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Wenn man den Begriff des Kritikers im engeren Sinne nimmt, nämlich
als Polemiker oder Opponenten, wie dies Nietzsches aggressiver Denkstil
nahezulegen scheint, dann habe ich mit dem Thema „Nietzsche und die früh-
romantische Schule" zu dieser Konferenz über „Nietzsche als Kritiker seines
Jahrhunderts" nicht viel beizutragen. Denn in Nietzsche ist kaum ein Anta-
gonismus gegen die Repräsentanten dieser Schule wahrnehmbar. Mit ihnen ist
der Kreis der Schriftsteller angesprochen, der sich wenige Jahre vor der Jahr-
hundertwende, genauer: von 1795—1800 um die Zeitschrift Athenäum bildete
und hauptsächlich die Brüder Schlegel und Novalis, im weiteren Sinne auch
Wackenroder, Tieck oder sogar Schleiermacher umfaßte, mit dessen Stellung
in der protestantischen Theologie Nietzsche vertraut war. Wenn sich Nietz-
sche aber gelegentlich gegen Schleiermacher wendet und diesen als „Schleier-
Macher" verulkt,1 dann richtet er sich nicht gegen den jungen Mitarbeiter
des Athenäums und den Autor der Reden über die Religion, sondern den
späten Theologen der Glaubenslehre. Nietzsches Spott über den „deutschen
Jüngling", der sich in der Vaterschaft Fichtes wähnt,2 ist nicht auf diese Früh-
romantiker gemünzt, sondern erweist sich bei näherem Zusehen als Persiflage
der sogenannten Romantik der „dreißiger und vierziger Jahre", genauer ge-
sprochen der Bewegung des Jungen Deutschland, die Nietzsche mit „Feuer-
bachs Wort von der ,gesuiiden Sinnlichkeit*" in Verbindung brachte, das ihm
durch Wagner bekannt war.3
Nimmt man den Begriff des Kritikers jedoch im klassischen Sinne als
Beurteiler und Richter, der das Wahre vom Falschen zu scheiden bemüht ist,
dann ist mein Thema freilich von hohem Anspruch, und zwar sowohl für die
1
EH, Der Fall Wagner, Aph. 3. Wenn nicht anders angegeben, wird Nietzsche nach der fol-
genden Ausgabe zitiert: Nietzsche Werke. Kritische Gesamtausgabe. Herausgegeben von
Giorgio Colli und Mazzino Mpntinari. Angeführte Textstellen sind in der Orthographie
geringfügig modernisiert, ohne jedoch das Lautbild zu verändern. Bei den von Nietzsche
selbst veröffentlichten Werken erfolgen die Stellennachweise mit Angabe des betr. Werkes
und Aphorismus. Verweisungen auf den Nachlaß und Briefwechsel erfolgen mit Angabe der
Abteilung und der Band- und Seitenzahl der KG.
2
WS, Aph. 216.
3
GM, Was bedeuten asketische Ideale, Aph. 3; NW, Wagner als Apostel der Keuschheit,
Aph. 3.
60 Ernst Behler
Gemeinsame Merkmale
rung hineinreichen. Novalis hatte zum Beispiel den Akt des Philosophierens
im Gleichnis der Flamme gezeichnet, die sich selbst verzehrt, sich dabei aber
gleichzeitig erneuert und über sich hinaus wächst. Nietzsche erneuerte dies
Bild, als er sich selbst in einem bekannten Gedicht als ungesättigte Flamme
darstellte, die alles von ihr Erfaßte ins Licht versetzt, das von ihr Preisge-
gebene aber als Kohle zurückläßt.11 Friedrich Schlegels Lebensdevise, die er in
einem Brief an Novalis bekundete, nämlich sich „aus eignem Herzen und
Kopfe" ein Haus erbauen zu wollen, ist in dem Motto zur zweiten Auflage
der Fröhlichen Wissenschaft auf selbstgewisse Weise ausgedrückt, wo es heißt:
Ähnlich könnte Schlegels bekanntes Wort über den Historiker als „rückwärts
gekehrten Propheten"13 als Motto für Nietzsches Abhandlung Vom Nutzen
und Nachteil der Historie für das Leben gedient haben. Thomas Mann
glaubte, den Titel der Fröhlichen Wissenschaft in Schlegels Lucinde vorgebil-
det zu finden.14 Schlegels Athenäumsfragment, das den Kritiker als „Leser,
der wiederkäut" definiert, der „also mehr als einen Mägen haben" sollte,
klingt in der Vorrede zur Genealogie der Moral an, in der sich Nietzsche für
seine Aphorismen Leser wünscht, die „das Lesen als Kunst zu üben" gelernt
haben, wozu aber vor allem die Eigenschaft der Kuh, nämlich das „Wieder-
käuen" erforderlich sei.15 Für Novalis hob alle lebendige Moralität damit an,
„daß ich aus Tugend gegen die Tugend handle", während für Nietzsche unser
ganzes Tun nur Moralität ist, „welche sich gegen ihre bisherige Form wen-
det".16 Nietzsches Verdikt über Schiller als „Moraltrompeter von Säckingen"
ist in zahlreichen Äußerungen der Frühromantiker gegen Schiller vorge-
bildet.17 Seine Bemerkung über „Kants Philosophie der Hintertüren" und
„Schleichwege zur Theologie" erinnert an Friedrich Schlegels Feststellung,
daß Kant das höhere Wissen aus der Vordertür seines philosophischen
Palastes zunächst herausgestoßen, dann aber durch die „Hintertür" unter der
„falschen Maske des Glaubens und der Religion" wieder hereingelassen
11
Novalis Schriften. Herausgegeben von Richard Samuel. Zweite, nach den Handschriften er-
gänzte, erweiterte und verbesserte Auflage (im folgenden „Sehr.") Bd. 2, S. 556, Nr. 134.
- FW, Scherz, List und Rache, Nr. 62,"
12
Friedrich Schlegel und Novalis. Biographie einer Romantikerfreundschaft. Herausgegeben
von Max Preitz, Darmstadt 1957, S. 43.
13
KA, Bd. 2, S. 176, Nr. 80.
14
Adel des Geistes, S. 381. Vgl. auch KA, Bd. 18, S. 293, Nr. 1175.
15
KA, Bd. 2, S. 149, Nr. 27. - GM, Vorrede, Aph. 8.
16
Sehr., Bd. 2, S. 556, Nr. 134. - GAXIII, S. 125, Nr. 282,
17
KA, Bd. 2, S. X. — GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Aph. 1.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 63
habe.18 Der Satz aus der Jacobi-Rezension: „Der elastische Punkt, von dem
Jacobis Philosophie ausging, war nicht ein objektiver Imperativ, sondern ein
individueller Optativ",19 könnte direkt von Nietzsche stammen. In einem in
vieler Hinsicht interessanten Fragment hatte Schlegel gesagt: „Ein recht freier
und gebildeter Mensch müßte sich selbst nach Belieben philosophisch oder
philologisch, kritisch oder poetisch, historisch oder rhetorisch, antik oder
modern stimmen können, ganz willkürlich, wie man ein Instrument stimmt,
zu jeder Zeit, und in jedem Grade". Wie in einer Parodie dieses Fragments
spricht Nietzsche in Jenseits von Gut und Böse von der Historie als der
„Vorratskammer der Kostüme", dem „Wechsel der Stil-Maskeraden", was
sich freilich bei ihm mit der Einsicht verbindet, „daß uns ,nichts steht'".
„Unnütz", meint er, „sich romantisch oder klassisch oder christlich oder
florentinisch oder barokko oder »national' vorzuführen... es , kleidet nicht'!"20
Das Verzeichnis dieser überraschenden Parallelen ließe sich beliebig ver-
längern und mit Begriffen wie „logisches Gewissen", der Einheit von
Philosophie und Kunst oder Grammatik, Pantheismus als Nihilismus, Dop-
pelgänger, Übermensch, großer Mittag, neue Mythologie, Philosophie des
Lebens, oder der Verflochtenheit von Lust und Schmerz ausführen.21 Der
Altphilologe Karl Joel hat 1905 ein umfangreiches Buch über Nietzsche und
die Romantik verfaßt, das größtenteils aus solchen Zusammenstellungen be-
steht.
Wie interessant derartige Parallelen auch sind: in dieser bloß äußerlichen
Nebeneinanderstellung bleiben sie an der Oberfläche, sie wirken bestenfalls
sensationell und lassen noch lange keine denkerische Verbindung zwischen
Nietzsche und der Frühromantik erkennen. Diese kann erst durch einen
Vergleich der sich hier begegnenden denkerischen Positionen erwiesen wer-
den. Man wird auch sofort zugestehen müssen, daß manche Übereinstim-
mungen wie die im Bild des wiederkäuenden Kritikers, im Gleichnis der sich
verzehrenden und erneuernden Flamme* oder im Begriff der fröhlichen
Wissenschaft sich aus älteren Überlieferungen herleiten. Wir wissen z. B., daß
die Konzeption der fröhlichen Wissenschaft im Topos des „gai saber" der
spanischen und französischen Troubadoure vorgebildet ist und dort die für
Nietzsche und die Frühromantiker ähnliche Bedeutung einer kunstmäßigen,
artistischen Erkenntnisauffassung hat. Walter Kaufmann hat darüber hinaus
charakteristische Konfigurationen dieses Begriffs bei Nietzsche aus Emersons
Denken nachgewiesen.22 Goethes Gedicht Selige Sehnsucht zeichnet mit dem
18
KA, Bd. 8, S. 442, 588; Bd. 10, S. 438. - GD, Streifzüge eines Unzeitgemäßen, Aph. 16.
19
KA, Bd. 2, S. 69.
20
KA, Bd. 2, S. 154, Nr. 55. - JGB, Aph. 223.
21
KA, Bd. 10, S. 528-529; KA, Bd. 18, S. 179, Nt 635; S. 193, Nr. 797.
22
Friedrich Nietzsche, The Gay Science, translated, with commentary, by Walter Kaufmann,
New York 1974, S. 7-13 (Translators Introduction).
64 Ernst Behler
Motto des „Stirb und Werde" ein Bild der Flamme, das dem von Novalis und
;
Nietzsche analog ist. r
29
MAI, Aph. 221.
30
Heinrich Heine, Die romantische Schule, in: Sämtliche Werke. Herausgegeben von Ernst
Elster, Bd. 5, S. 216-217, 346. Vgl. hierzu Reinhoid Grimm, Zur Vorgeschichte des
Begriffs ,Neuromantik'9 in: Das Nachlehen der Romantik in der modernen deutschen
Literatur, Heidelberg 1969, S. 32ff. Georg Brandes, Die romantische Schule in Deutschland
und Die romantische Schule in Frankreich, Bde. 2 und 5 von Die Hauptströmungen der
Literatur des neunzehnten Jahrhunderts, 6 Bde., Charlottenburg 1900.
31
JGB, Aph. 254. Diese Bevorzugung wird aber gelegentlich wieder zurückgenommen: WA,
Aph. 8.
32
M, Aph. 197.
33
MAI, Aph. 221.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 67
gangenheit wieder zum Leben zu rufen.34 Auch die „Beschäftigung mit dem
deutschen Märchen", das von Gelehrten „alten Weibern" abgelauscht wurde,
gehört in diesen Zusammenhang. „Die ganze deutsche Romantik war eine
Gelehrtenbewegung", sagt Nietzsche, „man wollte gern ins Naive zurück,
und wußte, daß mans so gar nicht war".35 Auch in diesen Skizzen operiert er
meist ohne Namen. Dieser Umstand tritt eindrucksvoll in einem Aphorismus
der Nachlaßschriften zutage, in dem Nietzsche im Kpntrast zur Romantik
starke Tendenzen in der Dichtung des 19. Jahrhunderts herausarbeitet, den
biedermeierhaften Stifter und Gottfried Keller als „Zeichen von mehr Stärke,
innerem Wohlsein" anführt — aber aus dem Stegreif keinen Romantiker als
Kontrast zu nennen weiß und diese Lücke mit Gedankenstrichen ausfüllt.36
Aus dem Angeführten geht wohl zur Genüge hervor, daß dies Bild der
deutschen Romantik zwar spätromantische Tendenzen erfaßt, aber wenig
mit den Repräsentanten der frühromantischen Schule zu tun hat. Offenbar
hat Nietzsche die Frühromantiker, wie auch Hölderlin, gar nicht als Roman-
tiker angesehen, und wenn er sie gelegentlich erwähnt, scheint ihm ihre Ver-
bindung mit der romantischen Bewegung nicht zum Bewußtsein gekommen
zu sein. Man wird auch sofort zugestehen müssen, daß es sich bei dieser ersten
romantischen Schule mit ihrem revolutionären Messianismus der Kunst und
der Humanität um eine Sonderform der Romantik gehandelt hat, die zudem
nur während weniger Jahre, eigentlich nur während des kurzen Zeitraums
von 1795-1800 bestand.
Dieser Eindruck bestätigt sich, wenn man versucht, Nietzsches gene-
rellen, typologischen Begriff der Romantik auf die Geisteshaltung der Früh-
romantiker zu beziehen. Meiner Ansicht nach setzt sich Nietzsches allge-
meine Konzeption der Romantik aus drei Attributen zusammen, die in der
Romantikauffassung des 19. Jahrhunderts vorherrschend geworden sind,
ja noch lange darüber hinaus, beinahe bis in unsere Zeit das Verständnis
der Romantik beeinträchtigt haben. Das erste dieser Kennzeichen besteht in
der Gleichsetzung der Romantik mit Krankheit, Verfall und leitet sich von
einem häufig zitierten Goethewort von 1826 her, das lautet: „Das Klassische
nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke."37 Der Prototyp
für diese sich zersetzende, kranke und dekadente Form der Romantik ist der
todessehnsüchtige Novalis gewesen, den nicht nur Goethe in verschiedenen
Stellungnahmen, sondern auch Hegel in der Phänomenologie des Geistes und
34
M, Aph. 159. - Heinrich Heine, Die romantische Schule, 353-355.
35
KTA 10, S. 124-125, Nr. 287.
36
KGW VIII 2, .S. 120, Nr. 10 [2].
37
J. P. Eckermann, Gespräche mit Goethe, Leipzig 1925, S. 263—264. Auch in Maximen und
Reflexionen: Jubiläumsausgabe, Bd. 38, S. 283.
68 Ernst Hehler
38
Zu Goethe vgl. Hans-Joachim Mahl, Goethes Urteil über Novalis, in: Jb. des Freien
Deutschen Hochstifts 1967, 130-270. Hegel, Jubiläumsausgabe, Bd. 19, 644 (unter dem
Titel der „schönen Seele", ähnlich in der Phänomenologie des Geistes; Bd. 2, S. 484);
Heine, Die romantische Schule, S. 302—306.
39
Besonders in FW, Aph. 370.
40
Vgl. Walter Kaufmann, Nietzsche. Philosopher, Psychologist, Antichrist, 3. Aufl. New York
1968, S. 380. Der Aphorismus 3 aus Der Fall Wagner ist wahrscheinlich ein auf Wagner
bezogener Reflex aus Goethes Brief an Zelter vom 20. Oktober 1831: Gedenkausgabe von
Ernst Beutler, Bd. 21, S. 1012-1015.
41
MA I, Aph. 142.
42
Jubiläumsausgabe, Bd. 7, 217, 222-223; Bd. 12, S. 100-103; Bd. 19, S. 642. Vgl. hierzu
Ernst Behler, Friedrich Schlegel und Hegel, in: Hegel-Studien 2 (1963), S. 203-250.
43
KGW VIII2, S. 76, Nr. 9 [132]; S. 85, Nr. 9 [146]; S. 112-113, Nr. 9 [184]; S. 119, Nr. 10 [2].
44
JGB, Aph. 257.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 69
45
FW, Vorrede, Aph. 4; FW, Aph. 107.
46
Die romantische Schule, S. 217. Heine entwickelte diese Sehweise der Romantik im An-
schluß an deren „Großinquisitor" Johann Heinrich Voß: VgL Ernst Behler, Kritische
Gedanken zum Begriff der europäischen Romantik, in: Die Europäische Romantik, Frank-
furt 1972, S. 7-43, bes. S. 23-26.
47
GT, Versuch einer Selbstkritik, Aph. 7.
48
WS, Aph. 198.
70 Ernst Hehler
49
Z.B. H. Lehnen, Heine, Schiller·, Nietzsche und der junge Thomas Mann, in: Neophil.
48 (1964), S. 51-56; Hannah Spencer, Heine and Nietzsche, in: Heine-Jahrbuch 11 (1972),
126—161; Diana Behler, Lessing's Legacy to the Romantic Concept of the Poet-Priest, in:
Lessing Yearbook 4 (1972), S. 67-93.
50
Charles Andler, Nietzsche. Sa vie et sä pensee, Bd. 2, S. 220.
51
Karl Joel, Nietzsche und die Romantik, S. 347.
52
Ebd. — Charles Andler, Bd. 2, S. 50. Siehe August Koberstein, Geschichte der deutschen
Nationalliteratur, Bd. 4, Leipzig 1873, S. 440, 734ff. - Vgl. Reiner Bohley, Über die
Landesschule zur Pforte, in: Nietzsche-Studien 5 (1976), S. 306.
53
Norbert Langer, Das Problem der Romantik bei Nietzsche, S. 22.
Nietzsche und die Frühromanüsche Schule 71
Ficht es, weil er, wie man bemerkt hat, für den Idealismus Fichtes zu
„romantisch" war.54
Während der Schulferien bei einem Verwandten in Jena, der dort Ober-
bürgermeister war, kam der junge Nietzsche in das Zentrum des Romantiker-
kreises, wo er sich nicht nur die „Wohnungen berühmter Männer** ansah,
sondern in der Bibliothek des Onkels auch — weit vor der Entdeckung durch
die Forschung — die Werke des Novalis studierte, von dem er meinte, daß
„dessen philosophische Gedanken mich interessieren".55 Später vertiefte
Nietzsche dies Studium und wußte u* a. auch vom „Haß des Novalis gegen
Goethe*% den er als einen Widerwillen gegen alles auslegte, was „zu gesund,
zu robust, campagnardise" war.56 Ob Nietzsche den 1865 von Wilhelm
DUthey noch mitten in der antiromantischen Reaktion verfaßten Novalis-
aufsatz kannte, muß fraglich bleiben. Doch ist bezeugt, daß sich Nietzsche
der Lektüre von Rudolf Hayms 1870 erschienenem Werk Die romantische
Schule widmete und daraus den von Tieck stammenden Begriff des „Bil-
dungsphilisters" entlehnt haben soll.57
Mit Beginn seines akademischen Studiums geriet Nietzsche unter den
Einfluß von Friedrich Ritschi, seinem Lehrer in den klassischen Altertums-
wissenschaften, der in Bonn noch mit August Wilhelm Schlegel in regem
akademischen Verkehr gestanden hatte.58 Nietzsche besuchte Schlegels Grab
im Herbst 1864.59 Ritschi bekannte sich offen zu Friedrich Schlegel und
Creuzer, und von seiner Konzeption der griechischen Literatur hat man ge-
sagt: „das ist das Programm Friedrich Schlegels".60 Im weiteren Verlauf
dieses Studiums entwickelte sich in Leipzig Nietzsches Freundschaft mit
Erwin Rohde, und er begegnete mit ihm einem Mann, „der die deutschen
Romantiker als seine Geistesverwandten fühlte und würdigte".61
Während der Basler Vorlesungstätigkeit setzte sich Nietzsche eingehend
mit den altertumswissenschaftlichen Arbeiten der Brüder Schlegel ausein-
ander, wie zahlreiche Bemerkungen in der Einleitung zu den Vorlesungen
über Sophocles Oedipus Rex von 1870, in dem Vortrag über Das griechische
54
Alois Riehl, Friedrich Nietzsche, Stuttgart 1897, S. 159f.
ss
SA III, S. 69.
56
MusA XVII, S. 367.
57
Karl Joel, Nietzsche und die Romantik, S. 352, Nr. 40.
58
Otto Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschi. Ein Beitrag zur Geschichte der Philologie, 2 Bde.,
Leipzig 1879, Bd. 2, S. 13-14, 72, 476-477. - Briefe von und an August Wilhelm
Schlegel. Gesammelt und erläutert durch Josef Körner, 2 Bde., Zürich-Leipzig-Wien 1930,
Bd. l, S. 540, Bd. 2, S. 247, 340.
59
KGB I 2, S. 15.
60
Ernst Howald, Friedrich Nietzsche und die klassische Philologie, Gotha 1920, S. 3. Vgl.
Friedrich Ritschi, Opuscula Philologica, Bd.* 5 (Leipzig 1879), S. 152-153.
61
Karl Joel, Nietzsche und die Romantik, S. 71; Charles Andler, Nietzsche, Bd. 2, S. 220.
72 Ernst Behler
Musikdrama von 1870 und auch in der Geburt der Tragödie von 1871 bezeu-
gen.62 Nachdem Nietzsche in diesem zuletzt genanntenrWerk die Schlegelsche
Deutung des tragischen Chors als „idealischer Zuschauer" zunächst wegen
ihrer „germanischen Voreingenommenheit für alles, was ,idealischc ist",
abgelehnt hatte, suchte er das Schlegelsche Wort „in einem tieferen Sinne" zu
erschließen.63 Dabei entwickelte er mit der Interpretation des Chors als
„Selbstbespiegelung des dionysischen Menschen" eine Theorie, die, wie noch
zu zeigen sein wird, näher an den wirklichen Sinn der von August Wilhelm
Schlegel, vor allem aber von dessen Bruder vertretenen Auffassung des
Chores herankam. In seinen Vorlesungen über die griechische Literatur von
1874—1876 wies Nietzsche die von Friedrich Schlegel entwickelte Ansicht
einer natürlichen Evolution der griechischen Gattungeil zurück, weil für ihn
die Geschichte irrational, unvorhersehbar war.64 Dabei handelt es sich um
eine Auseinandersetzung, die, wie ebenfalls noch zu zeigen sein wird, für
Nietzsches Verhältnis zum frühromäritischen Denken zentral ist. Nietzsches
Vorarbeiten zu seinem ersten größeren Werk, der Geburt der Tragödie,
zeigen nach den Berichten der Editoren der Müsarionausgabe, „wie tief
Nietzsche das griechische Problem nahm und wie weit er schon frühzeitig !
über eine rein philologisch-wissenschaftliche Behandlung des griechischen
Altertums hinausstrebte." Dabei nahm er sich besonders das Wort Friedrich
Schlegels zu Herzen: „Jeder hat noch in den Alten gefunden, was er brauchte
und wünschte; vorzüglich sich selbst".65
71
Gerald F. Eise, The Origin and Early Form of Greek Tragedy, Cambridge/Mass. 1965,
S. 10.
72
- GT, Versuch einer Selbstkritik, Aph. 5, 3.
73
GT, Aph." 10, 8, 16.
74
Gerald F. Eise, The Origin and Early Form of Greek Tragedy, Cambridge/Mass. 1965. j
Vgl. auch Walter Kaufmann, Tragedy and Philosophy. New York 1969, S. 191-193, ·
228—233. Bereits Ulrich von Wilamowitz-Moellendorf fragte in Zukunftsphilologie, Berlin
1872, S. 23: „Wer ist darin [den Choephoren], wer ist in Schutzflehenden, Eumeniden,
Persern, wer ist in Ajos, Elektra, Philokletes tragischer Avatara des Dionysos Zagreus?"
(Nachdruck in: Der Streit um Nietzsches Geburt der Tragödie. Zusammengestellt und ein-
geleitet von Karlfried Gründer, Hildesheim 1969, S. 46).
75
KGW III 2, S. 277-279.
76
GT, Aph. 3.
77
KGW III 2, S. 301.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 75
fassung von Aristoteles bis Lessing schnurstracks entgegenstand und die dort
allein auf das Formale gerichtete Deutung der Tragödie überwand. Daß
Nietzsche beanspruchte, „den Begriff , tragisch', die endliche Erkenntnis
darüber, was die Psychologie der Tragödie ist", gefunden zu haben, ist
bekannt und ebenso, daß er diese Erkenntnis als ein Überwinden der seit
Aristoteles über die Natur der Tragödie herrschenden Mißverständnisse
auffaßte.78 Ähnlich war Schlegel der Meinung, daß man im Verständnis der
Tragödie „seit dem Aristoteles noch nicht weitergekommen" sei und dieser
„auf Jahrtausende der Quell aller grundstürzenden Mißverständnisse" dieser
Gattung war.79
Der metaphysische Trost der Tragödie bestand für Nietzsche eben nicht
darin, „vom Schrecken und Mitleiden loszukommen", nicht darin, „sich von
einem gefährlichen Affekt durch eine vehemente Entladung zu reinigen",
sondern „über Schrecken und Mitleiden hinaus, die ewige Lust des Werdens
selbst zu sein."80 In diesem Sinne hat er in der Geburt der Tragödie das
Dionysische als „wonnevolle Entzückung" gezeichnet, als „das Jasagen zum
Leben selbst noch in seinen fremdesten und härtesten Problemen", das „aus
dem innersten Grunde des Menschen" beim tragischen Zerschellen seiner
Individualität emporsteigt und in dessen „Steigerung das Subjektive zu
völliger Selbstvergessenheit hinschwindet." „Wir glauben an das ewige
Leben, so ruft die Tragödie" für Nietzsche, und diese überzeugt uns, daß
„unter dem Wirbel der Erscheinungen", „bei dem fortwährenden Untergang
der Erscheinungen", das ,,ewige Leben unzerstörbar weiterfließt."81
Ähnlich haben Friedrich Schlegel und im Anschluß an ihn August Wil-
helm Schlegel die metaphysische Freude am Tragischen empfunden. Die
Trennung von Mensch und Sein und der tragische Zwiespalt zwischen
Mensch und Schicksal führt für August Wilhelm Schlegel zu der erlösenden
Erfahrung, daß im Verhältnis der Unendlichkeit des Lebens „das irdische
Dasein für nichts zu achten sei, daß alles Leiden dafür erduldet" werden
müsse.82 Für Friedrich Schlegel transformiert sich der zerreißende, ent-
setzende Eindruck von der Macht des Schicksals in die Erfahrung von der
„Würde und Heiligkeit des Lebens, und von der Einheit der in unendlich
vielen Gestalten geheimnisvollen Urkraft, die alles erzeuge und ernähre."83
78
EH, Die Geburt der Tragödie, Aph. 3; GD, Was ich den Alten verdanke. Aph. 5; GT,
Aph. 2r 22, 24.
7
* KA, Bd. l, S. 449, 464.
80
EH, Die Geburt der Tragödie, Aph. 3; GD, Was ich den Alten verdanke, Aph. 5.
81
GT, Aph. l, 16, 4, 18.
82
August Wilhelm von Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und Literatur. 3. Ausg.
von Eduard Böcking, 2 Bde., Leipzig 1846, Bd. l, S. 75-76.
83
KA, Bd. l, S. 549.
76 Ernst Hehler
Gewiß läßt sich diese Sehweise des Tragischen auf die proteische diony-
sische Naturkraft der alten religiösen Kulte beziehen. Wir wissen aber, daß
sie, wenigstens im Falle der Brüder Schlegel, modernen Ursprungs ist und sich
von Kants Idee des Erhabenen herleitet, bei dem das ursprüngliche Entsetzen
vor der Allgewalt der Natur sich allmählich in Lust auflöst.84 Ferner spiegeln
sich hier idealistische Konzeptionen über die Unendlichkeit der Natur und
die Menschheit wieder. In einer mehr philosophischen Bestimmung dieser
dionysischen Urkfaft des Lebens hat sich Nietzsche auch der romantisch-
idealistischen Anschauungsweise bedient und das dionysische Ursein als einen
Gott bezeichnet, „der im Bauen wie im Zerstören, im Guten wie im
Schlimmen, seiner gleichen Lust und Selbstherrlichkeit innewerden will, der
sich, Welten schaffend, von der Not der Fülle und Überfülle, vom Leiden der
in ihm gedrängten Gegensätze löst."85
Weitere wichtige Parallelen in der Deutung des dionysischen Charakters
der griechischen Welt sind mit den Themen des tragischen Chors und der
lyrischen Dichtkunst gegeben. „Ich schmeichle mir zu wissen," schrieb
Friedrich Schlegel am 23. Dezember 1795 an seinen Bruder, „was der griechi-
sche Chor ist, welches von denen, die geschrieben haben, niemand gewußt
hat. Eine Kenntnis, die über die Tragödie und die Poesie überhaupt unend-
liche Aussicht gibt, und die schwersten Knoten löst".86 Schlegel sah den
tragischen Chor mit einem Wort als gemeinsame Stimme der Menschheit, in
der sich die Vision des Dichters inkarnieit hat.87 Damit stand er Nietzsches
Bestimmung des Chors als „eigentliches Urdrama" und „übermächtiges
Einheitsgefühl", in dem die „Klüfte zwischen Mensch und Mensch" weichen
und wir ,,an das Herz der Natur" zurückgeführt werden,88 beträchtlich nahe.
Doch räumte er dem Dichter eine größere Funktion ein.
Diese Bedeutung des dichterischen Ich fand Schlegel bereits in der
lyrischen Dichtung der Griechen, vor allem in Pindars Wort: „Ich, der
einzelne, fürs Gemeinsame" vorgebildet, von dem er sagte: „In Pindarus
redet nicht der Dichter, der einzelne Mensch, sondern durch ihn die Stimme
des Volks: nicht sein Ich, seine Eigenheit ist sein Gegenstand . . . sondern die
öffentliche Sache, der Zustand des Volks, — ent-
84
Es handelt sich um die „Analytik des Erhabenen" aus der Kritik der Urteilskraft in Kants
Werke, Akademie-Textausgabe, Bd. 5, S. 244-265. KA, Bd. L S. 312-313, 410. Vgl.
hierzu Ernst Behler, Kant vu par le groupe de Coppet. La formation de l'image
staelienne de Kant, in: Le Groupe de Coppet. Actes du Second Colloque de Coppet (im
Druck).
85
GT, Versuch einer Selbstkritik, Aph. 5.
86
Friedrich Schlegels Briefe an seinen Bruder August Wilhelm, Berlin 1890, S. 248.
87
KA, Bd. l, S. 594. August Wilhelm Schlegels Vorlesungen über dramatische Kunst und
Literatur, Bd. l, S. 76.
88
GT, Aph. 7.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 77
96
KA, Bd. l, S. 332-333, 351-352.
97
KA, Bd. l, S. 206.
98
KA, Bd. l, S. 553.
99
KA, Bd. l, S. 275, 278, 287, 637. Vgl. Ernst Behler, Friedrich Schlegel (Rowohlts Bildmono-
graphien 123), Hamburg 1966, S. 33-34,
100
Rudolf Haym, Die romantische Schule, 2. Aufl., Berlin 1906, S. 190,
101
Werke in drei Bänden, Bd'. 3, S. 157-159.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 79
Zeit.102 Freilich ist dabei nicht an eine bloße Wiederholung der von den
Griechen erreichten Errungenschaften zu denken. Die wahre Nachahmung
der Griechen, wie Schlegel sie verstand, bezieht sich nicht auf den besonderen
Buchstaben» sondern den Geist der „reinen Griechheit".103 Sie bedeutet Wett-
streit, jene von Nietzsche betonte „agonale" Haltung oder das „Gefühl von
der Notwendigkeit des Wettkampfes",104 womit in die Wiedererweckung
der Antike im modernen Zeitalter jener Spannungsbezug tritt, der für das
Denken Schlegels und Nietzsches gleicherweise charakteristisch ist.
Ernst Robert Curtius sagte: „Die klassische Philologie des 19. Jahrhun-
derts hat den echten und kühnen Humanismus eines Friedrich Schlegel und
eines Nietzsche nicht ertragen".105 Mögliche Einflüsse, die von Schlegel auf
Nietzsches Geburt der Tragödie ausgegangen sind, können sich sogar in der
Gesamtkonzeption des Werkes zeigen, das sich, wie Friedrich Schlegels
Aufsatz Über das Studium der griechischen Poesie von 1795,106 schon bald
von seinem eigentlichen Gegenstand abwendet, den Niedergang der europä-
ischen Kultur im Zeitalter des „theoretischen Optimismus" schildert, dann
aber, aus den Quellen des deutschen Wesens, eine „neue Daseinsform" ent-
stehen sieht, „über deren Inhalt wir uns nur aus hellenischen Analogien
ahndend unterrichten können".107 Ähnlich hatte Friedrich Schlegel in seinem
ersten größeren Werk argumentiert und mit der Wiederverbindung des deut-
schen und griechischen Geistes eine „ästhetische Revolution" bewirken
wollen, die das „höchste Ziel jeder möglichen Poesie, das Größte was von der
Kunst gefordert werden" kann, zur Erfüllung brachte. Nachdem das „höchste
Schöne" mit Sophokles in Erscheinung getreten war, hatte sich die euro-
päische Kunstgeschichte unter dem Einfluß „dirigierender Begriffe" des Ver-
standes auf die falsche Bahn begeben und war schließlich in der „höchsten
ästhetischen Erschlaffung" versunken, von der Schlegel meinte: „Tiefer
können wir nun nicht sinken".108 Aber ähnlich wie Nietzsche in Kant und Scho-
penhauer die Vorboten einer Wiedergeburt sah, kündigte sich auch für Schle-
gel im kulturellen Tiefstand der Zeit ein dialektischer Umschlag an, durch den
der objektive Gehalt der Griechen „in der ästhetischen Bildung der Moder-
nen herrschend werden könnte".109 Daß der „dauernde Liebesbund zwischen
der deutschen und der griechischen Kultur" für den deutschen Geist „nur
eine Rückkehr zu sich selbst, ein seliges Sichwiederfinden zu bedeuten habe",
102
KA, Bd. l, S. 356-357. - GT, Aph. 19, 20.
103
KA, Bd. l, S. 343, 346-347.
104
KGWIII2, Sr 281-282.
105
Humanismus. Herausgegeben von Hans Oppermann, Darmstadt 1970, S. 168.
106
KA, Bd. l, S. 217-367.
107
GT, Aph. 19.
108
KA, Bd. l, S. 236-237, 263.
109
KA, Bd. 1,5.269-271.
80 Ernst Behler
110
GT, Aph. 19, 20.
111
GT, Versuch einer Selbstkritik, Aph. 3. - KA, Bd. 2, S. 147-148, Nr. 7.
112
EH, Warum ich so weise bin, Aph. 3. Zum dialektischen Charakter des „romantischen"
Geschichtsbewußtseins vgl. Ernst Behler, The Origins of the Romantic Literary Theory,
in: Colloquia Germanica 1/2 (1968), S. 109-126.
113
KA, Bd. l, S. 255.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 81
114
A. W. Schlegel, Über schöne Literatur und Kunst. Herausgegeben von Jakob Minor
(Deutsche Literaturdenkmale 17-19; 3 Bde. Heilbronn 1884, Bd. !, S. 22.
115
KA, Bd. 2, S. 153, Nr. 48; S. 263, Nr. 69,
116
Dies wurde, freilich mit negativer Akzentsetzung, zuerst von Hegel betont: Jubiläums-
ausgabe, Bd. 19, S. 641—646. Vgl. hierzu Otto Pöggeler, Hegels Kritik der Romantik (Ab-
handlungen zur Philosophie, Psychologie und Pädagogik 4), Bonn 1956 und Ernst Behler,
Die Geschichte des Bewußtseins. Zur Vorgeschichte eines Hegeischen Themas, in: Hegel-
Studien 7 (1972), S. 175-182 und bes, KA, Bd. 8, S. LIII-LXIX.
117
Sehr., Bd. 2, S. 524, Nr. 11.
118
KA, Bd. 3, S. 96.
119
Friedrich Schlegel und Novalis, S. 97.
82 Ernst Hehler
stand.120 Schlegel und Novalis waren ferner der Auffassung, daß sich Fichte
zu einseitig auf die Logik verlegt hatte. Sie beanspruchten demgegenüber eine
größere Freiheit der Reflexion, indem sie diese auch in anderen „Reflexions-
medien", in Kunst, Bildung und Gesellschaft und vor allem in der Dichtung
praktizierten. Ein weiterer entscheidender Schritt in dieser artistischen Um-
bildung der Fichteschen Reflexionsmethode bestand darin, daß sich Schlegel
und Novalis bereitwillig in den grenzenlosen Gang des Denkens einließen
und die Reflexion als unendlich anerkannten. Fichte hatte den unendlichen
Prozeß, der in seinem Denken durchaus angelegt ist, im vollendeten Selbst-
bewußtsein einzuhalten gesucht, uni das Abgleiten in die von Hegel so be-
nannte „schlechte Unendlichkeit" zu vermeiden.121 Für Schlegel konnte sich
dagegen einem solchen Denken von Natur aus keine Grenze stellen. Vielmehr
war die Reflexion für ihn der ständigen „Potenzierüng fähig", sie war ihm
„unermeßlich — ewig *- unbedingt, d. h. unendlich". Auf ähnliche Weise sah
Novalis in dem unaufhaltsamen Fortgang der Reflexion den „Anfang einer
wahren Selbstdurchdringung des Geistes, die nie endigt".122
So entstand gegen Ende des 18. Jahrhunderts in dieser Schule erstmals
das, was Walter Benjamin als „unendliche Reflexion" bezeichnet hat123 —
eine Reflexion, bei der das Denken im Selbstbewußtsein unaufhaltsam über
sich selbst reflektiert und in der Unendlichkeit seiner Potenzenreihen zu
immer höherer Selbsterfassung zu gelangen strebt. Die in dieser Reflexion
erfahrenen Gegensätze und Widersprüche sollten nicht in einer Synthese auf-
gehoben werden, sondern den Stachel für die Bewegung des Geistes bilden,
der sich in einem „Schweben" zwischen den Antinomien und einem ständi-
gen Wechsel zwischen den Antithesen entfaltet und reicher wird. In der
künstvollen Darstellung seiner selbst sollte dies grenzenlose Denken Einheit
und Zusammenhang finden — in einer Darstellung freilich, die nicht in einem
Wurf gelingt, sondern notwendigerweise fragmentarisch ansetzt und in immer
größeren Kreisen über sich hinauswächst. Dies war es, was Schlegel und
Novalis unter „Fichtisieren" verstanden, oder was Novalis meinte, als er
sagte, daß „der Erfinder . . . vielleicht nicht der fertigste und sinnreichste
Künstler auf seinem Instrument" sein möge. Er sah es als wahrscheinlich an,
„daß es Menschen gibt und geben wird, die weit besser fichtisieren werden
als Fichte", vor allem, „wenn man das Fichtisieren erst artistisch zu treiben
beginnt". Dann könnten „wunderbare Kunstwerke" entstehen.124
120
Z.B.: KA, Bd. 2, S. 149, Nr. 28; S. 151, Nr. 37; S. 172, Nr. 51; KA, Bd. 19,
S. 767—768 (Registernachweise).
121
Vgl. zu dieser Fichterezeption KA, Bd. 8, S. LIII-LXIX.
122
KA, Bd. 18, S. 468, Nr. 356. - Sehr., Bd. 2, S. 525-526, Nr. 13.
123
Walter Benjamin, Der Begriff der Kunstkritik in der deutschen Romantik, Berlin 1920.
124
Sehr., Bd. 2, S. 524, Nr. 11.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 83
125
Sehr., Bd. 3, S. 339, Nr. 470.
126
KA, Bd. 2, S. 415, 413-414. Vgl. hierzu KA, Bd. 8, S. XXXVII-LIL
127
Die Kunst der Reflexion. Das frühromantische Denken im Hinblick auf Nietzsche, in:
Untersuchungen zur Literatur als Geschichte. Festschrift für Benno von Wiese, Berlin
1973, S. 219-248.
128
Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 10, S. 18,
84 Ernst Behler
129
JGB, Aph. 278. EH, Warum ich so weise bin, Aph. 1: „Von der Kranken-Optik aus nach
gesünderen Begriffen und Werten, und wiederum umgekehrt aus der Fülle und Selbst-
gewißheit des reichen Lebens hinuntersehn in die heimliche Arbeit des Decadence-
Instinkts — das war meine längste Übung, meine eigentliche Erfahrung, wenn irgendworin
wurde ich darin Meister."
130
JGB, Aph. 229, 40.
131
Ernst Behler, Nietzsches Auffassung der Ironie, S. 13—20.
132 FW> Vorrede, Aph. 4; JGB, Aph. 31.
133
KA, Bd. 2, S. 312. 134 EH> jenseits VQn Gut und Böse, Aph. l, 2.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 85
Dies sind nicht die einzigen Unterschiede, die bei dieser wechselseitigen
Spiegelung in Erscheinung treten. Die vielleicht grundlegendste Differenz be-
steht in der Tatsache, daß bei den Frühromantikern immer noch ein
Schimmer von Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit dem Absoluten vor-
handen ist, wie deutlich auch in der Ironie die Entfremdung des Menschen
anerkannt wurde. Freilich war auch bei ihnen diese Nabelschnur zum Abso-
luten bereits recht dünn geworden, wenn Schlegel von seinem ästhetischen
Ideal sagte, daß es „ewig nur werden, nie vollendet sein kann", oder wenn
Novalis die Frage stellte: „inwiefern erreichen wir das Ideal nie?", und darauf
antwortete: „Insofern es sich selbst vernichten würde".135 Doch klingt in
Schlegels Ironie immer noch eine „Ahndung des Ganzen" mit, und die
futuristische Idee der progressiven Universalpoesie verbindet sich bei
Novalis mit der Vision einer schönen Zukunft, der „schönen Zeit" einer zu-
künftigen Literatur, da „man nichts mehr lesen wird als die schöne Kompo-
sition — als die literarischen Kunstwerke".136
Nietzsche hat mit klarem Blick die dialektisch-historische Versöhnungs-
technik als den eigentlichen Trick des deutschen Idealismus angesehen, der
für ihn darin bestand, „einen Pantheismus auszudenken, bei dem das Böse
der Irrtum und das Leid nicht als Argumente gegen Göttlichkeit empfunden
werden".137 Für ihn war der „Gesamtcharakter der Welt . . . dagegen in alle
| Ewigkeit Chaos". Eine „Welt derWahrheit" anzunehmen, „der man mit
Hilfe unsrer viereckigen kleinen Menschenvernunft letztgültig beizukommen
vermöchte", bezeichnete er als „Plumpheit und Naivität, gesetzt daß es keine
Geisteskrankheit, kein Idiotismus ist".138 Will man die Welt schon als im
Flusse und als etwas Werdendes denken, dann für Nietzsche nur „als eine sich
immer neu verschiebende Falschheit, die sich niemals der Wahrheit nähert:
denn - es gibt keine ,Wahrheit4".139
Diese grundverschiedenen Sehweisen scheinen auch von Konsequenz für
den ästhetischen Form- und Gestaltungswillen gewesen zu sein, wie er sich
bei Nietzsche und den Frühromantikern zeigt. Die Annahme ist sicher nicht
von der Hand zu weisen, daß Schlegels Philosophieren in Parabeln und
„krummen Linien", deren „eines Zentrum in der Unendlichkeit liegt", oder
Novalis' Erwartung der „schönen Zeit", da man nichts mehr lesen wird „als
die literarischen Kunstwerke", den Frühromantikern die Berechtigung gege-
ben hat, ihr Denken in jenen oft rohen und unausgestalteten Fragmenten
auszudrücken, von denen doch nur einige wenige den Anspruch erheben
135
KA, Bd. 2, S. 183, Nr. 116. - Sehr., Bd. 2, S. 259, Nr. 508.
136
Sehr., Bd. 3, S. 276-277, Nr. 210.
137
SA III, S. 496.
138
FW, Aph. 109, 373.
139
KGW VIII l, S. 112, Nr. 2 [108].
86 Ernst Behler
140
Gottfried Benn, Essays, Reden, Vorträge, S. 542.
141
Sehr., Bd. 4, S. 270-271.
142
G. Benn, Ebd.
143
Karl Konrad Polheim, Studien zu Friedrich Schlegels poetischen Begriffen, in: DVJ 35
(1961), S. 363.
144
GM, Vorrede, Aph. 2.
145
JGB, Aph. 296.
Nietzsche und die Frühromantische Schule 87
durch diesen Willen zu seinem Gegenteil?146 Wie verhält sich die vorhin
zitierte Ablehnung der romantisch-idealistischen Zukunftserwartung zu
Nietzsches beinahe flehentlichen Anrufungen an die „kommenden Philo-
sophen", an „ihr Philosophen der Zukunft", zu seinem eigenen Vorspiel einer
Philosophie der Zukunft,147 — oder gar zu seiner Erwartung des „Kommen
Gottes", den kein Bild und Gleichnis zu beschreiben vermag, jenes „unbe-
kannten Gottes", dem. er in der Totaldialektik seines Denkens wenigsten eine
Stelle frei hielt?148
Hegel hat wiederholt gesagt, daß Mensch nicht Mensch wäre, hätte er
nicht „das Zerreißen jener ursprünglichen paradiesischen Einheit" erlebt, das
wir uns im Bild des Sündenfalles symbolisieren.149 Vielleicht läßt sich als Ab-
schluß dieses Vergleiches sagen, daß der Mensch nicht Mensch wäre, wenn ihn
nicht die Hoffnung auf das leitete, was Novalis als „schöne Zukunft"
bezeichnete. Und vielleicht sind diese vielen Fragen und Vielleichts ein
akzeptabler Abschluß für eine Untersuchung, die selbst noch im Prozeß ist
und die doch schließlich eine Diskussion einleiten soll.
146
KGW VIII 3, S. 288, Nr. 16 [32].
147
JGB, Aph. 42-44 und der Untertitel zu diesem Werk.
148
Ernst Behler, Nietzsches Wort vom Tod Gottes, in: Herkommen und Erneuerung. Essays
für Oskar Seidlin, Tübingen 1976, S. 256-267.
149
Jubiläumsausgabe, Bd. 10, S. 163.
·' r
Diskussion
Behler: Die Frage lautet wohl: Haben die Frühromantiker das absolute
Ich Fichtes mit dem empirischen Ich verwechselt? Oder wie Heine es satirisch
ausdrückt: der große Haufen dachte, das Ich, das da philosophiert, „sei das
Ich von Johann Gottlieb Fichte", wobei sich die Frauen fragten: „Glaubt er
Diskussion 89
nicht wenigstens an die Existenz seiner Frau?" Ich glaube, die Frühroman-
tiker kann man von diesem Vorwurf der Verwechslung des absoluten und des
empirischen Ich freisprechen. Wie läßt sich dies aber damit in Einklang
bringen, daß bei den Frühromantikern sich doch Iche ironisch betätigen und
unendlich reflektieren? Sie verstanden sich dabei als Teile eines größeren
Ganzen, in dem jedes Ich nur ein Bruchstück von einem großen Ich darstellt,
und dieses große Ich als das Ich der Menschheit aufgefaßt wurde. Wenn Sie
vorhin das absolute Ich mit dem Begriff Gott in Beziehung brachten, dann
drückt Schlegel dies so aus: in der Idee der Menschheit ist Gott Mensch
geworden. Es handelt sich hierbei um einen Humanitätspantheismus. In
vielen Fragmenten sagen Schlegel wie auch Novalis: ich bin nur ein Stück von
mir selbst, also ein Bruchstück aus dieser umfassenden Konzeption der
Menschheit. Sie sahen sich an der Schwelle eines neuen Zeitalters stehen, das
sie heraufführen wollten, in der die Menschheit vollkommen zu ihrer Auto-
nomie gelangt. Mit einem Wort waren die Romantiker der Auffassung, daß
das einzelne Ich relativ aufzufassen ist gegenüber dem umfassenden Gesamt-
ich der Humanität.
Behler: Ja, ich weiß, daß sich im Kantischen Begriff des Erhabenen ein
negatives Verhältnis zur Natur bekundet, das überhaupt charakteristisch für
Kant ist. Diese Gegensetzung von Freiheit und Natur läßt sich beim ganz
frühen Schlegel, ebenso wie bei Schiller, auch feststellen. Ich glaube aber, daß
Schlegel schon 1795/97 mit seiner Schrift Über das Studium der griechischen
Poesie den Durchbruch zu einem neuen pantheistischen Naturgefühl voll-
zieht, welches seinen höchsten Ausdruck dann in Schellings Idealrealismus
und in der Identitätsphilosophie findet. Aber nicht nur darin unterscheidet sich
die romantische Ausdeutung des Begriffs des Erhabenen von der Kants. Wie
bekannt, beschränkte Kant die Erfahrung des Erhabenen auf die Natur; sie
90 Ernst Behler
auf die Kunst zu beziehen, lehnte er ab. Aber eben dies taten zuerst Schiller
und dann, im Anschluß an ihn, die Brüder Schlegel, indem sie einfach Kants
Ausführungen über den Eindruck des Erhabenen auf den Menschen in ihrer
Deutung der Tragödie paraphrasierten. August Wilhelm Schlegel hat Kant
dann sogar vorgeworfen, daß er seine große Entdeckung des Erhabenen ver-
spielt habe, indem er sie auf die Natur begrenzte und nicht auf das Gebiet
anwandte, wo sie am fruchtbarsten war, nämlich auf die Tragödie.
Ulmer: Ich gehe noch einmal von der Frage nach der unendlichen Re-
flexion aus. Sie sind der Meinung, daß auch Nietzsche diese Reflexion, wenn
auch in besonderer Weise, in seinem Werk vollzogen hat. Sie führten Nietz-
sches Zarathustra an. Dort habe er sich gleichsam zum Mythischen gewandt,
später aber habe er wieder den negativen Teil seiner Aufgabe auf sich genom-
men, nämlich die psychologische Reflexion der Aufdeckung der Wurzeln der
bisherigen Ideale. Stimmt das aber mit dem Sachgehalt überein? Trotz seiner
Form ist der Zarathustra durchaus ein Reflexions werk, in dem Nietzsche das
darstellt, worauf es ihm eigentlich ankommt. Und umgekehrt erschöpfen sich
die späteren Schriften nicht in der Negation. Nietzsche geht in ihnen in
seinen Aussagen über das Leben und über die Grundlagen der Werte durch- ™
aus über seine Position im Zarathustra hinaus. Ich sehe den Einschnitt also in
der Form, in der Sache würde ich ihn aber nicht so beurteilen wie Sie.
Behler: Nehmen wir das Thema des Zusammenhanges von Lust und
Schmerz. Das läßt sich natürlich reflexiv behandeln. Zum Beispiel in der Kri-
tik des theoretischen Optimismus oder an anderen Stellen, die wir aus Nietz-
sches Werk heranziehen können. Aber vergleichen wir damit die folgende
Passage aus ZarathustraIV: „Sagtet ihr jemals Ja zu Einer Lust? Qh, meine
Freunde, so sagtet ihr Ja auch zu allem Wehe. Alle Dinge sind verkettet, ver-
fädelt, verliebt — wolltet ihr jemals Ein Mal Zwei Mal, spracht ihr Jemals ,du
gefällst mir, Glück! Husch! Augenblick!' so wolltet ihr Alles zurück! — Alles
von neuem, Alles ewig, Alles verkettet, verfädelt, verliebt, Oh so liebtet ihr
die Welt — Ihr Ewigen, liebt sie auf ewig und allezeit: und auch zum Weh
sprecht ihr: vergeh, aber komm zurück! Denn alle Lust will — Ewigkeit!"
Das ist doch offensichtlich etwas ganz anderes, ist nicht mehr Reflexionsstil.
Ulmer: Da sind wir uns einig. Der Gedanke selbst aber ist nicht anders,
als er sonst in der Weise der Reflexion ausgesprochen wird.
Behler: Ich wollte auch eine Parallele aufweisen zwischen dem Mythen-
schaffen des Zarathustra — wenn man es so nennen darf — und dem roman-
tischen Suchen nach einer neuen Mythologie.
Diskussion 91
Ulmer: Würden Sie den Zarathustra als Versuch deuten, einen Mythos
zu schaffen? Da bin ich mir nicht ganz im klaren: ich glaube, es ist mehr eine
Frage der Form der Mitteilung, des Ansprechens der Menschen.
Gründer: Wenn es kein Mythos ist, den Nietzsche mit dem Zarathustra
hat schaffen wollen, was ist es dann? Jedenfalls hat der Zarathustra als ein
Mythos oder als ein Quasi-Mythos gewirkt — z.B. auf Paul Mongre (hinter
welchem Pseudonym sich übrigens der Mathematiker Felix Hansdorff ver-
birgt, der Erfinder der Mengenlehre).
Behler: Ich stimme in beiden Fragen mit Ihnen überein und möchte diese
Gedanken noch etwas ausführen. Zunächst zur negativen Einschätzung des
Euripides. Sie ist ein nachhaltiges romantisches Vorurteil geworden und hat
die Erforschung der klassischen Literatur, insbesondere der klassischen Tra-
gödie,, lange beeinträchtigt. Es ist überraschend, wie sie sich fortgepflanzt hat.
Und das ist nicht das einzige, was hier bedenklich ist. Die Tragödienauffas-
sung, wie sie der frühe Friedrich Schlegel in bezug auf die klassische Tragödie
entwickelt hat, läßt sich durchaus nicht auf alle alten Tragödien anwenden.
Darüber hinaus operieren Schlegel wie Nietzsche auch in bezug auf die mo-
92 Ernst Behler
derne Tragödie mit einer Schablone, indem da Hamlet als Prototyp, als
Gipfel der Verzweiflung herausgegriffen wird. Dies ist &ne Typologisierung
der modernen Tragödie, die sich sofort als unzureichend erweist, wenn sich
die Einzelfälle nicht mehr auf sie beziehen lassen.
Nun zu der Frage, ob Friedrich Schlegel und Novalis eine einheitliche
Philosophie wie Friedrich Nietzsche entwickelt haben. Novalis starb be-
kanntlich 1801. Bei ihm zeigen sich nur die Ansätze zu einer sich reflexiv auf-
bauenden und herausbildenden Philosophie. Bei Friedrich Schlegel findet
diese Denkmethode 1802 mit seiner Übersiedlung nach Paris ihr Ende. Da-
mals sagte er der Ironie und seinem Publikum ein „kritisches Lebewohl" und
wollte sich von nun an der Geschichte, der Literaturgeschichte und Kritik der
Philosophie widmen; vier Jahre später war er auf dein Weg zum Katholizis-
mus. Dann hat er freilich eine sehr ausgeführte, voluminöse Philosophie ent-
wickelt, aber diese ist grundlegend verschieden von dem, was er in seiner frü-
heren Zeit gewollt hatte.
Heller: Ich habe drei Fragen. Erstens: Wurde das ,Elementc Schleier-
macher erwähnt, das habe ich nicht so richtig gehört? Mir scheint Schleier-
macher zur Frühromantik zu gehören. Der spätere Nietzsche, der ,tougher*
— härter — wird, sagt: die Philosophen (und nicht nur die Theologen) sind
alle Schleier-Macher. Da schwingt die Ablehnung der etwas undezidierten
Stellung in Sachen der Religion mit, die die Romantiker ja mit unseren Klas-
sikern teilen. Und von daher ist vielleicht verständlich, daß Nietzsche, auch
schon der frühe Nietzsche, in seinem dezidierten Schopenhauerischen Atheis-
mus sich nicht mit den Romantikern verwechseln lassen will, weil die eigene
lieh alle noch eine Quasireligiosität, einen Pantheismus, vertreten, — jeden-
falls keine Atheisten sind.
Zum anderen, was mich immer wieder wundert, ist das Verschweigen
Friedrich Schlegels durch Nietzsche, den er doch sehr gut gekannt haben
muß, von dem er doch viel — ich will nicht sagen gestohlen, aber doch ent-
lehnt und gewiß auch bewußt entlehnt hat. Es wundert mich, wie gesagt, daß
er Friedrich Schlegel keinen Kredit zu geben scheint.
Außerdem hätte ich auch noch gern gewußt, ob es irgendeine bewußte
Bezugnahme Nietzsches zu der hermeneutischen Tradition F.A.Wolfs ge-
geben hat, jener Methodik des Verstehens von Texten, die ja auch eine , Erfin-
dung*, eine Leistung der Romantik ist.
wendet und diesen als ,Schleier-Macher* verulkt, dann richtet er sich nicht
gegen den jungen Mitarbeiter des Athenäums und den Autor .der Reden über
die Religion, sondern den späten Theologen der Glaubenslehre." Der junge
Autor der Reden über die Religion leugnet nicht nur die Transzendenz, son-
dern auch die Persönlichkeit Gottes. Das Werk ist stark spinozistisch gefärbt
und hat dem jungen Theologen enorme Schwierigkeiten mit seinen Kirchen-
behörden eingebracht. Wenn Sie die erste Auflage mit der späteren , ortho-
doxeren* Auflage der Reden über die Religion vergleichen, dann bemerken Sie
deutlich, daß beträchtliche Unterschiede bestehen. Ich glaube also, daß
Nietzsche von dieser frühen Position Schleiermachers entweder nichts gewußt
hat oder sich nicht darauf bezieht.
Zum Verschweigen Friedrich Schlegels: Nietzsche hat ihm keinen Kredit
gegeben, sagen Sie. Ich weiß nicht, ob er das mußte. Ich habe wirklich nicht
den geringsten Hinweis darauf, und ich warte natürlich mit Spannung auf das
Erscheinen der vollständigen Nachlaßbände, um festzustellen, ob in Nietz-
sches Aufzeichnungen etwas über Fr. Schlegel vorhanden ist. Das einzige,
was ich anführen konnte, waren Hinweise der Editoren der Musarion-Aus-
gabe und Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie, die bisher nicht veröffentlicht
worden sind. Die Editoren sagen, Nietzsche hätte sich ausführliche Auszüge
aus Schlegels Schriften gemacht und auch den Aphorismus zitiert, jeder habe
noch im Altertum gefunden, was er suchte und wollte, vorzüglich sich selbst.
Ich weiß wirklich nicht, ob es sich bei den sonstigen Übereinstimmungen um
Parallelen handelt, die aus der Geistesverwandtschaft herrühren, ob hier
sozusagen etwas in der Luft gelegen hat, oder ob Nietzsche als junger Schüler
in Schulpforte von Koberstein so gut in das Denken Schlegels eingeführt
wurde, daß er ihn gar nicht mehr zu lesen brauchte.
Behler: Ich habe es im Vortrag nicht erwähnt, weil ich es nur aus zweiter
Hand habe, daß sich Nietzsche das 1870 erschienene Buch Die romantische
Schule von R. Häym ausgeliehen hat und daraus den Begriff des Bildungs-
philisters entnahm, der von Tieck geprägt worden sein soll. Das habe ich hier
auch nicht vorgetragen, weil der Begriff des Bildungsphilisters meiner Ansicht
nach schon bei Goethe nachweisbar ist.
Nun zur hermeneutischen Tradition: Da fällt mir direkt die gleichartige
Hochschätzung F. A.Wolfs durch Friedrich Schlegel und Nietzsche ein. F. A.
Wolf war vielleicht der von Schlegel am meisten bewunderte kritische Philo-
loge seiner Zeit. Nun hat Wolf in seiner Homeruntefsuchung bekanntlich die
Individualität, die Persönlichkeit Homers aufgehoben. Wenn Sie sich die
Nietzscheschen Auffassungen über Homer ansehen, stellen Sie fest, daß er
94 Ernst Hehler
ebenfalls von Anerkennung für Wolfs Homerdeutung erfüllt ist und darin
eine gewaltige Tat der Philologie erblickte. '
Hehler: Wenn ich Sie recht verstehe, ist die romantische Lyrik in ihrer
evokativen Tendenz auf ein Ziel hingerichtet und damit immer noch im Be-
reich der als absolut aufgefaßten Reflexion, Das scheint mir eine einleuch-
tende Interpretation zu sein, obwohl ich das nie so gesehen habe. Könnten
wir konkrete Beispiele anführen? Denken Sie an die Hymnen an die Nacht?
Behler: Ihre Beispiele sind in der Tat überzeugend und ich stimme Ihren
Bemerkungen zu.
Janz: Wir befinden uns in einer gewissen Aporie bezüglich der formalen
Einordnung des Zarathustra. Wir befinden uns damit in der guten Gesell-
schaft des Autors selber, der die Frage stellte: wohin gehört dieser Zara-
thustra eigentlich? Wir hören darauf auch von ihm: der Zarathustra sei eine
Diskussion 95
entwickelt. Wir finden auch hier eine Gemeinsamkeit zwischen den Früh-
romantikern und Nietzsche. . '
Djuric: Mir scheint, daß Sie, Herr Behler, Nietzsche allzusehr mit einer
prophetischen, messianischen Haltung in Verbindung bringen, daß Sie sein
Denken zu stark auf die Hoffnung auf die Zukunft hin ausrichten und daß Sie
auf diese Weise eine andere Orientierung seines Denkens beiseite lassen, in
der Nietzsche sich aus dieser Grundkonzeption der Neuzeit, also nicht nur
der Frühromantik, herausziehen will und in der er versucht, die Lebensfülle
in der Gegenwart zu verankern. Obwohl es viele Stellen bei Nietzsche gibt,
in denen er jene Hoffnungsphilosophie weitertreibt und sich zu ihr bekennt,
so meine ich doch, daß er an diesen Stellen eigentlich sich selbst nicht recht
verstanden hat. Wesentlicher für Nietzsche sind andere Motive, denken wir
nur an die dritte Verwandlung des Geistes, um ein Beispiel zu nennen* \
I;
Behler: Ich glaube, ich habe die messianische, prophetische oder futu- |!
ristische Haltung Nietzsches sehr vorsichtig zum Ausdruck gebracht. Sie er- j!
innern sich vielleicht daran, daß ich meinen Abschluß in rhetorische Fragen j
gekleidet habe. Dadurch ist meiner Ansicht nach eine Überbetonung des '
zukunftsbezogenen Denkens Nietzsches vermieden worden. Um aber nun
ohne Fragezeichen zu sprechen, so glaube ich, daß die Zukunftsbezogenheit
ein wesentliches Element in seinem Denken ist. Denken Sie daran, daß das
Werk Jenseits von Gut und Böse den Untertitel trägt: Vorspiel einer Philo-
sophie der Zukunft. Die abschließenden Aphorismen des zweiten Haupt-
stücks Der freie Geist wenden sich ständig an, plädieren für, flehen beinahe
um den Philosophen der Zukunft. Dies alles ließe sich als weitere Parallelen
zwischen den Romantikern und Friedrich Nietzsche anführen.