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8.

Kollaboration mit der Staatsgewalt als Kriterium der Freund- Feind-


Unterscheidung
VSA-Verlag, Stresemannstr. 384a, 2000 Hamburg 50, ISBN 3-87975-575-2

Ein Beitrag zum Kronzeugen- Syndrom

Pflichterfüllung im Dienste des Staates bietet in Deutschland


systemüberdauernden Schutz vor strafrechtlicher Verfolgung oder sichert
mindestens wohlwollende und milde Beurteilung strafbaren Tuns. Der
Staat kann ein Verbrecher- Syndikat gewesen sein, ohne daß sich an
dieser Einschätzung etwas ändert eine obrigkeitsfreundliche Moral, die
sich zwanglos mit christlichen Grundsätzen verbinden läßt (Römer 13.1:
"Jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat. Denn es
ist keine Obrigkeit ohne von Gott; wo aber Obrigkeit ist, die ist von Gott
verordnet"). Eine Erklärung für die Renaissance christlicher Parteien nach
Auschwitz? Wie auch immer, dem Heer der Massenmordgehilfen Hitlers
war diese Moral nützlich, weil sie die Akzeptanz ihrer Freisprüche und
kalten Amnestien sicherte. Keinerlei moralische Bedenken hinderten die
Staatslenker des "freien Westens", Nazi- Verbrecher, die an den
faschistischen Massenmorden aktiv beteiligt waren, als Gehilfen für den antikommunistischen Kreuzzug zu
reaktivieren. Widerspruchslos duldete die schweigende Mehrheit einer kollektiv- schuldigen Generation,
daß gesellschaftliche Machtpositionen in diesem Land erneut von Leuten besetzt wurden, die zuvor einem
Verbrecher- Staat gedient hatten. Das galt für die Polizeiführung, für den "Verfassungsschutz", für Justiz,
Verwaltung und Politik. Und noch immer ist Dienstleistung für den Staat - wohlgemerkt: für jeden, wie
auch immer gearteten kapitalistischen Staat - ein guter Ausweis für Verwendbarkeit auch in einem
nunmehr als "freiheitlich- demokratisch" bezeichneten Deutschland. Warum übrigens nicht auch Stasi-
Experten als neue Gehilfen im Kampf gegen "Terroristen"? Der Sicherheits- und Überwachungsstaat ist bei
der Wahl seiner Freunde nicht pingelig.

Neben den Staatsfreunden, die schon immer welche waren und sich bei Gründung der Bundesrepublik
Deutschland als neugeborene Demokraten wiederfanden, gibt es auch solche, die erst durch Zuwahl das
Recht erworben haben, der Justiz als Staatsfreund vorgestellt zu werden. Man könnte die einen als
geborene, die anderen als gekorene Staatsfreunde bezeichnen. Mit den letzteren sind gewesene Staatsfeinde
gemeint, die als Kollaborateure auserkoren und der Staatsgewalt nützlich geworden sind.

Für unser Thema interessiert vor allem eine Kategorie gekorener Staatsfreunde, die unter dem Namen
"Kronzeugen" nun auch Eingang in die Gesetzessprache gefunden hat. Es handelt sich um jene Opfer der
Staatsgewalt, die um den Preis

der Kollaboration von dem Angebot (partiellen) Verzichts auf die Anwendung des Strafrechts Gebrauch
gemacht haben. Ein Angebot, das auf der doppelten Moral obrigkeitsstaatlichen Denkens fußt und durch
die kalten Amnestien für Nazi- Verbrecher gut eingeführt ist. Man hat sich in diesem Land daran gewöhnt,
daß selbst die Beteiligung an Morden kein Hinderungsgrund ist, in den Kreis der Staatsfreunde
aufgenommen zu werden. Andererseits steht auf Verweigerung der Zusammenarbeit mit den Herren der
Wahrheitsfindung Lebenslänglich.

Mit der Wahl zwischen Feindprozeß und Freundprozeß steht den Betreibern Politischer Justiz ein
ungeheures Erpressungspotential zur Verfügung. Zeigte man früher, als die Ketzer- Inquisition ihre Opfer
brauchte, die Folterwerkzeuge vor, um die Macht der Ermittler zu demonstrieren und der als Hexe
beschuldigten Frau die Vorteile eines "freiwilligen" Geständnisses vor Augen zu führen, so ist es heute der
diskrete Hinweis auf die in der freien richterlichen Beweiswürdigung verborgenen Möglichkeiten, aus den
vorliegenden Beweismitteln diese oder jene Schlüsse zu ziehen. Die Fingerspur an einem zur Entführung
eines Menschen vorgesehenen Auto kann von einem Beschuldigten stammen, der dabei war, als die Tat
ausgeführt oder vorbereitet wurde, sie kann auch von einem stammen, der zu anderer Zeit mit dem
Fahrzeug zu tun hatte und nichts von der geplanten Tat wußte. Noch ein paar flankierende Beweismittel,
etwa ein Zeuge, der den Beschuldigten oft in Begleitung der Bandenchefin gesehen haben will, und ihm
wird nachgesagt, daß er ein "wichtiges Mitglied" gewesen sei und besonders engagiert die Politik des
bewaffneten Kampfes vertreten habe (Boock- Urteil, 5. 158), und es reicht zu dem Rat des väterlich-
verständnisvollen Vernehmers: "Helfen Sie uns, die Sache aufzuklären, sonst müssen Sie mit einer Anklage
nach Lage der Akten rechnen." Und der Gefangene, noch unter dem Schock des Verlustes seiner Freiheit
und durch die Zelleneinsamkeit ausgehungert nach menschlicher Kommunikation, hört das rettende
Angebot zur Kollaboration mit der Staatsgewalt heraus, aber auch die versteckte Drohung.

Bekanntlich hat jeder, der einer Straftat verdächtigt wird, das Recht zu schweigen. Nicht erst als
Angeklagter, sondern schon zum Zeitpunkt seiner ersten polizeilichen Vernehmung. Auf dieses Recht ist er
ausdrücklich hinzuweisen (§§ 136, 163a StPO). Aber den Interessen der ermittelnden und der judizierenden
Staatsgewalt ist mit einem sprechenden Angeklagten mehr gedient. Denn nichts fördert die Aufklärung des
Sachverhalts und die Urteilsfällung schneller und bequemer als ein umfassendes Geständnis des
Beschuldigten, das womöglich nicht nur den eigenen Tatbeitrag betrifft, sondern Ansatzpunkte für weitere
Ermittlungen gegen andere Personen bietet. Aus der Sicht von Polizei und Justiz ist der aussagefreudige
Beschuldigte oder Angeklagte also allemal nützlicher und sympathischer als der schweigende oder
leugnende.

Die justizielle Tradition, Beschuldigte zum Sprechen zu bringen, reicht weit zurück. Aber die schamlose
Belohnung des Kollaborateurs, nämlich die geschwinde Umwidmung von Feinden in Justizfreunde und der
partielle Verzicht auf Strafe, ist eine Errungenschaft neuester Zeit.

Das mittelalterliche Feindprozeßrecht hatte dem zum Geständnis genötigten Justizopfer nur das Ende der
Folter und manchmal eine mildere Todesart zu bieten.

Bei Geständnissen wurden vielfach die Angeklagten im Gnadenwege zuerst erdrosselt, sodann wurde ihre Leiche
verbrannt. Bei Leugnen wurde dagegen der oder die Angeklagte lebendig verbrannt.

Immerhin reichte die Angst vor einer Fortsetzung der Folter oder die Vergünstigung, nicht lebendig
verbrannt sondern nur erdrosselt zu werden, häufig genug aus, die Beschuldigten zu den unsinnigsten
Geständnissen und Anschuldigungen zu veranlassen. Schon damals war die Herbeiführung der
Denunziation weiterer Ketzer das wichtigste Anliegen der Vernehmer, die sich nicht mit dem
Schuldbekenntnis des von ihnen gequälten Menschen begnügten.

Henry Charles Lea berichtet, daß das Geständnis im mittelalterlichen Inquisitionsprozeß in der Regel von
dem Bekenntnisse der Bekehrung und Reue begleitet gewesen sei.

Auf diese Weise wurde nicht nur dem Teufel eine Seele entrissen, sondern der Neubekehrte war auch verpflichtet,
seine Aufrichtigkeit dadurch zu beweisen, daß er alle, von denen er wußte oder vermutete, daß sie Ketzer seien, dem
Inquisitor anzeigte und so der Verfolgung neue Bahnen eröffnete.

Das Geständnis war nur ausreichend, wenn die Namen der Mitschuldigen genannt wurden.

Wer in die Fänge der Inquisition geraten war - und dafür genügte die Verdächtigung durch einen
mißgünstigen Nachbarn - konnte ihr nicht mehr entrinnen. Die Folter brachte die Opfer zu
Phantasiegeständnissen, und wer nach dem Ende der Folter widerrief, konnte wenigstens wegen falschen
Zeugnisses lebenslänglich eingekerkert werden. Selbst der in seltenen Fällen mögliche Gegenbeweis konnte
die verkehrte Wahrheit der Hexenrichter nicht auf die Füße stellen. Fritz Bauer schildert folgenden Fall:

Einige Frauen zu Lindheim gestanden, auf dem Friedhof ein Kind ausgegraben und - wie den "Hexen" häufig
unterstellt wurde - zu einem Hexenbrei verwandelt zu haben. Der Mann einer dieser Frauen setzte es durch, daß das
Grab des Kindes geöffnet wurde. Der Pfarrer und viele Zeugen waren zugegen. Das Kind lag unversehrt in seinem
Sarg. Der Inquisitionsrichter erklärte das tote Kind in seinem Sarg far eine Gaukelei des Teufels. Die Frauen wurden,
da ihr Geständnis mehr bedeutete als der Augenschein, als "Hexen" verbrannt.
Man brauchte "Hexen".

Daß die erfolterten Geständnisse und Beschuldigungen, die sich meist auf unzüchtigen Umgang mit dem
Teufel bezogen, nichts mit der Wahrheit zu tun hatten, ist uns Heutigen nicht verborgen. Aber damals
erfüllten sie ihren Zweck. Der definierte Feind war gefunden und überführt, die Unverbrüchlichkeit des
Rechts bestätigt, der Hexenglaube gefestigt und die Angst erneuert. Und die Exekutoren des Rechts hatten
ein um das andere Mal ihre Unentbehrlichkeit gezeigt und erlebt.

Staatliche Ermittler haben schon immer das Erfolgserlebnis gebraucht, Menschen zum Sprechen zu bringen
und sie damit zu Gehilfen der Staatsgewalt zu

machen. Ihre größte Niederlage war seit jeher der schweigende oder hartnäckig leugnende Angeklagte, von
welcher Sorte es auch zur Zeit der Daumenschrauben und spanischen Stiefel einige wenige gegeben hat.
Ihre Unbeugsamkeit aber brachte ihnen in der Regel nur eine Verstärkung des Verdachts ein, mit dem
Teufel im Bunde zu stehen.

Doch lassen wir diese historischen Reminiszenzen. Den heutigen Wahrheitssuchern stehen humanere
Foltermethoden zur Verfügung.

Nicht die barbarische Alternative Verbrennen oder Erdrosseln haben sie zu bieten, sondern die sehr viel
attraktivere Wahl zwischen Lebenslänglich und einer zeitigen Freiheitsstrafe. Kein nennenswerter
Zivilisationsfortschritt seit den Tagen der Hexenprozesse, da die Massivität der Nötigung eher
zugenommen hat. Daß damit ein die Ablegung des Hexenglaubens übersteigender Zugewinn an
Wahrheitsfindung verbunden sei, wird man füglich bezweifeln dürfen. Indessen will ich die Frage des
Beweiswertes von Kronzeugenaussagen an dieser Stelle ausklammern und mich nur der Frage ihres
Zustandekommens widmen.

Die begrenzte Widerstandskraft des Menschen gegen Vernehmungsversuche ist in neuerer Zeit vielfach
untersucht worden. Dabei hat es sich als Irrtum herausgestellt, daß allein mit "Charakterstärke" einer als
lebensbedrohend empfundenen Belastung widerstanden werden könne. So ist nach dem Koreakrieg der
"Verhaltenskodex für Mitglieder der US-Streitkräfte" geändert worden, um der Tatsache Rechnung zu
tragen, daß in der Vergangenheit fast alle Kriegsgefangenen trotz gegenteiliger Befehle ihren Befragern
Informationen preisgegeben batten. Es hatte sich herausgestellt, daß schon mit der Angabe von Name, Rang
und Geburtsdatum die "erste Widerstandslinie durchbrochen" und der Gefangene folgenden Verhören nicht
mehr gewachsen war.

Es lag in der Konsequenz dieser Erfahrungen, daß Angehörige der RAF bei ihrer Festnahme auch Angaben
zu ihrer Person verweigerten. Mit welchen Methoden die Staatsgewalt auf diese Verweigerung von
Zusammenarbeit reagierte, möchte ich am Beispiel meiner damaligen Mandantin Ulrike Meinhof
veranschaulichen.

Frau Meinhof wurde am 15. Juni 1972 in Hannover- Langenhagen festgenommen. Da sie Angaben zu ihrer
Person verweigerte, wurde sie unter dem Vorwand der Identitätsfeststellung folgenden Maßnahmen
unterworfen:

Zunächst versuchte die Polizei, ihr gewaltsam Fingerabdrücke abzunehmen. Dieser Versuch scheiterte an
ihrer heftigen Gegenwehr. Daraufhin drohten die Polizeibeamten, man werde ihr eine Äthernarkose geben
und sodann die Fingerabdrücke abnehmen. Ulrike Meinhof protestierte gegen diese Absicht und verwies
darauf daß eine solche Narkose für sie lebensgefährlich sei. Trotzdem wurden ernstliche Vorbereitungen
zur Durchführung einer Äthernarkose getroffen, so daß sich meine Mandantin schließlich nach mehreren
Stunden aus Angst vor dieser lebensgefährlichen Maßnahme nötigen ließ, ihre Fingerabdrücke nehmen zu
lassen.

Damit nicht genug: Die Beamten hielten zum Zwecke der Identifizierung auch noch die Besichtigung einer
Kaiserschnittnarbe für erforderlich. Frau Meinhof wurde gegen ihren Willen gewaltsam entkleidet und mit
beiden Händen an einen Bettpfosten gefesselt. Sodann wurde ihre Kaiserschnittnarbe besichtigt - eine zur
Identifizierung sicher nicht nur unnötige, sondern auch ungeeignete Amtshandlung, die einen unerhörten.
schweren Eingriff in das Persönlichkeitsrecht einer Frau darstellt und selbst bei Unterstellung einer
unsadistischen Motivation den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz erheblich verletzt.

Und immer noch nicht genug der Identifizierungsmaßnahmen: Frau Meinhof wurde, wiederum gefesselt,
dazu gezwungen, eine Röntgenaufnahme ihres Schädels zu erdulden. Zu erkennungsdienstlichen Zwecken
(§ 81 b StPO) war diese Maßnahme schon deshalb nicht notwendig, weil zu diesem Zeitpunkt bereits zwei
andere angeblich der Identifizierung dienende Maßnahmen durchgeführt waren. Außerdem bedeutete die
Röntgenaufnahme des Schädels einen gesundheitsgefährdenden Eingriff der in keinem angemessenen
Verhältnis zu dem behaupteten Zweck stand.

Die mit der Feststellung der Identität begründeten Quälereien dauerten mehrere Stunden, bis tief in die
Nacht, obwohl Frau Meinhof schon zum Zeitpunkt ihrer Festnahme erschöpft gewirkt haben soll. Der
Wunsch der Festgenommenen, einen Anwalt zu sprechen, wurde ignoriert, eine Benachrichtigung des
Anwalts unterblieb. Sie hätte die Mißhandlungen entbehrlich gemacht, weil ein Verteidiger zweifellos
geraten hätte, Angaben zur Person zu machen. Es ging aber offensichtlich weniger darum, Ulrike Meinhof
zu identifizieren, als darum, die Zeit, in der sie den Ausübern der Staatsgewalt ohne anwaltlichen Beistand
ausgeliefert war, so lange wie möglich auszudehnen und sie durch entwürdigende Behandlung zu
zermürben. Noch am Tage der Festnahme wurde mein Versuch, mich aufgrund einer bereits früher
erteilten Vollmacht um Ulrike Meinhof zu kümmern, von der Bundesanwaltschaft und der
Sicherungsgruppe des Bundeskriminalamtes mit der Begründung verhindert, die Festgenommene sei noch
nicht sicher identifiziert. In weiteren Telefonaten zweifelte man meine Vollmacht an, weil diese schon zwei
Jahre alt sei und Frau Meinhof nach einem Anwalt am Ort ihrer Festnahme gefragt habe. Später erfuhr ich,
daß auch dieser Anwalt nicht benachrichtigt worden war.

Erst am Sonntag, den 18. Juni 1972, drei Tage nach der Festnahme, ließ mich die Bundesanwaltschaft
telefonisch wissen, Frau Meinhof habe auf Befragen erklärt, daß sie weiterhin von mir verteidigt sein wolle.
Gleichzeitig sagte man mir, daß in der Kölner Haftanstalt, wohin sie inzwischen verbracht worden war,
Anwaltsbesuche am Sonntag nicht möglich seien, so daß Ulrike Meinhof erst am vierten Tag nach ihrer
Festnahme den ersten Verteidigerbesuch hatte. Vier Tage und vier Nächte war sie dem Festnahmeschock
und den brutalen Akten der Staatsgewalt ausgesetzt, ohne daß ihr gesetzlich und verfassungsrechtlich
verbürgter Anspruch, sich in jeder Lage des Verfahrens des Beistands eines Verteidigers zu bedienen (*137
StPO), durchsetzbar war. Feindrecht geht vor Verfassungsrecht. Die Mißachtung des Rechts auf faires
Verfahren, als dessen Bestandteil der

Anspruch auf jederzeitigen Beistand eines Verteidigers nach der Rechtsprechung des
Bundesverfassungsgerichts gilt, begann bereits am Tage der Festnahme.

Ein anderer Mandant, der bei seiner Festnahme durch zwei Schüsse schwerverletzte Arzt Karl Heinz Roth,
berichtete über folgende Erfahrung mit der Staatsgewalt:

Am nachhaltigsten hatte ich mit MEK- Leuten aus Bochum zu tun. Ich lag nach der Darmoperation vom 6. August
75 acht Tage lang auf der Intensivabteilung der Bochumer Unfallklinik. Meine Situation war verzweifelt. Die
Uberlebensreserven waren dahin.

Roth schildert die Aufwachphase nach der Narkose und fährt dann fort:
Die MEK- Beamten, die am Eingang standen, bemerkten mein Wiedererwachen, der Raum füllte sich mit bewaffneten
Zivilen. Einer beugte sich über mich. Frage: "Warum haben Sie geschossen?" Ich antwortete, er solle sich woanders
erkundigen, Landeskriminalamt oder sonstwo, ich selber bräuchte Ruhe. Das Aufgebot wurde immer dichter, bunter.
Wechselnde Bilder von MEKs und politischen Polizisten in allen nur denkbaren Positionen, mit medizinischem
Personal durchmischt. Dann kam ein zweiter Verhörversuch, vorbereitet durch den Abbruch des bisherigen
Stimmengewirrs. "Wissen Sie, wir haben ihre Bewachung verstärken müssen. Es wurde ein Telefongespräch
abgefangen in Flensburg, eine Untergrundgruppe will Sie liquidieren. Sie wissen zuviel. Warum haben Sie
geschossen?"

Sein politisches Bewußtsein und das Wissen nm die Skrupellosigkeit der Verüber von Staatsgewalt
versetzten Karl Heinz Roth in die Lage, diesen Angriff auf seine Widerstandskraft auch im Zustand
äußerster Erschöpfung und noch unter Narkosewirkung stehend abzuwehren. Nachforschungen seines
damaligen Anwalts, der erst nach heftigen Auseinandersetzungen zu ihm durchgelassen wurde, ergaben:

Die Legende vom ab gehörten Gespräch in Flensburg wurde ihm vom Leiter der politischen
Polizei in Flensburg ausdrücklich bestätigt, während die Bundesanwaltschaft dementierte.
MEK und politische Polizei Bochum hatten auf eigene Faust auf das Verhör in derAufwachphase gesetzt. Sie hatten
meinen Zusammenbruch betrieben, um sich mit irgendwelchen
Aussagen zu schmücken.

Die plumpe Brutalität von Staatsgewalt, der Ulrike Meinhof und Karl Heinz Roth ausgesetzt waren, sagt
etwas über die Affekte aus, die durch Feinderklärungen aufgebaut und bei deren Vollstreckung ausgelebt
werden. Sie kann aber auch Bestandteil einer Strategie sein, die durch ein Wechselbad von aggressiver und
sanfter Gewalt Kollaborationsbereitschaft herbeizuführen sucht. Indem von amnesty international
herausgegebenen Buch "Die Psychologie der Folter" von Gustav Keller wird diese Interaktionstechnik so
beschrieben:

Die Folterer verhalten sich gegenüber dem Folteropfer nicht einheitlich. Sie inszenieren ihre Sozialbeziehungen zum
Folteropfer nach einem bestimmten Drehbuch. Ein Teil des Folterteams übernimmt die Rolle des aggressiven Folterers.
Sie verhalten sich ausgesprochen aggressiv. Sie quälen den Gefangenen physisch oder desorientieren ihn bewußt. (...)
Hat die von den aggressiven Folterern induzierte Angst den gewünschten Pegel erreicht, tritt ein anderer Folterer in
die Szene ein. Er interagiert auf die entgegengesetzte Art und Weise. Er spielt die Rolle des verständnisvollen,
väterlichen und freundlichen Befragers. Der Gefangene erhält seit seiner Verhaftung zum erstenmal wieder
Gelegenheit, eine "menschliche" Sozialbeziehung eingehen zu können.
Durchschaut der Gefangene dieses szenische Arrangement nicht, gerät er unweigerlich in die Falle. Der
"verständnisvolle" und vermeintlich friedliche Befrager nutzt diese Sozialbeziehung zugunsten der Folterinstitutionen
aus. Er entlockt dem Gefangenen Informationen, die dieser bisher trotz physischer Malträtierungen hat zurückhalten
können. Der "verständnisvolle" Befrager signalisiert dem Gefangenen allerdings auch deutlich, daß er selbst Schuld
sei, wenn im Falle einer Verweigerung der Kooperation das alte, aggressive Interaktionsklima wiederkehren sollte.

In der Arbeitsteilung des Folterteams drückt sich oft auch die soziale Teilung des Folterpersonals aus. Den
Part des aggressiven Folterers spielen einfache Vollzugsbeamte und Soldaten. Den Part des
Verständnisvollen übernimmt der white- collar- Folterer. Hierzu zählen Ärzte und vermutlich auch
Psychologen. Da die Häftlinge eher den gehobenen Sozialschichten entstammen, sollen die beruflichen und
sozialen Merkmale der white- collar -Folterer den Einstieg in die "verständnisvolle" Interaktion erleichtern
helfen. In einer Situation extremer Angst und Desorientierung ist der Gefangene geneigt, jede
Identifizierungsmöglichkeit zu nutzen. Und zu diesen zählen schon Anzeichen gemeinsamer Herkunft,
Sprache oder Bildung.

Auch wenn manche Gefangene das Drehbuch dieses lnteraktionsspiels von vornherein enttarnen konnten, gab es doch
andere, die von den Freundlichkeiten und Identfikationsmöglichkeiten des "verständnisvollen" Befragers Gebrauch
machten.
Die Tradition dieser arbeitsteiligen lnteraktionstechnik ist alt. Bei Soldan-Heppe, "Geschichte der
Hexenprozesse", finden wir den ausführlichen protokollarischen Bericht über die entsetzliche Folterung der
Frau Enneke Fürsteners zu Coesfeld am 31. Oktober 1724 durch den Untersuchungsrichter Dr. Gogravius:

Nachdem die Angeklagte vergebens zum. gütlichen Bekenntnis aufgefordert war, ließ Dr. Gogravius ihr den Befehl
der Tortur publizieren, und führte ihr demnächst ernstlich zu Gemüte, daß sie den Umständen nach und nach Lage
der Dinge schuldig sein müsse und sich keineswegs werde reinwaschen können. Sie möchte darum lieber die Wahrheit
gestehen, als daß sie sich selbst, weil die peinliche Frage sie ja doch zum Bekenntnis bringen werde, die Strafe
verdoppele."

Da die Beschuldigte den ihr vorgeworfenen Teufelspakt leugnete, schritt man zur Folter. Vom Zeigen der
Folterwerkzeuge bis zum fünften Grad der Tortur wurden über Stunden die abscheulichsten Quälereien an
der unglücklichen Frau verübt, ohne daß diese davon abgebracht werden konnte, unter Anrufung Gottes
immer wieder ihre Unschuld zu beteuern. Schließlich befahl Dr. Gogravius, da nach Ansicht des
Folterknechts die peinlich Befragte die Folterung nicht länger werde ausstehen können, ihr die
ausgerenkten Glieder wieder einzusetzen und sie bis zu ihrer völligen Genesung zu verpflegen.

Nach dem Protokoll vom folgenden Tage ging der Scharfrichter zu der Unglücklichen ins Gefängnis, um sie zu
verbinden und "redete ihr bei dieser Gelegenheit zu und führte ihr zu Gemüte, daß sie die gestern überstandene
Tortur nicht hätte überstehen können, es wäre denn, daß sie einen Vertrag mit dem Teufel hätte". Worauf sie
geantwortet, daß sie mit dem Teufel nichts zu schaffen habe, sondern sie habe nur die heilige Mutter Gottes
angerufen, daß diese sie auf der Folter stärken möge, und mit deren Hilfe hätte sie die Schmerzen überstanden.

Und dann, wenn der Leser schon hofft, hier einen der ganz seltenen Fälle dokumentiert zu finden, wo eine
als Hexe verdächtigte Frau die Inquisition überlebt hat, folgt ein ernüchternder Schlußsatz, der den Sieg des
verständnisvollen Folterers meldet:

Nichtsdestoweniger brachte der Schafrichter das bis dahin so starke Weib "durch gütiges Zureden" zum Geständnis.

Die Kombination von aggressiver und sanfter Gewalt gehört zu den ewigen Krankheiten des Rechts, die
sich seit den Tagen der Hexeninquisition bis in unsere Zeit fortgeerbt haben. Kein Zufall also, daß auch bei
Karl Heinz Roth eines Tages ein Abgesandter der white- collar- Fraktion der Staatsgewalt erschien und ihm
das Angebot unterbreitete, durch Kollaboration mit der Staatsgewalt einer Mordanklage zu entgehen.

Am 18.September 1975 wurde Roth von Bundesanwalt Wahl zu einem Vernehmungsversuch in der JVA
Köln-Ossendorf aufgesucht. Wie üblich war eine vorherige Benachrichtigung des Verteidigers entgegen §§
163a Abs. 3, 168 c Abs.1 und 5 StPO unterblieben. Wäre Roth auf das Angebot eingegangen, hätte sich die
Umgehung des Verteidigers, wie dies aus anderen Fällen bekannt ist, mit einem angeblich von ihm
geäußerten Wunsch begründen lassen. Herr Wahl fragte, ob Roth bereit sei, mit ihm zu sprechen. Später
beschrieb Roth die Situation:

ich überlegte schnell, ob ich darauf eingehen solle. Auf anwaltlichen Rat und aufgrund der skandalösen Verfälschung
der Ereignisse vom 9. Mai /975 durch Polizei und Presse war ich entschlossen, bis zum Prozeß zu schweigen. Ich ließ
mich gleichwohl in die Besucherzelle führen, weil ich mir vom Gespräch eine zumindest zeitweilige Erleichterung der
Haftbedingungen und Informationen über die Prozeßstrategie der Bundesanwaltschaft erhoffte.

Den Verlauf des Gesprächs schildert Roth so:

Wahl fragte zunächst nach meinem Zustand. Ich erklärte ihm, daß nach der neuerlichen Darmoperation das in
Ossendorf praktizierte Ausmaß an Isolation und Bewegungsarmut eine Gesundung ausschließe. Auch sei es unfaßbar,
daß meine Verlobte vier Monate nach meiner Inhaftierung noch immer keine Besuchserlaubnis bekommen hätte. Ich
wies darauf hin, daß mir noch immer Bücher vorenthalten würden, daß ich mich noch nicht einmal mit Literatur
meines beruflichen Fachgebietes beschäftigen könne.
Wahl antwortete, daß bei einem gewissen Entgegenkommen von meiner Seite über alles gesprochen werden könne. Ich
solle aussagen. Mit einer Aussage meinerseits hinge sehr viel mehr zusammen als meine Hafibedingungen. Ich sei ein
engagierter Arzt mit Aussichten auf Karriere. Wie meine Post gezeigt habe, unterhielte ich zu meiner Verlobten eine
intensive Beziehung. Das alles setzte ich aufs Spiel, wenn ich dabei bliebe, weiter zu schweigen. Es ginge um meine
Existenz.

Der Bundesanwalt fragte, ohne Antwort zu erhalten, nach Roths Beziehungen zu Otto und Sauber. Er
belehrte Roth, daß eine Mordanklage nicht abhängig von der Frage sei, ob er selbst geschossen habe. Bei
einem Einbruchsdiebstahl werde auch derjenige bestraft, der an der Ecke Schmiere gestanden habe. Es sei
auch von Belang, ob Roth noch zu schießen versucht habe oder nicht.

Anschließend sagte Wahl noch einmal, daß ich im Fall der Aussageverweigerung der Bundesanwaltschaft gegenüber
mir extrem schaden und meine Existenz riskieren würde. Ich hätte die Möglichkeit, die Zielsetzung der Ermittlungen
entscheidend zu beeinflussen. Außerdem könne ich davon ausgehen, daß sich im Fair meines Schweigens die
Ermittlungsdauer erheblich hinziehen werde. Sobald ich zu einem Ergebnis gekommen sei, könne ich mich über den
Sicherheitsinspektor der JVA Ossendorfo der direkt telefonisch aus Ossendorf an ihn in Karlsruhe wenden. Er werde
mir in der Denkpause entgegenkommen, meiner Verlobten eine erste Besuchserlaubnis verschaffen und sich um den
Bücherbezug kümmern. Über eine ärztliche Begutachtung könne später gesprochen werden. Jetzt liege es aber erst
einmal an mir, mich erkennth½h zu zeigen.

Roth war, wie er sagt,

vor die Alternative gestellt, entweder meine moralisch- politische Identität aufzugeben und mich auf die Seite des
Staatsschutzes zu schlagen, oder aber zugrundezugehen. Isolationshaft, Verweigerung korrekter medizinischer
Behandlung und die Bedrohung mit einer Mordanklage waren die Waffen bundesanwaltschaftlicher Erpressung.

Roths Bericht über dieses Gespräch ist nicht nur nach seiner Persönlichkeit glaubwürdig, sondern entspricht
dem, was wir von anderen Beschuldigten, die solchen Vernehmungsversuchen ausgesetzt waren, wissen.
Man kann es daher als Muster eines sogenannten Vorgesprächs nehmen, das regelmäßig ohne Protokoll
erfolgt und dessen Prozeßordnungswidrigkeit daher später wegen des Glaubwürdigkeitsvorsprungs des
Vernehmungsbeamten nicht beweiskräftig zu belegen ist. Dem Vernehmer könnte vorgeworfen werden, daß
er den Verteidiger nicht benachrichtigt hat, daß er den Gefangenen nicht über sein Recht auf
Aussageverweigerung belehrt und seine Haftsituation, seinen Gesundheitszustand, seine Ängste und
Hoffnungen ausgenutzt hat. Doch der Gesprächscharakter sichert ihm bei Bedarf den Rückzug ins rechtlich
Unverbindliche, wenn er es nicht vorzieht, die Darstellung des Beschuldigten über den Gesprächsverlauf
als Lüge zu bezeichnen. Das Fehlen eines Protokolls und die Hierarchie der Glaubwürdigkeit machen den
Vernehmer unanfechtbar, wenn er etwa behauptet, er habe den Beschuldigten zu Beginn des Gesprächs
vorschriftsmäßig über seine Rechte belehrt, dieser habe ausdrücklich gewünscht, seinen Anwalt nicht zu
benachrichtigen, es seien auch weder Versprechungen noch Drohungen erfolgt. Und selbst wenn er
zugeben würde, zu Aussagen geraten und auf deren Bedeutung für den Inhalt der Anklage für
Besuchserlaubnisse und andere Hafterleichterungen hingewiesen zu haben, müßte er kaum damit rechnen,
daß ein Gericht ihm, dem erfahrenen Beamten im Range eines Bundesanwalts, die Überschreitung
zulässiger Vernehmungsmethoden zutrauen würde.

Das von Roth authentisch dokumentierte Vorgespräch enthält einige typische Merkmale staatlicher
Überredungstechnik bei dem Versuch, Kollaborateure zu gewinnen. Es beginnt mit der Auswahl der
Gesprächspartner. Nicht der in der Anklageschrift mit der Berufsbezeichnung "Beruß'1.oser" vorgestellte
Roland Otto, sondern der Arzt Karl Heinz Roth wird in der Haftanstalt besucht. Und da kommt nicht
irgendeine mindere Charge des Polizeiapparats, um ihn zu vernehmen, sondern ein Bundesanwalt
höchstpersönlich, der die Gemeinsamkeit akademischer Bildung und einfühlsames Verständnis für den
Mediziner mitbringt. Man hat keine Folterwerkzeuge vorzuzeigen, deren Einsatz durch Aussagen
abzuwenden wäre, sondern "nur" eine Mordanklage mit der Aussicht auf lebenslange Haft, die nach
Aktenlage erhoben werden müßte, aber natürlich bei entsprechenden Aussagen in sich zusammenfallen
könnte. Was für Aussagen könnten das sein, die das Ziel der Ermittlungen entscheidend beeinflussen, die
Ermittlungen erheblich abkürzen und dem Arzt Roth Existenz und Karrierechancen erhalten würden?
Worauf zielten rechtliche Erörterungen zur Figur des Mittäters beim Einbruchsdiebstahl? Es ging eindeutig
darum, Roth als Kronzeugen gegen Roland Otto (und den getöteten Werner Sauber) zu gewinnen, denen
man auf diese Weise einen gemeinsamen Tatentschluß zur Ermordung von Polizisten nachweisen zu
können glaubte. Man hatte in Karlsruhe zweifellos erkannt, wie dünn die Beweislage für die
Anklagebehörde war, und hätte sich deshalb mit einem Lebenslänglich für Roland Otto begnügt, wenn
wenigstens dies durch einen Kronzeugen gesichert werden konnte. Aber als Roth standhaft blieb und das
Risiko eines Terroristenprozesses und eines Terroristenurteils lieber in Kauf nahm, als sich zum Werkzeug
der Staatsgewalt und Verurteilungsgehilfen gegen Roland Otto erniedrigen zu lassen, verzichtete man in
Karlsruhe auf die potentielle Blamage einer erfolglosen Terroristenanklage und legte der Staatsanwaltschaft
Köln dieses Kuckucksei ins Nest. Die brütete dann auch eine Anklage aus, deren Ergebnis ungewiß war,
was man in Karlsruhe nicht schätzt. Rache am Kronzeugnisverweigerer nimmt man nur dann in eigener
Regie, wenn man die Mittel des Feindprozesses sicher beherrscht, wie im Fall Boock. Karl Heinz Roth aber
ist ihnen entgangen.

Während es im Fall Roth gelang, den Freispruch von der Mordanklage im Wege traditioneller Verteidigung
zu erzwingen, und zwar gegen eine Staatsanwaltschaft, die noch nach dem offensichtlichen Debakel ihrer
Beweisführung gegen Karl Heinz Roth zweimal Lebenslänglich beantragte, wird die (partielle) Straflosigkeit
des Kollaborateurs auf anderen Wegen herbeigeführt. Wenn es darum geht, den Überläufer zu belohnen,
sind die Staatsgewaltigen reich an Einfüllen, wie sich die Allgemeinverbindlichkeit des Strafrechts und der
Prozeßregeln umgehen läßt, ohne sie zugleich für alle aufzuheben. Das moralische Pathos, mit dem der
Schutz menschlichen Lebens und anderer Rechtsgüter als Sinn des Strafrechts verkündigt wird, erweist sich
einmal mehr als verlogen, wenn etwa in den Fällen Gerhard Müller oder Jürgen Bodeux - von beiden wird
in diesem Kapitel noch die Rede sein Akten zurückgehalten werden, in denen von Kapitalverbrechen dieser
Staatsfreunde die Rede ist. Oder wenn Amtszeugen, die über Verbrechen von Staatsfreunden Auskunft
geben müßten, unter Berufung auf das Wohl deutscher Staatlichkeit die Genehmigung zur Aussage
verweigert wird. Die Legalisierung des Kronzeugen ist nur der zynische Schlußpunkt einer Justizpraxis, die
auch ohne gesetzliche Grundlage durchaus zu unterscheiden wußte, welche An von Verdiensten es
rechtfertigt, das Strafrecht partiell zu suspendieren, und welche nicht. Die Kronzeugenregelung bringt nur
den Schritt in die Öffentlichkeit für ein Verfahren, das bisher gewisser semantischer Verhüllungen und
Aktenmanipulationen bedurfte, da es dem Gesetz widersprach.

Auch in Zukunft dürfte es freilich dabei bleiben, daß sich die staatlichen Proselytenmacher nicht in die
Karten schauen lassen, mit welchen Mitteln sie Menschen zum Sprechen bringen - Menschen, für die im
übrigen der Satz des Kriminalisten Hans Groß gelten dürfte, der vom gerichtlichen Geständnis gesagt hat,
er wisse "eigentlich kein Analogon im psychischen Wesen des Menschen, wo jemand mit sehenden Augen
etwas ausschließlich zu seinem Schaden und ohne irgendwelchen wahrnehmbaren Nutzen tut".Aus der
Logik dieses Satzes folgt, daß es wohl doch einen wahrnehmbaren Nutzen geben muß, den sich der
geständige Beschuldigte ausrechnet. Und es gibt ihn allerdings.

Was über den Beginn von Kronzeugenkarrieren in den Akten steht, ist weniger als die halbe Wahrheit.
Eindringlichen Verteidigerbemühungen ist es immer wieder gelungen, sogenannte Vorgespräche mit mehr
oder weniger hochkarätigen Ermittlern aufzuspüren, über die die Akten schweigen. So beginnen etwa die
Aussagen des Kronzeugen Volker Speitel aktenmäßig mit einem richterlichen Vernehmungsprotokoll vom
4. Januar 1978, während wir inzwischen wissen, daß er schon vorher von Oberstaatsanwalt Lampe ohne
Protokoll und ohne Verteidiger klammheimlich vernommen worden ist. Keine Probleme mit der
Strafprozeßordnung, es waren nur "Gespräche", und demgemäß gab es darüber auch nur "persönliche
Notizen" des Herrn Lampe. die inzwischen unter dem Namen "Lampe-Papiere" in die Justizgeschichte
eingegangen sind und sich inhaltlich als höchst unzuverlässig erwiesen haben.'Aber die Frucht dieser
Vorgespräche war durchaus gerichtsverwertbar.

Das richterliche Protokoll vom 4. Januar 1978, das mit der Erklärung des Beschuldigten Volker Speitel
beginnt, er wolle Angaben zur Sache machen und lege Wert darauf daß sein bisheriger Verteidiger nicht
vom heutigen Termin verständigt werde und auch beim heutigen Termin nicht anwesend sein solle,
legalisierte nachträglich die prozeßordnungswidrige Umgehung des Verteidigers, die uns bei Versuchen,
Kronzeugenkarrieren anzubahnen, immer wieder begegnet. In der Akte heißt es weiter, daß Volker Speitel
befragt worden sei, ob er in irgendeiner Weise durch Justizorgane oder durch die Polizei unter Druck
gesetzt worden sei, damit er Angaben mache. Nein, das sei nicht der Fall, erklärte der Beschuldigte. ihm
seien auch keine Versprechungen gemacht worden. Und dann wörtlich:

Ich habe lediglich die Zusicherung eines fairen Prozesses und darauf will ich mich berufen.

Also: weder Druck noch Versprechungen, aber die Zusicherung eines fairen Prozesses. Merkwürdig, diese
Zusicherung einer Selbstverständlichkeit. Jeder Angeklagte hat Anspruch auf ein faires Verfahren, nicht nur
der Kronzeuge. Wenn dem Kronzeugen nicht mehr als diese prozeßrechtliche Selbstverständlichkeit
zugesichert würde, stünden wir dann nicht in der Tat vor dem psychologischen Rätsel, daß "jemand mit
sehenden Augen etwas ausschließlich zu seinem Schaden und ohne irgendwelchen wahrnehmbaren Nutzen
tut"? Durchaus nicht, denn genau dies ist die Zauberformel, hinter der sich des Rätsels Lösung verbirgt: die
Zusicherung eines fairen Prozesses. Sie kehrt in den Protokollen, in denen Kronzeugenkarrieren
aktenmäßig beginnen, zu oft wieder, als daß man sie übersehen könnte. Diese scheinbare
Selbstverständlichkeit verrät ein Herrschaftswissen, dem die Unfairneß des gängigen Terroristenprozesses
bewußt ist, und statuiert die Ausnahme für Überläufer, daß für sie die Strafprozeßordnung gelten, daß
ihnen die im Grundsatz des "fair trial" enthaltenen Mindestanforderungen an ein rechtsstaatliches
Strafverfahren zugutekommen sollen. Aber die Zusicherung eines fairen Prozesses für Kronzeugen ist
darüber hinaus die Tarnbezeichnung für Freundschaftsdienste, die den Begünstigten nicht nur von der
terroristischen Feinderklärung ausnehmen, sondern ihn zudem von den Risiken eines im Ergebnis offenen
Strafprozesses dispensieren und ihm eine nachprozessuale Lebenshilfe garantieren, die den trüben Staatsjob
des Kronzeugen einigermaßen vergoldet.

Der Kronzeuge Karl-Heinz Ruhland

Den berühmtesten oder richtiger ruhmlosesten aller bisherigen Kronzeugen, Karl-Heinz Ruhland, lernte ich
im Proll-Prozeß persönlich kennen, nachdem mir die Protokolle seiner etwa 90 Vernehmungen schon zuvor
immer wieder als Grundstock des Beweismaterials in Terroristenakten begegnet waren. Die Frankfurter
Strafkammer hielt ihn für glaubwürdig, soweit er Astrid Proll der Teilnahme an Banküberfällen der RAF in
Berlin bezichtigte, was ihr immerhin eine Freiheitsstrafe von 5 1.12 Jahren einbrachte. Dabei setzte sich das
Gericht über Bedenken hinweg, die angesichts der üblichen Einleitung seiner Kronzeugenkarriere gegen die
Verwertbarkeit seiner Aussagen bestehen konnten. Daß ihm versprochen worden sei, er müsse keiner
Person, die er einer strafbaren Handlung bezichtigt habe, gegenübertreten und keine Beschuldigung in
Anwesenheit der beschuldigten Person wiederholen wollte ihm das Gericht nicht glauben. Es heißt dazu im
Proll-Urteil:

Die Vernehmung der Zeugen Ruhland, Zimniak, Wolf, Eimecke und Buddenberg hat indessen den Nachweis einer
bindenden Zusage nicht erbracht. Einzig der Zeuge Ruhland hat ausgesagt. die beteiligten Verhörspersonen (nämlich:
die anderen vier Zeugen, H.H.) hätten ihm ein derartiges Vorgehen fest versprochen.

Ich denke, es kommt auf den Empfängerhorizont an. Wenn Ruhland, ein geistig einfach strukturierter
Mensch, es anders verstanden hat, als die Vernehmungsbeamten es meinten, war der Tatbestand der
Täuschung gegeben. Denn sein Wunsch, nicht gegenübergestellt zu werden und nicht als Zeuge auftreten
zu müssen, war ihm, wie es im Urteil weiter heißt, "erkennbar von besonderer Wichtigkeit". Vor dem
Vorwurf der Täuschung, der Ruhlands Aussagen unverwertbar gemacht hätte (§ 136a StPO), suchte das
Urteil die Vemehmer durch die Erwägung zu schützen, es sei "nicht bewiesen", ob das Verhalten der
Beamten, insbesondere ihre Reaktion auf die mehreren Vernehmungsniederschriften vorangestellten
"Bedingungen" Ruhlands, geeignet war, bei diesem "den Eindruck hervorzurufen, er habe eine
uneingeschränkte Zusage erhalten". Der Beweis des Verfahrensverstoßes geht also nach dem Grundsatz in
dubio contra reum: im Zweifel gegen die Angeklagte Proll - wobei der Beweis wegen der Beteiligung
beamteter Zeugen praktisch ein Ding der Unmöglichkeit ist.

So heißt es denn auch, daß gegen die Aussage des Bundesrichters a.D. Buddenberg, er habe keine
Versprechungen gemacht, "keine Zweifel aufkommen". Das Gegenteil würde an Majestätsbeleidigung
grenzen. Streng nach der Hierarchie der Glaubwürdigkeit abgestuft heißt es bezüglich des
Kriminalhauptkommissars Zimniak, er sei "ein über seine Rechte und Pflichten genau unterrichteter
Polizeibeamter". Da könnten also schon Zweifel aufkommen, aber sie kamen nicht auf Er hat vielmehr
"glaubhaft bekundet, die Beamten hätten Ruhland lediglich erklärt, das Bundeskriminalamt werde sich im
Rahmen seiner Möglichkeiten dafür verwenden, seine Aussagen vor Bandenmitgliedern soweit wie möglich
geheimzuhalten". Zweimal "wenn möglich"- in einem Satz, da hätte Ruhland doch merken müssen, wie
viele Hintertüren die Beamten sich gelassen hatten. Und so fahrt die Urteilsbegründung ungeniert fort:

Daraus konnte der Zeuge nicht entnehmen, die Beamten hätten sich eines bestimmten Einflusses auch auf die
Maßnahmen unabhängiger Gerichte gerühmt.

Ruhland hätte natürlich wissen müssen, daß es unabhängige Gerichte gibt, zu deren "Maßnahmen" es
gehört, Zusagen der Ermittlungsbehörden zu ignorieren und unzulässige Vernehmungsmethoden
schonungslos aufzudecken. Zum Beispiel so:

Der Zeuge Zimniak hat anschaulich geschildert, die Beamten seien gezwungen gewesen, Ruhland entgegenzukommen,
um die Preisgabe der dringend benötigten Informationen zu erreichen und den informationsfluß in Gang zu halten.

Man hält die Luft an, weil der nächste Satz eigentlich nur lauten kann, daß damit der Zeuge Zimniak den
Rahmen des Zulässigen objektiv überschritten habe. Mitnichten:

Die Kammer glaubt ihm jedoch, daß er dabei den Rahmen des Zulässigen ebensowenig überschritt wie die Zeugen
Wolf und Eimecke, die ein derartiges Vorgehen ebenfalls in Abrede gestellt haben.

Welcher Art dieses dank der Interpretationshilfe beamteter Zeugen vom Gericht für zulässig gehaltene
Entgegenkommen zur Erlangung von Aussagen war, hat Ruhland 1971 in der Untersuchungshaftanstalt
Bonn einigen Haftgefährten erzählt, die später in mehreren Prozessen als Zeugen vernommen und für
glaubhaft erachtet worden sind. Danach hat Ruhland ihnen bei unterschiedlichen Anlässen berichtet, gegen
ihn sei anfänglich auch wegen versuchten Mordes ermittelt worden, später sei dieser Vorwurf aber
fallengelassen worden, weil er sich zur Zusammenarbeit mit der Sicherungsgruppe Bonn und zu Aussagen
über die Baader-Meinhof-Gruppe und deren Aktivitäten bereit erklärt habe. Der Verdacht, einen Mord
versucht zu haben, sei mit den Umständen seiner Festnahme in Oberhausen begründet worden, bei der er
eine durchgeladene Pistole gezogen haben. Ihm sei bedeutet worden, daß er deshalb mit einer
Freiheitsstrafe zwischen zehn und zwölf Jahren rechnen müsse. Von Beamten der Sicherungsgruppe oder
der Bundesanwaltschaft sei ihm eine wesentlich geringere, nämlich nur dreijährige Freiheitsstrafe für alle
seine Verfehlungen für den Fall zugesichert worden, daß er gegen Horst Mahler und andere Mitglieder der
Baader-Meinhof-Gruppe "auspacke"

Diese Darstellung kann einige Plausibilität für sich beanspruchen. Wer die Anfänge von
Kronzeugenkarrieren miteinander vergleicht, stößt immer wieder auf die gleichen Vernehmungsmuster.
Auch die gegenüber einem Beschuldigten unzulässige Zusicherung von Vertraulichkeit, die Ruhland in
Frankfurt nicht geglaubt wurde, finden wir in anderer Sache - nämlich bei dem Kronzeugen Bodeux

- wieder. Und wie anders sollen die Vernehmungsbeamten ihr Opfer, den potentiellen Informanten, zur
Kollaboration motivieren, wenn nicht durch das Ausspielen von Ängsten und Hoffnungen? An der
Einlösung ihrer Versprechungen dürften Vernehmer, denen die faktische Geltung zweier unterschiedlicher
Prozeßordnungen für Freunde und Feinde des Staates zur Selbstverständlichkeit geworden ist, kaum
zweifeln. Ihr Einfluß auf die Freund- Feind- Differenzierung wirkt sich entgegen der naiven Annahme der
Frankfurter Schwurgerichtskammer durchaus bestimmend auf die Prozeßführung unabhängiger Gerichte
aus. Das real existierende doppelte Prozeßrecht der Politischen Justiz macht die Ermittlungsbehörden zu
den wahren Herren des Verfahrens. Und das pflegen sie auch gegenüber ihrem Opfer, dem potentiellen
Kronzeugen, nicht zu verschweigen.

Ruhland hatte zwar keine Leiche im Keller, aber zur Drohung mit einer Anklage wegen versuchten Mordes
reichte das den Ermittlern zur beliebigen Verwendung verfügbare Material allemal. Ratten die
festnehmenden Polizeibeamten nicht einen versuchten Griff zur Waffe gesehen?

Der Vernehmungsbeamte Zimniak wurde im Proll-Prozeß als Zeuge vernommen. Er faßte den Beginn der
Ruhland- Vernehmungen so zusammen:

Herr Ruhland war ein kleiner Fisch. Wir haben deshalb auch gesagt: "Hören Sie mal zu, sagen Sie aus. Wenn Sie
nämlich nicht aussagen, dann laufen Sie Gefahr, daß Sie ein großer Fisch werden".

Ulrich Preuß sprach in seinem Plädoyer aus, wie Zirnniak es gemeint und Ruhland es verstanden haben
muß: "Wenn Sie nicht aussagen, dann machen wir Sie zu einem großen Fisch".

Zimniak hatte mit Ruhland das übliche "Vorgespräch" geführt, das die Stpo nicht kennt, so daß man sich
wohl auch von ihren Regeln entbunden fühlt. Einige Stunden habe dieses Vorgespräch gedauert, sagte
Zimniak. Es sei ihn gelungen, Ruhland zu überzeugen, Aussagen zu machen. Ein Protokoll sei erst am
folgenden Tag geführt worden. Ich zitiere wörtlich aus meinen stenografischen Mitschriften vom 16.11.1979:

Zimniak: Nachdem ich ihn überzeugen konnte, daß eine Aussage günstig ist für ihn, hat er zunächst einmal zu einem.
Teilkomplex Aussagen gemacht, und damit war der Einstieg gewonnen.

Vorsitzende: Worin sahen Sie das Günstige? Zimniak: Nun ja, er war dort in Untersuchungshaft' wegen des
Verdaches des versuchten Mordes, was allerdings später fallengelassen wurde. Dieser Verdacht bestand auf Grund der
Fesinahmesituation. Es war nicht ausgeschlossen, daß er seine Waffe gebrauchen wollte, um sich der Festnahme zu
entziehen,.. Die Schutzpolizisten hatten behauptet, Ruhland habe versucht, von der Waffe Gebrauch zu machen, um
sich der Festnahme zu entziehen, Diese Behauptung ist nicht weiter verfolgt worden.

Ein versuchter Mord, der durch Polizistenaussagen bewiesen werden kann, wird nicht weiter verfolgt. Das
ist natürlich günstig. Es kann nicht allzu schwer gewesen sein, Ruhland davon zu überzeugen. Wie es ihm
ergangen wäre, wenn er es auf einen Feindprozeß hätte ankommen lassen, wissen wir aus anderen Fällen.
Vielleicht hätte auch er sich einem Zeugen gegenübergesehen, der aus seinem Mund gehört hatte: "Schade,
daß ich von euch Schweinen nicht ein paar umgelegt habe" oder "Komm doch her, du Scheißbulle, damit
ich dich umlegen kann!" Aber nein, die Gefahr war gebannt. als Ruhland nach dem außerhalb des
Protokolls und der StPO geführten Vorgespräch überzeugt war, daß es für ihn günstiger sei, auszusagen.
Der von Polizisten, ebenfalls außerhalb des Protokolls, erhobene Vorwurf des versuchten Mordes fiel unter
den Tisch, ohne daß es überhaupt zur Einleitung eines formellen Ermittlungsverfahrens kam. Der
aussagewillige Ruhland hatte sich im Handumdrehen vom Staatsfeind in einen Staatsfreund verwandelt, für
den StpO und Strafrecht mal eben suspendiert werden.

Seine Partizipation an den Privilegien eines Staatsfreundes ging so weit, daß ihm über längere Zeit
monatliche Zahlungen in Höhe von jeweils 1000 DM zuflossen, die von einem anonymen Gönner mit dem
Decknamen "Freund" stammten. Pech für Heim Ruhland, daß die Proll- Verteidiger die
Überweisungsbelege in Händen hatten, als sie ihn danach befragten und in neue Lügen verstrickten. Aber
Lügen aus dem Munde eines Staatsfreundes lassen sich ausbügeln, selbst wenn sie die Form gerichtlicher
Zeugenaussagen haben. Die Freunderklärung zugunsten des Kronzeugen Ruhland reichte auch in das
Frankfurter Proll- Verfahren hinein und führte zu folgender Würdigung dieses Beweismittels:

Die Kammer trägt auch nicht deswegen Bedenken, dem Zeugen Ruhland zu folgen, weil er zweimal auch in einer
Hauptverhandlung bewußt die Unwahrheit gesagt hat, Der Beweggrund für die Falschaussagen ist eingrenzbar und
läßt insbesondere Auswirkungen auf die Schilderung seiner Erlebnisse als Mitglied der Gruppe nicht besorgen. Der
Zeuge hat in der Hauptverhandlung bekundet, er habe nicht gewußt, daß Überweisungen von monatlich 1.00(3 DM
in dem Zeitraum von April 1976 bis August 1978, die ihn unter dem Absender "W. Freund, Bad Godesberg"
erreichten, in Wirklichkeit vom Bundeskriminalamt herrührten. Demgegenüber ist aufgrund der Aussagen der
Polizeibeamten Bellach und Liepe über die Begleitumstände der Zahlungen kein Zweifel daran zurückgeblieben, daß
Ruhland die Quelle des Geldes kannte.<...) Aus dem Inhalt der Falschaussage ergibt sich jedoch lediglich, daß der
Zeuge den Eindruck vermeiden wollte, er habe finanzieller Vergünstigungen wegen ausgesagt, und daß er einen
derartigen Anschein mehr fürchtete als eine Bestrafung wegen falscher Aussage. Es ist allgemein bekannt, daß der
Zeuge Ruhland von teilen der Öffentlichkeit und der Presse als Werkzeug der Ermittlungsbehörden dargestellt wurde
und wird. Dem Zeugen Ruhland war es klar, daß die Entgegennahme von Zahlungen des Bundeskriminalamtes
derartigen Verdächtigungen Nahrung geben werde, worin ihm das Verhalten der Behörde, die Deckanschriften
benutzte, noch bestärken mußte. Es erschüttert die Glaubwürdigkeit des Zeugen nicht, daß er massiven öffentlichen
Angriffen gegen den Kern seines Selbstwertgefühls dadurch zu entgehen hoffte, daß er in einem eher nebensächlichen
Punkt, der für die Taten der Gruppe selbst ohne Belang ist, zu einer Unwahrheit Zuflucht suchte.

Eine einfühlsame Beweiswürdigung zur Motivation und zur Funktion von Lügen. Auch in der Zeugenrolle
ist die Lüge des Staatsfreundes verzeihlich.

Der Kronzeuge Ruhland bot das Bild eines zerstörten Menschen. Er hatte für seine Kollaboration mit der
Staatsgewalt zwar den Verzicht auf einen Feindprozeß, damit aber zugleich ein Leben in Angst, den Streß
des reisenden Kronzeugen und ein gebrochenes Selbstwertgefühl eingehandelt. Ruhland hielt dies für einen
schlechten Tausch. Er sagte auf entsprechende Fragen, daß er keine Aussagen gemacht hätte, wenn er dies
alles vorausgesehen hätte. Auch diese Erfahrung eines in 90 polizeilichen und gerichtlichen Vernehmungen
ausgepreßten und verschlissenen Kronzeugen ist zu bedenken, wenn um Kollaboration mit der Staatsgewalt
geworben wird.

Der Kronzeuge Gerhard Müller

Vielleicht wäre die Frankfurter Strafkammer, die den Vernehmern des Herrn Ruhland glaubte, sie hätten
bei Anbahnung von dessen Kronzeugenkarriere den Rahmen des Zulässigen nicht überschritten, kritischer
gewesen, wenn sie bedacht hätte, welches Ausmaß an Skrupellosigkeit höchster Amtsträger bei der
Gewinnung anderer Kronzeugen zutagegetreten ist.

Inder Nacht vom 21. zum 22Oktober 1971 wurde in Hamburg der Polizeibeamte Norbert Schmid erschossen
und an seinem Kollegen Heinz Lemke ein Mordversuch begangen. Diese Taten sind bis heute unbestraft,
obwohl der Täter bekannt ist. Er heißt Gerhard Müller und wurde zusammen mit Ulrike Meinhof im Juni
1972 verhaftet. Es gibt eine Zeugin der Mordtat, Margit Schiller, die damals ebenso wie Gerhard Müller
Mitglied der RAF war und mit ihm und einer dritten Person zusammen unterwegs war, um Kraftfahrzeuge
aufzubrechen und Wagenpapiere zu beschaffen. Sie hat als Zeugin im Stammheimer Baader- Meinhof-
Prozeß ausgesagt, sie habe gesehen, wie Müller in jener Nacht den Polizeibeamten Schmid erschossen habe.
Sie habe beobachtet, wie Schmid das aus Müller und der dritten Person bestehende Paar verfolgte, es
schließlich erreichte und der Frau die Handtasche entriß.

Müller war neben ihr, hielt seine Pistole in der Hand und schoß auf Schmid. Schmid ließ die Handtasche los und fiel
zu Boden. Müller und die Person liefen weiter, und dabei hörte ich weitere Schüsse.

Schmid war von vier Kugeln getroffen zusammengebrochen, sein Kollege Lemke warf sich zu Boden und
feuerte aus seiner Dienstpistole. Drei Personen entkamen jedoch in der Dunkelheit. Lemke, selber am Fuß
verwundet, hörte seinen in einer Blutlache liegenden Kollegen noch "Hilfe, Hilfe" flüstern, bekam auf eine
Frage aber schon keine Antwort mehr.
Unmittelbar nach der Schießerei stürmte Müller in die konspirative Wohnung, von der die Aktion ausging,
und brüstete sich, einen Polizisten getötet zu haben:

"Ich habe einen Bullen umgelegt."

Gerhard Müller erhielt wegen anderer Delikte 10 Jahre Freiheitsstrafe - es ging auch dort um die
Beteiligung an Mordtaten, die jedoch, anders als üblich, nur als Beihilfe eingestuft wurden -, wegen des
Mordes an dem Polizeibeamten Norbert Schmid wurde Müller freigesprochen. Der Zeuge Lemke konnte
den Angeklagten nicht mehr mit letzter Sicherheit identifizieren. Dieser hatte allerdings inzwischen seine
Haarfarbe gewechselt und in der Haft rund 30 Pfund zugenommen. Sein Erscheinungsbild halle sich also -
ganz zufällig - stark verändert. Aber vielleicht hatte auch den Zeugen Lemke schon die Botschaft erreicht,
daß sich der Mörder Müller inzwischen hinter den Kulissen in einen Staatsfreund verwandelt hatte und ein
Wiedererkennen unerwünscht sei.

Und so reichten auch die Fingerabdrücke, die Müller in der konspirativen Wohnung hinterlassen hatte, und
die Aussagen seiner einstigen Genossen, die in jener Nacht mit ihm zusammen waren, nicht aus, ihn
lebenslänglich hinter Gitter zubringen. Schon nach 6 1/2 Jahren war er wieder frei und ist jetzt
"unbekannten Aufenthalts". Ich habe einen seiner letzten Kronzeugenauftritte erlebt, in einem Lüneburger
Unterstützerprozeß, wo er in einem schußsicheren Glaskasten in den Saal gefahren wurde und keine sehr
gute Figur machte. Mit Genehmigung des Gerichts hatte ich meinen Mandanten seinen Platz mit einer
anderen Person tauschen lassen, was prompt zu einer Verwechslung und infolgedessen zum Freispruch
führte. Vielleicht gab dieser Fall den Anstoß, den Kronzeugen Müller aus dem Verkehr zu ziehen und nur
noch seine nicht so leicht zu irritierenden Vernehmungsprotokolle für ihn sprechen zu lassen.

Wie aus dem Mörder Müller ein Staatsfreund gemacht wurde, hat die an paradoxe Justizpraktiken
gewöhnte deutsche Öffentlichkeit mit dumpfer Gleichgültigkeit hingenommen, obwohl einige rechtlich
gesinnte Journalisten Anstoß nahmen. So war im "Spiegel" vom 14.5.1979 zu lesen:

Daß er nun nicht mehr in seiner Zelle sitzt, ist das Resultat einer beispiellosen Manipulation des Rechts. Wohl vor
jedem deutschen Schwurgericht wäre Gerhard Müller unter normalen Umständen die lebenslange Freiheitsstrafe
wegen mehrfachen Mordes sicher gewesen - aufgrund seiner eigenen Aussagen. Doch es ging nicht mit rechten Dingen
zu- Das Lebenslang wurde ihm geschenkt: Es war der Kaufpreis, um seine Zunge zu lösen...
Das Geschäft mit Gerhard Müller war ein planmäßig vollzogener Rechtsbruch. In die Affäre verstrickt sind
Justizangehörige und Politiker von hohem Rang. Gesetzliche Bestimmungen wurden verletzt, rechtsstaatliche
Prinzipien unterlaufen, und der Verdacht auf Begünstigung im Amt reicht bis in Bonner und Karlsruher Chcfetagen.

Auch Gerhard Müllers Kronzeugenauftritte wurden von hochkarätigen Komparsen sekundiert.


Generalbundesanwalt Buback verneinte, als Zeuge in Stammheim vernommen, daß Müller für seine
Zeugenrolle gegen Baader und Genossen

in irgendeiner Form Vorteile versprochen oder Nachteile angedroht worden sind oder in anderer Weise Einfluß auf
den Inhalt seiner Aussage genommen worden ist.

Der "Spiegel" kommentierte:

Einfluß auf den Inhalt sicher nicht. Einfluß darauf daß sich den Anklägern diese Quelle überhaupt erschloß - das blieb
bei Bubacks Wortlaut offen. Vorteile versprochen? Die waren bereits gewährt.

Müllers Freundprozeß wurde nämlich durch eine Aktenmanipulation programmiert, die, wenn alles mit
rechten Dingen zuginge, alle Zeugenaussagen dieses Staatsfreundes unverwendbar machen müßten. Der
"Spiegel":

Beweismaterial, das zum Komplex der Hamburger Anklage (gegen Müller) gehörte, den Geschehensablauf schwerster
Verbrechen betraf und das Urteil hätte beeinflussen müssen, wurde den Richtern vorenthalten. Schon im Frühjahr
1975 mehrere Wochen bevor sein Prozeß in Hamburg überhaupt begann - hatte Müller sein Wissen ausgeplaudert und
sich dabei auch selber schwer belastet. Ermittlungsbeamte der Abteilung K 421 vom Hamburger Landeskriminalamt
und deren Kollegen vom BKA brachten die Müller- Memoiren als Gesprächsnotizen, Vermerke, Gedächtnisprotokolle
und Vernehmungsniederschrift'en auf mehr als 200 Blatt zu Papier. Obwohl es zum erheblichen Teil zur Sache
gehörte, wurde das brisante Beweismaterial niemals in den Müller- Prozeß eingeführt, sondern von den Karlsruher
Bundesanwälten unter Verschluß genommen.

Als dem Vorsitzenden des Hamburger Schwurgerichts, das über Gerhard Müller und dessen Mitangeklagte
Irmgard Möller zu urteilen hatte, die Existenz jener zurückgehaltenen Akte bekannt wurde, forderte er
diese telefonisch beim Generalbundesanwalt an. Mit dem Erfolg, daß dieser eine Erklärung des damaligen
Bundesjustizministers Vogel (SPD> herbeiführte, wonach das Bekanntwerden des Inhalts dieser Akten dem
Wohle des Bundes Nachteile bereiten würde, was ihn nach § 96 StPO von der Verpflichtung entband, die
Akten vorzulegen. Das Hamburger Schwurgericht war gehindert, seiner gesetzlichen Pflicht zur
Wahrheitsfindung nachzukommen.

So erfuhr das Gericht auch nicht, daß Müller mit einem "Harry" identisch war, der zusammen mit einem
anderen Kronzeugen, Dierk Hoft Bomben gebastelt und transportiert hatte, bei deren Explosion vier
Menschen getötet und 20 verletzt worden sind. Dazu der "Spiegel":

Daß Müller sich selber schon neun Monate vorher als jener im BM-Geschehen recht aktive "Harry" bekannt hatte,
konnten die Hamburger Richter dank der Prozeßstrategie der Bundesanwälte nicht wissen.
Das Lebenslang jedenfalls blieb ihm erspart, und wenn die Bundesanwaltschaft, gedeckt vom Bundesjustizminister,
auf diesen Prozeßausgang abgezielt hat, um Müllers späteren Redefluß zu fördern, so träfe die Behördenspitzen in
Karlsruhe und in Bonn der Verdacht der Strafvereitelung im Amt. Denn ob jener StPO-Paragraph 96, der die
Geheimhaltung bestimmter Aktenstücke regelt, auch dafür herhalten daß schwerste Verbrechen bewußt von der
Strafverfolgung auszuklammern, ist juristisch zumindest umstritten.

Wie es weiterging, zitiere ich sicherheitshalber ebenfalls nach dem "Spiegel", der das Risiko von
Gegendarstellungen, Beleidigungsanzeigen und dergleichen Schwierigkeiten, in diesem Lande die Wahrheit
zu sagen, schon hinter sich hat:

Der glimpfliche Richterspruch motivierte Müller offenkundig dazu> der so kulanten ,Justiz nun an anderer Steile aus
der Verlegenheit zu helfen. Kaum war die gesetzliche Rechtsmittelfrist verstrichen und die Gefahr für ihn vorüber, da
gab er Zeichen, er sei nun bereit, sein Wissen nicht nur "gesprächsweise" preiszugeben, sondern sich auch förmlich
vernehmen zu lassen (-.-) Nachdem IIoff seinen Sprengstoff- Lieferanten und Bastel -Bruder vor dem Hamburger
Schwurgericht nicht wiedererkennen wollte oder konnte, lag es auch für Müller nahe> den Frankfurter Bombenbauer
nun seinerseits wieder aus seinem Bekanntenkreis zu streichen. Das juristische Theater am Rande der Legalität war
nicht schlecht inszeniert: Was Müller vom 31. März 1976 an - vierzehn Tage nach seiner Verurteilung - den
Vernehmern zu Protokoll gab, ließ die Bundesanwaltschaft unter neuem Aktenzeichen abheften...

Ein neuer Aktentrick, der dazu führte, daß die ursprüngliche Geheimakte nicht nur Gerichten und
Verteidigern, sondern sogar dem Anklagevertreter des Generalbundesanwalt im Baader- Meinhof-
Verfahren, Bundesanwalt Wunder, vorenthalten wurde, so daß dieser eklatante Widersprüche zwischen
Müller- Aussagen vor und nach seinem Freundprozeß nicht kannte. Kommentar des "Spiegel":

Wunders Irrtum war offenkundig vorprogrammiert, die Glaubwürdigkeit des "Kronzeugen" durfte nicht noch mehr
ausgehöhlt, der erwünschte Prozeßausgang nicht gefährdet werden.

Es ging auch alles nach Wunsch, wie man weiß. In Stammheim kam es auf einen Rechtsbruch mehr oder
weniger nicht an.

In weniger gewichtigen Verfahren ist es seitdem zu Freisprüchen gekommen, weil der Kronzeuge Müller
fehlte und das BKA stereotyp und mit der ihm eigenen Glaubwürdigkeit behauptete, über seinen Verbleib
nichts zu wissen. Der gründlich recherchierte "Spiegel"- Artikel aus dem Jahr 1979 endet:
Stuttgarter Justizinsider wollen wetten, der plötzlich verschollene Müller werde ebenso plötzlich auch wieder
hergezaubert, wenn mal wieder Hochkarätiges ansteht. Bis dahin bestimmt die Polizei, welches Gericht in weichem
Prozeß die Wahrheit ermitteln darf oder auch nicht.
Ein Teujener Geheimakten 3 ARP 74/751 ist noch heute unter strengstem Amtsverschluß - etwa 15 Blatt.
Prozeßbeteiligte aus l>erroristenvetfahren vermuten in den Papieren noch weitere Details über den Handel von
Sicherheitsbehörden mit Verbrechern. Womöglich auch Vorgänge, die, würden sie ruchbar, den Zeugen Müller noch
einmal auf die Anklagebank brächten - zum Beispiel ein Geständnis über den Hamburger Polizistenmord.

Der Kronzeuge Jürgen Bodeux

Bei dem Kronzeugen Jürgen Bodeux, der die skandalöse Geschichte des Berliner Schmücker-
Mordprozesses 15 Jahre lang begleitete, finden wir alle schon fast zum Gewohnheitsrecht erstarkten
Rechtsbrüche des Ermittlungsverfahrens wieder, mit denen man den Verteidiger umgeht, um mit
Kronzeugenkandidaten ins Gespräch zu kommen. Aber weil der Verteidiger, der Hamburger Rechtsanwalt
Wolf Dieter Reinhard, auch die Mandate weiterer Tatverdächtiger im Schmücker- Mordfall übernommen
hatte - was damals noch zulässig war -, mußte man sich etwas einfallen lassen, um ihn insgesamt
loszuwerden. Und mit Bodeux, einem nicht gerade durch Charakterstärke ausgezeichneten jungen Mann,
ließ sich eine Intrige spinnen, die nicht nur das regelwidrige Vorgehen der Vernehmer nachträglich
glänzend zu rechtfertigen schien, sondern Reinhard fast seinen Beruf gekostet hätte.

Bodeux wurde als Mittäter des Mordes an Ulrich Schmücker, einem vom "Verfassungsschutz" als V-Mann
angeworbenen ehemaligen Mitglied der "Bewegung 2. Juni", verdächtigt. 1976 wurde er wegen dieses
Mordes auch verurteilt

- zu lediglich 5 Jahren Jugendstrafe, wovon ihm später die Hälfte erlassen wurde. Als
Hauptbelastungszeuge der Staatsanwaltschaft gegen die anderen Angeklagten hatte er sich dieses
freundliche Urteil "redlich" verdient.

Bodeuxs Kronzeugenkarriere begann, als ihn zu Beginn des Ermittlungsverfahrens zwei Kriminalbeamte
und ein Staatsanwalt in der Haftanstalt aufsuchten, um mit ihm nach bewährtem Muster seine
Aussagebereitschaft zu erörtern - selbstverständlich ohne Benachrichtigung des Verteidigers, der seinem
Mandanten den nicht nur in Terroristen- Sachen üblichen Rat gegeben halle, keine Aussagen zu machen,
bevor ihm nicht Akteneinsicht gewahrt und damit die Möglichkeit zu sachgemäßer Beratung eröffnet war.
Als sich Erfolge einstellten, reisten noch weitere Beamte aus Berlin an, Staatsanwalt Przytarski und zwei
Kriminalbeamte der zur Aufklärung des Schmücker- Mordes eingesetzten Sonderkommission.

Der Verteidiger, Wolf Dieter Reinhard, erfuhr nichts von diesem Reigen unseliger Geister, der sich da in
der Zelle seines Mandanten ein Stelldichein gab. Er erfuhr auch nichts davon, daß ein anderer Anwalt, den
die Ermittler empfohlen und mit ungewöhnlicher Fürsorglichkeit empfangen hatten - er war von den
Herren sogar am Flugplatz abgeholt worden, was sonst noch keinem Terroristenanwalt widerfahren ist -,
die Verteidigung übernommen hatte, ohne den mindesten standesrechtlichen Benachrichtigungspflichten
nachgekommen zu sein. Dieser hatte, wie man das von ihm erwartete, ohne Aktenkenntnis grünes Licht für
Aussagen gegeben und seinen neuen Mandanten der intensiven Obhut der Vernehmungsbeamten
überlassen. Reinhard, der noch an ein Fortbestehen des anwaltlichen Vertrauensverhältnisses glaubte,
erfuhr von dem Entzug des Mandats erst, als er Bodeux eines Tages in der Haftanstalt besuchen wollte.
Das alles war, wie erst nachträglich klar wurde, darauf angelegt, Reinhard in offene Messer laufen zu
lassen.

Der Kollege Reinhard wurde eines Tages zu früher Morgenstunde durch einen lauten Knall geweckt;
Polizisten hatten die Tür seiner Wohnung aufgesprengt. Man hatte auf Aussagen seines treulosen
Mandanten Bodeux einen Haftbefehl gestützt, der ihm Unterstützung einer kriminellen Vereinigung
anlastete. Die Medien meldeten in riesigen Schlagzeilen "Rechtsanwalt verhaftet", "Er forderte einen Anteil
an der Beute", "Er billigte den Fememord in Berlin", "Er stiftete zu falschen Aussagen an" (BZ vom
27.11.1974) und prangerten den Kollegen Reinhard durch große Portraitfotos mit Namensnennung an. Im
Text hieß es:

Bei der "Aktion Winterreise", einem bundesweiten Anschlag gegen die Anarchisten, ging der Polizei ein "dicker
Fisch" ins Netz...

Auch Springers "Welt" sparte nicht an Platz, um ihren Lesern anschaulich zu machen, wie dieser "Anwalt
der Baader- Meinhof- Bande", ein "Anwalt, der Beute forderte", aussieht. Eine Durchsicht der damaligen
Pressemeldungen bietet das Bild einer Diffamierungskampagne, die in der Person des Hamburger Kollegen
die gesamte Gruppe der sogenannten Terroristenverteidiger treffen und in den Verdacht der
Komplizenschaft mit der "Baader- Meinhof- Bande" bringen sollte.

Heute weiß man, daß sich alle Vorwürfe gegen Reinhard einzig und allein auf Aussagen des Herrn Bodeux
stützten, während sie dem unwissenden Publikum mit der damals noch in breiten Kreisen als seriös
geltenden Herkunftsangabe "Bundesanwaltschaft" verkauft wurden. Sie erwiesen sich vor Gericht als
unhaltbar. Aber sie reichten zur öffentlichen Diffamierung, zur Inhaftierung und staatsanwaltschaftlichen
Beschuldigung eines bis dahin unbescholtenen Rechtsanwalts. Und zur Fortsetzung einer
Verleumdungskampagne gegen Rechtsanwälte, die im Rahmen ihres Berufes den rechtlichen Schutz von
sogenannten Terroristen übernommen hatten.

Zu den Beamten, die Bodeux hinter dem Rücken seines Verteidigers vernahmen, gehörte, wie gesagt, der
Berliner Staatsanwalt Przytarskl. Über die von ihm unter Assistenz dreier Kriminalbeamter am 23. und 24.
September 1974 geführten mehrstündigen Vernehmungen gelangten weder Protokolle noch Vermerke zu
den Akten, so daß der gutgläubige Leser den Akten entnehmen mußte, die erste Vernehmung des Jürgen
Bodeux habe erst am 9. Oktober 1974 stattgefunden, zu einem Zeitpunkt, als Rechtsanwalt Reinhard das
Mandat bereits gekündigt worden war. Noch das erste in der Schmücker- Mordsache ergangene Urteil des
LG Berlin vom 22.6.1976, das nur hinsichtlich Bodeux rechtskräftig geworden ist, ging davon aus, daß
Bodeux erstmals am 9. Oktober 1974 als Beschuldigter vor dem Amtsrichter Eimer in Gießen die Tat in
großen Zügen geschildert habe. Als Anklagevertreter amtierte in der Berliner Hauptverhandlung Herr
Staatsanwalt Przytarskl, der es besser wußte, aber schwieg. Er hatte auch dafür gesorgt. daß in dem
Gießener Vernehmungsprotokoll seine Anwesenheit nicht erwähnt wurde. Die Wahrheit über den Beginn
dieser Kronzeugenkarriere stand nicht in den Akten. Sie kam erst im Verlaufe der Hauptverhandlung
gegen Rechtsanwalt Reinhard heraus, die mit Freispruch endete.

Reinhards Verteidigung, an der ich zusammen mit der Kollegin Leonore Gottsehalk-Solger und den
Kollegen Bernt Niese und Wolf Römmig beteiligt war, konnte nicht nur Herrn Staatsanwalt Przytarskl, als
Zeuge vernommen, zu dem Eingeständnis der nichtprotokollierten Vernehmungen und zur Vorlage der von
ihm hierüber angefertigten Vermerke veranlassen; sondern förderte zudem Tonbänder zutage, auf denen
die bisher geheimgehaltenen frühen Bodeux- Vernehmungen festgehalten waren. Aus diesen Beweismitteln
ließ sich der Beginn der Kronzeugenkarriere des Jürgen Bodeux minutiös rekonstruieren. Es ergab sich, daß
Bodeux von mehreren Vernehmungsbeamten, auch von Przytarski, Vertraulichkeit zugesichert worden war
- ein gegenüber einem Beschuldigten unzulässiges Versprechen im Sinne des § 136a StPO. Die 13.
Strafkammer des LG Berlin zog im den Substituten, der von mehr als 50 Schrotkugeln in Kopf und
Oberkörper getroffen wird und zwei Tage später stirbt. Seine Begleiterin kommt mit einem Schock davon.
Einer der Insassen des roten VW schlägt die Fensterscheibe der Fahrertür des BMW ein und greift sich den
Geldkoffer. Die Täter entkommen mit einem Opel Rekord, dessen Fahrer, einen Unfall vermutend, gehalten
hatte und zum Aussteigen gezwungen worden war. Das Fluchtfahrzeug wird noch innerhalb des
Fahndungsrings verlassen aufgefunden. Wie die Täter ihre Flucht fortgesetzt haben, bleibt ungeklärt.

Die Spurensicherung ist unergiebig, aber den Kriminalbeamten fallen Parallelen zu einem früheren Raub
auf, der elf Monate zurückliegt: In beiden Fällen ist die gleiche Firma beraubt worden. Beide Taten wurden
um dieselbe Tageszeit - etwa 19 Uhr - vor derselben Bank verübt. Beide Tatfahrzeuge wurden in der
gleichen, unüblichen Arbeitsweise und im selben Gebiet gestohlen. In beiden Fällen machten die Täter ohne
zwingende Gründe und ohne Vorwarnung von der Schußwaffe Gebrauch. Undsoweiter. So befaßt man sich
noch einmal mit dem früheren Raub und stellt fest, daß es da eine brauchbare Fingerspur gibt.

Von zehn Tatverdächtigen, die sich bei weiteren Ermittlungen herausschälen, können acht ausgeschieden
werden. Es verbleiben zwei: Jürgen Bodeux und seine damalige Freundin. Von diesen beiden Personen
fehlen jedoch Vergleichsspuren. Sonderbarerweise unterbleibt trotz des Verdachts deren Anfertigung.

Als am 5. Juli 1984 die Verteidigung im Berliner Schmücker- Mordprozeß beantragt, die in der Porzer
Raubmordsache gesicherte Tatortfingerspur beizuziehen, stellt sich heraus, daß die den ersten Porzer Raub
betreffende Akte einschließlich der Tatortfingerspur zwischenzeitlich vernichtet worden ist. Die
Verteidigung gebt den Umständen dieser Vernichtung nach und erfährt, daß die Akte bis zum Jahre 1994
hätte aufbewahrt werden müssen, jedoch bereits 1981 aufgrund eines "bedauerlichen Versehens" vernichtet
worden sei.

Auch Doubletten der Fingerspuren, die bei schweren Straftaten regelmäßig angefertigt und bei den
Landeskriminalämtern und beim Bundeskriminalamt gespeichert werden, gibt es in diesem Fall nicht.

Einer der Verteidiger im Schmücker- Mordprozeß, Bernd Häusler, hat in seinem Buch "Der unendliche
Kronzeuge" den sonderbaren Umgang mit den Beweismitte In, die Jürgen Bodeux und die Porzer Raub
morde betreffen, detailliert dargestellt. Durch ein Telefongespräch mit einem nach Neuseeland
ausgewanderten Kriminalbeamten kommen die Verteidiger auf die Spur von gesperrten Akten, deren
Existenz mehrere beamtete Zeugen unter Eid bestritten hatten. Aber auch diese Spur endet in der
Herausgabe von belanglosen Papierschnitzeln Was ein an Wahrheitsfindung interessiertes Gericht wirklich
über Jürgen Bodeux wissen müßte, blieb zu seinem und zum Wohle des Staates geheim.

Sein Deal mit der Staatsgewalt hat ihm ein mildes Urteil und vorzeitige Haftentlassung, den anderen
Tatverdächtigen aber den bisher längsten Prozeß der deutschen Justizgeschichte eingebracht. Denn der
Versuch, den Kronzeugen und seine staatlichen Hintermänner zu schützen, war mit Aktenmanipulationen,
Beweismittelunterdrückungen und sonstigen Rechtsverletzungen verbunden, die selbst für
Terroristenprozesse zuviel waren und genügend öffentliches Aufsehen erregten, so daß der BGH sich
dreimal hintereinander zur Aufhebung der gegen die angeklagten Tatgenossen des Jürgen Bodeaux
ergangenen Urteile genötigt sah.

Am 28. Januar 1991 wurde der Schmücker- Prozeß nach insgesamt l5jähriger Verfahrensdauer eingestellt.
Die Vorsitzende Richterin der 18. Großen Strafkammer des Landgerichts Berlin, Ingeborg Tepperwien,
begründete diese Entscheidung, wie die "taz" am 29.1.1991 berichtete, damit, daß die fünf Angeklagten in
ihrem Recht auf ein faires Verfahren massiv beeinträchtigt worden seien. Durch die überlange Prozeßdauer
und die zahllosen, dem Gericht und der Verteidigung vorenthaltenen Akten und Beweismittel seien
"fundamentale Grundsätze des Rechtsstaates verletzt worden". Es habe ein die Grenzen der
Rechtsstaatlichkeit überschreitendes "geheimes Zusammenspiel vom Berliner Landesamt für
Verfassungsschutz und Staatsanwaltschaft" gegeben. Auch unzulässige Versprechungen von Strafmilderung
gegenüber dem Kronzeugen Bodeaux wurden in diesem Zusammenhang erwähnt. Das Fazit des Gerichts
lautete nach dem Bericht der "taz":

Über Jahre hinweg haben zwei Verfahren stattgefunden.. eines im Gerichtssaal und eines hinter den Kulissen, gegen
das sich die Angeklagten gar nicht wehren konnten, weil sie davon keine Kenntnis hatten.

Bei Peter-Jürgen Boock hätte es keiner Vergewaltigung des Rechts bedurft, um ihn mit einer zeitigen
Freiheitsstrafe davonkommen zu lassen. Um Boock einen fairen Prozeß zu machen, bedurfte es nicht der
Verheimlichung von Akten oder sonstiger Manipulationen des Rechts. Man brauchte nur zu glauben, was
nicht zu widerlegen war und letztlich durch die Konsequenz seines Verhaltens bestätigt wurde. Hier hatte
man, wenn man wollte, den geradezu idealtypischen Aussteiger aus der RAF, an dem sich
Glaubwürdigkeit des Staates demonstrieren ließ. Aber in Karlsruhe wollte man etwas anderes: Rache für
die Weigerung, mit der Staatsgewalt zu kollaborieren.

Wie angenehm der Umgang mit der Staatsgewalt sich hätte entwickeln können, wenn Boock auf die
Wünsche der Bundesanwaltschaft eingegangen wäre, ließ unsere erste Begegnung im Hamburger
Polizeipräsidium im Januar 1981, einen Tag nach Boocks Festnahme, ahnen. Da war noch alles offen, Boock
noch ein potentieller Kollaborateur, sein Anwalt vielleicht ein Kollaborationsgehilfe. So kamen wir beiden
Hoffnungsträger der Staatsgewalt unter Bedingungen zusammen, denen wir uns später nur mit amüsierter
Bitterkeit erinnern mochten. Undurchsucht gelangte der Terroristenanwalt zu seinem Mandanten, den er
unüberwacht und ohne Trennscheibe stundenlang sprechen durfte. Terrorist und Anwalt lernten die
freundwillige Sonnenseite der Ermittler kennen und durften in dieser Stunde Null eines mit Lebenslänglich
und Proklamation von Gnadenunwürdigkeit endenden Verfahrens einen Hauch jenes lauen Windes
verspüren, der Verrätern in ihr Fähnchen zu wehen pflegt. Aber dieses staatliche Wohlwollen wahrte nur so
lange, bis der vom Beschuldigten und seinem Verteidiger gemeinsam getragene Entschluß bekanntgegeben
worden war, die Kollaboration mit den Ermittlungsbehörden zu verweigern.

Dreimal wurde Boock von hochkarätigen Ermitteln aufgesucht, am 6. Februar, am 6. März und am 6. April
1981, und zu Aussagen gedrängt. Zweimal erschien der Oberstaatsanwalt Dörfler, und einmal gab ihm
sogar der Bundesanwalt Zeis die Ehre. Wie von anderen Kronzeugenanbahnungen hinreichend bekannt,
fanden alle diese Vernehmungsversuche unter dem Namen "Gespräche" und ohne die gesetzlich
vorgeschriebene Benachrichtigung des Verteidigers statt. Später behauptete man, Boock habe ausdrücklich
verlangt, daß sein Anwalt nicht benachrichtigt würde, auch habe das erste Gespräch. an dem Zeis und
Dörfler teilnahmen, auf Boocks Wunsch stattgefunden.

Daß auch das zweite und dritte Gespräch von Boock gewünscht worden sei, und daß auch hierbei die
versäumte Benachrichtigung seines Verteidigers auf seinen Wunsch zurückgehe, konnte schlechterdings
nicht behauptet werden. Nach dem zweiten Versuch hatte ich Dienstaufsichtsbeschwerde gegen
Oberstaatsanwalt Dörfler erhoben. Ich zitiere mich selbst:

Herr Oberstaatsanwalt Dörfler hat am Freitag "ergangener Woche an einem erneuten Vernehmungsversuch meines
Mandanten Peter-Jürgen Boock teilgenommen. ihm ist bekannt, daß ich mündlich und schriftlich wiederholt
nachdrücklich erklärt habe, daß mein Mandant zur Zeit nicht bereit ist, irgendwelche Aussagen zur Person oder zur
Sache zu machen, ich habe bereits zu dem ersten Versuch, meinen Mandanten unter Umgehung seines Anwalts zum
Zwecke der Vernehmung nach Karlsruhe zu verlegen, Herrn Dörfler gegenüber telefonisch das Nötige gesagt.
Gleichwohl ist jetzt der zweite gleichartige Versuch hinter meinem Rücken unternommen worden. Es ist ganz
offensichtlich, daß hier der erklärte Wille meines Mandanten, von seinem Aussageverweigerungsrecht Gebrauch zu
machen, mißachtet wird, und zwar unter Ausnutzung der psychischen Situation meines Mandanten.

Boock befand sich damals in einem äußerst labilen Gemütszustand. Nachwirkungen des Drogenkonsums
führten zu angstbesetzten Halluzinationen und depressiven Verstimmungen, in denen er mehr als einmal
selbstmordgefährdet war. Mehr als einmal sandte Boock Hilferufe an mich aus, auch an jenem 6. Februar,
an dem er angeblich eine Vernehmung in Abwesenheit seines Verteidigers gewünscht haben soll. Es ist fast
ein Wunder, daß es den Ermittlern trotz der erbärmlichen Konstitution ihres Opfers nicht gelungen ist, aus
Boock einen Kollaborateur zu machen. Ihr begreiflicher Zorn richtete sich zunächst gegen den Verteidiger,
der, wie sie richtig vermuteten, den Widerstand seines Mandanten gestärkt hatte. Am liebsten hätten sie
sicher meine Ausbootung nach dem Muster Bodeux/Reinhard betrieben. Ich war jedenfalls auf alles gefaßt.
Doch es blieb bei erfolglosen Anträgen, mich als Pflichtverteidiger zu entschlagen und gegen mich
Ehrengerichtsverfahren einzuleiten.

Dem Mandanten aber setzte man unbeeindruckt von Protesten und Beschwerden unter Umgehung seines
Verteidigers zu, sich für eine Kollaboration mit der Staatsgewalt zu entscheiden. Man deutete in versteckten
Drohungen an, daß der Besuch seiner Lebensgefährtin unterbunden werden könne, lockte und drohte mit
der Alternative, in Hamburg oder in Stammheim anzuklagen. Man setzte eine letzte Bedenkzeit von 14
Tagen, nach deren Ablauf "der Zug abgefahren" sei, und man setzte dem erklärten Vertrauen des
Beschuldigten zu seinem Anwalt die brutale Prognose entgegen: "Mit uns haben Sie es länger zu tun als
mit irgend jemand sonst." Und man unternahm ungeachtet der Dienstaufsichtsbeschwerde und
wiederholter Proteste des Beschuldigten und seines Rechtsanwalts noch eine dritten Versuch, Boock hinter
dem Rücken seines Verteidigers zu vernehmen. Als Boock auch da standhaft blieb, war der Zug abgefahren.
Eine seltsame Metapher, die wohl nur von jemandem gebraucht werden kann, der sich mit den
unterschiedlichen Fahrtzielen für Staatsfeinde und Staatsfreunde gut auskennt.

Jahrelang hat Kurt Rebmann als Generalbundesanwalt um die Legalisierung des Kronzeugendeals
gekämpft, den er und sein Amt auch ohne gesetzliche Grundlage seit langem betrieben haben. Sein
Geschäft, legal oder illegal, hat bisher nichts weiter erbracht, als daß ein paar Morde ungesühnt geblieben
und ein paar Gefangene, die den Verlockungen der Kollaboration widerstanden haben, aufgrund windiger
Beweise für Morde bestraft worden sind, die sie nicht begangen haben. Dieser Mann in Karlsruhe
personifizierte eine Form staatlichen Terrors, die das terroristische Syndrom immer wieder neu infiziert,
statt zu heilen. Daß staatliche Rückkehrangebote an sogenannte Terroristen, selbst wenn sie ehrlich gemeint
sein sollten, am Kronzeugeninteresse dieses Generalbundesanwaltes scheitern müßten, ist bei den Bonner
Gesetzesmachern offenbar nicht begriffen worden. Daß seit Peter-Jürgen Boocks Niedermachung in einem
spektakulären Feindprozeß kein RAF-Aussteiger von nennenswerter Bedeutung in Empfang genommen
werden konnte, hätte sie eigentlich stutzig machen müssen. Aber sie scheinen nie die Überlegung angestellt
zu haben, wie denn Ausstieg aus der RAF praktisch vor sich gehen soll, wenn die Genossen des
potentiellen Aussteigers mit dessen Verrat rechnen müssen. Die Zeiten, da man die RAF verlassen konnte,
sind vorbei, seit Rebmanns Strategie dem Aussteiger nur die Alternative Verrat oder Lebenslänglich läßt.
Für Lebenslänglich kommt keiner, und den potentiellen Verräter läßt die Gruppe nicht laufen.

Die Kronzeugenregelung zielt denn auch weniger auf den Rückkehrer als auf Gefangene ab, die den
Erpressungsversuchen der Staatsgewalt schutzlos ausgeliefert sind. Der Terror gegen Gefangene, die man
hat, kann denen, die man noch nicht hat, nur als unüberhörbares Warnsignal dienen, sich auf keinen Fall in
die Hände dieser Kronzeugenfänger zu begeben, mögen sie auch noch so süß flöten.

Ihr Konzept hat sich von der propagierten Zielsetzung, den Terrorismus klandestiner Gruppen zu
bekämpfen, weit entfernt und als legaler Staatsterror verselbständigt. Ihre Vollmacht, Kollaboration mit der
Staatsgewalt zum Kriterium der Unterscheidung von Freund und Feind zu machen und eine Selektion
vorzunehmen, die zwei höchst unterschiedliche Justizschicksale bereithält, ist ein Stück finsteres Mittelalter
in einer Zeit, in der rationale Lösungen für gesellschaftliche Probleme auf der geschichtlichen
Tagesordnung stehen. Mit der Legalisierung des Kronzeugenrabatts ist ein Dunkelfeld partiellen Verzichts
auf Strafe für Staatsfreunde erhellt worden, auf dem die institutionelle Parteilichkeit des Strafrechts schon
bisher zur Unterscheidung von Freund und Feind benutzt worden ist. Was bisher nur den ohnmächtigen
Zorn einiger kritischer Beobachter der Politischen Justiz erregt hat, liegt nunmehr für jedermann offen
zutage, ohne daß freilich ohne weiteres zu erwarten ist, daß der Bruch mit vorgeblich unantastbaren
Rechtsprinzipien in einer breiteren Öffentlichkeit Unruhe auslösen wird. Zu lange hat man sich bereits
daran gewöhnt, daß Strafrecht unter Verletzung des Gleichheitssatzes praktiziert wird, als das man sich
über die Vorzugsbehandlung des Kronzeugen aufregen könnte, wenn dabei nur ein schärferes Zupacken
gegen die verratenen Tatgenossen herausspringt. Daß für Angeklagte, denen die Bezeichnung Terroristen
beigelegt worden ist, überhaupt Rechtsprinzipien gelten sollen, die anderen, "normalen" Angeklagten mehr
oder weniger zähneknirschend zugestanden werden, ist nichts weniger als populär. Da fällt die
freundschaftliche Ermäßigung strafrechtlicher Sanktionen für kollaborationswillige Mörder und
Exterroristen nicht weiter ins Gewicht. Eine Justiz, die ungezählte Mittäter der faschistischen
Massenverbrechen, wenn sie überhaupt angeklagt wurden, mit Kameradenurteilen bediente, die
Straflosigkeit zur Regel machten, wird doch ein paar Mini- Kriminelle laufen lassen können, wenn sie
dadurch für die Zwecke der Freund- Feind- Differenzierung brauchbar werden. Und eine Bevölkerung, die
in ihrer Mehrheit zu den Freisprüchen oder Kameradenurteilen für NS- Massenmörder geschwiegen hat,
wird wohl auch nichts dagegen haben, wenn ein paar kleine Mörder, die sich als Terroristenverräter
nützlich machen, in den Kreis der Staatsfreunde aufgenommen werden. Staatsfreunde aber, das weiß man,
partizipieren am Gewaltmonopol des Staates. Und das heißt Teilhabe an allerlei Rechtsfiguren und
Praktiken, die das sonst für alle geltende Recht abschwächen, suspendieren oder in sein Gegenteil
verkehren.

Diese Gesellschaft ist dadurch charakterisiert, daß sie den, der mit den Mächtigen kollaboriert, als Freund
behandelt und an den Privilegien der Herrschaft partizipieren läßt, während sie den, der sich gegen die
Herrschenden stellt und ihnen die Zusammenarbeit verweigert, als Feind ausgrenzt, unschädlich macht und
im Extremfall physisch vernichtet. Wer aus dem Lager der Feinde überläuft zu den Mächtigen, hat die reale
Chance, der Gnade der späten Freundschaft teilhaftig zu werden, wenn er sich als Kollaborateur verdient
macht. Ausgestiegene Terroristen sind als Gehilfen strafender Staatsgewalt willkommen, sie können mit
Kronzeugenrabatt wenn nicht Straflosigkeit rechnen, für sie wird die angeblich unverzichtbare Institution
Strafrecht partiell suspendiert, ohne daß das System als solches in Frage gestellt wird. Verweigern sie
jedoch die Zusammenarbeit mit den staatlichen Behörden, so bleiben sie Feinde. Denn das Kriterium der
Freund- Feind- Differenzierung ist nicht die propagierte Gefährlichkeit des Feindes, sondern seine Eignung,
als Schreckgestalt zur Formierung der Gesellschaft beizutragen. Einer, der nichts weiter zu bieten hat als
die Verminderung der terroristischen Gefahr um seine aktivistische Potenz, ist für eine Staatsgewalt, die
gerade aus der angeblichen Gefahr für alle den allgemeinen Konsens für ihre Strategie der präventiven
Konterrevolution (Peter Brückner) bezieht, uninteressant. Der Kollaborateur hingegen kann ein
Massenmörder sein, ohne daß dies seine Brauchbarkeit für die Betreiber Politischer Justiz beeinträchtigt.

Solange in diesem Land der Geist herrscht, in dem Feindprozesse gegen Kommunisten und "Terroristen"
des linken Spektrums betrieben worden sind, während sich makrokriminelle Staatsfreunde und
Kollaborateure, soweit sie überhaupt verfolgt werden, ihre Freisprüche und Pro-forma- Urteile abholen
können, wird die politische Strafjustiz keinen ernstzunehmenden Beitrag zur Lösung gesellschaftlicher
Probleme leisten, aus denen Kriminalität entsteht, sondern wird selbst ein kriminogener Faktor erster
Ordnung bleiben. Die einzige Rationalität politischer Strafjustiz ist ihre Nützlichkeit für die Durchsetzung
innerstaatlicher Feinderklärungen.

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