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Sloterdijk
Sphären I
Blasen
Suhrkamp
Peter Sloterdijk unternimmt in seinem auf drei
Bände angelegten Werk Sphären nichts Gerin
geres als den Versuch, die Geschichte der
Menschheit zu erzählen. Dabei geht er von
der einfachen Frage aus: Wo leben die Men
schen, nachdem sie wissen, daß sie auf einer
Kugel, einem Globus, zu Hause sind? Um sich
einer Beantwortung dieser Frage anzunähern,
entwickelt Peter Sloterdijk den Begriff der
Sphären und spannt einen faszinierenden, per
spektivenreichen Bogen von den frühesten
Kulturen bis in unser globales Zeitalter.
Sphären
Mikrosphärologie
Band I
Peter
Sloterdijk
Blasen
Suhrkamp
Erste Auflage 1998
© Suhrkamp Verlag F rankfurt am Main
Alle Rechte Vorbehalten
D ruck: Friedrich Pustet, Regensburg
Printed in G erm any
Für Regina und das
Semmeltier
Inhalt des ersten Ba n d e s
Vorbemerkung................................................................ 11
Einleitung:
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune.............. 17
1 Herzoperation oder:
Vom eucharistischen E x z e ß ........................................ 101
2 Zwischen Gesichtern
Zum Auftauchen der interfazialen Intimsphäre........ 141
3 Menschen im Zauberkreis
Zur Ideengeschichte der Nähe-Faszination.............. 211
6 Seelenraumteiler
Engel - Zwillinge - Doppelgänger............................ 419
Exkurs 6: Sphärentrauer
Über den Nobjektverlust und die Schwierigkeit,
zu sagen, was f e h lt...................................................... 466
7 Das Sirenen-Stadium
Von der ersten sonosphärischen A llia n z .................. 487
Exkurs 8: Analphabetenwahrheiten
Notiz über oralen Fundamentalismus...................... 532
Abbildungsnachweise...................................................... 646
Die Schwierigkeit, die wir überwinden m ußten,... lag darin,
uns von jeder geometrischen Evidenz fernzuhalten. Anders
gesagt, wir mußten von einer Art Intimität des Runden aus
gehen.
Gaston Bachelard, Poetik des Raumes
Vorbemerkung
Wie jeder Autor, der ein wenig über seine magischen An
fänge hinaus ist, bin ich mir der Unmöglichkeit bewußt, den
Gebrauch, den die alphabetisierte Gemeinschaft von publi
zierten Schriften macht, im voraus auf eine Perspektive fest
zulegen. Nichtsdestoweniger scheint mir die Bemerkung
nützlich, daß die folgenden Ausführungen in ihren großen
Linien wohl am besten als eine Radikalisierung des platoni
schen Mottos zu lesen sind. Ich würde Platons Satz nicht nur
über den Eingang zu einer Akademie setzen, sondern über
das Tor zum Leben überhaupt, wenn es nicht unpassend
wäre, den ohnedies zu engen Zugang zum Licht der Welt mit
Warnhinweisen verzieren zu w ollen... Ohne geometrische
Vorschule sind wir im Leben aufgetaucht, und keine Philoso
phie kann uns nachträglich einer Zulassungsprüfung unter
werfen. Doch ändert dies am exklusiven Mandat der Philo
sophie nicht das geringste, denn die Vermutung, die Welt sei
uns nur durch angeborene geometrische Vorurteile gegeben,
läßt sich nicht einfach abweisen. Könnte man nicht der Mei
nung sein, das Leben sei ein ständiges nachträgliches Abfra
gen von Kenntnissen über den Raum, von dem alles ausgeht?
Und die Spaltung der Gesellschaft in jene, die hiervon etwas
wissen, und jene, die nichts wissen - reicht sie in der Gegen
wart nicht tiefer als je zuvor?
Daß das Leben eine Form-Sache sei - das ist die These, die
wir mit dem altehrwürdigen Philosophen- und Geometer-
Ausdruck Sphäre verbinden. Sie suggeriert, daß Leben,
Sphärenbilden und Denken verschiedene Ausdrücke für das
selbe sind. Indessen ist der Hinweis auf eine vitale sphärische
Geometrie sinnvoll nur, wenn zugegeben wird, daß eine Art
von Theorie existiert, die vom Leben mehr weiß als das Le
ben selbst - und daß überall, wo menschliches Leben ist,
gleichgültig ob nomadisch oder seßhaft, bewohnte Kugeln
entstehen, wandernde oder ortsgebundene, die in einer ge
wissen Hinsicht runder sind als alles, was sich mit Zirkeln
zeichnen läßt. Die folgenden Bücher sind dem Versuch ge
Vorbemerkung !3
Band I
Blasen
16
E in l e it u n g
Die Alliierten
oder:
Die gehauchte Kommune
den Gedanken, daß die Welt überhaupt nichts als die Seifen
blase eines umfassenden Atems sei? Wessen Außer-sich-Sein
wäre dann alles, was der Fall ist?
Das Denken der Neuzeit, das sich so lange unter dem naiven
Namen Aufklärung und dem noch naiveren Programmwort
Fortschritt vorstellte, zeichnet sich durch eine wesentliche
Bewegtheit aus: Wo immer es seinem typischen Vorwärts
folgt, vollzieht es den Durchbruch des Intellekts aus den
Höhlen der humanen Illusion ins nicht-menschliche Außere.
Nicht umsonst steht die Wende der Kosmologie, die nach
Kopernikus benannt ist, am Anfang der neueren Erkenntnis-
und Enttäuschungsgeschichte. Sie hat den Menschen der Er
sten Welt den Verlust der kosmologischen Mitte eingetragen
und in der Folge ein Weltalter progressiver Dezentrierungen
auf den Weg gebracht. Vorbei ist es von da an für die Erden
bewohner, die alten Sterblichen, mit allen Illusionen über ihre
kosmische Schoßlage, mögen solche Ideen auch wie angebo
rene Täuschungen an uns haften. Mit des Kopernikus helio
zentrischer These beginnt eine Serie von Forschungsausbrü
chen ins menschenleere Außen, hin zu den unmenschlich
weit entfernten Galaxien und den spukhaftesten Komponen
ten der Materie. Der neukalte Hauch von draußen wurde
früh verspürt, und auch einige von den Pionieren des revolu
tionär veränderten Wissens über die Lage der Erde im All ha
ben ihr Unbehagen in der zugemuteten Unendlichkeit nicht
verschwiegen; so erhebt selbst Kepler Einspruch gegen Bru
nos Doktrin vom unendlichen Universum mit den Worten,
daß »gerade diese Überlegung ich weiß nicht welchen gehei
men verborgenen Schrecken in sich trägt; tatsächlich irrt man
in dieser Unermeßlichkeit umher, der Grenzen und Mittel
punkt und daher jeder feste O rt abgesprochen werden«.1Den
i D e stella nova inpede Serpentarii, 1606; zitiert nach Alexandre Koyre,
Von der geschlossenen Welt zum unendlichen Universum, Frankfurt
1980, S. 65.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 21
Kreis ohne Konstrukteur I, Beben auf der Sonne: Die sich ausbreitenden
Wellen erreichen eine Größe, die dem Zehnfachen des Erddurchmessers
entspricht, aufgenommen von der Sonde Soho.
3 Vgl. Sphären II, Exkurs 5, U ber den Sinn des ungesprochenen Wortes:
Die Kugel ist tot.
26 Einleitung
Tonfiguren in voller Lebensgröße aus der Grabanlage des ersten Kaisers von
China, Quin (259-210 v. Chr.)
Wir ziehen mit diesen Fragen ein verhülltes Thema der jüdi
schen Genesis-Erzählung ans späte Licht: Was zur Debatte
steht, ist Adams auserwählte Hohlheit. Zu denken gibt uns
seine Gefäßnatur, seine resonante Verfaßtheit, seine bevor
zugte Eignung dazu, Kanal für Einblasungen durch einen In
spirator zu sein. Bei konventioneller Betrachtung könnte
sich auch heute das geschichtsmächtig gewordene Vorurteil
wieder einstellen, daß zwischen Schöpfer und Geschöpf ein
unüberwindliches Gefälle - eine ontologische Differenz -
herrschen müsse. Wie könnte es anders sein, als daß die Krea
tur, auch wenn es um den Menschen im Verhältnis zum Men
schenmacher geht, in einem an Nichtigkeit grenzenden Ab
stand von ihrem Urheber steht? Sogar der erstgeschaffene
Mensch erscheint in diesem Licht für immer überwiegend als
das keramische Objekt, das unter den Händen eines souverä
nen Handwerkers aus einem tonigen Nichts willkürlich her-
6 In der Tradition der Kabbala w urde G ottes Trick weniger pneum a
tisch als graphematisch interpretiert: als kosmogonische Schrift. Ar-
kantechnik bedeutet folglich, an der prim ordialen Schrift anknüpfen.
Die mittelalterliche Golem-Legende verbindet das M otiv der kera
mischen M enschenschöpfung direkt mit dem der Beseelung durch
den göttlichen Buchstaben. Vgl. Moshe Idel, Le golem, Paris 1992.
Eine reflexionstheoretische U m form ulierung der Schöpfungsproble
matik hat G otthard G ünther in seinem Aufsatz »Schöpfung, Refle
xion und Geschichte« entfaltet, in dem er den H o rizo n t einer Me
taphysik der unfertigen Welt umreißt; Geschichte wird als Dimension
von U nfertigkeit verstanden, die zu W eiterproduktionen auf der Basis
bisheriger Produktionen einlädt. » . . . man hat schließlich (sehr spät)
zu begreifen begonnen, daß Geschichte das Phänomen ist, das ent
steht, wenn der Mensch seine eigene Subjektivität kontrapunktisch
auf die natürliche Materialität der W irklichkeit abbildet.« In: Beiträge
zur G rundlegung einer operationsfähigen Dialektik, Band 3, H am
burg 1980, S. 14-56; Zitat von S. 19.
40 Einleitung
Hieronymos Bosch, Der Garten der Lüste, Paar in der Blase, Ausschnitt
48 Einleitung
nicht nur als Träger des Gesetzes, sondern auch als militäri
sche Stressgemeinschaft16stabilisiert und dieser die Selbstbe
hauptung an den ewig wechselnden Fronten zahlloser Ver
feindungen ermöglicht; er engagiert sich für das Volk in der
denkwürdigsten Weise, indem er es unter der pneumatischen
Rechtsform des Bundes an sich zieht. Friedrich Heer hat ein
mal bemerkt, daß die schiere physische Existenz des jüdi
schen Volkes in der Gegenwart einer Art von Gottesbeweis
aus der Geschichte gleichkomme; weniger überschwenglich
könnte man sagen, daß die historische Beharrung des Juden
tums durch die letzten dreitausend Jahre zumindest den
greifbarsten aller Sphärenbeweise aus dem Überleben dar
stellt.17
In sphärologischer Sicht erscheinen Völker vor allem als
Kult-, Erregungs-, Anstrengungs- und Inspirationsgemein
schaften. Als autogene Gefäße leben und überleben sie nur
unter ihrer eigenen atmosphärischen, semiosphärischen
Glocke. Mittels ihrer Götter, ihrer Geschichten und ihrer
Künste führen sie sich selbst den Hauch - und damit die Er
regungen - zu, die sie ermöglichen. Sie sind in diesem Sinn
pneumatechnische und auto-stressorische Erfolgsgebilde.
Wo Völker Dauer haben, beweisen sie ipso facto ihr ethno-
technisches Genie. Mögen auch die Einzelnen in den Völ
kern häufig in relativer Dumpfheit ihren Eigensorgen nach
gehen, so schaffen doch übergreifende Mythen, Rituale und
16 Zu einer Theorie der kulturellen Synthesis durch Stress-Kooperatio
nen vgl. die bedeutende Studie von H einer M ühlmann, Die N atu r
der Kulturen. E ntw urf einer kulturgenetischen Theorie, Wien - N ew
York 1996.
17 Vgl. hierzu Peter Daniel, Z A U N . N orm en als Zaun um das jüdische
Volk. Zum Phänom en der Zeitüberdauer des Judentum s, Wien 1995;
der A utor akzentuiert vor allem die volksstabilisierende W irkung
der Ritual-G renze gegenüber den anderen Kulturen, während wir
weniger vom Zaun als vom Zelt-Effekt sprechen würden: Das Bin
nendasein im schriftgestützten Zelt der Ethnosphäre hält Israel als
Inspiritationsgem einschaft durch den Generationenfluß hindurch in
Form.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune 6 1
Von den Sphären reden heißt also nicht nur eine Theorie der
symbiotischen Intimität und des Paar-Surrealismus entwik-
keln: Zwar beginnt die Sphärentheorie der Sache nach als
Psychologie der inneren Raumbildung aus zwei-einigen
Entsprechungen, aber sie bildet sich mit Notwendigkeit wei
ter zu einer allgemeinen Theorie der autogenen Gefäße.
Diese liefert die abstrakte Form aller Immunologien. Im
Zeichen der Sphären stellt sich schließlich auch die Frage
nach der Form politischer Weltraum-Schöpfungen über
haupt.
In unserer Darstellung wird folglich die Sphärenpsycho
logie der Sphärenpolitik vorausgehen; die Intimitätsphiloso
phie muß die politische Morphologie begründen, eröffnen,
begleiten, umspielen. Diese Reihenfolge hat offensichtlich
einen darstellerischen Grund, aber nicht nur diesen, sondern
auch ein Fundament in der Sache. Jedes Leben durchläuft an
62 Einleitung
kann von den intimen Sphären nicht reden, ohne zur Sprache
zu bringen, auf welche Weise ihre Zersprengung und erwei
terte Neubildung geschieht. Alle Fruchtblasen, organische
Modelle autogener Gefäße, leben auf ihr Zerplatzen zu; mit
der Geburtsbrandung wird jedes Leben an die Küste härterer
Tatsachen gespült. Wer die erreicht hat, kann von ihnen her
klären, was die intimen, allzu intimen Blasen zum Scheitern
bringt und ihre Bewohner in Verwandlungen drängt.
Der Begriff der Sphäre - als belebter Raum wie als vorge
stellte und virtuelle Kugel des Seins - bietet sich dazu an, den
68 Einleitung
Eiffelturm
74 Einleitung
Annika von Hausswolff, Attempting to Deal with Time and Space, 1997
76 Einleitung
Aus: C. V. Boys, Soap-Bubbles, and the Forces whicb Mould Them, London
1902
so sehr eine Sache der Zugänglichkeit ist als eine der verlang
samten Umsicht im Offenkundigsten. Wir sind in sphärische
Verhältnisse immer schon ekstatisch involviert, auch wenn
wir aus tiefsitzenden kulturspezifischen Gründen von ihnen
abzusehen, an ihnen vorbeizudenken und neben ihnen her zu
diskutieren gelernt haben. Die europäische Wissenschafts
kultur ist, ihrer Zurichtung auf Gegenständlichkeit wegen,
im Ansatz wie im Resultat ein Unternehmen zur Dethemati-
sierung der sphärischen Ekstase. Die animierte Innenräum
lichkeit, die wir an allen Grundverhältnissen menschlicher
Kultur und Existenz nachzuweisen versuchen werden, ist
tatsächlich ein realissimum, das sich zunächst jeder sprachli
chen und geometrischen Darstellung - ja überhaupt jeder Re
präsentation - entzieht und doch, an jeder Daseinsstelle, so
etwas wie ursprüngliche Kreis- und Kugelbildungen er
zwingt - dank einer Rundungspotenz, die vor allen förm
lichen und technischen Zirkel-Konstruktionen in Kraft ist.
Die von real Zusammenlebenden geteilten Welten haben
von ihnen selbst her die Gestaltdynamik von Arrondisse
ments, die sich ohne den Beitrag der Geometer eigensinnig
bilden. Aus der Selbstorganisation der psychokosmischen
und der politischen Räume entspringen jene Metamorpho
sen des Kreises, in denen sich das Dasein seine sphärisch
atmosphärische Verfassung gibt. Das Wort Selbstorganisa
tion - das hier ohne die übliche szientistische Hysterie ver
wendet wird - soll darauf aufmerksam machen, daß der men
schenbergende Kreis weder nur gemacht noch nur gefunden
wird, sondern auf der Schwelle zwischen Konstruktion und
Selbstvollzug spontan sich rundet, besser gesagt: in Run
dungsereignissen sich vollzieht - so wie die um ein H erd
feuer Versammelten sich frei und bestimmt um die Feuer
stelle und ihre unmittelbaren Wärmevorteile gruppieren.26
26 Z ur Sphäropoiese durch die Feuerstelle und zur D enkfigur »ther
mischer Sozialismus« vgl. Sphären II, 2. Kapitel, G efäß-E rinnerun
gen. U ber den G rund der Solidarität in der inklusiven Form.
Die Alliierten oder: Die gehauchte Kommune
V orüberlegung
Innenraum denken
Mathematische Knoten
92 Vorüberlegung
30 Das schließt nicht aus, daß sich avancierte Theorien mit däm ono-
logischen Sprachspielen elegant verbinden; vgl. A rth u r Kroker, The
Possessed Individual. Technology and the French Postm odern, N ew
York 1992, besonders das V orwort S. 1-3: »virtual reality is w hat the
possessed. individual is possessed by.«
31 Vgl. 7. Kapitel, Das Sirenen-Stadium. Von der ersten sonosphäri-
schen Allianz, S. 487 ff.
Innenraum denken 97
K a p it e l i
H erzoperation
oder:
Vom eucharistischen Exzeß
»Amour« legt das Herz des Königs in die Hände von » Vif-Desir«, aus dem
Traktat des Königs Rene, Livre du Cuer dAm ours espris (Buch des von
Liebe ergriffenen Herzens), Miniatur eines unbekannten Illustrators, 1457
* n - i v
Der Hinweis auf die Innenwelt als einen Mischkrug für ver
flüssigte Selbste läßt sich durch das dritte Beispiel in unserem
Kurs zur Erkundung bipolarer Intimräumlichkeit weiter
ausbauen; es versetzt uns - ein Jahrhundert nach Katharina
von Siena - ins Zentrum der florentinischen Platon-Renais
sance, deren Schlüsselfiguren Cosimo von Medici, der 1464
verstarb, und sein junger Protege Marsilio Ficino - 143 3 -
1499 ~ gewesen sind. Cosimo hatte Ficino 1462 ein Haus in
Careggi bei Florenz geschenkt, mit dem Auftrag, die herme
tischen Schriften und das Corpus Platonicum aus dem Grie
chischen zu übersetzen. Aus dieser Allianz zwischen einem
Fürsten und seinem Philosophen ging nicht nur die erste
neuzeitliche Ausgabe der Dialoge Platons für die westliche
Kultur hervor; im Jahr 1469, gleichzeitig mit der Vollendung
des Ubersetzungszyklus, lag auch der erste von Ficinos ein
flußreichen Platon-Kommentaren vor, jenes Commentarium
in convivium Platonis de amore, das für die neuzeitliche Auf
fassung der sokratischen oder platonischen Liebe von nie zu
Allegorie der Imitatio Christi. Christus bietet der Seele sein offenes Herz
zur Wiedergabe dar, Kupferstich aus Anvers 1578, Paris, Cabinet des Estam-
pes
Das im Zorn-Feuer brennende Herz der Natur rührt an das strahlende Lie-
bes-Herz der Uberwelt. Illustration zu Jacob Böhme, Theosophische
Wercke, Amsterdam 1682
130 Kapitel 1
Erste Bluttransfusion vom Tier (Lamm) auf den Menschen durch den Pari
ser Arzt J. Baptiste Denis
51 Ü ber den Begriff O rtsraum und seine konstitutive Rolle in der neu
zeitlichen Weltvorstellung vgl. Sphären 11, 8. Kapitel, Die letzte Ku
gel. Zu einer philosophischen Geschichte der terrestrischen G loba
lisierung, dort auch die nötigen Hinweise auf die Explikation des
Begriffs im »System der Philosophie« von H erm ann Schmitz.
i 38 Kapitel
K a p it e l 2
Zwischen Gesichtern
Zum Auftauchen der interfazialen
Intimsphäre
G io tto , D ie B e g r ü ß u n g J o a c h im s u n d d e r H l. A n n a a n d e r P o rta A u r e a ,
F re s k o
58 Ibid., S. 681.
150 Kapitel 2
59 R u d o l f K a s s n e r , P h y s i o g n o m i k , D a r m s t a d t 1 9 5 1 , S. r 8 2 .
Zwischen Gesichtern 155
mer schon der Erlöser, der auf dem Mutterschoß thronend die
Leidensgeschichte vorwegnimmt; es ist fast ganz zu dem na
türlichen Kind einer natürlichen Mutter geworden, ohne Sei
tenblick auf die herandrängenden Gläubigen, die Heilstaten
fordern und am Säugling saugen. Als kindliches Kind kann
das infans Jesus, eine Sekunde lang von Repräsentationsauf
gaben frei, in Zärtlichkeiten mit seiner Mutter aufgehen; kein
heiliges Skript entführt hier den Säugling in kosmische Kon
texte; für einen prekären Augenblick genießt der designierte
Erlöser ein Aufatmen von der Heilsgeschichte.
Es ist kein Zufall, daß Spiritualisten verschiedener Cou
leurs an solchen Italienisierungen des Evangeliums Anstoß
genommen haben. Der russisch-orthodoxe Priester und Iko
nenmaler Pavel Florenskij, ein Verteidiger des alt-osteuro
päischen Ikonen-Konzepts, holte zu einem verspäteten Ge
genschlag aus, als er noch 1922 die These aufstellte:
»Die religiöse Malerei des Westens war eine einzige
künstlerische Unwahrheit, und die Künstler, die, wäh
rend sie in Worten Ähnlichkeit und Treue gegenüber
der abgebildeten Wirklichkeit verkündeten, keinerlei
Berührung mit d e r Wirklichkeit hatten, die abzubil
den sie sich anmaßten und die sie abzubilden wagten,
hielten es nicht für nötig, wenigstens den dürftigen
Hinweisen der Überlieferung der Ikonenmalerei Ge
hör zu schenken, d. h. dem Wissen von der geistigen
Welt, das die katholische Kirche ihnen mitteilte.«60
Wie alle Denker, die vom christianisierten platonischen Furor
gefangengehalten werden, verkennt Florenskij, daß die Male
rei der Renaissance in einem radikalen Wechsel des Wahr
heitsmodells ihre philosophische Grundlage hat: Der euro
päische Westen hat in einem weltgeschichtlichen Akt der
Versinnlichung und Dramatisierung des Wahrheitsbezugs
Urbilder gegen Urszenen ausgetauscht. Infolge dieser semio-
60 Pavel Florenskij, Die Ikonostase. U rbild und G renzerlebnis im
revolutionären Rußland, Stuttgart 1990, S. 74-75.
Zwischen Gesichtern 159
Vom Frosch zum Dichter, aus der Sammlung Johann Caspar Lavater. Das
Original umfaßt noch weitere Zeichnungen
I70 Kapitel 2
Antlitz des Buddha und den lächelnden Engeln der Gotik ist
es gelungen, der Unterwerfung unter die Bedeutsamkeit zu
entgehen. Sie zeigen in ihrer bildlichen Erscheinung die fa-
ziale Lichtung selbst. Wer könnte übersehen, daß es zum Ap
peal der Mona Lisa gehört, daß sie ein Gesicht zeigen darf,
das sich dem Zwang, Bedeutung statt Freude auszudrücken,
auf die mysteriöseste und subversivste Weise entzogen hat?
Wenn Deleuze und Guattari in guter Epigrammlaune
schreiben: »Das Gesicht ist Christus, das Gesicht ist der
typische Europäer«, so rühren sie, vom Sonderfall des proto-
typischen Europäergesichts ausgehend, an einen Grundzug
des gesichtsschöpferischen Prozesses im Zeitalter der Impe
rien und Hochreligionen. Tatsächlich erreicht die Protraktion
überall dort, wo Hochkulturen sich etabliert haben - also kei
neswegs nur im europäischen Raum -, ein Stadium, in dem be
deutungsträchtig normierende Leit-Ikonen der Gesichtlich-
keit die ältere bio-ästhetische Gesichtsöffnung weitertreiben.
Daß europäische Kulturgesichter bis in nach-christliche
Zeiten gewissermaßen allesamt Erben der Christogramme
sind, ist von verschiedenen Ansätzen her ausgeführt worden;
Deleuze und Guattari stehen mit ihrer fallgeschichtlichen
Gleichsetzung von Christusgesicht und Europäergesicht, die
Überspitzung abgerechnet, nicht allein. Vor allem unter der
Anregung von Johann Caspar Lavaters Physiognomischen
Fragmenten zur Beförderung der Menschenkenntnis und
Menschenliebe, die zwischen 1775 und 1778 in vier Lieferun
gen erschienen, haben neuere Theologen, insbesonders von
protestantischer Seite, eine Fülle listiger Analogien oder Spie
gelungen zwischen der Menschwerdung Gottes und der
Christusförmigwerdung von vormals tribalen und ungetauf-
ten Europäergesichtern postuliert.70Die jüngere theologische
70 Inbesondere hat H erm ann Timm, unter der Anregung von Lavater,
Rudolf Kaßner und Max Picard, in seinem Buch Von Angesicht zu
Angesicht. Sprachmorphische A nthropologie, G ütersloh 1992, ver
sucht, sein theologisches Interesse an »fazialer Epiphanie« direkt zu
i 78 Kapitel
befriedigen; auf der gleichen Linie bewegt sich die flam boyant geist
reiche D issertation seines Schülers Klaas H uizing, Das erlesene
Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie, G ütersloh
1992. Beide Bücher bieten münchentypische Exempla für die theo
logische W endung phänomenologischen Denkens; sie illustrieren
ein Bündnis zur U nterschätzung der Schwierigkeiten, die sich vor
einer historisch-anthropologisch fundierten Theorie der Gesicht-
lichkeit auftun; von diesen erfährt man W eiterführendes in den er
w ähnten A rbeiten von D eleuze/G uattari (s. Anm. 65) und Macho
(s. Anm. 64).
Zwischen Gesichtern *79
Aus der Sammlung Johann Caspar Lavater: »i: verständig und feingut, 2:
verständig und roh, 3: merklich schwach, 4: Der Bug etwas klüger als Knopf
und Nasloch, 5: Ohne den Nasenflügel vollständig, 6: Schwachgut, 7: den
obern Theil weggerechnet, verständig, 8: etwas unnatürlich unten, doch
nicht ganz dumm, 9: Schwachdumm«
i8 o Kapitel
sind bei Jesus kaum anders eins als der Caesarnachfolger und
der erste Caesar. Das Dritte, das die beiden Väter und ihre
Söhne eint, ist die raumbildende Potenz ihrer innigen Zu
wendungen zueinander; was zwischen ihnen weht, ist der
Geist der Reiche. Was Imperium oder Kirche werden soll, ist
zuvor face-ä-face gewesen. Gewiß, das jesuanische Reich
fällt zunächst ganz in eine Innigkeit mit dem Vater, die nicht
von dieser Welt zu sein betont; sein Drittes ist eine Liebe, die
höher sein will als alles Streben nach trivialem Erfolg; der rö
mische Vater und sein Sohn sind hingegen eins durch den
heiligen Geist des Reichserfolges. Wo dieser herrscht, bildet
sich der erste Weltmarkt: ein Geldreich mit allgegenwärti
gem Reichsgeld. Das Geld ist die dritte Person der Dreifal
tigkeit römisch - darum sieht, wer auf der Münze den Sohn
Augustus sieht, zugleich den Vater. Vater und Sohn sind ge
eint vom Geist dessen, was gilt; die Kreisgestalt der Münze
zieht die einigen Zwei in die Idealform zusammen. Für dieses
Geldstück war, solange es im Umlauf war, tatsächlich alles zu
bekommen; es ist die pragmatische Hostie der Roma aeterna.
Vom Sieg Octavians über Marc Anton an konnten Römer
ihre Handlungen von Amts wegen vollziehen im Namen des
Caesars und des Augustus und des Heiligen Reiches.
Rex imago Dei; Deus imago regis: Römische Herrscher und ihre Begleiter-
Götter im Doppelprofil; oben Postumus und Herkules; in der Mitte Probus
und Sol invictus, unten Constantin und Sol invictus
Zwischen Gesichtern 189
wider Willen, das ungläubige Zögern vor der Bitte um die ge
nugtuende Rücksicht des anderen. Wie man die postmo
derne Ornamentik als Zeitvertreib beim Warten auf das
unverfügbar Schöne ansehen könnte, so läßt sich Irene
Andessners malerische Vorbereitung für die Schönheit lesen
als Zeichen des Wartens auf den Augenblick des wahren Ge
sichts.
hängt also von jenem Umbau des subjektiven Raumes ab, der
mit der stoischen Erfindung des Individuums, das sich selbst
genügen soll, einsetzte. Erst seit dem europäischen und asia
tischen Altertum ist es möglich geworden, daß Menschen
eine Art intimer Exzentrik gegenüber sich selbst aufbauen,
die es ihnen erlaubte, hier sie selber und dort zugleich ihr ei
gener Beobachter zu sein. Als lebende Beobachter - man
könnte auch sagen: als innere Zeugen des eigenen Lebens -
übernehmen die Individuen im entstehenden Individualis
mus die Optik einer Fremdsicht auf sie selbst und ergänzen
so ihre interfaziale Sphärenöffnung durch ein zweites Augen
paar, das nun merkwürdigerweise ihr eigenes noch einmal ist.
Damit beginnt die Geschichte des Menschen, der allein
sein können soll und will. Die Einzelnen im individualisti
schen Regime werden zu punktuellen Subjekten, die unter
die Herrschaft des Spiegels, das heißt der reflektierenden,
selbstergänzenden Funktion geraten sind. Sie organisieren in
zunehmendem Maß ihr Leben unter dem Schein, sie könnten
nun ohne realen Anderen beide Parts im Spiel der bipolaren
Beziehungssphäre ausführen; dieser Schein verdichtet sich
im Gang der europäischen Medien- und Mentalitätsge
schichte bis zu einem Zustand, in dem die Individuen ein für
allemal sich selbst für das substantielle Erste und ihre Bezie
hungen zu anderen für das akzidentielle Zweite halten. Ein
Spiegel in jedem Zimmer jedes Individuums ist das lebens
praktische Patent auf diesen Zustand. Freilich verlöre das
Spiel der Selbstergänzung der Einzelnen vor dem Spiegel
(und vor anderen ego-technischen Medien, insbesondere
dem Buch, dem zu lesenden wie dem zu schreibenden) seine
Attraktion, wenn es nicht für die erhabene Fiktion der Selb
ständigkeit verwendbar wäre - jenen Traum von Herrschaft
über sich selbst, der seit den Anfängen antiker Philosophie in
das Leitbild des weisen Lebens eingeflossen ist. Der Weise,
der sein eigener Herr sein kann, muß sich, weil er sich selbst
erkennt, von keinem Herrscherblick durchdringen, ja über-
208 Kapitel
Menschen im Zauberkreis
Zur Ideengeschichte der Nähe-Faszination
M uß in ihrem Zauberkreise
leben nun auf ihre Weise.
Die Verändrung, ach, wie groß!
Johann Wolf gang von Goethe, N eue Liebe,
neues Leben
sich tragen; sie erleben zugleich, daß es ihnen auf eine un
durchsichtige und nicht-triviale Weise gelingt, die Objekte
ihres Begehrens mit ihrem eigenen Verlangen nach ihnen an
zustecken; zugleich ahmen Individuen wie unter einem in
fektiösen Zwang das Verlangen des anderen nach einem
Dritten nach. In der Sprache der Tradition figuriert das als
das Gesetz der Sympathie; dieses verfügt, daß Liebe nicht an
ders kann, als Liebe zu wecken; ebenso generiert auch der
Haß seine kongeniale Antwort; die Rivalität infiziert die Be
werber um dasselbe Objekt mit der vibrierenden Gier des
Konkurrenten. Wo die Philosophie der frühen Neuzeit sol
che Resonanz- und Infektionseffekte zur Sprache bringt,
dort bedient sie sich spontan des Wortschatzes magologi-
scher Überlieferungen. Mit dem Nachdenken über affektive
Kausalitäten des magischen Typs hatte schon in der Antike
die Aufklärung jenes interpersonalen oder interdämonischen
Konzerts begonnen, das von Platons Tagen an als ein Werk
des Eros gedeutet worden ist. Auf platonischen Spuren ha
ben Philosophen des späten 15. Jahr-hunderts einen neuen
erotologischen Diskurs lanciert, dessen Nachhall bis in die
tiefenpsychologischen Umtriebe des frühen 19. Jahrhunderts
und die popularpsychoanalytischen Halbgedanken der Ge
genwart reicht.
Der Mensch als Mikrokosmos - Schema der Einflüsse. Aus: Livres des Por-
traits et Figures du Corps humain, 1572, hg. von Jacques Kerver
Augen ein, und weil er vom Herzen dessen, der ihn ab
schießt, ausgeht, dringt er in das Herz des Getroffe
nen, also gleichsam in die ihm eigentümliche und an
gestammte Gegend ein. ... Hieraus entspringt eine
doppelte Verzauberung (duplex fascinatio). Der An
blick eines stinkenden Greises oder eines menstruie
renden Weibes behext einen Knaben, während der An
blick eines Jünglings einen älteren Mann bezaubert.
Weil aber der Saft des Greises kälter und schwerfälliger
ist, berührt er bei dem Knaben kaum die Oberfläche
des Herzens, und weil er wenig imstande ist einzudrin
gen, beeinflußt er das Herz, wenn es nicht etwa wegen
des kindlichen Alters gar zu zart ist, nur in geringem
Maße, und darum ist die Bezauberung nicht nachhal
tig. Sie ist hingegen sehr ernst in dem Falle, wenn die
jüngere Person das Herz der älteren verletzt.«
Trotz seiner bizarren physiologischen Konzepte, die seit lan
gem keine Verteidiger m ehr finden, ist dieser D iskurs struk
turell unm ißverständlich dem Feld neuzeitlicher tiefenpsy
chologischer Theorien zugehörig, weil durch ihn die erlebte
Liebe als Effekt eines nicht-erlebbaren psycho-physiologi-
schen Prozesses beschrieben und vermittelt wird. Zugleich
ist in Ficinos Modell bereits eine latente Idee des U nbew uß
ten präsent: Es gehört zum Wesen der neuakademisch ver
standenen tierischen Liebe, Effekt von faszinogenen Prozes
sen zu sein, die von den Subjekten nur in ihren Ergebnissen,
nicht aber in ihrem physiologischen Mechanismus erfahren
werden können. Indem Ficinos Diskurs über die vulgäre
Liebe die psychomechanische Rückseite der erlebten eroti
schen Leidenschaften offenlegt, ermuntert er im Stil neu
zeitlicher psychodynamischer Aufklärung die betroffenen
Subjekte dazu, aus der Einsicht in die maschinenhaft funk
tionierenden Komponenten ihres psychischen Apparats
praktische Folgerungen für ihre Heilung vom krankhaften
Drang zu ziehen. Der vulgär oder naturhaft Verliebte wäre
220 Kapitel 3
von Ficinos Theorie der vulgären Liebe darin, daß sie das
Verlangen nach Vereinigung zwischen den Liebenden keines
wegs aus einem eigenständigen Triebwunsch nach dem geni
talen Objekt erklärt, sondern sie wie eine zum Scheitern ver
urteilte Verschiebung des symbiotischen Primäreros auf die
Geschlechterbeziehungs-Bühne vorstellt; dies ist, fünfhun
dert Jahre vor Freud, Lacan und Kohut, eine Entdeckung, die
selbst darauf wartet, wiederentdeckt zu werden. Freilich
sollte die genitale Liebe als solche auf ihre psychologische
Rechtfertigung lange warten müssen; noch für Jahrhunderte
stand das sexualisierte Dual im Schatten der magischen
Dyade. Die Dualerotik konnte sich erst als Größe eigenen
Rechts behaupten, seit sich die Restauration der jüdischen
Ethik gegen die Vorherrschaft der griechischen Philosophie
im zeitgenössischen Theoriehaushalt geltend machte. Es ist
nicht ausgeschlossen, daß man diesen Vorgang eines Tages im
Rückblick als das Hauptereignis im geisteswissenschaftli
chen Prozeß des 20. Jahrhunderts wahrnehmen wird. Die
Ethik der Psychoanalyse wurzelt bekanntlich in der jüdi
schen Gesetzesauffassung - sie fördert nicht Verschmelzun
gen, sondern hält ein unablässiges Plädoyer für konstruktive
Trennungen; ihr Fokus ist nicht die intime Fusion, sondern
die Diskretion des Subjekts angesichts des anderen. Das Ge
setz selbst hat vor allem den Sinn, den Abstand zwischen
Gott und Mensch bis in die Einzelheiten des Alltagslebens
zur Geltung zu bringen. Freilich zeigt sich die Grenze der
philosophisch erneuerten jüdischen Dualethik dort, wo sie
dazu neigt, den Anspruch des Infans an die Intimität zu un
terschätzen: Was schon Freuds Schwäche war, die Unwillig
keit, die Mutter zu denken, bleibt auch noch die von Emma
nuel Levinas, der seine Theorie der starken Beziehung
zwischen dem Menschen und seinem Nächsten in exzessiv
bevorzugender Weise am Vater-Sohn-Verhältnis orientiert.79
79 Vgl. Emmanuel Levinas, Totalität und U nendlichkeit. Versuch über
die Exteriorität, Freiburg-M ünchen 1987, w o es im A bschnitt
222 Kapitel 3
Baquet Wolfarts
234 Kapitel 3
8 5 Immanuel Kant, Von der M acht des Gemüts, durch den bloßen Vor
satz seiner krankhaften Gefühle M eister zu sein. Ein A ntw ortschrei
ben an H errn H ofrat und Professor Hufeland, in: D er Streit der Fa
kultäten, D ritter Abschnitt.
Menschen im Zauberkreis 239
Der Schlüssel der Symbole, aus: Bergasse, La theorie du monde et des etres
organises, suivant lesprincipes de M.(esmer); gravee d ’A.O E
24 2 Kapitel 3
Exkurs 1
Gedankenübertragung
Alfred Tomatis
105 Elisabeth L aborde-N ottale hat in ihrer Studie: Das Zweite Gesicht.
Ü bernatürliche Phänomene in der Psychoanalyse, Stuttgart 1995,
eine Geschichte der W echselbeziehungen zwischen Hellsehen und
Psychopathologie skizziert (S. 91-105); darin komm en M omente
non-verbaler fusionärer K om m unikation zur Sprache.
106 Vgl. hierzu unten Exkurs 8, A nalphabetenwahrheiten. N o tiz über
oralen Fundamentalismus, S. 532. ff.
275
K a p it e l 4
Szenen aus dem Einbalsamierungsprozeß lassen erkennen, wie das Bad des
Totenkörpers in der Natronlauge und die Aufgüsse mit dem Ursprungs
wasser miteinander korrespondieren.
Verklärung ließ sich von früh an reden. Der Tod war nicht
die einzige Währung, in der das Entgelt für den Zugang zum
verschleierten Seinsmysterium zu entrichten war; der empe-
dokleische Sprung in den Krater blieb nicht die einzige Form
des Zugangsopfers. Häufig wurden auch Genitalopfer im
Tausch gegen die Nähe zum großen Mutterinneren darge
bracht - die kastrierten Priester der griechischen Fruchtbar
keitsgöttin Kybele genossen das Vorrecht, sich im Erdinnern
mit der Göttin im hieros gamos zu vereinigen. Die Institution
des Eunuchenpriestertums war im Kult der römischen und
phrygischen Magna Mater ebenso bekannt wie in dem der
anatolischen Artemis, der syrischen Göttin von Hierapolis
und in den Große- Mutter-Kulten Indiens, wo noch heute in
1eder Generation Zehntausende junger Männer zum Genital
opfer überredet oder gezwungen werden. Im übrigen spricht
vieles dafür, daß die westlichen Philosophen in ihrer Mehr
heit typologische Verwandte der heiligen Kastrierten waren,
denn nur wer den All-Immanenzgedanken in seiner strengen
Form verstand, konnte in der Absorption durch das Eine die
Erfüllung sehen. Das Geheimnis der höchsten Metaphysik,
worin hatte es seinen Grund, wenn nicht im logischen
Inzest?111
Beharrlich und mit asketisch-blutiger Konsequenz haben
sich die frühen Para-Metaphysiken an dem ursprünglichen
Mißverhältnis abgearbeitet: Geboren sein und doch »in die
Wahrheit«112 gelangen wollen - das kann unter menschlichen
Bedingungen nur mißlingen, es sei denn, man fände einen
IVFT1 IQ V iy A K B IT R A T V ,
Fata homerica. Stich aus: J.-J. Boissarch, Emblematum über 1558. Auch
wenn der Patriarch Zeus die Schicksals-Lose austeilt, stellen die Losgefäße
noch eine Art von Hyperuterus dar. Wie das Leben auch sei, es bleibt formal
auf Schoß-Immanenz verpflichtet.
hat das Sehen selbst nur noch wenig Zukunft. Das Sucher-
Auge will und muß hier an seinem Gegenstand brechen. Vor
dem saugenden Portal weiten sich die Pupillen. Im Näher
kommen wird dem Sehenden zumute sein, als sei eine ohn
mächtige Warnlegende vorbeigeglitten: Letzter Gegenstand
vor der großen Erkenntnis! Und wirklich, gleich nach dem
Durchgang durch das Grottentor begänne für den Eintreten
den die Tropennacht, und mit dem Einfall der erlesenen
Nacht hörten alle Verhältnisse auf, die auf Lichtung, Ab
stand, Gegenständlichkeit beruhen. Von jetzt an fordert die
Frage nach dem Intimen auch von der analytischen Intelli
genz einen Preis.
Exkurs 2
halte eines ersten Dort, von dem her sich ein erstes Hier kon
zipiert, beides zusammengefaßt in einem vage konturierten
Umgreifungsraum mit steigender Enge-Tendenz. Als Kandi
daten für solche Objekt-Schatten kommen in erster Linie die
Nabelschnur - von der es frühe Tastwahrnehmungen geben
mag - sowie die Plazenta in Frage, die als Vorbote eines er
sten Gegenüber wie ein nährender Urbegleiter des Fötus eine
frühe diffuse Präsenz besitzt. (Von dem »Verhältnis« zwi
schen Fötus/Subjekt und Plazenta/Begleiter handeln die bei
den folgenden Kapitel.) Objekte, die wie die genannten keine
sind, weil ihnen kein subjekthaftes Gegenüber entspricht,
nennt Macho Nobjekte: sie sind sphärisch umgebende Mit-
Gegebenheiten, die im Modus nicht-konfrontativer Präsenz
einem nicht-gegenüberstehenden Selbst, eben dem fötalen
Vorsubjekt, als ursprüngliche Nähe-Wesen im buchstäb
lichen Sinn des Wortes vorschweben. Ihr Nahe-Hier-Sein
(das eben noch kein aufweisbares Da-Sein ist) teilt sich vor
allem durch ihre erste Gabe, das plazentale Blut, dem Kinde
mit. Plazentales Blut ist unter den Nobjekten der frühesten
»Erfahrungs«welt die unüberholbar früheste Instanz. Als
ursprünglichstes unter den prä-oralen Regimen ist folglich
ein Schwebe-Stadium anzunehmen, dessen wesentlicher In
halt im unaufhörlichen plazenta-vermittelten Blutaustausch
zwischen Mutter und Kind besteht. Das Blut, das als Blut
der Einen auch immer schon Blut des Anderen wird, stiftet
das erste mediale »Band« zwischen den bipolar-intim ver
schränkten Partnern der Dyade. Durch das Blut ist die Zwei-
Einigkeit von vorneherein als eine trinitarische Einheit ver
faßt; das Dritte macht aus Zweien eins. Nicht umsonst be
schreiben viele Kulturen den engsten Grad an Verbundenheit
zwischen Verwandten als Blutsbeziehung; dies meint alltäg
lich wohl zunächst das imaginäre Blut der Stammbäume, im
pliziert aber auf einer tieferen Ebene immer auch die reale
Blutkommunion: mit ihrer Charakterisierung als »Ver
wandtschaft« wird die archaische Kreislaufgemeinschaft in
Nobjekte und Unbeziehungen 301
eine symbolische Repräsentation gehoben. Nach altägypti
scher Auffassung ist es das Blut der Mutter, das durch sein
Herabströmen vom Herzen den Fötus tränkt. Noch im euro
päischen Mittelalter, ja bis ins 18. Jahrhundert war die Auf
fassung verbreitet, daß Kinder im Mutterleib als Menstruati
onsblut-Trinker sich am Leben halten.117Tatsächlich läßt sich
der fötale modus vivendi als eine fluidale Kommunion im
Blutmedium beschreiben. Sie lebt in allen post-natal trans
formierten Flüssigkeits-Kulturen nach - von den Getränken
bis zu den Bädern, den Waschungen, den Besprengungen.
Die medientheoretische Neufassung des Innigkeits-Motivs
läßt verständlich werden, warum Blut in der Tat ein ganz
besonderer Saft ist: Es ist das erste stoffliche Medium zwi
schen zwei Individuen, die eines Tages - wenn sie moderne
Menschen sind - miteinander telefonieren werden. Von An
rang an ist Selbstgeschichte vor allem Selbstvermittlungs
geschichte. Ihre Akteure sind Wesen, die aus jeweils einmali
gen Kreislaufgemeinschaften und Getränke-Kommunionen
stammen - und die jene Einmaligkeit in immer wieder ande
ren Übersetzungen wiederbeleben. Zu diesen Kommunar
den im Flüssigen redet Rilke in seinem Appell an die Lieben
den aus der zweiten Duineser Elegie:
... Wenn ihr einer dem andern
euch an den Mund hebt und ansetzt Getränk an
Getränk:
o wie entgeht dann der Trinkende seltsam der
Handlung.
117 Vgl. Lotario de Segni (Papst Innozenz III.), Vom Elend des
menschlichen Daseins. Aus dem Lateinischen übersetzt und einge
leitet von Carl-Friedrich Geyer, H ildesheim - Zürich - N ew York
1990, S. 45: »Achte nur darauf, wovon das Kind im M utterleib lebt!
M it Sicherheit nährt es sich vom Blute der M enstruation, da diese
bei den Frauen nach der Empfängnis ausbleibt - w ohl doch des
halb, daß das Kind damit ernährt w erden kann.« Vgl. auch Exkurs
10, Matris in gremio. Eine mariologische Grille, S. 632 ff.
302 Exkurs 2.
Man würde dem Medium Blut aber kaum gerecht, wenn man
es als Träger eines prä-natalen »Dialogs« zwischen Mutter
und Fötus interpretieren wollte; hartnäckige Fixierungen an
die Wortkommunikation haben zahlreiche Analytiker dazu
verführt, für den medialen Austausch in der archaischen
Dyade den irreführenden Ausdruck Dialog ins Spiel zu brin
gen, und selbst der große Psychologe Rene A. Spitz ließ das
nötige Maß an Hellhörigkeit vermissen, als er im Titel seines
bekannten Buches Vom Dialogm eine medientheoretische
Absurdität duldete.
2. Der zweite Aspekt des prä-oralen Medienfeldes betrifft
die psychoakustische Initiation des Fötus in die mutterleib
liche Klangwelt. Es liegt auf der Hand, daß akustische Ereig
nisse nur im Nobjekt-Modus gegeben sein können - denn
sonore Präsenzen haben kein dingliches Substrat, denen in
der Haltung des Gegenüberstehens begegnet werden könnte.
Die Physiologie des Hörens als In-Mitschwingung-Versetzt-
Werdens macht evident, daß es sich bei akustischen Erleb
nissen um mediale Vorgänge handelt, die sich in Objekt-Be
ziehungssprachen unmöglich abbilden lassen. Dies gilt im
übrigen für die Position der Hörens im Freien ebenso wie für
die fötale Lage - weswegen Musik die Kontinuum-Kunst par
excellence bedeutet; Musikhören heißt immer In-der-Musik-
Sein,119 und insofern hatte Thomas Mann recht, zu sagen,
Musik sei dämonisches Gebiet; wer hinhört, ist tatsächlich
vom Klang aktuell besessen. (Was die Intimitätsbildung
durch fötale Akustik angeht - wie sie vor allem in der um
fangreichen Forschung von Alfred A. Tomatis zur Sprache
118 Vom Dialog. Studien über den U rsprung der menschlichen K om
m unikation und ihrer Rolle in der Persönlichkeitsbildung, Stutt
gart 1976.
119 Vgl. vom Verfasser: Wo sind wir, wenn w ir M usik hören? in: Welt
fremdheit, Frankfurt 1993, S. 294-325; die Frage w ird do rt mit zwei
Lokalisationsformeln beantw ortet: einmal mit der dynamischen
»Im H inw eg und im Rückweg«; ein andermal mit der harm onika-
len »In der Resonanz«.
Nobjekte und Unbeziehungen 303
;ekommen ist so wird von ihr weiter unter im 7 . Kapitel
die Rede sein. Im Licht seiner Forschung wird nicht zuletzt
der mediale Charakter des Fruchtwassers erkennbar, das
Schallwellen zu Vibrationen von auditiver und gesamtkör
perlicher Relevanz transformiert; mehr noch scheint aber die
Schallübertragung durch Knochen von Bedeutung.) Macho
akzentuiert seinerseits weniger das fötale bonding durch die
Mutterstimme als vielmehr das unmittelbar nachgeburtliche
Selbsterlebnis des Neugeborenen beim Gebrauch der Eigen
stimme, die als ein vokal-magisches Medium die Verbindung
zur Mutter außerhalb der Leibeshöhle sicherstellt; sie bietet,
gleichsam als akustische Nabelschnur, einen Ersatz für die
verlorene umbilikale Verbindung; Macho betont, daß dieses
Sich-Zusammenhören in der extra-uterinen Dyade die me
diale Keimzelle aller Gemeinschaftsbildungen bleibt und daß
Verbindung zu Anderen durch akustische Nabelschnüre das
zentrale Prinzip psychosozialer Synthesis darstellt.120 Zu
gleich bildet sich im Kind beim Hören der eigenen Stimme
ein prä-oraler medialer Ich-Kern aus; im Schreien, Krähen,
Plappern, Wortemachen beginnt die lebenslange Geschichte
der Vermittlungen des werdenden Subjekts mit sich selbst
und seinen vokalen Extensionen; in ihm darf man den archai
schen Erzeugungspol von Musik und Sprachkunst sehen.
Darum ist bei Macho von einer vokal-auditiven Phase im
prä-oralen Raum die Rede.121 Aber weil Stimmen keine Ge
genstände sind, ist es unmöglich, zu ihnen in dem »Verhält
nis« zu stehen, das durch das Wort Beziehung ausgedrückt
wird. Stimmen erzeugen akustische Glocken von sphärisch-
120 Ähnlich die Ausführungen vom Verfasser über Musik in modernen
Massenmedien und tonalen Populism us in: Technologie und W elt
management. U ber die Rolle der Inform ationsm edien in der Syn
chronweltgesellschaft; in: P. SL, M edien-Zeit. D rei gegenwartsdia
gnostische Versuche, Stuttgart 1993, S. 67-105, bes. 99ff.; vgl. auch
unten den Exkurs 8, A nalphabetenwahrheiten. N o tiz über oralen
Fundamentalismus, S. 532ff.
121 Macho, Zeichen (s. Anm. 116), S. 237.
3°4 Exkurs 2
gung über, durch die Wand zu brechen. Als Nobjekt ist die
Vulva die Mutter des Granits. Es ist im Augenblick des
Kampfes evident unmöglich, die Wand zu durchdringen,
aber indem sie irgendwie doch, in extremis, durchquert wird,
erlebt sich der Initiand, der hinausgeht, als den härteren, den
steinbrechenden Stein. Geboren werden heißt für die mei
sten Geborenen über eine Wand triumphieren.
Das oben vorgeschlagene Arrangement, den Höhlenfor
scher in zwei Hälften zu spalten, von denen die eine im
dunklen Inneren sich experimentell auflöst, während die an
dere außen die Tagesweltanschauung festhält, scheint unmit
telbar dazu geeignet zu sein, Nobjekt-Forschungsergebnisse
aus erster Hand zu gewinnen; es fingiert etwas, was die Psy
chologie nicht voraussetzen darf: das Vorkommen eines be
schreibungsmächtigen Fötus. Der eingedrungene Teil wäre
dann eine erlebende Sonde in aktueller Mutterleibsversen
kung; sie dürfte nur nicht schweigend im Erleben aufgehen,
sondern müßte, unterstützt vom außen wachenden Teil, als
Phänomenologin ihres In-der-Höhle-Seins - heideggerisch
gesprochen: ihrer Noch-nicht-Geworfenheit - intellektuell
satisfaktionsfähig bleiben.
» A b s c h n i t t e in me i n e m Le b e n
A von der Empfängnis zur Nidation
B von der Nidation zur Geburt
C Leben nach der Geburt
M0 Mutter vor der Empfängnis
M, Mutter von der Empfängnis zur Nidation
M|, Mutter von der Nidation bis zur vollendeten
Geburt
M2 Mutter nach der Geburt
Die Klausur in der Mutter 317
Es scheint eine unserer großen Aufgaben, uns klarzu
machen, daß M 0 = M , = M 2
Haben wir einen genetischen geistigen Plan für unse
ren gesamten Lebenszyklus mit seinen verschiedenen
Abschnitten - geistige Muster, die biologische For
mungen und Umformungen widerspiegeln?
Glaubhaft scheint mir zumindest, daß in unserem mit
der ersten Zelle beginnenden Lebenszyklus unsere
ganze Erfahrung von Anfang an absorbiert und gespei
chert wird, vielleicht sogar vornehmlich am Anfang.
Wie sich das abspielen kann, weiß ich nicht.
Wie kann eine einzige Zelle die Milliarden und Aber
milliarden von Zellen hervorbringen, aus denen ich
heute bestehe?
Wir sind unmöglich, nur ist da eben die Tatsache, daß
wir sind.
Wenn ich embryologische Abschnitte in meinem Le
benszyklus ansehe, empfinde ich so etwas wie sympa
thetische Schwingungen, die mir heute anzeigen, wie
ich nach heutigem Empfinden damals empfand.
Fotografien, Illustrationen oder Filme von frühen em
bryologischen Abschnitten aus unserem Lebenszyklus
wecken oft sehr starke Gefühlsregungen.
Angenommen, du würdest jetzt sterben
und heute nacht neu empfangen werden:
für welche Frau würdest du dich entscheiden? In
welchem Leib würdest du die ersten neun Monate dei
nes nächsten Lebens zubringen wollen?
Daß viele Menschen ähnliche und oft starke sympathe
tische Schwingungen (Resonanzen, Widerhall) spüren,
wenn sie sich unbedacht der Vorstellung überlassen,
wie sie von der Empfängnis bis zur und während der
Geburt und frühen Kindheit empfunden haben könn
ten, ist eine Tatsache,«131
131 Ronald D. Laing, Die Tatsachen des Lebens, deutsche Ausgabe
M ünchen 1990, S. 38.
3j 8 Kapitel 4
»Nidation
ein Zimmer
ein Raum
eine Zeit
eine Beziehung
eine Stimmung
320 Kapitel 4
»Ke i mbl a s e
137 Bela Grunberger, N arziß und Anubis (s. Anm. 78), Band 2, S. 207.
138 Z ur fötalen Psychoakustik vgl. unten das 7. Kapitel, Das Sirenen-
Stadium, Von der ersten sonosphärischen Allianz, besonders
S. 511 ff.
Die Klausur in der Mutter 325
»AUS SIC H H E R A U S
Ich bin, aber ich habe mich nicht. Darum werden wir
erst.
Das Bin ist innen. Alles Innen ist an sich dunkel. Um
sich zu sehen und gar was um es ist, muß es aus sich
heraus. (Tübinger Einleitung in die Philosophie)139
ZU N A H E D A R A N
Ich bin also an mir. Doch eben, das bin hat sich nicht,
wir leben es nur dahin. Alles ist hier nur zu fühlen, leise
kochend, leicht brausend. Bei mir zu fühlen freilich,
indes auch dieses hebt sich noch kaum heraus. Alles
fast hält in diesem fühlend Dumpfen des bloßen Le
bens noch an sich...
D R E H U N G IM B L IC K
Wir sehen jedenfalls nicht, was wir erleben. Was gese
hen werden soll, muß vor uns gedreht w erden...
(Experimentum Mundi, Frage, Kategorien des Heraus
bringens, Praxis)140
Kommen gerade nicht die Bewegung vom Ich zum Wir, son
dern die Zerlegung der archaischen Wir-Zwei-Einigen in das
Ich und seinen Zweiten bei gleichzeitiger Auskristallisation
des Dritten. Diese Zerlegung ist möglich, weil die Zwei-Ei
nigkeit ihrer medialen Bedingtheit wegen immer schon drei
stellig angelegt ist; die dyadische Trias wird in unverzerrten
Entwicklungen immer nur umbesetzt, konkretisiert, erwei
tert, modernisiert:
1 Fötus - 2 (plazentares Blut/Mutterblut) - 3 Mutter;
1 Neugeborenes - 2 (Eigenstimme/Mutterstimme/
Muttermilch) - 3 Mutter;
1 Kind - 2 (Sprache/Vater/Mann der Mutter/) - 3 Mut
ter.
Indem das Mittlere an Komplexität gewinnt, wächst das
Kind allmählich zum kompetenten Exponenten seines kultu
rellen Systems heran. Die trinitarische Struktur der primären
Dyade ist aber von Anfang an gegeben. Was man in subjekt
objektsprachlicher Verkürzung »Mutter und Kind« nennt,
sind ihrer Seinsweise nach immer nur Pole eines dynami
schen Zwischen.
Exkurs 3
Das Prinzip Ei
Verinnerlichung und Umhüllung
O m ne vivum ex ovo.
O m ne ovum ex ovario.
Eduard von H artm ann, Philosophie des
U nbew ußten141
das von sich her lehrt, die bergende Form und ihre Sprengung
zusammenzudenken. Der Ursprung wäre nicht er selbst,
wenn nicht Entsprungenes von ihm frei würde. Aber er wäre
als Ursprung entmachtet, wenn er das Entsprungene nicht an
sich zurückbinden könnte; wo Sein durch Entspringen aus
gelegt wird, dort hebt in letzter Instanz die Ursprungsbin
dung die Freiheit auf. Unter dem para-metaphysischen
Formbedürfnis können die zerbrochenen Schalen nicht das
letzte Wort über die wahre Gestalt des Ganzen sprechen, und
so wird, was im einzelnen verlorengehen muß, im Großen als
330 Exkurs 3
Fortunius Licetus, Haupt der Medusa, gefunden in einem Ei, Frontispiz von
De Monstris, 1665
Das Prinzip Ei 335
Schoßraum tritt bei allen höheren Lebewesen auf, die hoch
gradig unreife und nestabhängige Nachkommen hervorbrin
gen. Alle diese Lebewesen sind daher im Prinzip psychopa-
thisierbar: ihre Reifung zur Partizipation an erwachsenen
Verhaltensspielen kann durch Verletzungen der extrauteri
nen vierten Hülle verzerrt werden. Homo sapiens genießt -
zusammen mit seinen Haustieren - das prekäre Privileg, un
ter sämtlichen Lebewesen am leichtesten psychotisch werden
zu können, sofern man unter Psychose die Spur des miß
glückten Hüllenwechsels versteht. Sie ist das Resultat jener
Fehlgeburt, die ich selber als leidgestimmtes Subjekt eines
Fehlumzugs ins Haltlose, Hüllenlose bin. Orientiert man
sich an diesem Begriff der Psychose als Nachhall einer frü
hen Sphärenkatastrophe, so wird begreiflich, warum die Psy
chose das latente Urthema der Moderne sein muß. Weil der
Prozeß der Moderne eine Initiation der Menschheit ins ab
solute Außen impliziert, kann eine Theorie der wesentlichen
Modernisierung nur als Mitschrift der ontologischen
Prozeß-Psychose zu glaubwürdigen und existentiell griffi
gen Formulierungen führen. Als Epoche systematischer
Grenzverschiebungen, kollektiver Schalen-Pathologien und
epidemischer Hüllen-Störungen verlangt das gegenwärtige
Zeitalter nach einer historischen Anthropologie der prozes
sierenden Verrücktheit.
336
Exkurs 4
K apitel 5
D er Urbegleiter
Requiem fü r ein verworfenes Organ
man lieber die Bergleute bei ihrer Fahrt in den Schacht be
gleiten und auf ihren Spuren in die Stollen einfahren, ohne
Licht und Lageplan, um irgendwo im Tiefen innezuhalten
und zu ermessen, wie der Berg seine Dichte um den atmen
den Lebenspunkt nach allen Seiten ausbreitet? Aber ein sol
ches Exerzitium wäre nur eine sportliche Selbstprüfung und
würde damit enden, daß der Prüfling im stillen Steinraum
seinem eigenen Herzschlag ausgeliefert wäre und seinen vor
panisch aufgeregten Gedanken Zügel anlegen müßte. Auch
dieses Unternehmen führt nicht in die Szene vor allen Szenen
zurück. Für die Erforschung der einzigen Nachthöhle, die
uns etwas angeht, wäre damit nichts gewonnen. In den
unvergleichlichen schwarz monochromen Grund, vor dem
dein Leben einst sich als vibrierende Figur abzuheben be
gann, führen Abstiege zu fremden Schächten nicht zurück.
Das Sehen in dem einzigen Dunkel, das dich betrifft, läßt sich
nicht an einem anderen Dunkel üben. Es bleibt kein anderer
Weg, als es mit dem eigenen schwarzen Monochrom aufzu
nehmen. Wer es mit diesem zu tun bekommt, begreift
schnell, daß das Leben tiefer ist als die Autobiographie. Nie
dringt die Schrift ins eigene Schwarz weit genug vor. Wir
können nicht aufschreiben, was wir anfangs sind.
146 Bela G runberger, N arziß und Anubis (s. Anm. 78), Band 2, S. 195.
354 Kapitel 5
ser, ein Anhaften erleben, das uns als obszöner Anschlag auf
unsere Freiheit erschiene.148 Wir müßten uns selber verdäch
tigen, Mißgeburten zu sein, wenn wir die Zumutung spürten,
148 Vgl. Jean-Paul Sartre, Das Sein und das N ichts. Versuch einer phä
nomenologischen O ntologie. D eutsch von H ans Schöneberg und
Traugott König, Reinbek bei H am burg 1993, S. 1036- 1052.
364 Kapitel 5
Hildegard von Bingen, Scivias, Die Erschaffung der Seele, Illustration aus
dem Rupertsberger Codex
D e r U rb e g le ite r 369
= Hl Ye
Eigen
name
= £ Yong
Das Grab der Plazenta eines Prinzen, des späteren 8. Königs der Yi Dynastie
(1468-1469). Es befindet sich vor dem Heimatmuseum der Stadt Chonju in
der Provinz Cholla Pukdo. Die Zeichen auf der Schildkrötenstele (Schild
kröte = Symbol für langes Leben) sind nebenstehend erläutert.
in der Regel der andere Pol der Nabelschnur, die Plazenta, als
Abfall konzipiert, von dem getrennt zu werden für das Sub
jekt keine Bedeutung haben kann. Man darf sogar vermuten,
daß für die große Mehrheit der modernen Mütter keineswegs
Klarheit in physiologischen Ausdrücken darüber besteht,
was eigentlich durchtrennt wird, wenn Nabelschnüre abge
schnitten werden - es herrscht allgemein nur eine vage Vor
stellung davon, daß das Kind auf der einen Seite läge und die
Mutter auf der anderen.161 In Wahrheit sind der Fötus und
seine Plazenta, gemeinsam aus der Unterwelt aufsteigend,
miteinander liiert wie Orpheus und Eurydike, und obwohl
Eurydike durch die vis maior verlorengehen muß, so sind
doch die Modi ihrer Abtrennung keine gleichgültigen. Ge
burtshelfer und Hebammen müssen wissen, daß sie, wenn sie
den für das Subjekt konstitutiven Schnitt führen, als reife
Geber der Trennung sich dem Kind gleichsam erklärend und
verdeutlichend zuzuwenden haben. Sie müssen sich selber
als Offizianten der Kultur begreifen, die den Schnitt als ur
sprüngliche symbolische Gabe, ja als Initiation in die symbo
lische Welt schlechthin übermitteln.
Was man gemeinhin die Abnabelung nennt, ist ihrem dra
matischen Gehalt nach die Einführung des Kindes in die
Sphäre der ich-bildenden Deutlichkeit. Schneiden heißt mit
dem Messer Individualität konstatieren. Wer den Schnitt
führt, ist der erste Trennungsgeber in der Geschichte des
161 D aß das Kind in utero nicht unm ittelbar zu r M utter ist, sondern zu
sammen mit dem plazentalen D ouble in einer Zwischenwelt eige
nen Rechts lebt, hat unter anderem dramatische im munologische
Implikationen. Jüngere U ntersuchungen scheinen gezeigt zu ha
ben, daß bei H lV -positiven Schwangeren n ur in 30 % der Fälle die
K rankheit auch auf die Kinder übergeht, während die M ehrheit auf
eine kaum nachvollziehbare Weise gleichsam von einem plazenta
len Schutzengel profitiert. Es bleibt unter gynäkologisch-geburts-
helferlichen G esichtspunkten eine offene Frage, ob man die Pla
zenta als ein O rgan der M utter oder als ein O rgan des Kindes
ansehen soll - es spricht allerdings mehr und m ehr für die zweite
Lösung.
Der Urbegleiter 393
Subjekts; er vermittelt dem Kind mit der Gabe der Abtren
nung den Anstoß zum Dasein in den äußeren Medien. Als
Trennungsgeber kann der Geburtshelfer jedoch nur fungie
ren, wenn er selber in reifer Übersicht beide Pole des zu
Trennenden im Auge hat. Soll Orpheus auf richtige und er
wachsene Weise entbunden werden, so muß auch Eurydike
auf einfühlsame und erwachsene Weise verabschiedet wer
den. Als Erwachsener gegenüber dem Kind handeln können
heißt im Grunde nichts anderes als imstande sein, zur richti
gen Zeit die richtige Trennung zu geben. Moderne Indivi
duen, die selbst schon im Regime des plazentalen Nihilismus
herangewachsen sind, haben jedoch ihre Kompetenz, er
wachsene Gesten auszuführen, eingebüßt. Wo sie in guter
Deutlichkeit die erste Trennung geben sollten, dort nehmen
sie meistens infantil-nihilistisch Zuflucht zu Gesten eines
niederträchtigen Beiseiteschaffens und eiligen Verschwin-
denmachens. Sie agieren als Müllabführer für Eurydike. Ha
stig, informell und ahnungslos vernichten sie die Nachgeburt
und zerstören in Orpheus den Ansatz zu der Melodie, die
aus seiner freien Frage nach dem anderen Teil entspränge.
Die Urszene der Muse wird bei den schlecht entbundenen
Subjekten der Moderne überspielt; die Freiheit zur Klage um
das verlorene Andere geht in Dumpfheit und Unförmlich
keit unter. Damit hat die Kultur im Individuum ihre erste
Szene verspielt. Woher soll das Kind nun je erfahren, daß
Engel nur gehen, damit Erzengel kommen mögen?
Natürlich wird auch in moderner Zeit überall die Nabel
schnur nach den Regeln der Kunst abgebunden; auch heute
bildet der Nabel am Körper des Subjekts die Hieroglyphe
seines Individualisierungsdramas. Aber der Nabel hat seinen
Gedanken, seine Melodie, seine Frage verloren. Der mo
derne Nabel ist ein Resignationsknoten, und seine Inhaber
wissen mit ihm nichts anzufangen. Sie verstehen nicht, daß er
Eurydikes Spur ist, das Denkmal ihres Rückzugs und ihres
Untergangs. Von ihm geht urspünglich alles aus, was mit gu-
394 Kapitel 5
164 Zum Komplex der prekären K ooperation mit dem Status quo vgl.
Peter Sloterdijk, Was heißt: sich übernehm en? Versuch über die Be
jahung, in: P. Sl., W eltfremdheit, Frankfurt 1994, S. 267-293, bes.
286ff.
Der Urbegleiter 401
Exkurs j
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Die hier baumförmige Göttin Isis säugt den Pharao; aus dem Grab Thutmo-
sis’ III., Theben, Tal der Könige, 18. Dynastie, 15. Jahrhundert v. Chr.
sehe Psychologie kam an ihr Ziel, wenn sie nicht ein Konzept
für den Imperativ der plazentalen Doublierung anzubieten
wußte. Im Blick auf diese Aufgabe gehören die babylonischen
und die späteren essenischen Lebensbaum-Mythologeme zu
den eindrucksvollsten symbolischen Arrangements, weil in
ihnen die Stelle des transzendenten Parallel-Lebens gleich in
verdoppelten Projektionen besetzt erscheint. Auf einem Fi
gurenfries des Palasts von Assurnaßirpal II. in Kalchu aus
dem 9. Jahrhundert vor Christus erkennt man eine Serie von
cherubartigen Vogelmännern oder geflügelten Kriegergenien,
von denen ein jeder einen Lebensbaum zu pflegen beauftragt
scheint. Offenbar ist hier das Gesamtfeld der Doppelseele ins
Bild gesetzt, wobei die Allianz zwischen der spirituell-an-
thropischen und der vegetativen Seele besonders klar in Err
scheinung tritt.168 Kaum irgend- wo scheint aber die Ver
knüpfung zwischen Engellehre und Lebensbaum-Modell so
eng gewesen zu sein wie im Kult der Essener, den der Ange-
lologe Malcolm Godwin wie folgt resümiert:
»Mittelpunkt ihres Glaubens war der Baum des Le
bens. Er hatte sieben Äste, die an den Himmel reich
ten, und sieben Wurzeln tief in der Erde. Diese standen
in Beziehungen zu den sieben Morgen und sieben
Abenden der Woche und entsprachen den sieben Erz
engeln der christlichen Hierarchie. In einer kom
plizierten Kosmologie... liegt der Standort des Men
schen in der Mitte des zwischen Himmel und Erde
schwebenden Baumes.«169
Hier ist der Lebensbaum nicht nur zum integrierenden
Symbol der Sekte überhöht; er wird darüber hinaus zu einem
Inbegriff der Weltkräfte erweitert; die spiritualistische Ge-
168 Vgl. H einz M ode, Fabeltiere und D äm onen in der Kunst. Die fan
tastische Welt der Mischwesen, Stuttgart u. a. 1974, S. 52
169 M alcolm G odwin, Engel. Eine bedrohte A rt, F rankfurt 1991,
S. 62-64.
Die schwarze Plantagie 409
dings erweist sich auch das Abtauchen in die Idiotie der eige
nen tape recorders als ein effektives Exil. Die totalitäre
Wirkung von Erfassungsmedien kann nur durch Selbstab
dichtungsmedien gebrochen werden.
173 Betrachtungen über Sünde, Leid, H offnung und den w ahren Weg,
Nr. 83, 84.
174 Man könnte dieses Kafkawort versuchsweise abbilden auf die
Schlußzeilen von Rilkes Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge:
»Er w ar jetzt furchtbar schwer zu lieben, und er fühlte, daß nur
Einer dazu imstande sei. D er aber wollte noch nicht.«
K a p i t e l 6
Seelenraumteiler
Engel - Zwillinge - Doppelgänger
Figur eines Kriegers mit Keule und dem »zweiten Ich«, Archäologischer
Park, San Augustin, Kolumbien
Seraphim auf einem Wandgemälde der Kirche von S. Clemente, Tahull, 13.
Jahrhundert
Seelenraumteiler 43 9
berufen, dessen Schrift Über die himmlische Hierarchie zeit
weilig so verstanden worden war, als wirkten die Engel nur
auf Allgemeines, nicht auf Individuelles. Thomas von Aquin
hat in seiner Abhandlung vom Wesen der Engel versucht,
diese exzessiv platonisierende Auffassung, die den persona
len Hauch der biblischen Engel-Mensch-Berührungen zer
stört, durch die Autorität der Schrift und den Hinweis auf
den Konsensus von Gelehrtenmehrheit und Volk zu wider
legen. Für ihn stand fest, daß es Gottes Allmacht zukommt,
durch die angelischen Zweitursachen hindurch auch bis ins
Einzelne gehende Wirkvollmacht und Vorauserkenntnis zu
besitzen.185
Um die Spannungen zu umgehen, die aus dem Gefälle
zwischen körperlosen und verkörperten Geistern, man
könnte auch sagen aus der ontologischen Differenz zwischen
Engeln und Menschen, entstehen müssen, haben zahlreiche
fromme Autoren von Individualengel-Geschichten einen li
stigen Ausweg gewählt: Sie lassen den personalisierten Engel
als Zwillingsgestalt in Erscheinung treten. Hierfür bieten die
Apophtegmata Patrum Aegyptiorum in der ersten der Anto
nius-Legenden das Muster.
»Als der Altvater Antonius einmal in verdrießlicher
Stimmung und mit düsteren Gedanken in der Wüste
saß, sprach er zu Gott: >Herr, ich will gerettet werden,
aber meine Gedanken lassen es nicht zu. Was soll ich in
dieser meiner Bedrängnis tun? Wie kann ich das Heil
erlangen?< Bald darauf erhob er sich, ging ins Freie und
sah einen, d e r ih m g l i c h (Hervorhebung vom Au
tor). Er saß da und arbeitete, stand dann von der Arbeit
auf und betete, setzte sich wieder und flocht an einem
Seil, erhob sich dann abermals zum Beten; und siehe, es
war ein Engel des Herrn, der gesandt war, Antonius
185 Vgl. Thomas von Aquin, Vom Wesen der Engel. De substantiis se
paratis seu de angelorum natura, Ü bersetzung, Einführung und Er
läuterungen von W olf-Erich Klünker, Stuttgart 1989, S. 97-116.
44° Kapitel 6
186 Weisung der Väter, Apophtegm ata Patrum , auch G erontikon oder
Alphabeticum genannt, Einleitung von W ilhelm Nyssen, Ü berset
zung Bonifaz Miller, Trier, 3. Aufl. 1986, S. 15.
187 Vgl. Jean-Louis Chrétien, La connaissance angélique, in: Le réveil
des anges (s. Anm. 181), S. 13 8 f.
Seelenraumteiler 441
sing hat in seinem Stück Nathan der Weise schön gezeigt, wie
das Bild des Retter-Engels in einer Mädchenseele untergehen
muß, damit das des realen Mannes an seiner Stelle aufgehen
kann. Das heteroerotische Paar inmitten eines sehr irdischen
Haushalts wäre - nach der psychoanalytischen Vulgata - das
Mindestziel jeder psychischen Reifungsgeschichte. Logisch
gesprochen bedeutet Reifung nichts anderes als die wach
sende Bereitschaft, bis drei, vier und fünf zu zählen; sie wäre
die Endstufe eines an Etappen und Übergangs-Subjekten und
-Objekten reichen Umbesetzungsprozesses.
Was die plazentalen Doubles angeht, so bezeugt ihr Auf
treten schon die Ausbildung eines psychischen Raumes mit
ausgeprägten Mikrokosmoseigenschaften. Das Ich und sein
alter ego, das Individiuum und sein Genius, das Kind und
sein Engel: Sie bilden jeweils kleinweltliche Blasen, in denen
die dichte Weltlosigkeit der intrauterinen Position mit ihrer
Vorskizze zur Dort-Hier-Struktur bereits ein wenig gelich
tet ist und abgewandelt wurde zu der gemäßigten Weltlosig
keit des frühen Ego-und-Alter-Ego-Duals; in dieses werfen
spätere komplexere Wirklichkeiten ihre Schatten voraus.
Für die kleine Welt sind fünf Strukturmomente konstitu
tiv: Die ersten beiden bestehen, trivialerweise, aus den Inha
bern des Hier-Pols und des Dort-Pols, also aus Selbst und
Mit-Selbst, die, wie gezeigt, in ursprünglicher Ergänzung
immer schon aufeinander bezogen sind und sich durch Tren
nungen und Neuverbindungen bereichern und differenzie
ren. Das dritte wird durch die Behälterform als solche gelie
fert, in die das Hier-Dort-Feld eingebettet wird. Das vierte
Charakteristikum ist die freie Erreichbarkeit der beiden Pole
füreinander, und es ist für den Zwilling wie für den Engel
und ihre Pendants kennzeichnend, kein Problem des Zu
gangs zu ihrem Gegenüber zu haben - die Begleiter sind im
mer schon im Zimmer. Der Engel, wie das Genie, sucht
nicht, er findet; für ihn, das Nähe-Wesen, das von vorneher-
ein dabei ist, ist der andere Pol durch Renonanz a priori er
Seelenraumteiler 447
schlossen; umgekehrt ist für das Subjekt, sofern es sich zum
Begleiter hinwendet, ein gewisses behütetes Außer-sich-Sein
die Regel; im Innern der Blase ist die Ekstase, das Sein beim
Anderen, der normale Zustand: Weil die Blase der absolute
O rt ist, bin ich in ihr - und in ihr am anderen Pol - immer am
Platz. Wir werden im folgenden Kapitel zeigen, daß dies zu
nächst und vor allem ein psychoakustisches Verhältnis ist,
das durch die Ekstase des zuvorkommenden Hinhörens ge
bahnt wird.
Das fünfte Strukturmoment der kleinen Welt sind die
Membran-Funktionen, die dem Begleiter von Anfang an zu
kommen. Als ursprünglicher Ergänzer sorgt dieser ebenso
für die Bildung und Öffnung des Raums wie für seine
Hegung und Schließung. Insofern hängen »Chance und Ver
hängnis des Subjekts« ganz von der Qualität der psychischen
Membrane ab, die ihm den Weltzugang zugleich gewährt
und vorenthält. Der Zwilling ist gleichsam eine Schleuse,
durch die sich der Stoffwechsel zwischen Subjekt und Welt
vollzieht. Der Grad ihrer Öffnung entscheidet über Aus-
trockung oder Überflutung. Ist die Begleiter-Membrane
nicht porös genug, um wachsende Weltvolumina durchzu
lassen, so kann sie sich zum Gefängnis des Subjekts entwik-
keln; sie sperrt es von der sogenannten Außenwelt, man
würde besser sagen: von den außer-symbiotischen Sphären,
ab. Geht der Begleiter hingegen durch einen traumatischen
Zwischenfall zu früh verloren oder bleibt lange gleichgültig
oder abwesend, dann erleidet das Subjekt einen Offenheits
schock, es stürzt in die schlechte Ekstase der Vernichtungs
angst »hinaus«; es macht Bekanntschaft mit einem exosphä-
rischen Außen, in dem es sich selber nicht erträgt. Beide
Extreme - Zwillingsautismus und pathologische Angst vor
dem Außen als Vernichtungsraum - markieren charakteristi
sche Folgen aus dem Versagen der Membranfunktion des Be
gleiters. An ihnen läßt sich ablesen, was übermäßiger und
ungenügender Raumschutz in frühen psychischen Prozessen
448 Kapitel 6
Jennifer und Junifer tauschen ihr geheimes Zeichen aus, aus: Marjorie Wal
lace, Die schweigsamen Zwillinge
195 D er Begriff Im ago ist von Carl Gustav Jung 1911 in seiner Schrift
W andlungen und Symbole der Libido in die psychoanalytische Ter
minologie eingeführt w orden, zunächst als diskretes Instrum ent
zur Bestimmung verinnerlichter Beziehungen, dann als w eltan
schaulich verklumpte psycho-ontologische Kategorie.
Seelenraumteiler 455
als Erscheinung im optisch erschlossenen Raum zu seinen
Rechten kommen.196
Für das gewöhnliche, mehr oder weniger gut abgenabelte
Individuum gehört es zu den trivialen Gegebenheiten seiner
Existenz als einzelnes unter einzelnen, daß der Platz seinem
Nabel gegenüber - der im Fötalraum durch das Band zum
Mit besetzt war - von nun an und für immer frei, wenn auch
nicht leer, zu bleiben hat. Deswegen kennen Menschen eine
scharfe Differenz zwischen ihrem Rückenselbstgefühl und
ihrem Vorderseitenbewußtsein: das Vorne ist die Gesichts
seite, die Genitalseite und vor allem auch die Nabelseite. An
dieser Front liegen nicht nur die wichtigsten Öffnungen und
Sensoren, auch die Trennungsnarbe ist dort in den Leib ein
gezeichnet. Der Nabel steht an der menschlichen Vorderseite
wie ein Denkmal für das Undenkbare; er erinnert an das,
woran sich niemand erinnert. Er ist das pure Zeichen dessen,
was für das Bewußtsein auf der anderen Seite des Wißbaren
liegt - weswegen, wenn man sichs recht überlegt, wer vom
Nabel nicht reden will, auch vom Unbewußten schweigen
sollte. Er bezeichnet das Wissen von einem Ereignis, das
mich mehr als jedes andere betrifft, obwohl ich als aktuelles
Subjekt dieses Wissens nicht in Frage komme. Der Nabel-
ihrer Lage besonders darin, daß man von ihnen verlangt, mit
einander zu spielen und zu kommunizieren, als wären sie
normale Getrennte:
»Unsere Angehörigen tyrannisierten uns so, daß wir
solchen Wünschen willfährig waren, und konnten
nicht begreifen, was daran so qualvoll war. Wir hätten
uns auf unsere Schüchternheit berufen können; aber
die Wahrheit war, daß wir nie wirklich miteinander
sprachen, selbst wenn wir alleine waren, denn die
knappen, abgehackten Grunzlaute, seltenen Proteste,
die wir bisweilen wechselten... konnten schwerlich
als Dialog gelten. Die Verständigung über einfache we
sentliche Empfindungen zwischen uns vollzog sich
wortlos: lose Blätter, die der Strom unseres gemeinsa
men Blutes mit sich führte. Auch dünnen Gedanken
gelang es, durchzuschlüpfen und vom einen zum ande
ren zu gelangen. Bedeutungsvolleres behielt jeder für
sich, aber auch da kam es zu seltsamen Phänomenen...
Ärzte haben die Vermutung geäußert, daß wir in unse
ren Träumen unseren Geist gelegentlich vereinten. Ei
nes graublauen Morgens hob er einen Zweig auf und
zeichnete ein Schiff mit drei Masten in den Staub. Die
Nacht zuvor hatte ich mich selbst das gleiche Schiff in
den Staub meines Traumes zeichnen sehen.«198
Das Raffinement von Nabokovs Geschichte beruht in der er
zähltechnischen Entscheidung, sie vom Standpunkt eines der
beiden Zwillinge aus zu entwickeln, so daß der Leser das Da
sein als Doppelmonstrum von innen her wahrnimmt wie
eine normale Individualität. Die Zwillinge selbst besaßen -
nach Nabakovs Darstellung - in den ersten Jahren ihres Le
bens kaum eine Spur von Einsicht in die Ungewöhnlichkeit
ihrer Existenz. Floyd, der Erzähler, empfand sich als ein
durchschnittlicher Erdenbürger mit einem dauernd anwe-
Leonardo da Vinci, Le da mit dem Schwan. Ihre vier Kinder sind aus den bei
den Eiern geschlüpft (Ausschnitt)
464 Kapitel 6
Exkurs 6
Sphärentrauer
Ü ber den N objektverlust und die Schwierigkeit,
zu sagen, was fehlt
zers: darum war ja in der alten Welt die reale Melancholie vor
allem die Krankheit der Verbannten und der Entwurzelten,
die nach Kriegen und Seuchen ihre Familien und ihre rituel
len Kontexte verloren hatten. Aber gleichgültig ob ein In
dividuum den Kult seiner Götter oder seine Intimpartner
entbehren muß: Auf jeden Fall verkörpert das depressiv-me
lancholische Subjekt die Überzeugung vom Nicht-mehr-
Sein seines Genius. Der Melancholie verfallen heißt nichts
anderes, als sich mit ungeteilter Glaubensintensität an die
bewußte oder unbewußte Behauptung hinzugeben, daß ich
von meinem intimen Förderer, Mitwisser und Motivator
aufgegeben worden sei. Melancholie stellt die Exilspatholo
gie in Reinheit dar - die Innenweltverarmung durch den
Entzug des lebenspendenden Nähefeldes. In diesem Sinn
wäre der melancholische Mensch ein Häretiker des Glau
bens an seinen guten Stern - ein Atheist in bezug auf den ei
genen Genius oder den unsichtbaren Doppelgänger, der ihn
von dem unüberbietbaren Vorteil, er selbst und niemand
sonst zu sein, hätte überzeugen sollen. Melancholie ist die
massive Form des Glaubens, von dem intimen Ergänzungs
gott, oder der Göttin, verlassen zu sein, durch dessen oder
deren anfängliche Gegenwart das eigene Dasein seine ge-
burtliche Bewegung begonnen hatte. Mit tiefster Verstim
mung anwortet das verlassene Subjekt auf die Erfahrung
eines metaphysischen Betrugs: von dem intimen großen
Anderen zum Leben verführt worden zu sein, um dann auf
halbem Wege von ihm aufgegeben zu werden. Angesichts
der melancholischen Trauer um den verlorenen Animator
müßte - weiter im mythologischen Ansatz gesprochen - die
Therapie darin bestehen, in dem isolierten Subjekt die An
sätze zu einem erneuerten Glauben an die Möglichkeit von
psychischer Ergänzung zu stärken. Dies kann im wesentli
chen auf drei Wegen geschehen - sei es, daß der Therapeut
sich selbst dem Patienten als Ersatzgenius auf Zeit zur Verfü
gung stellt, wie es bei anspruchsvollen Übertragungsbezie
Sphärentrauer 469
204 Ibid.
Sphärentrauer 473
Anderen so zu verlieren, daß seinem Verschwinden nicht
auch der Ichverlust auf dem Fuße folgt. Das Ärgernis der
Melancholie für die psychoanalytische Theoriebildung und
die ihr zugrunde liegende individualistische und dingontolo
gische Dogmatik besteht nun darin, daß im melancholischen
Verlust unleugbar ein Etwas verlorengeht, das es dem Theo
riemodell zufolge gar nicht geben dürfte: ein Objekt, das nie
wirklich ein solches gewesen wäre, weil es dem Subjekt auf
so intime Weise nahesteht, daß ein integres Alleinzurückblei
ben des letzteren nach dem Rückzug des ersten psycholo
gisch sich als ein Ding der Unmöglichkeit erweist. Der Me
lancholiker verliert also das Objekt nicht so, wie er es nach
den Regeln der Kunst verlieren sollte: so nämlich, daß er
selbst in fine als Trennungsgewinner zurückbliebe - existen
tiell frei zu neuen Libidoinvestitionen und symbolisch inspi
riert zur schöpferischen Klage -: vielmehr verlöre er mit dem
»Objekt« zugleich den größten Teil seiner kommunikativen
und musikalisch-erotischen Kompetenz. Dadurch wird aber
klar, warum der Begriff des Objektverlusts hier fehl am Platz
ist. In einem rechtverstandenen Objektbegriff muß schon
dessen Wohlabgegrenztheit gegenüber einem Subjekt mitge
dacht sein, so daß ein realer Objektverlust im präzisen Wort
sinn unter keinen Umständen den Ichbestand in Frage stellen
könnte. In einem objektiven Duett kann die erste Geige für
die zweite Ersatz besorgen, wenn diese durch einen Zwi
schenfall verlorengegangen wäre. In den prä-objektiven oder
konstituierenden Duetten des Lebens jedoch ist das Spiel des
einen auch immer schon das Spiel des anderen, und wenn
dem werdenden Subjekt der Gegenspieler entzogen wird, so
stirbt die Musik an dieser Stelle, weil weder die Stücke bis
zur Objektivität ausdifferenziert sind noch die Instrumente
sich bis zur eigenständigen Bespielbarkeit auskristallisiert
haben. Der aus den Proben gerissene Einzelne kann seinen
Part nicht kontextfrei irgendwo anders weiterspielen. Eine
sinnvolle psychologische Theorie dieses Verhältnisses legt
474 Exkurs 6
aasjggg
■■
Marcel Duchamp und Eve Babitz posieren für den Fotografen Julian Wasser
im Pasadena Art Museum, 1963 (Ausschnitt)
Sphärentrauer 477
ins Auge gefaßt, in der er unter dem Kennwort das Ding oder
la Chose einen vorgegenständlichen psychologischen Ge
genstand zur Sprache zu bringen versuchte: Von diesem sei
vor allem zu bemerken, daß er, zum einen, immer schon als
verlorener zu gelten hat, daß sein Entzug jedoch, zum ande
ren, immer nur dem Besten des Subjekts diene. Lacans genia
lische Ausführungen über la Chose - in deren Konzept eine
Obertonreihe anklingt, die von Meister Eckarts Gottesbe
griff bis zum kantischen Ding an sich reicht - sind von un
auflöslichen Mehrdeutigkeiten zerklüftet, so daß es unmög
lich bleibt, aus ihnen trennscharf herauszufiltern, was auf
eine Analyse der nobjektalen Kommunionen zusteuert und
was auf die erbauliche, psychoanalytisch und psychohygie-
nisch erneuerte paulinische Lehre vom begehren-ermögli-
chenden Verbot abzielt. Unannehmbar bleibt aber die Über-
grifflichkeit, mit der Lacans Bekräftigung des Inzestverbots,
bei deren Vortrag sein Katholizismus ins Auge springt, in
eine idiosynkratische tragische Anthropologie übergeht:
durch die wird der »Verlust der Mutter« - was immer das
heißen mag - schon auf archaischer Ebene als allgemein-
menschliches Schicksal proklamiert. Alle Menschen erschei
nen als Wesen, die gleich gute Gründe hätten, Melancholiker
zu werden - denn Mutteramputierte, machen wir uns nichts
vor, das sind wir doch alle. Vor der Unerreichbarkeit der
Chose sind alle Menschen gleich. Du meinst, du seist beson
ders beraubt? Keineswegs, schau dich um, wir sind alle nur
Waisen der Chose. Doch als starken Geistern stünde es uns
gut an, uns damit abzufinden, daß Einsamkeit in der Wiege
beginnt! Mit dieser Einebnung der psychotischen und neu
rotischen Leiden in ein allgemeinmenschliches Patiententum
kündigt die Psychoanalyse à la parisienne ihre Orientierung
an der psychischen N ot und der Nachfrage nach Hilfe auf
und wandelt sich zu einer philosophischen Schola neoanti
ken Typs. Lacans stoisch-surrealistische Ethik zielt auf die
Widerlegung der therapeutischen Hoffnung: Geholfen ist dir
47 8 Exkurs 6
Exkurs 7
K a p it e l 7
Das Sirenen-Stadium
Von der ersten sonosph drisch en Allianz
Rotfigurige Vase aus Voici, 5. Jahrhundert v. Chr. Die Sirenen umfliegen als
vogelartige Frauen Odysseus
zont verloren und sein Projekt vergessen; sie betören ihn, als
wollten sie sagen: »Laß die Ägäis schrumpfen zu deinem pri
vatesten Gewässer! Hast du dich draußen als Held unter an
deren bewährt und hast reden gemacht von deinen Taten un
ter den Taten der anderen, so wartet auf dich hier ein
Binnenmeer aus Tönen, in dem ausschließlich du zur Verklä
rung gelangst! Verzichte auf das Rauschen der Welt und gehe
ein in deine eigene Musik, deine erste und letzte!« Vergessen
wir nicht: Auch Odysseus widersteht diesem Gesang nicht
deswegen, weil er in sich selbst Kräfte, ihn zu verwerfen,
hätte mobilisieren können, sondern nur, weil er dem Sog der
Musik, die ihn durchflutet, die Seile entgegengesetzt hat, die
ihn an den Schiffsmast binden. Ist es ein Zufall, daß diese
Seile im Griechischen kaum anders heißen als die Sängerin
nen, die von der anderen Seite ziehen? Weiß schon Homer,
daß gegen Fesselungen nur andere Fesselungen helfen? Ist
ihm schon deutlich, daß Kultur im allgemeinen und Musik
im besonderen kaum etwas anderes ist als Arbeitsteilung im
Bestricken?
Auch im Fall des Odysseus ist also der Sirenengesang
ohne Vorbehalt erfolgreich: Er setzt sich im Hörer durch als
musikgewordene höhere Gewalt. N ur durch eine listige Tei
lung der Bindegewalten entzieht sich der Held dem sireni-
schen Sog. Gleichwohl haben wir keinen Grund zu behaup
ten, daß die Attraktion der Sirenenmusik schon richtig
begriffen sei. Denn es ist noch nicht deutlich geworden, wo
hin der Mann eigentlich strebt, der beim Hören der Sirenen
stimmen nicht ruhig hält, wie sonst jeder gebildete Bürger im
Konzertsaal, sondern von dem übermächtigen Drang ergrif
fen wird, sich den Sängerinnen physisch zu nähern. Welches
ist die N atur dieses Annäherungswunsches? Welcher Ur-
szene des Nahe-Seins mag das Hinstürzen zu den Sänge
rinnen nachgebildet sein? Von woher wirkt im Fall dieser
akustischen Verzauberung das Ubertragungsprinzip? Beim
zweiten Hören erst wird die Partikularität der Sirenen-Szene
Das Sirenen-Stadium 501
recht erkennbar: Wenn solche Musik eine unwiderstehlich
süße sein muß für jeweils diesen einzigen besungen-singen-
den Hörer, dann deswegen, weil sie dem Helden seinen kon
stitutiven Wunsch als erfüllten vorspielt. Die Sängerinnen
besitzen den Schlüssel zur Himmelfahrt des hörenden Sub
jekts, und ihre Art, zu verführen, gibt den entscheidenden
Hinweis auf die Intimzone des Gehörs, das bestimmten Ein
flüsterungen willig offensteht. Hier darf von der erfolgrei
chen Verführung auf die Wunschtendenz selbst zurückge
schlossen werden, ja mehr noch darauf, daß das sirenische
Lied als solches das Medium ist, in dem der Wunsch sich ur
sprünglich formt. Das Lied, der Wunsch und das Subjekt ge
hören immer schon zusammen. Tatsächlich kann sich die
Subjektivität der Heldenzeit nur im Hinhören auf das Epos
und die mythische rühmende Rede bilden. In den Kinderstu
ben der Hochkulturen, wie schon in den meisten prä-alpha
betischen Gesellschaften, formt sich das Ich in einem Besin-
gungs-Versprechen: dem eigenen Dasein ist eine Zukunft aus
Tönen vorausgeschickt. Ich bin ein Tonbild, ein Vers-Blitz,
eine dithyrambische Regung, gerafft in einer Anrede, die mir
von früh auf vorsingt, wer ich sein kann. Der Held, die Hel
din: sie werden sein, wie sie sich voraushören - denn Leben
in der Zeit der heroischen Subjekte ist immer unterwegs zur
Verswerdung. Jedes Subjekt geht, solange es der Entmuti
gung widersteht, auf seine aktuelle Vertonung zu. N ur mo
notheistische Priester schwelgen in dem selbstbezüglichen
Mißverständnis, der Mensch wolle sein wie Gott. Sind die
Priester nicht dabei, so stellt sich heraus, daß Menschen nicht
wie Gott, sondern wie ein Schlager werden wollen. Das Un
terwegssein zum rhapsodischen Augenblick gibt der Exi
stenz das Gefühl für ihr Vorwärts und Hinauf. Eine unvor
denkliche Neigung auf Auf schäumen in der Kantilene geht
dem Ich voraus, seine Frequenz ist seine Substanz. Darum
können bis heute Tenöre und Primadonnen Stadien erregen
und große Häuser zum Zittern bringen; sie zeigen auch den
502 Kapitel 7
In der Antitzipation:
Werner Schroeter, Willow Springs, 1972
könnte. Ihr Schall trägt den Konsensus, daß alles trostlos und
gefährlich ist, in sämtliche erreichbaren Ohren.
Wenn hingegen hier von einem Sirenen-Effekt die Rede
ist, so ist die intime Erreichbarkeit der Individuen für Klang
botschaften gemeint, die eine Art Glückshypnose und ein
Gefühl des Ankommens im erfüllten Augenblick übertra
gen. Die Tatsache, daß manche Hörer von gewissen Klängen
sich erreichen und erwecken lassen, wäre nicht vorstellbar,
wenn nicht dem Klang selbst ein spontanes, dringliches Ent
gegenkommen aus dem Hörenden entspräche. Wie unsere
Überlegungen zu den Wirkungen der Sirenenrezitation auf
Odysseus gezeigt haben, beruht die Unwiderstehlichkeit des
Gesangs nicht auf einer musikeigenen Süße, sondern auf
dem Bündnis des Klangs mit der verschwiegensten Hörer
wartung des Subjekts. Das O hr bringt von sich her eine Se
lektivität mit, die beharrlich auf den unverkennbar eigenen
Ton wartet: Bleibt dieser aus, so hält sich die intime Klanger
wartung im Hintergrund, und das Individuum geht im wört
lichen Sinne ungerührt seinen Lebensgeschäften nach, oft
ohne auch nur die Möglichkeit eines anderen Zustands zu
ahnen.
Die jüngere psychoakustische Forschung, insbesondere
jene des französischen Oto-Rhino-Laryngologen und Psy-
cholinguisten Alfred Tornatis und seiner Schule, hat für die
ungewöhnliche Selektivität des menschlichen Gehörs, die
sich im Sirenen-Effekt manifestiert, einen suggestiven Er
klärungsvorschlag erarbeitet. Nicht nur ist im Laufe dieser
Untersuchungen über das menschliche Gehör und seine
Evolution zweifelsfrei festgestellt worden, daß Kinder im
Mutterleib aufgrund der Frühentwicklung des Ohrs schon
ausgezeichnet hören - und dies möglicherweise vom em
bryonalen Zustand an, mit Sicherheit in der zweiten Hälfte
der Schwangerschaft; es sprechen auch eindrucksvolle Beob
achtungen dafür, daß dieses frühe Hörvermögen nicht zu ei
ner passiven Auslieferung des Fötus an das Geräuschinnen-
Kapitel 7
bei wird wie von selbst die ursprüngliche Einheit von Wach
heit, Selbstregung, Intentionalität und Vorfreude eingeübt.
In dieser Vierfaltigkeit breiten sich die ersten Blütenblätter
der Subjektivität auseinander. Und das glückliche Unterwas
serohr läßt sich nichts nur zweimal sagen; wenn es der ge
liebten Stimme glauben soll, muß diese ihre Botschaft hun
dertmal wiederholen, doch die Wiederholungen fallen der
hinreichend guten Mutter so leicht, wie es dem hinreichend
angesprochenen Fötalgehör ein leichtes ist, sich immer wie
der neu aufhorchend auf die wiederkehrende Vibration ein
zuspielen, als hörte sie es zum ersten Mal. Es merkt die Ab
sicht und ist erheitert. Hier ist die Wiederholung der Nerv
des Glücks. Das Glitzern in der Stimme der Mutter bereitet,
lange bevor es in ihrem Auge wiederkehrt, das Kind vor für
seinen Empfang bei der Welt; nur im Hinhören auf die intim
ste Begrüßung kann es sich einstimmen auf den unübertreff
lichen Vorteil, es selbst zu sein.
Intimität ist also in ihrer frühesten Übung ein Weitergabe-
Verhältnis. Ihr Modell wird nicht abgelesen vom symmetri
schen Bündnis zwischen Zwillingen oder Gleichgesinnten,
die sich ineinander spiegeln, sondern von der unaufhebbar
asymmetrischen Kommunion zwischen Mutterstimme und
Fötalohr. Sie ist der unbedingte Ernstfall von Begegnung,
aber in ihr kommen die Zwei nicht jeweils aus ihren eigenen
Räumen oder Situationen aufeinander zu, sondern die M ut
ter ist die Situation des Kindes, und die kindliche Situation ist
in der mütterlichen eingeschachtelt. Die akustische Kommu
nion verleiht der primordialen Begegnung ihren Sitz im
Wirklichen. Zwischen dieser Stimme und diesem O hr gibt es
nichts, was einer Spiegelung gleichkäme, und doch sind beide
in sphärischer Union unauflösbar aufeinander bezogen. In
realer Verschiedenheit sind sie real miteinander geeint. Die
Stimme redet nicht zu sich selbst, und das O hr ist nicht ins
Hören von Eigenlauten verkrochen. Beide sind immer schon
außer-sich-bei-sich: die begrüßende Stimme in der Hinwen-
Das Sirenen-Stadium 523
dung zum intimen Mithörer, das fötale O hr im Hinhorchen
auf den euphorisierenden Klang. Es gibt in diesem Verhältnis
keine narzißtische Spur, kein unrechtmäßiges Genießen sei
ner selbst durch trügerische Kurzschlüsse im Selbstbezug.
Was dieses ungewöhnliche Verhältnis auszeichnet, ist eine
fast schrankenlose Auslieferung des einen ans andere und die
fast fugenlose Verschränkung der beiden Regungsquellen in
einander. Dies ist, als ob Stimme und O hr in einem gemein
samen sonoren Plasma aufgelöst wären - die Stimme ganz
auf Lockung, Begrüßung und herzliche Umhüllung ge
stimmt, das O hr ganz mobilisiert zum Entgegenkommen
und zum auflebenden Hineinschmelzen in den Klang.
J? Te ocj1e b t « . 2*»“
215 Ü ber die Motive »Wand« und »Wandlosigkeit« siehe Sphären II,
2. Kapitel, G efäß-Erinnerungen. Ü ber den G rund der Solidarität in
der inklusiven Form.
532
Exkurs 8
Analphabetenwahrheiten
N otiz über oralen Fundamentalismus
Exkurs 9
218 Vgl. Écrits, Paris 1966, S. 93-100; deutsch in: Schriften I, Frankfurt
1975, S. 63-70.
544 Exkurs 9
K a p it e l 8
220 Sein und Zeit, § 12, S. 53; vgl. auch oben Exkurs 4, »Im Dasein liegt
eine wesenhafte Tendenz auf Nähe.«
55 2 Kapitel 8
221 Einen Schritt zur Erhellung dieser Frage hat Gilles Deleuze in sei
nem letzten Text getan: LTmmanence - une v ie . . . , in: Philosophie
47, September 1995, p. 3 -7; deutsch in: Gilles Deleuze, Fluchtlinien
der Philosophie, hg. v. Friedrich Balke und Joseph Vogl, München
1996,8.29-33.
Mir näher als ich selbst 553
Sein aller Dinge und Seelen einsetzen muß.222 Da nun auch
der allesdurchdringende Gott, der allen endlichen Lokalisie
rungen überlegen ist, nirgendwo anders sein kann als überall
in sich selbst,223 gibt es für theonomes Denken zum In-Sein
scheinbar keine Alternative: Gott ist in sich und die Welt in
Gott - wo könnte also der geringste Rest von Seiendem sich
aufhalten, wenn nicht im Bannkreis dieses absoluten In? Von
Äußerlichkeit kann in einer Welt, die Gottes Werk und Aus
dehnung wäre, im Emst niemals die Rede sein. Nichtsdesto
weniger wird das totalisierte Innen Gottes von einem wider
setzlichen Außen provoziert. Dessen theologisch korrekter
Titel lautet Schöpfung nach dem Fall. Denn wo sind die
Menschen, die in der Sünde oder im Eigenwillen oder in ih
rer Freiheit leben, wenn nicht gewissermaßen außen, in einer
lizenzierten Äußerlichkeit immerhin, die, weil Kreatürlich-
keit verpflichtet, ihren Bezug zum Urheber nie gänzlich soll
verleugnen können? Und wo, wenn nicht dort draußen un
ten, müßte ein Erlöser die gefallenen heimzuführenden See
len auf suchen?
Der Ernstfall für die theologische Frage nach dem In wird
also durch zwei logisch beunruhigende Verhältnisse ausge
Dies gilt zunächst und besonders für das Feld der Gott-
Seele-Verhältnisse. Wer versucht, die Sprachspiele der mysti
schen Theologie über die Wieder-Hineinnahme der Seele in
die göttliche Sphäre nachzuvollziehen, bekommt es sofort
556 K a p ite l 8
224 Alain Badiou, C onditions, Paris 1992, S. 3 58; es liegt auf der H and,
daß dies nicht unserer Aufassung entspricht, denn Badious These
m acht u. E. zu große Konzessionen an die Ideologie der vorgängi
gen Einsamkeit.
Mir näher als ich selbst 557
ständen eine so radikale Resonanz stattfindet, daß diese un
möglich nur auf eine empirische Kontaktnahme beider mit
einander zurückgeführt werden könnte. Die fundamentale
Resonanz jedoch, wenn sie als eine anfängliche oder konsti
tutive gewürdigt werden sollte - wie wäre sie zu denken,
wenn doch von der Seele zunächst und zumeist gilt, daß sie
»in der Welt« ist und sich folglich an einem O rt aufhält, der
sich - um sehr wenig zu sagen - durch eine gewisse Entfer
nung zum transzendenten Pol auszeichnet? Wie soll man
sich das Zusammengehören- und Aufeinanderansprechen-
können von Gott und Seele deuten, wenn doch außer Zwei
fel steht, daß beide im status quo nicht ungetrübt miteinander
verbunden, geschweige denn miteinander identisch sein kön
nen. Klafft zwischen den beiden seit dem Zwischenfall im
Paradies nicht ein urschmerzhafter Entfremdungsgraben
auf? Gewiß, die religiöse Predigt ist nie müde geworden zu
versichern, daß zwischen den einander entfremdeten Polen
eine Wiederbegegnung möglich sei, ja, daß diese für die Seele
den Inbegriff des Suchens- und Findenswerten darstelle und
daß Gott nur darauf warte, die fremdgegangene Seele zu sich
zurückzuführen. Aber ein solches Eintauchen der Seele in
eine erneute Vertrautheit mit ihrem verlorenen großen An
deren kann sich nie nur aus einer Zufallsbekanntschaft ent
wickeln. Auch wird die Seele Gott nicht »zu sich« mitneh
men, sowenig wie die Seele von Gott einfach mitgenommen
werden kann; denn wo wären die beiden je für sich zu Hause
außerhalb ihrer Begegnung? Wenn sie sich kennenlernen,
dann eben indem die Seele dessen inne wird, daß sie längst
kennt, was sie wieder kennenlernt; solches Sichkennen
schließt ein, daß sie vor Zeiten einander in gewisser Hinsicht
mitgenommen haben oder von einander mitgenommen wor
den sind. Auf durchaus unklare Weise sind sie also schon in-
einandergefügt, da sie einander nicht wieder kennenlernen
könnten, wenn sie nicht voneinander entfremdet wären,
voneinander aber nicht entfremdet sein könnten, wenn sie
55« Kapitel 8
sich nicht von alters her kennten. (»Wirklich, ich habe sein
Gesicht schon irgendwo gesehen«, läßt Dostojewskij seine
Heldin Nastasja Filippowna über den Fürsten Myschkin,
den Idioten, nach der ersten Begegnung sagen.) Ihre Ineinan
derfügung umfaßt die älteste Offenheit aufeinander hin
ebenso wie den primordialen Bruch. Aber weil der Bruch die
Beziehung als solche erst ermöglicht und erkennbar macht,
so kann, wie es scheint, die Wahrheit über das Gesamtver
hältnis nur nachträglich vor Augen kommen - und wie man
verschärfend sagen könnte: von vornherein nachträglich. Im
Nachträglichen muß das Immer-Schon in Erscheinung tre
ten, während im Zufälligen das seit jeher Gültige sich mit
verzögerter Gewalt geltend macht. Der Inbegriff dieser Ver
zögerungen heißt Heilsgeschichte, sofern diese von der
Ökonomie Gottes handelt - also von seinen Versuchen, See
lenverluste nachträglich wiedergutzumachen. Gott und Seele
lernen sich kennen, weil sie sich kennen, aber ihr Sichkennen
ist früh - oder sogar von vorneherein? - geprägt von der Nei
gung zu einem Verkennen, das sich als Widerstand, Eifer
sucht, Entfremdung und Gleichgültigkeit manifestiert.
Lohn der Konfession ist, daß, wer die Wahrheit sagt, »in die
Wahrheit« kommt:227 eben damit setzt das intimitätslogische
Drama ein, das dem augustinischen Denken seine lebhafte
Modulation verleiht. Denn nach dem Umschwung zur
»wahren Religion« kann Wahrheit nicht mehr nur als Eigen
schaft von Sätzen und Reden gelten; Wahrheit soll gleichsam
das In bilden, in das alles Reden und Leben getaucht sein
will.228 Der Prüfstein dafür, daß ein Beichtender sich »wahr
haft öffnet«, ist der Geständnisschmerz, der ihn bewegt, be
glaubigt, reinigt und von seiner Vergangenheit trennt. Die
Beichte zeichnet der Seele gleichsam die Flucht in die Unver-
hohlenheit vor: Unmißverständlich gibt die Konfession der
griechischen Idee von Wahrheit - aletheia oder Unverbor
genheit - eine Wendung ins Christliche, und damit ins Dia
logische; nun erscheint das wahre Wort menschlicherseits als
Geständnis, göttlicherseits als Offenbarung, wobei Offenba
rung und Geständnis dies gemeinsam haben, daß sie je auf
ihre Weise die nachträgliche (christlich gesprochen: gnaden
hafte) versöhnende Wiederöffnung eines verlorenen Zugangs
zum Inneren des anderen Teils bewirken. Dies führt zur
Wiederholung der tragischen Katharsis mit christlichen Mit
teln; kaum nötig zu sagen, daß mit dem Wahrheitsspiel des
Beichtgeständnisses ein Prototypus alteuropäischer Psycho-
therapeutiken die historische Bühne betreten hat.
Aus dem so suggestiven wie voraussetzungsvollen Mo
dell, daß »in der Wahrheit sein« schon muß, wer die Wahr-
227 Zum M otiv des »In-der-W ahrheit-Seins« oder der R ückkehr in den
»Schoß der Wahrheit« vgl. oben das 4. Kapitel, Die K lausur in der
M utter, S. 283 f.
228 Vgl. N ikolaus von Kues, Dialogus de D eo abscondito: »denn es
gibt keine W ahrheit außerhalb der W ahrheit. . . D aher findet man
keine W ahrheit außerhalb der W ahrheit, w eder anders noch in an
derem« (extra veritatem non est ve rita s... N on reperitur igitur ve
ritas extra veritam nec aliter nec in alio)', in: N . v. K., Die philoso
phisch-theologischen Schriften. Lateinisch-Deutsch, Wien 1989,
Band I, S. 300-301.
Mir näher als ich selbst 561
234 Wäre hier der O rt, die theologische D eduktion der Zeitlichkeit zu
wiederholen, so wäre die Differenz zwischen Theodram a (Gottes
Prozeß mit der Welt) und Affaire (der Prozeß der Seele mit G ott)
zu entwickeln; für unseren K ontext genügt es, den A spekt der A f
faire in den Vordergrund zu rücken.
568 Kapitel 8
236 Confessiones III, 6, 11: »Tu autem eras interior intimo meo et supe
rior summo meo.« Diese höchste Aussage des christlichen topolo
gischen Surrealismus w ird weiter unten, Sphären II, 3. Kapitel A r
chen, Stadtmauern, Weltgrenzen, Immunsysteme. Z ur O ntologie
des um m auerten Raums, durch seine architekturgeschichtlichen
Voraussetzungen erläutert. Dabei kom m t der komparative Sinn
von Innen im Licht der imperialen persischen Palastarchitektonik
zum Vorschein: Innerlich ist das, was in einem System verschach
telter Räume nicht nur intus, sondern interior, »weiter innen« liegt.
ITO Kapitel 8
Strukturen. Dies betrifft vor allem den hot spot des augusti-
nischen Intimitätsfeldes - die latent aktuelle urbekannt-
schaftliche Relation zwischen Gott und Seele. Daß in deren
Deutung ein heterodoxes Potential latent lag, versteht sich
leicht, und ebenso, daß dieses sich entladen mußte, sobald
genuin mystische Temperamente den Versuch aufnahmen,
die Relation von Seele und Gott bis in vor-relative Unionen
zu radikalisieren. Dieses asketisch-theoretische Schauspiel
vollzog sich, meistens unter diskreten Formen, hinter dem
dichten Vorhang der christlichen Mystik, von der Martin Bu
ber, neben anderen, zu Beginn unseres Jahrhunderts gezeigt
hat, wie sie sich in den mystischen Zeugnissen der übrigen
monotheistischen Traditionen spiegelt, und darüber hinaus
in den ekstatischen Disziplinen der Weltkulturen.237 N ur ge
legentlich, bei Häretikerprozessen zumal, hat dieser Vorhang
sich gehoben und dem Publikum die Sicht auf Kämpfe im
Unanschaulichen freigegeben. In der mystischen Literatur
entwickelt sich die Analytik des In-Seins zu einer Zwei-Ei
nigkeitsübung, die ihre eigenen Virtuosen hervorgebracht
hat. Unter mystisch-theologischem Patronat hat sich das
Denken in reziproken Ineinanderwirkungen zuerst bis zu je
ner Höchstexplizitheit entfaltet, die solchen Dokumenten
noch heute einen anziehenden Nimbus von Relevanz - wenn
man nur wüßte wofür - verleiht. Wenn das Korpus mysti
scher Literatur auch in moderner Zeit auf zahllose Leser
nicht nur vage faszinierend wirkte, sondern für spezifisch
zeitgenössische Fragen und Bedürfnisse bedeutsam schien,
so wohl deswegen, weil der mystische Text in seiner dunklen
Deutlichkeit ein begriffliches und bildliches Potential ab
strahlt, für das es bisher nirgendwo gleichwertigen Ersatz
gab: Wir meinen eine Theorie jener starken Beziehung, die
Zur Außenansicht des In-Seins: der Pfeil des Engels und der Strahlenregen
von oben verbinden sich in einer Synergie der Penetration. Lorenzo Bernini,
Die Verzückung der Heiligen Teresa, Santa Maria della Vittoria, Rom
238 M argareta Porete, D er Spiegel der einfachen Seelen. Aus dem A lt
französischen übertragen und mit einem N achw ort und Anm er
kungen von Louise Gnädinger, Zürich - M ünchen 1987, S. 21.
239 Ibid., S. 173-174.
57^ Kapitel 8
der Seele wenn nicht auf den Begriff, so doch ins Bild ge
bracht hat. Sie zeugt von der symbolfordernden Gewalt der
guten Getrenntheit, die sich als primordiale Dualität manife
stiert. Deren Spuren zeigen sich nicht nur in der islamischen,
sondern auch in der christlichen Hemisphäre. Die Engel
lehre ist einer der historisch unentbehrlichen Zugänge zur
Theorie der medialen Dinge.244 Medientheorie ihrerseits gibt
Aussichten frei auf eine Anthropologie jenseits des indivi
dualistischen Scheins.
Guercino, Der heilige Augustinus, über das Geheimnis der Heiligen Dreifal
tigkeit meditierend
im
auch das der anderen zu sehen, weil alle sich mit allen
vermischen, ohne ihre Individualität zu verlieren. Ent
fernt man nun eine der Lampen aus der Wohnung, so
verschwindet deren Licht gänzlich, ohne irgend etwas
von den anderen Lichtern mitzunehmen und ohne die
sen etwas vom eigenen zurückzulassen. Tatsächlich
war ihre gegenseitige Union eine ganze und vollkom
mene, jedoch ohne ihre Individualität zu unterdrücken
und ohne eine Spur von Vermischung hervorzubrin
gen...
In der Theologie des überwesentlichen Wesens besteht
also, wie ich gesagt habe, die Unterscheidung nicht nur
darin, daß jede der Personen... in der Einheit selbst
steht, ohne mit den anderen zu verschmelzen und ohne
jede Mischung, sondern auch darin, daß die Eigen
schaften, die zur überwesentlichen Zeugung im Schoß
der Gottheit gehören, keineswegs untereinander ver
tauschbar sind. In der überwesentlichen Gottheit ist
der Vater allein Quelle, und der Sohn ist nicht Vater,
der Vater nicht Sohn. Jeder der göttlichen Personen
kommt das unverletzliche Privileg ihrer eigenen Lob
preisungen zu.«253
Die Bilder des Pseudo-Dionysos bieten offenkundig eine in-
timistische Version des platonischen Sonnengleichnisses.
Auf seltsam berührende Weise scheint die Sonne Platons, wie
in einem dreiarmigen Lüster verzweigt, hier en miniature,
aus der offenen Welt ins Hausinnere zurückgenommen. Weil
die Sonne - seit Echnaton und Platon heroisches Symbol der
Prinzipienmonarchie - sich nicht als Bild für eine interne
Kommunion, ja nicht einmal für eine Gewaltenteilung im
Absoluten eignet, mußte der mystische Theologe auf das
Lampengleichnis ausweichen, das mit dem Sonnenmodell
immerhin dies noch gemeinsam hat, daß es die Zentralkraft
253 Pseudo-D ionysos Areopagita, U ber die göttlichen N am en, II, 4, 5
(übersetzt von Joseph Stiglmayr).
Mir näher als ich selbst 605
254 »Christus liegt in Agonie bis ans Ende der Welt.« Blaise Pascal,
Pensées, hg. v. L. Lafuma, Paris, 2. Aufl. 1975, S. 919.
Mir näher als ich selbst 609
Der Rothschild Canticus: Das geflochtene Band der Trinität wandelt sich
progressiv von Bildern personaler Nähe in geometrisch-ontologische Rota
tionsfiguren: Höhepunkt mittelalterlicher Ontographie. Die Trinitätsbilder
folge des Canticus umfaßt im Original 24 Stationen.
Mir näher als ich selbst 6ii
255 Des Heiligen Johannes von Damaskus Genaue Darlegung des or
thodoxen Glaubens. Aus dem Griechischen übersetzt und mit E in
leitung und Erläuterungen versehen von Dr. D ionys Stiefenhofer,
Bibliothek der Kirchenväter, Band 44, M ünchen-Kem pten 1923,
S. 15.
612 Kapitel 8
258 ep. 38, geschrieben um 370, in: Texte zur Theologie, G otteslehre I,
Bearbeitet von H erbert Vorgrimler, G raz - Wien - Köln 1989,
S. 113 -i 14.
259 adv. Maced. G N O , HI/1,109 (zitiert nach G isbert Greshake, D er
dreieine G ott. Eine trinitarische Theologie, Freiburg im Breisgau
1997, S. 186).
6i6 Kapitel 8
4. Der feurige Hyperknoten versinkt im Kern eines Kreises, der die Welt an
kündigt
Mir näher als ich selbst 617
Mit Argumenten dieses Typs erreichen die alten Theologen
etwas, was selbst die modernen Soziologen, auch wo sie es
versuchten, noch nicht wieder leisten könnten: Sie gelangen
zu einem völlig entphysikalisierten Personen-Raumbegriff.
Mit ihm wird der Sinn von In endgültig von jeder Art des Be
hälter-Denkens losgemacht.260 Wenn Vater, Sohn, Geist noch
irgendwo zu lokalisieren wären, dann nur in der Beher
bergung, die sich sich gegenseitig bieten. Der topologische
Surrealismus der Religion tritt so in seine gelehrte Phase ein.
Johannes von Damaskus hat für die seltsame ortlos-selbst-
verortende Koexistenz der göttlichen Personen das Wort pe-
richoresis neu verwendet - was im älteren Griechischen wohl
so etwas wie »um etwas herumtanzen« oder »im Kreis her
umgewirbelt werden«261 bedeutet hat. Indem der Damasze
ner dieses alte Bewegungswort in den begrifflichen Rang
erhebt - wonach es soviel wie Ineinandersein, Ineinander
verschränkung, Ineinandereindringen bedeutet -, gelingt
ihm eine der geistvollsten Begriffsschöpfungen der abend
ländischen Ideengeschichte. In dem Wort regt sich etwas
Schwerdenkbares oder Ungedachtes - was sich nicht zuletzt
darin verrät, daß auch Theologen, um von den Philosophen
zu schweigen, den Ausdruck nur selten kennen und im Fall
des Kennens meist unzulänglich verstehen. Wer unter Peri-
chorese sich das Ineinandersein von unzertrennlich Verbun-
260 Peter Fuchs hat in Das seltsame Problem der Weltgesellschaft.
Eine N eubrandenburger Vorlesung, O pladen 1997, eine brillante
Einführung in die soziologische Systemtheorie geboten - unter
Betonung des nicht-räum lichen C harakters von »Gesellschaft« -
so daß der Eindruck entsteht, es w erde hier eine A nnäherung an
eine »perichoretische« Soziologie versucht, d. h. eine Theorie der
Gesellschaft ohne Anleihe bei Bildern räumlicher Behälter.
261 Vgl. Anaxagoras Fragm ent 38: »Eben diese W irbelbewegung
(perichoresis) bewirkte, daß sie (die gemischten Qualitäten) sich
aussondern. U nd vom Feinen wird das Dichte ausgesondert und
vom Kalten das Warme und vom H ellen das D unkle und vom
Feuchten das Trockene.« in: Die Vorsokratiker, hg. Jaap Mansfeld,
Stuttgart 1987, S. 525.
Kapitel 8
Exkurs io
Matris in gremio
Eine mariologische Grille
Ü bergang
gelehrt, die Frage, mit der sich der Mensch seiner Lage in der
Welt vergewissert, solle heißen: Was dürfen wir hoffen?
Nach den Entgründungen des 20. Jahrhunderts wissen wir,
daß die Frage lautet: Wo sind wir, wenn wir im Ungeheuren
sind?
Abbildungsnachweise: