußerlich,233 wo ich Dich gefunden habe. Denn ich
finde nichts von Dir, was nicht ein Erinnern wäre von
der Zeit her, da ich Dich kennen lernte. Denn seitdem
ich Dich kennen lernte, habe ich Deiner nicht verges­
sen. Wo ich die Wahrheit fand, da fand ich meinen
Gott, die Wahrheit selbst, und seit ich die Wahrheit
kennen lernte, habe ich ihrer nicht vergessen. So also
seit dem Tage, da ich Dich kennen lernte, wohnst Du
in meinem Gedächtnis (manes in memoria mea), und
dort finde ich Dich, sooft ich Deiner gedenke, und
freue mich in Dir {in te)... Wo aber wohnst Du in mei­
nem Gedächtnis, Herr, wo wohnst Du dort? Welche
(Schlaf)Kammer {cubile) hast Du Dir bereitet? Welche
heilige Zelle (sanctuarium) hast Du Dir erbaut? Du
hast diese Ehre meinem Inneren {memoriae meae) an­
getan, daß Du wohnst darin; aber an welcher Stelle
dort Du wohnst, darüber sinne ich nach...
Aber was frage ich hier nach einem Ort, wo Du
wohnst {habites), als wäre da Raum und Ort! Genug,
ich weiß, Du wohnst darin; denn ich bewahre Dich im
Geiste, seit dem Tage, da ich Dich kennen lernte {ex
quo te didici), und ich finde Dich dort, wenn ich Dei­
ner eingedenk werde...
Wo also habe ich Dich gefunden, daß ich Dich kennen
lernte? Wo anders als in Dir, über mir {in te, supra me)?
Nirgends ist der Ort; wir gehen weg, wir gehen hin;
und nirgends ist doch O r t...
233 extra eanr. d. h. nicht außerhalb des Gedächtnisses w ird G o tt ge­
funden.
Mir näher als ich selbst 567

Spät habe ich Dich geliebt, Du Schönheit, so alt und so


neu, spät habe ich Dich geliebt. Und siehe, Du warst
innen und ich war draußen... Du warst bei mir, ich
war nicht bei D ir...« (Confessiones X, 24-27)
Nun zeigt sich, warum die Seele, die ihr Verhältnis zu Gott
zu klären sucht, für ihr Vorhaben wesenhaft Zeit braucht.
Zwar ist der Bezug Gottes zur Seele überzeitlich, der Bezug
der Seele zu Gott hingegen ist zeitlich oder geschichtlich, so­
fern die Geschichte, christlich begriffen, die Affaire des End­
lichen mit dem Unendlichen bedeutet.234 In dieser Affaire ge­
schieht das Entscheidende immer spät. Die Seele hat Glück,
wenn sie spät Glück hat; spät Glück haben heißt eben noch
rechtzeitig das Richtige richtig lieben lernen. Im Zentrum des
so verstandenen eigentlich geschichtlichen Geschehens steht
die prekäre Zurückbringung der Seelen aus ihrer selbstver­
schuldeten Äußerlichkeit. Der Affairencharakter der Bezie­
hung zwischen Seele und Gott wird bei Augustinus durch die
Rede vom Kennenlernen markiert. Dies meint, wie oben ge­
zeigt, eine Bekanntschaft, die mehr als eine ganz nachträgli­
che sein muß; wenn die Seele Gott - wieder - kennenlernt, so
ist dies ein Zufall, an dem nichts zufällig ist; er enthüllt in sei­
nem Fortgang die Verschränkung beider ineinander a priori.
Im Kennenlernen - dies bezieht sich zunächst auf die Kon­
version und das Bibelstudium Augustins - vertieft sich not­
wendigerweise die Einsicht in ein ursprüngliches Sich-Ken-
nen, das vor die Affaire, das heißt die Entfremdung und ihre
Umkehrung, zurückreicht. Bei seiner Deutung dieser Ur-Be-
kanntschaft legt Augustinus die katholischen Karten auf den
Tisch: Wenn die Seele in ihr Äußerstes zurückgeht, so erreicht
sie nicht, wie sie es beim metaphysischen Transzendieren be­

234 Wäre hier der O rt, die theologische D eduktion der Zeitlichkeit zu
wiederholen, so wäre die Differenz zwischen Theodram a (Gottes
Prozeß mit der Welt) und Affaire (der Prozeß der Seele mit G ott)
zu entwickeln; für unseren K ontext genügt es, den A spekt der A f­
faire in den Vordergrund zu rücken.
568 Kapitel 8

ansprucht, ihre völlige Selbstaufhebung in der Substanz; sie


steigt vielmehr nur auf bis an die geheimnisvolle Stelle, wo sie
sich, obwohl in innigster Enthaltenheit geborgen, doch schon
von Gott in gewaltloser Verschiedenheit abzuheben begann
- die Rede ist vom Augenblick der Schöpfung und von der
Einhauchung j enes Atems, durch die der Lehmling zum Men­
schen wurde.235 Augustinus hat die sanfte Urdifferenzierung
der Seele aus dem Gesamtumfang Gottes heraus zeitlebens
mit größter Diskretion umhegt und sich nirgendwo zu expli­
ziten Aussagen verführen lassen, die unvermeidlich hätten
verfänglich geraten müssen. Er hat einen weiten Bogen ge­
schlagen um das Mysterium der Schwangerschaft der Seele in
Gott; auch von einer unio hat er kaum je affirmativ geredet.
Gewiß ist für ihn nur, daß es sich bei der Ausdifferenzierung
der Seele aus Gott um einen Schöpfungsvorgang handelt, in
dem Identität und Differenz je das Ihre erhalten: das biblische
Kennwort für diese Balance heißt Ebenbildlichkeit. Recht­
gläubig und katholisch hält Augustinus an der Lehre von der
Kreatürlichkeit der Seele fest. Es kommt für ihn nicht mehr
in Frage, den neuplatonischen und den gnostischen Über­
schwang zu teilen, der die Geistseele mit Gott gleichaltrig und
gleichwürdig haben möchte. Im Verhältnis zum Inbegriff des
Geistes, Gott, ist die einzelne Seele, christlich gedacht, unab­
dingbar die jüngere, doch tastet ihr Juniorat das verwandt­
schaftlich innige Band nicht an; auch als geschaffene und jün­
gere ist die Seele Geist vom Geiste. Vor dem Einsetzen der
entfremdenden Affaire - vor der egoistischen Revolte also
und ihrer miserogenen Gewaltspur - gibt es keinen zurei­
chenden Grund a priori, warum sich das Jüngere vom Älteren
entfremdet haben müßte. Darum legt Augustinus in seinen
Genesis-Auslegungen großen Wert auf die geglückte primäre
paradiesische Koexistenz - denn sie soll beweisen, daß Men­
schenschöpfung etwas ist, was nicht von vorneherein mißlin-
235 Vgl. oben in der Einleitung den Passus über Theo-Technik, S. 31-
Mir näher als ich selbst 569

gen mußte. Ohne die Flitterwochen des Schöpfungsmorgens


wäre ja die Ausgliederung der Einzelseele aus Gott selbst
schon ein schöpfergottverschuldetes Verhängnis gewesen,
und die Schöpfung als solche müßte sich als unausweichliche
Falle für die Seele erweisen. Dann aber wäre der Schöpfer
kompromittiert, und ein Erlösergott könnte nur noch als der
Nicht-Identische ins Spiel kommen; nur er, der Ganz-An­
dere, wäre es, der wüßte, was der Seele zu ihrem Heil nottut.
Von dergleichen gnostisierenden Greueln wird die Recht­
gläubigkeit entsetzt sich abwenden. Wenn es mit rechten ka­
tholischen Dingen zugehen soll, muß an einer glücklichen
Urbekanntschaft der geschaffenen Seele mit ihrem Schöpfer
festgehalten werden. Erst dann erklärt die fatale Affaire den
Rest - den mutwilligen Fall Adams in den Hochmut und des­
sen Zeit, die Weltgeschichte (die durch die Gegenzeit, die
heilsgeschichtliche, kompensiert wird). Wird die Urbekannt­
schaft erneuert, dann kann die Seele sich zurücksinken lassen
an ihren O rt jenseits aller physischen Orte, in der Gewißheit,
daß der große Andere ihr tiefer innewohnt als sie sich selbst:
interior intimo meo.21’6

Man erkennt, wie in der Theo-Psychologie und Theo-Erotik


der lateinischen Väterzeit eine Analytik des In-Seins ausge­
arbeitet worden ist, die an Komplexität und Explizitheit
wenig zu wünschen übrig ließ. Wenn die augustinische In­
timitätslogik weitergebildet werden konnte, so nur durch
Radikalisierung ihrer bereits vollständig auskristallisierten236

236 Confessiones III, 6, 11: »Tu autem eras interior intimo meo et supe­
rior summo meo.« Diese höchste Aussage des christlichen topolo­
gischen Surrealismus w ird weiter unten, Sphären II, 3. Kapitel A r­
chen, Stadtmauern, Weltgrenzen, Immunsysteme. Z ur O ntologie
des um m auerten Raums, durch seine architekturgeschichtlichen
Voraussetzungen erläutert. Dabei kom m t der komparative Sinn
von Innen im Licht der imperialen persischen Palastarchitektonik
zum Vorschein: Innerlich ist das, was in einem System verschach­
telter Räume nicht nur intus, sondern interior, »weiter innen« liegt.
ITO Kapitel 8

Strukturen. Dies betrifft vor allem den hot spot des augusti-
nischen Intimitätsfeldes - die latent aktuelle urbekannt-
schaftliche Relation zwischen Gott und Seele. Daß in deren
Deutung ein heterodoxes Potential latent lag, versteht sich
leicht, und ebenso, daß dieses sich entladen mußte, sobald
genuin mystische Temperamente den Versuch aufnahmen,
die Relation von Seele und Gott bis in vor-relative Unionen
zu radikalisieren. Dieses asketisch-theoretische Schauspiel
vollzog sich, meistens unter diskreten Formen, hinter dem
dichten Vorhang der christlichen Mystik, von der Martin Bu­
ber, neben anderen, zu Beginn unseres Jahrhunderts gezeigt
hat, wie sie sich in den mystischen Zeugnissen der übrigen
monotheistischen Traditionen spiegelt, und darüber hinaus
in den ekstatischen Disziplinen der Weltkulturen.237 N ur ge­
legentlich, bei Häretikerprozessen zumal, hat dieser Vorhang
sich gehoben und dem Publikum die Sicht auf Kämpfe im
Unanschaulichen freigegeben. In der mystischen Literatur
entwickelt sich die Analytik des In-Seins zu einer Zwei-Ei­
nigkeitsübung, die ihre eigenen Virtuosen hervorgebracht
hat. Unter mystisch-theologischem Patronat hat sich das
Denken in reziproken Ineinanderwirkungen zuerst bis zu je­
ner Höchstexplizitheit entfaltet, die solchen Dokumenten
noch heute einen anziehenden Nimbus von Relevanz - wenn
man nur wüßte wofür - verleiht. Wenn das Korpus mysti­
scher Literatur auch in moderner Zeit auf zahllose Leser
nicht nur vage faszinierend wirkte, sondern für spezifisch
zeitgenössische Fragen und Bedürfnisse bedeutsam schien,
so wohl deswegen, weil der mystische Text in seiner dunklen
Deutlichkeit ein begriffliches und bildliches Potential ab­
strahlt, für das es bisher nirgendwo gleichwertigen Ersatz
gab: Wir meinen eine Theorie jener starken Beziehung, die

237 Vgl. Ekstatische Konfessionen. Gesammelt von M artin Buber,


Leipzig 1909; 5. Aufl. Heidelberg 1984; neu herausgegeben und ein­
geleitet vom Verfasser unter dem Titel: Mystische Zeugnisse aller
Zeiten und Völker, M ünchen 1994.
M ir n ä h e r als ic h s e lb s t 571

sich nur als Bi-Subjektivität oder Ko-Subjektivität - in unse­


rer Terminologie: als mikrosphärisches Dual oder als ellipti­
sche Blase - verstehen läßt.
Daß die Beziehung auf Gleichartiges etwas ist, was nicht
nachträglich oder hinzukommend zwischen monadischen
Substanzen oder einsamen Individuen hergestellt wird, son­
dern für manche Wesen ihre Seinsweise selbst ausmacht: dies
ist ein Gedanke, der gerade den philosophisch konditionier­
ten Intelligenzen nicht von Anfang an einleuchten konnte; er
mußte in einem mühevollen und riskanten Exerzitium aus
dem abweisenden Material der griechisch-alteuropäischen
Grundbegrifflichkeit herausgearbeitet werden. Dürfte man
sich noch auf eine List der Vernunft in der Geistesgeschichte
berufen, so könnte man behaupten, sie sei am Werk gewesen,
als es darum ging, mit Hilfe von mystischen und trinitari-
schen Theologien die Idee der starken Beziehung durchzu­
setzen gegen die geltende Grammatik westlicher Rationali­
tätskultur, mithin gegen jenes Denken in Substanzen und
Wesenheiten, mit dem der europäische Vernunftprozeß von
den Griechen her in Gang gekommen war. Auch heute ist,
trotz dialektischer, funktionalistischer, kybernetischer und
medienphilosophischer Revolutionen der Denkungsart, die
Sache der starken Beziehung keineswegs gewonnen; die Idee
der konstitutiven Resonanz ist in den aktuellen Wissenschaf­
ten vom Menschen so erläuterungsbedürftig geblieben wie
einst die Affaire zwischen Gott und Seele in der mystischen
Theologie. Die Dogmatik einer primären Einsamkeit des
Menschen wird gerade in der Moderne, und nicht zuletzt
dort, wo diese tief oder radikal sein will, so triumphal wie
kaum je zuvor zum Vortrag gebracht. Es ist nicht nur ein Zu­
fall, wenn man nach populärem Sprachgebrauch heute als
eine Beziehung das bezeichnet, was sich zwischen Indivi­
duen abspielt, die sich zufällig kennengelernt haben und die,
solange sie sich frequentieren, sich schon darin üben, ein­
ander eines Tages wieder zu entbehren. Das mystische Pen-
572 Kapitel 8

sum bestand hingegen darin, die Beziehung nicht als nach­


trägliche und zufällige, sondern als grundgebende und un­
vordenkliche zu begreifen. Hätte die religiöse Mystik ein
anthropologisches Mandat besessen, es hätte darin bestan­
den, in allgemeinen Ausdrücken zu erklären, warum Indivi­
duen nicht in erster Linie durch Unerreichbarkeit für An­
dere zu definieren sind. Spräche die Mystik mit einer
moralischen Stimme, sie drückte sich in der Forderung aus:
Erwärme dein Eigenleben bis über den Gefrierpunkt - und
tu, was du willst. Wenn die Seele taut, wer wollte zweifeln an
ihrer Neigung und Eignung, mit anderen zu feiern und zu
arbeiten?
Um die Bedeutung dieser Einsicht zu ermessen, wird es
für den freien Geist von Vorteil sein, sich von dem antichrist­
lichen Affekt der letzten Jahrhunderte wie von einer nicht
länger nötigen Verkrampfung zu emanzipieren. Wer heute
kommunionale und kommunitarische Grunderfahrungen
rekonstruieren möchte, braucht auch Freiheit vom antireli­
giösen Reflex. Hatte das frühe Christentum seine Stärke
nicht gerade in gemeindlichen Grunderfahrungen gefunden?
Deren Selbstdeutung drängte auf eine neue Theorie des Gei­
stes, die den Grund des Zusammenseinkönnens von Men­
schen in animierten Kommunen zur Sprache brächte. In der
paulinischen Geistlehre, insbesondere in dem Wort von der
Liebe Gottes, die ausgegossen sei in unsere Herzen durch
den heiligen Geist, der uns gegeben ist (Römerbrief 5,5), wird
das Prinzip der solidarisierenden Vereinigungsmacht klas­
sisch auf den Begriff gebracht. Sie betrifft freilich in erster Li­
nie den Zugang der Seelen zu ihresgleichen; es ist ein weiter
Weg vom pneumatischen Enthusiasmus der frühchristlichen
Gemeindeerfahrungen bis zur Prätention mancher mittelal­
terlichen Mystiker, die Schranke zwischen Gott und Einzel­
seele schlechthin zu durchbrechen.
Mir näher als ich selbst 573

Zur Außenansicht des In-Seins: der Pfeil des Engels und der Strahlenregen
von oben verbinden sich in einer Synergie der Penetration. Lorenzo Bernini,
Die Verzückung der Heiligen Teresa, Santa Maria della Vittoria, Rom

Was das mystische Dual im engeren Sinn angeht, so hat eine


unermeßliche Literatur die intimen Annäherungen der Seele
an Gott bis an den Punkt der völligen Entgrenzung und Ver­
einigung wortreich wortarm ausgearbeitet. Wenn man es auf
diesem Feld, sprachkritisch gesehen, fast ausnahmslos mit
Stereotypen und Variationen zu tun bekommt, so deswegen,
weil im christlich-alteuropäischen Raum - wie auch im isla­
mischen - die Endstadien der Affaire zwischen Gott und der
Seele unter einem neuplatonischen Monopol stehen, sei diese
Quellenbeziehung auch noch so okkult. Was immer man an
Dokumenten aufschlagen mag - unter den diversesten Auto­
rennamen und den buntesten Richtungs- und Herkunftsbe­
zeichnungen setzt sich ein einziges Muster für das mystische
Finale durch; der neuplatonische Lektürekurs zwingt sich
auf, auch wo die Autoren selbst ihre Abhängigkeit vom plo-
574 Kapitel 8

tinischen Modell verkennen und die Leser durch die Anony-


mie der Quelle getäuscht werden. Was in unzähligen Doku­
menten von zahllosen Autoren mit bekenntnishafter Glut
zur Aussprache gebracht wird, reproduziert immer dieselbe
Folge von Urszenen und Endszenen, die beim Rückstieg der
Seele ins Eine durchlitten werden müssen. Im Blick auf
die mystischen Bewegungen des europäischen Mittelalters
drängt sich die Bemerkung auf, daß die erregendsten eigenen
Gedanken fremde Gedanken sind, die unsere Köpfe benut­
zen. Mochten also die mittelalterlichen Theologenfakultäten
ihre Kontrolle über die wahre Lehre fest in Händen halten;
die Höchstbegabten studierten doch, man weiß nicht recht
wie, an einer plotinischen Teleakademie, die unter christli­
chen Pseudonymen spätgriechisches Erlösungs- und Seelen­
aufstiegswissen ausstreute.
Als ein Zeugnis unter unzähligen zitieren wir einen Passus
aus dem als häretisch verdammten Spiegel der einfachen See­
len - Le mirouer des simples ames - (entstanden kurz vor
1285) der Begine Margareta Porete, die um 1255 bei Valenci­
ennes in Nordfrankreich geboren wurde und am 1. Juni 1310
auf der Place de Grève zu Paris unter dem Vorwurf, eine
rückfällige Ketzerin zu sein, öffentlich verbrannt wurde. Ihr
Buch zeigt - unter heftigen anti-ekklesialen Akzenten - die
Suche nach einem vermittlungslosen Vollzug der zwei-eini­
gen Union zwischen der Seele und Gott.
» ... Diese Seele, spricht die Liebe, hat sechs Flügel, ge­
rade wie die Seraphim. Sie will nichts mehr, das ihr
durch Vermittlung zukäme. Die den Seraphim eigene
Seinsweise besteht darin: zwischen ihrer Liebe und
Gottes Liebe gibt es kein Vermittelndes. Sie erhalten
ständig Kunde ohne Vermittler. Und so hat auch diese
Seele Kunde; denn sie sucht die Gotteswissenschaft
nicht unter den Lehrmeistern dieser Welt, sondern in
wirklicher Verachtung der Welt und ihrer selbst. Ach,
bei Gott! Welch großer Unterschied besteht doch zwi-
M ir n ä h e r a ls ic h s e lb s t 575
sehen dem Geschenk eines Freundes an eine Freundin
durch Vermittlung und einem Geschenk unmittelbar
vom Freund zur Freundin!«238
Es liegt auf der Hand, daß die Ablehnung eines Vermittlers
zwischen den Kommunionspartnern schließlich jede Dritt-
heit 7/8 eliminieren muß. Das Geschenk kann darum weder
einen Überbringer haben noch eine stoffliche Gabe bleiben;
es geht in der Selbstgabe des Gebers auf. Ausführlich spricht
Margareta Porete über die Notwendigkeit für die Seele auf
dem Weg zur Einfachheit, sich selbst so weit zu vernichten,
daß ihre Eigenheit nicht länger das Geschenk des göttlichen
Selbstgebers behindere. Durch den großen Subjektwechsel
will sie dahin gelangen, daß Gottes Wille künftig durch sie
für sie will.
» ... Und darum trennt die Seele sich von diesem Wol­
len, und das Wollen trennt sich von einer solchen Seele.
Von jetzt an gibt sie es zurück und schenkt und über­
läßt es Gott, da wo es ursprünglich hergenommen war,
ohne an irgend etwas Eigenem festzuhalten, um den
vollkommenen göttlichen Willen zu erfüllen. Ohne
diese Rückgabe kann er in der Seele nicht erfüllt wer­
den, die Seele erlitte sonst stets Krieg oder Nieder­
lage ... Sie ist nun alles und ist auch nichts, denn ihr
Freund hat sie zu einer gemacht.. .«239
Auffällig ist, wie in Margaretas Text die theo-erotischen bi­
polaren Resonanz-Figuren zunehmend überflügelt werden
durch den metaphysischen Drang zur Einswerdung; dieser
ist bei der eigensinnigen Begine so mächtig, daß er wenig Zeit
mit dem üblichen Pensum der Grade und Stufen des Auf­
stiegs verliert; die langgezogenen Etappen der Itinerare, die
der Seele den Weg zu Gott heilsam umständlich vor Augen

238 M argareta Porete, D er Spiegel der einfachen Seelen. Aus dem A lt­
französischen übertragen und mit einem N achw ort und Anm er­
kungen von Louise Gnädinger, Zürich - M ünchen 1987, S. 21.
239 Ibid., S. 173-174.
57^ Kapitel 8

stellen, sind Margareta Poretes Sache nicht. Sie ist in gewisser


Weise von Anfang an im Ziel, und wenn das mystische Exer­
zitium sonst nur als die geduldige Ausarbeitung einer unge­
duldigen Übereilung korrekt vollzogen werden durfte, so
kommt bei dieser illuminierten Autorin die Geschwindigkeit
als solche als Agens der Erleuchtung zum Zuge. Kaum ist die
unmögliche Aufgabe ausgesprochen, wird sie auch schon als
gelöst behauptet. Was den mystischen Individualismus frei­
setzt, ist die Aufhebung der Geschwindigkeitsbeschränkun­
gen für den Selbstgenuß in Gott. Damit wird auch die duale
Struktur der Affaire zwischen Gott und Seele angetastet und
überflogen. Die neuplatonische Ambition, ganz aus der
Zweiheit auszutreten, um sich an das Eine zu entäußern,
müßte schließlich, würde sie zum Nennwert genommen, das
Liebesspiel der ineinanderversetzten Partner ersticken, wenn
nicht zugleich der entfesselte Rede-Elan der Mystikerin
durch einen gegenläufigen Effekt dafür sorgte, daß die
Affaire auch im Scheitelpunkt ihrer Vollendung expressiv
und redselig weitergeht. Auf dem Höhepunkt der Beziehung
bekennt sich die Seele zu einer eigentümlichen Beziehungs-
losigkeit; sie nimmt für sich in Anspruch, nun aufgestiegen zu
sein bis in einen Immanenzraum vor aller Unterscheidung.
»Alles ist ihr einerlei, ohne ein Warum, sie aber ist
nichts in solcher Gleichheit. Darum hat sie sich nicht
mehr um Gott zu kümmern, wie auch Gott nicht um
sie. Warum? Weil er ist, sie aber nicht ist. Sie, ein
Nichts, hält nichts mehr für sich selbst zurück, denn
ihr genügt jenes, nämlich daß er ist, sie jedoch nicht ist.
Da ist sie von allen Dingen entblößt, denn sie selbst ist
ohne Sein, da wo sie war, bevor sie war. Und durch die
Umwandlung der Liebe ist sie das, was Gott ist, in je­
nem Punkt, in dem sie war, bevor sie aus der Güte Got­
tes ausgeflossen ist.«240

240 Ibid., S. 208.


Mir näher als ich selbst 577
Wie zahllose verwandte Dokumente gibt Margareta Poretes
resolut neuplatonischer Vortrag zu erkennen, unter wie ho­
hen Kosten nur die Sprache der unbedingten Liebe - oder
der primordialen Beziehung - sich erobern ließ. Die
schlechthinnige Zugehörigkeit der Seele zu Gott und beider
zueinander war auszusagen nur um den Preis, daß der seeli­
sche Relations-Pol durch Selbstannihilierung Raum gab für
den Einzug des großen Anderen in ihn. Mithin, was die Be­
ziehung zu einer radikalen machen sollte, vernichtet die Be­
ziehung als solche. Waren es eben noch zwei, so muß nun
eins von beiden gehen; wo Seele war, soll Gott alles werden.
Der Gedanke der gegenseitigen Einwohnung, von der Augu­
stinus in reicher Instrumentierung zu sprechen gewußt hatte,
tritt gegenüber dem überhitzten neuplatonischen Einungs­
muster in den Hintergrund. Im Tausch gegen diesen Verlust
an Gegenseitigkeit wird die Chance wahrgenommen, die In­
timität zwischen Gott und Seele bis in vorgeschöpfliche Re­
gionen zurückzudatieren. Infolgedessen muß, an der seman­
tischen Oberfläche der mystischen Konfession zumindest,
der Sog zum Selbstopfer des Subjekts zugunsten der Sub­
stanz übermächtig werden. Was eine mystische Hochzeit
hätte werden sollen, gerät scheinbar zum Selbstbegräbnis des
Subjekts in der Substanz. Aber hören wir richtig? Klingt
wirklich der aufhorchenmachende Auftakt zu einer großen
Rede von der starken Beziehung aus in dem kläglich parado­
xen Widerruf: Ich bin in Gott durchaus nichts, und zu nichts
kann Gott keine Beziehung haben? In der Tat, wenn es um
den alleinigen Wortlaut geht, so stiehlt das Schema der Tran­
szendenz dem Anliegen der Resonanz das Wort von der
Zungenspitze - so wie stets die eingespielten Sprachroutinen
dem aufquellenden Ungesagten falsche Zungen leihen. Die
neuen Worte für die starke Beziehung keimen unter der Vor­
herrschaft des metaphysischen Codes nur zaghaft auf wie
eine unerhörte Fremdsprache. Aber was semantisch unter
der Figur der Selbstvernichtung ausgesagt werden muß - die
57« Kapitel 8

radikale Teilhabe am großen Anderen und das stimulierte


Durchwirktsein durch dessen Wesen -, erlaubt in der Poetik
des mystischen Textes und in seiner performativen Entfal­
tung die ungestümste Selbstfreisetzung des neuen Rede-Er­
eignisses: Unter Abdankungsformeln blüht die Sprecherin
auf zur durchdringendsten Intensität. Sie macht sich selbst
zum privilegierten Resonanzkörper ihres glänzenden Ande­
ren. Natürlich ist Gott überall der Eine in allem, hier aber
bricht er zugleich in eine einzelne Stimme ein und trägt sich
durch deren Schwingung selber vor. Zumindest ist es dies,
was diese Stimme aktuell für sich in Anspruch nimmt. Wer
jetzt die Stimmen unterscheiden könnte! Wer spricht? Wer
ist etwas, wer ist nichts? Der Leser des mystischen Texts er­
kennt aus seiner Sicht soviel: Statt Gottes Innere durch einen
stummen Rückzug zu erreichen, stürzt das entselbstete Sub­
jekt sich in die gewagteste Performance, als sei der U n­
aussprechliche darauf angewiesen, mit dem Standrecht der
Ergriffenheit durch ihn ausgesprochen zu werden. Von
Margareta Porete weiß man, daß sie zeitweilig wie eine
Schaustellerin über Land zog und vor sehr diversem Publi­
kum aus ihrem Seelen-Spiegel rezitierte. Die neuplatonische
Diva verstand es, den Zeitgenossen zu beweisen, daß das Ge­
nießen Gottes - das zugleich die erste legitimierte Form des
Selbstgenießens war - sich von Kirchenmauern und Kir­
chenmännern freimachen kann; Margareta Porete gehört zu
den mystischen Müttern der Liberalität. So wäre die Mystik
die Matrix der Performance-Künste? Performance wäre die
Regung, die das Subjekt freisetzt? Das Subjekt wäre die ma­
nifeste Seite zwei-einiger Ergriffenheit? Die Ergriffenheit
wäre ein Hervorgang aus dem Gemeinsamen? Und Gott
wäre Expressionist durch die Frau?

Suggestionen dieses Genres lassen sich relativieren und kon­


trollieren durch einen Seitenblick auf ein Beispiel aus der
mittelalterlichen iranischen mystischen Theologie. Auch im
Mir näher als ich selbst 579
dogmatischen Milieu des Islam haben neuplatonische Im­
pulse vielfältige Blüten getrieben, orthodoxe und subversive,
und eine reiche Formenwelt zwei-einigkeitsmystischer As­
kesen und Sprachspiele hervorgebracht. Auch in diesem
Kontext ist für die mystischen Protagonisten die Frage drin­
gend geworden: Wie ist das Gotteswort präsentisch aktuell
zu inszenieren? - und auch hier hat sich als der wichtigste
Gottestheater-Kritiker der Plenker in den Vordergrund ge­
spielt. Zu den eindrucksvollsten Akteuren des islamischen
Theodramas gehört der Dichter-Theologe Shihaboddin
Yahya Sohravardi, auch Suhrawardi-Maqtul, der Getötete,
genannt, geboren 1155 in der nordwestiranischen Provinz
Jebai, der auf Betreiben orthodoxer Rechtsgelehrter unter
dem Vorwurf, die prophetologische Sonderstellung Moham­
meds angetastet zu haben, am 29. Juli 1191 durch Saladin zu
Aleppo hingerichtet wurde. Die iranische Tradition hat ihn,
der von seinen Schülern auch Sohravardi Shahid, der Märty­
rer, genannt wird, als den shaikh al-ishraq in Erinnerung be­
wahrt: der Ausdruck wird konventionell mit »Philosophie
der Erleuchtung« widergegeben; wie Henry Corbin jedoch
gezeigt hat, würde er besser umschrieben als die »Lehre vom
Lichtaufgang im Orient«. In Sohravardis Doktrin fließen
Grundsätze der koranischen Theologie mit neuplatonischen
Argumenten und Spuren der altpersischen Licht-Theoso­
phie zusammen. Wir zitieren das elfte Kapitel aus der zwölf -
teiligen Folge kurzer symbolischer Erzählungen »Die Spra­
che der Ameisen« (Lugath-i-muran).
»Die Fragen, die der Prophet Idris241an den Mond stellte
Die Sterne und die Planeten begannen alle ein Ge­
spräch mit dem Propheten Idris - Gott segne ihn! Idris
stellte dem Mond folgende Fragen:
Idris: Warum ist das Licht in dir zuweilen abnehmend,
zuweilen zunehmend?
241 In islamischen Q uellen wird der mythische Stifter der Philosophie,
H ermes Trismegistos, Idris genannt.
580 K a p ite l S

Der Mond\ Wisse denn, daß mein Körper schwarz, aber


glatt und rein ist; von mir selbst aus besitze ich kein
Licht. Aber wenn ich in Opposition stehe zur Sonne,
so erscheint, in dem Maß, wie unser Gegenüberstand
vollkommener wird, in jenem Spiegel, der mein Körper
ist, von ihrem Licht ein Abbild, so wie in Spiegeln die
Formen der übrigen Körper in Erscheinung treten.
Wenn unser Gegenüber am vollkommensten ist, dann
habe ich mich von meinem Neumond-Nichts erhoben
zum Zenith, wo ich im Vollmondglanz leuchte.
Idris: Und die Liebe zwischen der Sonne und dir, bis
zu welchen Grenzen reicht sie?
Der Mond'. Bis dahin, daß ich die Sonne sehe, wenn ich
im Augenblick des vollkommenen Gegenüberstands
mich selbst betrachte. Denn das Bild vom Licht der
Sonne, das auf mir erscheint, füllt mich restlos aus, zu­
mal Umfang und Glätte meiner Oberfläche das Ihre
dazu beitragen, ihr Licht aufzufangen. Welchen Blick
auf mich selbst ich auch werfe, ich sehe in mir alles als
Sonne. Hast du nie bemerkt, daß die Form der Sonne
sich in einem Spiegel zeigt, wenn man diesen der Sonne
gegenüberhält? Angenommen nun, der Spiegel hätte
Augen und er betrachtete sich selbst im Augenblick
seines Gegenüberstands zur Sonne, er sähe sich selbst
ganz als Sonne, und wäre er auch nur aus Metall. >Ich
bin die Sonne< (A na’l-Shams), würde er sagen, weil er
in sich nichts anderes als die Sonne sähe. Und ginge er
so weit zu sagen: >Ich bin Gott< (A na’l-Haqq) oder:
>Ruhm über mich! Wie erhaben ist mein Stand«, so
müßte man selbst dann seine Entschuldigung gelten
lassen: >So sehr hattest du mich dir genähert, daß ich
glaubte, du seiest ich.««242
242 L’Archange em pourpré. Q uinze traités et récits mystiques, traduits
du persan et de l’arabe par H enry Corbin, Paris 1976, N eudruck
1986, S.430-31; dt. Ü bersetzung vom Verfasser.
Mir näher als ich selbst 58 i

Sohravardis Lehrerzählung bietet unter konventionellen


poetischen Bildern die bekannten Denkfiguren der neupla­
tonischen Zwei-Einigkeitsspekulation, islamtypisch ge­
dämpft durch den Hinweis auf den kategorischen Abstand
zwischen Gott und allen übrigen Wesen. Im Bild von Sonne
und Mond tritt diese Unterordnungstendenz, in zunächst ir­
reversibel scheinender Abstufung, hinreichend deutlich an
den Tag; der Islam ist nicht umsonst, seinem Namen gemäß,
eine Unterwerfungsreligion alt-ontologischen Typs. Doch
wird dem Mond subversiv die Lizenz gewährt, sich im
Überschwang für die Sonne selbst zu halten, solange er nur
die Ursprungsbeziehung respektiert, die dem ersten Licht
den Vorrang vor seinen Reflexionen gibt. So ist das Zweite
mit dem Ersten nicht nur durch Spiegelungs-Teilhabe ver­
bunden, es hat auch ein ursprüngliches Recht auf über­
schwengliche Kommunikation mit dem Ursprung selbst.
Kraft ihrer Bildlichkeit scheint die arabische mystische Poe­
sie von dual-erotischem Resonanzwissen tiefer durchdrun­
gen als jede andere - aus der jüdisch-christlichen Überliefe­
rung läßt sich nur der Canticus canticorum oder das Hohe
Lied unter dieser Hinsicht mit der arabischen Theopoetik
auf eine Stufe stellen - , doch bleibt auch diese poetische
Rede kontrolliert durch die unerbittliche Monarchie der
Substanz, die von der Monarchie Allahs überdeterminiert
ist. Strenger noch als die christliche ist die islamische Theo­
logie dazu angehalten, die Prätentionen der Seele auf Gleich­
würdigkeit mit dem Höchsten zurückzuweisen; aber indem
sie den Einen und das Eine in unterwürfigen Überhöhungen
fernrückt, schürt die islamische, die hingegebene Sprache die
theo-erotische Glut; die selige Sehnsucht bewirkt das Übrige
- und zuletzt, des Lichts begierig, wissen die entflammten
Seelen, wie sie es anzustellen haben, ihre Auflösung in der
feurigen Substanz zu erzwingen. Was der Mond durch
seine diskrete Stellung inbezug auf die Sonne nicht kann -
in bezug auf die Flamme wird der Schmetterling es errei-
582 Kapitel 8

chen. Der todeslustige Falter repräsentiert den Geist der


Übertreibung, der Dichtung und Ernstfall einander nähert.
Sohravardis Flug ums Feuer wird hörbar in den beiden Zita­
ten aus den Sprüchen von Al-Hallaj, des Sufi-Märtyrers,
858-922, von dem es hieß, daß auch er die »Trommel der
Einheit« geschlagen habe. Mit dem berüchtigten ana’l-haqq
und dem Schlußsatz unserer Parabel nimmt Sohravardi zwei
der erfolgreichsten und brisantesten Wendungen häretischer
Theo-Erotik auf. Im übrigen hat Sohravardi in seiner Engel­
lehre - die hier nicht zu referieren ist - einen Weg gefunden,
die Beziehung zwischen Seele und Gott in einer mittleren
Region zum Ausgleich zu bringen: Die menschlichen Seelen
sind nicht einfachhin gottunmittelbar, auch wenn sie in
Richtung auf Gott zu ihrem Ursprung zurückstreben; sie
besaßen Präexistenz in der Engelwelt; sie spalteten sich, aus
welchen Gründen auch immer, in zwei Teile, von denen der
eine gottnahe in der Höhe bleibt, während der andere in die
»Festung des Körpers«243 herabsteigt. Der weltliche Teil, un­
zufrieden mit seinem Schicksal, sucht nach seiner anderen
Hälfte und muß, um seine Vollkommenheit wiederzuerlan­
gen, sich mit ihr von neuem zu vereinigen suchen. Mit diesen
mythischen Figuren, die Platons Urmenschenmärchen in die
Engelsphäre versetzen, löst Sohravardi den Todessog des
Substanzmonismus auf und schafft Raum für Bilder, die der
unerschöpfbaren Aufgabe entsprechen, die ursprüngliche
Ergänzung durch immer neue Formschöpfungen und Sym­
bolbildungen weiterzudenken. Der erhabene Gedanke der
henosis oder unio mag das philosophische Prestige des my­
stischen Neuplatonismus begründet und verbreitet haben; in
psychologischer Hinsicht ist seine Angelologie doch weitaus
fruchtbarer, weil sie - ohne Zugeständnisse an die mißver­
ständlichen unionistischen Vernichtungs-Wendungen - die
schöpferisch vorausweisende ursprüngliche Ergänzbarkeit
243 Vgl. Seyyed H ossein Nasr, Three Muslim Sages, Cambridge, Mass.
1963, S. 75.
Mir näher als ich selbst 583

der Seele wenn nicht auf den Begriff, so doch ins Bild ge­
bracht hat. Sie zeugt von der symbolfordernden Gewalt der
guten Getrenntheit, die sich als primordiale Dualität manife­
stiert. Deren Spuren zeigen sich nicht nur in der islamischen,
sondern auch in der christlichen Hemisphäre. Die Engel­
lehre ist einer der historisch unentbehrlichen Zugänge zur
Theorie der medialen Dinge.244 Medientheorie ihrerseits gibt
Aussichten frei auf eine Anthropologie jenseits des indivi­
dualistischen Scheins.

Was die mystische Theologie des lateinischen Westens an­


geht, so erreicht sie im Werk des Nikolaus von Kues, 1401-
1464, ihre Kulmination. In ihm finden sich durchdringende
Analysen zu der Frage, wie das In-Sein endlicher Intelligen­
zen in der unendlichen Intelligenz Gottes gedacht werden
könne - eine Wendung, in der wir eine schulmäßige Trans­
formation der Frage nach der Beziehung zwischen Seele und
Gott zu erkennen berechtigt sind. Im wesentlichen sind wir
durch den augustinisch animierten platonisierenden Diskurs
über das Inne-Sein Gottes in dem, der ihn erkennt, und das
Aufgehobensein des Erkennenden im Erkannten auf jede zu­
längliche Erörterung dieses Verhältnisses im Umriß vorbe­
reitet; gleichwohl hat Nikolaus in diese Grundfigur Nuancen
eingezeichnet, die sich als explizite Gewinne für die Theorie
der starken Beziehung verbuchen lassen. Insbesondere in sei­
nem Traktat Über die Schau Gottes oder das Bild (De visione
Dei sive de icona) aus dem Jahr 1453 fügt der Kusaner dem
bekannten Fundus von Sätzen über das Ineinandersein von
Gott und Seele einige unvergeßliche bildhafte und argumen­
tative Züge hinzu. Dies gilt nicht zuletzt für das großartige
Gemälde-Gleichnis, mit dem der Traktat eröffnet wird. N i­
kolaus spricht über neuere Zeugnisse der Portraitkunst, die
244 N eben der Christologie, der Prophetologie, der Pneumatologie
und der Ontosem iologie oder Seinszeichenlehre (sprich philoso­
phischer Ästhetik).
584 K a p ite l 8

Roger van der Weyden, Bild des Schützen: Der Alles-Sehende


Mir näher als ich selbst 585

dem Betrachter an jedem Punkt des Raumes das Gefühl ge­


ben, daß sie ihn in ganz besonderer Weise anblicken. Wenn
man dem Text glauben darf, so hat der Verfasser den Brüdern
vom Kloster Tegernsee in Bayern mit der Abhandlung zu­
gleich ein solches Gemälde als Objekt für eine Devotions­
übung zugesandt.
»... liebe Brüder... Es stellt einen Alles-Sehenden dar,
und ich nenne es ein Bild Gottes. Befestigt es irgendwo,
angenommen an einer Nordwand und stellt euch dann
in gleichem Abstand vor ihm auf. Schaut es an und jeder
von euch, von welcher Stelle er es auch betrachtet, wird
erfahren, daß das Bild ihn gleichsam allein anblickt...
N un mag der Bruder, der im Osten steht, sich nach We­
sten begeben und erfahren, daß der Blick hier ebenso
auf ihn gerichtet ist wie vordem im Osten. Und da er
weiß, daß das Bild fest hängt und unbeweglich ist, wird
er sich über die Wandlung (mutatio) des unwandel­
baren Blickes w undern... er wird sich wundern, wie
dieser Blick sich unbeweglich bewegte (immobilius mo­
vebatur). Und noch weniger wird sein Vorstellungsver­
mögen es fassen können, daß er sich mit einem anderen,
der ihm selbst aus entgegengesetzter Richtung begeg­
net, in derselben Weise bewegt... Er erfährt, daß das
unbewegliche Antlitz sich ebenso nach Osten wie nach
Westen, ebenso nach Süden wie nach Norden bewegt,
und ebenso zu einem O rt wie zu allen und ebenso zu ei­
ner Bewegung wie zu allen hinblickt. Und während er
darauf achtet, daß dieser Blick niemanden verläßt, wird
er gewahr, daß er um jeden einzelnen so Sorge trägt, als
ob er sich allein um ihn, der erkennt, daß er angeblickt
wird, kümmern würde und um keinen anderen; und das
so sehr, daß derjenige, den er anblickt, nicht zu begrei­
fen vermag, daß er auch um einen anderen Sorge trägt
(quod curam alterius agat). So wird er auch sehen, daß
er dem geringsten Geschöpf (minimae creaturae) die
58 6 Kapitel 8

allereifrigste Sorge widmet, als wäre es das größte


{quasi maximae), und dem ganzen All.«245
An dem Gleichnis ist bemerkenswert, daß es uns in eine
interfaziale, genauer eine interokulare Szene versetzt. Zu
bewundern an ihm ist die kunstvolle Kühnheit, mit der N i­
kolaus die Kluft überwindet, die sich zwischen dem univer­
salistischen und dem individualistischen Motiv der Theolo­
gie auftut. Wie könnte ein summarischer und unspezifischer
Gott für alle zugleich ein intimer Gott für jeden Einzelnen
sein? N ur wenn es gelingt, auf diese Frage eine logisch und
existentiell überzeugende Antwort zu geben, würde eine Re­
ligion theologisch fundiert, die Imperialität und Intimität zu­
gleich inspirieren soll. Das malerische Portrait mit den leben­
dig wandernden Augen bietet ein glänzendes Gleichnis für
einen Gott, der, auch wenn er pantokratorisch alle über­
blickt, sich doch jeweils nur an den Einzelnen wendet. Flier
erscheint ein Gott der Intensität, dessen Machtausfluß im
Minimum nicht weniger anwesend ist als im Maximum. Gott
kann die Menschheit als ganze nicht mehr lieben als einen
einzelnen Menschen (so wie, einem analog gebauten Satz
Wittgensteins zufolge, der ganze Erdball nicht in größerer
N ot sein kann als eine Seele246). Der Hinweis auf das Anwe­
sen des Maximums im Minimum gibt dem vertrauten Ge­

245 N ikolaus von Kues, Die philosophisch-theologischen Schriften.


Lateinisch-Deutsch, Wien 1989, Band III, S. 97-99; (die Ü berset­
zung w urde stellenweise berichtigt, besonders im Schlußsatz, der in
der nicht ganz zu U nrecht gelegentlich getadelten D upré-Ü ber-
setzung lautet: » . . . daß er dem geringsten Geschöpf die gleiche eif­
rige Sorge w idm et wie dem größten und dem ganzen Gesamt«.
D am it w ird die kühne Perspektivität der Aussage verflacht, denn es
geht nicht um G ottes gleichmäßig intensive Sorge für G roß und
Klein, sondern die Intensität seiner Sorge für das kleine Einzelne,
als wäre es das G rößte; h a b e t... curam minimae creaturae, quasi
m a xim a e...).
246 Vermischte Bemerkungen, herausgegeben von Georg von Wright,
N eubearbeitung des Textes durch Alois Pichler, Frankfurt 1994,
S.93.
Mir näher als ich selbst 587

danken, daß Gott die Einzelseele durch In-Sein in ihr aus­


zeichne, ein logisch schärferes Profil. Gewiß läßt sich das
Gleichnis von dem Portraitgemälde mit den stehend-wan­
dernden Augen nicht über die außenräumliche Begegnung
zwischen dem Subjekt und seinem umsichtigen Beobach­
ter hinausführen. Das Wandbild bleibt, weil es ein externes
Objekt vorstellt, in einem unüberwindlichen Abstand dem
Gläubigen gegenüber stehen. Es geht dem Kusaner nun
darum, das Gottesauge in den Einzelnen hineinzusetzen,
und dies in zweifachem Sinn: als meine verinnerlichte stän­
dige Überwachung durch das große Gegenüber und als
schwankendes inneres Wachen meiner eigenen Intelligenz.
Das Auge Gottes, ausgestattet mit absoluter Sehkraft, wird
in mein eigenes Auge implantiert, freilich so, daß ich von sei­
ner Allsichtigkeit nicht geblendet werde, sondern befähigt
bleibe, in meinen lokalen und leibhaften Perspektiven wei­
terhin so zu sehen, wie zu sehen mir eben gegeben ist. N i­
kolaus zieht die Lehre des Portrait-Gleichnisses - das un­
entwegte Mitgehen der Augen an der Wand mit meiner
Bewegung - in die Seele selbst hinein: Sie soll sich nun einge­
schlossen denken ins Blickfeld und die Sicht einer absoluten
Sehkraft, die von innen wie von außen her alles durch Erblik-
ken ins Dasein ruft und das Erblickte fortwährend umspannt
und durchschaut. Damit erreicht er eine wunderbare Plausi­
bilität für den Gedanken, daß ich auch mit meinem inneren
Leben ständig im mitwandernd-ruhigen Blick einer Totalin­
telligenz intendiert und enthalten bin. Ich mag in meinen Ge­
danken und Gefühlen von Osten nach Westen laufen, wie ich
will, die Augen des großen Anderen in mir folgen mir in jede
Stellung meines Denklebens und Leidenschaftslebens nach.
Ich bin sehend immer ein Gesehener - und zwar in solchem
Ausmaß, daß ich glauben darf, ich sei berufen, die ganze Seh­
kraft Gottes für mich zu verbrauchen. Diese Berufung läßt
mich den Grund meiner Ähnlichkeit mit Gott unmittelbar
empfinden. Denn ich bin faktisch mit eigener Sehkraft be-
5 8 8 Kapitel 8

gabt (mittelalterlich gesprochen: belehnt) und erblicke um


mich eine offene Weh. Ich ahme also die Weltanschauung
oder Weherblickung Gottes in absoluter Wehimmanenz
nach. Psychologisch gewendet: Der Maximum-im-Mini-
mum-Gedanke zeichnet mich als Einzelkind des Absoluten
aus. Nikolaus von Kues ist kühl genug, um daran festzuhal­
ten, daß es sich in jedem einzelnen Fall, auch und gerade in
meinem eigenen, um eine Einzelkindschaft-als-ob handelt -
denn der Gott der Intensität, dem im Minimum nichts fehlt,
ist ebensogut anderswo und überall bei sich, in meinem
Nachbarn ebenso wie im Universum. Sein In-mir-Sein legt
ihn nicht auf meine Perspektive fest, weil seine Intensität,
unendlich ausbreitungsfähig, wie sie ihrer Natur gemäß sein
muß, auch durch Nicht-in-mir-Sein keine Verminderung er­
leiden kann. Nichtsdestoweniger besitze ich einen gültigen
Rechtstitel auf meine eigene wehöffnende Sicht, als wäre sie
die einzige - vorausgesetzt, ich halte mir bewußt, daß es kein
Privateigentum an Sehkraft gibt, sondern daß mein Sehen ge­
wissermaßen eine Filiale der aktuell unendlichen Sicht Got­
tes ist - um im Bild zu bleiben: die Sicht eines vorgezogenen
Einzelkindes des Flimmels. Für dieses Filialverhältnis kennt
Nikolaus einen Präzisionsausdruck, der die Zusammenzie­
hung der Allsehkraft in meine Sehkraft auf den Begriff
bringt: contractio. Wenn ich sehfähige Augen habe und eine
Welt erblicke, dann nur durch die Kontraktion des Sehens
überhaupt zu meinem Sehen. Dietlind und Wilhelm Dupré,
die vorläufig leider wichtigsten deutschen Übersetzer des
Kusaners, geben contractio mit »Verschränkung« wider -
was eine unglückliche und doch auch brauchbare Lösung
darstellt; eine unglückliche, weil das wichtige Verbum
trahere, ziehen, das Gottes expansive und konzentrative
Aktivität bezeichnet, samt seinen Ableitungen: abstractio,
contractio etc., in dieser Wendung verlorengeht; eine brauch­
bare, weil durch das Wort Verschränkung, sogar deutlicher
als im lateinischen Original, die Einsetzung des unendlichen
Mir näher als ich selbst 5 8 9

Auges ins endliche anschaulich gemacht werden kann. Der


korrektere Ausdruck »Zusammenziehung« böte den Vorteil,
daß er den Eintritt des absoluten Sehens in mein Sehen als Tat
des aktuell Unendlichen selbst verstehen ließe, während die
Rede von Verschränkung den Umstand hervorhebt, daß je­
des Sehen gleichsam zweistufig und hyper-optisch geschieht
und nur zustande kommt durch die selbstbeschränkende
Einwohnung der absoluten Sehkraft in meiner endlichen
Sicht.
»Jede Verschränkung ist nämlich im Absoluten, weil
das absolute Sehen die Verschränkung der Verschrän­
kungen (contractio contractionum) is t... Die einfach­
ste Verschränkung fällt mit dem Absoluten zusammen.
Denn ohne das absolute Sehen kann es kein ver­
schränktes Sehen gehen... So ist die absolute Schau in
jedem Sehen, weil durch sie (per ipsam) jede ver­
schränkte Schau ist und ohne sie in keiner Weise sein
kann.«247
Gott also, der aktuell unendliche Seher oder die maximale
Sicht, zieht sich zu mir, einem Minimum, zusammen, und ist
und handelt in diesem spezifischen Sinn in mir. Also ist Got­
tes Einwohnung in mir unter keinen Umständen zu denken
wie die des Hieronymus im Gehäus oder des Dschinns in der
Flasche; ihre Logik gleicht der einer Amtsübergabe oder In­
vestitur, bei der Amtsgewalten vom Dienstherrn auf den
Amtsinhaber übertragen werden - mit der Nuance gewiß,
daß hier der Dienstnehmer zugleich die Kreatur des Dienst­
herrn ist. Die Pointe dieser Belehnung besteht darin, daß
mein Ich-Sein selbst Amtscharakter annimmt und daß meine
Subjektivität als Planstelle im Haushalt Gottes konzipiert
und bewilligt wird. Die unausgedehnte Ausdehnung Gottes
bestimmt demnach in jeder Hinsicht den Sinn von Imma­
nenz oder In-Sein. Mein Enthaltensein im Umfang Gottes

247 N ikolaus von Kues (s. Anm. 24 5), S. 1o 1.


59° K a p ite l 8

läßt sich vorstellen wie die eines Punkts in einer allesein­


schließenden Kugel, wobei der Punkt auf seine Weise die
Kugel spiegelt und enthält.
Also fungiert Gott in bezug auf Menschen als Sehkraftver­
leiher - oder allgemeiner als Subjektivitätsverleiher; dabei
darf das Wort »verleihen« seinem feudalen wie seinem bank­
kapitalistischen Sinn gemäß verstanden werden, denn so­
wohl das Lehen als auch der Kredit sind authentische Modi
der Seins-Schenkung oder der Kraft-Vergabe - kusanisch ge­
sprochen der Selbstzusammenziehung -, ein Ausdruck, der
an die Bedingung erinnert, daß Geringeres als das aktuell
Unendliche selbst als Lehensherr oder Kreditgeber nicht in
Frage komme. In diesen Verhältnissen hat die Grundfigur
der Modernität: die Substitution des allesbewirkenden G ot­
tes durch das allesumwälzende Kapital, ihren letzten Grund.
Die kusanischen Reflexionen lassen erkennen, wie die ange­
regtesten Geister der frühen Neuzeit sich öffneten für den
abenteuerlichen und ernsten Gedanken, daß das Subjekt, in­
dem es sich erkennend-handelnd engagiert, mit dem Kredit
des Absoluten arbeitet. Damit beginnt der Sinnwandel von
Schuld zu Schulden. Wir rühren hier an den formativen Pro­
zeß der jüngeren europäischen Mentalitätsgeschichte - die
Geburt der unternehmerischen Subjektivität aus dem Geist
der mystischen Zurückzahlungspflicht248.
Daß Nikolaus von Kues das In-Sein nicht nur als Optiker
(genauer als Theo-Optiker) artikuliert, sondern auch als
Erotiker (genauer als Theo-Erotiker), das beweist der Fort­
gang seines Traktats von der visio dei, in dem, als wäre er ein
nachgetragenes Buch der Confessiones, der Geist und die
Schreibweise Augustins auf jeder Seite gegenwärtig sind.
Spricht die metaphysische Optik vom verschränkten Sehen,
so die theologische Erotik vom verschränkten Lieben. Wenn
248 Z ur M odernisierung von Schuld vgl. Sphären II, 8. Kapitel, Die
letzte Kugel. Zu einer philosophischen Theorie der terrestrischen
Globalisierung.
Mir näher als ich selbst 591

ich im verschränkten Sehen ein Filial-Auge Gottes bin, so im


verschränkten Lieben ein Relais der göttlichen Liebe. Auch
diese zieht sich zusammen in einem Strahl, der mich durch­
dringt, überströmt und privilegiert, als wäre diese Liebe ein
Springbrunnen, der in jedem einzelnen Strahl nicht weniger
intensiv sich äußert als in seinem gesamten Überfließen. In
eindringlichen Wendungen erweitert Nikolaus den Gedan­
ken, daß ich sehe, weil die absolute Sicht in mir und durch
mich sieht, zu der Idee, daß ich als liebendes Wesen existiere
und genieße, weil ich als Gefäß und Durchlaß göttlicher
Zuwendungen und Ausströmungen in die Welt gehalten bin.
»Und was ist, Herr, mein Leben, wenn nicht jene Um­
armung {amplexus), in der die süße Freude deiner
Liebe mich so liebevoll umschließt?... nichts anderes
ist dein Sehen als Lebendigmachen; es ist nichts ande­
res als deine süße Liebe ständig in mich einströmen zu
lassen, und durch dieses Einströmenlassen der Liebe
die Liebe zu Dir entflammen und durch dieses Ent­
flammen zu nähren; durch das Nähren meine Sehn­
sucht zu entzünden, im Entzünden mich mit dem Tau
der Freude zu tränken und damit den Quell des Le­
bens mit einströmen zu lassen, und in diesem Einflie­
ßen zu vergrößern und ewig zu machen.«249
Der Passus läßt sich lesen als ein argumentierendes Gedicht
im Geist der starken Beziehung; es artikuliert unter Bildern
einer Kommunion im Flüssigen die existentielle Situation
der Teilhabe an einem Überflußkreislauf. Im Licht der obi­
gen Überlegungen gelesen,250 bietet die Stelle eine der intim­
sten Annäherungen christlicher Rede an ein Gespräch mit
dem Urbegleiter; wir haben es mit einem Stück sanguinischer
Literatur im buchstäblichen Wortsinne zu tun - formuliert
aus der Intuition in die Realität des Blutes, das die erste

249 Ibid., S. 107.


250 Besonders das 5. und das 6. Kapitel.
Rudolf Steiner, Wandtafelzeichnung, 1924

Kommunion spendet. In-Sein heißt jetzt soviel wie: sich um­


armen, durchströmen, ernähren und erheitern lassen durch
das göttliche Blut-Medium und diese Umarmung-Durch-
strömung-Ernährung-Erheiterung als Urszene der Selbst-
werdung dankbar besingen und bedenken. Man könnte
transponierend sagen: Zum In-Bewußtsein gehört die Wahr­
nehmung, daß ich umgeben, getragen und durchgriffen bin
von einer in allen Hinsichten zuvorkommenden oder entge­
genfließenden Gewalt. Eine solche Auffassung des In-Seins
bleibt in eine religiöse und feudale Grundhaltung integriert,
solange das Subjekt in dieses Zuvorkommen und in dieses
Durchwirktsein sich einfügt, ohne in empörerische oder
klaustrophobische Reaktionen abzuweichen. Der Satanis­
mus des Ekels, und seine kleine Münze, das Unbehagen,
würden hier das Verständnis der Sache selbst hintertreiben.
Tatsächlich gerät das Subjekt in die revoltische Position,
wenn es aufhört, sich nur als Lehensnehmer des Seins zu be­
greifen; Rebell wird, wer sich auf ein Eigenkapital beruft und
sich weigert, sein Handeln als Arbeiten mit dem Kredit des
Mir näher als ich selbst 593
Absoluten aufzufassen. Aber streben die Menschen, katho­
lisch begriffen, nicht immer schon auf eine gewisse Eigen­
macht zu und fühlen sich belästigt von der Zumutung, für
schlechthin alles danken zu sollen? Ist nicht die Neuzeit auf
dem Axiom gegründet, daß, wer mit sich selbst beginnt, die
Last der Dankespflichten ein für allemal abgeschüttelt hätte?
Wie wäre überhaupt eine nicht-revoltische Anthropologie
unter monotheistischem Vorzeichen zu denken, da das
Adamsgeschlecht toto genere im Zeichen Satans existiert und
Anteil hat an dessen initialer Undankbarkeit? Ist nicht der
Mensch, christlich verstanden, immer schon das Wesen, das
etwas für sich beiseite bringen möchte? Kann es den Men­
schen in der Nicht-Revolte geben?
Die Antwort hierauf, sofern sie affirmativ ausfällt, artiku­
liert sich im christianisierten Dienst-Gedanken. Er besagt:
die Zurückgliederung in das Eine und das Dienenkönnen
konvergieren. Nikolaus ist in seiner Untersuchung der
Frage, wie menschliche Eigenmacht in und unter die Gottes­
macht zu stellen sei, vorgedrungen bis zu einer mystischen
Politik oder einer Lehre von der Machtverschränkung. Sie
gibt dem In-Sein oder der unbedingten Immanenz den Sinn
von Ermächtigung zur punktuellen Macht durch die aktuell
unendliche Macht selbst. In Wendungen von surrealer Klar­
heit unterhalten sich im ersten Buch des Dialogs Uber das
Kugelspiel (de ludo globi) (1462) der gelehrte Kardinal und
der Herzog Johannes von Bayern über ein von dem Kusaner
erfundenes Spiel, bei dem es darum geht, eine unrunde Kugel
in den Mittelpunkt einer am Boden aufgemalten Zielscheibe
zu lenken.251 Hierbei kommt die Rede auf das allgemeine
Königtum des Menschen.
»Kardinal: Der Mensch ist durchaus so die kleine Welt,
daß er auch Teil der großen ist...
251 Eine ausführliche Interpretation von de ludo globi findet sich in
Sphären II, 5. Kapitel: Deus sive sphaera. Von den Taten und Leiden
der anderen Mitte.
594 Kapitel 8

Johannes: Wenn ich richtig verstehe, dann ist der


Mensch ebenso wie das Gesamt, das ein großes König­
reich (regnum) ist, ein Königreich, jedoch ein kleines
im großen, so wie es Böhmen im römischen, dem um­
fassenden Kaiserreich ist.
Kardinal: Sehr gut. Der Mensch ist ein dem Gesamt­
reich ähnliches Königreich, das in einem Teil des Ge­
samt begündet ist. Wenn er noch ein Embryo im Mut­
terschoß ist, ist er noch kein eigenes Reich (regnum
proprium). Wenn aber die geistige Seele geschaffen und
in ihn eingesetzt wird, dann wird er ein Reich, das sei­
nen eigenen König hat, und wird Mensch genannt.
Wenn aber die Seele ihn verläßt, hört das Mensch-Sein
und das Reich auf. Der Körper jedoch kehrt so, wie er
vor der Ankunft der geistigen Seele dem allgemeinen
Reich der großen Welt zugehörig war, zu diesem zu­
rück. Wie nämlich Böhmen dem Imperium zugehörte,
bevor es einen eigenen König hatte, so wird es dies
auch bleiben, wenn der eigene König nicht mehr da ist.
- Der Mensch ist also seinem eigenen König, der in
ihm regiert, unmittelbar untertan {immediate... sub­
est), mittelbar {mediate) indes dem Königreich der
Welt. Solange er jedoch noch keinen König besitzt
oder zu sein aufhört, ist er dem Königreich der Welt
unmittelbar unterstellt. Daher übt die Natur oder
Weltseele im Embryo die belebende Kraft aus, wie sie
es auch in allem anderen tut, das belebendes Leben
{vitam vegetativam) besitzt. Sie setzt diese Wirkung
auch in manchen Toten fort, denen die Haare und die
Nägel wachsen.«252
Auch die Machtwelt also, als Ausübung herrscherlichen wie
produzierenden Könnens, ist durch Verschränkung oder Zu­
sammenziehung konstituiert. Jeder geistbegabte Mensch ist
252 Dialogus de ludo globi, Liber primus, in: N .v. K., Die philoso­
phisch-theologischen Schriften, Band III, S. 263.
Mir näher als ich selbst 595
König durch die Kontraktion des Kaisers (Gottes) in ein In-
dividual-Machtgebiet. Als Mensch unter seinesgleichen ist
jeder Einzelne reichsunmittelbar und hat Macht in seiner
kleinen Welt aufgrund der Lehens- oder Kreditbeziehung
zum höchsten Machtverleiher. Im Modus der Zusammenzie­
hung oder Verschränkung ist das imperiale (göttliche) Maxi­
mum im königlichen (menschlichen) Minimum anwesend.
Wenn aber das Minimum schon ein Königreich ist, so ist je­
der einzelne, als Herr in seinem Reich, vergesellschaftbar nur
noch in einem Kollegium von Königen - oder in einer Ver­
sammlung von reichsunmittelbaren freien Ständen. Dies ist
die Urform einer democrazia christiana. Mit schillernden
Argumenten bereitet der papsttreue Kardinal dem Egalitaris­
mus der Bürger-Könige den Boden; es wird kaum ein Jahr­
hundert noch dauern, bis bürgerliche Individuen und Laien
begriffen haben werden, wie man als königliches Minimum
unter dem göttlichen Maximum die irdische Souveränität re­
klamiert. Von Nikolaus Cusanus zu Rousseau schreitet Zug
um Zug jenes Denken voran, das im kompetenten Dienen
und im aktiven Untertansein an beliebiger Stelle den Grund
dafür entdeckt, warum Menschen in ihren jeweiligen Domä­
nen Herren und Gesetzgeber sein können. Cusanus hat dem
Gedanken zuerst seine Präzisionsgestalt verliehen; Ignatius
von Loyola besaß das Ingenium, ihn ordenspolitisch zu im­
plantieren und psychotechnisch zu propagieren: Der Dienst
ist der Königsweg zur Macht; aktive Untertänigkeit und Ei­
genmächtigkeit sind ein und dasselbe; wenn du herrschen
willst, mußt du dienen. Dienen bedeutet, sich unter einem
Herren so energisch entfalten, als gäbe es keinen Herren.
Dies ist die erste Subjektphilosophie. Spätmittelalter und
Neuzeit reichen sich die Hand in der Idee, daß alle Arten von
Machtausübung Untertanen-Dienste seien in einem homo­
genen, überall gleichintensiven Imperium Gottes; demnach
darf jedes Subjekt, das an seiner Weltstelle um sich greift, als
reichs- und gottunmittelbares Machtminimum sui generis
sich entfalten. Jedes Minimum ist Minister, jede kompetente
Subjektivität ist im Absoluten verbeamtet. Damit wird der
Weg frei, auf dem sich Unternehmer, Staatsdiener, Kleinbür­
ger und Künstler - wie bisher nur die geistlichen Stände und
die Fürsten - als Funktionäre Gottes werden verstehen kön­
nen; es ist ein Weg, der in die Reformation, in den Demokra­
tismus und in die Unternehmensfreiheit münden wird. In
der Demokratie freilich werden die Einzelnen ihr Recht und
ihre Pflicht zur Macht nicht mehr als Dienstleute Gottes re­
klamieren, sondern als Inhaber von Menschenrechten: nun
stellt sich der Mensch vor als das von Natur aus anspruchs­
berechtigte Tier. Den Menschenrechtsgedanken können
neuzeitliche Menschen erst explizit fassen, nachdem sie sich
aus der Gotteswelt zurückgezogen haben und übersiedelt
sind in das Reich der Natur, dem für den Kusaner Menschen
nur als Embryonen und als Leichen unmittelbar unterstehen.
Man erkennt im kusanischen Embryo-Argument im übrigen
sehr klar, wo sich die Wege der Neuzeit von denen des Mit­
telalters trennen werden: denn während für die Modernen,
sofern sie weit genug denken, gerade der Aufenthalt des Em­
bryos oder des Fötus im Mutterleib zur archaischen Besee­
lungsmatrix gehört, lehrt Nikolaus, daß das Kind dort nur
einen vegetativen Status bekleide und noch nicht Mitglied
im Reich der Geistseelen sei. Das embryonale In-der-Mut-
ter-Sein wäre demnach ein passives Präludium zum geist­
beseelten Leben - und erst nach der Geistzuteilung, also
nach der Taufe, wäre der Einzelne nicht mehr nur in der
Natur, sondern auch im Reich Gottes vergesellschaftet.
Mutatis mutandis hat noch Hegel in der Sache dasselbe ge­
lehrt.

Es ist leicht zu erkennen, wie die Nachwirkungen des plato­


nischen Dualismus in Doktrinen dieses Typs auch den Sinn
von In-Sein spalten. Wer nur in der (von der Weltseele ani­
mierten) Natur ist - und wäre es der Mutterleib -, ist noch
Mir näher als ich selbst 59 7
lange nicht dort, wo der christliche oder idealistische Mysti­
ker zu sein verlangt. Aber eben diese Differenz ist es, die am
Ende unserer mikrosphärologischen Darlegungen gegen­
standslos geworden ist. Nach dem Durchgang durch die sie­
benfältige Wendung des Sinns von In-Sein in den vorange­
henden Kapiteln dieses Buches hat sich gezeigt, wie der
Gegensatz: In-Gott-Sein oder In-der-Natur-Sein zugunsten
einer allgemeinen Logik des Seins-in-geteiltem-Raum ver­
schwindet. Durch die Untersuchungen zur zwei- und mehr­
poligen Resonanz werden die eigentümlichen Perspektiven
des theologischen Idealismus und des psychologischen Ma­
terialismus in ihren propädeutischen Leistungen anerkannt
und in ihren Resultaten beerbt und aufgehoben. Wenn also
die mystische Theologie die Nähe zwischen Gott und Seele
in Ausdrücken umschrieben hat, die auch der freie Geist
nicht vergißt, so steht doch fest, daß sie auf dem Naturauge
so blind geblieben ist wie ein Ungeborenes, das den Unter­
schied zwischen Innen- und Außensein noch nicht erfahren
hat; hingegen ist die moderne Psychologie, die sich seit zwei­
hundert Jahren abseits der Metaphysik entfaltet, im Begriff,
der Natur, zumal der kulturell vermittelten, zurückzugeben,
was der Natur, in ihren kulturellen Zuständen, gehört - und
dies ist sehr viel mehr, als irgendein Idealismus oder eine
Geistreligion ahnte; aber die Psychologie konnte sich ihrer­
seits nicht zu einem Konzept der starken Beziehung durch­
arbeiten, weil sie den Unterschied zwischen außen und innen
von einem Standpunkt naturalistisch verzerrter Äußerlich­
keit her nicht mehr versteht. Unsere Mikrosphärologie, an­
regbar von der einen wie der anderen Seite her, löst sich von
den Vorgaben beider Kontrahenten weit genug ab, um eine
Sicht zu gewinnen, die mehr ist als die Zusammensetzung
zweier Einäugigkeiten. Durch ihre Selbständigkeit gegen­
über den theologischen Bekenntnissen wie den psychologi­
schen Diskursen verschafft die Sphärentheorie den Selbster­
fahrungen des Lebendigen in seinen aktuellen Spannungen
K a p ite l 8

Guercino, Der heilige Augustinus, über das Geheimnis der Heiligen Dreifal­
tigkeit meditierend

zwischen Innen- und Außenlagen auf neuartige Weise theo­


retische Genugtuung.

Im Übergang von der mikrosphärischen zur makrosphäri­


schen Auslegung des Sinns von In-Sein sind einige wie auch
immer flüchtige Anmerkungen zur Trinitätstheologie unent­
behrlich. Denn diese gehört ihrer logischen Struktur und
Sinnausdehnung nach beiden Dimensionen an: der Mikro-
sphärologie, insofern sie eine dreistellige Intimrelation - Va­
ter, Sohn, Heiliger Geist - artikuliert; der Makrosphärologie,
M ir n ä h e r a ls ic h s e lb s t
59 9
insofern sie in den »Personen« dieser Triade die Akteure ei­
nes weltübergreifenden und weltdurchdringenden Theodra­
mas erkennt. Demnach behandeln trinitarische Diskurse zu­
gleich die kleinste Blase und die größte Kugel, den dichtesten
und den weitesten Innenraum. Wir werden in Andeutungen
zeigen, warum die Trinitätstheologie von Anfang an nur als
Theorie der starken Beziehung und eo ipso als Lehre von ei­
ner lebendigen Kugel vorankommen konnte.
In einem frühen Stadium dieses Problemprozesses erfan­
den die griechischen Väter, besonders von den Kappadoziern
an, eine neue Form der Meditation über surreale Interperso­
nalität. Deren Sinn war es zunächst, die neutestamentlichen,
insbesondere die johanneischen Aussagen über die singuläre
Beziehung zwischen Jesus und Gott im Geiste griechischer
Ontotheologie zu reformulieren. Diese Aufgabe kam der
Quadratur des Kreises gleich - besser der Zirkelung der El­
lipse, denn die griechische Grundbegrifflichkeit war nicht
darauf vorbereitet, gleichberechtigte Kommunionen von
Mehreren in der einzigen Substanz zu formulieren. Aber an
dieser Stelle konnte das frühe Christentum, das sich theolo­
gisch und missionspolitisch zu konsolidieren begonnen
hatte, keinen Schritt zurückweichen: Wenn es bei Johannes
hieß: »Wer mich gesehen hat, hat den Vater gesehen« (14,9),
und »Glaubt mir doch, daß ich im Vater bin und daß der
Vater in mir ist« (14,11), sowie »der Heilige Geist, den der
Vater in meinem Namen senden wird, der wird euch alles
lehren« (14,26) - so war damit ein Programm verkündet, das
für die griechischen Theologen und ihre Erben zu einer so
unumgänglichen wie explosiven Denkaufgabe heranwuchs.
Es enthielt die Zumutung, auf der Ebene des Einen starke
Beziehungen zwischen Dreien zu denken. Daß dies irgend­
wie ohne tritheistischen Rückfall gelingen könne, das
mochte den rechtgläubig schlichten Gemütern spätantiker
Zeiten vielleicht plausibel erscheinen, wenn man ihnen nur
oft genug mit Autorität versicherte, Eins sei Drei und Drei
6oo K a p ite l 8

im

Juan Carreno de Miranda, Die Gründung des Trinitarierordens.


Ölgemälde, 1666
M i r n ä h e r a ls i c h s e l b s t 6 0 1

Ausschnitt: Die klassische Quasi-Quaternität umfaßt die Trinität und das


Universum
6o 2 Kapitel 8

seien Eins. Den Theologen jedoch, die Auge in Auge mit


avancierten heidnischen Philosophen in die Theorie-Arena
stiegen, um die intellektuelle Ehre ihrer Religion zu verteidi­
gen, wurde deutlich, daß hier für die Rechtgläubigkeit ein
Abgrund aufklaffte, in dem das Verständnis von Rechtem
und Unrechtem insgesamt zu versinken drohte. Am Inter­
face zwischen griechischen und neutestamentlichen Sprach-
spielen bildete sich einer der mächtigsten Diskurs-Wirbel der
alteuropäischen Kultur. Dessen Drehung entstand, indem
die biblische Beziehungs-Rede die griechische Wesensonto­
logie zum Tanzen brachte. Seltsam genug, spielten die ge­
lehrten Patriarchen der oströmischen Welt hierbei die Rolle
der Tanzlehrer; sie waren es, die dem in sich stehenden Einen
die Schritte beibrachten, durch die es sich in ewige Triolen
zu differenzieren lernte. Die rhythmisierende Revolution
brauchte nicht weniger als ein Jahrtausend, um sich zum
durchgereiften luziden Begriff zu entfalten; sie reicht von
den kappadozischen Theologen bis zu Thomas von Aquin,
bei dem mit der Lehre von den »subsistenten Beziehungen«
das Undenkbare schließlich doch denkbar geworden zu sein
schien. In wohlerwogenen Wagnissen hat sich die Trinitäts­
spekulation ins Feld der Relationenlogik vorangetastet - als
sei es ihre Mission gewesen, einen Gott, der sich philoso­
phisch nur als Lichtreaktor und als faltenlose steinerne
Ewigkeit vorstellen ließ, zu enttarnen als Abgrund der
Freundlichkeit und zu imitieren als wahre Ikone der Liebes­
beziehung. Insofern hatte Adolf von Harnack nicht ganz
recht mit seiner scharfkantigen These, daß die ältere christ­
liche Theologie die allmähliche Hellenisierung des Evange­
liums war. Sie war zugleich, und nicht nur beiläufig, die jü­
disch inspirierte Intersubjektivierung des Hellenismus.

Wie Mehrere in Einem ungetrennt zu koexistieren vermö­


gen: diese Grundfrage der Lebens-Sphärentheorie bewegt
die frühen Theologen zunächst nicht so sehr in der numeri-
Mir näher als ich selbst 6 0 3

sehen und quantitativen Dimension des Problems, sondern


vor allem unter dem Gesichtspunkt, wie die Raumteilung der
Drei im Einen zu denken sei. Hier gerät die Theologie aus
sich selbst heraus unter den Zwang, sich topologisch zu er­
klären. Dieser erste Zugang zur innergöttlichen Sphäre weist
zunächst unverkennbar noch naturphilosophische Unter­
töne auf, auch wenn es längst um das Ineinanderwohnen von
Geistgrößen geht. Dies läßt sich besonders klar an dem be­
rühmten Lampengleichnis aus der Abhandlung Über die
göttlichen Namen des syrischen Mönchs-Philosophen Dio­
nysos Pseudo-Areopagita aus dem späten 5. Jahrhundert ab­
lesen. Seine Erklärungen sind aufschlußreich für die Aus­
gangslage der späteren Entwicklung, denn sie deuten das
Zusammenseinkönnen der drei göttlichen Personen noch
gänzlich im Rahmen der neuplatonischen Diskussion, wie
das Viele im Einen verwurzelt und integriert sein könne.
Schon der Neuplatonismus hatte ein Pathos des Verschie­
denseins des Verschiedenen im Einen gekannt, und von die­
sem wird noch die Rede von der »gegenseitigen Begründung
der Personen-Prinzipien der Dreieinigkeit« profitieren.
»Auf dieselbe Weise - wenn ich hier sinnliche und ver­
traute Bilder zu gebrauchen wage - bewahren die
Lichter von mehreren in einem Zimmer versammelten
Lampen, auch wenn sie vollständig ineinander überge­
hen, doch ganz rein und ganz unvermischt jeweils ihre
eigenen Verschiedenheiten in sich selbst, geeint in ihrer
Verschiedenheit, verschieden in ihrer Einheit. Wir stel­
len fest, daß obwohl mehrere Lampen in einem einzi­
gen Zimmer beisammen sind, all ihre Lichter sich ver­
einen, um nur ein einziges Licht zu bilden, das mit
einem einzigen ungeschiedenen Glanz leuchtet, und
mir scheint, niemand könnte in der Luft, die jene Lam­
pen umgibt, das Licht, das von einer besonderen
Lampe kommt, von dem der anderen unterscheiden,
ebensowenig wie er dieses Licht sehen könnte, ohne
6 o4 Kapitel 8

auch das der anderen zu sehen, weil alle sich mit allen
vermischen, ohne ihre Individualität zu verlieren. Ent­
fernt man nun eine der Lampen aus der Wohnung, so
verschwindet deren Licht gänzlich, ohne irgend etwas
von den anderen Lichtern mitzunehmen und ohne die­
sen etwas vom eigenen zurückzulassen. Tatsächlich
war ihre gegenseitige Union eine ganze und vollkom­
mene, jedoch ohne ihre Individualität zu unterdrücken
und ohne eine Spur von Vermischung hervorzubrin­
gen...
In der Theologie des überwesentlichen Wesens besteht
also, wie ich gesagt habe, die Unterscheidung nicht nur
darin, daß jede der Personen... in der Einheit selbst
steht, ohne mit den anderen zu verschmelzen und ohne
jede Mischung, sondern auch darin, daß die Eigen­
schaften, die zur überwesentlichen Zeugung im Schoß
der Gottheit gehören, keineswegs untereinander ver­
tauschbar sind. In der überwesentlichen Gottheit ist
der Vater allein Quelle, und der Sohn ist nicht Vater,
der Vater nicht Sohn. Jeder der göttlichen Personen
kommt das unverletzliche Privileg ihrer eigenen Lob­
preisungen zu.«253
Die Bilder des Pseudo-Dionysos bieten offenkundig eine in-
timistische Version des platonischen Sonnengleichnisses.
Auf seltsam berührende Weise scheint die Sonne Platons, wie
in einem dreiarmigen Lüster verzweigt, hier en miniature,
aus der offenen Welt ins Hausinnere zurückgenommen. Weil
die Sonne - seit Echnaton und Platon heroisches Symbol der
Prinzipienmonarchie - sich nicht als Bild für eine interne
Kommunion, ja nicht einmal für eine Gewaltenteilung im
Absoluten eignet, mußte der mystische Theologe auf das
Lampengleichnis ausweichen, das mit dem Sonnenmodell
immerhin dies noch gemeinsam hat, daß es die Zentralkraft
253 Pseudo-D ionysos Areopagita, U ber die göttlichen N am en, II, 4, 5
(übersetzt von Joseph Stiglmayr).
Mir näher als ich selbst 605

des Lichts darstellt - und somit die Ursprungsfunktion mar­


kiert, aber darüber hinaus den Übergang zum Gedanken der
trinitarischen Differenzierung plausibel machen kann. Frei­
lich bietet die pseudo-dionysische Lampen-Gruppe nur ein
prekäres Gleichnis für die innergöttliche Kommunikation,
denn es illustriert zwar, wie die Interpenetration von ausbrei­
tungsfähigem Licht mit anderem gleichgeartetem Licht vor­
zustellen wäre, es trägt jedoch nichts bei zum Verständnis
der Wechselwirkungen zwischen den Lichtpartnern. Ihr In­
einanderseinkönnen wird eher noch auf der Linie stoischer
Körper-Mischungsphilosophien als in interpersonalen Be­
griffen gedacht - was sich auch in den obligaten Nähe- und
Mischungsgleichnissen der griechischen und lateinischen
Väter zeigt: Das In-Sein der göttlichen Personen ineinander
- ebenso wie der Zusammenschluß der göttlichen und
menschlichen Naturen in Christus - wird unermüdlich um­
schrieben als Mischung von Wein mit Wasser oder wird mit
der Ausbreitung von Aroma und Klang in der Luft vergli­
chen; allgegenwärtig ist das Bild vom glühenden Eisen, das
als gegenseitige Durchdringung von Metallsubstanz und
Feuersubstanz vorgestellt wird; es kehrt auch abgewandelt
zu Bildern vom glühenden Gold oder von der Kohlenglut
vielfach wieder. Mit alledem soll die verdrängungsfreie nicht­
hierarchische Verschränkung von Substanzen im selben
Raumausschnitt zum Ausdruck gebracht werden - was sich
unforciert als eine primitive Annäherung der theologischen
Spekulation an das Problem der Raumbildung im autogenen
Behälter der Intimsphäre verstehen läßt. Die physiologi­
schen Mischungsbilder finden ihren natürlichen Abschluß in
den platonisierenden Licht-in-Licht-Gleichnissen, mit de­
nen sich der Übergang zu subtileren metaphysischen Geist-
Raum-Vorstellungen wie von selbst ergibt. Diese bildlichen
Figuren konnten gewiß nicht mehr sein als Vorübungen zur
Annäherung an die interpersonale Dimension der starken
Beziehung. Immerhin läßt sich im Weiterdenken des pseudo-
6o 6 Kapitel 8

Missal, Ms. 91, f. i2ir.: Die Trinität als gekröntes Triumvirat-Oval

dionysischen Lampengleichnisses die Vorstellung entwik-


keln, daß der dreieinige Lüster nicht nur nach außen Licht
abstrahlt, sondern auch ein Binnenleben der Licht-Parteien
birgt. Dies deuten im Text vor allem die negativen Aussagen
an, die durchaus Aufhebens machen wollen von der Tatsa­
che, daß der Vater nicht der Sohn, der Sohn nicht der Vater
sei. Durch dieses Nicht in Gott wird Leben oder personale
Differenz in das gleißende Grau der Ur-Einheit gebracht.
Die drei (bzw. sechs) Nichte in der Trinität (Vater nicht Sohn
und Geist; Sohn nicht Geist und Vater; Geist nicht Vater und
Sohn) zünden das Beziehungsfeuer im Gottesraum an. Alle
Bestimmung ist Verneinung, wird Spinoza sagen; alle Vernei­
nung ist Beziehung, gaben schon die alten Theologen zu ver­
stehen.
Die Aufgabe ist also, eine Unterschiedenheit zu denken,
die nicht in Getrenntheit, also in Einander-Außerlich-Wer­
den, mündet; denn wenn es etwas gibt, was bei den alten
Theologen noch heftiger ist als das Pathos der Nicht-Mi­
Mir näher als ich selbst 6 0 7

schung oder Unverschmolzenheit zwischen den göttlichen


Personen, dann ist es das Pathos der apriorischen Verbun­
denheit zwischen diesen. Wie aber soll Einheit noch gedacht
werden, wenn das tripersonale Modell ein Höchstmaß an
Fliehkräften in ihrem Inneren mobilisiert ? Es wird, um die­
ses Problem zu lösen, in Gott ein Ausdrucks- oder Ausfluß­
geschehen angenommen, bei dem echte Differenzen auftre-
ten, ohne daß Schnittflächen oder aufklaffende Fugen
entstünden. Eine merkliche Lücke wäre ja Indiz dessen, daß
die trennende Äußerlichkeit gegenüber dem Kontinuum des
Zusammengehörens die Oberhand gewonnen hätte.
Schon den griechischen Vätern gelang es, diese Verlegen­
heit zu überwinden, indem sie dem Vater zwei Gebärden des
Aus-Sich-Herausgehens zusprachen, die Unterschiedenheit
setzen, ohne die Kontinuität zu gefährden: Es sind dies das
Zeugen und das Hauchen. Die dritte Ausdruckshandlung
Gottes, das Machen, bleibt hier außer Betracht, weil es nicht
zu mitgöttlichen Größen, sondern zu untergöttlichen Krea­
turen führt, also zur sinnlichen Welt und deren Bewohnern.
Zeugen und Hauchen gelten als Produktionen oder Heraus-
Setzungen, deren Produkt dem Produzenten immanent blei­
ben - ein Verhältnis, für das der Theologenscharfsinn im
4. Jahrhundert den bewundernswerten Ausdruck »Hervor­
gang« kanonisiert hat, griechisch ekporeusis, lateinisch pro­
cessio. Gott »selbst« prozessiert sich also aus sich heraus und
in Sohn und Geist hinüber, tritt in diesen jedoch nicht aus
dem gemeinsamen Innen aus; es gibt hier noch keine über
Entfremdungsprozesse ausgespannte Dialektik von Selbst
und Entäußerung, sondern nur den fugenlos von allen geteil­
ten Genuß einer gemeinsamen Fülle. Die innergöttlichen
Kommunarden erleiden durch die Hervorgänge keinen An­
stoß zu agonalen Entäußerungs- und Wiederaneignungslei­
den - diese kommen erst in der heilsgeschichtliche Dimen­
sion ins Spiel, wo der Sohn die Agonie der Welt bis ans Ende
teilen muß.254 Zeugen und Hauchen sind also Ausdrucks-
6o8 Kapitel 8

Handlungen ohne ein abtrennbares Resultat: Der Zeuger be­


hält das Gezeugte, den Sohn, in sich, ebenso wie die Hau­
chenden, Vater und Sohn, das Gehauchte, den Geist, in sich
und bei sich bewahren, und wenn der Ursprung auch in ge­
wisser Weise aus sich geht, so gerät er doch keineswegs in
eine Äußerlichkeit gegenüber sich selbst. Der Innenraum
Gottes produziert sich selber als eine Relationen-Werkstatt
oder als eine Wohnung, in der jeder das Zimmer des anderen
ist. Die innergöttlichen Raumforderungen wandeln die pla­
tonische Lichtkugel um zu einer kommunionalen Sphäre.
Für deren »Einwohner« kommt es zu der logisch und topo­
logisch ungewöhnlichen Situation, daß ihr Ineinandersein
eine Ausdehnungsgleichheit ohne Raumkonkurrenz sowie
eine Funktionenteilung ohne Vorrangkonkurrenz erlaubt -
auch wenn die patrizentrische Ursprungswut der älteren,
insbesondere der byzantinischen Trinitätsdiskurse diesen
»egalitären« Zug tendenziell verdeckt. Eben diese bruchlose
Teilung ist durch die antiken naturphilosophischen Ver-
schränkungs- und Mischungsbilder vorgedacht. Aber die
Trinität meint etwas mehr als eine perfekt verschüttelte
Emulsion aus drei verschiedenen Flüssigkeiten: Sie inten­
diert nicht weniger als ein Liebesieben a priori und und eine
ursprüngliche weltüberlegene Interintelligenz. Das Innere
der lebendigen Kugel entspricht der Formel: dreimal eins er­
gibt dreimal alles.
In der Lehre von der Uni-Trinitas hat sich somit die Idee
der starken Beziehung zum ersten Mal logisch kohärent arti­
kuliert, und gleich beim ersten Erscheinen ist sie in unüber­
bietbarer Radikalität hervorgetreten: Wenn je der Gedanke
an eine Inter»subjektivität« a priori in Betracht gezogen
wurde, dann bei der Ineinanderverschlingung der trinitari-
schen Personen. N un ist die Idee eines absoluten Innen 254

254 »Christus liegt in Agonie bis ans Ende der Welt.« Blaise Pascal,
Pensées, hg. v. L. Lafuma, Paris, 2. Aufl. 1975, S. 919.
Mir näher als ich selbst 609

Psalter-Fragment, f. 9V: Trizephale Trinität


6 io Kapitel 8

i. Vater und Sohn in gemeinsamer Hülle, den Geist berührend

Der Rothschild Canticus: Das geflochtene Band der Trinität wandelt sich
progressiv von Bildern personaler Nähe in geometrisch-ontologische Rota­
tionsfiguren: Höhepunkt mittelalterlicher Ontographie. Die Trinitätsbilder­
folge des Canticus umfaßt im Original 24 Stationen.
Mir näher als ich selbst 6ii

etabliert: Durch sie wird physischer Raum in Beziehungs­


raum aufgehoben - der Surrealismus des Ineinanderseins von
Personen hat sein klassisches Modell gefunden. In diesem
Raum stehen die Personen nicht mehr jeweils selbstleuch­
tend nahe beieinander wie die Lampen im Zimmer des
Pseudo-Dionysos; sondern indem sie die Urwohngemein-
schaft bilden, zimmern sie eine pure Beziehungsräumlichkeit
oder wölben eine erste Liebessphäre um sich aus. Hier also
gilt: Erst die Liebesinnenwelt, dann die Physik; erst die eini­
gen Drei, dann ihr geschichtlicher Haushalt. N ur in dieser
Reihenfolge ist die Beziehung zwischen dem absoluten Trio
und seiner Außenwelt zu fassen. Deswegen legen die Theo­
logen so großen Wert darauf, das Ineinandersein der Drei-
Einen ohne jedes trennende Zwischen zu denken.
Der gelehrte Mönch Johannes von Damaskus, ca. 650-
750, hat in seiner vielbeachteten Genauen Darlegung des or­
thodoxen Glaubens - seit dem späteren 12. Jahrhundert ein
Bezugstext der lateinischen Scholastiker - einige entschei­
dende Akzente für die Gottesbeziehungslehre gesetzt. Er hat
darin die absolute Gleichzeitigkeit oder Gleichzeitlosigkeit
der Hypostasen bzw. Personen verteidigt:
»Was also die Zeugung des Sohnes angeht, so ist es
gottlos, wenn man von einer Zwischenzeit spricht und
den Sohn nach dem Vater geschaffen sein läßt.«255
Jedes Zeitintervall wäre ein Indiz für den Sieg des Äußeren
über das primäre Innen-bei-Sich-Sein der Gottespersonen.
Zugleich schafft das radikal beziehungshafte Ineinandersein
der göttlichen Personen die Möglichkeit, das anstößige nu­
merische Paradoxon der Eins, die Drei sein soll, aus dem Weg
zu räumen:

255 Des Heiligen Johannes von Damaskus Genaue Darlegung des or­
thodoxen Glaubens. Aus dem Griechischen übersetzt und mit E in­
leitung und Erläuterungen versehen von Dr. D ionys Stiefenhofer,
Bibliothek der Kirchenväter, Band 44, M ünchen-Kem pten 1923,
S. 15.
612 Kapitel 8

2. Trinitarischer Ellipsoid im umlaufenden Band vor dem Grund feurigen


Lichts
Mir näher als ich selbst 613

»Denn denke ich an eine der Personen (hypostasis), so


weiß ich, daß sie vollkommener Gott, vollkommene
Wesenheit (ousia) ist. Nehme und zähle ich aber die
drei zusammen, so weiß ich, daß sie e in vollkomme­
ner Gott sind. Denn nicht zusammengesetzt ist die
Gottheit, sondern in drei Vollkommenen e in unge­
teiltes...«256
Dieses Argument, das schon von den kappadozischen Vätern
im 4. Jahrhundert eingeübt worden war, bleibt bis zum Ku-
saner aktuell: es kehrt noch in dessen Schrift von der Gelehr­
ten Unwissenheit in der Formel maximum est unum wieder.
Es hat den Anschein, daß das Vollkommenheitsargument die
Urform eines naiven Brückenschlags zwischen der Theolo­
gie und der Mathematik unendlicher Größen gewesen ist:
Denn drei mal eins ergibt gewiß nicht eins, sondern drei; in­
sofern wäre das Trinitätsdogma mathematisch absurd; drei
mal unendlich ergibt unendlich; damit ist das Dogma mathe­
matisch sinnvoll.257 Das Unendliche wird in der Figur der
alleseinschließenden Kugel vorgestellt, in der eine Äußer­
lichkeit schlechthin nicht auftreten kann. Dieses Modell ga­
rantiert nun zugleich die absolute Intimität und reziproke
Immanenz der göttlichen Personen. Basilius von Cäsarea,
329-379, hat in einem Brief an seinen Bruder Gregor von
Nyssa die Ablehnung der äußeren Differenzen für die gött­
liche Innensphäre klassisch zum Ausdruck gebracht:
»Und in demselben Gedankengang, in dem man die
Herrlichkeit einer jener drei Personen... erfaßt, soll
man unwandelbar weiter gehen... so daß also der Ge­
dankenlauf vom Vater zum Sohne und Heiligen Geiste
kein leeres Intervall durchmißt, denn es gibt nichts,
was zwischen sie eingeschoben werden könnte; es gibt
neben der göttlichen Natur kein anderes subsistieren-
256 Ibid., S. 35.
257 Vgl. A lbert Menne, Mengenlehre und Trinität, in: M ünchener
Theologische Zeitschrift, 8, 1957, S. i8off.
Kapitel 8

3. Verknotung der Trinitätspersonen zu quasi-borromäischen Ringen aus


einem durchlaufenden geflochtenen Band
Mir näher als ich selbst 615

des Ding, das diese durch Einschiebung des Fremd­


körpers zerteilen könnte, noch gibt es die Leere des
wesenlosen Raumes, welche die Harmonie der gött­
lichen Wesenheit spalten und durch Einschiebung der
Leere den Zusammenhang zerreißen könnte.. ,«258
Daß die interne Kohärenz der einigen Drei nur unter Zuhil­
fenahme von expliziten oder impliziten Kreis- und Sphären­
modellen gedacht werden konnte, darf nicht überraschen.
Gregor von Nyssa weiß jedenfalls, daß die Lückenlosigkeit
der innergöttlichen Beziehungen sich ohne Rotationskon­
zept nicht vorstellen läßt:
»Siehst du die Kreisbewegung der gegenseitigen Ver­
herrlichung der Gleichen? Der Sohn wird verherrlicht
durch den Geist, der Geist wird verherrlicht durch den
Sohn. Seinerseits empfängt der Sohn Verherrlichung
durch den Vater, und die Verherrlichung des Geistes ist
der Eingeborene.«259

258 ep. 38, geschrieben um 370, in: Texte zur Theologie, G otteslehre I,
Bearbeitet von H erbert Vorgrimler, G raz - Wien - Köln 1989,
S. 113 -i 14.
259 adv. Maced. G N O , HI/1,109 (zitiert nach G isbert Greshake, D er
dreieine G ott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg im Breisgau
1997, S. 186).
6i6 Kapitel 8

4. Der feurige Hyperknoten versinkt im Kern eines Kreises, der die Welt an­
kündigt
Mir näher als ich selbst 617
Mit Argumenten dieses Typs erreichen die alten Theologen
etwas, was selbst die modernen Soziologen, auch wo sie es
versuchten, noch nicht wieder leisten könnten: Sie gelangen
zu einem völlig entphysikalisierten Personen-Raumbegriff.
Mit ihm wird der Sinn von In endgültig von jeder Art des Be­
hälter-Denkens losgemacht.260 Wenn Vater, Sohn, Geist noch
irgendwo zu lokalisieren wären, dann nur in der Beher­
bergung, die sich sich gegenseitig bieten. Der topologische
Surrealismus der Religion tritt so in seine gelehrte Phase ein.
Johannes von Damaskus hat für die seltsame ortlos-selbst-
verortende Koexistenz der göttlichen Personen das Wort pe-
richoresis neu verwendet - was im älteren Griechischen wohl
so etwas wie »um etwas herumtanzen« oder »im Kreis her­
umgewirbelt werden«261 bedeutet hat. Indem der Damasze­
ner dieses alte Bewegungswort in den begrifflichen Rang
erhebt - wonach es soviel wie Ineinandersein, Ineinander­
verschränkung, Ineinandereindringen bedeutet -, gelingt
ihm eine der geistvollsten Begriffsschöpfungen der abend­
ländischen Ideengeschichte. In dem Wort regt sich etwas
Schwerdenkbares oder Ungedachtes - was sich nicht zuletzt
darin verrät, daß auch Theologen, um von den Philosophen
zu schweigen, den Ausdruck nur selten kennen und im Fall
des Kennens meist unzulänglich verstehen. Wer unter Peri-
chorese sich das Ineinandersein von unzertrennlich Verbun-
260 Peter Fuchs hat in Das seltsame Problem der Weltgesellschaft.
Eine N eubrandenburger Vorlesung, O pladen 1997, eine brillante
Einführung in die soziologische Systemtheorie geboten - unter
Betonung des nicht-räum lichen C harakters von »Gesellschaft« -
so daß der Eindruck entsteht, es w erde hier eine A nnäherung an
eine »perichoretische« Soziologie versucht, d. h. eine Theorie der
Gesellschaft ohne Anleihe bei Bildern räumlicher Behälter.
261 Vgl. Anaxagoras Fragm ent 38: »Eben diese W irbelbewegung
(perichoresis) bewirkte, daß sie (die gemischten Qualitäten) sich
aussondern. U nd vom Feinen wird das Dichte ausgesondert und
vom Kalten das Warme und vom H ellen das D unkle und vom
Feuchten das Trockene.« in: Die Vorsokratiker, hg. Jaap Mansfeld,
Stuttgart 1987, S. 525.
Kapitel 8

5. Die tripersonale Struktur Gottes wird von der neuplatonischen Emanati­


onskugel überformt. Von Vater und Sohn bleiben Füße am Rand sichtbar,
vom Geist oben die Flügel
Mir näher als ich selbst 619

denen vorstellt, denkt zwar nichts Falsches, ist aber noch


weit davon entfernt, das Wesentliche zu erfassen. Der selt­
same Ausdruck steht für nicht weniger als für den an­
spruchsvollen Gedanken, daß die Personen nicht in äußeren,
bei der Physik geliehenen Räumen lokalisierbar sind, son­
dern daß sie den Ort, an dem sie sind, selber durch ihre
Beziehung zueinander stiften. Durch gegenseitige Beherber­
gung eröffnen die göttlichen Beziehungswesen, die H ypo­
stasen oder Personen, den Raum, dem sie gemeinsam ein­
wohnen und in dem sie sich gegenseitig ins Leben rufen,
durchdringen und anerkennen. Das Privileg Gottes bestünde
demnach darin: an einem O rt zu sein, der nur durch die Be­
ziehungen der Einwohner zu den Miteinwohnern in ihm
selbst ursprünglich eingeräumt wird. Dies ist für das triviale
Raumdenken so schwer vorstellbar, daß man ein ganz in Lie­
besgeschichten verstrickter Mensch sein müßte - aber um al­
les in der Welt kein neuzeitliches Subjekt - um zu ahnen, was
es bedeuten könnte.
»Sie (die Personen, Hypostasen) sind ohne Vermi­
schung vereint und ohne Trennung unterschieden, was
geradezu unglaublich scheint.«
»... sie haben das Ineinandersein (perichoresis) ohne
jede Verschmelzung und Vermischung.«262
Bei einer solchen Wohngemeinschaft im Absoluten fragt es
sich, wo sie sich einrichtet und wie sie sich in die Haushalts­
aufgaben teilt. Johannes von Damaskus besitzt die Ant­
wort auch auf diese Frage. Er schreibt im dreizehnten Kapi­
tel der Expositio fidei unter der Überschrift: »Vom Orte
G ottes...«
»Der (physische, P. Sl.) O rt ist körperlich, Grenze des
Umgebenden, sofern das Umgebene umgeben wird.
Die Luft z. B. umgibt, der Körper aber wird umgeben.
Nicht ganz jedoch ist die umgebende Luft O rt des um-

262 Johannes von Damaskus (s. Anm. 255), S. 14, 25.


620 Kapitel 8

6. Die kosmische Sphärenwerdung Gottes im Augenblick der Vollendung.


Die Personen sind von den Strukturen resorbiert
Mir näher als ich selbst 621

gebenen Körpers, sondern das Ende der umgebenden


Luft, die den umgebenen Körper berührt. Jedenfalls
aber ist (bei Körpern, P. Sl.) das Umgebende nicht im
Umgebenen.
Es gibt aber auch einen geistigen Ort, wo die geistige,
unkörperliche Natur gedacht wird und ist, wo sie zu­
gegen ist und wirkt, nicht körperlich, sondern geistig
umgeben wird. Denn sie hat keine Gestalt, um körper­
lich umgeben werden zu können. Daher ist G o tt... an
keinem Orte. Er ist selbst sein Ort, da er alles erfüllt
und über allem ist und selbst alles zusammenhält. Man
sagt aber auch, er sei an einem Orte. O rt Gottes heißt
der Ort, wo seine Wirksamkeit sich offenbart...
Darum ist der Himmel sein T hron... Es heißt aber
auch die Kirche O rt Gottes. Denn diesen haben wir zu
seinem Lobpreis ... ausgesondert. Desgleichen werden
auch die Orte, an denen uns seine Wirksamkeit offen­
bar wird, sei es im Fleische, sei es ohne Körper, Orte
Gottes genannt.«263
Mithin: Orte Gottes - untheologisch gesprochen, Orte der
Ko-Subjektivität oder der Ko-Existenz oder der Solidarität -
sind etwas, was es nicht einfachhin im äußeren Raum gibt.
Sie entstehen erst als Wirkstätten von Personen, die a priori
oder in starker Beziehung Zusammenleben. Die Antwort auf
die Frage »Wo?« lautet hier also: Ineinander. Die Perichorese
macht, daß das Lokal der Personen ganz die Beziehung selbst
ist. Die ineinander im Gemeinsamen enthaltenen Personen
verorten sich selbst, und zwar so, daß sie sich gegenseitig an­
strahlen und durchdringen und umgeben, ohne dabei an der
Deutlichkeit ihrer Verschiedenheit Schaden zu nehmen. Sie
sind füreinander gewissermaßen Luft - jedoch Luft, in der
sie füreinander liegen; jeder atmet ein und aus, was die ande­
ren sind - die vollkommene Konspiration; jeder bricht aus

263 Ibid., S. 36 - 37.


622 Kapitel 8

7. Wiederaufleuchten der trinitarischen Rosette


Mir näher als ich selbst 623

sich hervor in die anderen hinein - die vollkommene Protu­


beranz. Sie spenden sich gegenseitig die Nachbarschaft - das
vollkommene Umgeben-Sein. So wäre der christliche Gott -
zusammen mit dem platonischen Kosmos - das einzige We­
sen, das zwar einen Umfang, aber keine Umwelt hat, weil er
sich selbst das Um gibt, in dem er selbstbezüglich sein bezie­
hungsreiches Wesen treibt. Dieser Gott wäre demnach wenn
schon nicht weltlos, so doch umweltlos.
Wer so zu existieren anfinge wie dieser Gott, bräuchte
nicht mit dem In-der-Welt-Sein zu beginnen; denn pure Be­
ziehungen wären schon eine Welt vor der Welt. Nie wären
äußere Gegebenheiten die ersten Daten, ja auch die Welt als
ganze wäre nicht früher gegeben als die Komplizenschaft
zwischen den anfänglich Vereinigten; kein Ding könnte ein­
zeln für sich gegeben werden; jede Gabe wäre immer schon
und immer nur Zugabe zur Beziehung. Daß es die Gegeben­
heitsganzheit »Welt« überhaupt geben kann, ist selbst erst
eine Folge aus dem Urgeschenk des Einander-Angehörens.
Die Theologen nannten dies, mit Blick auf die dritte Person,
die als copula oder als Geist der Gemeinschaft a priori fun­
giert, das donum dei. Das Geschenk, das die Beziehung gibt,
heißt - um einen ominösen modernen Ausdruck heranzuzie­
hen: Immanenz. Immanent lebt, wer es versteht, bleibend
(manens) in dem Inneren (in) sich aufzuhalten, das durch die
starke Beziehung eingeräumt wird. Aber dieses Einwohnen
und Bleiben ineinander wäre mißverstanden, wenn es nur als
ruhiger Bestand aufgefaßt würde - so wie es die spätere latei­
nische Übersetzung von perichoresis mit circuminsessio, also
etwa: gegenseitiges Einsitzen, suggeriert. Die ältere lateini­
sche Version dieses Kunstausdrucks, circumincessio, hebt den
dynamischen Charakter der interpersonalen Relationen her­
vor und wurde auch gelegentlich mit einem gegenseitigen
Vorstoßen oder Hineinstürmen ineinander gleichgesetzt.264
264 Vgl. Cyrill von Alexandria, In Johannis, 1, j.M igne PG , 73, 81;
zitiert nach: Theological Encyclopedia, Band C, S. 880.
624 Kapitel 8

8. Apokalypse der trinitarischen Sphäre als Sinnbild des Kosmo-Personalis-


mus
Mir näher als ich selbst 62 5
Mit größerem psychologischem Realismus - wenn denn
Psychologie bei göttlichen Personen am Platz sein sollte -
hebt dieses Wort den invasiven Sinn der Einströmungen in
den anderen hervor.

Die Eigenschaft, im starken Sinn oder a priori Zusammen­


oder ineinanderzuleben, gehört nicht nur den innergöttli­
chen Personen zu, sondern tritt in gewisser Weise auch in
menschlichen Personenverbänden an den Tag. Familien und
Völker in ihren historischen Reproduktionen erzeugen und
eröffnen den Ort, an dem ihre Angehörigen sie selber zu sein
lernen können, indem sie sich von ihren Vor- und Nachfah­
ren unterscheiden. Daher ist es signifikant, daß der Hervor­
gang des Sohns aus dem Vater, theologisch Zeugung genannt,
den empfindlichen Punkt des innergöttlichen Spiels bildet.
Denn die Trinitätstheologie: Was ist sie anderes als die sub­
limste Gestalt einer Generationentheorie? Der Viktoriner
Richard - den Mediävisten zu den subtilsten Denkern des
12. Jahrhunderts rechnen - hat dies analogisch explizit statu­
iert.
»Denn eine (menschliche) Person geht aus einer ande­
ren Person hervor (procedit), in manchen Fällen nur
unmittelbar, in manchen Fällen nur mittelbar und in
manchen Fällen zugleich unmittelbar und mittelbar.
Jakob ist wie Isaak aus der Substanz Abrahams hervor­
gegangen; aber der Hervorgang des einen geschah nur
mittelbar, der Hervorgang des anderen geschah nur
unmittelbar. Denn nur durch die Vermittlung Isaaks ist
Jakob aus den Lenden Abrahams entsprungen...
Folglich umfaßt in der menschlichen Natur der Her­
vorgang der Personen drei deutlich verschiedene
Modi. - Und wenn diese Natur auch sehr weit entfernt
scheint von der einzigartigen und überexzellenten N a­
tur Gottes, besteht doch eine gewisse Ähnlichkeit...«
(Richard von Sankt Victor, De trinitate, V, 6)
6z6 Kapitel 8

Das Zusammenleben von Jüngeren mit Älteren bewirkt die


ständige Regeneration des Orts, an dem das Ineinandersein
und Auseinanderhervorgehen der Verschiedenen geübt
wird. Weil aber Stämme und Völker von traumatisierender
Magie und politischer Pest verwüstet werden können - und
zwar so, daß noch ferne Nachkommen an den Übeln der
Vorfahren scheitern -, ist die Kontrolle oder Justierung des
Hervorgangs vom Vater zum Sohn durch den Geist zugleich
eine unentbehrliche kritische Theorie des Generationenpro­
zesses. Der Geist, das heißt das lebenspendende Wissen und
die gegenseitige Liebe zwischen dem Älteren und dem Jün­
geren, ist die Norm geistiger Übertragungen von einer Ge­
neration auf die folgende. Im übrigen darf - aus der Sicht der
Theologen - der Geist nicht einfach als Enkel des Vaters
identifiziert werden, weil dann der Sohn in die Vaterstelle
aufrückte und der Enkel, als Sohn zweiten Grades, gleich­
sam mit dem Rücken zum Großvater stünde. Es kämen dann
auch Urenkel und so weiter in Sicht, womit die Triade un­
dicht würde und in unaufhaltsame lineare Fortzeugungen
aufbräche. Innertrinitarisch soll der Geist die Liaison zwi­
schen Vater und Sohn vollenden - und seine Hauchung
durch den Vater und den Sohn besiegelt den vollständigen
Abschluß der internen Prozessionen. Unmöglich könnte es
in der Immanenz einen Übergang ins Vierte geben.265 Die
Zahl Vier wäre der Anfang einer Kettenreaktion von Her­
vorgängen aus Gott: Mit ihr geriete der Generationenreaktor
außer Kontrolle, und die erste Ursache könnte sich in dem,
was sie in ferneren Potenzen bewirkt, nicht mehr identisch
bzw. hinreichend ähnlich wiederholen. Damit bräche po-
26 5 Vgl. Richard von Sankt Victor, La trinité. Texte latin. Introduction,
traduction et notes de G aston Salet, S. J., Paris 1959, Sources chré­
tiennes 63, V, 15 und 20, S. 342 und 351 ff.: quarta in trinitate per­
sona locum habere non possit. Die lustlose Bemerkung von Im m a­
nuel Kant, es sei für den Lehrling in Glaubensdingen gleichgültig,
ob er an drei oder an zehn Personen in G ott glaube, weil dieser U n ­
terschied für seinen Lebenswandel folgenlos bliebe, zeigt nur, daß
Mir näher als ich selbst 627

tentiell und aktuell eine Degeneration über das innergöttli­


che Geschehen herein; die Äußerlichkeit würde über das
lebendig sich differenzierende Innere triumphieren; Gottes
Prozeß würde monströs, und sein Vermögen, in Formen
starker Relation mit sich selbst zu kommunizieren, würde
des Zuges zu Hervorgängen ins Unähnliche nicht mehr
Herr. Folglich muß im trinitarischen Kernprozeß die ge­
hauchte Person, die die Einheit und Ähnlichkeit zwischen
Erstem, Zweitem und sich selbst garantiert, das Schlußstück
bilden. Der Geist, als amor, condilectio, copula und connexio
verstanden, stellt sicher, daß die Zeugung eine gute Differenz
bewirkt, die im Kontinuum verbleibt und nicht in Entfrem­
dung und Entartung mündet.

In den Völkergenerationsprozessen wird dieses Maß jedoch


chronisch verletzt; denn in ihnen bedeutet Nachkommen­
schaft überaus häufig eine degenerative Fortsetzung der Le­
benskette; die mißglückte Generation ist eine Zeugung im
Unschönen. Durch sie brechen fatale Intervalle zwischen
den Altersgruppen auf; die Früheren und die Späteren wer­
den tatsächlich füreinander fremd oder monströs. Im Blick
auf die entstellenden und entseelenden realen Fortpflanzun­
gen hatte die alte Kirche jedes Recht auf ihrer Seite, wenn sie
sich durch eine pneumatische Sezession von den Völkern
und von deren Zwangsunion im römischen Imperium ge­
trennt hatte, um einen neuen, regenerativen Generationen­
prozeß in einem pneumatischen oder baptismatischen Volk

Kant von dem U nterschied zwischen einer Ethik der Regelbefol­


gung und einer E thik der kom m unionalen Existenz keinen Begriff
hat. Eine Zehnpersonengottheit wäre im mer m onströs, entweder
weil die Personen 4 bis 1o im Fall von Gleichheit nur seriell angefügt
w ürden oder im Fall von Differenz eine Prozession ins G o tt-U n ­
ähnliche in Gang setzten. Vgl. D er Streit der Fakultäten, in: Schrif­
ten zur A nthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik und Päd­
agogik i, Werkausgabe Band IX , hg. v. W ilhelm Weischedel,
Frankfurt 1977, S. 304.
628 Kapitel 8

zu stiften. Die Generationen des Kirchenvolks sind Geistes­


generationen, die sich von den biologisch-kulturellen Gene­
rationen abheben. Idealisierend gesprochen, wären die Kin­
der des christlichen Volkes Nachkommen eines geistigen
Liebesstroms, der einer unzulänglichen empirischen Eltern­
liebe als Korrektiv dienen will. Das ist im übrigen zugleich
der kritische Sinn der frühchristlichen Keuschheit: lieber
keine als mißratene Nachkommen in die Welt zu setzen.
Während die Geschichte der realen Generationen in den
letzten Jahrtausenden zu großen Teilen die Geschichte un­
willkommener Menschen ist, hält sich die Geschichte der
geistigen Generationen rechtens in Gang, weil sie die Kraft
darstellt, die menschlicherseits schlecht begrüßten Indivi­
duen im Namen einer übermenschlichen Instanz im Sein
willkommen zu heißen. Nie hätte das Christentum durch
vierzig Generationen oder nahezu zweitausend Jahre hin­
durch Bestand gehabt, hätte es seine latente Funktion, Klär­
werk der Generativität zu sein, nicht irgendwie erfolgreich
wahrgenommen. Aber diese Funktion ist ihm seit der Ent­
stehung moderner Zivilgesellschaften zunehmend aus den
Händen geglitten, und die nationalstaatlich verfaßte Gesell­
schaft hat sich mit ihrem Erziehungswesen und ihren thera­
peutischen Subkulturen von den Inspirationsdiensten der
christlichen Kirchen weitgehend emanzipiert. Die generati­
ven Prozesse in modernen Sozialsystemen sind zu komplex
geworden, als daß religiöse Instanzen in ihnen eine andere als
marginal mitwirkende Rolle spielen könnten. Inzwischen
haben die Apparatkirchen selbst, die reformatorischen wie
die römische, eher subkulturellen Charakter angenommen;
sie sind vorwiegend zu Filteranlagen für Eigennachwuchs
geworden und haben ihre Kompetenz, die Liebesprozessio-
nen in den natürlichen Gesellschaften zu moderieren, einge­
büßt; ihre Willkommenheißungen wirken auf die meisten
Zeitgenossen wie Ausladungen; zudem hat die allgemeine
Krise der Vaterschaft den Patres den größten Teil ihrer
Mir näher als ich selbst 629

Amtsautorität genommen; an Mitteln und Medien sind die


modernen politischen Bemutterungsagenturen den Kirchen
längst um ein Vielfaches überlegen; der Rest ist Selbstbezüg-
lichkeit. Auf einer subventionierten Bühne hält sich eine
Panto mine der Kinderlosigkeit und der Töchterverachtung
mühsam auf dem Spielplan. Auch der Untergang Roms,
scheint es, vollzieht sich zweimal, und hier wie sonst das er­
ste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.266

Auf ihrem mittelalterlichen Höhepunkt hatte die Trinitäts­


theologie - wie wir durch perspektivische Verkürzungen
sichtbar zu machen versuchten - zur Entdeckung einer Spra­
che für die starke Beziehung geführt. Die Partner der imma­
nenten Trinität erzeugen, beherbergen und umgeben sich in
so dichter Gegenseitigkeit, daß ihr Ineinander alle Außen-
verhältnisse übersteigt. Da zeigt sich, worin der Lohn der
Absurdität besteht: Zum ersten Mal kann das In-Beziehung-
Sein als absoluter O rt angesprochen werden. Wer so in
Ganz-Beziehungen lebt, wie nach trinitätslogischer Darstel­
lung Vater, Sohn, Geist es miteinander tun, ist in einem neu
verdeutlichten Sinn unbedingt innen. In-Sein meint Existie­
ren - oder wie mittelalterliche Autoren seltsamerweise und
doch begreiflicherweise in derselben Hinsicht sagen: Inexi­
stieren - nämlich in einer Sphäre, die durch Binnenbeziehun­
gen ursprünglich eröffnet ist.267 Unter sphärologischen
Gesichtspunkten ist die Trinitätsspekulation vor allem infor­
mativ, weil sie das Phantasma: Niemals-aus-der-Innenlage-
fallen-können bis in die äußerste Konsequenz ausgearbeitet
hat. Sie ist beflügelt von einem Fanatismus der Immanenz,
266 »Hegel bem erkt irgendwo, daß alle großen weltgeschichtlichen
Tatsachen und Personen sich sozusagen zweimal ereignen. Er hat
vergessen hinzuzufügen: das eine Mal als Tragödie, das andere Mal
als Farce.« Karl Marx, D er 18. Brumaire des Louis Bonaparte,
M arx/Engels Werke, Band 8, Berlin 1969 S. 115.
267 Vgl. Peter Stemmer, Perichorese. Z ur Geschichte eines Begriffs, in:
Archiv für Begriffsgeschichte X XV II, 1983 S. 32-34.
6 3 0 Kapitel 8

für den es schlechthin kein Außen geben soll. In dieser H in­


sicht fungiert die Trinitätstheologie als logisches Formular,
mit dem die Zugehörigkeit zu einer absoluten Innenwelt -
nach dem Muster der exemplarischen Drei - beantragt wer­
den kann: Indem ich mich zum deus unitrius bekenne, be­
werbe ich mich um die Aufnahme in eine Gemeinschaft, die
auf unzerstörbarer Immanenz beruht. Und doch konstituiert
sich auch diese Intimgemeinschaft wie eine Gruppe, die dem
äußeren Zwang das meiste verdankt. Vielleicht klingen die
lehramtlichen Aussagen der Kurie zur Trinität deswegen zu­
nehmend mechanisch, weil mit der Etablierung der großen
theologischen Summen die denkerische Spannung aus dem
Trinitätsmotiv zu entweichen begann und die Stunde der Be­
kenntnisverwalter geschlagen hatte. Auf dem Konzil von
Florenz wurde 1442 in der Bulle über die Union der katholi­
schen Kirche mit den Kopten und Äthiopiern im Hinblick
auf das Ineinandersein der göttlichen Personen nur noch
leergedachtes Formularwesen notiert:
»Wegen dieser Einheit ist der Vater ganz im Sohn, ganz
im Heiligen Geist; der Sohn ist ganz im Vater, ganz im
Heiligen Geist; der Heilige Geist ist ganz im Vater,
ganz im Sohn. Keiner geht den anderen an Ewigkeit
voran, überragt <ihn> an Größe oder übertrifft <ihn> an
M acht...«268
Wer dies bekennt, tritt einem Glauben bei, in dessen Zen­
trum ein kommunionales Unzertrennlichkeitsphantasma
wirksam ist. Die Formulierung des Phantasmas geschieht um
den Preis, daß alle, die keine gleichlautenden Bekenntnisse
Vorbringen, aus der Communio ausgestoßen werden - nicht
zufällig schließen sich an die zitierte Passage seitenlange Auf­
zählungen von Irrlehren an, deren Urheber und Anhänger
anathematisiert und verflucht werden.269
Es läßt sich daran ablesen, wie alle Versuche, mikrosphäri-
268 Denzinger, 1331; nach Fulgentius von Ruspe.
269 D enzinger 1332-3, 1336, 1339-1346.
Mir näher als ich selbst 631

sehe Intimstrukturen - die christliche Trinität mag deren


sublimste Formulierung sein - zur Norm oder zur Leitikone
von Großgemeinschaften zu machen, mit einem hohen psy-
chopolitischen Risiko verknüpft sind: Wenn Inklusion schei­
tert, droht den Nicht-Integrierbaren die Auslöschung. Die
ekklesiogene Urphantasie, eine intime Blase bis zur Welt­
weite auszudehnen, mag zwar den Gläubigen die Hoffnung
eingeben, eines Tages werde alles, was jetzt noch als feindli­
ches und selbstzentriertes Außen begegnet, entwaffnet und
in den eigenen Lebenskreis einbezogen sein; auch haben ge­
meinde-enthusiastische Solidaritätserfahrungen einen natür­
lichen Zug zum Uberfließen, und das Weitergeben von spiri­
tuellen und caritativen Vorteilen muß nicht immer in
schlechten Expansionismus münden.
Nichtsdestoweniger zeigt sich in der christlichen Liebes-
gemeinschaftspolitik ein Paradox, das sich nur durch sphäro-
logische Grundlagenforschung aufhellen läßt. Der Versuch,
die äußere Welt umfassend in die Blase hineinzuziehen, führt
zu Formatfehlern, über die zu reden sein wird. Was Ernst
Bloch den Geist der Utopie genannt hat, gibt dem größtmög­
lichen Formatfehler Rang und Namen; denn nichts verkennt
die Eigengesetzlichkeiten von Mikrosphären und Makro­
sphären in gleicher Weise so sehr wie der Versuch, die dunkle,
übervölkerte Erde im ganzen umstandslos zu einer transpa­
renten und homogenen Heimat für alle machen zu wollen.
Von den großen Sphären wird der zweite Band dieses Bu­
ches handeln. In ihm wird zu zeigen sein, wie das In-Sein im
Kleinen kraft spezifischer Übertragungsmechanismen als
politisches und kosmisches Verhältnis wiederkehrt. Wenn
uns von Blochs messianischen Motiven bei diesem Übergang
eines begleiten kann, dann ist es vor allem sein Exodus-Ge­
danke. Unter seinem Licht zeigt sich, wie die ekstatischen
Tiere, die aus Mikrosphären kommen, sich anstellen, wenn
sie kraft ihrer Fähigkeit, Räume zu übertragen, ins Große
und Größte übersetzen.
632

Exkurs io

Matris in gremio
Eine mariologische Grille

eugen im Unschönen - das Stichwort fordert einen


Z Kommentar.270 Das alteuropäische Kleriker- und
Mönchswesen ist ohne einen massiven Anti-Fortpflanzungs­
affekt nicht zu denken. Lotario de Segni, ca. 1160-1216, von
1198 an als Papst Innozenz III. Oberhaupt der katholischen
Christenheit, kämpft in seinem großen Lehrbuch der Welt-
anschwärzung De humanae conditionis miseria - Vom Elend
des menschlichen Daseins - mit einem heiligen Brechreiz,
wenn er sich die Speise des Kindes im Mutterleib vorstellt.
»Achte nur darauf, wovon das Kind im Mutterleib
lebt! Mit Sicherheit ernährt es sich vom Blute der Men­
struation, da diese bei den Frauen nach der Empfäng­
nis ausbleibt - doch wohl deshalb, daß das Kind damit
ernährt werden kann. Von diesem Blut heißt es nun, es
sei so abscheuerregend und unrein, daß in der Berüh­
rung mit ihm die Früchte zu sprossen aufhören, Wein­
gärten verdorrten, Pflanzen stürben, die Bäume ihre
Früchte verlieren und Hunde, die davon äßen, toll
w ürden.. ,«271
Wie soll unter solchen Auspizien die Menschwerdung G ot­
tes vorgestellt werden? Daß Maria den Gottmenschen als
Jungfrau empfängt, erfüllt nur die Hälfte des inkarnatori-
schen Reinheitsgebots; angesichts des üblichen höllischen
Menüs in der Mutter steht fest, daß Jesus auch in gremio nach

270 Vgl. oben S. 627.


271 Lotario de Segni, Vom Elend des menschlichen Daseins. Aus dem
Lateinischen übersetzt und eingeleitet von Carl-Friedrich Geyer,
Hildesheim - Zürich - N ew York 1990, S. 45.
Matris in gremio é33
einem abweichenden Speiseplan versorgt werden muß. In
der quaestio 31 des dritten Buches der Summa Theologiae
geht Thomas von Aquin der Frage nach, ob der Leib Christi
nicht besser, wie der Evas, wunderbarerweise aus dem
Manne gebildet worden wäre. Warum mußte er die makabre
Prozedur der Formierung durch mütterliches Blut auf sich
nehmen? Wenn er schon vom Weibe stammen sollte, warum
dann auch vom Blut der Frau und nicht durch Entnahme
einer Rippe nach bekanntem Vorbild? Thomas erwägt, daß
der Leib Christi bis ins einzelne von genau der gleichen Art
sein sollte wie der Leib der übrigen Menschen.
»Der Leib der anderen Menschen aber wird nicht aus
dem reinsten Blut gebildet, sondern aus dem Samen
und aus dem Blut der monatlichen Reinigung. Also
scheint es, daß auch der Leib Christi nicht aus dem
reinsten Blut der Jungfrau empfangen worden ist.«272
Doch ohne ein Blut, das von den gewöhnlichen schaurigen
Menstruen toto caelo verschieden wäre, läßt sich die Bildung
des gottmenschlichen Leibes schlechthin nicht rechtfertigen.
Zwar räumt Thomas ein, weniger krude als Lotario, daß Em­
bryonen auch bei gewöhnlichen Frauen wohl von einem et­
was besseren Blut als dem menstruellen gebildet werden;
aber auch dieses bessere Blut hätte zur Erzeugung des Chri­
stusleibes nicht ausgereicht, weil es durch Mischung mit
männlichem Samen unrein zu werden pflegt. Die jesuanische
Kommunion mit der Mutter mußte sich hingegen vollziehen
im Medium eines Blutes, das das Prädikat besonders keusch
und rein zu tragen verdiente:
»... denn durch das Wirken des Heiligen Geistes ist
dieses Blut im Mutterschoße der Jungfrau gesammelt
und zur Leibesfrucht geformt worden (adunatus est et
formatus in prolem). Und deshalb sagt man, daß der
Leib Christi aus dem >keuschesten und allerreinsten

272 Summa Theologiae, III, 31, 5, 3.


634 Exkurs io

Blut der Jungfrau< gebildet worden ist (ex castissimis et


purissimis sanguinis).«ln
Es ist kaum für einen Zufall zu halten, daß es ausgerechnet
Johannes von Damaskus ist, der Schöpfer des Perichorese-
Begriffs, der sich in der Mutterblutfrage besonders hervorge­
tan hat. Tatsächlich ist das Blut Mariae, auch ohne daß wir
auf prä-natale Psychologie und Nobjekttheorie rekurrieren,
ein medientheoretisch ganz besonderer Saft. Nach mittelal­
terlicher Auffassung entstehen Kinder im Mutterleib gleich­
sam durch Blutgerinnung oder Konkreszenz des mütter­
lichen Blutes, so daß tatsächlich das Material, wenn schon
nicht die Form des Fötus, aus purem Mutterstoff besteht. In­
sofern wäre auch der Leib Christi, als eine Plastik aus einzig­
artig reinem Blut, durch eine materiale Perichorese mit der
mütterlichen Substanz intim verschränkt. Marias Blut ist im
Sohn, und der Sohn, aus Blut gebildet, ist im Blut der Mutter.
»Darum nennen wir die heilige Jungfrau mit Recht und in
Wahrheit Gottesgebärerin.« »Denn die Gottesgebärerin
selbst bot wunderbar den Stoff zur Bildung dem Bildner dar
und den Stoff zur Menschwerdung dem G o tt.. .«274
Johannes von Damaskus hat den Gedanken von der peri-
choretischen N atur des Mutter-Sohn-Verhältnisses in einer
deliranten Passage seines Traktats über die Entschlafung Ma­
rias bis zur äußersten Konsequenz durchgeführt. Weil die
Perichorese immer den Vorrang der Beziehung vor dem äu­
ßeren O rt impliziert, oder weil eben die Beziehung selber
den O rt stiftet, an dem die Ineinanderlebenden sind, darf der
Leib Marias post mortem nicht in der üblichen Weise bestat­
tet werden. In diesem Fall nämlich ließe man zu, daß die Erde
- sei es auch nur vorübergehend, bis zur Auferstehung -
trennend zwischen die Vereinten tritt. Um die Mutter-Sohn-
Perichorese auch in extremis zu verteidigen, konzipiert
273 Ibid., 31,5,a d te rtiu m .
274 Johannes von Damaskus, Darlegung des orthodoxen Glaubens
(s. Anm. 255), III, 12, S. 142, 143.
Matris in gremio 635

Vierge ouvrante, Ende 14. Jahrhundert, Musée Cluny Paris


636 Exkurs 10

Johannes den Tod Marias als ein Heimkehr-Mysterienspiel,


worin er die sterbende Mutter zum Sohne sagen läßt:
»... Dir und nicht der Erde übergebe ich meinen Leib.
Schütze und behüte ihn; du hast in ihm wohnen wollen
und bei deiner Geburt jungfräulich bewahrt. Nimm
mich zu dir, damit, wo du bist, der Sproß meines Scho­
ßes, auch ich sei als deine Hausgenossin. Denn es ver­
langt mich nach dir, der du zu mir herniedergestiegen
bist, ohne irgend etwas zwischen uns zu lassen...«
Nach ihrem Tod tragen die Apostel den verklärten Leib der
Gottesmutter in ein »überirdisches« Grabmal, von wo aus er
am dritten Tag in den Himmel entrückt wird.
»Es durfte ja diese göttliche Wohnstätte, der ungegra-
bene Brunnen des Wassers des Sündennachlasses, der
ungepflügte Acker des himmlischen Brotes, der unbe-
wässerte Weinstock der göttlichen Traube, die immer­
blühende und fruchtbeladene Olive des väterlichen Er­
barmens, nicht in die Weichen der Erde eingeschlossen
w erden... Es mußte diejenige, die Gott das Wort in
ihrem Schoße beherbergt hatte, in den Zelten ihres
Sohnes ein Heim finden; und wie der H err gesagt, daß
er in dem sein müsse, was seines Vaters ist, so mußte
auch die Mutter in dem Palaste des Sohnes woh­
nen .. ,«275

Das Proprium der Verschränkungs-Theologie also besteht


nicht darin, den sterblichen Einzelnen ein ewiges Leben oder
gute Wiedergeburten in Aussicht zu stellen, so wie nicht­
christliche Religionen es vielfach getan haben. Die Ineinan-
der-Einwohnung der göttlichen Liebenden hat vielmehr den
Sinn, die starke Beziehung gegen ihre Aufhebung durch den
Tod abzuschirmen. So sterben die Liebenden, auch wenn sie
275 Johannes von Damaskus, Z ur Entschlafung Marias II, zitiert nach:
Texte zur Theologie, Mariologie, bearbeitet von Franz C ourth,
G raz - Wien - Köln, 1991, S. 152-153.
Matris in gremio 637
nacheinander sterben, ineinander hinein, und folglich ster­
ben sie, ohne den harten Boden irgendeines Außen zu berüh­
ren. Wenn der Vorrang des Innen solide etabliert ist, so weist
die absolute Intimsphäre auch die größte Gewalt der Äußer-
lichwerdung, den Tod, in die Schranken. Mit der Aufnahme
der Mutter Christi in das Zelt des verklärten Sohnes scheint
der Weg offen, auf dem alle nachfolgen können, denen im
Glauben die mystische Verschränkung mit dem Gottmen­
schen gelingt. Aber was für die postmortale Union gilt, trifft
analogisch auch für Perichoresen zu Lebzeiten zu. In gewis­
sen Grenzen ist alles menschliche Zusammenleben in Nähe-
Räumen perichoretisch, denn das Grundgesetz des see­
lischen und mikrosozialen Raums ist das Ubergreifen von
Individuen in Individuen.
Man könnte die assumptionistischen Mariendelirien als
die Urform des psychoanalytischen Gedankens deuten, daß
stets die Nachkommen zu den Krypten ihrer Eltern werden.
Was spricht dagegen zuzugeben, daß Maria bei ihrem großen
Sohn wie in einer Geheimgrabstätte die ewige Ruhe gefun­
den haben mag? Vielleicht nur dies, daß nach menschlicher
Erfahrung in gewöhnlichen Kindern das unerfüllte Leben
von Vätern und Müttern zur ewigen Unruhe gebettet wird.
6 39

Ü bergang

Von ekstatischer Immanenz

ie mystische Theologie und das Trinitätssystem geben


D Einsicht in die Verfassung von personalem Leben, das
unter dem Vorzeichen der dichten Verschränkung steht; in
diesen Mikro-Universen der göttlichen Intimität mit sich
selbst und der menschlichen Intimität mit Gott ist alles auf
Ineinanderwirkung angelegt. Durch ihren perichoretischen
Charakter ist diese Theologie von Grund auf medial verfaßt;
sie lebt im Element von starken Beziehungen. Deren symbo­
lische Form ist die Kommunion als Seinsweise, als Transak­
tion und als Sakrament. In den klassischen Theorien starker
Beziehungen hat darum die Idee des selbstbestimmten Indi­
viduums keinen Platz; wer die alten Texte studiert, dem kann
zumute werden, als lese er die Vorauskritik vormoderner
Zeiten an der Neuzeit und die rückblickende Kritik der
Postmoderne an der Moderne. Wollte man von der Ikone der
Trinität her menschliche Gesellschaften entwerfen, so ergä­
ben sich lebhaft perichoretische Sozialformen auf dem Spek­
trum von Kommunen, Kommunitarismen, Kommunismen -
von der communio sanctorum bis zur Idee des homogenen
außenlosen Weltstaates als letzter Gemeindestruktur - wie
ihn jüngst noch der Medientheoretiker Marshall McLuhan in
seinen pfingstlichen Phantasmen vom elektronischen Welt­
dorf erträumte.
Eieidegger hat in Sein und Zeit hingegen verfallene For­
men der existentiellen Perichorese ins Auge gefaßt. Wenn er
über das Dasein als Mitsein schreibt: »Das In-Sein ist Mit­
sein mit Anderen«,276 so könnte man auf den Gedanken

276 Sein und Zeit, S. i i 8.


640 Ü b erg an g

kommen, daß er eine positive Theorie der ursprünglichen


Kommunionalität das Daseins im Sinn habe; wenn es kurz
darauf aber in der Analyse des Man heißt: »Jeder ist der An­
dere und Keiner er selbst«,277 so wird die Katastrophe des
starken Beziehungsgedankens manifest. Wie Theologie ver­
enden kann - das läßt sich hier mit Händen greifen. Die Tri­
nitätssphäre ist auf die Erde gestürzt und entdeckt sich dort
als faktisches Dasein in der Welt. Jeder ist der Andere und
keiner er selbst: Beinahe wäre der Satz noch auf die Personen
der Dreieinigkeit anwendbar, und doch ist er nur gültig für
die ineinander verwirrten und für sich selbst verlorenen ver­
gesellschafteten Menschen.
Bis wohin die Implikationen dieser Aussage gehen, hat
Sartre in Huis clos vorgeführt, wo eine Trinität aus unauthen­
tischen Menschen in höllischer Verschränkung ineinander
die Ewigkeit teilen. Hier wird jeder zum sadistischen Mit­
wisser der Lebenslüge des anderen. Doch nur dann sind die
Hölle wirklich die anderen, wenn alle sich gegenseitig kalten
Blickes in ihrer verächtlichen Seinsweise fixieren.
Heidegger hält sich in seiner Man-Analyse vor solchen
Zuspitzungen zurück. Er spricht - nicht ohne stolze Diffe­
renz - von den gemeinschaftlichen Intimsümpfen, in denen
sich das alltägliche Zusammenleben als unscheinbares Au-
ßersichsein vollzieht. Wenn jeder und jede der oder die an­
dere ist und keiner und keine er oder sie selbst: Dann kommt
eine graue Perichorese in den Blick, die den kommunionalen
Optimismus, katholisch wie nicht-katholisch, ins Leere lau­
fen läßt. In ekstatischer Immanenz ineinander leben: das ist
nicht nur das Privileg der allerheiligsten Drei. Es genügt, ein
moderner Massenmedienmensch männlicher oder weibli­
cher Ausprägung zu sein, um in grauen Kommunionen in­
einander zu verschwimmen. Heideggers Man zeigt die an­
dere wahre Ikone der innigen Verschränkung; sie bringt das

277 Ibid., S. 128.


Von ekstatischer Immanenz 6 4 1

ungenaue Ineinanderleben der Vielen und die allgemeine


Einschwörung auf die Durchschnittlichkeit ins Bild. Und
doch, es bleibt auch am verfallenen, konfusen, zerschwätzten
Dasein ein untilgbarer heiliger Rest. Denn noch in der banal­
sten Existenz macht sich ein Zusammensein mit anderen gel­
tend, das so vorgängig und unüberdenkbar ist wie nur je die
Ineinanderverfugung von Vater, Sohn und Geist. Irgendwie
ist irgendwer irgendwem irgendwann nahe. Mit irgendwel­
chen anderen ist immer von vorneherein zu rechnen, auch
wenn ihre Zahl, Stellung und Gesinnung unklar bleibt.
»Diese anderen sind dabei nicht bestimmte andere. Im
Gegenteil, jeder andere kann sie vertreten. Entschei­
dend ist nur die unauffällige, vom Dasein als Mitsein
unversehens schon übernommene Herrschaft der An­
deren. Man selbst gehört zu den Anderen und verfe­
stigt ihre Macht.«278
So setzt sich im Man das Wunder der starken Beziehung un­
auffällig fort; aus allen hohen Himmeln gefallen, ist das Man
noch immer in einem nur ihm spezifisch eigenen O rt fun­
diert. Konnte Johannes von Damaskus erklären: Gott ist sein
eigener Ort, so ist vom Man inmitten von seinesgleichen
nicht weniger zu sagen. In der vulgärsten Gruppe, in dem mit
seinem O rt verklebten Kollektiv, ist das unbedingte Innen so
real gegenwärtig wie unter den göttlichen Hypostasen, die
sich gegenseitig beherbergen und verherrlichen. Auch für das
betriebsverlorene Selbst leuchtet das Licht des In. Die All­
tagsexistenz ist immer, weil in der Welt seiend, einer ekstati­
schen Innigkeit teilhaftig, auch wenn sie selbst zu träge ist,
um sich von dieser Lage einen Begriff zu machen. Wer in der
Welt ist, bewohnt einen Ort, an dem kraft der In-Struktur die
starke Beziehung immer schon ihr Recht behauptet. Das Da­
sein ist selbst sein Ort, und dieser ist durch die Einwohnung
der konfus Mit-Daseienden ineinander erschlossen. Er hat

278 Ibid., S. 126.


642 Übergang

sich seit jeher aufgetan, mag auch nur das Durchschnittliche,


Mediale, Vulgäre den Horizont ausleuchten. Wie es dem
Mystiker um sein In-Gott-Sein zu tun ist, so eifert das Da­
sein im Modus des Man darum, im Unauffälligen, Zerstreu­
ten, Nichtfeststellbaren aufzugehen. Auch das ungefähre Le­
ben fährt in einen niederen Himmel auf; im Man-Himmel
trifft sich Prominenz. Hat der Mystiker seinen Willen aufge­
geben, damit Gott in ihm für ihn durch ihn will, so findet das
Man stets einen Weg, es nicht gewesen zu sein; wo man etwas
getan hat, da war es keiner.
»Jeder ist der Andere und Keiner er selbst. Das M an ...
ist das Niemand, dem alles Dasein im Untereinander­
sein sich je schon ausgeliefert hat.«279
Im Licht der vorangehenden Ausführungen läßt sich nun
besser erläutern, worin der über jede bloße philosophische
Attraktion hinausweisende Zauber von Sein und Zeit be­
steht. Wenn das Buch mit all seiner Düsterkeit das Denken
gefangennimmt, dann vor allem, weil es die tiefsten Gedan­
ken der christlichen Gnosis in einem perfekten Anonym
wiederholt. Die Perichorese des Johannesevangeliums: Ich
bin im Vater und der Vater in mir, und die Perichorese Hei­
deggers: Keiner ist er selbst und alle sind untereinander, ar­
tikulieren sich, wenn sie auch ganz verschiedene Resultate
erzeugen, nach demselben Modell. Haben diese Sätze ver­
schiedene Reichweiten, so deswegen, weil Johannes für eine
Intimität spricht, die sich selbst als Seinsweise des Himm­
lischen proklamiert, während Heideggers Analyse eine Exi­
stenz beschreibt, die sich in die vulgäre mediale Öffentlich­
keit aufgelöst hat. Der Satz des Johannes übermittelt eine
mikrosphärische Botschaft, die ein unermeßliches Gefälle
zwischen Innen und Außen statuiert; sie geht mit der Einla­
dung einher, vom todesträchtigen Außen ins lebendige Innen

279 Ibid., S. 128.


Von ekstatischer Immanenz 6 4 3

überzutreten. Heideggers Satz hat hingegen makrosphäri­


schen Sinn, denn er parodiert das Resultat durchschnittlicher
Sozialisation in mediatisierten Massengesellschaften: Das
Man ist der Großwelteinwohner, der den Preis für den sym­
bolischen und materiellen Komfort seiner Lebensform be­
zahlt, indem er sich in den Sog zur allgemeinen Innenwelt­
entleerung fallen läßt. Sein Innen ist ganz ins Außen
übergegangen; seine Seele sind die Äußerlichkeiten selbst.
Wie wäre da ein Übergang vom Man-Sein zum eigentlichen
Selbst-Sein zu denken?
Johannes von Damaskus hatte gelehrt, man nenne Orte
Gottes jene, an denen wir dessen Wirken, physisch oder gei­
stig, erfahren; zu einem O rt des eigentlichen Selbst kann
hingegen jeder beliebige, durchschnittlich gottverlassene
Punkt im Äußeren werden, an dem sich das Man ganz an
seine Verlassenheit hingibt. Obwohl für ein Innenleben ge­
schaffen, müssen wir Leeres und Äußeres umarmen, mangels
angemessener Ergänzung; die letzten Menschen sind für sich
selber die Äußeren geworden. Sogar ihre Intelligenz wird
nun im neurologischen Außen gesucht, in einem biologi­
schen Apparat, dem Gehirn, das seinem Besitzer nach allen
Seiten entgeht.
Auch Heidegger, wenn man ihn richtig liest, lädt, augusti-
nischen Assonanzen zum Trotz, nicht mehr dazu ein, die
Wahrheit im inneren Menschen zu suchen; er fordert dazu
auf, sich auf die Ungeheuerlichkeit des Äußeren einzulassen.
Sein Dorf ist ein Standort des Ungeheuren. Wie alle Wahr­
heitsmünder ruft er den Herumstehenden zu: Kommt her!,
doch meint hier Kommen nicht mehr das Eintreten in eine
göttliche Intimsphäre, sondern das Heraustreten in eine ek­
statische Vorläufigkeit.
Damit wandelt sich der Sinn von In ein weiteres Mal; an­
gesichts der Globalisierungskriege und der technischen Auf­
brüche, die unserem Jahrhundert seinen Charakter gaben,
bedeutet In-Sein: dem Ungeheuren einwohnen. Kant hatte
644 Übergang

gelehrt, die Frage, mit der sich der Mensch seiner Lage in der
Welt vergewissert, solle heißen: Was dürfen wir hoffen?
Nach den Entgründungen des 20. Jahrhunderts wissen wir,
daß die Frage lautet: Wo sind wir, wenn wir im Ungeheuren
sind?
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