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HRRS Januar 2004 (1/2004) 1


Ausgabe 8-9/2006
7. Jahrgang

 

    
 

 
  
 
  
 
 HERAUSGEBER
RA Dr. iur. h.c. Gerhard Strate
Holstenwall 7, 20355 Hamburg
gerhard.strate@strate.net

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Prof. Dr. Ulfrid Neumann / Prof. Dr. Frank Saliger – Sterbehilfe zwischen Selbstbestimmung und
Fremdbestimmung – Kritische Anmerkungen zur aktuellen Sterbehilfedebatte S. 280

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Günther Jakobs – Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu den Bedin-
gungen von Rechtlichkeit S. 289

Neben dem Beitrag von Jakobs werden in dieser Ausgabe weitere Referate der Arbeitsgruppe
„Feindstrafrecht – Ein Gespenst geht um im Rechtsstaat“ des 30. Strafverteidigertages 2006 und
ergänzende Beiträge publiziert. Aufgenommen sind Referate von Prof. Dr. Alejandro Aponte und
RA Prof. Dr. Jörg Arnold sowie Beiträge von RA Dr. Klaus Malek und Dr. Jochen Bung S. 297

Die Ausgabe umfasst zwei Rezensionen zu strafrechtlichen Publikationen.

# 



EGMR Witzsch vs. Deutschland – Missbrauchsverbot der EMRK bei Nazi-Propaganda

BVerfG Keine Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfahrensverzögerung bei der


Strafzumessung im Fall der Verurteilung wegen Mordes

BVerfG Erzwungene Verlegung eines Sicherungsverwahrten in eine andere Anstalt

BVerfG Verteidigungsfremdes Verhalten

BGH Verfall: Härteklausel und Wert des Erlangten bei Handelsketten (BGHSt)

BGH Lebensgefährdende Behandlung und gefährlicher Eingriff in den


Straßenverkehr (Griff in das Lenkrad eines fahrenden KFZ) SCHRIFTLEITUNG
Karsten Gaede
c/o RA Dr. iur. h.c. Gerhard Strate
BGH Anwendung des § 26a I Nr. 2 StPO bei Vorbefassung des Holstenwall 7, 20355 Hamburg
karsten.gaede@strate.net
Gerichts nach Abtrennung von Verfahren gegen Tatbeteiligte
REDAKTION
BGH Ausschluss vom Richteramt bei Untreue zu Lasten Rocco Beck, Ulf Buermeyer, Karsten Gaede,
einer Partei (Fall Kanther) Stephan Schlegel (Webmaster)
Als ständige Mitarbeiter wirken mit:

BGH Strafmilderung bei Untersuchungshaft Oberass. Dr. Daniela Demko, LLM (Zürich); Antje du Bois-Pedain, MJur
(Oxon), (Univ. Cambridge); Prof. Dr. Diethelm Klesczewski (Univ. Leip-
zig); Prof. Dr. Hans Kudlich (Univ. Erlangen-Nürnberg); Wiss. Ref. MPI
Freiburg i.Br. Dr. Frank Meyer, LLM (Yale); Tilo Mühlbauer (Dresden);
RA Markus Rübenstahl, mag. iur. (White & Case LLP, Frankfurt a.M.);
Diese Ausgabe umfasst 88 Entscheidungen. Prof. Dr. Frank Saliger (Bucerius Law School Hamburg);
Prof. Dr. Christoph Sowada (Univ. Rostock); RA Klaus-Ulrich Ventzke
(Hamburg) und Prof. Dr. Wolfgang Wohlers (Univ. Zürich).
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 271

HERAUSGEBER
RA Dr. h.c. Gerhard Strate
Holstenwall 7, 20355 Hamburg
gerhard.strate@strate.net

 SCHRIFTLEITUNG
Karsten Gaede
c/o RA Dr. h.c. Gerhard Strate
 

    
 
 Holstenwall 7, 20355 Hamburg

 
  
  karsten.gaede@strate.net
  
 

REDAKTION
Rocco Beck, Ulf Buermeyer, Karsten Gaede, Stephan
Schlegel (Webmaster)

Als ständige Mitarbeiter wirken mit:

Oberass. Dr. Daniela Demko, LLM, (Univ. Zürich); Antje


du Bois-Pedain, MJur (Oxon.), (Univ. Cambridge); Prof.
Dr. Diethelm Klesczewski (Univ. Leipzig); Prof. Dr. Hans
Kudlich (Univ. Erlangen-Nürnberg); Wiss. Ref. Max-
Planck-Institut Freiburg i.Br. Dr. Frank Meyer, LLM
(Yale); Tilo Mühlbauer (Dresden); RA Markus Rüben-
stahl, mag. iur. (Kanzlei White & Case LLP, Frankfurt
a.M.); Prof. Dr. Frank Saliger (Bucerius Law School
Hamburg); Prof. Dr. Christoph Sowada (Univ. Rostock);
RA Klaus-Ulrich Ventzke (Hamburg) und Prof. Dr. Wolf-
gang Wohlers (Univ. Zürich).

7. Jahrg., August-September 2006, Ausgabe 8/9


Strafrechtliche/strafverfahrensrechtliche Entscheidungen des EGMR/BVerfG

621. BVerfG 2 BvR 750/06 (1. Kammer des Zweiten 3. Für den Beschuldigten folgt aus Art. 20 Abs. 3 GG ein
Senats) – Beschluss vom 21. Juni 2006 (BGH) bindender Anspruch auf Durchführung des gegen ihn
(Keine) Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfah- anhängigen Strafverfahrens in angemessener Zeit (vgl.
rensverzögerung bei der Strafzumessung beim Mord BVerfG NJW 1984, S. 967). Verletzen die Justizbehör-
(lebenslange Freiheitsstrafe; keine Umwandlung in zeiti- den diesen Anspruch, haben sie die dadurch eintretende
ge Freiheitsstrafe; Verjährung; verfassungskonforme und rechtsstaatswidrige Verzögerung des Verfahrens bei ihrer
konventionskonforme Auslegung; Rechtsfolgenlösung); anstehenden Entscheidung zu Gunsten des Beschuldigten
Individualbeschwerde; Konventionsbeschwerde; Nicht- zu berücksichtigen.
annahmebeschluss; redaktioneller Hinweis.
Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; Art. 4. Für eine Kompensation von rechtsstaatswidrigen Ver-
13 EMRK; § 211 StGB; § 46 Abs. 2 StGB; § 78 Abs. 2 fahrensverzögerungen ist nur dort Raum, wo das Gesetz
StGB; § 57a StGB die Möglichkeit eröffnet, das aus der Verwirklichung des
Deliktstatbestandes offenbar werdende Tatunrecht und
1. Über die Feststellung einer rechtsstaatswidriger Ver- die darin zum Ausdruck kommende Schuld des Täters zu
fahrensverzögerungen hinaus, kommt eine Reduzierung relativieren. Bei § 211 StGB jedenfalls besteht diese
einer verhängten lebenslangen Freiheitsstrafe im Fall der Möglichkeit nicht. Der Mordparagraf verfügt über keinen
Verurteilung wegen Mordes nicht in Betracht. Strafrahmen, der Gelegenheit dazu böte, Schuldmilde-
2. Der Beschleunigungsgrundsatz entspringt – wie das rungen als Folge einer unangemessenen Verfahrensdauer
Bundesverfassungsgericht sowohl in Kammer- (vgl. 2 gegen die Tatschuld abzuwägen.
BvR 153/03 -, BVerfGK 1, 269, 278) als auch in maß-
stabbildenden Senatsentscheidungen (vgl. BVerfGE 63, 5. Es kann dahingestellt bleiben, ob die auf Grund der
45, 69) mehrfach betont hat – dem Rechtsstaatsprinzip. Stellung des Bundesverfassungsgerichts im deutschen
Er schützt vorwiegend subjektive Belange des Beschul- Rechtssystem eher fern liegende Rechtsauffassung zu-
digten. trifft, wonach die Bearbeitungsdauer einer nicht zum
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Rechtsweg gehörenden Verfassungsbeschwerde der Dau- Strafvollzug, der auf das Ziel der Resozialisierung ausge-
er des Strafverfahrens hinzuzurechnen sei. richtet ist (vgl. BVerfG StV 2006, 146 f.).

655. EGMR Nr. 7485/03 (1. Kammer) – 2. Auch wenn im Rahmen der gerichtlichen Überprüfung,
Zulässigkeitsentscheidung vom 13. Dezember 2005 einer Maßnahme nach § 85 StVollzG die tatbestandlichen
(Witzsch vs. Deutschland) Voraussetzungen einem Beurteilungsspielraum der Voll-
Missbrauchsverbot der EMRK (Nazi-Propaganda; zugsverwaltung unterliegen sollten, erübrigt das nicht die
Holocaust: Ausschwitz-Lüge und Inabredestellen der gerichtliche Prüfung ihres Vorliegens.
Verantwortung von Hitler und der NSDAP);
Meinungsfreiheit (Äußerungsfreiheit) und faires 3. Die Annahme, § 85 StVollzG gestatte eine Verlegung
Verfahren (Beweisführungsanspruch bei feststehenden eines Gefangenen ohne weiteres deshalb, weil er durch
Wahrheiten; Äußerungen in privaten Briefen); Schutz des Mitgefangene dem latenten Risiko von Übergriffen aus-
Andenkens Verstorbener (arrangierter Strafantrag; gesetzt ist, sind überschreitet die verfassungsrechtlichen
Tatprovokation; Fall „Wolffsohn-Brief“); Grenzen richterlicher Gesetzesinterpretation.
Gesetzlichkeitsprinzip (nulla poena sine lege).
Art. 17 EMRK; Art. 10 EMRK; Art. 6 EMRK; Art. 5 4. Es ist unvereinbar mit den Grundsätzen rechtsstaatli-
GG; Art. 103 GG; § 189 StGB; § 130 StGB; § 194 StGB; cher Zurechnung, wenn die Gefahr, dass bestimmte Per-
Art. 7 EMRK sonen sich in rechtswidriger Weise verhalten, nicht im
Regelfall vorrangig diesen Personen zugerechnet und
1. Der generelle Zweck des Art. 17 EMRK besteht darin, nach Möglichkeit durch ihnen gegenüber zu ergreifende
es unmöglich zu machen, dass Einzelne ein Recht mit Maßnahmen abgewehrt wird, sondern ohne weiteres
dem Ziel nutzen, Ideologien zu fördern, welche dem Text Dritte oder gar die potentiellen Opfer des drohenden
und dem Geist der Menschenrechtskonvention rechtswidrigen Verhaltens zum Objekt eingreifender
widerstreiten. Die Äußerungsfreiheit gemäß Art. 10 Maßnahmen der Gefahrenabwehr gemacht werden (vgl.
EMRK kann Art. 17 EMRK insbesondere in solchen BVerfGE 69, 315, 360 f.). Rechtsstaatliche Zurechnung
Fällen nicht verdrängen, in denen Holocaustleugnungen muss darauf ausgerichtet sein, nicht rechtswidriges, son-
und ähnliche Vorkommnisse zu beurteilen sind. Der dern rechtmäßiges Verhalten zu begünstigen.
Missbrauch der Äußerungsfreiheit ist mit der Demokratie
und mit den Menschenrechten unvereinbar; er verletzt die 5. Beschränkungen des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 1 GG
Rechte anderer. dürfen nur unter Beachtung des Verhältnismäßigkeits-
grundsatzes vorgenommen werden; sie müssen zum
2. Dies gilt auch in Fällen, in denen der Äußernde weder Schutz eines kollidierenden Rechtsguts geeignet und
den Holocaust noch die Existenz von Gaskammern erforderlich sein und zur Art und Intensität der Beein-
leugnet, in denen er aber die Verantwortung von Hitler trächtigung oder Gefährdung, der begegnet werden soll,
und der NSDAP für die Massentötungen an Juden als in einem angemessenen Verhältnis stehen (vgl. BVerfGE
historisch falsch in Abrede stellt. Dass die Äußerung 16, 194, 201 f.; stRspr). Die Verlegung eines Gefangenen
dabei in einem privaten Brief gefallen ist, macht hierbei gegen dessen Willen ist daher auch bei Vorliegen einer
jedenfalls dann keinen Unterschied aus, wenn es als Gefahr im Sinne des § 85 StVollzG nur zulässig, wenn
zweifelhaft gelten muss, dass der Absender des Briefs dieser Gefahr in der Justizvollzugsanstalt nicht mit mil-
keine öffentliche Diskussion seiner Thesen gewünscht deren Mitteln angemessen begegnet werden kann (vgl.
hat. BVerfG StV 2006, 146, 147).

619. BVerfG 2 BvR 1295/05 (2. Kammer des Zweiten 617. BVerfG 2 BvR 1085/05 (3. Kammer des Zweiten
Senats) – Beschluss vom 27. Juni 2006 (OLG Senats) – Beschluss vom 17. Juni 2006 (LG Kassel/AG
Hamm/AG Arnsberg) Kassel)
Verlegung eines Sicherungsverwahrten in eine andere Abfrage von Verbindungsdaten; Fernmeldegeheimnis
Justizvollzugsanstalt; allgemeines Persönlichkeitsrecht (geringerer Schutz beim Missbrauch des Mediums zur
(Anspruch auf Resozialisierung); Gefahr für die Sicher- Begehung von Straftaten); Strafvereitelung (Mitteilung
heit oder Ordnung der Anstalt („Unruhe“ in der Anstalt); einer bevorstehenden Verhaftung; verteidigungsfremdes
Verhältnismäßigkeit (vorrangige Maßnahmen gegen den Verhalten; Täuschung mittels Telekommunikationsend-
Verursacher; subsidiäre Inanspruchnahme Dritter oder einrichtungen); Anforderungen an die richterliche An-
des Opfers). ordnung (zulässige Abfrage der Verbindungsdaten eines
Art. 2 Abs. 1 GG; § 85 StVollzG; § 130 StVollzG ganzen Tages bei Begehung am Vormittag); Nichtan-
nahmebeschluss.
1. Die Verlegung eines Strafgefangenen oder Siche- Art. 10 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6
rungsverwahrten ohne seinen Willen greift in dessen EMRK; § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO; § 100h Abs. 2 Satz 2
Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG ein. Die Verlegung StPO; § 258 StGB
kann auch die Resozialisierung des Strafgefangenen
beeinträchtigen und berührt somit auch dessen durch Art. 1. Während prozessual zulässige Handlungen dem Ver-
2 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 1 Abs. 1 GG vermittel- teidiger nicht als tatbestandsmäßig zugerechnet werden
ten (vgl. BVerfGE 98, 169, 200) Anspruch auf einen können, kann ein nicht mehr vom Verteidigungszweck
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getragenes verteidigungsfremdes Verhalten, sofern die gesetzlichen Sanktionsnorm hinausgeht; der mögliche
weiteren Voraussetzungen hierfür vorliegen, eine Straf- Wortsinn des Gesetzes markiert die äußerste Grenze
barkeit wegen Strafvereitelung begründen. zulässiger richterlicher Interpretation.

2. Ein verteidigungsfremdes Verhalten liegt jedenfalls 2. Nach dem eindeutigen Wortlaut des § 86 a Abs. 2 Satz
dann vor, wenn der Verteidiger seinen Mandanten über 2 StGB ist es erforderlich, dass eine Ähnlichkeit zu ei-
eine bevorstehende Verhaftung informiert, von der er nem tatsächlich existenten Kennzeichen besteht, dessen
sich Kenntnis durch Täuschung der Ermittlungsbehörden Verwendung nach § 86 a Abs. 1 Nr. 1 StGB verboten ist.
verschafft hat. Die Parole „Ruhm und Ehre der Waffen-SS“ weist eine
solche Ähnlichkeit nicht auf.
3. Die Rechtsprechung zur inneren Tatseite bei der
Geldwäsche durch Annahme von Verteidigerhonorar ist 3. Das Rufen der Parole „Ruhm und Ehre der Waffen-
auf § 258 StGB nicht übertragbar. SS“ fällt in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit. In
der Bestrafung wegen dieser Äußerung liegt auch ein
4. Es begegnet keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, Eingriff in dieses Grundrecht.
dass der Gesetzgeber die Eingriffsvoraussetzungen in §
100g Abs. 1 S. 1 2. Alternative StPO gegenüber der 1. 4. Auf den Schutz der Meinungsfreiheit können sich
Alternative abgesenkt hat. Indem der Beschuldigte die grundsätzlich auch Rechtsextremisten berufen; allerdings
Telekommunikationsanlage zum Tatmittel seiner strafba- sind auch sie an die Schranken der allgemeinen Gesetze
ren Handlungen einsetzt, mindert sich sein Anspruch auf gebunden (vgl. BVerfGE 111, 147, 155 ff.).
Wahrung des Schutzes der Vertraulichkeit des von ihm
missbrauchten Mediums. 5. Dem Ziel des § 86 a StGB, die Verwendung bestimm-
ter Symbole in der öffentlichen Auseinandersetzung
5. Als taugliche Anlasstat für eine Maßnahme gemäß § auszuschließen, dient auch die Regelung in dessen Ab-
100 g Abs. 1 Satz 1 StPO kommt jede beliebige Straftat satz 2 Satz 2. Wo hingegen das Symbol nicht mit verbo-
in Betracht, wenn diese durch eine Endeinrichtung im tenen Symbolen verwechselt werden kann, kann eine
Sinne des § 3 Nr. 3 TKG begangen wurde und dem Beschränkung der Meinungsfreiheit durch diese Norm
Rechtseingriff Gründe der Verhältnismäßigkeit nicht nicht begründet werden.
entgegenstehen.
6. Nach der verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden
6. Ob im Hinblick auf das Überwachungsverbot zwischen Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs ist eine Parole –
Mandant und Strafverteidiger tatsächlich eine Ausnahme wie auch ein sonstiges Kennzeichen – einer anderen
von der Entprivilegierung des § 100 h Abs. 2 Satz 2 StPO „zum Verwechseln ähnlich“, wenn ein gesteigerter Grad
- von Verfassungs wegen - geboten wäre, bedarf daher sinnlich wahrnehmbarer Ähnlichkeit gegeben ist. Erfor-
keiner Entscheidung. derlich sei eine objektiv vorhandene Übereinstimmung in
wesentlichen Vergleichspunkten. Es müsse nach dem
615. BVerfG 1 BvR 150/03 (1. Kammer des Ersten Gesamteindruck eines durchschnittlichen, nicht genau
Senats) - Beschluss vom 1. Juni 2006 (LG Mühlhau- prüfenden Betrachters eine Verwechslung mit dem Ori-
sen/AG Eisenach) ginal möglich sein. Dafür genüge nicht, dass sich ledig-
Verwendung verbotener Kennzeichen (Begriff des „zum lich einzelne Merkmale des Vorbilds in der Abwandlung
Verwechseln ähnlich“; Parole „Ruhm und Ehre der Waf- wieder finden, ohne dass dadurch einem unbefangenen
fen-SS“; gesteigerter Grad sinnlich wahrnehmbarer Ähn- Betrachter, der das Original kennt, der Eindruck des
lichkeit; fehlende Ähnlichkeit mit nationalsozialistischen Originalkennzeichens vermittelt werde (vgl. BGH, NJW
Parolen); Bestimmtheitsgebot (Analogieverbot; Ausle- 2005, 3223 f.).
gung; Wortlautgrenze); Meinungsfreiheit.
Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; § 86 a Abs. 1 620. BVerfG 2 BvR 537/05 (3. Kammer des Zweiten
Nr. 1 StGB; § 86 a Abs. 2 Satz 2 StGB; § 86 Abs. 1 Nr. 4 Senats) – Beschluss vom 14. Juni 2006 (LG Bochum)
StGB Rechtskraft von Aufhebungsentscheidungen des Bundes-
verfassungsgerichts (Entscheidung des Beschwerdege-
1. Art. 103 Abs. 2 GG verpflichtet den Gesetzgeber, die richtes trotz aufgehobenem Durchsuchungs- und Be-
Voraussetzungen der Strafbarkeit so konkret zu um- schwerdebeschluss im Verfahren gegen die Durchsu-
schreiben, dass Anwendungsbereich und Tragweite der chungsanordnung); Unverletzlichkeit der Wohnung.
Straftatbestände sich aus dem Gesetzeswortlaut ergeben Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 95 Abs. 2
oder jedenfalls durch Auslegung ermitteln lassen (vgl. BVerfGG
BVerfGE 71, 108, 114; stRspr). Für die Rechtsprechung
folgt aus dem Erfordernis gesetzlicher Bestimmtheit ein Eine gerichtliche Entscheidung, die das Bundesverfas-
Verbot analoger oder gewohnheitsrechtlicher Strafbe- sungsgericht für verfassungswidrig erklärt und aufgeho-
gründung. Dabei ist „Analogie“ nicht im engeren techni- ben hat (§ 95 Abs. 2 BVerfGG), kann nicht in einer er-
schen Sinn zu verstehen. Ausgeschlossen ist vielmehr neuten fachgerichtlichen Entscheidung für rechtmäßig
jede Anwendung von Strafrecht, die über den Inhalt einer erklärt werden.
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613. BVerfG 2 BvR 2030/04 (3. Kammer des Zweiten Begrenzung des Eingriffs auf das zur Zweckerreichung
Senats) – Beschluss vom 3. Juli 2006 (LG Braun- erforderliche Maß erforderlich waren und deshalb den
schweig/AG Braunschweig) ermittelnden Beamten vor der Durchsuchung zur Kennt-
Unverletzlichkeit der Wohnung (Bestehen von Ver- nis gelangen mussten (vgl. BVerfGK 5, 84, 88; BVerfG
dachtsgründen; keine Erforderlichkeit bei weniger ein- NJW 2004, 3171). Außerhalb der für den Vollzug der
schneidenden Ermittlungsmöglichkeiten; Vorrang mögli- Durchsuchung unabdingbaren Umgrenzung können Defi-
cher Zeugenbefragungen); richterliche Anordnung (ei- zite in der Begründung der Durchsuchungsanordnung
genverantwortliche Prüfung; konkrete Anordnung). hingegen durch das Beschwerdegericht nachgebessert
Art. 13 Abs. 1 GG; § 102 StPO; § 105 StPO werden, etwa zur Darlegung des Tatverdachts oder der
Verhältnismäßigkeit des Eingriffs.
1. Damit die Unverletzlichkeit der Wohnung durch eine
vorbeugende richterliche Kontrolle gewahrt werden kann, 616. BVerfG 1 BvR 2293/03 (1. Kammer des Ersten
hat der Ermittlungsrichter die Durchsuchungsvorausset- Senats) – Beschluss vom 1. Juni 2006 (VGH Baden-
zungen eigenverantwortlich zu prüfen. Erforderlich ist Württemberg/VG Stuttgart)
eine konkret formulierte, formelhafte Wendungen ver- Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen nach
meidende Anordnung, die zugleich den Rahmen der Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO; Recht auf infor-
Durchsuchung abstecken und eine Kontrolle durch ein mationelle Selbstbestimmung (Anspruch auf Vernich-
Rechtsmittelgericht ermöglichen kann (vgl. BVerfGE 42, tung; Grundrechtsschranken; Verhältnismäßigkeitsgrund-
212, 220 f.; 103, 142, 151 f.). satz; kriminalistischer Restverdacht); Begründung (For-
melhaftigkeit; fehlende Gefahrenprognose).
2. Das Gewicht des Eingriffs in Art. 13 GG verlangt als Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 38 Abs. 1 PolG-
Durchsuchungsvoraussetzung Verdachtsgründe, die über BW
vage Anhaltspunkte und bloße Vermutungen hinausrei-
chen. Ein Verstoß gegen diese Anforderungen liegt vor, 1. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gewährleistet die
wenn sich sachlich zureichende plausible Gründe für eine grundsätzliche Befugnis des Einzelnen, selbst über Preis-
Durchsuchung nicht mehr finden lassen (vgl. BVerfGE gabe und Verwendung seiner persönlichkeitsbezogenen
44, 353, 371 f.; 59, 95, 97). Daten zu bestimmen. Ein Eingriff in dieses Recht liegt
nicht nur in der Erhebung solcher Daten, sondern auch in
3. Eine Durchsuchung ist nur dann zulässig, wenn gerade ihrer Speicherung (vgl. BVerfGE 65, 1, 41 ff.; 84, 239,
diese Zwangsmaßnahme zur Ermittlung und Verfolgung 279). Zu den geschützten Daten zählen auch die Informa-
der in Frage stehenden Straftat erforderlich ist. Dies ist tionen, die in den erkennungsdienstlichen Unterlagen
nicht der Fall, wenn andere, weniger einschneidende enthalten sind.
Mittel zur Verfügung stehen (vgl. BVerfGE 96, 44, 51).
2. Im Fall einer Verfahrenseinstellung nach § 170 Abs. 2
618. BVerfG 2 BvR 1117/06 (3. Kammer des Zweiten StPO bedarf es der Überprüfung, ob noch Verdachtsmo-
Senats) – Beschluss vom 14. Juni 2006 (LG Chem- mente gegen den Betroffenen bestehen, die eine Fortdau-
nitz/AG Chemnitz) er der Speicherung zur präventiv-polizeilichen Verbre-
Durchsuchungsanordnung (ausnahmsweise Entbehrlich- chensbekämpfung rechtfertigen. Weitere Voraussetzung
keit der weitergehenden Umschreibung des Tatvorwurfs der Datenspeicherung sind hinreichende tatsächliche
bei sehr detaillierter Beschreibung der zu suchenden Anhaltspunkte dafür, dass der Betroffene zukünftig eine
Beweismittel); Unverletzlichkeit der Wohnung (Rechts- Straftat begehen wird. Deren Feststellung ist einer sche-
anwaltskanzlei); Anforderungen an die richterliche Ent- matischen Betrachtung nicht zugänglich, sondern bedarf
scheidung (Begrenzungsfunktion; genaue Beschreibung der eingehenden Würdigung aller hierfür relevanten Um-
der zu suchenden Gegenstände); ausnahmsweise Nachho- stände des Einzelfalls unter Berücksichtigung der Gründe
lung der Tatvorwurfumschreibung im Beschwerdeverfah- für die Einstellung des Verfahrens (vgl. BVerfG NJW
ren; Nichtannahmebeschluss. 2002, 3231, 3232).
Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; §
103 StPO 614. BVerfG 1 BvR 1299/05 (1. Kammer des Ersten
Senats) – Beschluss vom 21. Juni 2006 (-)
1. Eine mangelhafte Umschreibung des Tatvorwurfes in Telekommunikationsgesetz; Subsidiarität der Verfas-
einem Durchsuchungsbeschluss verletzt jedenfalls dann sungsbeschwerde (fachgerichtlicher Rechtsschutz; feh-
nicht das Grundrecht aus Art. 13 Abs. 1 und 2 GG, wenn lende Information; Auskunftsklage); Erhebung, Speiche-
der Durchsuchungsbeschluss die zu suchenden Gegens- rung und Verwendung von Verbindungsdaten und Teil-
tände so genau und detailliert benennt, dass es der Um- nehmerdaten; Auflagen an Telekommunikationsunter-
schreibung des Tatvorwurfes nicht mehr bedarf um diese nehmen zur Vorhaltung von Daten und Überwachungs-
zu identifizieren. einrichtungen auf eigene Kosten; (Teil-
)Nichtannahmebeschluss.
2. Die Kontrollfunktion des Richtervorbehalts (Art. 13 § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 88 Abs.
Abs. 2 GG) verbietet ein Nachbessern oder Nachholen 3 Satz 1 TKG; § 92 TKG; § 95 Abs. 3 TKG; § 95 Abs. 4
einer mangelhaften Umschreibung des Tatvorwurfs im TKG; § 97 Abs. 3 Satz 3 TKG; § 97 Abs. 4 TKG; § 100
Beschwerdeverfahren nur dann, wenn diese Angaben zur TKG; § 110 TKG; § 111 TKG; § 112 TKG; § 113 TKG
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 275

1. Eine Verfassungsbeschwerde unmittelbar gegen ein sungsbeschwerde erhebt (vgl. BVerfGE 1, 97, 102 f.; 68,
Gesetz setzt voraus, dass das angegriffene Gesetz ohne 376, 379 f.).
einen weiteren vermittelnden Akt in den Rechtskreis des
Beschwerdeführers einwirkt (vgl. BVerfGE 72, 39, 43). 2. Trotz unmittelbarer Betroffenheit durch eine Rechts-
Bedarf es zur Durchführung des Gesetzes eines besonde- norm ist die Verfassungsbeschwerde subsidiär, wenn ein
ren Vollzugsaktes, muss der Beschwerdeführer grund- fachgerichtlicher Rechtsschutz in der Sache erlangt wer-
sätzlich zunächst diesen Akt angreifen und den gegen ihn den kann (vgl. BVerfGE 72, 39, 43 f.; 97, 157, 164 f.).
eröffneten Rechtsweg erschöpfen, bevor er die Verfas-

Hervorzuhebende Entscheidungen des BGH

I. Materielles Strafrecht

1. Schwerpunkt Allgemeiner Teil des StGB

627. BGH 1 StR 46/06 – Urteil vom 16. Mai 2006 (LG 5. Eine Ermessensentscheidung nach § 73c Abs. 1 Satz 2
Karlsruhe) StGB scheidet von vorneherein aus, solange und soweit
BGHSt; Härteklausel beim Verfall (Entreicherung: ent- der Angeklagte über Vermögen verfügt, das wertmäßig
behrlicher Bezug zu der rechtswidrigen Tat; Bruttoprin- nicht hinter dem „verfallbaren“ Betrag zurück bleibt
zip); Wert des Erlangten bei Tatbeteiligten in einer Han- (BGHSt 48, 40 [42]; BGHR StGB § 73c Wert 2). Nach-
delskette (keine Gesamtschuldnerschaft); Aufrechterhal- forschungen über die Verwendung der erlangten Beträge,
tung der Rechtsfolge (Anwendung zugunsten des Ange- über die Quellen des vorhandenen Vermögens, über
klagten). Vermögensumschichtungen, über ersparte Aufwendun-
§ 73 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 73c Abs. 1 Satz 2 StGB; Art. gen usw. sind in diesem Fall grundsätzlich nicht erforder-
14 GG; § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO; § 426 BGB lich. (Bearbeiter)

1. Bei der Härteklausel des § 73c Abs. 1 Satz 2, 1. Alt. 646. BGH 4 StR 199/06 – Beschluss vom 6. Juli 2006
StGB (Entreicherung) kommt es grundsätzlich nicht (LG Paderborn)
darauf an, ob das vorhandene Vermögen einen Bezug zu Rücktritt vom unbeendetem Versuch (Freiwilligkeit:
der rechtswidrigen Tat hat. (BGHSt) Hilfeschreie; Erörterungsmangel).
§ 24 Abs. 1 StGB
2. Zum Wert des Erlangten bei Tatbeteiligten in einer
Handelskette. (BGHSt) Entscheidend für die Frage der Freiwilligkeit des Rück-
tritts ist, ob aus Sicht des Angeklagten für ihn ein zwin-
3. „Bruttoprinzip“ bedeutet, dass nicht bloß der Gewinn, gendes Hindernis vorlag, die Tat zu vollenden, oder ob er
sondern grundsätzlich alles, was der Täter für die Tat ihre Durchführung noch für möglich hielt (st. Rspr.; vgl.
oder aus ihr erhalten hat, für verfallen zu erklären ist BGHR StGB § 24 Abs. 1 Satz 1 Freiwilligkeit 16 bis 18).
(BGH NStZ 1995, 491). Bei der Berechnung des bei
einem verbotenen „Verkauf“ Erlangten ist deshalb vom 649. BGH 5 StR 76/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
gesamten Erlös ohne Abzug des Einkaufspreises und (LG Wuppertal)
sonstiger Aufwendungen auszugehen (BGHSt 47, 369 Bestechung (Amtsträgereigenschaft von kommunalen
[370]; BGH NStZ 1994, 123; NStZ 2000, 480; NStZ-RR Abgeordneten); Untreue; Strafzumessung (fehlerhafte
2000, 57; wistra 2001, 388, 389). Insbesondere bei Be- Beurteilung der Konkurrenzen; Beruhen); Adhäsionsver-
täubungsmitteldelikten „besteht kein rechtlich schüt- fahren (Ungeeignetheit).
zenswertes Vertrauen, aus dem verbotenen Geschäft § 11 StGB; § 331 StGB; § 332 StGB; § 266 StGB; §
erlangte Vermögensbestandteile behalten zu dürfen, die 108e StGB; § 52 StGB; § 53 StGB; § 406 Abs. 1 Satz 4
der Erlös strafbarer Geschäfte sind (BGHSt 47, 369 StPO
[372]; BGH NStZ 2001, 312). Das in ein verbotenes Kommunale Mandatsträger sind keine Amtsträger, es sei
Geschäft Investierte soll unwiederbringlich verloren sein denn, sie werden mit konkreten Verwaltungsaufgaben
(BGHSt 47, 369 [373 f.]). (Bearbeiter) betraut, die über ihre Mandatstätigkeit in der kommuna-
len Volksvertretung und den zugehörigen Ausschüssen
4. Wirtschaftlich erlangt ist ein Gegenstand oder Wert im hinausgehen. Erschöpft sich aber die Tätigkeit eines
Sinne von § 73 Abs. 1 StGB sobald dieser unmittelbar kommunalen Mandatsträgers im Handeln in Wahlen und
aus der Tat in die eigene Verfügungsgewalt des Täters Abstimmungen in der Volksvertretung selbst, in Teilen
übergegangen ist. (Bearbeiter) der Volksvertretung wie den Fraktionen oder in den
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 276

unmittelbar der Volksvertretung zugehörigen Ausschüs- rechtlichen Organisationsform verliert die von den
sen, kommt lediglich eine Strafbarkeit nach § 108e StGB Stadtwerken zu erfüllende Aufgabe nicht den Charakter
in Betracht. Gleiches gilt für die Tätigkeit im Vorfeld als Verwaltungsaufgabe. Vielmehr sind Einrichtungen
von Wahlen und Abstimmungen in Volksvertretungen, trotz privatrechtlicher Organisationsform Behörden je-
also etwa für die Einflussnahme auf andere Ratsmitglie- denfalls dann gleichzustellen, wenn sie bei der Wahr-
der und die sonstige Beteiligung an der politischen Wil- nehmung dieser Aufgaben derart staatlicher Steuerung
lensbildung auf Gemeindeebene. unterliegen, dass sie bei Gesamtbewertung der sie kenn-
zeichnenden Merkmale gleichsam als „verlängerter Arm“
612. BGH 3 StR 389/05 – Urteil vom 11. Mai 2006 des Staates erscheinen.
(LG Hildesheim)
Bestechlichkeit (konkludentes Fordern eines Vorteils);
Amtsträger (Aufsichtsratsvorsitzender einer Aktienge- 2. Fordern im Sinne der Bestechungstatbestände ist nicht
sellschaft); Untreue (Treueverhältnis aufgrund Spenden- nur das ausdrückliche, sondern auch das konkludente
zusage). Verlangen eines Vorteils für eine dienstliche Tätigkeit.
§ 332 StGB; § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB; § 266 Die das Verlangen eines Vorteils objektiv zum Ausdruck
StGB bringende, d. h. von einem verständigen Betrachter in der
Situation des Angesprochenen so zu verstehende Erklä-
1. Auch der Vorsitzender des Aufsichtsrats einer Stadt- rung des Amtsträgers muss zur Kenntnis des potentiellen
werke-AG kann Amtsträger sein, wenn die AG als eine Gebers gebracht werden; dabei muss der Vorsatz des
„sonstige Stelle“ anzusehen ist, bei der der Vorsitzende Amtsträgers darauf gerichtet sein, dass der Erklärungs-
dazu bestellt ist, Aufgaben der öffentlichen Verwaltung empfänger auch den Sinn der Erklärung versteht, wäh-
wahrzunehmen. Denn allein durch die Wahl einer privat- rend ein diesbezüglicher Erfolg nicht erforderlich ist

2. Schwerpunkt Besonderer Teil des StGB

635. BGH 4 StR 123/06 – Beschluss vom 13. Juni 2006 sondere verkehrsfeindliche Einstellung des Täters nicht
(LG Landshut) erforderlich (vgl. hierzu BGHSt 48, 233, 236 f.; BGHR
Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (Außenein- StGB § 315 b Abs. 1 Nr. 2 Hindernisbereiten 3).
griff und Griff in das Lenkrad bei fahrendem Wagen;
straßenverkehrsspezifische Gefahr für Leib oder Leben 4. § 315 b Abs. 1 StGB setzt in allen Tatbestandsvarian-
und Sachen von bedeutendem Wert); gefährliche Kör- ten eine besondere kausale Verknüpfung zwischen Ge-
perverletzung (mittels einer das Leben gefährdenden fährdungshandlung und Gefährdungserfolg voraus. Er-
Behandlung). forderlich ist, dass die Tathandlung eine abstrakte Gefahr
§ 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB für die Sicherheit des Straßenverkehrs bewirkt, die sich
zu einer konkreten Gefahr für das Schutzobjekt verdich-
1. Für § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB erforderlich, aber auch tet (BGHSt 48, 119, 122). Eine Gefährdung für Leib oder
genügend ist, dass die Art der Behandlung durch den Leben im Sinne des § 315b StGB muss die Folge einer
Täter nach den Umständen des Einzelfalls (generell) abstrakten Verkehrsgefahr sein.
geeignet ist, das Leben zu gefährden (st. Rspr.). Dabei
darf aber nicht erst eine mögliche Folge der Körperver- 642. BGH 4 StR 178/06 – Beschluss vom 13. Juni 2006
letzungshandlung die lebensgefährliche Eignung aufwei- (LG Saarbrücken)
sen: Der Körperverletzungserfolg muss „mittels“ der Art Sexuelle Nötigung (Gewalt; fortwirkende Drohung; fina-
der Behandlung durch den Täter eintreten. le Verknüpfung; Vergewaltigung); Strafverfolgungsver-
jährung (Ruhen); Nötigung.
2. Der Senat hat in einer früheren Entscheidung (NZV § 78 StGB; § 78 b Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 177 Abs. 1 Nr. 2
1990, 35) die Auffassung vertreten, bei einem Griff des StGB; § 240 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB
Beifahrers in das Fahrzeuglenkrad liege ein gefährlicher
Eingriff im Sinne des § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB nur vor, Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs kann
wenn der Täter in der Absicht handelt, den Verkehrsvor- eine einmal angewandte Gewalt als Drohung im Sinne
gang zu einem Eingriff zu pervertieren, es müsse ihm des § 177 Abs. 1 Nr. 2 StGB fortwirken und dazu führen,
darauf ankommen, durch diesen in die Sicherheit des dass das Opfer nur aus Furcht vor weiterer Gewalt keinen
Straßenverkehrs einzugreifen. Soll hingegen nur auf nennenswerten Widerstand mehr leistet; es kann aber
einen Verkehrsvorgang Einfluss genommen werden, nicht davon ausgegangen werden, dass bei lang andau-
etwa zur Erzwingung eines bestimmten Fahrverhaltens, ernden Missbrauchsverhältnissen immer Gewalt ange-
so seien die Voraussetzungen des § 315 b StGB nicht wendet oder ein Nötigungsmittel im Sinne des § 177
gegeben. Ob an dieser Rechtsauffassung uneingeschränkt StGB eingesetzt wird (BGHSt 42, 107, 111). Deshalb
festzuhalten ist, bleibt offen. müssen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 177
StGB auch bei einer länger dauernden Serie von Tat-
3. Erfolgt eine Tathandlung nach § 315b StGB nicht im handlungen grundsätzlich für jede Tat konkret und indi-
Rahmen der Teilnahme am Straßenverkehr (sog. „Au- vidualisiert festgestellt werden (BGHSt aaO). Geringere
ßeneingriff“), ist für die Tatbestandserfüllung eine be- Anforderungen an den Nachweis sind nur hinzunehmen,
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 277

wenn sich der Tatrichter im Einzelfall die Überzeugung 622. BGH 1 StR 113/06 – Urteil vom 27. Juni 2006
eines von dem Täter erzeugten und bewusst eingesetzten (LG Augsburg)
„Klimas ständiger Gewalt“ verschafft (vgl. BGHR StGB Mord (Heimtücke: Arglosigkeit, Wehrlosigkeit, Ausnut-
§ 177 Serienstraftaten 4 und § 177 Abs. 1 Drohung 11 zungsbewusstsein: entbehrliches Herbeiführen der über-
a.E.). raschenden Angriffsmöglichkeit, Alkoholeinfluss); Be-
weiswürdigung (erschöpfende).
575. BGH 2 StR 57/06 - Beschluss vom 21. Juni 2006 § 211 StGB; § 21 StGB; § 261 StPO
(LG Koblenz)
Betrug (Täuschung; Irrtum bei bestimmten Personen; Für das bewusste Ausnutzen von Arg- und Wehrlosigkeit
rein mechanische Tätigkeit; Darstellungspflicht); Un- genügt es, dass der Täter die Arg- und Wehrlosigkeit in
treue; wettbewerbsbehindernde Absprache (Veranstalter ihrer Bedeutung für die hilflose Lage des Angegriffenen
einer Ausschreibung); Beweiswürdigung. und die Ausführung der Tat in dem Sinne erfasst, dass er
§ 263 StGB; § 266 StGB; § 298 StGB; § 261 StPO sich bewusst ist, einen durch seine Ahnungslosigkeit
gegenüber einem Angriff schutzlosen Menschen zu über-
Der Tatbestand des Betrugs setzt voraus, dass die Ver- raschen (BGH NStZ 2003, 535). Es ist nicht erforderlich,
mögensverfügung durch einen Irrtum des Getäuschten dass der Täter die überraschende Angriffsmöglichkeit
veranlasst worden ist. Die Urteilsgründe müssen daher durch eigenes Veranlassen gezielt herbeiführt.
darlegen, wer die Verfügung getroffen hat und welche
irrigen Vorstellungen er dabei hatte (BGH NJW 2003,
1198, 1199).

II. Strafzumessungs- und Maßregelrecht

574. BGH 2 StR 34/06 - Urteil vom 14. Juni 2006 sen besondere Nachteile für den Angeklagten in den
(Landgericht Darmstadt) Urteilsgründen dargelegt werden. In Betracht kommen
Vollzug von Untersuchungshaft als Strafmilderungs- etwa eine überlange Verfahrensdauer, eine den Ange-
grund (Anrechnung auf die Freiheitsstrafe; besondere klagten besonders belastende Ungewissheit, erstmaliger
Nachteile); Verfall (Verhältnis zur Einziehung). Vollzug der Untersuchungshaft, das Auftreten einer
§ 46 Abs. 2 StGB; § 51 StGB; § 73 StGB; § 74 StGB Haftpsychose, bei einem Ausländer ohne familiäre Bin-
dung in Deutschland oder bei fehlenden Kenntnissen der
1. Die Verbüßung von Untersuchungshaft führt grund- deutschen oder einer sonst verbreiteten Sprache ein dar-
sätzlich nicht zu einer Strafmilderung, denn die Untersu- aus folgender Mangel sozialer Kontakte oder sonstige
chungshaft wird nach § 51 Abs. 1 Satz 1 StGB regelmä- Haftbedingungen, die über die üblicherweise mit Unter-
ßig auf die zu vollstreckende Strafe angerechnet. Unter- suchungshaft verbundenen Beeinträchtigungen hinaus
suchungshaft kann deshalb allenfalls dann strafmildernde besondere Erschwernisse enthalten.
Wirkung zukommen, wenn keine zu verbüßende Frei-
heitsstrafe verhängt wird oder wenn besondere Umstände 3. Der Senat lässt offen, ob der Verfall der Einziehung
hinzutreten. vorgeht, wenn die Voraussetzungen beider Rechtsinstitu-
te vorliegen.
2. Will der Tatrichter den Vollzug der Untersuchungshaft
mildernd bei der Strafzumessung berücksichtigen, müs-

III. Strafverfahrensrecht (mit GVG)

659. BGH 5 StR 485/05 – Urteil vom 29. Juni 2006 1. Zur Anwendung von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO bei
(LG Wuppertal) Vorbefassung des Gerichts nach Abtrennung von Verfah-
BGHR; Recht auf gesetzlichen Richter (Richter in eige- ren gegen Tatbeteiligte und deren gesonderter Aburtei-
ner Sache; Ablehnungsverfahren; Vorbefassung nach lung. (BGHR)
Abtrennung von Verfahren gegen Tatbeteiligte und nach
deren Verurteilung); Untreue (Vermögensnachteil durch 2. Kommt es durch Schmiergeldzahlungen an einen
Ausschaltung des Wettbewerbs durch Schmiergeldzah- Treupflichtigen zur Ausschaltung des Wettbewerbs, liegt
lungen); Adhäsionsverfahren (Ungeeignetheit); redaktio- es nahe, dass Preise vereinbart werden, die unter Wett-
neller Hinweis. bewerbsbedingungen nicht erzielbar wären. In diesem
Fall ist die Annahme eines Vermögensnachteils in Höhe
§ 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 266 Abs. 1 StGB; § 338 Nr. 3 sachfremder oder unter Wettbewerbsbedingungen nicht
StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1 ohne weiteres durchsetzbarer Rechnungsposten gerecht-
EMRK; § 406 Abs. 1 Satz 4 StPO fertigt. (BGHR)
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 278

3. Eine notwendige Vorbefassung des Gerichts ist für gen Anhörung der Beteiligten zwingt (vgl. auch BGH
sich gesehen grundsätzlich kein geeigneter Befangen- NStZ 2005, 395, 396).
heitsgrund; dies gilt auch, wenn Verfahren gegen einzel-
ne Angeklagte zur Verfahrensbeschleunigung abgetrennt 625. BGH 1 StR 169/06 – Beschluss vom 20. Juni 2006
werden und anschließend ein Schuldspruch wegen Teil- (LG München)
nahme an später abzuurteilenden Taten erfolgt. Von Recht auf ein faires Verfahren (Wahlverteidigung; Recht
jedem Richter ist selbstverständlich zu erwarten, dass er auf Verfahrensbeschleunigung von Mitangeklagten als
bei dem als Haupttäter Angeklagten auch dann für neue Rechtfertigungsgrund; Terminierungen).
Feststellungen und eine abweichende rechtliche Würdi- § 137 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c EMRK;
gung offen bleibt, wenn er zuvor in einem abgetrennten Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG
Verfahren einen früheren Angeklagten wegen Teilnahme
an der dem Haupttäter vorgeworfenen Tat abgeurteilt und Grundsätzlich hat ein Angeklagter das Recht, sich in
sich lediglich in diesem Zusammenhang notwendiger- einem Strafverfahren von einem Rechtsanwalt seines
weise die Überzeugung vom Vorliegen einer vorsätzli- Vertrauens verteidigen zu lassen (BGH NStZ 1998, 311,
chen und rechtswidrigen Haupttat gebildet hat. (Bearbei- 312). Daraus folgt aber nicht, dass bei jeder Verhinde-
ter) rung des gewählten Verteidigers eine Hauptverhandlung
gegen den Angeklagten nicht durchgeführt werden könn-
589. BGH 2 StR 499/05 - Beschluss vom 11. Juli 2006 te. Die Terminierung ist grundsätzlich Sache des Vorsit-
(LG Wiesbaden) zenden. Hierüber und insbesondere über Anträge auf
Ausschluss von der Ausübung des Richteramts kraft Terminsverlegungen oder -aufhebungen hat er nach
Gesetzes (Verletzter); nicht rechtsfähiger Verein (Ver- pflichtgemäßem Ermessen unter Berücksichtigung der
mögensnachteil der Mitglieder bei Straftat gegen das eigenen Terminsplanung, der Gesamtbelastung der
Vereinsvermögen); Parteivermögen; Untreue; CDU; Kammer, des Gebots der Verfahrensbeschleunigung und
Manfred Kanther. der berechtigten Interessen aller Prozessbeteiligten zu
§ 22 StPO; § 54 BGB; § 266 StGB entscheiden. Nichts anderes gilt bei entsprechenden An-
trägen, die mit der Verhinderung eines Verteidigers be-
1. Verletzter im Sinne von § 22 Nr. 1 StPO ist ein Rich- gründet werden.
ter, wenn er durch die Straftat, die Gegenstand des Ver-
fahrens ist, persönlich unmittelbar in seinen Rechten 594. BGH 3 StR 77/06 - Urteil vom 1. Juni 2006 (LG
betroffen ist. Eine nur entfernte oder mittelbare Betrof- Lübeck)
fenheit reicht hierfür nicht aus. Operative Fallanalyse (Beweisantrag); Totschlag durch
Unterlassen (Garantenstellung; Ingerenz); Verdeckungs-
2. Bei einem Vermögensdelikt kommt es für die Verletz- absicht (andere Straftat; einheitliches Tatgeschehen;
teneigenschaft darauf an, ob durch das tatsächliche Ge- Zäsur).
schehen, welches Gegenstand des Strafverfahrens ist, bei § 244 Abs. 3 StPO; § 13 StGB; § 212 StGB; § 211 StGB
dem zur Entscheidung berufenen Richter unmittelbar ein
Vermögensnachteil bewirkt worden ist.
1. In der operativen Fallanalyse wird das Ergebnis einer
3. Mitglieder einer in Form eines nicht rechtsfähigen Rekonstruktion des Tathergangs in der Weise zusam-
Vereins organisierten Partei haben am Vereinsvermögen mengefasst, dass Wahrscheinlichkeitsbetrachtungen
jedenfalls keinen unmittelbaren Anteil, so dass sie nicht angestellt und vermutliche Abläufe geschildert werden.
Verletzte einer gegen dieses Vermögen gerichteten Straf- Es obliegt jedoch im Hauptverfahren dem Tatgericht, aus
tat im Sinne von § 22 Nr. 1 StPO sind. festgestellten Beweistatsachen Schlüsse auf Tatabläufe
zu ziehen. Solche Schlüsse Dritter können daher grund-
633. BGH 4 StR 87/06 – Urteil vom 13. Juli 2006 (LG sätzlich nicht Gegenstand eines Beweisantrags sein.
Essen)
Rechtliches Gehör der Staatsanwaltschaft vor der Be- 2. Bei einem eng zusammenhängenden, zäsurlosen Ge-
kanntgabe einer Strafobergrenze für den Fall eines Ges- schehen, das auf einer einheitlichen Motivation beruht,
tändnisses; schwerer Bandendiebstahl; Gesamtstrafenbil- kann allein der Übergang vom Körperverletzungs- zum
dung. Tötungsvorsatz die Annahme zweier selbständiger Taten
§ 244 a StGB; § 55 StGB; Vor § 1 StPO; § 33 StPO; § nicht rechtfertigen. Daher kommt in dieser Konstellation
261 StPO die Annahme eines Verdeckungsmordes in Hinblick auf
die zuvor begangene Körperverletzung nicht in Betracht.
Teilt der Vorsitzende lediglich auf Bitten der Verteidiger
als Ergebnis einer Zwischenberatung mit, dass die erken- 648. BGH 5 StR 154/06 – Beschluss vom 13. Juli 2006
nende Strafkammer im Fall von Geständnissen bestimm- (LG Lübeck)
te Strafobergrenzen nicht überschreiten werde, liegt darin Gesetzlicher Richter (Ablehnungsverfahren; Richter in
regelmäßig nur ein Vorschlag des Gerichts an die Ver- eigener Sache; Besorgnis der Befangenheit); rechtliches
fahrensbeteiligten zur inhaltlichen Ausgestaltung einer Gehör; Formalentscheidungen nach § 26a StPO (Unzu-
(möglichen) Verständigung, zu dem diese sich äußern lässigkeit; ungeeignete Begründung); Ablehnung von
können, den sie annehmen, ablehnen oder aber auch Beweisanträgen wegen Bedeutungslosigkeit; redaktionel-
inhaltlich modifizieren können und der nicht zur vorheri- ler Hinweis.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 279

Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 sein, wenn Äußerungen in Vorentscheidungen nach der
Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 26a StPO; § 338 Nr. 3 StPO; § Sachlage unnötige und sachlich unbegründete Werturtei-
26a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 27 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 le enthalten oder ein Richter sich bei einer Vorentschei-
StPO dung in sonst unsachlicher Weise zum Nachteil des An-
geklagten oder seines Verteidigers äußert (vgl. BGHSt
1. Die Gleichsetzung eines Ablehnungsgesuchs, dessen 50, 216, 222).
Begründung aus zwingenden rechtlichen Gründen zur
Rechtfertigung eines Ablehnungsgesuchs völlig ungeeig- 611. BGH 3 StR 284/05 - Urteil vom 29. Juni 2006
net ist, mit einem Ablehnungsgesuch ohne Angabe eines (Kammergericht Berlin)
Ablehnungsgrundes (§ 26a Abs. 1 Nr. 2 Alt. 1 StPO) ist Beweiskraft des Protokolls (Unklarheiten; Mängel; Lü-
grundsätzlich und auch aus verfassungsrechtlicher Sicht cken; Widersprüche); Protokollberichtigung (Berücksich-
unbedenklich (BGHSt 50, 216, 220; BVerfG – Kammer tigung durch das Revisionsgericht; Beweiskraft).
– StraFo 2006, 232, 234). Entscheidend für die Abgren- § 274 StPO
zung zu „offensichtlich unbegründeten“ Ablehnungsge-
suchen, die von § 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO nicht erfasst 1. Es ist in der Rechtsprechung anerkannt, dass ein Pro-
werden, sondern nach § 27 StPO zu behandeln sind, ist tokoll auch noch nach seiner Unterzeichnung durch über-
die Frage, ob das Ablehnungsgesuch ohne nähere Prü- einstimmende Erklärungen der Urkundspersonen berich-
fung und losgelöst von den konkreten Umständen des tigt werden kann und sogar muss, wenn sie dessen Un-
Einzelfalls zur Begründung der Besorgnis der Befangen- richtigkeit erkennen (st. Rspr.; vgl. BGH NStZ-RR 2006,
heit gänzlich ungeeignet ist (BVerfG – Kammer – StraFo 112; BGHSt 1, 259 ff.; 2, 125 ff.; 10, 145 ff.). Dabei
2006, 232, 235). Jenseits dieser bloß formalen Prüfung kommt der Berichtigung die volle Beweiskraft gemäß §
darf sich der abgelehnte Richter nicht durch Mitwirkung 274 StPO zu (BGHSt 1, 259 ff.). Allerdings schränkt die
an einer näheren inhaltlichen Prüfung der Ablehnungs- Rechtsprechung bislang die Wirkung einer solchen Pro-
gründe im Rahmen von Entscheidungen nach § 26a Abs. tokollberichtigung dahin ein, dass sie vom Revisionsge-
1 Nr. 2 StPO zum „Richter in eigener Sache“ machen richt nicht zu beachten ist, wenn dadurch einer bereits
(BVerfG – Kammer – aaO). Die Auslegung des Ableh- vorher erhobenen Verfahrensrüge der Boden entzogen
nungsgesuchs muss darauf ausgerichtet sein, es seinem würde (vgl. Nachw. bei BGH NStZ-RR 2006, 112).
Inhalt nach vollständig zu erfassen und gegebenenfalls
wohlwollend auszulegen, um nicht im Gewande der 2. Einem Protokoll, das aus der Niederschrift selbst her-
Zulässigkeitsprüfung in eine Begründetheitsprüfung aus ersichtliche Unklarheiten, Mängel, Lücken oder
einzutreten (BVerfG – Kammer – aaO). Widersprüche enthält, kommt insoweit keine Beweiskraft
zu (st. Rspr.; vgl. Nachw. bei BGH NStZ-RR 2006, 112).
2. Danach ist die Zurückweisung eines Ablehnungsge-
suchs unbedenklich, das lediglich damit begründet wor- 643. BGH 4 StR 182/06 – Beschluss vom 13. Juni 2006
den ist, der Richter sei an einer Vorentscheidung zu Las- (LG Dortmund)
ten des Angeklagten beteiligt gewesen (BGHSt 50, 216, Wirksame Revisionsrücknahme der durch den Verteidi-
221). Dies gilt namentlich auch für die Ablehnung von ger eingelegten Revision durch den Angeklagten (Vor-
Beweisanträgen (BGHSt 50, 216, 221). Gerade die Zu- aussetzung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten).
rückweisung eines Beweisantrags wegen Bedeutungslo- § 302 Abs. 1 Satz 1 StPO
sigkeit gemäß § 244 Abs. 3 Satz 2 Variante 2 StPO ge-
bietet es, die Tatsachen anzugeben, aus denen sich ergibt, Eine Rücknahmeerklärung ist nur dann wirksam, wenn
warum die unter Beweis gestellte Tatsache, wenn sie der Erklärende bei deren Abgabe verhandlungsfähig war.
erwiesen wäre, die Entscheidung des Gerichts nicht be- Dies ist gegebenenfalls vom Revisionsgericht im Frei-
einflussen könnte (BGHR StPO § 244 Abs. 3 Satz 2 beweisverfahren zu klären (vgl. BGH NStZ 1983, 280;
Bedeutungslosigkeit 26 m.w.N.). Die damit einhergehen- bei Kusch NStZ 1997, 378).
de Mitteilung einer auch für den Angeklagten nachteili-
gen Beweiswürdigung des Gerichts vor Urteilsverkün- 572. BGH 2 StR 10/06 - Beschluss vom 21. Juni 2006
dung ist prozessimmanent und demnach vom Angeklag- (LG Koblenz)
ten hinzunehmen. Beweiswürdigende sachliche Erwä- Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung; fragwürdige
gungen – seien sie auch geeignet, eine den Schuldvor- Zeugenaussage; Tateinheit (teilweise Identität der Aus-
wurf begründende Subsumtion erkennen zu lassen – führungshandlungen); Betrug; Täterschaft (Kurier; Ab-
können für sich nicht zum Gegenstand eines zulässigen grenzung zur Beihilfe).
Befangenheitsantrags erhoben werden. Darauf be- § 261 StPO; § 52 StGB; § 263 StGB; § 29 BtMG
schränkte Gesuche können daher nach § 26a Abs. 1 Nr. 2
StPO beschieden werden. Einer Aussage, an deren Richtigkeit der Tatrichter selbst
Zweifel hat, darf auch kein lediglich eine andere, eben-
3. Anders verhält es sich allerdings beim Hinzutreten falls zweifelhafte Aussage bestätigender Wert beigemes-
besonderer Umstände, die über die Tatsache einer nega- sen werden. Die auf Grund eines möglichen Falschbelas-
tiven Vorentscheidung als solcher sowie die damit not- tungsmotivs zweifelhafte Bestätigung einer ohnehin
wendig verbundenen inhaltlichen Äußerungen hinausge- fragwürdigen Aussage bildet keine tragfähige Grundlage
hen (vgl. BGHSt 50, 216, 221). Dies kann etwa der Fall für eine Überzeugungsbildung.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 280

IV. Wirtschaftsstrafrecht und Nebengebiete

586. BGH 2 StR 217/06 - Beschluss vom 23. Juni 2006 jeweils unterschiedliche, in die Bandenabrede nicht ein-
(LG Bonn) bezogene Dritte gewinnen.
Bande (Bandenabrede); Mittäterschaft.
§ 29a BtMG; § 30 BtMG; § 25 Abs. 2 StGB 2. Zwar setzt das Bestehen einer Bande keine Mittäter-
schaft zwischen den mindestens drei Tatbeteiligten vor-
1. Eine Bande ist ein Zusammenschluss von mindestens aus. Die Bande ist keine besondere oder „gesteigerte“
drei Personen mit dem Ziel, künftig für eine gewisse Form der (Mit-)Täterschaft. Bandenmitgliedschaft setzt
Dauer im gemeinsamen Zusammenwirken eine Mehrzahl aber stets voraus, dass der jeweilige Täter oder Teilneh-
von selbständigen Straftaten des jeweils im Gesetz ge- mer in die Bandenabrede einbezogen ist. Das gilt auch
nannten Deliktstyps zu begehen. Es reicht nicht aus, dass dann, wenn er an einzelnen der Bandentaten nicht betei-
lediglich zwei Personen durch eine solche Verabredung ligt ist.
verbunden sind und für die Begehung der Einzeltaten

Aufsätze und Entscheidungsanmerkungen

Sterbehilfe zwischen Selbstbestim- begrüßen – unabhängig davon, inwieweit die vorgeschla-


genen Regelungen im einzelnen Zustimmung verdienen.
mung und Fremdbestimmung – Kriti-
sche Anmerkungen zur aktuellen Ster- Vorab ist allerdings festzustellen, dass die gewählte Be-
zeichnung „Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung“ (im
behilfedebatte folgenden AE-StB) die Sache jedenfalls hinsichtlich des
letzteren Begriffs nicht trifft. Denn unter dem vor allem
Von Prof. Dr. Ulfrid Neumann, Frankfurt am von ärztlicher Seite propagierten Begriff der „Sterbebe-
Main und Prof. Dr. Frank Saliger, Bucerius gleitung“3 verstand man im juristischen Schrifttum bis-
Law School Hamburg lang ganz überwiegend die nicht lebensverkürzende
menschliche Fürsorge und Zuwendung, die einem Ster-
benden gewährt wird und deren (straf)rechtliche Unbe-
I. Einleitung denklichkeit außer Zweifel steht.4 In dem Entwurf geht
es demgegenüber um die strafrechtliche Bewertung le-
In Hinblick auf die aktuelle rechtspolitische Auseinan- bensverkürzender Handlungen und Unterlassungen, die
dersetzung zur Sterbehilfe, die auch Gegenstand der als Maßnahmen der Sterbehilfe i. e. S. („Hilfe beim Ster-
Beratungen des 66. DJT im September dieses Jahres in ben“) und i. w. S. („Hilfe zum Sterben“) bezeichnet wer-
Stuttgart sein wird,1 ist es verdienstvoll, dass eine inter- den5 und die nach dem Entwurf in bestimmten Fällen die
disziplinär zusammengesetzte Arbeitsgruppe (neben der Beendigung lebenserhaltender Maßnahmen auch gegen
Strafrechtswissenschaft sind auch Medizin und Theolo- den Willen des Patienten einschließen.6 Die Bezeichnung
gie vertreten), darunter zahlreiche Mitglieder des Ar- „Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung“ ist deshalb einer-
beitskreises deutscher, österreichischer und schweizeri- seits irreführend, andererseits als neuer Begriffsvorschlag
scher Strafrechtslehrer (Alternativ-Professoren), zu die- unzweckmäßig, weil er den wesentlich auch lebensver-
sem Problembereich einen Gesetzesentwurf vorgelegt kürzenden Charakter etwa einer Behandlungsbegrenzung
hat, der die umstrittenen Fragen zur Klarheit führen und oder Behandlungsbeendigung am Lebensende verdun-
damit in einem in der Praxis immer bedeutsamer wer-
denden Bereich Rechtssicherheit gewährleisten soll.2 Die 3
Siehe die Grundsätze der Bundesärztekammer zur Sterbebe-
Erarbeitung eines solchen Entwurfs, an dem sich die gleitung, NJW 2004, H. 23, S. XXXII f.
Diskussion orientieren und strukturieren kann, ist zu 4
Vgl. nur Roxin, in: Roxin/Schroth (Hrsg.), Medizinstrafrecht,
2. Aufl. 2001, S. 93 ff., 116; Antoine, Aktive Sterbehilfe in der
1
Mit Gutachten von Torsten Verrel und Referaten von Gian Grundrechtsordnung, 2004, S. 29 f.; Nationaler Ethikrat,
Domenico Borasio, Klaus Kutzer und Wolfgang Putz zum Selbstbestimmung und Fürsorge am Lebensende, 2006, S. 28.
Thema „Patientenautonomie und Strafrecht bei der Sterbebe- Der Begriff der Sterbebegleitung entspricht insoweit den Be-
gleitung“. griffen der „reinen“ oder „echten“ Sterbehilfe; vgl. dazu Sali-
2
Vgl. Schöch/Verrel, Alternativ-Entwurf Sterbebegleitung ger, KritV 2001, 396 ff.
5
(AE-StB), GA 2005, 553. Der AE-StB bildet die Grundlage der Vgl. § 214 Abs. 1 AE-StB (dazu unten II.1.).
6
von Verrel in seinem Gutachten für den Juristentag vorgestell- Vgl. § 215 Abs. 1 Nr. 4 AE-StB (dazu unten II.1.b.).
ten Regelungsvorschläge, siehe Gutachten, 66. DJT 2006, C 11.
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kelt.7 Der Begriff der Sterbehilfe sollte deshalb – zumin- hen, den bedenklichsten Auswüchsen einer seit vielen
dest als Oberbegriff – ohne Not nicht aufgegeben wer- Jahren expandierenden Strafgesetzgebung entgegen zu
den.8 steuern. Unter diesem Gesichtspunkt verdient der AE-
StB bei aller Kritik, die im einzelnen vorzubringen sein
Ob sich der Entwurf mit der Kennzeichnung als „Alter- wird, Anerkennung und Respekt.
nativ-Entwurf“ zu Recht – jenseits einer Rechtfertigung
durch bestimmte personelle Kontinuitäten – in die große II. Die Regelungsvorschläge im einzelnen
Tradition liberaler Strafgesetzentwürfe einreiht, für die
Namen wie Jürgen Baumann, Arthur Kaufmann und 1. Beenden, Begrenzen oder Unterlassen le-
Ulrich Klug stehen, ist zumindest fraglich. Denn der
Entwurf enthält zwar einige begrüßenswerte Klarstellun- benserhaltender Maßnahmen (§ 214 AE-StB)
gen zur Verbindlichkeit autonomer Entscheidungen des
Patienten (insbesondere der sog. Patientenverfügung); Insgesamt wichtige Fortschritte bringt der AE-StB für
stellt sich aber in umstrittenen Fragen (Zulässigkeit akti- den in den Praxis hochbedeutsamen Bereich der passiven
ver Sterbehilfe in Extremsituationen) auf die Seite der Sterbehilfe.
Befürworter einer strikten Strafbarkeit und geht in wich-
tigen Punkten mit seinen Kriminalisierungsvorschlägen a) Aufgabe der Begriffstrias von passiver, indirekter
über den de lege lata strafbaren Bereich deutlich hinaus und aktiver Sterbehilfe
(Bestrafung der Nichthinderung eines freiverantwortlich
unternommenen Suizids jenseits der Fälle des Bilanz- Der AE-StB wendet sich zunächst gegen den Begriff der
selbstmords [§ 215 Abs. 1 AE-StB]; Einführung eines passiven Sterbehilfe, der häufig auf ein bloßes Unterlas-
Tatbestands der „Unterstützung einer Selbsttötung aus sen verkürzt werde13 und zudem in Verbindung mit einer
Gewinnsucht“ [§ 215 a AE-StB]). Insgesamt fällt der insbesondere bei Ärzten verbreiteten Assoziation von
Entwurf, gemessen an den Zielen der Liberalisierung und Aktivität mit Strafbarkeit zu einer restriktiven Handha-
Humanisierung des Strafrechts, deutlich hinter den AE- bung von Behandlungseinstellungen führe. Der AE-StB
Sterbehilfe von 1986 zurück.9 Es wäre freilich ungerecht, verzichtet daher auf die bisherige Begriffstrias und
dies maßgeblich den Autoren anzulasten. Sieht man den spricht anstatt von passiver Sterbehilfe von „Beenden,
Entwurf im aktuellen Kontext exzessiver Strafbarkeits- Begrenzen oder Unterlassen lebenserhaltender Maßnah-
wünsche, wie sie in anderen Gesetzesentwürfen10, aber men“ und anstatt von indirekter Sterbehilfe von „lei-
auch in literarischen Äußerungen11 oder politischen Sta- densmindernden Maßnahmen“; allein der Begriff der
tements12 zum Ausdruck kommen, so wird deutlich, dass aktiven Sterbehilfe wird beibehalten.14
sich seit der Zeit des AE-Sterbehilfe von 1986 die
rechtspolitischen Koordinaten verschoben haben. Konn- Diese begriffliche Weichenstellung ist sowohl bemer-
ten strafrechtliche Alternativentwürfe seinerzeit noch auf kens- wie begrüßenswert. Bemerkenswert ist der Beg-
eine Liberalisierung des geltenden Rechts setzen, so riffswechsel, weil er in Verbund mit der Themenstellung
müssen sie ihre Aufgabe heute in erster Linie darin se- des diesjährigen Juristentages „die Rückkehr der Sterbe-
hilfe in das Strafrecht“15 durch Aufgabe gerade jener
7 handlungskategorialen Begriffstrias einleiten soll, die
Saliger, KritV 2001, 395 f. Bemerkenswert ist, dass selbst
Verrel den Ausdruck Sterbebegleitung für „beschönigend“ hält,
typisch strafrechtlich ist und insoweit die jahrzehntelange
Gutachten 66. DJT, 2006, C 9 Fn. 1. Dominanz des Strafrechts im Sterbehilferecht bis Ende
8
Eine andere Frage ist, ob auch an der Unterscheidung von der 90er Jahre symbolisierte. Begrüßenswert ist die neue
aktiver, passiver und indirekter Sterbehilfe festgehalten werden Begriffsperspektive, weil die scheinbar scharfen Unter-
sollte. Verrel bezeichnet den Begriff der Sterbehilfe selbst scheidungen der Begriffstrias – ausnahmslose Strafbar-
dagegen ohne Begründung als „gleichermaßen unscharf wie keit der aktiven Sterbehilfe, spezifische Straflosigkeit der
emotional besetzt“ und sieht deshalb „eine schlechthin unan- indirekten und passiven Sterbehilfe – in der Tat im Lich-
greifbare Bezeichnung ... nicht in Sicht“ (Gutachten 66. DJT, te der Sterbeautonomie weder dogmatisch und wer-
2006, C 9 Fn. 1). tungsmäßig überzeugen, noch dem ärztlichen Alltag
9
Alternativentwurf eines Gesetzes über Sterbehilfe (AE-
Sterbehilfe), vorgelegt von Jürgen Baumann u.a., 1986.
gerecht werden.16 Freilich passt der Begriffswechsel
10
Gesetzesantrag der Länder Saarland, Thüringen, Hessen v. besser zu einem intradisziplinären, die Perspektiven von
27. 3. 2006 (BR-Dr. 230/06) – Entwurf eines Gesetzes zum Zivilrecht, öffentlichem Recht und Strafrecht gleicher-
Verbot der geschäftsmäßigen Vermittlung von Gelegenheiten maßen integrierenden Sterbehilferecht17 als zu dem Vor-
zur Selbsttötung –, demzufolge die „geschäftsmäßige Förde- haben, die Hegemonie des Strafrechts über die Sterbehil-
rung der Selbsttötung“ mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren fe wiederherstellen zu wollen. Immerhin ist es der 12.
oder mit Geldstrafe bestraft werden soll. Wie hoch das affektive Zivilsenat des BGH in seiner Grundsatzentscheidung aus
Potential ist, das teilweise die Diskussion bestimmt und offen-
bar auch offizielle Gesetzesentwürfe steuert, zeigen der Boule- 13
Siehe zu dieser Kritik bereits NK-Neumann, Vor § 211 Rn.
vardpresse nachempfundene Formulierungen wie die, es sei
100.
angesichts der Tätigkeit von Sterbehilfeorganisationen eine 14
AE-StB, S. 560 ff., 573 ff. und 582 ff.
„Einbahnstraße in den Tod binnen 24 Stunden“ nicht mehr 15
So Verrel, Gutachten 66. DJT, C 9.
auszuschließen (S. 5 der Begründung des Gesetzesantrags). 16
11 Siehe zu dieser Kritik bereits Saliger, ARSP-Beiheft Nr. 75,
Vgl. etwa Höfling, MedR 2006, 25, 27, 31.
12 2000, S. 134 ff.; Merkel, in: ders./Hegselmann (Hrsg,), Zur
Vgl. etwa das Interview mit der niedersächsischen Justizmi-
Debatte über Euthanasie, 1991, 85 ff. und 90 ff.
nisterin Heister-Neumann in Die Welt v. 22. 10. 2005; dazu 17
Dazu Saliger, KritV 2001, 435 ff. und auch 421 ff.
Birkner, ZRP 2006, 52.
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2003 gewesen, der bereits die vom AE-StB hier hervor- handlungswünschen des Patienten oder seiner Angehöri-
gehobene Einsicht formuliert hat, dass das Legen einer gen zu ermöglichen.“23 Grundlage ist die verbreitete
Magensonde zur künstlichen Flüssigkeits- und Nah- Auffassung, dass die ärztliche Behandlungspflicht nur im
rungszufuhr ein rechtfertigungsbedürftiger Eingriff ist.18 Rahmen des medizinisch Indizierten bestehe und die
Sterbeautonomie des Betroffenen als reines Abwehrrecht
b) Einseitiger Behandlungsabbruch bei nahe bevor- kein Recht auf eine bestimmte Behandlung einschließlich
stehendem Tod? des Einsatzes aller medizintechnisch möglichen Maß-
nahmen beinhalte.24
Zustimmung verdient der AE-StB ferner, soweit er in § 214
AE-StB die Sterbehilfe nicht auf Patienten in unmittelba- Dieser Regelungsvorschlag stimmt wörtlich überein mit
rer Todesnähe beschränkt.19 Im Hinblick auf den Schutz § 214 Abs. 1 Nr. 4 AE-Sterbehilfe 1986, überzeugt aller-
von Sterbeautonomie und Menschenwürde ist es nicht zu dings heute so wenig wie damals. Zweifelhaft sind insbe-
rechtfertigen, Sterbehilfe auf Hilfe für Sterbende („Hilfe sondere Begründung und Notwendigkeit. Die medizini-
beim Sterben“) zu begrenzen. Wie gerade die stark um- sche Indikation allein trägt in dieser Reichweite keinen
strittenen Fälle der Sterbehilfe für Wachkoma-Patienten Behandlungsabbruch. Natürlich findet die Behandlungs-
(Apalliker) belegen, besteht ein Bedürfnis auch für eine pflicht des Arztes ihre Grenze in dem medizintechnisch
„Hilfe zum Sterben“, also für eine Sterbehilfe gegenüber Möglichen. Aber der ärztlichen Vernunfthoheit wird im
Patienten, bei denen der Sterbevorgang noch nicht einge- Begriff der medizinischen Indikation zuviel aufgebürdet,
setzt hat und die trotz einer irreversiblen schweren wenn sie einen Behandlungsabbruch ohne oder sogar
Grunderkrankung unter Einsatz von Medizintechnik noch gegen den Willen des Patienten und damit eine „Zwangs-
Jahre am Leben erhalten werden können. Allerdings sterbehilfe“ begründen soll. Normativ sind die Ärzte
verbinden die Autoren des AE-StB das zutreffende Ein- nicht die „Herren über Leben und Tod“. Zudem bewegt
treten für ein weites Sterbehilfeverständnis mit zwei sich der Begriff der medizinischen Indikation im Schnitt-
problematischen Folgerungen. Zum einen meinen sie, feld zwischen Naturwissenschaft und Medizinethik und
„Sterbebegleitung“ gänzlich von irreversiblen Krank- ist daher allein zu unscharf, eine einheitliche Praxis der
heitsverläufen abkoppeln zu sollen, so dass auch Fälle einseitigen Behandlungsbegrenzung sicherzustellen.
der Behandlungsverweigerung etwa aus religiösen Grün- Auch die Autoren des AE-StB erkennen die „Gefahren“,
den (Zeugen Jehovas) unter Sterbebegleitung fallen.20 die mit einer „ausschließlichen ärztlichen Entschei-
Aber das ist kontraintuitiv. Bislang assoziiert der fach- dungskompetenz am Lebensende“ verbunden sein kön-
und umgangssprachliche Sprachgebrauch mit der Rede nen, glauben sie aber unter Hinweis auf die „sehr engen
von Euthanasie und Sterbehilfe allein Krankheitssituatio- Voraussetzungen der Irreversibilität und der unmittelba-
nen, die eine schwere unheilbare Krankheit als Grund- ren Todesnähe“ vernachlässigen zu können.25 Jedoch ist
voraussetzung haben. Denn nur diese Krankheitssituatio- selbst die Formulierung „nahe bevorstehender Tod“
nen zeichnet jene Schicksalhaftigkeit aus, die Gefähr- interpretationsbedürftig, weil Sterbeprozesse vom tödli-
dungen von Sterbeautonomie und Menschenwürde typi- chen Grundleiden abhängig sind und daher je nach
scherweise besorgen läßt. Insoweit verlöre der Begriff Krankheit unterschiedlich lange dauern können.26
der Sterbehilfe seine spezifische Struktur, wollte man wie
der AE-StB jede Behandlungsverweigerung, die tödliche Davon abgesehen erscheint § 214 Abs. 1 Nr. 4 AE-StB
Folgen nach sich ziehen kann (Amputationen, Bluttrans- auch nicht erforderlich. In der großen Mehrzahl der Fälle
fusionen etc.), unter „Sterbebegleitung“ subsumieren.21 dürfte sich ein Behandlungsabbruch bei nahe bevorste-
hendem Tod ohne weiteres auf den mutmaßlichen Willen
Zum anderen, und noch problematischer, wertet der AE- des Patienten stützen lassen, sofern hier nicht ohnehin
StB die als Begrenzungen abgelehnten Aspekte der un- bereits § 214 Abs. 1 Nr. 3 AE-StB greift.27 Was die ü-
mittelbaren Todesnähe und infausten Prognose zu eigen- bermäßigen Behandlungswünsche anbelangt, so ist zwi-
ständigen, vom (mutmaßlichen) Willen des Patienten schen den Wünschen des Patienten einerseits, seinen
unabhängigen Beurteilungskriterien für die Therapiebe- nahen Angehörigen andererseits zu differenzieren: Nicht
grenzung bei nahe bevorstehendem Tod auf.22 Danach mehr indizierte Behandlungswünsche der Angehörigen
soll ein Behandlungsabbruch auch dann nicht rechtswid- des Patienten sind schlicht irrelevant, weil es ausschließ-
rig sein, wenn bei nahe bevorstehendem Tod im Hinblick lich um den Willen des Patienten geht. Das (eher seltene)
auf den Leidenszustand des Betroffenen und die Aus- Problem von übermäßigen Behandlungswünschen des
sichtslosigkeit einer Heilbehandlung eine Weiterbehand- Patienten selbst sollte dagegen in Entsprechung zu dem
lung nach ärztlicher Erkenntnis nicht mehr angezeigt ist (seltenen) Fall, dass der Patient pflegerische Maßnahmen
(§ 214 Abs. 1 Nr. 4 AE-StB). Begründet wird der Rege- (z.B. Waschen) verweigert28, durch Aufklärung, Zu-
lungsvorschlag damit, dass „die Klarstellung der Straflo-
sigkeit des Helfens beim Sterben“ geboten ist, „um Ärz- 23
AE-StB, S. 573.
24
ten die Zurückweisung von nicht mehr indizierten Be- AE-StB, S. 572 f.; vgl. auch Verrel, Gutachten 66. DJT,
2006, C 99 ff. und BGHZ 154, 205, 224.
25
18
BGHZ 154, 205, 210; dazu Saliger, MedR 2004, 237; siehe AE-StB, S. 573.
26
auch AE-StB, S. 561. Zu den Schwierigkeiten der Begriffsbildung im Bereich der
19
AE-StB, S. 562 f., 584. Sterbehilfe, insbesondere in bezug auf den Begriff des Sterbens
20
AE-StB, S. 563. Saliger, KritV 2001, 382, 400 ff.
27
21
Näher Saliger, KritV 2001, 419. Vgl. dazu AE-StB, S. 566.
28
22
AE-StB, S. 562, 572 f. Siehe AE-StB, S. 561 f.
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spruch und Zuwendung bewältigt werden. Im Sinne vorherigen dokumentierten ärztlichen Aufklärung38,
dieser weisen Selbstbeschränkung hat der AE-StB auch – keiner notariellen Beglaubigung oder einer Erneuerung in
anders noch als § 214 Abs. 1 Nr. 2 AE-Sterbehilfe 1986 regelmäßigen Zeitabständen.
– im Ergebnis mit Recht auf eine Regelung zur Zulässig-
keit des einseitigen Behandlungsabbruchs bei Wachko- Damit ist namentlich das Problem der Schriftlichkeit von
mapatienten verzichtet.29 Patientenverfügungen als Wirksamkeitsvoraussetzung
angesprochen, für die der AE-StB votiert. Er begründet
c) Anerkennung von Patientenverfügungen im StGB das Schriftlichkeitserfordernis mit der Gewährleistung
eines unerlässlichen Mindestmaßes an Ernsthaftigkeits-
Im Kern zu begrüßen sind die Vorschläge der Autoren und Missbrauchskontrolle, der Entsprechung zum allge-
des AE-StB zur Problematik der Patientenverfügungen. meinen Begriffsverständnis („Patiententestament“) sowie
Das gilt zunächst für die Anerkennung von Patientenver- der Notwendigkeit sauberer Abgrenzungen zu früheren
fügungen als eigenständige Legitimationsgrundlage für und aktuellen mündlichen Willensäußerungen.39 Tatsäch-
passive Sterbehilfe.30 So soll eine Behandlungsbegren- lich ist aus diesen Gründen die schriftliche Abfassung
zung u.a. dann nicht rechtswidrig sein, wenn der Betrof- von Patientenverfügungen zu empfehlen. Die Gründe
fene dies in einer wirksamen schriftlichen Patientenver- tragen aber nicht zwingend das Schriftlichkeitsgebot
fügung für den Fall seiner Einwilligungsunfähigkeit auch als Wirksamkeitsvoraussetzung. Denn durch ein
angeordnet hat (§ 214 Abs. 1 Nr. 2 AE-StB). Nachdem Schriftlichkeitserfordernis werden frühere mündliche
der AE-Sterbehilfe 1986 noch auf Vorschriften über die Willensäußerungen des Patienten tendenziell entwertet,
Patientenverfügung gänzlich verzichtet31, der 1. Strafse- weshalb zur Vermeidung von Nachteilen für die Aus-
nat des BGH 1994 im Kemptener Fall Patientenverfü- übung des Selbstbestimmungsrechts Patientenverfügun-
gungen lediglich Indizwert zugesprochen32 und erst der gen formlos sein sollten.40
12. Zivilsenat des BGH 2003 als erstes deutsches Gericht
die grundsätzliche Rechtsverbindlichkeit von Patienten- Davon abgesehen verweist das Plädoyer der Autoren des
verfügungen anerkannt hatte33, verschließt sich damit AE-StB für das Schriftlichkeitserfordernis bei Patienten-
auch der AE-StB nicht der heute im Zivil- und Medizin- verfügungen auf ein grundsätzliches methodisches Prob-
recht sowie in der aktuellen rechtspolitischen Diskussion lem in der Verhältnisbestimmung zwischen Zivilrecht
dominierenden Auffassung von der prinzipiellen Rechts- und Strafrecht. Der AE-StB befürwortet entschieden eine
verbindlichkeit von Patientenverfügungen.34 gesetzliche Anerkennung der Patientenverfügung auch
im Strafrecht, weil die Zulässigkeit von Behandlungsbe-
Zuzustimmen ist den Autoren des AE-StB dabei darin, grenzungen für ihn „im Kern nicht primär ein zivilrecht-
dass sie die Patientenverfügung – anders als teilweise liches Problem, sondern vor allem eine Fragestellung des
vertreten35 – nicht auf bestimmte Erkrankungen be- Strafrechts“ ist (weshalb eine isolierte Regelung der
schränken, insbesondere Patientenverfügungen auch für Problematik im Zivilrecht nicht tunlich sein soll).41 Auf
die Fälle der Demenz und des Wachkomas zulassen.36 In dieser Aussage gründet der AE-StB eine grundsätzlich
der Tat besteht gerade in diesen Konstellationen die strafrechtsautonome Sicht auf im Kern zivilrechtliche
erhöhte Gefahr von selbstbestimmungswidrigen Würde- Fragen. Bei der Patientenverfügung führt ihn das nicht
verletzungen, die es abzuwehren gilt. Beifall verdient nur – nicht zwingend – zum Schriftlichkeitserfordernis.
auch, dass der AE-StB sich gegen überzogene Verbind- Er begreift die wirksame Patientenverfügung darüber
lichkeitsvoraussetzungen für Patientenverfügungen wen- hinaus als eigenständige Legitimationsgrundlage, die
det. Akzeptiert man die Maxime, dass an Patientenverfü- „zwischen dem ausdrücklichen und dem mutmaßlich
gungen grundsätzlich keine strengeren Wirksamkeitsvor- gewünschten Behandlungsverzicht steht.“42 Aber eine
aussetzungen zu stellen sind als an Testamente37, so solche strafrechtsautonome „Zwischensicht“ ist nicht
bedarf es für wirksame Patientenverfügungen keiner unproblematisch. Denn sie suggeriert eine Nachrangig-
keit der Patientenverfügung gegenüber der ausdrückli-
29
AE-StB, S. 568 f. chen aktuellen Willensäußerung und wird damit der
30
AE-StB, S. 563 ff. (565 ff.). Bedeutung wirksamer Patientenverfügungen nicht voll-
31
AE-Sterbehilfe (Fn. 9), S. 6. ständig gerecht. Zivilistisch betrachtet bezeichnen aus-
32
BGHSt 40, 257, 263. drückliche aktuelle Erklärung und wirksame Patienten-
33
BGHZ 154, 205, 217; dazu Saliger, MedR 2004, 237 f. verfügung vielmehr eigenständige und gleichrangige
34
Siehe etwa Referentenentwurf 3. Betr.ÄndG vom
01.11.2004, S. 3, 12 f.; Bericht der Arbeitsgruppe „Patientenau- 38
tonomie am Lebensende“ vom 10.06.2004, S. 16 ff., 45 ff.; Dagegen AE-StB, S. 567.
39
Zwischenbericht Enquete-Kommission „Ethik und Recht der AE-StB, S. 566.
40
modernen Medizin“ vom 13.09.2004, BT-Drucks. 15/3700, S. NK-Neumann, Vor § 211 Rn. 111; ebenso Bundesärztekam-
17 ff.; Grundsätze der Bundesärztekammer, NJW 2004, H. 23, mer NJW 2004, H. 23, S. XXXII; Referentenentwurf 3.
S. XXXII f.; weitere Nachweise bei NK-Neumann, Vor § 211 Betr.ÄndG vom 1.11.2004, S. 16 f.; Arbeitsgruppe „Patienten-
Rn. 109 ff. autonomie“, S. 16.
41
35
So insbesondere die Enquete-Kommission, BT-Drucks. AE-StB, S. 564; vgl. auch Verrel, Gutachten 66. DJT, 2006,
15/3700, S. 38 f., für die Demenz- und Wachkoma-Patienten C 57 ff. (und C 34 ff.), der die neue (alte) primäre Regelungs-
„außerhalb der Möglichkeiten einer Patientenverfügung“ lie- zuständigkeit des Strafrechts für die Sterbehilfe mit Emphase
gen. maßgeblich aus den vermeintlich chaotischen Folgen einer
36
AE-StB, S. 567 f. selbstbestimmungsfeindlichen Zivilrechtsprechung herleitet.
42
37
NK-Neumann, Vor § 211 Rn. 111 mwNw. AE-StB, S. 565.
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Erklärungen, nur eben für verschiedene Sachverhalte, zogene Vorstellungen von Anwendungsbereich und
nämlich die Patientenverfügung nur für den Fall der Aufwand des Betreuungsrechts. Das Gesetz selbst be-
aktuellen Einwilligungsunfähigkeit des Patienten. Inso- stimmt für lebensgefährliche Maßnahmen, dass eine
weit ist die wirksame Patientenverfügung die verbindli- Genehmigung unterbleiben kann, wenn mit dem Auf-
che ausdrückliche Erklärung des Patienten für den Zu- schub Gefahr verbunden ist (§ 1904 Abs. 1 Satz 2 BGB).
stand seiner Einwilligungsunfähigkeit. Allgemein ist der Grundsatz der Erforderlichkeit der
Betreuung (§ 1896 Abs. 2 Satz 1 BGB) zu beachten.
d) „Ergänzungen“ oder „Beschneidungen“ des Insoweit kann man mit Fug nicht nur bezweifeln, ob bei
Betreuungsrechts? Vorliegen einer wirksamen Patientenverfügung eine
Betreuerbestellung überhaupt veranlasst ist. Auch die
Eine tendenziell strafrechtsautonome Perspektive kenn- vom AE-StB hier betonte fehlende Notwendigkeit der
zeichnet auch die Positionen des AE-StB, die er als „Er- Einleitung eines Betreuungsverfahrens für den Fall, dass
gänzungen des Betreuungsrechts“ präsentiert. Dabei der Arzt sich durch ein Gespräch mit dem noch einwilli-
verdient zunächst Anerkennung, dass der AE-StB dem gungsfähigen Patienten ein klares Bild von dessen
Betreuungsrecht überhaupt Raum gibt. Noch 1986 hatte (Nicht-)Behandlungswünschen gemacht hat49, ergibt sich
der AE-Sterbehilfe auf prozedurale Regelungen verzich- bereits aus dem betreuungsrechtlichen Erforderlichkeits-
tet, um die persönliche Verantwortung zu stärken.43 20 grundsatz. Im übrigen begünstigt das Konfliktmodell
Jahre später ist dem AE-StB die prozedurale Rationalität „Mauscheleien“ zwischen Arzt, Angehörigen und Be-
einer vormundschaftsgerichtlichen Mitwirkung dagegen treuer bzw. einen „Zwang zum Konsens“, der nicht dem
unverzichtbar.44 Allerdings geht es dem AE-StB in seiner Rechtsgüterschutz dienen muß.
strafrechtsautonomen Perspektive nur um eine „gebrems-
te“ Prozeduralisierung: Von Anfang an sucht er einen Insgesamt sollte man bei dem Bestreben, die primäre
Kompromiß zwischen betreuungsrechtlicher Kontrolle Regelungszuständigkeit des Strafrechts für die Sterbehil-
und Absicherung einerseits und Praktikabilität sowie fe wiederherzustellen, die Leistungen der Zivilrechtspre-
Erhalt der persönlichen Entscheidungsfreiheit von Ärzten chung in den letzten Jahren nicht geringschätzen. Gewiß
und Stellvertretern des Patienten andererseits.45 gab es einzelne problematische Zivilurteile.50 Aber es ist
die Zivilrechtsprechung im Anschluß an den spekakulä-
Konkret gestaltet sich der Kompromiß so, dass das Vor- ren Beschluß des OLG Frankfurt am Main aus dem Jahre
mundschaftsgericht nur zuständig sein soll, wenn Arzt 199851 gewesen, die in einer bis dato nicht feststellbaren
und Betreuer hinsichtlich der Beurteilung des Willens Quantität und Qualität die Sterbehilfeproblematik rechts-
eines noch nicht Sterbenden uneins sind oder Zweifel praktisch überhaupt zur Diskussion gestellt hat. Und die
haben. Die vormundschaftsgerichtliche Kontrolle soll Grundsatzentscheidung des 12. Zivilsenats des BGH von
also von vorneherein nicht greifen bei Maßnahmen in der 2003 hat trotz ihrer Probleme wichtige Fortschritte hin-
Sterbephase. Um Missbrauch einzugrenzen, ist der Kon- sichtlich Patientenautonomie, Patientenverfügung und
sens zwischen Arzt und Betreuer zu dokumentieren, vormundschaftsgerichtliche Kontrolle erreicht.52 Ver-
wobei die Verletzung dieser Pflicht bußgeldbewehrt ist gleicht man diese Leistungen mit den Leistungen des
(§ 2 Abs. 1, 3, § 3 AE-Sterbebegleitungsgesetz). Von der Strafrechts in den Jahrzehnten seiner Hegemonie, so
Genehmigungspflicht ausgenommen sollen auch Be- kann sich diese Bilanz der Enttabuisierung der Sterbehil-
handlungsentscheidungen des Bevollmächtigten sein.46 fe sehen lassen.

Diese Vorschläge zeigen mehr Misstrauen gegenüber 2. Leidensmindernde Maßnahmen (§ 214 a


Praktikabilität und Leistungsfähigkeit des Betreuungs- AE-StB)
rechts als nötig. Die pragmatisch motivierte Beschrän-
kung der vormundschaftsgerichtlichen Kontrolle auf Einen interessanten neuen Weg beschreitet der AE-StB
Konfliktfälle leidet daran, dass sie sich nicht in das Sys- im Bereich der indirekten Sterbehilfe. Zunächst geht der
tem des geltenden Betreuungsrechts einfügt.47 Die dorti- AE-StB mit Recht von einem weiten Anwendungsbe-
gen Genehmigungsvorbehalte (§§ 1904, 1905 Abs. 2, reich dieser Form der Sterbehilfe aus: Indirekte Sterbe-
1907 Abs. 1 BGB) kennen zum einen keinen Konflikt- hilfe ist weder auf die Sterbephase, noch auf Schmerzzu-
vorbehalt. Zum anderen entstünde durch die Konfliktthe- stände, noch auf ein Handeln mit bedingtem Tötungsvor-
se bei der Sterbehilfe die nicht zu rechtfertigende Asym- satz beschränkt. Indirekte Sterbehilfe kommt demnach in
metrie, dass weniger schwere Eingriffe wie die Kündi- Betracht auch bei tödlich Kranken, bei Leidenszuständen
gung der Mietwohnung des Betreuten (§ 1907 Abs. 1 und bei Handeln mit sicherem Wissen von der lebensver-
BGB) einer strengeren vormundschaftsgerichtlichen kürzenden Wirkung der leidensmindernden Maßnahme.
Kontrolle unterworfen wären als der erheblich schwerere
Eingriff der passiven Sterbehilfe.48 Auch bestehen über-
prinzip“ auch dann machen, wenn in bezug auf die passive
43
Sterbehilfe keine zureichenden Anhaltspunkte für einen indivi-
AE-Sterbehilfe 1986 (Fn. 9), S. 6. duellen mutmaßlichen Willen des Betroffenen bestehen.
44
AE-StB, S. 570. 49
AE-StB, S. 572.
45
AE-StB, S. 570. 50
Insbesondere der Fall Traunstein, OLG München, NJW
46
AE-StB, S. 570 f. und 586. 2003, 1744. Der Fall der Zeugen Jehovas ist vom Bundesver-
47
Zur Kritik näher Saliger, MedR 2004, 243 f. fassungsgericht entschieden worden, BVerfG NJW 2002, 206.
48
Immerhin will Verrel, Gutachten 66. DJT, 2006, C 97 – 51
NJW 1998, 2747 mit Anm. Saliger, JuS 1999, 16.
weitergehend als der AE-StB – eine Ausnahme vom „Konsens- 52
BGHZ 154, 205; dazu näher Saliger, MedR 2004, 237.
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Dieser weite Anwendungsbereich soll der Furcht vor sich in diesem Kontext nicht leicht in tragfähige Argu-
Strafverfolgung beim Einsatz einer effektiven Schmerz- mente übersetzen lassen. Von einem Grundsatz der Un-
therapie entgegenwirken.53 Sodann entscheiden sich die antastbarkeit fremden Lebens kann weder de lege lata
Autoren des AE-StB für ein objektives Abgrenzungskri- noch auch nach den Regelungsvorschlägen des Entwurfs
terium zwischen strafbarer aktiver und erlaubter indirek- die Rede sein; denn selbstverständlich wird das Leben
ter Sterbehilfe: Da subjektive Abgrenzungskriterien fo- des Patienten auch dann „angetastet“ (so man den Begriff
rensisch nicht sicher nachweisbar sind, soll mit der „Lei- überhaupt auf Handlungen anwenden will, die mit Ein-
densminderung nach den Regeln der medizinischen Wis- willigung des Betroffenen begangen werden), wenn sein
senschaft“ ein objektives Abgrenzungskriterium heran- Tod durch die Verabreichung von Schmerzmedikamen-
gezogen werden. Um die Gefahr von Missbrauch zu ten oder durch die Einstellung lebenserhaltender Maß-
minimieren, ist die Durchführung von indirekter Sterbe- nahmen herbeigeführt wird. Die Theorie des „Damm-
hilfe dabei auf Ärzte oder Personen mit ärztlicher Er- bruchs“ kann nicht begründen, dass die Rechtsordnung
mächtigung zu begrenzen. Dazu kommen umfangreiche Patienten zu einem qualvollen Sterben verurteilen darf,
spezialgesetzliche Dokumentationspflichten bezüglich um eine – im übrigen außerordentlich umstrittene59 –
des Therapieverlaufs, deren Verletzung bußgeldbewert Schwächung des Tötungstabus zu verhindern.60 Schließ-
ist (§§ 1, 3 AE-Sterbebegleitungsgesetz).54 Insgesamt lich ist angesichts des exzeptionellen Charakters der
handelt danach nicht rechtswidrig, wer als Arzt oder mit Fälle, die bei der aktiven Sterbehilfe überhaupt in Be-
ärztlicher Ermächtigung bei einem tödlich Kranken mit tracht kommen, nicht zu sehen, wo die Gefahr eines
dessen ausdrücklicher Einwilligung oder aufgrund des in „Missbrauchs“ liegen soll. Im übrigen ist das Miss-
einer wirksamen schriftlichen Patientenverfügung geäu- brauchsargument bei der Begründung von Kriminalisie-
ßerten Willens oder gemäß mutmaßlicher Einwilligung rungsentscheidungen von vornherein rechtsstaatlichen
nach den Regeln der medizinischen Wissenschaft Maß- Bedenken ausgesetzt, weil es darauf hinausläuft, auch ein
nahmen zur Linderung schwerer, anders nicht zu behe- per se nicht strafwürdiges Verhalten mit Strafe zu bedro-
bender Leidenszustände trifft, wenn dadurch als nicht hen, um die Sanktionierung eines strafwürdigen Verhal-
vermeidbare und nicht beabsichtigte Nebenwirkung der tens zu ermöglichen. Im Bereich der Regelung zur indi-
Eintritt des Todes beschleunigt wird (§ 214 a AE-StB). rekten Sterbehilfe machen die Autoren des Entwurfs von
diesem Argument indes exzessiven Gebrauch.61
Gegen diese anspruchsvolle Regelung, die in neuartiger
Weise materielle mit prozeduralen Elementen verbindet, Der Verzicht auf eine ausdrückliche Regelung der direk-
ist isoliert betrachtet – abgesehen von der zu scharf sank- ten aktiven Sterbehilfe wäre vertretbar, wenn man bereit
tionierten Prozeduralisierung – nichts einzuwenden.55 wäre, den Extremfällen qualvollen, palliativmedizinisch
Allerdings muß man sehen, dass § 214 a AE-StB sich nicht beherrschbaren Leidens des Patienten über die
nicht unwesentlich vor dem Hintergrund der Annahme Regelung des rechtfertigenden Notstands (§ 34 StGB)
einer gänzlichen Überflüssigkeit von aktiver Sterbehilfe Rechnung zu tragen. Die Argumente, die von der abwei-
und dem Plädoyer für ihre ausnahmslose Strafbarkeit chenden h. M. bisher gegen die Anwendbarkeit des § 34
versteht.56 Der Regelungsvorschlag zur indirekten Ster- vorgebracht wurden, sind, wie insbesondere Reinhard
behilfe steht und fällt daher tendenziell mit diesen Positi- Merkel nachgewiesen hat,62 wenig schlüssig und offen-
onen und bleibt insofern entwurfsrelativ. sichtlich von dem Wunsch diktiert, Maßnahmen der
direkten aktiven Sterbehilfe unter allen Umständen aus-
3. Aktive Euthanasie zuschließen. Bei nüchterner Betrachtung ist dieses Er-
gebnis jedenfalls für die Fälle schwerster Leidenszustän-
Im Unterschied zum AE-Sterbehilfe von 1986 verzichtet de eines Sterbenden nicht zu begründen. Dass das sub-
der AE-StB darauf, im Tatbestand der Tötung auf Ver- jektive Interesse an Befreiung von Qualen jedenfalls in
langen (§ 216 StGB) Ausnahmen von dem strikten Be- extremen Fällen das subjektive Lebensinteresse wesent-
strafungszwang für die Fälle vorzusehen, in denen die lich überwiegen kann, lässt sich nicht ernstlich bezwei-
Erfüllung dieses Verlangens „der Beendigung eines feln. Es genügt, sich in die Situation des an „Vernich-
schwersten, vom Betroffenen nicht mehr zu ertragenden tungsschmerzen“ leidenden Krebspatienten im termina-
Leidenszustands dient, der nicht durch andere Maßnah- len Stadium zu versetzen und sich zu vergegenwärtigen,
men behoben oder gelindert werden kann“57 und hält an worauf man in dieser Situation verzweifelt hoffen würde.
der ausnahmslosen Strafbarkeit von Maßnahmen der Für das objektive Interesse gilt im Ergebnis nichts ande-
aktiven (direkten) Euthanasie fest. Begründet wird das res. Dem Patienten in dieser Situation ein von dem sub-
mit der „Unantastbarkeit fremden Lebens“, der „Gefahr
59
des Dammbruchs beim Lebensschutz“ und der „Sorge Kritisch zur Argumentation des AE-StB in diesem Punkt
vor Missbrauch“.58 Aber das sind Formulierungen, die Merkel, FS für Schroeder, 2006, S. 297 unter Hinweis auf die
einseitige Auswahl des wissenschaftlichen Schrifttums zur
53 aktuellen Situation in Holland durch die Autoren (S. 321 m.
AE-StB, S. 575 f.
54 Anm. 87).
AE-StB, S. 576 ff., 586. 60
55 Ausf. dazu NK-Neumann, Vor § 211 Rn. 128; ebenso Mer-
Vgl. auch die Würdigung von Merkel, FS für Schroeder,
kel, FS für Schroeder, S. 321.
2006, 297, 320 f. 61
56 Vgl. etwa S. 578, 583. Krit. zu diesem Missbrauch des Miss-
Dazu sogleich unten II. 3.
57 brauchsarguments Merkel, FS für Schroeder, sowie Lüderssen,
Für diese Fälle sah § 216 Abs. 2 des AE-Sterbehilfe (1986)
JZ 2006, S. 689, 692.
die Möglichkeit vor, von Strafe abzusehen. 62
58 Zuletzt in seinem Beitrag in der Schroeder-FS, S. 308ff.
AE-StB, S. 553.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 286

jektiven Interesse abweichendes höhergewichtiges (oder dem (freiverantwortlich handelnden) Opfer zugerechnet
im Vergleich zu dem Interesse an der Befreiung von werden können. Demgegenüber betrifft die Unterschei-
Qualen nur unwesentlich geringer wiegendes) Lebensin- dung zwischen Bilanz- und Appellsuizid, auf den die
teresse zuzuschreiben, wäre blanker Zynismus. Was sich Verfasser mit dem Kriterium der „Ernstlichkeit“ abstel-
dem – subjektiven und objektiven – Interesse des Ster- len wollen68, nicht die Abgrenzung der Verantwortungs-
benden an einer raschen Beendigung seines Leidens sphären des Suizidenten und des Dritten, sondern allein
durch Maßnahmen der aktiven Euthanasie entgegenset- die Motivation des Suizidenten. Entgegen der Ansicht
zen lässt, ist – allein – gesellschaftliches Interesse an der der Autoren kann deshalb ein eigenverantwortlich unter-
Aufrechterhaltung des Tötungstabus, das durch Maß- nommener Appellsuizid eine Strafbarkeit Dritter nach
nahmen aktiver Sterbehilfe in der Tat in höherem Maße den Tötungstatbeständen nicht begründen.69
beeinträchtigt wird als durch die im Grundsatz anerkann-
ten Maßnahmen der indirekten oder der passiven Sterbe- Im übrigen bleibt in der jetzt vorgeschlagenen Regelung
hilfe.63 Wie aber dieses gesellschaftliche Interesse von - anders als im AE-Sterbehilfe (1986) - unklar, in wel-
Rechts wegen einen Zwang begründen könnte, ein qual- chem Verhältnis die Voraussetzungen der Freiverant-
volles Sterben zu erdulden, ist in einer Rechtsordnung, wortlichkeit, der Ernstlichkeit und der „Erkennbarkeit“
die grundsätzlich von dem Vorrang des Individuums vor des (ernstlichen) Suizidentschlusses zueinander stehen.
dem Staat ausgeht, nicht zu sehen.64 Gleichwohl lehnt die Nach § 216 Abs. 1 des AE-StB ist die Nichthinderung
überwiegende Auffassung einen Rückgriff auf § 34 StGB einer Selbsttötung nicht rechtswidrig, wenn diese „auf
zur Rechtfertigung von Maßnahmen aktiver Sterbehilfe einer freiverantwortlichen und ernstlichen, ausdrücklich
selbst in Extremfällen ab. Eine gesetzliche Regelung, die erklärten oder aus den Umständen erkennbaren Entschei-
für diese Fälle ausdrücklich einen Tatbestandsausschluss, dung beruht.“ Das ist so, wie es formuliert ist, offensicht-
eine Rechtfertigung65 oder zumindest nach dem Vorbild lich nicht gemeint. Denn die Frage ist ja nicht, ob die
des AE Sterbehilfe von 1986 die Möglichkeit der Straflo- Entscheidung des Suizidenten aus den Umständen er-
sigkeit vorsieht, ist deshalb unverzichtbar, soll nicht der kennbar (und zusätzlich freiverantwortlich und ernsthaft)
menschlich (im subjektiven und objektiven Interesse ist, sondern ob ihre Ernstlichkeit aus den Umständen
qualvoll leidender Menschen) handelnde Arzt weiterhin erkennbar ist. Der AE-Sterbehilfe (1986) hatte deshalb
unter der Drohung hoher Freiheitsstrafen stehen. darauf abgestellt, ob die Selbsttötung „auf einer frei ver-
antwortlichen, ausdrücklich erklärten oder aus den Um-
4. Nichthinderung einer Selbsttötung (§ 215) ständen erkennbaren ernstlichen Entscheidung beruht“.
Hier bezieht sich die Erkennbarkeit ausdrücklich auch
Bei der Regelung über die Strafbarkeit (bzw. Straflosig- auf die Ernstlichkeit der Entscheidung.70 Man könnte die
keit) der Beteiligung an der Selbsttötung eines anderen abweichende Formulierung des aktuellen Entwurfs als
folgt der Entwurf weitgehend dem Vorbild des AE- redaktionelles Versehen abtun, würde nicht die Begrün-
Sterbehilfe (1986); in den Absätzen 1 und 2 stimmen die dung des Entwurfs der Annahme, in der Sache sei die
Vorschläge beider Entwürfe nahezu wörtlich überein. „alte“ Regelung des AE-Sterbehilfe gewollt, widerstrei-
Insbesondere übernimmt der AE-StB neben der Voraus- ten. Denn nach der authentischen Interpretation des § 215
setzung der Freiverantwortlichkeit des Suizids auch die AE-StB durch die Verfasser gelten nicht nur gemäß § 215
zusätzliche seiner „Ernstlichkeit“. Damit will man – wie Abs. 1 „Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren als un-
schon im AE-Sterbehilfe (1986) – erreichen, dass die frei“, sondern gemäß § 125 Abs. 1 auch „solche Perso-
Nichtintervention nur in den Fällen eines ersichtlichen nen, bei denen man nicht von einer ausdrücklich erklär-
„Bilanzsuizids“ straflos bleibt, während bei einem bloßen ten oder aus den Umständen erkennbaren ernstlichen
„Appellsuizid“ eine strafrechtlich sanktionierte Ret- Entscheidung ausgehen kann“.71 Damit wird die Frage
tungspflicht bestehen soll. Begründet wird das in dem des Vorliegens einer freiverantwortlichen und ernstlichen
aktuellen Entwurf – wie schon im AE-Sterbehilfe Entscheidung in methodisch problematischer Weise über
(1986)66 – mit der eher moralisierenden Erwägung, es eine Fiktion mit der ihrer situativen Erkennbarkeit kurz
werde damit „folgenschwere Gleichgültigkeit im mit- geschlossen. Den Vorzug verdient hier das Modell des
menschlichen Zusammenleben verhindert“.67 Aber diese AE-Sterbehilfe (1986), in dem beide Fragen klar getrennt
Argumentation trägt eine Bestrafung des nichtintervenie- werden.72
renden Garanten nach den Tötungstatbeständen wohl
nicht. Das Strafrecht hat nicht Gleichgültigkeit zu ahnden Zu begrüßen ist, dass § 215 des Entwurfs, insofern ab-
(und schon gar nicht durch Androhung und Verhängung weichend von der Vorgängervorschrift (§ 215 AE-
schwerster Freiheitsstrafen), sondern Rechts- und Sterbehilfe 1986), die Straflosigkeit ausdrücklich auf das
Rechtsgutsverletzungen. Diese aber sind im Falle einer
68
bewussten und gewollten Selbstverletzung einem Dritten AE-StB, S. 579 f.
69
nur dann zurechenbar, wenn sie nicht uneingeschränkt Zur Möglichkeit einer Strafbarkeit nach § 323 c StGB in
diesen Fällen NK-Neumann Vor § 211 Rn. 79.
70
63 Nicht ganz spannungsfrei ist hier allerdings die Doppelformel
Dazu NK-Neumann, Vor § 211 Rn. 28.
64 der „ausdrücklich erklärten oder aus den Umständen erkennba-
Ebenso Merkel, FS für Schroeder, S. 321.
65 ren“ ernstlichen Entscheidung, weil hinsichtlich der Ernstlich-
Für eine solche Lösung nachdrücklich Lüderssen, JZ 2006,
keit der Entscheidung die ausdrückliche Erklärung kein zuver-
689, 694 mit einem entsprechenden Gesetzesvorschlag zur
lässiges Kriterium ist.
Neugestaltung des § 216 StGB. 71
66 AE-StB, S. 579.
AE-Sterbehilfe (Anm. 9), S. 30. 72
67 AE-Sterbehilfe (Anm. 9), S. 21f.
AE-StB, S. 579.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 287

Unterlassen von Rettungsversuchen nach dem Selbsttö- losigkeit der Nichthinderung einer Selbsttötung zutref-
tungsversuch erstreckt; damit würde der älteren Recht- fend hervor (§ 215 Abs. 2 AE-StB).
sprechung des BGH, die mehrfach die Straflosigkeit der
Suizidbeihilfe und –nichthinderung durch eine Bestra- 5. Unterstützung einer Selbsttötung aus Ge-
fung des Garanten wegen Nichtintervention nach Eintritt winnsucht (§ 215 a AE-StB)
der Bewusstlosigkeit des Suizidenten konterkariert hat-
te73, der Boden entzogen. Zu pauschal ist dagegen die Einer Empfehlung der Bioethik-Kommission Rheinland-
fast wörtlich aus dem AE von 1986 übernommene Rege- Pfalz folgend, sieht der Entwurf die Einführung eines
lung des § 215 Abs. 2, nach der eine freiverantwortliche neuen Straftatbestands der „Unterstützung einer Selbsttö-
und ernstliche Entscheidung nicht nur dann zwingend tung aus Gewinnsucht“ vor. Danach soll mit Freiheits-
ausgeschlossen sein soll, wenn die Voraussetzungen der strafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft
§§ 20, 21 StGB vorliegen, sondern ausnahmslos auch bei werden, wer „die Selbsttötung eines anderen aus Ge-
jugendlichen Suizidenten. Die Festlegung einer solchen winnsucht unterstützt“ (§ 215 a AE-StB). Die Bestim-
starren Altersgrenze wäre deshalb unbefriedigend, weil mung zielt natürlich auf die Tätigkeit von sogenannten
selbstverständlich auch bei Personen unter 18 Jahren Sterbehilfeorganisationen wie „Dignitas“ oder „Exit“ und
Umstände der Lebenssituation vorliegen können, die den wäre nach dem Willen der Verfasser streng zu handha-
Suizid als nachvollziehbare Reaktion auf diese Umstän- ben. So soll gemäß der Begründung78 die Schwelle für
de, möglicherweise als einzigen Ausweg erscheinen die Annahme des Merkmals der Gewinnsucht hier deutli-
lassen. Wenn die Verfasser selbst – zu Recht – für die cher niedriger liegen als bei anderen Tatbeständen, etwa
straf- und standesrechtliche Zulässigkeit ärztlicher Sui- dem des Kinderhandels (§ 236 Abs. 4 Nr. 1 StGB). Ge-
zidbeihilfe (in Extremfällen) mit dem Argument plädie- winnsucht sei hier schon dann zu bejahen, wenn unter
ren, man müsse in ausweglosen Situationen einen „Weg Ausnutzung der Notlage des Suizidwilligen Geldzahlun-
zur Erlösung des Kranken“ finden und Verzweiflungsta- gen gefordert werden, die über Kosten- und Auslagener-
ten wie einen Sprung aus dem Fenster oder auf Bahnglei- satz sowie eine angemessene Honorierung hinausgehen;
se verhüten74, so ist nicht zu sehen, warum man gerade nicht erforderlich soll sein, dass eine „überzogen hohe“
Jugendliche auf den Weg solcher Verzweiflungstaten Forderung gestellt oder Druck auf den Suizidwilligen
verweisen sollte. Die bessere Lösung dürfte deshalb sein, ausgeübt wird.79
darauf abzustellen, ob die Suizidhandlung auf einer al-
tersbedingt defizitären Entscheidungskompetenz des Geschütztes Rechtsgut einer solchen Norm könnte natür-
Jugendlichen beruht oder aber eine nachvollziehbare lich nicht das Leben sein; denn gegen eigenverantwort-
Reaktion auf die Umstände der Situation darstellt.75 lich verübte Selbsttötungen (und diese unterstützende
Handlungen Dritter) ist das Rechtsgut „Leben“ straf-
Die wichtigste Stellungnahme der Verfasser zur aktuellen rechtlich auch nach Ansicht der Autoren nicht geschützt.
Diskussion um die rechtlichen Grenzen der Suizidbeteili- Zwar wird in der Begründung der Versuch unternommen,
gung findet sich in dem „Entwurf eines Sterbebeglei- einen Zusammenhang zwischen dem Motiv der Gewinn-
tungsgesetzes“, der den AE-StB ergänzt. Im Unterschied sucht und der Gefährlichkeit der Tätigkeit der Organisa-
und im bewussten Gegensatz zu den Grundsätzen der tion herzustellen; bei einer aus gewinnsüchtigen Motiven
Bundesärztekammer zur ärztlichen Sterbebegleitung76 geleisteten Sterbehilfe seitens privater Organisationen
wird unter bestimmten Voraussetzungen nicht nur die bestehe die Gefahr, dass diese „den Patienten ein rasch
strafrechtliche, sondern auch die standesrechtliche Zuläs- wirkendes Gift reichen, das eine nachträgliche Rettungs-
sigkeit einer ärztlichen Suizidbeihilfe bejaht (§ 4 Abs. 1). handlung ausschließt“.80 Aber das ist weder in den tat-
Das ist im Ergebnis wie in der Begründung77 überzeu- sächlichen noch in den normativen Prämissen überzeu-
gend und verdient nachdrückliche Unterstützung. Vor- gend. Dass eine nicht aus gewinnsüchtigen Motiven
sorglich ist allerdings klarzustellen, dass eine entspre- handelnde Organisation dem Sterbewilligen ein langsam
chende gesetzliche Regelung die standesrechtliche Zuläs- wirkendes Gift verabreichen wird (mit der Folge einer
sigkeit ärztlicher Sterbehilfe (unter den engen Vorausset- kurzzeitig fortbestehenden Rettungsmöglichkeit), ist
zungen des § 4 Abs. 1) festschreiben, nicht aber ihre nicht zu erwarten. Denn Grundlage der zwischen dem
strafrechtliche Zulässigkeit einschränken würde. Straf- Sterbewilligen und der Organisation getroffenen Verein-
rechtlich gelten auch für Ärzte die allgemeinen, durch barung ist der Konsens darüber, dass der Sterbewunsch
den Grundsatz der Straflosigkeit bloßer Suizidteilnahme definitiv, reiflich erwogen und nachvollziehbar ist. In
festgelegten Grenzen. Ein Sonderstrafrecht für Ärzte dieser Situation macht es keinen Sinn, dem Sterbewilli-
kann durch standesrechtliche Regelungen nicht begrün- gen mit der Perspektive einer nachträglichen „Rettung“
det werden. Dass auch bei einem tödlich Kranken die ein langsam wirkendes Gift zu verabreichen. Und dies
Freiverantwortlichkeit der Selbsttötung nur nach den entspräche – der normative Aspekt – auch nicht dem klar
allgemeinen Kriterien ausgeschlossen sein kann, heben artikulierten Interesse des Sterbewilligen, der sein Leben
die Verfasser in der vorgeschlagenen Regelung zur Straf- beenden und sich nicht aufgedrängten Rettungsmaßnah-
73
men ausgesetzt sehen will.
AE-StB, S. 580.
74
AE-StB, S. 581.
75
Naher dazu NK-Neumann, Vor § 211 Rn. 63. 78
76
NJW 2004, H. 23, S. XXXII. AE-StB, S. 582.
79
77
AE-StB, S. 580 f. AE-StB, S. 582.
80
AE-StB, S. 582.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 288

Welches aber soll dann das Rechtsgut sein, das den Tat- Das gilt umso mehr, als auch ein möglicher kriminalpoli-
bestand zu tragen hätte? Die Verfasser geben auf diese tischer Effekt der neuen Strafvorschrift nicht zu sehen
Frage den Bescheid, „Rechtsgut einer solchen Norm wäre. Nach ihren Satzungen verfolgen Dignitas und Exit
wäre ... die Ausnutzung der Notlage eines tödlich kran- keine kommerziellen Zwecke83, so dass Gewinnsucht in
ken Menschen, die bei Gewinnsucht sozialethisch ver- der Regel ausscheiden dürfte. Insoweit stünde zu erwar-
werflich ist“.81 Das ist natürlich nicht so gemeint, wie es ten, dass die Strafnorm an Stelle der eigentliche Ziel-
formuliert ist. Denn selbstverständlich ist die Ausnutzung gruppe der „professionellen Selbstmordhelfer“ den Nor-
einer Notlage kein Rechtsgut. Aber dass diese Formulie- malbürger erreichen würde, der sich dann unerträglich
rung misslungen ist, liegt nicht an sprachlichem Unge- ausforschenden Untersuchungen ausgesetzt sehen könn-
schick, sondern an der sachlichen Schwierigkeit, hier ein te, wenn sich in seinem Umfeld ein Selbstmord ereignet
tragfähiges Rechtsgut namhaft zu machen. Als nachvoll- hat. Ernüchternd ist der Blick ins Ausland. In der
ziehbarer Grund der vorgeschlagenen Kriminalisierung Schweiz existiert eine vergleichbare Strafvorschrift (Art.
bleibt deshalb nur die von den Verfassern angesprochene 115 SchweizStGB), deren praktische Bedeutung gering
sozialethische Verwerflichkeit der Handlung. Es sollte ist.84 Da auch Art. 115 SchweizStGB selbstsüchtige Be-
aber keiner Hervorhebung bedürfen, dass für die Krimi- weggründe voraussetzt, gerät Dignitas dort derzeit nicht
nalisierung einer lediglich verwerflichen (also: nicht ins Visier des Strafrechts. In Österreich ist sogar – wei-
rechtsgutsverletzenden) Handlung in einem rechtsstaatli- tergehend – die schlichte Mitwirkung am Selbstmord
chen Strafrecht kein Raum ist.82 strafbar (§ 78 ÖsterStGB). Die Strafvorschrift ist gleich-
wohl ebenfalls praktisch bedeutungslos, so dass ein füh-
81
AE-StB, S. 582. render Kommentator abschließend meint: „Die prakti-
82
Das gilt a fortiori für den in dem Gesetzentwurf der Länder sche Zweckhaftigkeit der Strafdrohung ist höchst zwei-
Saarland, Thüringen und Hessen formulierten (Anm. 10) for- felhaft ... Die Selbstmordverhütung mit Mitteln des Straf-
mulierten Straftatbestand der Geschäftsmäßigen Förderung der rechts ist praktisch sinnlos.“85
Selbsttötung. Soweit ein eigenverantwortlicher Suizid vorliegt,
kommt eine strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Gehilfen
aus zwingenden Gründen der Struktur strafrechtlicher Verant-
wortlichkeit nicht in Betracht – gleichgültig, ob diese Hilfe
***
individuell oder „geschäftsmäßig“ geleistet wird. Die Auskunft
der Verfasser, es handele sich um eine zur Täterschaft verselb-
ständigte Suizidbeihilfe (Entwurfsbegründung S. 4), lässt die
Frage unbeantwortet, wie eine wegen der Alleinverantwortlich-
keit des „Opfers“ dem Dritten strafrechtlich als Beihilfehand-
lung nicht zurechenbare Hilfeleistung diesem als Täterschaft
zurechenbar sein könnte (um Fragen der Akzessorietät im
technischen Sinne geht es hier natürlich nicht). Im übrigen
dürfte die Ansicht der Gesetzesverfasser, zufolge dem Entwurf
blieben „alle nach bisherigem Recht zulässigen ärztlichen
Handlungsweisen im Bereich der Sterbehilfe auch weiterhin
straflos“ (a.a.O. S. 5), unzutreffend sein, soweit es um die im
Rahmen palliativmedizinischer Einrichtungen gewährte Suizid-
beihilfe geht, da nicht zu sehen ist, mit welchem Argument man
hier ein geschäftsmäßiges Handeln verneinen könnte. Auf Seite 83
Art. 2 Abs. 5 Statuten Dignitas von 2004 und Art. 1 Satz 2
4 der Begründung ist denn auch lediglich davon die Rede, dass Statuten Exit von 2005.
die individuelle Hilfe beim Sterben, die „durch Angehörige von 84
Siehe dazu Schubarth, Kommentar zum schweizerischen
Heilberufen im Rahmen medizinischer Behandlung geleistet Strafrecht, BT/1, 1982, Art. 115.
wird“, wie bisher straflos bleibe. 85
Moos, in: Wiener Kommentar zum StGB, 2002, § 78 Rn. 5.

Sonderbeiträge zur Arbeitsgruppe „Feindstrafrecht – Ein Gespenst geht um im


Rechtsstaat“ des 30. Strafverteidigertages
Redaktionelle Vorbemerkung: Mit den folgenden Beiträ- des Feindstrafrechts nach Jakobs fragt Saliger in diesem
gen werden die Referate der Arbeitsgruppe „Feind- Referat nach dem kritisch-analytischen Wert der Katego-
strafrecht – Ein Gespenst geht um im Rechtsstaat“ rie des Feindstrafrechts und nach der ihr zugrunde lie-
des 30. Strafverteidigertages 2006 (Frankfurt a.M.) pub- genden Strafrechtsphilosophie. Ergänzt werden die hier
liziert. Lediglich das Referat von Frank Saliger wurde publizierten Referate um Beiträge von Arbeitsgruppen-
bereits in JZ 2006, 756 ff. unter dem Titel „Feindstraf- leiter Klaus Malek und von Jochen Bung, die jeweils aus
recht: Kritisches oder totalitäres Strafrechtskonzept?“ dem Eindruck der Frankfurter Diskussion entstanden
publiziert. Vor dem Hintergrund der zentralen Aussagen sind.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 289

Feindstrafrecht? – Eine Untersuchung zu zukünftig diese Rolle zuerkennen wird. Es geht nicht um
Normierungen, noch weniger um politische Postulate,
den Bedingungen von Rechtlichkeit* sondern um Bestandsaufnahmen und deren Verlängerun-
gen in die Zukunft.
Von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Günther Jakobs,
Bonn. Nun ist bereits an dieser Stelle mit einem Einwand zu
rechnen, nämlich Rechtlichkeit sei ein absolutes Ver-
nunftgebot und könne deshalb keine Bedingungen und
I. Einleitung keine Grenzen kennen. Auch wenn man die Absolutheit
des Vernunftgebots ausklammert – schließlich hat die
A. Absolute Rechtlichkeit? Geschichte Jahrtausende gebraucht, um sogenannte Men-
schenrechte zu entwickeln –, bleibt eine starke Behaup-
Was jeder gegen Mitte meines Vortrags stark vermuten tung übrig: Jeder soll zumindest in der heutigen Zeit stets
und spätestens am Ende sicher wissen wird, will ich als eine Person mit Rechten behandelt werden. Jüngst hat
gleich zu Beginn ohne Umschweife einräumen: der poli- im Rahmen einer öffentlichen Diskussion, in der ich
tical correctness entspricht das, was ich sagen werde, vorgebracht hatte, dieser Satz sei viel zu abstrakt, denn es
nicht. Politically correct ist es, in jedem Menschen in komme doch wohl – unter anderem – auch auf das Ver-
jeder Hinsicht eine Person und in jeder Person einen halten des Gegenüber an, ein Kollege entrüstet einge-
Rechtsgenossen sehen zu wollen, correct genauer: eine wandt, das sei nicht der Fall, selbst Hitler wäre, so man
Rechtsgenossin oder einen Rechtsgenossen, ausgestattet noch mit ihm umzugehen hätte, als Rechtsperson zu
mit sogenannten Menschenrechten; aber in diesem Vor- behandeln. Wahrscheinlich hat der Kollege nicht einmal
trag geht es um die Bedingungen von Rechtlichkeit und gemerkt, daß sein Einwand immer noch abstrakt bleibt:
damit – wenn die Bedingungen fehlen – zugleich um die In welcher Situation hat man denn mit dem menschen-
Grenzen von Rechtlichkeit. Die postulierte Welt des verachtenden Diktator umzugehen? Nach der Wiederher-
Korrekten mag solche Grenzen nicht kennen; die wirkli- stellung rechtlicher Zustände als mit einem Gefangenen
che Welt kennt sie. ohne aktuellen Wirkungskreis? Nun, dann kann man sich
die Rechtlichkeit leisten und ein allseits als fair aner-
Ich versuche, hier als Teil des Wissenschaftssystems zu kanntes Verfahren ablaufen lassen. Oder geht es um den
argumentieren, nicht des Rechtssystems. Demgemäß ist Hitler bis 1945? Dann zweifelt doch wohl niemand an
es nicht mein Anliegen irgend jemanden zum Feind zu der Legitimität der Tötung dieses Tyrannen durch ein
stilisieren, sondern zu beschreiben, wen das Rechtssys- Attentat, und die Tötung eines Tyrannen auf eine solche
tem als Feind behandelt, und zu prognostizieren, wem es Art und Weise hat mit dessen Behandlung als Person im


Vortrag, in geringfügig wechselnder Fassung gehalten (1) in jetunion (Dissidenten sind Kranke), das Bung ansonsten gewiß
der Veranstaltung „Feindstrafrecht. Vereinbar mit dem Rechts- verabscheut. – Ambos will nicht zwischen einem Individuum
staat?“ der Katholischen Akademie Trier (November 2005), (2) und einer Person unterscheiden, sondern sich „am Menschen“
im „Convegno: Delitto Politico e Diritto Penale del Nemico“ der orientieren, SchwZStr. 124 (2006), S. 1 ff., 25. Dazu: Das Recht
Università degli Studi di Trento, Sardagna, Trento (März 2006) ist eine Leistung der Kultur, nicht der Natur, und es geht gerade
und (3) in der Arbeitsgruppe „Feindstrafrecht. Ein Gespenst geht um die Frage, ob diese Kulturleistung bedingungslos erbracht
um im Rechtsstaat“ des 30. Strafverteidigertags/Frankfurt am werden kann. – Roxin, Strafrecht Allgemeiner Teil, Band 1, 4.
Main (März 2006). Nachweise meiner zuvorigen Stellungnah- Auflage, 2006, 2/126 ff., dort umfangreiche Nachweise nach
men zum Thema sowie einiger Gegenstimmen: Jakobs, ZStW 2/129, und Greco, GA 2006, S. 96 ff., 104 ff., wenden sich
117 (2005), S. 839 ff. (Nachdruck in: Organisationsbüro Straf- insbesondere gegen die „legitimatorisch-affirmative Verwen-
verteidigervereinigungen, Hg., Materialheft 30. Strafverteidiger- dung“ des Begriffs. Die Legitimation wird jedoch nicht von
tag, S. 49 ff.); Seitdem sind unter anderem hinzugekommen: demjenigen geleistet, der das Notwendige beschreibt. – Haupt-
Gracia Martin, in: Homenaje al Profesor Dr. Gonzalo Rodríguez sächlich bleibt bei allen oben Genannten offen, wie sie die von
Mourullo, 2005, S. 447 ff; Zaffaroni, ebendort, S. 1077 ff; De- mir als Feindstrafrecht bezeichneten Vorschriften des positiven
metrio Crespo Rev. d. Derecho Penal y Criminologia 2004, S. Rechts deuten wollen. Wenn aber eine Theorie den Widerstand
87 ff. – Ansonsten ist (beim Stand März 2006) zu bemerken: der Praxis nicht deuten kann, so ist „nicht genug Theorie da“
Düx, Materialheft aaO., S. 64 ff., 69, nennt zwar den deskripti- (Kant, Über den Gemeinspruch etc., In: Weischedel, Hg. Imma-
ven Gehalt des Begriffs, behandelt diesen aber als „abgegriffen“ nuel Kant, Werke in sechs Bänden, Bd. VI., 1964, S. 125 ff.,
(?) und „totalitär“; das geht am einzig Relevanten, dem Reali- 127). – Einigermaßen wirklichkeitsnah sind freilich die Ausfüh-
tätsgehalt, vorbei. – Gründlicher argumentiert Bung, Material- rungen von Hörnle, GA 2006, S. 80 ff., insbesondere zur „teil-
heft aaO., S. 56 ff., der sogar fast bis zum Kern vorstößt, dem weise(n) Suspendierung des Bürgerstatus“, S. 93. Ich wende
Zusammenhang von normativer Orientierung und kognitiver mich allein gegen ihre Assoziation: Feindstrafrecht – Carl
Untermauerung, S. 60: „Nichts ... berechtigt zu der Annahme, Schmitt (dazu auch unten im Text III. E.). Wenn in einem Kopf
überwiegend anomisches Verhalten könne konsistent als norma- während der Lektüre eines Textes „C. S.“ aufblitzt, – warum
tive Unzuverlässigkeit interpretiert werden. Wer am (?) norma- muß das am Text liegen? – Wirklichkeitsnah argumentiert ins-
tiven Geschehen (dem Sprachspiel der Verantwortungszuschrei- besondere auch Sinn, ZIS 2006, S. 107 ff., der freilich wie Bung
bung) nicht mitspielt, versteht im Regelfall immer noch, was da (s.o.) verkennt, daß die sichere Möglichkeit der Zurechnung (S.
gespielt wird und kann auch so (?) behandelt werden“ (S. 60). 114) ein Vorsorgen-Müssen nicht jedenfalls ausschließt. – Wie
Aber zuverlässig Zurechnen-Können und in einer Orientierung hier Roellecke, JZ 2006, S. 265 ff., 268: „Im Verhältnis zu den
bietenden Art und Weise Normbefolgung Erwarten-Können ist Terroristen bleibt dem Rechtsstaat ... nur die stumme Anwen-
nicht dasselbe. Die von Bung ansonsten vorgeschlagene Patho- dung physischer Gewalt.“ Das ist meine These (und bekräftigt
logisierung der hartnäckig Abweichenden ist ihrerseits eine mit dem Adjektiv „stumm“ meine Kritik an Bung und Sinn,
Entpersonalisierung, und zwar nach dem Muster der alten Sow- s.o.), freilich in einer vornehmeren Sprache.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 290

Recht nichts zu tun; er wird als Feind beseitigt. Meine Bemerkungen sind, wie ich wiederhole, deskriptiv
gemeint, nicht präskriptiv. Es wäre mir nicht einmal
B. Rechtlichkeit der rechtlich Gesonnenen unlieb, wenn sich die häßliche Gestalt des Feindstraf-
rechts auflösen ließe; zu einer bedingungslosen Auflö-
Der kraftvolle Satz, jeder solle zumindest heute als Per- sung sehe ich freilich nicht die geringste Chance, und
son im Recht behandelt werden, bedarf also, wie schon deshalb versuche ich, zur Kenntnis zu nehmen und zu
hier vermutet werden kann, eines Zusatzes: wenn dieser bringen, was der Fall ist, und sei es auch häßlich. Ich
„Jeder“ seinerseits seinen Pflichten nachkommt, oder werde zu zeigen versuchen, daß der Körper des Kaisers,
falls nicht, wenn man ihn im Griff hat, er also nicht ge- also des Staates, an manchen Stellen nicht mit ordentli-
fährlich werden kann. Wenn er aber wütet, muß man ihn cher rechtsstaatlicher Kleidung bedeckt, sondern nackt
bekämpfen, und wenn er wüten könnte, muß man sich ist, mehr noch, daß er unter den gegenwärtigen Bedin-
vorsehen. Der so ergänzte – bislang freilich eher intuitiv gungen nackt sein muß, wenn er nicht insgesamt wegen
und noch begründungsbedürftig ergänzte – Satz ist im- rechtstaatlicher Überhitzung Schaden nehmen soll. Der
mer noch abstrakt. Daß jeder als Person behandelt wer- Standardeinwand gegen diesen Versuch, die Aufklärung
den soll, ist per se ein bloßes Postulat, ein Modell für fortzuführen, lautet, die Rede von der Nacktheit, also
eine Gesellschaft, damit aber nicht schon Teil einer wirk- vom Feindstrafrecht sei obszön, ins politische gewendet:
lich stattfindenden Gesellschaft. faschistisch. Aber es kommt allein darauf an, ob die Rede
ihren Gegenstand trifft. Ich wage einen Versuch.
Nun mag es gerade das Beklagenswerte an einer wirklich
stattfindenden Gesellschaft sein, daß sie sich um das II. Rechtsgeltung
Menschenrechtsmodell nicht schert; man denke an die
massenhaften Entrechtungen der Bürger im Nationalso- A. Begriffe. Reine Normativität
zialismus und im Kommunismus. Aber alle Klagen hel-
fen nicht über den entscheidenden Befund hinweg: In Es soll mit den Begriffen der Person und der Rechtsgel-
solchen nun einmal zum Kulturlosen heruntergekomme- tung begonnen werden. Die Person wird, langer Tradition
nen Gesellschaften können Rechte und insbesondere folgend, als Trägerin von Rechten und Pflichten verstan-
Menschenrechte nicht das leisten, was Recht leisten soll, den.
nämlich Orientierung, auch für potentielle Opfer. Bei-
spielhaft, auf einen Bürger, der in der sogenannten DDR Zur Rechtsgeltung seien drei Ansätze genannt: (1) Gel-
sein Recht auf Freizügigkeit ausüben und das Territorium tendes Recht ist der als richtig begründete Umgang von
verlassen wollte, wurde geschossen. Wie soll sich der Personen miteinander – reine Normativität; (2) geltendes
Bürger bei dieser Lage an seinen Menschenrechten orien- Recht ist ein als richtig oder doch immerhin als plausibel
tieren? Offenbar muß also zwischen einem – wie über- begründbarer Umgang von Personen miteinander, der im
zeugend auch immer – postulierten Recht, einem Modell- großen und ganzen praktiziert wird – verwirklichte Nor-
recht, und der wirklichen normativen Struktur einer Ge- mativität; (3) geltendes Recht sind die Regeln des prakti-
sellschaft unterschieden werden. Jenes mag in Zukunft, zierten Umgangs von Menschen miteinander – reine
„im Geiste“, orientieren, aber nur dieses orientiert im Tatsächlichkeit.
jeweiligen „Hier und Jetzt“.
Den letzten Ansatz – reine Tatsächlichkeit – scheide ich
Immer noch einigermaßen intuitiv und weiterer Begrün- sofort aus: Was im großen und ganzen praktiziert wird,
dung bedürftig haben diese knappen Vorbemerkungen kann schiere Gewalt sein; der Ansatz läßt also völlig
ein differenziertes Bild ergeben: (1) Person-im-Recht- offen, ob überhaupt Personen (also Berechtigte und Ver-
Sein ist etwas Wechselseitiges, der andere muß „mitma- pflichtete) miteinander umgehen. Somit bleiben die ers-
chen“, falls nicht der seltene Fall gegeben ist, daß man ten beiden Ansätze.
ihn als Gefangenen im Griff hat. Die Lage muß also
einigermaßen ungefährlich gestaltet sein. (2) Ein Recht Der erste Ansatz – geltendes Recht ist das als richtig
postulieren zu können und ein Recht wirklich zu haben, begründete Recht – ist rein normativ; die Welt der
ist nicht dasselbe, und nur letzteres, das Recht, das man Rechtsnormen führt hier ein Eigenleben, wobei einzig
wirklich hat, bietet in der jeweiligen Gegenwart Orientie- interessiert, ob die Rechtsnormen und ihre Konkretisie-
rung. rungen formell korrekt aus einer geltenden Ermächti-
gungsnorm oder materiell korrekt aus geltenden materiel-
Diese Differenzierungen sind noch kein großes Ergebnis, len Obersätzen hergeleitet werden, konkret, aus Gottes
aber begründen doch die Hoffnung, die Sümpfe außer- Willen, aus dem Verstand oder der Vernunft, aus einer –
halb der wohl kaum überzeugend zugeschnittenen Spiel- warum auch immer – geltenden Verfassung. Wird einer
wiese der political correctness – und es sind Sümpfe – Norm nicht genügt, so soll eine Sanktion folgen; ge-
vielleicht ein wenig trockenlegen zu können. Bei diesem schieht das nicht, so soll die Säumigkeit des Staatsorgans
Unternehmen treibt mich kein rechtspolitischer Furor – sanktioniert werden etc. Die Orientierung für das Opfer,
ich halte hier keinen rechtspolitischen, sondern einen die diese Ordnung bietet, kann gleichfalls nur normativ
analytisch orientierten rechtsphilosophischen und straf- ausfallen. Etwa auf die Frage, wie man mit einem teuren
rechtswissenschaftlichen Vortrag über die Bedingungen Sportfahrrad verfahren soll, mit dem man zur Universität
von Rechtlichkeit. gefahren ist, lautet die Antwort: „Wo es auch herumste-
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hen wird, es darf nicht gestohlen werden, und sollte es Es ist deshalb nur konsequent, wenn der größte Normati-
doch gestohlen werden, soll der Dieb bestraft werden,“ vist des 20. Jahrhunderts, Hans Kelsen, der den Staat als
etc. Die fragende Person richtet sich danach und stellt das einen Zusammenhang von Normen begreift, nur bei einer
Rad unverschlossen ab; es wird gestohlen, aber die Aus- „im großen und ganzen wirksame(n) Verfassung“ und
kunft war richtig; denn es durfte nicht gestohlen werden bei einer verfassungsgemäß erzeugten „im großen und
und der Dieb, der unerkannt verschwunden ist, soll be- ganzen wirksame(n) Zwangsordnung“ eine „Grundnorm“
straft werden, etc. und damit einen logischen Geltungsgrund der Ordnung
annehmen will (Reine Rechtslehre, 2. Auflage, 1960, S.
B. Wirklichkeit der Normen 204), und das heißt, außerhalb dieser Wirksamkeit gibt es
bei Kelsen keinen geltenden normativen Zusammenhang.
Warum wird der Person diese Orientierung trotz ihrer Man mag sich Millionen Komplexe von Normzusam-
Richtigkeit in Zukunft nicht mehr genügen? Weil die menhängen ausdenken, einer besser begründet als der
Rechtsperson als reine Rechtsperson (und mehr kann sie andere, aber das sind Gedankenspiele, ebenso wie ausge-
bei diesem Ansatz nicht sein) nur ein abstrakter Anfang dachte Einzelnormen, mögen sie auch noch so richtig
bei der Verwirklichung des Rechts ist, während eine ausgedacht worden sein, vor ihrer Etablierung nur Ge-
entwickelte Rechtsordnung den Personen nicht nur das dankenspiele sind. Wirkliche Staaten und wirkliches
nackte Recht, sondern auch – im großen und ganzen – Recht finden im Gegensatz dazu im Ablauf der Gesell-
die Nutzung des Rechts garantiert. Mit anderen Worten, schaft auch wirklich, nicht nur gedanklich statt.
daß ein formeller wie materieller Eigentümer auch im
Fall eines Diebstahls immerhin formeller Eigentümer (Ergänzend: Kelsen verlangt in der Reinen Rechtslehre
bleibt, ist das erste, aber daß auch die materielle Seite, eine im großen und ganzen gegebene Wirksamkeit nur
die Nutzungsmöglichkeit, erhalten wird, also daß es nicht für die Verfassung eines Staates, nicht für jede einzelne
zum Diebstahl kommt, und so doch, daß Schadensersatz rechtliche Institution, etwa eine Norm, ein Gericht, eine
geleistet wird, ist ein weiteres, und ohne dieses weitere Person etc., da er nur das Problem der Orientierung an
paßt die Rolle der Person im Recht, hier: die Rolle des der Staatlichkeit behandelt, genauer: am rechtlichen
Eigentümers, nur für bedürfnislose Engel, nicht aber für Konnex staatsinternen Verhaltens. Wird der Blickwinkel
Wesen, die, abgesehen davon, daß sie Rechte und Pflich- erweitert, so muß auch das Verlangen nach der im großen
ten haben, auch ihr Auskommen in der Welt finden müs- und ganzen gegebenen Wirksamkeit entsprechend ausge-
sen. Abstrakte Personalität ist nicht das Ganze und kein dehnt werden.)
Endzweck; Rechte sind nur als nutzbare Rechte gut,
ansonsten, als nackte Rechte, unbrauchbar. Systemtheo- C. Das Kontrafaktische
retisch formuliert, die Person ist dergestalt mit dem Indi-
viduum, dem Bedürfniswesen, strukturell gekoppelt, daß Nun darf diese Verbindung von Geltung und gesell-
sie ohne dessen Befriedigung ihrerseits nicht wirklich schaftlicher Wirklichkeit nicht dahin verstanden werden,
werden kann. Insoweit, zur Opferseite, abschließend: jeder Normbruch mache eine Norm unwirklich, da sie die
Eine Rechtsordnung muß auch im großen und ganzen gesellschaftliche Wirklichkeit nicht aktuell gestalte.
etabliert sein, wenn sie für potentielle Opfer mehr als Diese Annahme wäre falsch. Was gesellschaftliche Wirk-
eine nur abstrakte, nämlich eine nutzbare Orientierung lichkeit ist, entscheidet nicht ein einzelner, zumal nicht
leisten soll. der Verbrecher, sondern die Gesellschaft selbst. Wenn
sie das Verbrechen als Verbrechen bezeichnet und den
Freilich ist noch ein Wort zur anderen Seite der Orientie- Verbrecher als einen solchen behandelt, also bestraft,
rung, zur Orientierung des Täters, erforderlich: Wenn beweist das die Wirklichkeit der Norm, ihre gesellschaft-
dieser weiß, daß eine Norm richtig begründet ist, dann liche Geltung. Eine Norm gilt also gesellschaftlich nicht
weiß er genug, um seine Pflicht zu kennen, die Norm zu nur, wenn sie befolgt, sondern auch wenn sie kontrafak-
befolgen. So stellt ja auch die Regel des geltenden Rechts tisch durchgehalten wird; denn in beiden Fällen erfüllt sie
zum „Verbotsirrtum“ (§ 17 StGB) nicht darauf ab, ob die Funktion, Erwartenssicherheit zu leisten (Luhmann
dem Täter die Strafbarkeit seines Verhaltens zugänglich Das Recht der Gesellschaft, 1993, S. 124 ff).
ist, und schon gar nicht kommt es darauf an, ob er ernst-
haft mit einer Bestrafung rechnen muß; es genügt die Mit einer Norm verhält es sich also anders als mit einer
Erkennbarkeit des Unrechts. Der Täter kann sich schon kognitiven Regel: Trifft bei dieser das Regelgemäße
dann an einer Norm orientieren, wenn er sie als richtig nicht ein, ist die Regel falsch oder falsch angewandt
begründet akzeptieren muß. Da freilich der Geist willig, worden, und die kognitive Lage muß verbessert werden;
das Fleisch aber schwach ist – eine biblische Weisheit – man muß, wie es genannt wird, umlernen. Anders bei
wird sich der Täter an eine zwar richtige, aber in der einer Norm: Wird sie übertreten, so ist nicht etwa sie
gesellschaftlichen Wirklichkeit noch nicht etablierte falsch, sondern das Verhalten des Verbrechers ist falsch,
Norm nicht halten, zumindest nicht einigermaßen zuver- und wie schon gesagt wurde, seine Behandlung als Ver-
lässig. Es bedarf einer praktizierten Bereitschaft zur brecher ist die Bestätigung, genauer, das Durchhalten der
Strafverfolgung, notfalls auch erfolgender Bestrafung Norm.
etc., um der Norm allseits Orientierungskraft zu ver-
schaffen. Ohne kognitive Untermauerung gilt selbst eine Dieses kontrafaktische Durchhalten der Norm kann frei-
optimal begründete Norm in der gesellschaftlichen Wirk- lich nicht „endlos kontrafaktisch“ ausfallen. Das wäre
lichkeit nicht mehr als ein unverbindlicher Wunsch. nichts anderes als eine Rückkehr zu dem bereits als (im
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hiesigen Zusammenhang) unbrauchbar abgelehnten rei- Der rechtswidrige Angriff als Auslöser der Notwehrbe-
nen Normativismus; denn „endlos kontrafaktisch“ würde fugnis schafft den krassen Fall einer aktuell nicht mehr
heißen „ohne jede gesellschaftliche Wirklichkeit“, „im- orientierenden normativen Erwartung: Daß der Angreifer
mer wieder auf den nächsten Schritt verweisend“. Aber sich wie eine Person im Recht, also wie ein Bürger, be-
wenn die Norm nicht beachtet wird, muß das wirklich nehmen werde, wäre eine offenbar falsche Annahme, und
geahndet werden, und wenn die Ahndung ausbleibt, muß deshalb muß die Situation kognitiv bereinigt werden,
wenigstens der säumige Justizfunktionär bestraft werden, eben durch die Abwehr. Es verhält sich aber nicht so, als
– eine noch größere Spannung zwischen Norm und Wirk- spiele nunmehr die Personalität des Angreifers keine
lichkeit wird sich kaum je ertragen lassen. Passiert im Rolle mehr: Er bleibt eine rechtlich gebundene Person,
zweiten oder dritten Schritt nichts, so erodiert die Norm- und der Angriff darf auch nicht beliebig, sondern nur im
geltung auf der Täter- wie der Opferseite; die Norm Rahmen des Erforderlichen abgewehrt werden. Kurzum,
spielt dann für den Fortgang der Gesellschaft keine Rolle die Situation liegt in einem Zwielicht: Die kognitive
mehr, wofür der Niedergang sämtlicher Regelungen, Untermauerung der normativen Erwartung ist zerbro-
welche die Abtreibung verhindern sollen, ein Beispiel chen, und deshalb darf der Angreifer fremdverwaltet
bildet – das nächste Beispiel wird der Niedergang der werden – das widerspricht seinem Person-Sein –, aber
Verbote aktiver Euthanasie bieten. doch wiederum nur unter Berücksichtigung seiner an sich
gegebenen Personalität. Mit anderen Worten, der Angrei-
Zurück zum Thema! Normen bedürfen einer kognitiven fer bleibt dem Begriff nach Person im Recht, Bürger,
Untermauerung, wenn sie die Orientierung leiten sollen; auch wenn er der Sache nach als gefährlich behandelt
es reicht nicht hin, daß sie als richtig oder als plausibel werden muß. Es verhält sich mit der Personalität ebenso
dargetan werden können, vielmehr müssen sie auch etab- wie mit der Normgeltung: Endlos läßt sie sich nicht ins
liert werden. Fehlt diese Untermauerung im Einzelfall Kontrafaktische verlängern, aber ein bißchen eben doch.
oder gar generell, so wird sich niemand an der Norm Wenn der Angreifer heute wütet, muß man ihn nicht
orientieren. Beispielhaft gefragt, wer begäbe sich ohne sogleich zur rechtlichen Unperson erklären, sondern kann
Not in die Gefahr, getötet oder auch „nur“ beraubt zu darauf setzen, daß er morgen vom Gericht zur Räson
werden, allein mit der Sicherheit, daß dies nicht sein darf, gerufen sowie zur Leistung von Schadensersatz verurteilt
oder wer läßt sein Haus nachts unverschlossen, nur weil wird und dann auch wieder seinen Pflichten nachkommt.
ohnehin kein Unbefugter eintreten darf?
Dasselbe gilt im – sit venia verbo – Normalfall eines
III. Person im Recht versus Feind Verbrechens: Der Verbrecher steigt wegen einer Tat oder
wegen einer Handvoll Taten nicht sogleich aus der Ge-
sellschaft aus – an vielen anderen Stellen mag er sich
A. Notwehr. „Normale“ Delinquenz bestens angepaßt verhalten –, sondern agiert eher punk-
tuell falsch, dies freilich massiv. Auch wenn die kogniti-
Was für Normen der Fall ist und, wie zur Reinen Rechts- ve Untermauerung seines Person-Seins durch sein
lehre Kelsens dargetan wurde, sich für den Staat als nor- Verbrechen erschüttert wird (so insbesondere Grolmann;
matives System nicht anders verhält, gilt nicht minder für Nachweise, auch für die in den folgenden Absätzen Ge-
die normativ, als Trägerin von Rechten und Pflichten, nannten bei Jakobs Staatliche Strafe. Bedeutung und
bestimmte Person: Auch sie verliert ihre orientierende Zweck, 2004, passim), läßt sich darauf setzen, sie werde
Kraft, wenn sie sich ins „endlos Kontrafaktische“ ver- sich bei erfolgender Bestrafung wieder festigen, und so
flüchtigt. Abermals beispielhaft, niemand betraut einen verfährt das Strafrecht im Regelfall: Der Verbrecher
notorischen Defraudanten mit der Kassenverwaltung und bleibt Person im Recht.
niemand einen notorisch Pädophilen mit der Aufsicht
über Kinder; denn der normativen Erwartung, das Ver- Die Strafrechtsphilosophie der Aufklärungszeit hat das
halten werde pflichtgemäß ausfallen, fehlt die kognitive überwiegend anders gesehen und argumentiert, der Ver-
Untermauerung, wenn sie immer wieder, eben notorisch, brecher löse sich durch seine Tat aus dem Gesellschafts-
enttäuscht wird. vertrag und falle in den Naturzustand zurück. Beispiel-
haft sei nur Leibniz zitiert: „Qui sciens nocet sine neces-
Das heißt allerdings nicht, diese Täter hätten damit auf- sitate in eum est jus belli“ (Busche, Hrsg., G. W. Leibniz.
gehört, Personen zu sein. Es mag sich ja so verhalten, Frühe Schriften zum Naturrecht, 2003, S. 102), und die-
daß die Täter nur einmal oder wenige Male eine Pflicht ses „jus belli“ kennt zwar eine Grenze, aber erst nach
aus dem riesigen Bündel ihrer Pflichten nicht erfüllen, so einem Sieg: „Pugna suum finem cum jacet hostis habet“
daß sich insgesamt ein noch erträglicher modus vivendi (aaO. S. 124). So oder so ähnlich findet es sich bei zahl-
finden läßt. Etwa den in der früheren Strafzweckdiskus- reichen Autoren und wird dann sogar noch von Fichte
sion immer wieder in polemischer Absicht herangezoge- wiederaufgenommen, und auch bei Kant verliert der
nen „notorischen Radfahrer ohne Licht“ muß man ja Verbrecher seinen Bürgerstatus, also die bürgerliche
nicht sogleich als rechtliche Unperson aus der Gesell- Personalität, (obgleich Kant die angeborene Persönlich-
schaft exmittieren. Die damit angedeutete Elastizität der keit, von der hier nicht die Rede ist, für unverlierbar
Beurteilung soll nunmehr etwas verdeutlicht werden, und hält). Diese sehr harte Lösung dürfte mit der ebenfalls
zwar zunächst am aufschlußreichen Beispiel der Not- sehr harten Strafenpraxis im 17. und 18. Jahrhundert
wehr. zusammenhängen; es sei nur daran erinnert, daß noch
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Kant für Diebe den Sklavenstand, Karrenstrafe, vorsieht, eben Partialfeind. Entsprechendes gilt für Täter, die sich
das preußische ALR von 1794 noch die Todesstrafe des haltungsgemäß, genauer, mangels Haltung, mutmaßlich
Räderns kennt und Fichte den Mörder für Vieh erklärt, nicht nur passager vom Recht entfernt haben, etwa für
das (da es nun einmal Vieh ist) konsequenterweise nicht manche Sexualdelinquenten; das wird hier nicht weiter
bestraft werden kann, sondern vor dem man sich zu si- verfolgt.
chern hat.
Geläufig wird mir vorgeworfen, diese Bestimmung des
B. Bürgerliche Delinquenten und Feinde Feindes sei einigermaßen ungenau. Die Feststellung
stimmt, aber sie ist als Vorwurf falsch formuliert: Beim
Rund 150 Jahre früher hat freilich ein Aufklärer bereits „Bürger“ oder „Bürgerstrafrecht“ und beim „Feind“ oder
ein differenzierteres Konzept vorgelegt, und es ist kein „Feindstrafrecht“ handelt es sich um Idealtypen, die in
Wunder, daß er weniger Vertragstheoretiker als Instituti- reiner Ausprägung praktisch nicht vorkommen. Das
onentheoretiker war: Der Vertrag ist bei Hobbes, um den Praktische liegt immer dazwischen und trägt deshalb das
es hier geht, eher eine Metapher dafür, daß die künftigen Stigma aller Mischtypen, eben ungenau zu sein. Ich habe
Bürger die Selbstorganisation der zentralen Macht nicht die Charakterisierungen des Feindes ja auch nicht frei
stören: Vertrag oder Unterwerfung oder anderes, Haupt- erfunden, sondern versucht, sie aus den vom Gesetzgeber
sache ist, daß eine Zentralgewalt entsteht. Hobbes unter- so genannten Bekämpfungsgesetzen und anderen Vor-
scheidet zwischen dem bürgerlichen Delinquenten und schriften zu destillieren. Wenn sich da – um im Bild zu
dem Hochverräter; jener wird nach den erlassenen Geset- bleiben – reine Alkohole und Fuselstoffe mischen, liegt
zen verurteilt, dieser aber als Feind bekämpft, und der das an der Maische des Gesetzes, nicht am Destillateur.
Grund für diese Differenz liegt auf der Hand, da jener
einen einzelnen Vorteil sucht, was zwar nicht zu dulden C. (Partielle) Exklusion des Feindes
ist, aber das Ganze nicht in Frage stellt, während dieser,
der Hochverräter, das Prinzip bekämpft, und das Prinzip Darf diese Behandlung eines Verbrechers – eben nicht
ist bei Hobbes in der konkreten Herrschaft verkörpert. als vollgültige Person, vielmehr als zumindest partieller
Feind – überhaupt sein? Wie steht es um den eingangs
Nun ist nicht zu erwarten, die vor mehr als 350 Jahren schon genannten Satz, jeder habe jederzeit einen An-
formulierten Gedanken des Hobbes ließen sich eins zu spruch auf Behandlung als Person? Der Satz gilt, aber er
eins in die Gegenwart übertragen, obgleich die Erkennt- läßt sich, wie zuvor schon vermutet und nunmehr belegt
nis, daß ein prinzipieller Gegner eben anders, als Feind, worden ist, nun einmal nicht einseitig anwenden. Die
zu behandeln ist als ein Bürger mit eher passageren De- Grundlage der Vermutung zukünftigen Legalverhaltens
fekten, nach wie vor richtig ist. Nur darf unter einem zu pflegen, ist eine elementare Bringschuld aller Bürger;
prinzipiellen Gegner heute nicht (nur) ein Gegner der denn nur beim begründeten Bestand dieser Vermutung,
etablierten Herrschaft verstanden werden, vielmehr ist er und die Begründung können nur die Bürger selbst leisten,
als ein Gegner der freiheitlich verfaßten Gesellschaft zu ist ein ebenso freier wie furchtloser Umgang miteinander
begreifen. Wer genau dazu gerechnet werden muß, läßt möglich. Wirkliche, orientierungsleitende Personalität
sich gewiß nur schwierig bestimmen, aber unmöglich ist läßt sich eben nicht durch bloße Postulate erreichen,
es nicht: Wer sich selbst zu einem Teil verfestigter kri- vielmehr muß, wer Person sein soll, „mitmachen“, und
mineller Strukturen gemacht hat, bei dem verdünnt sich das heißt, er muß seinen Teil leisten, also hinreichende
die Hoffnung, ein gemeinsamer modus vivendi werde Rechtstreue garantieren. Der genannte Satz muß also
sich trotz einzelner verbrecherischer Taten finden lassen, ergänzt werden: Jeder, der zumindest einigermaßen ver-
zur schieren Illusion, eben zur „endlos kontrafaktischen“ läßlich Rechtstreue verspricht, hat den Anspruch, als
Erwartung. Person im Recht behandelt zu werden. Wer dieses Ver-
sprechen nicht in glaubhafter Weise leistet, wird tenden-
Es kann deshalb kaum verwundern, daß der deutsche ziell fremdverwaltet; ihm werden Rechte genommen.
Gesetzgeber diejenigen Gesetze, die er selbst „Bekämp- Seine Pflichten bleiben ungeschmälert (wenn auch mit
fungsgesetze“ genannt hat, unter anderem gegen die Pflichterfüllung kognitiv nicht mehr gerechnet wird),
„Wirtschaftskriminalität“ gerichtet hat, die ja in ihren sonst wäre er mangels einer Pflichtverletzung nicht Ver-
schwereren Formen weitgehend organisierte Kriminalität brecher. Soweit ihm Rechte genommen werden, wird er –
ist, ferner gegen den „Terrorismus“ und gegen den „ille- definitionsgemäß – nicht als Person im Recht behandelt.
galen Rauschgifthandel und andere Erscheinungsformen Das ist der Kern meiner Ausführungen: Wird dieser Kern
der organisierten Kriminalität“: Wer sein Leben zure- ausgeräumt, bricht meine These zusammen; hat er Be-
chenbar und einigermaßen dauerhaft an kriminellen stand, betrifft alles weitere nur Details, nicht den Grund-
Strukturen ausrichtet, für den bricht zwar nicht rundum, satz.
aber doch bereichsweise die Präsumtion rechtstreuen
Verhaltens und damit eine Bedingung seines Status als Meist wird der Betreffende wohl nur partiell in der Posi-
Person im Recht zusammen. Der organisierte Kriminelle tion eines Feindes stehen, genauer, er wird sich dort
mag ein rührender Familienvater und sorgfältiger Auto- hinstellen; denn Exklusion in einer freiheitlichen Gesell-
fahrer sein, er mag Gewalt hassen und Tiere lieben, aber schaft ist immer Selbstexklusion: Durch eine Verhaltens-
einfach abzuwarten, was seine Organisation alles an änderung könnte der Feind wieder zum Bürger werden.
Taten produziert, wäre schlicht dumm. Ein Feind muß Es verhält sich also nicht so, als lasse die Gesellschaft
nicht unbedingt Totalfeind sein; wenn nicht, dann ist er den Feind nicht „herein“; er selbst hindert sein „Hinein-
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kommen“, weil er seine Bringschuld nicht leistet, also D. Deskription


nicht dafür sorgt, daß bei ihm rechtstreues Verhalten
vermutet werden kann. Mit dieser Feststellung – eher Im Blick auf die in Deutschland und einigen spanisch-
partielle und zudem selbst veranlaßte Exklusion – soll sprachigen Ländern bereits seit etwa fünf Jahren intensiv
freilich das Problem nicht verniedlicht und soll vor allem laufende Diskussion über das Feindstrafrecht – überwie-
nicht von der naheliegenden Frage abgelenkt werden, ob gend freilich eher eine Demonstration der Entrüstung als
der Umgang mit dem – und sei es partiellen und auf ein Beitrag zum Gedankenaustausch – erlaube ich mir
eigene Veranlassung dazu gewordenen – Feind überhaupt eine etwas herbe Bemerkung. Die Unterscheidung zwi-
ein rechtlicher Umgang ist. Die Antwort liegt auf der schen der Person im Recht und einem – zumindest par-
Hand: Soweit mit dem Feind als Feind umgegangen wird, tiellen – Feind wird hier durch eine Analyse der Bedin-
fehlt mangels Gegenseitigkeit das Rechtsband, das die gungen praktizierter, also orientierungsleitender, Recht-
bürgerliche Gesellschaft knüpft; der Umgang erfolgt also lichkeit gewonnen. In der Analyse mögen Fehler stecken,
im Verhältnis zum Feind nicht als rechtlicher (daß er die dann als solche darzutun wären; es wäre also zu be-
deswegen nicht grenzenlos sein muß, wird noch darzule- gründen, daß praktizierte Rechtlichkeit nicht auf einer
gen sein, und von den Rechten, die sich aus der angebo- zumindest unterstellbaren Gegenseitigkeit beruhe, was
renen Persönlichkeit ergeben, ist hier nicht die Rede; bislang freilich nicht einmal ansatzweise unternommen
siehe schon oben III. A.). „Feindstrafrecht“ kann also und noch weniger geleistet worden ist. Statt dessen heißt
nicht heißen, der Feind werde, auch soweit er eben Feind es mehr oder weniger unisono, es dürfe diese Unter-
ist, als bürgerlicher Rechtsgenosse inkludiert. scheidung nicht geben; denn Rechtlichkeit sei allumfas-
send. Aber das läuft auf das oben schon behandelte „end-
Also ist der Feind exkludiert, genauer, von einigen seiner los Kontrafaktische“ hinaus, und dieses ist per definitio-
Rechte exkludiert. Das könnte dahin mißverstanden wer- nem nicht wirklich. Wer diese Entthronung normativisti-
den, der Verbrecher habe es in der Hand, sich durch scher Omnipotenz durch die Wirklichkeit nicht aushält,
Wandlung zum Feind aus der bürgerlichen Gesellschaft sollte auf Normlogik umsatteln – da gibt es allumfassen-
zu verabschieden. So verhält es sich freilich nicht: Die de Geltung – oder auf Rechtspolitik – da gibt es leicht
Gesellschaft entscheidet selbst, wer in sie eingeschlossen formulierbare Utopien –, und ich vermute, daß sich die
ist und wer nicht, und – beiläufig – der Feind würde es Entrüsteten auf letzteres verlegt haben.
wohl in der Regel vorziehen, eingeschlossen zu bleiben.
Zudem entscheidet die Gesellschaft, inwieweit sie ein- E. Begriffe und Namen
oder ausschließt, und sie entläßt auch den hartnäckigen
Verbrecher nicht aus seiner Pflicht, kein Verbrechen zu In diesem Zusammenhang seien zwei Bemerkungen zum
begehen. – Was die Exklusion von den Rechten und in Begriff des Feindes und zur Namensgebung „Feindstraf-
diesem Sinn die Entrechtlichung angeht, so kann die recht“ erlaubt. Mit dem Begriff des Feindes, wie er in
Gesellschaft freilich ihre Entscheidung nicht abgehoben Carl Schmitts „Der Begriff des Politischen“ (1927) ge-
von dem alltäglich Praktizierten und in dem Sinne von bildet wird, mit dem Feind als existentiellem Gegner, ist
ihrer eigenen Wirklichkeit treffen, wenn das Ergebnis zur der hiesige Begriff nicht deckungsgleich. Bei Carl
Orientierung in eben dieser alltäglichen Praxis taugen Schmitt ist der Begriff des Politischen ein säkularisierter
soll. Salopp gesprochen, eine abstrakt gedachte Gesell- theologischer Begriff, der eher Gottesfürchtige von Gott-
schaft kann zur Person im Recht erklären, „wen, genauer: losen scheidet als politische Gegner im heute geläufigen
was (!) sie will“, aber gerade diese „Beliebigkeit“ nimmt Verständnis. Der Schmittsche Begriff handelt nicht von
ihr die Orientierungskraft in der alltäglichen Praxis. Eine einem Verbrecher, sondern vom hostis, vom anderen; im
wirklich stattfindende Gesellschaft kommt um eine mehr Staat kommt es erst bei einem Bürgerkrieg zu einer poli-
oder weniger umfassende Exklusion der hartnäckigen tischen Konfrontation im Sinne Schmitts. Der Feind des
Gegner nicht herum. Feindstrafrechts ist hingegen ein Verbrecher der vermut-
lich nachhaltig gefährlichen Sorte, ein inimicus. Er ist
Aber das Feindstrafrecht bleibt doch insoweit Recht, als nicht ein anderer, sondern er sollte sich als gleicher be-
es die Bürger ihrerseits, genauer, den Staat, seine Organe nehmen, und deshalb wird ihm auch Strafrechtsschuld
und Funktionäre, bei der Bekämpfung der Feinde bindet. zugeschrieben, anders als dem hostis Schmitts. Hätte ich
Feindstrafrecht ist eben kein Regelwerk zur grenzenlosen mich bei meinen Darlegungen auf Carl Schmitt bezogen,
Vernichtung, sondern ist im klug verwalteten Rechtsstaat so wäre das ein einigermaßen krasses Fehlzitat gewesen.
eine ultima ratio, die bewußt als Ausnahme angewandt
wird, als etwas, das nicht zu dauerndem Gebrauch taugt. Das Besondere gegenüber einem – sit venia verbo –
Um zu dieser Selbstbescheidung zu kommen, ist es frei- Normalverbrecher liegt darin, daß es allein mit einer
lich erst einmal nötig zu wissen, was man bei feindstraf- schuldangemessenen Bestrafung nicht getan ist, daß
rechtlichen Regeln „in der Hand hält“. Die vielleicht vielmehr (bei Vorverlagerungen:) vor der Tat oder zu-
gutgemeinte, aber gewiß nicht gute Annahme, alles sätzlich zur Strafe sichernd zu verfahren ist. Man mag
Recht sei stets jedermann gegenüber Recht, weil das fragen, warum diese Sicherung Feindstrafrecht heißt, wo
nicht anders sein dürfe, vertuscht in ihrer einfältigen es doch um ein Sicherungsrecht geht. Den Grund für
Zeichnung der Lage die – mehr oder weniger umfassende diese Namensgebung liefert der Gesetzgeber, der die
– Exklusion des Feindes, was seine Rechte angeht, und Sicherung formell als Strafrecht ausgestaltet: Die Mit-
damit das Warnzeichen der Ausnahme. glieder einer kriminellen Vereinigung werden dem Ge-
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setz nach (über das Maß der geschehenen Friedensstö- Normgeltungsschaden abzustellen, wird hier auf den Fall
rung hinaus) bestraft und nicht etwa in Verwahrung ge- jeder Planung eines Verbrechens, etwa eines einfachen
nommen, und die Maßregeln der Besserung und Siche- Raubs, übertragen. Solches überflüssige Feindstrafrecht
rung werden immerhin noch als Annexe des Strafrechts ist ein Übel, nicht das notwendige.
im Strafgesetzbuch geregelt.
Bei der Terrorismusbekämpfung steht heute praktisch die
IV. Feindstrafrecht als Gefahrenabwehr Vorschrift gegen die Bildung terroristischer Vereinigun-
gen im Vordergrund (§§ 129 a, 129 b StGB). Die ange-
drohten Strafen reichen abgestuft von fünf über zehn bis
A. Vorverlagerungen zu fünfzehn Jahren Freiheitsentzug, letzteres für „Rädels-
führer und Hintermänner“ (was diese auch immer sein
Wofür ist die Trennung der Person im Recht, des Bür- mögen). Zumindest die über fünf Jahre hinausreichenden
gers, vom zumindest partiellen Feind wichtig? Bei der Strafen lassen sich nicht mit dem aktuell verwirklichten
Suche nach einer Antwort auf diese Frage stelle ich a- Unrecht einer Störung der öffentlichen Sicherheit be-
bermals keine rechtspolitischen Postulate auf, sondern gründen – aber was für eine Funktion haben sie dann?
beschreibe, wie das geltende Recht zwischen der Bestra- Diese Strafdrohungen zeigen den Übergang von einem
fung eines Bürgers, der ein Verbrechen begangen hat, Normgeltung erhaltenden Strafrecht, üblicherweise
und dem Umgang mit einem Feind unterscheidet. Schuldstrafrecht genannt, zu einem Strafrecht als Maß-
nahmenrecht bei drohenden Gefahren. Den Unterschied
An erster Stelle ist die – mittlerweile auf Grund eines gilt es, genauer zu begründen.
europäischen Rahmenbeschlusses verbindliche, aber
auch zuvor bereits übliche – Vorverlagerung der Straf-
barkeit zu nennen, vorweg die Bestrafung der Bildung
B. Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht
einer kriminellen oder gar terroristischen Vereinigung,
also die Bestrafung eines weit vor einem Verletzungsde- Im Normalfall des Verbrechens ist die Strafe eine Art
likt liegenden Verhaltens. Die Entwicklung der Bestra- Schadensersatz, der bei der Person des Verbrechers
fung der Verbrechensvorbereitung in Deutschland lehrt, zwangsweise beigetrieben wird: Die Strafe ist Wider-
wie nützlich die Unterscheidung zwischen Bürger und spruch – das versteht sich von selbst – und Zufügung von
Feind sein könnte, so sie denn sauber durchgeführt wür- Schmerz, und dieser Schmerz ist so zu bemessen, daß die
de. Kurz dazu: kognitive Untermauerung der übertretenen Norm nicht
wegen der geschehenen Tat leidet. Widerspruch wie
Das preußische Strafgesetzbuch von 1851 und das Schmerz werden strafrechtsdogmatisch im Schuldbegriff
Reichsstrafgesetzbuch von 1871 kannten keine Bestra- präformiert. Für die schuldangemessene Strafe reicht es
fung der isolierten Verbrechensvorbereitung. Nachdem hin, wenn die Tat wegen der Strafe allgemein als
sich im Kulturkampf, einem Kampf des Staates für die mißglücktes Unternehmen verstanden wird; insbesondere
Verweltlichung der gesellschaftlichen Institutionen, ein geht es nicht um Abschreckung anderer Tatgeneigter:
Ausländer (der Belgier Duchesne) gegenüber hohen Deren Tatneigung hat der Täter in aller Regel nicht zu
ausländischen kirchlichen Stellen (dem Jesuitenprovinzi- verantworten. Beiläufig, in der Zeit der Aufklärung sah
al von Belgien und dem Erzbischof von Paris) erboten man das anders: Die Verbrecher wurden als eine zusam-
hatte, gegen Zahlung einer beachtlichen Summe den mengehörende Horde begriffen, so daß die Bestrafung
deutschen Reichskanzler (Bismarck) zu töten, wurde eine jedes einzelnen der Abschreckung der ganzen Horde zu
Vorschrift eingeführt, die solche Vorbereitungen bei dienen hatte. Etwa bei Christian Wolff heißt es, bei der
schwersten Verbrechen mit Gefängnis von 3 Monaten bis Bestrafung sei eher auf die anderen potentiellen Verbre-
zu 5 Jahren (Gefängnis, nicht Zuchthaus!), bei allen cher zu sehen als auf den konkret vor Gericht stehenden
anderen mit Gefängnis bis zu 2 Jahren bedrohte (§§ 49 a, Täter (Vernünfftige Gedancken von dem Gesellschafftli-
16 RStGB nach der Novelle von 1876) – eine Regelung, chen Leben der Menschen etc., sog. Deutsche Politik,
die wegen ihrer Milde offenbar nicht darauf abstellte, wie 1736, § 347).
gefährlich ein Feind werden kann, sondern was ein Täter
bislang angegriffen hat: die öffentliche Sicherheit. 1943 Mit der Umsetzung des dem Schadensersatz analogen
(!) wurde die Vorschrift (unter anderem) dergestalt ver- Modells (das ja schon als Modell des Normalfalls nicht
schärft, daß die Strafe an diejenige der geplanten Tat nur der harten Realität, sondern nicht minder einer
gebunden wurde; das Delikt gegen die öffentliche Si- erdachten Idylle nahestehen dürfte) ist es im Fall hal-
cherheit wurde damit in eine echte Bestrafung von Vor- tungsgemäß prinzipieller wie auch aktiver Gegner, also
bereitungen verwandelt, und diese Änderung ist bis heute unter anderem im Fall von Terroristen, nicht getan; denn
nicht rückgängig gemacht worden. Angeknüpft wird ganz unabhängig von der Antwort auf die bisher kaum je
somit an das noch nicht betätigte, sondern an das nur aufgeworfene Frage, wie es um die Schuld zumindest
geplante Verhalten, also nicht an den verwirklichten desjenigen Terroristen bestellt ist, der in einer der hiesi-
Normgeltungsschaden, sondern an die kommende Tat, gen Kultur feindlichen Kultur sozialisiert wurde, gilt es
mit anderen Worten, an die Stelle des aktuellen Normgel- im Fall eines jeden Terroristen – wie bei jedem Feind –,
tungsschadens tritt die Gefahr künftiger Schäden – eine auch ein bereits vorhandenes Defizit an kognitiver Si-
feindstrafrechtliche Regelung. Was bei Terroristen – cherheit auszugleichen. Wie das auch immer geschehen
prinzipiellen Gegnern – angemessen sein mag, eben auf mag, so geschieht es gewiß nicht in einem freien Diskurs,
die Größe der Gefahr und nicht auf den verwirklichten sondern indem der Terrorist selbst oder eher noch seine
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 296

Lebensumstände in zweckdienlicher Weise durch Zwang bei der Untersuchungshaft (§§ 112, 112 a StPO); ver-
verändert werden, und die Anwendung von Zwang zur gleichbar der Sicherungsverwahrung erkennt sie den
Änderung des Lebens eines anderen ist mit dessen Aner- Beschuldigten nicht als Person an, sondern erschöpft sich
kennung als Person insoweit, als Zwang angewendet ihm gegenüber in physischem Zwang, dies nicht, weil
wird, definitionsgemäß unverträglich. Praktisch wird die der Beschuldigte dem Prozeß beiwohnen muß – am Pro-
Sicherung vor dem Täter im Vordergrund stehen, entwe- zeß nimmt auch eine beschuldigte Person teil, und zwar
der durch eine als solche ausgewiesene Sicherungsver- aus Einsicht –, sondern weil er dazu durch die Inhaftie-
wahrung oder durch eine Sicherung garantierende, also rung gezwungen wird. Dieser Zwang richtet sich nicht
entsprechend lange Freiheitsstrafe. Letzteres ist – neben gegen die Person im Recht – diese verdunkelt nicht und
der schieren Abschreckung – einer der Gründe für die flieht nicht – sondern gegen das Individuum, das mit
hohen Strafen, die gegen die Bildung einer terroristischen seinen Trieben und Ängsten für den ordentlichen Rechts-
Vereinigung angedroht werden; diese Strafen lassen sich gang gefährlich wird, sich insoweit als Feind geriert.
nicht durch dasjenige erklären, was bereits geschehen ist Ebenso verhält es sich bei jedem Zwang zu einem Ein-
– es wurde die öffentliche Sicherheit beeinträchtigt, aber griff, etwa zu einer Blutentnahme (§ 81 a StPO), sowie
bislang zu keiner Verletzung angesetzt –, sondern nur bei denjenigen Überwachungsmaßnahmen, von denen
durch die bestehende Gefahr. der Beschuldigte zum Zeitpunkt ihrer Vornahme nichts
weiß, jedenfalls nichts wissen soll, weil die Maßnahmen
Freilich ist die Abwehr drohender Gefahren an sich Auf- nur funktionieren, solange der Beschuldigte sie nicht
gabe der Polizei. Warum übernimmt das Strafrecht diese kennt. Zu nennen sind beispielsweise die Überwachung
Aufgabe trotz der Gefahr seiner Verpolizeilichung? Die der Telekommunikation (§ 100 a StPO), sonstige gehei-
Antwort fällt mehrschichtig aus: Die Polizei kann an den me Ermittlungen (§ 100 c StPO) und der Einsatz ver-
Tatbestand der Bildung einer terroristischen Vereinigung deckter Ermittler (§ 110 a StPO). Wie im materiellen
keine für lange Zeit sichernden Rechtsfolgen knüpfen – Feindstrafrecht so gilt auch hier, daß solche Maßnahmen
das ist die erste Schicht – und sie soll es auch nicht – das nicht außerhalb des Rechts erfolgen, aber die Beschuldig-
ist die zweite –, weil dem Feindstrafrecht zumindest ein ten werden insoweit, als bei ihnen eingegriffen wird, von
Teil der rechtsstaatlichen Garantien des materiellen Straf- ihrem Recht exkludiert: Der Staat hebt in rechtlich ge-
rechts und des Prozeßrechts gegeben werden soll, um es ordneter Weise Rechte auf.
rechtsstaatlich erträglich zu machen, aber auch um die
Differenz zum Bürgerstrafrecht zu verschleiern, insoweit Ebenso wie im materiellen Recht gelten die krassesten
durchaus vergleichbar mit den Maßregeln der Besserung feindstrafprozessualen Regelungen der Erledigung terro-
und Sicherung und hier insbesondere mit der Siche- ristischer Gefahren, wobei ein Hinweis auf die Kontakt-
rungsverwahrung, die als gefahrenabwehrende Maßre- sperre, also die Aufhebung der Kontaktmöglichkeit zwi-
geln im materiellen Strafrecht „mitlaufen“ – ihrerseits schen einem Gefangenen und seinem Verteidiger zur
feindstrafrechtliche Rechtsinstitute. Wenn im Sommer Vermeidung von Gefahren für Leben, Leib oder Freiheit
2005 der deutsche Bundesinnenminister öffentlich von einer Person, genügen mag (§§ 31 ff EGGVG).
Vorüberlegungen zu einer „vorbeugenden Sicherungs-
verwahrung“ spricht, bestätigt das die hier gegebene
Deutung. Die genannten strafprozessualen Institute sollen hier
nicht in Bausch und Bogen verworfen werden; sie mögen
Ich fasse die insoweit nicht gerade neue Entwicklung nötig sein, um die Gesellschaft vor ihren Feinden zu
zusammen: Feindstrafrecht, insbesondere das gegen schützen. Aber man wird sie ja wohl noch bei ihrem
Terroristen gerichtete Strafrecht, hat eher die Aufgabe, rechten Namen nennen dürften: Ein „großer Lauschan-
Sicherheit zu gewährleisten, als Rechtsgeltung zu erhal- griff“ auf einen Bürger oder verdeckte Ermittlungen
ten, ablesbar am Strafzweck und an den einschlägigen gegen ihn passen nicht zu seinem Begriff. Sie richten sich
Tatbeständen. Das Bürgerstrafrecht, Garantie der vielmehr gegen Individuen, denen die Vermutung
Rechtsgeltung, wandelt sich in Gefahrenabwehr. rechtstreuen Verhaltens nicht mehr gilt, die also nicht im
Vollsinne als Bürger, als Personen im Recht, behandelt
werden, und auch wohl kaum als solche Personen behan-
C. Bemerkungen zum Prozeßrecht delt werden können.
Dem entspricht die prozessuale Lage. Der Beschuldigte
ist im Grundfall des rechtsstaatlichen Strafprozesses V. Grenzen
Prozeßsubjekt, mitwirkende Person; das unterscheidet ja
gerade den reformierten Prozeß vom Inquisitionsprozeß. Ist ein Feindstrafrecht legitim und wenn ja, bis zu wel-
Als Beispiele sind etwa zu nennen: das Recht auf rechtli- chem Maß? Als Versuch einer Antwort, und damit kom-
ches Gehör, das Recht, Beweisanträge zu stellen, bei me ich zum Schluß, formuliere ich drei Gedanken.
Vernehmungen anwesend zu sein und, dies insbesondere,
das Recht, bei der eigenen Aussage weder unzulässig Erstens, der Staat muß seine Gestalt nicht mutwillig aufs
getäuscht, noch gezwungen, noch verlockt zu werden (§ Spiel setzen; wenn von Feindstrafrecht die Rede ist,
136 a StPO). bedeutet das nicht sogleich „kurzen Prozeß“, „Verdachts-
strafe“, gar „öffentliche Vierteilung zur Abschreckung“
Andererseits tritt dieser personalen, prozeßsubjekthaften oder ähnliches (womit das Problem der Grenzziehung
Seite mannigfacher schierer Zwang gegenüber, vorweg freilich noch nicht gelöst ist).
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 297

Zweitens und hauptsächlich, die Deduktion einer Ant- Funktionäre anderenfalls im Blut der Feinde waten müß-
wort auf die Frage nach der Legitimität aus dem abstrak- ten. Es gibt eben Verhaltensweisen, die man wegen sei-
ten Begriff des Rechtsstaats ist nichts wert. Daß ein nes Selbstbildes nicht vollzieht.
Staat, der keine Sicherungsverwahrung kennt, der die
Bildung einer terroristischen Vereinigung nur als Tat Hält man sich von den Extremen des bedingungslosen
gegen die öffentliche Ordnung bestraft, dem Kontakt- Pazifismus wie der bedingungslosen Selbstverteidigung
sperren, Lauschangriffe, verdeckte Ermittler und vieles fern, so geht es um das Erreichbare, um das praktisch
weitere fremd sind, dem Ideal eines Rechtsstaates näher- Optimale, was heißt, das Feindstrafrecht sei auf das Er-
komme als ein Staat, der solche Einrichtungen und Maß- forderliche zu beschränken, dies ganz unabhängig von
nahmen erlaubt, läßt sich nur abstrakt feststellen; konkret dem sowieso bestehenden Klugheitsgebot, physische
mag der Verzicht auf diese Einrichtungen das Recht des Gewalt wegen ihrer korrumpierenden Nebenwirkungen
Bürgers auf Sicherheit aushöhlen, und dieses Recht auf geringzuhalten. Der Gesetzgeber könnte bei dieser Be-
Sicherheit ist nur ein anderer Name für ein Recht auf den schränkung leicht, sehr leicht, einen Anfang machen,
Zustand wirklicher Rechtsgeltung. So wie es schon zum etwa indem er bei der allgemeinen Verbrechensvorberei-
Begriff der Person und auch zu demjenigen der Rechts- tung zur alten Regelung einer Höchststrafe von 5 Jahren
geltung dargelegt wurde, so ist auch ein Rechtsstaat nicht Freiheitsstrafe für die Störung der öffentlichen Sicherheit
schon deshalb wirklich, weil er gedacht, postuliert wird, zurückkehrte. Das wäre keine Abschaffung jeglichen
und wer der Meinung ist, es müsse im Rechtsstaat stets Feindstrafrechts, nicht einmal ein Anfang davon, aber
alles verwirklicht werden, ohne Abstriche, der sollte bewiese Problembewußtsein, und je deutlicher dieses
wissen, daß dieses „Alles“ in der konkreten Wirklichkeit Problembewußtsein entwickelt wäre, um so geringer
begleitet wird von einem „oder nichts“, zumal ein wäre die Gefahr, daß das Feindstrafrecht, soweit es nun
schlechthin perfekter Rechtsstaat für Terroristen einen einmal unverzichtbar ist, und das Bürgerstrafrecht durch-
solchermaßen riesigen „Standortvorteil“ böte, daß er sie einandergeraten.
geradezu einlüde, in seinem Geltungsbereich zu verwei-
len, genauer: aktiv zu werden. Wenn ich mein Referat an dieser Stelle beende, so nicht
ohne nochmals herauszustreichen, daß meinen Ausfüh-
Drittens, niemand muß alles das, was man mit guten rungen jeder rechtspolitische Impetus fehlt, daß sie viel-
Gründen tun könnte, auch wirklich vollziehen. Beispiel- mehr von den Bedingungen wirklichen Rechts handeln.
haft, mancher Pazifist erklärt, im Fall der Notwehr den Über eine Idealwelt kann man sich leicht verständigen,
Angreifer nicht töten zu wollen, auch wenn dies erforder- aber für das Leben in der wirklichen Welt hat man da-
lich wäre, sondern eher selbst unterzugehen. Entspre- durch nichts gewonnen.
chend bleibt auch dem Rechtsstaat die Möglichkeit, dann
zurückzuweichen oder gar unterzugehen, wenn seine ***

Krieg und Politik – Das politische Feind- über unsere Befürchtungen reden, sowie mit Günther
Jakobs, der trotz der offenkundigen Differenzen in bezug
strafrecht im Alltag auf unser Thema immer offen für einen ehrlichen akade-
mischen Austausch war.
Von Prof. Dr. Alejandro Aponte
(Kolumbien). Einige der in diesen gemeinsamen Diskussionen aufge-
worfenen Fragen haben sich in diesem Text niederge-
Vorrede* schlagen und sind nun Teil des Vortrags. Ebenso finden
sich dort diejenigen Fragen wieder, die sich bei meinem
Es ist für mich eine große Ehre, an diesem Strafverteidi- Vortrag im vergangenen Jahr im Max-Planck-Institut in
gertag teilzunehmen. Im September letzten Jahres hatte Freiburg ergeben haben, und zwar bei einer Veranstal-
ich die Gelegenheit, an einer sehr interessanten, von tung, die mein Kollege und Freund Jörg Arnold organi-
Herrn Klaus Malek organisierten Diskussion der Verei- siert hat. Ihm möchte ich für seine jahrelange Unterstüt-
nigung Baden-Württembergischer Strafverteidiger zu- zung und Solidarität danken, als ich noch meine Doktor-
sammen mit den Professoren Hefendehl und Jörg Arnold arbeit in Saarbrücken am Institut für Rechts- und Sozial-
teilzunehmen. Außerdem war ich zum Dienstagsseminar philosophie der Universität des Saarlandes schrieb, des-
hier in Frankfurt eingeladen. Bei dieser Gelegenheit sen damaliger Direktor Alessandro Baratta besonders in
konnte ich mit Cornelius Prittwitz, Wolfgang Naucke, Lateinamerika sehr geschätzt wird.1
Klaus Günther und Ulfrid Neumann diskutieren. Diese
Autoren habe ich in meinem Buch zum selben Thema 1
bearbeitet. Außerdem konnte ich mit Winfried Hassemer, Eine detaillierte Darstellung des kolumbianischen Falles im
der für meine Arbeit von ganz besonderem Interesse ist, Rahmen einer allgemeinen Reflexion über das Feindstrafrecht
findet sich in: Aponte, Alejandro, Krieg und Feindstrafrecht.
*
Überlegungen über das effiziente Feindstrafrecht anhand der
Der Beitrag gibt einen Vortrag wieder, den der Verfasser im Situation in Kolumbien, Baden-Baden, 2004.
März auf dem 30. Strafverteidigertag gehalten hat.
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1. Vom kolumbianischen Einzelfall hin zu 2. Kolumbien: zwischen Frieden und Krieg


allgemeinen Überlegungen
Ausgangspunkt für unsere Studien zum kolumbianischen
Ausgangspunkt meines Vortrages und konkreter Bezugs- Feinstrafrecht muss die Suche nach seinem Kontext sein,
punkt ist Kolumbien, aber er beschränkt sich nicht nur nach seinen Ursprüngen und seiner Entwicklung. In
auf dieses Land. Es handelt sich um grundsätzliche Über- Kolumbien ist grundlegend für das Feindstrafrecht die
legungen, die sich mit Themen beschäftigen, die auf- Existenz von schwerwiegenden sozialen und politischen
grund ihrer Komplexität mit der westlichen Tradition Konflikten. Am Anfang steht hier eine extrem konflikt-
verflochten sind. Und wenn man sich auf den kolumbia- reiche Gesellschaft. Aber es handelt sich nicht um ir-
nischen Fall bezieht, entsteht notwendigerweise eine gendeinen Konflikt, sondern um einen bewaffneten in-
Verbindung mit Europa, konkreter gesagt mit Deutsch- ternen Konflikt, um einen Konflikt, der einem Bürger-
land, denn die in diesem Land entstandene Strafrechts- krieg ganz ähnlich ist und den das Land seit mehr als
wissenschaft hat den größten Einfluss auf Kolumbien fünfzig Jahren durchmacht. 2
ausgeübt; ebenso gibt es einen erheblichen Einfluss
durch Italien sowie, in letzter Zeit, durch Spanien. Darum Es handelt sich dabei nicht um einen normalen Bürger-
sind wir in Kolumbien und ganz generell in Lateinameri- krieg, in dem die Akteure oder Feinde klar benannt wer-
ka sehr besorgt über die derzeitige Zunahme von rein den können. Es handelt sich, im Gegenteil, um einen
effizienten und antidemokratischen Tendenzen im Straf- verschlimmerten, unklaren und diffusen bewaffneten
recht, die aktuell in Europa aufkommen, während man in Konflikt, an dem viele Akteure beteiligt sind: Guerilla,
den Ländern Lateinamerikas nach den antidemokrati- Paramilitärs, Drogenhändler usw. Es ist ein entpolitisier-
schen Regimen und einem instrumentalisierten und rein ter, entideologisierter bewaffneter Konflikt, der jedoch
politischen Gebrauch des Strafrechts versucht, sich an wie ein bewaffneter Konflikt um die Aneignung von
demokratischen und liberalen, auf der Einhaltung der Territorien ausgetragen wird. Es handelt sich dabei nicht
Rechte und Garantien basierenden Strafrechtssystemen um simplen Terrorismus, diesen gibt es auch im kolum-
zu orientieren. bianischen Konflikt. Es handelt sich dabei um wirkliche
militärische Auseinandersetzungen zwischen Akteuren,
Für die Lateinamerikaner ist das liberale Erbe eines de- die um ihre Präsenz in den weit von den Großstädten
mokratischen und aufgeklärten Strafrechts, wie es in abgelegenen Gebieten kämpfen, aus denen sich der Staat
Europa entwickelt wurde, eine unerschöpfliche Quelle im von jeher zurückgezogen hat. In diesen Gebieten üben
Kampf gegen den sich mit Riesenschritten ausbreitenden die Staatsbeamten nicht die Macht aus, sie wurden durch
effizienten und autoritären Pragmatismus, der manchmal parastaatliche Akteure ersetzt. Diese Gebiete stehen unter
in Verbindung mit Regierungssystemen des angelsächsi- Feudalherrschaft. In den abgelegenen Gebieten, in den
schen Raumes steht, dessen Saat jedoch heutzutage auch Gebirgen, den Urwaldregionen war der kolumbianische
im restlichen Europa aufgeht. Staat chronisch substituiert. Die Bedingung, die Max
Weber, Norbert Elias und Hans Kelsen für die Konsoli-
Ausgehend von den Überlegungen zum kolumbianischen dierung des modernen Staates gestellt haben, nämlich die
Fall ergeben sich allgemeine Fragen hinsichtlich des tatsächliche Monopolisierung der Macht und die tatsäch-
Feindstrafrechts, was wiederum zu einer allgemeinen liche Territorialisierung des Rechtes, ist hier einfach
Debatte über das Strafrecht, die Möglichkeiten seiner nicht gegeben. Darum benutze ich in meinen Arbeiten
Legitimation und seine mögliche zukünftige Ausprägung
2
führt. Gleichzeitig können die Gegensätze zwischen dem In der Diskussion, die sich nach meinem Vortrag beim Diens-
Feindstrafrecht in Kolumbien und in anderen Ländern tagsseminar in Frankfurt im Juli 2005 ergab, formulierte Ulfrid
aufgezeigt werden. Es handelt sich also um Überlegun- Neumann die folgende Frage: Wenn es so ist, dass der Aus-
gen, die auf einem konkreten Fall fußen und nicht im gangspunkt für das Feindstrafrecht in Kolumbien der Konflikt
ist, während es laut Jakobs in Deutschland bzw. in Europa der
intellektuellen Elfenbeinturm entstanden sind. Und auf- Konsens ist, welche praktischen Konsequenzen würde dieser
grund der konkreten Erfahrungen, die man in meinem Unterschied mit sich bringen? Dies ist eine der zentralen Fra-
Land mit dem Feindstrafrecht gemacht hat, kann man gen. Unser Meinung nach kann es sein, obwohl sich das im
schon hier die allgemeine Schlussfolgerung meines Vor- Prinzip paradox anhört, dass in einer auf dem Konsens beru-
trages vorwegnehmen: Nicht ein einziges ernsthaftes henden Gesellschaft das Strafrecht noch härter und noch weni-
Problem, das Kolumbien hat, ist durch die Anwendung ger die Rechte und Garantien bewahrend angewendet wird als
des Feindstrafrechts gelöst oder auch nur verbessert wor- in einer Gesellschaft, die durch große soziale und politische
den. Weder dem Drogenhandel, noch den Entführungen, Konflikte gekennzeichnet ist. Denn in diesen mag es gesche-
die in Kolumbien ein wirklich großes Problem sind, hen, und so ist es auch geschehen, dass in einem Akt der
Selbsterkenntnis, dass alle an diesen vielfältigen Konflikten
weder dem Terrorismus, noch der organisierten Krimina- beteiligt sind, sowohl die strafrechtliche als auch die militäri-
lität konnte von diesem autoritären Strafrechtsmodell sche Antwort eventuell relativiert und die Feind als relative
irgend etwas entgegengesetzt werden. Man kann im Feinde gesehen werden. Jedoch in einer Gesellschaft, die auf
Gegenteil ganz klar aufgrund der tatsächlichen Erfahrun- dem breiten Konsens beruht, obwohl dieser niemals empirisch
gen sagen, dass die durch diese Verbrechen aufgeworfe- nachgewiesen werden konnte, kann derjenige, der sich von
nen Probleme durch das Feindstrafrecht noch verschärft diesem Konsens entfernt, als Verräter behandelt werden, näm-
worden sind. lich als Verräter an der Sache des Konsens. In diesem Fall
könnte seine Strafe unbegrenzt sein, aus dem Feind wir eine
Unperson im absoluten Sinn.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 299

allgemein die von Von Trotha in seinen Arbeiten über Kolumbien als Demokratie. Diese Beobachtung stimmt,
die weltweite Krise des Gewaltmonopols benutzte Kate- aber es stimmt auch, dass seit fünfzig Jahren kein Regie-
gorie der „parastaatlichen Ordnungsform der Gewalt“.3 rungschef ohne Anwendung des Belagerungs- oder Aus-
Dabei wird die parastaatliche Ordnungsform der Gewalt nahmezustandes regieren konnte. Es gab zwar keine
als Autorität oder Macht verstanden: die Substituierung Militärregierung, die das demokratische System ersetzt
der Machtausübung des Staates. hätte, aber es gab einen permanenten Gebrauch des Aus-
nahmezustandes, der die Verfassungsnormen, welche die
Aber diese Schlussfolgerung muss differenziert werden. Rechte und Garantien und das Prinzip der Gewaltentei-
D.h. man kann nicht einfach die üblichen Kategorien der lung schützen, aufhob. In diesem Zusammenhang war es
Politikwissenschaft auf den kolumbianischen Fall an- die Exekutive, die die politische Macht auf sich vereinigt
wenden. Man kann nicht einfach behaupten, dass es sich hat und die eine große Zahl an Notstandsnormen erlassen
um eine kollabierte Gesellschaft ohne jegliche Institutio- hat. Diese waren nicht, wie es in einer Demokratie sein
nen handelt oder dass die Demokratie nur rein formaler muss, Ergebnis der parlamentarischen Debatte, sondern
Art ist. Diese Gesellschaft wird seit Jahren von verschie- sie wurden direkt von der Exekutive erlassen.
denen Arten der Gewalt heimgesucht, aber es gibt in ihr
Institutionen und eine sehr vielfältige Verfassung und es Während dieser jahrzehntelang andauernden politischen
gibt in diesem Land ein sehr aktives und sehr dezidiert an Unruhen in ganz Lateinamerika wurde in Kolumbien das
der Verteidigung eines Minimums an Institutionen betei- Feindstrafrecht in Form von mündlichen Kriegsgerichten
ligtes Verfassungsgericht. Diese Paradoxien des kolum- umgesetzt. Die militärische Kriminaljustiz wurde somit
bianischen Falls zwischen Demokratie und Gewalt, zwi- auf Zivilisten angewendet. In vielen Kriegsgerichten
schen Krieg und Recht, zwischen Krieg und Politik, wurden Guerilleros und Aufständische verurteilt. Aber es
zwischen Krieg und Frieden, machen dieses Land so wurden häufig auch Zivilisten verurteilt, die nichts mit
komplex und erfordern eigene Kategorien bei seiner dem bewaffneten Konflikt zu tun hatten. In dieser Zeit
Untersuchung. kristallisierte sich auch eine andere charakteristische
Eigenschaft des Feindstrafrechtes heraus: Zusammen mit
Inmitten dieser Paradoxien, zwischen Demokratie und dem „Hauptfeind“, das war in den 60er und 70er Jahren
Gewalt, zwischen Krieg und Recht ist das Feindstrafrecht der Guerillero, wurden auch Gewerkschaftsmitglieder,
verortet. Darum handelt es sich auch nicht um einen Anwälte, Mitglieder von Menschenrechtsorganisationen
diffusen Topos oder um eine Arbeit rein konzeptueller und Studenten verurteilt, alles Akteure, die keinerlei
Natur, sondern um einen konkreten Fall, in dem Straf- Verbindung zum bewaffneten Konflikt hatten. Heutzuta-
recht in Situationen des Krieges oder des bewaffneten ge wird der Terrorist oder die organisierte Kriminalität
internen Konfliktes angewendet wurde, und in dem diffu- als Hauptfeind betrachtet. Und auch hier werden in sei-
se Arten der Gewalt sich gegenseitig hochschaukeln. Im nem Schatten andere Akteure bestraft, die sich in einer
Rahmen dieses Strafrechtes ist der Feind kein Sexual- Art „Grauzone“ bewegen, die sich bei verschärften und
straftäter oder abstrakter Feind, sondern ein ganz konkre- ungelösten Konflikten bildet.
ter, nämlich ein militärischer.
Nun zeigt uns dieses historisch herausragende Faktum,
Man kann aus dem kolumbianischen Fall noch eine ande- nämlich der permanente Gebrauch des Ausnahmezustan-
re These ableiten: Unter diesen Umständen wird das des, eine der zentralen Eigenschaften des Feindstraf-
Strafrecht zu einer Fortsetzung des Krieges mit zivilen rechts in Kolumbien auf, das direkter Ausdruck des Not-
Mitteln. Die Strafrechtsprechung wird zu einer Fortset- standes ist und das aus der im Rahmen des Ausnahmezu-
zung der gewalttätigen Auseinandersetzung. Es ist klar, standes erlassenen Strafgesetzgebung entstanden ist. Es
dass man unter diesen Umständen keine Konflikte lösen, handelt sich dabei um ein Notstandsstrafrecht. Als sol-
sondern diese nur verschlechtern kann. Jedenfalls gibt es ches ist dieses vor allem das Ergebnis von Debatten über
dabei keine Möglichkeit, dass der Staat durch ein neutra- den Ausnahmezustand, der immer in den Köpfen der
les Strafrecht handelt. Exekutive herumgeistert. Das Notstandsstrafrecht als
konkreter Ausdruck des Feindstrafrechts ist also im we-
3. Das Notstandssyndrom sentlichen ein politisches Strafrecht. Es steht in Verbin-
dung mit politischen Entscheidungen. Die Entscheidung
Für einen ausländischen Beobachter Kolumbiens ist es über den Ausnahmezustand ist vor allem eine politische
immer wieder erstaunlich zu sehen, dass trotz der kon- Entscheidung, und womöglich noch mehr die Entschei-
fliktreichen Umstände das Land mit einem demokrati- dung darüber, wer denn das Ziel der Notstandsnormen
schen System überlebt hat und sogar Phasen eines ein- ist. Zwei Entscheidungen liegen also dem Feindstrafrecht
deutigen wirtschaftlichen Wachstums auf verschiedenen als politischem Strafrecht zugrunde: die Entscheidung
Ebenen verzeichnet hat. Während in den 60er und 70er über den Ausnahmezustand und die Entscheidung dar-
Jahren andere Länder Lateinamerikas Phasen mit Militär- über, gegen welchen Feind sich die Normen richten sol-
regierungen und Staatsstreichen erlebt haben, hielt sich len.

3
Von Trotha, Trutz, Ordnungsformen der Gewalt oder Aussich- 4. Der Feind als konstruierter Feind
ten auf das Ende des staatlichen Gewaltmonopols, in: Nedel-
mann, Brigitta unter Mitarbeit von Koepf, Thomas (Hrg.), Aufgrund dieser beiden Entscheidungen, und vor allem
Politische Institutionen im Wandel, Kölner Zeitschrift für So- aufgrund der zweiten, kann man folgende Schlussfolge-
ziologie und Sozialpsychologie, 1997, S. 141.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 300

rung ziehen: Der Feind ist immer ein konstruierter Feind. 5. Absolute und relative Feinde
Es gibt immer eine Entscheidung über die Feindschaft
und über den Feind. Dies ist natürlich nicht nur eine Wenn man weiß, dass der Feind vor allem ein konstruier-
besondere Eigenschaft im kolumbianischen Fall, sondern ter Feind ist, kann man auch verstehen, dass das Feind-
eine ganz allgemeine. Der Notstand ist nicht nur mit dem bild der politischen aktuellen Situation unterliegt. Der
Ausnahmezustand verbunden, sondern auch mit Sonder- Feind von heute ist nicht unbedingt der Feind von mor-
systemen, wie zum Beispiel den Sondernormen gegen gen. Aber man kann dann auch einen weiteren sehr inte-
die organisierte Kriminalität oder gegen den Terrorismus, ressanten Sachverhalt sehen: Es gibt nämlich relative
die Ausnahmen zu den normalen Spielregeln herstellen. Feinde und absolute Feinde. In einem konfliktreichen
So kann man beispielsweise auf die Frage von Hefendehl Szenario, wie es in Kolumbien gegeben ist, kann man
in einer Arbeit über die organisierte Kriminalität, was diesen Unterschied genau sehen. Das Feindstrafrecht
denn nun eigentlich organisierte Kriminalität ist und wer wird nicht immer gegen die als absolut betrachteten
denn diese Verbrechen überhaupt begeht, folgendes ant- Feinde angewendet, zum Beispiel gegen einen Terroris-
worten: Die Entscheidung darüber, wer der Feind ist und ten. Im Gegenteil, und das ist auch Teil des Feindstraf-
wie er behandelt wird, ist vor allem eine politische Ent- rechts, häufig werden gegenüber bestimmten Akteuren,
scheidung. 4 die eine politische Entscheidung in einen Friedensprozess
integriert hat, Amnestien und Begnadigungen ausgespro-
Es ist darum naiv zu glauben, dass der Feind vor allem chen. Sie wurden im Strafprozess meistens sehr gnädig
derjenige ist, der sich wie ein Feind benimmt. Sicherlich verurteilt. Sowohl die Guerilleros als auch heutzutage die
benehmen sich Terroristen, Selbstmordattentäter oder Paramilitärs wurden in Sonderverfahren sehr wohlwol-
Kriegsverbrecher ganz extrem wie Kriminelle. Aber in lend behandelt. Das Prinzip, das hinter diesen Zuge-
einem so diffusen Bereich wie den Normen gegen die ständnissen steckt, war das Anerkennen des politischen
organisierte Kriminalität, gegen den Drogenhandel, Charakters ihrer Handlungen. Aber dieses Anerkennen
Geldwäsche oder den Terrorismus wird der wirkliche ist eine eminent politische Handlung, sie hängt nicht von
Gehalt dieser Normen und vor allem ihr Ziel von einer den begangenen Taten ab, sondern sie ist die Grundlage
Entscheidung definiert. Der Feind ist nicht unbedingt einer politischen Entscheidung.
derjenige, der sich so benimmt, sondern der als solcher
definiert wird. Heutzutage gibt es beispielsweise ein Sondergesetz na-
mens „Ley de Justicia y Paz“ (Gesetz zur Sicherung des
Die von der Kriminologie entwickelte Kategorie der Friedens und der Sicherheit“), das, zumindest zurzeit, auf
„Definitionsmacht“ kann in diesem Zusammenhang Mitglieder von ultrarechten paramilitärischen Gruppen
weiterhelfen. Und jedes Land und jede Gesellschaft muss angewendet wird. Diese waren in schwerste Verbrechen
für sich selbst herausfinden, wo die Zentren der Definiti- und Verletzungen der Menschenrechte verwickelt. Aber
onsmacht sitzen. In Kolumbien ist es ganz klar, dass im heutzutage sind sie Teil des Friedensprozesses mit der
Zusammenhang mit dem Drogenhandel es nicht die Re- aktuellen Regierung und erhalten Vorteile aus dem ge-
gierung ist, die darüber entscheidet, was den Drogenhan- nannten Gesetz. Wie schwer auch ihr Verbrechen gewe-
del ausmacht und wer dazu gehört. Diese Entscheidungen sen sein mag, ihre Strafe bewegt sich immer zwischen
werden in Machtzentren getroffen, die nicht einmal in fünf und acht Jahren Haft, die sie tatsächlich verbüßen
unserem Land liegen. müssen. Und dieses Gesetz ist auch und vor allem Feind-
strafrecht, nur in diesem Fall wird es auf diejenigen an-
gewendet, die eine politische Entscheidung zu relativen
4
Hefendehl, Roland, Organisierte Kriminalität für ein Feind- Feinden gemacht hat. In diesem Fall könnten die interna-
oder Täterstrafrecht?, in: Strafverteidiger, Jahr 25, Heft 3, März tionale Gemeinschaft oder Menschenrechtsorganisatio-
2005, SS.156- 161. Über diesen Aspekt wurde im Rahmen der nen meinen, dass es sich um Schwerverbrecher handelt,
verschiedenen Vorträge des Autors in Deutschland im Sommer die eine sehr hohe Strafe verdienen würden. Aber dies ist
2005 am meisten diskutiert. Im bereits eingangs genannten
Dienstagsseminar in Frankfurt betonten Naucke und Neumann
irrelevant. Das einzig Wichtige ist, dass die politische
diesen zentralen Aspekt. Dies hat mit den unterschiedlichen Entscheidung ihnen ihren heutigen Status verliehen hat.
Ausgangspunkten zu tun, nämlich dem Konflikt im kolumbia- Und darum wiederholen wir hier noch einmal: Es ist pure
nischen Fall und dem Konsens im europäischen Fall. Für Neu- Naivität und Demagogie zu glauben, dass der Feind der-
mann ist laut Jakobs derjenige der Feind, der sich wie ein Feind jenige ist, der sich auch so benimmt. Wir wiederholen:
benimmt. Diese Schlussfolgerung können wir in dieser Arbeit Der Feind ist eine Konstruktion.
nicht teilen. Im Rahmen unseres Vortrages im Max-Planck-
Institut für Internationales Strafrecht in Freiburg im September
2005 kamen wir auch und besonders auf diesen Aspekt zurück. 6. Feindstrafrecht: Dogmatik oder Politik?
Bei diesem Vortrag wurde die Schlussfolgerung, die ja vom
kolumbianischen Fall ausgeht, dass nämlich der Feind vor Diese Schlussfolgerung führt uns auch zu einer weiteren
allem eine Konstruktion ist, außerdem von Professoren geteilt, grundlegenden These: Die Antwort auf die Frage, wie
die aus Ländern mit komplexen Problemen kommen, wie zum das Feindstrafrecht in der Praxis als politisches Not-
Beispiel aus Italien. Dort wurde im Juli 2005 direkt nach den standsstrafrecht handelt, wird nicht von der Strafrechts-
Attentaten von London wieder ein Antiterrorgesetz erlassen, dogmatik gegeben. Dies ist ein weiterer naiver Gedanke.
das wegen seiner rein symbolischen und rhetorischen Auswir-
kungen harsch kritisiert wurde. Und diese Rhetorik ist die
Wenn man ein ausgesprochen politisches Bestrafungs-
Rhetorik des Notstandes auf der Grundlage eines konstruierten modell mit dogmatischen Kategorien bearbeiten will, so
Feindbildes. ist man schon gescheitert. Aber das Problem ist noch
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 301

weitaus komplizierter und hat mit einer Frage zu tun, die Entscheidungen des Verfassungsgerichtes der letzten 15
Professor Naucke und verschiedene Anwälte in Freiburg Jahre zu diesen Themen waren von diesem Dilemma
aufwarfen: Kann man das Feindstrafrecht als politisches geprägt. Dabei wurden die Entscheidungen dahingehend
Strafrecht, als von der aktuellen Situation abhängiges und pervertiert, als das Verfassungsgericht zu einem Mitent-
ganz allgemein von den Rechten und Garantien weit scheider wurde über den Ausnahmezustand sowie über
entferntes Recht, in dem der Verbrecher durch den Feind die Definition des Feindes und ob er ein relativer oder
ersetzt wird und dieser außerhalb des Gesellschaftsver- absoluter Feind ist. Dies ist einer Demokratie natürlich
trages verurteilt wird, kann man ein solches Recht über- nicht zuträglich. Das Eingreifen der Verfassungsrichter
haupt noch Recht nennen? ist somit übertrieben und extrem politisiert und führt
möglicherweise zu Dysfunktionalität. Aber so kam es bis
Diese Frage ist natürlich beunruhigend, aber sie ist viel- heute zu dieser Dynamik und das Verfassungsgericht hat
leicht relativ einfach zu beantworten, wenn man die Sze- zugunsten eines verfassungskonformen Strafrechts die
narien betrachtet, in denen dieses Modell in die Realität praktischen Auswirkungen der Notstandsstrafgesetzge-
umgesetzt wurde und in denen es sich nicht um eine rein bung begrenzt.
theoretische Spekulation handelt. Um diese Frage zu
beantworten, muss man sich folgendes vor Augen halten: 7. Die Deinstitutionalisierung der strafrecht-
Es gab in Kolumbien große Bemühungen der Anwälte, lichen Funktion
die fast zehn Jahre lang in den 90er Jahren im Rahmen
einer Notstandsstrafgesetzgebung, der sogenannten „Jus- Diese vorherigen Überlegungen stehen in Verbindung
tiz ohne Gesicht“ handeln mussten. Diese ist in der neue- mit einer Frage, die mir häufig in den internationalen
ren Geschichte das bekannteste Modell eines Feindstraf- Foren zu diesem Thema begegnet ist: Ist es besser, wenn
rechtes und war dadurch gekennzeichnet, dass alles ge- es in einer so konfliktreichen Gesellschaft ein minimales
heim war. Es gab geheime Beweise, Staatsanwälte, Rich- Feindstrafrecht gibt, das auch noch von den Richtern in
ter, Zeugen und Gutachter. Bei diesen Strafprozessen seine Grenzen verwiesen wird, oder ist es besser, wenn
wurden die Rechte und Garantien radikal beschnitten. es überhaupt keine Strafgesetzgebung gibt? Auch diese
Und dennoch bewegten sich die Anwälte innerhalb ihrer Frage ist sehr beunruhigend. In einem Staat, in dem in
Grenzen und versuchten, wenigstens ein Minimum an den meisten Gebieten das Paradigma der Selbstverteidi-
Prozessgarantien zu sichern. Auch das Verfassungsge- gung gilt, in denen der Normalbürger dem Schicksal
richt unternahm mutige Versuche, einige der komplizier- ausgeliefert ist, das die bewaffneten und den Staat substi-
testen und am meisten kritisierten Figuren der Justiz tuierenden Akteure ihm aufzwingen, und in dem eine
ohne Gesicht an das Gesetz und die Verfassung anzupas- parastaatliche Ordnungsform der Gewalt herrscht, ist es
sen. Kann man nun in diesem Fall kritisieren, dass der natürlich immer viel besser, ein autoritäres Strafrechts-
Versuch des Verfassungsgerichtes, die Auswirkungen system zu besitzen als gar keines. Aber das kann nicht
einer sehr rigiden Sonderjustiz zu relativieren, ein reiner darüber hinwegtrösten, dass diese resignierende Haltung
Akt der Legitimierung dieser Justiz ist? Oder handelt es schlimme Auswirkungen hat.
sich vielmehr um mutige Bemühungen des Gerichtes, das
allen Arten von Druck ausgesetzt war? An dieser Stelle Ein konkretes Beispiel dafür: In einer abgelegenen Ur-
müssen wir darauf hinweisen, dass das kolumbianische waldregion führen die Armee und die Polizei eine Be-
Verfassungsgericht häufig von der Exekutive und dem freiungsaktion für eine entführte Person durch. Es kommt
Notstandsgesetzgeber zu einer Art Feind des „Kampfes zu einem Feuergefecht zwischen den Entführern und den
gegen die organisierte Kriminalität“ oder gegen den staatlichen Einsatzkräften. Wenn es nun keine juristische
Terrorismus gemacht wurde. Dies ist eine weitere Eigen- Regelung, wenn auch minimaler Art, gibt, so kann es
schaft des Feindstrafrechts: Die Tendenz zu Reaktionen, vorkommen und ist auch vorgekommen, dass die Entfüh-
die an die jeweilige Situation gebunden sind, kann sogar rer zum Beispiel einfach erschossen werden, sobald sie
dazu führen, dass eine Institution wie das Verfassungsge- sich ergeben haben. Oder möglicherweise werden sie
richt als „Feind“ betrachtet wird. Diese Tatsache wurde gefangen genommen und dann gefoltert. Wenn es aber
vor allem von Herbert Prantl in einem Kommentar über eine Art der minimalen juristischen Regelung gibt, auch
mein deutsches Buch zu diesem Thema im April 2004 wenn sie autoritär ist, so können die Entführer den Be-
hervorgehoben.5 hörden übergeben werden und dann ohne große Garan-
tien als Feinde verurteilt werden, aber zumindest ist ihr
Das Dilemma ist folgendes: Soll sich das Verfassungsge- Leben nicht in Gefahr. Das ist natürlich eine pervertierte
richt den Notstandsstrafgesetzen im ganzen entgegenstel- Wahlmöglichkeit, aber dies ist heutzutage das wahre
len und wird dafür von der Exekutive an den öffentlichen Dilemma des Feindstrafrechts.
Pranger gestellt und als Hindernis im „Kampf gegen den
Terrorismus“ oder gegen die organisierte Kriminalität Wenn man sich nun eingehender mit diesem Dilemma
dargestellt? Oder soll es einen Ausgleich schaffen, um beschäftigt, so findet man heraus, dass die erwähnte
die Auswirkungen eines antiliberalen und antidemokrati- Wahlmöglichkeit in Wirklichkeit nur formaler Art ist. D.
schen Strafrechts zu mildern, wohl wissend, dass es sich h. das zentrale Problem des Feindstrafrechts ist seine
nicht dem ganzen System entgegenstellen kann? Alle inhärente Gefahr, zu einer reinen de-facto-Antwort in der
5
deinstitutionalisierten Ausübung der strafrechtlichen
Prantl, Herbert, Bürger und Feinde. Strafrecht als Fortsetzung Reaktion zu verkommen. Wenn, wie Walter Benjamin
des Kriegs mit anderen Mitteln - der Beschuldigte als militäri- behauptet, in der juristischen Ordnung eine rechtssetzen-
sches Ziel, in: Süddeutsche Zeitung, April 24/ 2005.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 302

de und eine rechtserhaltende Gewalt existiert, so dass es tage in allen Ländern, die dieses autoritäre Strafrechts-
in jedem juristischen System eine Gewalt gibt, die not- modell vorantreiben.
wendig ist, um dieses Recht zu erhalten, so kann diese
Gewalt gleichzeitig zu einer Bedrohung der juristischen Die bereits erwähnte Aufgabe, nämlich einen mutigen
Ordnung werden.6 Die Macht, die nötig ist, um das Recht Vorstoß zur Einführung eines liberalen und verfassungs-
zu erhalten, wird zu ihrer eigenen Bedrohung, da diese konformen Strafrechts und zur Verteidigung des wirkli-
Macht zu einer Macht ohne Grenzen werden kann. chen Bürgerstrafrechtes vorzunehmen, wird in Kolum-
bien hauptsächlich vom Verfassungsgericht übernom-
Diese grundlegende Tatsache, die es in jedem Straf- men. Im Jahr 2004 erklärte dieses Gericht mit einer
rechtssystem egal welcher Art gibt, verschärft sich noch knappen Mehrheit von fünf zu vier Stimmen ein neues
im Falle eines Feindstrafrechts. In diesem Fall muss Antiterrorstatut für verfassungswidrig, denn es handelte
Gewalt ausgeübt werden, um diese Art von Rechtsmodell sich dabei nicht nur um Ausnahmenormen, sondern um
aufrecht zu erhalten, und diese Gewalt ist im wesentli- eine Verfassungsreform. Die Verfassung sollte radikal
chen gegen die Rechte und Garantien gerichtet und kann zugunsten einer absoluten Fortdauer des Feindstrafrechts
daher in der Praxis unbegrenzt ausgeübt werden, so dass geändert werden. Obwohl es allen Arten von Druck aus-
sie die Art von Recht ersetzen kann, die sie erst einge- gesetzt war, auch internationalem Druck, und trotz der
setzt hatte. Daher wird das Feindstrafrecht in Wirklich- Vereinbarungen, die die Regierung mit anderen Ländern
keit zu einem unbegrenzten Instrument der Machtaus- getroffen hatte, traf das Gericht diese mutige Entschei-
übung und kann sich über den guten oder schlechten dung. Auch im Zusammenhang mit dem neuen Anklage-
Willen eines Polizisten, Staatsanwaltes oder Richters, grundsatz, der seit 2005 gilt, haben das Gericht und die
seine Auswirkungen zu begrenzen, hinwegsetzen. Diese neuen Richter des Rechtssystems dem Freiheitsprinzip
Wirklichkeit verschärft sich bei Konflikten, in denen das Vorrang vor dem Autoritätsprinzip gegeben. Ganz all-
Feindstrafrecht zu einer Fortsetzung des Krieges mit gemein werden in Lateinamerika Reformen des Straf-
anderen Mitteln wird. In diesem Fall, und wir kommen rechts vorangetrieben, die auf den Prinzipien der Verfas-
hier auf den bereits erwähnten Fall zurück, überträgt sich sung und des humanitären Völkerrechts basieren. Es
die Eigenschaft des Nicht-Bürgers, des Feindes auf die handelt sich um einen ganz konkreten Einsatz, an dem
Handlungsweise des Polizisten oder Soldaten, der dann alle Bereiche der juristischen Gemeinschaft beteiligt
auch einen sich ergebenden Entführer erschießen oder sind.
foltern kann, denn es handelt sich ja auf jeden Fall um
eine Handlungsweise im Rahmen eines total deinstitutio- 9. Das Feindstrafrecht: eine Selektivitätsma-
nalisierten Rechtssystems. schine
8. More of the same: die Selbstbezüglichkeit Abgesehen von den genannten Gründen und den perver-
der Notstandsfeindstrafrechtsnormen tierten Auswirkungen eines Modells der strafrechtlichen
Reaktion, das auf der Feindschaft basiert und bei dem der
Wenn man den vorherigen Schlüssen folgt, so ist es nicht Bürger durch den Feind ersetzt wird, bei dem der Be-
nur Aufgabe der Juristen in Kolumbien, einen Modus zu schuldigte eher als militärischer Feind gesehen wird denn
finden, wie das Feindstrafrecht begrenzt werden kann, als Prozessbeteiligter unter dem Schutz der Unschulds-
sondern es ist ihre Aufgabe, ein wirkliches verfassungs- vermutung, gibt es heute einen wichtigen Grund dafür,
konformes Strafrecht zu finden. Dieses Strafrecht sollte die Bemühungen um Einführung eines autoritären Straf-
nicht die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln rechtsmodells einzudämmen. Das Feindstrafrecht ist vor
sein, es sollte keine Opfer schaffen, die man zu Sünden- allem eine gigantische Selektivitätsmaschine. Da es sich
böcken macht, es sollte die Konflikte nicht verschärfen, um ein extrem politisiertes Recht handelt, dessen Figuren
und es sollte auf irgendeine Weise die Konflikte effektiv und Normen nicht dem Diktat der Dogmatik folgen, um
lösen. Außerdem sollte es keine falschen Erwartungen in eine flüchtige und von der jeweiligen Situation abhängi-
der Gesellschaft wecken. ge Reaktion, werden in ihm in Wirklichkeit nicht dieje-
nigen verurteilt, die im Legitimitätsdiskurs zu diesem
Aber genau dies ist eine weitere Eigenschaft des politi- Strafrechtsmodell als Objekte dieser Normen gehandelt
schen Notstandsstrafrechtes als Feindstrafrecht. Da es wurden.
keines der schweren Probleme auch nur annähernd lösen
kann, ist seine Antwort angesichts der gesellschaftlichen In Wirklichkeit werden weder die Terroristen, noch die
Enttäuschung der Erlass von immer mehr Normen. Diese Hintermänner des Drogenhandels oder der organisierten
werden vervielfältigt und symbolisch legitimiert, bezie- Kriminalität noch die Drahtzieher von Menschenraub im
hen sich immer wieder auf einander und rechtfertigen großen Stil verurteilt. Diese befinden sich außerhalb der
sich gegenseitig, ohne irgendeinen gesellschaftlichen Reichweite der strafrechtlichen Normen, befinden sich
Nutzen. Je größer die Enttäuschung, desto größer ist die nicht innerhalb des Kreises, in dem das Gesetz angewen-
normative Inflation, und dieses Problem gibt es heutzu- det wird, sei es weil es sich um bewaffnete Akteure han-
delt, die den Staat bekämpfen und sich in abgelegenen
6
Benjamin, Walter, Zur Kritik der Gewalt, in: Benjamin, Wal- Gebieten verstecken, sei es weil es sich um Schwerver-
ter, Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem brecher handelt, die auch den Staat unter Druck setzen
Nachwort von Herbert Marcuse, Frankfurt am Main, 1965, S. und bei denen man nicht das Strafrecht anwenden kann.
40. Es kommt zu einer Paradoxie zwischen Recht und Ge-
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walt: Je mehr Gewalt ein Akteur gegen den Staat und die verabsolutierenden Diskursen über Antiterrorgesetzge-
Gesellschaft anwendet, desto weniger schwer wird er bungen.7 Der moralische Feind ist immer und vor allem
bestraft; im Gegenteil, wenn die Gewalt, die er ausübt, ein absoluter Feind, wir erinnern da an den erbitterten
nicht so groß ist, ist er vielleicht einer viel härteren Strafe „Kampf der Kulturen“ der heute in der westlichen Welt
ausgesetzt. Darum ist das Feindstrafrecht auch keine geführt wird. Gegenüber dem absoluten Feind gibt es
Waffe gegen organisierte Kriminalität, dies ist reine keine Grenzen bei der Bekämpfung.
Rhetorik. Es ist ein Modell auf der Basis von symboli-
schen Normen, die schlußendlich selektiv auf Kleinkri- 10. Auf dem Weg zu einem verfassungskon-
minelle oder ganz einfach auf Unschuldige angewendet formen Strafrecht
werden. Tatsächlich waren in den ersten Jahren der
Amtszeit der derzeitigen Regierung Massenverhaftungen Wie wir bereits am Anfang erwähnt haben, beobachtet
an der Tagesordnung. In einem Gebiet, in dem sich be- man in Lateinamerika mit Besorgnis die Tendenzen, die
waffnete Akteure aufhalten, wurden 20 oder 30 Personen sich in einigen Ländern Europas anscheinend den Weg
gleichzeitig unter dem Vorwand der Verbindung zur bahnen. Dabei sollen Antiterrorgesetze und Gesetze
Guerilla verhaftet. Diese wurden dann den Medien vor- gegen die organisierte Kriminalität vorangetrieben wer-
geführt, und wenn der moralische und wirtschaftliche den, in Wirklichkeit handelt es sich jedoch um Formen
Schaden bereits entstanden ist, stellen die Staatsanwälte des Feindstrafrechts. Während man auf unserem Konti-
und Richter fest, dass 90 bis 95% dieser Personen gar nent dafür kämpft, das Strafrecht und die Strafproze-
nichts mit den bewaffneten Gruppen zu tun haben. Wie ßordnung auf die Linie der Verfassung und des humani-
bereits gesagt, ist dies ein Medium, mit dem in hohem tären Völkerrechts zu bringen, wird in Ländern, die seit
Maße Selektivität hergestellt wird und permanent Opfer Jahren einen großen Einfluss auf unsere Staaten haben,
zu Sündenböcken gemacht werden. mit autoritären Systemen experimentiert. Dies ist eine
pervertierte Paradoxie im Zusammenhang mit der Globa-
Nicht nur, dass auf diese Weise die Konflikte verschärft lisierung des Rechts. Mein Beitrag in diesem Szenario
und nicht gelöst werden, es werden auch neue Beteiligte hat nicht nur den Sinn einer rein akademischen und ge-
am Konflikt selbst geschaffen, da die nicht verfassungs- lehrten Übung oder den einer Ausführung eines für das
gemäßen Normen selektiv angewendet werden. Wenn bei vergleichende Recht interessanten Falles, sondern er
einem Kleinkriminellen, der nur ein kleines Rädchen in kann nur dann einen Sinn haben, wenn er ganz klar und
einer kriminellen Bande oder im Drogenhandel ist, die ausgehend von einem konkreten Fall ein wirkliches Bür-
gegen Feinde gerichteten Normen mit aller Schärfe an- gerstrafrecht als verfassungskonformes Strafrecht als
gewendet werden, so kann es sein, dass dieser am Ende einzig wirksamer Beitrag zu einer Annäherung auf einer
wirklich zu einem Feind und Schwerverbrecher wird. So eher nüchternen und weniger rhetorischen und ideologi-
ist dann dieses Individuum für den Staat verloren und das schen Ebene an die schweren Konflikte, unter denen
Recht kann nicht wiederhergestellt werden. Aus diesen unsere Gesellschaften in unterschiedlicher Abstufung
Opfern können dann aufgrund der gleichen juristischen leiden, einfordert.
Ordnung Mörder werden. Diese Praxis wird noch perver-
tierter, wenn das Opfer als Sündenbock zu einem Subjekt ***
mit niederer Moral gemacht wird. Diesen Prozess habe
ich als „Moralisierung des Feindes“ beschrieben, und 7
Siehe dazu Aponte (2004), S. 316.
dieser ist heute sehr verbreitet in den totalisierenden und

Entwicklungslinien des Feindstrafrechts „Kommunistischen Manifest“ – das Gespenst des Feind-


strafrechts zu jagen. Während Karl Marx und Friedrich
in 5 Thesen∗ Engels im Jahre 1848 bei ihrer Kritik der Gespensterjagd
- freilich auf den Kommunismus - davon ausgehen konn-
Von Rechtsanwalt Prof. Dr. Jörg Arnold, ten, dass der Kommunismus eine neue Idee, mithin für
Freiburg i.Br./Münster seine damaligen Jäger ein wirklich neues Gespenst ist,
läßt sich dies für das Feindstrafrecht nicht feststellen.
Die Empörung und Aufregung war – und ist teilweise Das Feindstrafrecht ist alles andere als ein neues Ge-
noch – groß. Sie entzündet sich am „Feindstrafrecht“ und spenst.1
seinen Protagonisten. Strafverteidiger, Strafrechtswissen-
schaftler und Publizisten hatten sich verbündet, um – so Indes: Die Jagd auf das Feindstrafrecht erweckt genau
offenbar die Intention der Arbeitsgruppe „Feindstraf- den gegenteiligen Eindruck. Ein böses neues Gespenst
recht“ in Anlehnung an ein berühmtes Zitat aus dem soll vertrieben werden, damit der gute Rechtsstaat erhal-
ten bleibt. In dieser Zielstellung sind sich die Jäger sogar

Bei der nachfolgenden Veröffentlichung handelt es sich um 1
das weitgehend unveränderte und unbearbeitete Manuskript des Vgl. dazu mit zahlreichen Literaturnachweisen J. Arnold,
Vortrages, den ich auf dem diesjährigen Strafverteidigertag in Zum Geleit: Ende der Gespensterjagd und Beginn der wissen-
der Arbeitsgruppe 2: ‚„Feindstrafrecht“ – Ein Gespenst geht schaftlichen Debatte, in: Th. Uwer/Organisationsbüro (Hrsg.),
um im Rechtsstaat’ gehalten habe. Bitte bewahren Sie Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat, Schriften-
reihe der Strafverteidigervereinigungen, Berlin 2006, S. 13-25.
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mit denjenigen einig, die für sich in Anspruch nehmen, recht als Bekämpfungsstrafrecht. Dieses Bekämpfungs-
die Gespenster nur entdeckt – nicht erfunden! – zu haben strafrecht ist ein deutliches Kennzeichen und ein Merk-
und nur beim Namen nennen und damit nur rein deskrip- mal des modernen Strafrechts.
tiv sein zu wollen, wie beispielsweise Günther Jakobs,
der als „Entdecker“ des Feindstrafrechts gilt. Denn auch Ich will versuchen, diese Feststellung in fünf Thesen zu
jene wollen es zur Rettung des Guten vertreiben, freilich begründen. Die erste These beschäftigt sich mit dem
nicht ganz so weit wie die Jäger des Feindstrafrechts. rechtsphilosophischen Streit um den Begriff des Rechts.
Die Überschrift dieser These lautet: „Radikaler“ Positi-
Diese Einigkeit über das Ergebnis der Jagd gründet sich vismus versus liberales rechtsstaatliches Strafrecht bei
auf ein Verständnis von Feindstrafrecht, wonach die Immanuel Kant. In unmittelbarem Zusammenhang damit
„Feinde“ aus der Gesellschaft, aus dem Recht, ausge- gilt die zweite These dann direkt der Kennzeichnung der
schlossen werden. Die „Jäger“ des Feindstrafrechts kriti- Debatte über Feindstrafrecht als Kontinuitätsproblem der
sieren diesen Ausschluss der Feinde, deren Ent- jüngeren deutschen Strafrechtsgeschichte. Mit der dritten
Personalisierung, vehement, u.a. mit dem Argument, der These wird nach Tendenzen im ausländischen Recht
Rechtsstaat sei stark genug, mit seinen Mitteln das gefragt und als Ergebnis die wesentliche Übereinstim-
rechtsfeindliche Verhalten zu „bewältigen“. Die Jäger mung zwischen den Erscheinungsformen deutschen und
des Feindstrafrechts wollen nicht die Jäger der Feinde ausländischen Feindstrafrechts festgestellt. Die vierte
sein. Die „Entdecker“ des Feindstrafrechts hingegen These gilt dem Verfassungsrecht und aus aktuellen Ge-
erkennen die Trennung zwischen Bürgerstrafrecht auf der sichtspunkten besonders der Entscheidung des Bundes-
einen Seite und Feindstrafrecht auf der anderen Seite an. verfassungsgerichts zu dem Luftfahrtsicherungsgesetz.
Auf diese Weise soll das Bürgerstrafrecht gewissermaßen Die Überschrift dieser These lautet: Das Grundgesetz
auf Kosten der Feinde gerettet werden. Ob sie es wollen und das BVerfG erweisen sich als (durchlässige) Begren-
oder nicht, werden so die Entdecker des Feindstrafrechts zungen des Feindstrafrechts. Und schließlich fünftens
unweigerlich zu den Jägern der Feinde. Was hier zu- versuche ich, einen Ausblick zu geben, der zwar nicht
nächst noch zu abstrakt klingen mag, wird im Laufe des sehr optimistisch ausfallen wird, aber auch keine Resig-
Vortrages konkreter werden. nation bedeutet, weil er in der Formulierung eines prakti-
schen juristischen Widerstandes gegen Feindstrafrecht
Und dann gibt es noch diejenigen, die ein Feindstrafrecht besteht.
verbal ablehnen, in der Praxis aber genau das Gegenteil
tun. Als Beispiel sei Kai Nehm – bis vor kurzem Gene- 1. Rechtsphilosophisches Vorverständnis für
ralbundesanwalt – erwähnt, der parallel zu seiner Kritik
am Feindstrafrecht im selben Atemzug scharfe Kritik an Feindstrafrecht: „Radikaler“ Positivismus
den deutschen Gerichten übt wegen ihrer Distanz zu versus liberales rechtsstaatliches Strafrecht
Erkenntnissen der Nachrichtendienste und zu unerreich-
baren Zeugen in Terroristenprozessen. Wenn sich die Die Auseinandersetzungen um das Feindstrafrecht lassen
Justiz verweigere – so Nehm weiter – werde die Politik sich erklären vor dem Hintergrund eines jahrhunderte
„in die Bresche springen“ und einen „diffusen Tatbestand alten Streits zwischen vorpositivem bzw. überpositivem
der Verschwörung schaffen.“ Man wolle kein „Feind- Recht einerseits und positivem Recht andererseits, frei-
strafrecht“, aber auch kein „Freundstrafrecht“, in dem die lich in seinen verschiedenen Facetten und Abwandlun-
Islamisten „nur deshalb geschont werden, weil uns – zu gen.
Recht – Guantanamo auf der Seele brennt.“2
a) „Radikaler“ Positivismus
Gewiss, dies ist scharf formuliert. Und doch ist diese
Zuspitzung erklärbar. Sie ist erklärbar besonders dann, Eine solche Facette und Abwandlung ist ein Positivis-
wenn die Debatte über das Feindstrafrecht nicht als etwas mus, der als „radikal“ bezeichnet werden kann. Zum
völlig neues, wie sie oft erscheint, sondern als eine histo- Recht gehört danach nicht allein die Norm, sondern auch
risch weit ausgreifende Erosion des liberalen Strafrechts das gelebte Recht, die Faktizität des Rechts in der bürger-
hin zu einem „Bekämpfungsstrafrecht“ verstanden wird. lichen Gesellschaft. Recht ist ohne Beachtung der
Denn das Feindstrafrecht hat Theorie und Praxis schon Rechtswirklichkeit nicht Recht. Und die Gesellschaft
lange erreicht, womit ich eine andere Auffassung vertre- kann nicht ohne Wirklichkeit von Normen begriffen
te, als sie von Winfrid Hassemer in seinem gestrigen werden, sonst sind Recht wie Gesellschaft nur eine Idee.
Eröffnungsvortrag des Strafverteidigertages geäußert Recht ist deshalb auch nicht überall und den reinen
wurde, als er meinte, dass die Praxis vom Feindstrafrecht Schönwetter-Rechtsstaat gibt es hier nicht.
noch weitgehend ausgenommen sei.3 Der Unterschied
der Auffassungen liegt in einem unterschiedlichen Beg- Mit diesem Rechtsverständnis muss das Feindstrafrecht
riff von Feindstrafrecht begründet. Während Hassemer zwangsläufig anerkannt werden. Dabei handelt es sich
offenbar von einem engeren Begriff von Feindstrafrecht nicht einmal um die bloße Anerkennung von Faktizität,
ausgeht, spreche ich von einem eher weiten Feindstraf- sondern um die Anerkennung von Normen, die aufgrund
von Faktizität gesetzt worden sind. Vor diesem Hinter-
2
FAZ vom 21.5.2005, S. 4. grund ist es zu verstehen, wenn Jakobs sagt, er beschrei-
3
W. Hassemer,Sicherheit durch Strafrecht, HRRS Heft be mit dem Feindstrafrecht einen bestimmten Zustand
4/2006, S. 130-143 (137). der Rechtswirklichkeit. Diese Zustandsbeschreibung
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führt mit dem „radikalen“ Positivismus zur Anerkennung faktische Kraft des Normativen begründen die system-
der Rechtswirklichkeit als Recht. immanente Legitimität des Feindstrafrechts als Bestand-
teil des „radikalen“ Positivismus. Mit einem „radikal“
Es ist dies allerdings ein Recht, eben Feindstrafrecht, das positivistischen Rechtsverständnis lässt sich ein Feind-
den Feind entpersonalisiert und damit rechtlos stellt. strafrecht gut und systemimmanent überzeugend begrün-
Dies wiederum erklärt sich aus dem Verständnis von den.
„Norm, Person, Gesellschaft“, wie auch der Titel einer
Arbeit von Jakobs aus dem Jahre 1997 lautet. Danach Ein solches Verständnis von Feindstrafrecht leitet Jakobs
werden in der bürgerlichen Gesellschaft nur die Indivi- aus rechtsphilosophischen Ideen und Anschauungen ab.
duen zu Rechtspersonen, die die Normen des auf einem Soweit sich dabei auf Kant berufen wird, handelt es sich
Ordnungsschema beruhenden Gruppenwesens anerken- um einen wenig überzeugenden Versuch. Denn Kant
nen. Dies ist der Hintergrund für einen Gesellschaftsbeg- steht gerade für ein Rechtsverständnis, das sich zum
riff der normativen Verständigung. Recht in diesem Kon- Feindstrafrecht antagonistisch verhält und als „radikaler“
text hängt nicht notwendigerweise mit dem Begriff des Überpositivismus bezeichnet werden kann. Die Kant-
freien Subjekts zusammen, wurzelt also nicht zwingend Interpretation von Jakobs erfolgt im Grunde selektiv und
in autonomer Selbstbestimmung. Der Wert ist die Gesell- vordergründig auf jene heiklen Kant-Zitate fokussiert,
schaft für sich. Norm und Person sind Teile der Gesell- die von ihrem Wortlaut her eine feindstrafrechtliche
schaft. In diesem Verständnis ist die Person nicht der Auslegung zunächst durchaus nahe legen (wie etwa das
Mensch in seiner individuellen Freiheit, sondern allein Inselbeispiel; die Ausführungen zur Todesstrafe, oder das
Träger von Rechten und Pflichten. Versetzen in den Sklavenzustand, aber auch die Unfähig-
keit des Verbrechers, Staatsbürger zu sein).5
Auf der Folie dieses Rechts- und Gesellschaftsbegriffs
existiert die Feindschaft gegenüber denjenigen, die eine Mit einer solchen Kant-Interpretation aber steht Jakobs
Gefahr für das Recht darstellen, weil sie nicht die kogni- diametral gegenüber einer in der gegenwärtigen deut-
tive Garantie leisten, sich als Person im Recht zu verhal- schen Strafrechtsphilosophie erfolgenden Interpretation
ten. Wer sich nicht als Person im Recht verhält, wird als Kants, wie sie – durchaus in sich differierend - etwa von
Feind behandelt und muss gesichert werden. Wolfgang Naucke, Michael Köhler, Ernst Amadeus
Wolff, Wolfgang Schild, Regina Harzer und Rainer Zac-
Derartige Sicherungsfälle durchziehen das geltende deut- zyk gegeben wird. Worum es gerade deren Anschauun-
sche Straf- und Strafprozessrecht seit vielen Jahren, etwa gen übereinstimmend geht, ist eine durchgehende, den
wenn Wiederholungsgefahr bei bestimmten Delikten Gesamtzusammenhang eines klassischen liberal-
allein einen Haftgrund auslöst oder bei der Sicherungs- rechtsstaatlichen Strafrechts beachtende Interpretation in
verwahrung. Aktuellere Beispiele sind die „Bekämp- ihrer aktuellen Perspektive.
fungsgesetzgebung“ von Wirtschaftskriminalität, Terro-
rismus, organisierter Kriminalität, Sexualdelikte. Wirft Eine rein „buchstabenorientierte“ instrumentalisierende
man – so Jakobs – einen Blick darauf, „was, genauer: Interpretationsmethode von Jakobs bezieht sich auch auf
wer da ‚bekämpft’ werden soll, so handelt es sich um Fichte. Doch ohne Auseinandersetzung mit den Ergeb-
Individuen, die sich in ihrer Haltung (Sexualdelikte), nissen und der Rezeption der Fichte-Forschung sind die
ihrem Erwerbsleben (Wirtschafts-, Rauschgift- und sonst angeführten einzelnen Zitate von Fichte als rechtsphilo-
organisierter Kriminalität) oder durch Einbindung in eine sophischer Beleg für Feindstrafrecht ebenfalls wenig
kriminelle Organisation (Terrorismus, organisierte Kri- tauglich. Denn wenn außer Acht gelassen wird, dass –
minalität) vermutlich dauerhaft, zumindest aber mit eini- wie insbesondere Zaczyk nachgewiesen hat – die Fundie-
gem Nachdruck vom Recht abgewandt haben, mit ande- rung der Rechtsphilosophie Fichtes in der Interpersonali-
ren Worten, welche die kognitive Mindestgarantie nicht tät des Rechts besteht, und wenn zudem die Auseinan-
leisten, die zur Behandlung als Rechtsperson nun einmal dersetzung Fichtes mit Kants absoluter Straftheorie nicht
unabdingbar sind.“4 mitbedacht wird, muss jene Methode, die als Beleg für
ein Feindstrafrecht auch auf Fichte-Zitate zurückgreift,
Als Zweck der staatlichen Strafe gegenüber Rechtsperso- stark angezweifelt werden. Statt auf einzelne Fichte-
nen sieht der „radikale“ Positivismus hauptsächlich die Zitate zu rekurrieren, wäre es besser, Fichtes Thesis von
Normbestätigung. Die Strafe bestätigt so die normative der völligen Rechtlosigkeit des Täters auch Fichtes „An-
Identität der Gruppe. Bei dem Täter als Rechtsperson
besteht die Garantie, dass er sich künftig rechtsgetreu 5
Vgl. zum Ganzen W. Schild, Anmerkungen zur Straf- und
verhält. Demgegenüber geht es bei dem Umgang mit Verbrechensphilosophie Immanuel Kants, in: M. Heinze/J.
demjenigen, der diese Garantie nicht bietet, darum, zu Schmitt (Hrsg.), Festschrift für Wolfgang Gitter, Chmielorz,
verhindern, dass er eine Gefahr für die Gruppe als Wiesbaden 1995, S. 831-846; vgl. auch R. Zaczyk, Staat und
Rechtsgemeinschaft darstellt. Dieses Rechtsverständnis Strafe – Bemerkungen zum sogenannten „Inselbeispiel“ in
legitimiert das Feindstrafrecht unweigerlich, egal ob man Kants Metaphysik der Sitten, in: G. Landwehr (Hrsg.) Freiheit,
Gleichheit, Selbständigkeit. Zur Aktualität der Rechtsphiloso-
sich als „radikaler“ Positivist dazu bekennt oder nicht. phie Kants für die Gerechtigkeit in der modernen Gesellschaft,
Die normative Kraft des Faktischen wie umgekehrt die Vandenhoeck&Ruprecht, Göttingen 1999, S. 73-87.
4
G. Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, Schö-
ningh, Paderborn u.a. 2004, S. 42.
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tithesis“ gegenüberzustellen, wonach an die Stelle der dem „radikalen“ Positivismus – der Mensch im Mittel-
Ausschließung andere Strafen zu setzen sind.6 punkt.

Ich wünschte mir, dass an diesen Linien gedacht die „Ein Staat…ist die Vereinigung einer Menge von Men-
künftige Befassung mit dem Feindstrafrecht stärker als schen unter Rechtsgesetzen“ – lautet eine Maxime Kants.
bisher erfolgt und gerade die kritischen Stimmen der Und eine andere: „Eine jede Handlung ist recht, die oder
Strafrechtsphilosophie sich mehr in die Debatte einmi- nach deren Maxime die Freiheit der Willkür eines jeden
schen und dem Feindstrafrecht Paroli bieten, so wie es mit jedermanns Freiheit nach einem allgemeinen Gesetz
Michael Köhler und Ulfrid Neumann auf der Strafrechts- zusammen bestehen kann“.11
lehrertagung in Frankfurt an der Oder getan haben.7
Freiheit bedeutet Unabhängigkeit von eines anderen
Im Kern befasse ich mich im Folgenden aber mit Kants nötigender Willkür. Diese Freiheit, „sofern sie mit jedes
Rechtsverständnis, das ich als „radikalen“ Überpositi- anderen Freiheit nach einem allgemeinen Gesetze zu-
vismus und damit als Gegenstück zum „radikalen“ Posi- sammen bestehen kann, ist dieses einzige, ursprüngliche,
tivismus bezeichne. jedem Menschen, kraft seiner Menschheit zustehende
Recht“ – so Kant.12
b) „Radikaler“ Überpositivismus
Damit ist zugleich ein Kernbereich liberalen rechtsstaat-
Der „radikale“ Überpositivismus hat eine wesentliche lichen Strafrechts der Aufklärung angesprochen. Dieser
Grundlage in Kants Kritik der empirischen Rechtslehre. Kern wird mit einer Kant-Interpretation etwa von Schild
Empirisch ist das Recht dann, wenn es gleichgesetzt wird in der Konstellation gut sichtbar, dass sich der Verbre-
mit dem – wie Kant schreibt – „was in irgendeinem Lan- cher mit seiner Tat zwar selbst aus der rechtlich verfass-
de die Gesetze zu irgendeiner Zeit wollen“.8 Das empiri- ten bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen hat, was
sche Recht erschöpft sich in orts- und zeitabhängigen aber gerade nicht mit der Konsequenz verbunden sein
Gesetzen, deren Inhalt von einer Macht gewollt ist. Auf darf, dass staatliche Befehlshaber, Gesetzgeber und Rich-
den Inhalt dieses Rechts kommt es nicht an. Das empiri- ter dies anerkennen. Denn der Verbrecher schließt sich
sche Recht ist der aktuell zweckmäßige positive Geset- mit seiner Tat von der Gesellschaft nur insoweit aus, als
zesinhalt. Kant kritisiert dieses Recht als willkürliches, er durch seine freie Tat nur einen Teil seiner Freiheit
nur auf Macht gestütztes Recht, das eigentlich kein Recht selbst aufgegeben hat. Unter Wahrung der äußeren Frei-
sein kann, oder nur dann sein kann, wenn es vor dem heit ist er als Person dennoch anzuerkennen. Vor Gericht
Urteil der reinen, nicht-empirischen Rechtsvernunft be- steht eine Person, die auf ein Verbrechen als auf ihre
steht. Kant überträgt diesen Gedanken auch auf das Straf- freie Tat angesprochen, mithin zur Verantwortung gezo-
recht. Allein das nicht-empirische zweckfreie reine Ge- gen wird. Dieser Person ist weiterhin die Menschenwür-
setz könne Anspruch auf den Titel eines R e c h t s zum de zuzuerkennen; ihr gegenüber gelten weiterhin die
Strafen haben.9 allgemeinen Rechtspflichten: es darf ihm kein Unrecht
angetan werden. Auch gilt die Rechtspflicht weiterhin,
Es liegt auf der Hand, dass eine solches Rechtsverständ- mit ihm wie mit allen anderen zusammenzuleben.13
nis der unversöhnliche Antipode zu einem „radikalen“
Positivismus ist. Mit dem „radikalen“ Überpositivismus Wenn mithin die Person als Mensch zu behandeln ist,
lässt sich das Feindstrafrecht nicht begründen. Das Recht dann ist dieser Grundsatz auch anzuwenden auf Men-
des „radikalen“ Überpositivismus ist politik- und grund- schen, die Verbrecher sind, aber nicht unbedingt Bürger
sätzlich zweckfrei. Mehr noch: Es versteht sich als strik- des Staates, gegen den oder in dem die Taten begangen
tes Abwehrmittel gegen Politik. Der einzige Zweck, den werden. Das liberale Strafrecht entpersonalisiert nicht
der „radikale“ Überpositivismus anerkennt, ist der nur die Bürger nicht, sondern auch den „Menschen an
Mensch. „Du sollst den Menschen nie als Mittel zum sich“ nicht.
Zweck, sondern als Zweck an sich behandeln, ist der
Hauptinhalt der kantischen reinen Rechtslehre.“10 Für Der Personenbegriff des liberalen Strafrechts der Aufklä-
eine Entpersonalisierung des Täters gibt es hier keinen rung ist damit Inbegriff von Humanität und Sozialität;
Raum. Denn bei dieser Rechtslehre steht – anders als bei der Personenbegriff bei Jakobs dagegen erscheint als ein
auf Äußerlichkeit reduzierter und damit zugleich ent-
6
R. Zaczyk, Das Strafrecht in der Rechtslehre Fichtes, Duncker fremdeter inhaltsleerer Begriff.
& Humblot Berlin 1981, S. 108.
7
Vgl. M. Heger, Diskussionsbeiträge der Strafrechtslehrerta- Wenn sich Jakobs gleichwohl auf Kant beruft, so tut er
gung 2005 in Frankfurt/Oder, ZStW 117 (2005), S. 865-888 dies nicht selten mit einer Stelle aus Kants Schrift „Zum
(882, 885 f.). ewigen Frieden“. Ich zitiere diese Stelle, die auch Jakobs
8
Zit. nach W. Naucke, Kants Kritik der empirischen Rechtsleh- zitiert, obwohl sie beim bloßen Zuhören ein schwieriges
re, Franz Steiner, Stuttgart 1996, S. 6. Zitat ist:
9
Vgl. zum Ganzen W. Naucke, Kants Kritik der empirischen
Rechtslehre, a.a.O. (o. Fußn. 8). 11
10 Zitiert nach W. Naucke, Rechtsphilosophische Grundbegrif-
Zitiert nach W. Naucke, Die Folgen der reinen Rechtslehre
fe, 3. neubearb. Auflage, Luchterhand, Neuwied u.a. 1996, S.
für das Verhältnis von Recht und Politik, in: J.C. Joerden/R.
91.
Wittmann (Hrsg.), Recht und Politik, ARSP-Beiheft 93, Franz 12
Ebenda, S. 90.
Steiner, Stuttgart 2004, S. 41. 13
W. Schild, a.a.O. (o. Fußn. 5), S. 841 ff.
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schichte“.16 Man beachte dazu aus der jüngsten Zeit auch


„Gemeiniglich nimmt man an, daß man gegen die aufschlussreiche Schrift von Joachim Vogel, „Ein-
niemand feindlich verfahren dürfe, als nur, wenn flüsse des Nationalsozialismus auf das Strafrecht“.17
er mich schon tätig l ä d i e rt hat, und das ist auch
ganz richtig, wenn beide im b ü r g e r l i c h-g e s- 2. Historische Entwicklungslinien: Das
e t z l i c h e n Zustand sind. Denn dadurch, dass Feindstrafrecht als Kontinuitätsproblem der
dieser in denselben getreten ist, leistet er jenem
(vermittelst der Obrigkeit, welche über beide Ge- jüngeren deutschen Strafrechtsgeschichte
walt hat), die er/forderliche Sicherheit. - Der
Mensch aber (oder / das Volk) im bloßen Natur- Zunächst gilt es festzuhalten, dass die bisher vorgenom-
stande benimmt mir diese Sicherheit, und lädiert mene Gegenüberstellung zwischen „radikalen“ Positi-
mich schon durch eben diesen Zustand, indem er vismus und „radikalen“ Überpositivismus nur auf den
neben mir ist, obgleich nicht tätig (facto), doch ersten Blick das Feindstrafrecht als Problem eines wört-
durch die Gesetzlosigkeit seines Zustandes (statu lich zu nehmenden Ausschlusses des Feindes aus der
iniusto), wodurch ich beständig von ihm bedroht bürgerlichen Gesellschaft erscheinen lässt. Nur die seien
werde, und ich kann ihn nötigen, entweder mit Feinde, die sich nicht unter eine bürgerliche Verfassung
mir in einen gemeinschaftlich-gesetzlichen Zu- zwingen lassen, so Jakobs.
stand zu treten, oder aus meiner Nachbarschaft zu
weichen.- Das Postulat also was allen folgenden Dies legt nahe, einen Ausschluss der Feinde aus der
Artikeln zum Grunde liegt, ist: Alle Menschen, bürgerlichen Gesellschaft für überschaubar zu halten und
die aufeinander wechselseitig einfließen können, als auf einige klare Fälle beschränkbar anzusehen, wie
müssen zu irgendeiner bürgerlichen Verfassung etwa auf eine bestimmte Gruppe von Terroristen, auf
gehören.“14 einen bestimmten Bereich von Terrorismus und damit
auf einen begrenzbaren Rahmen von zwanghaften Aus-
Dieses Zitat findet sich als Fußnote unter dem einleiten- grenzungsmaßnahmen.
den Teil zum Zweiten Abschnitt von Kants Friedens-
schrift, der die Definitivartikel zum ewigen Frieden unter Doch bei näherem Hinsehen zeigt sich, dass zum einen
Staaten enthält. Dieser einleitende Text zu dem Zweiten alles andere als klar bestimmt wird, wer und ab wann
Abschnitt – den ich jetzt nicht zitiere, man kann und jemand als Feind gilt und damit das Maß seines Aus-
sollte ihn nachlesen – nimmt eine klare Unterscheidung schlusses erreicht. Zum anderen wird auch nicht annä-
zwischen dem Friedenszustand unter Menschen, die hernd deutlich, auf welche Weise der Ausschluss erfolgt
nebeneinander leben, als Rechtszustand auf der einen und was als Ausschluss überhaupt anzusehen ist.
Seite und dem Naturstand (status naturalis) als Zustand
des Krieges auf der anderen Seite vor. Mit wohl nicht zu Das verdeutlicht der Blick auf jene Kennzeichen, die
überbietender Klarheit sagt Kant hier, dass jemand nur Jakobs zur Wirklichkeitsbeschreibung eines Feindstraf-
im Kriegszustand als Feind behandelt werden kann. Un- rechts heranzieht. Der Maßstab für Jakobs ist die
mittelbar daran schließt sich die zitierte Fußnote an. schwindende Bereitschaft zur Behandlung des Verbre-
chers als Person dann, wenn die Erwartung personalen
Jakobs sagt nun seinerseits in einer Fußnote zunächst Verhaltens dauerhaft enttäuscht wird. Oder, wie es Ja-
ganz richtig, dass Kants Aussage, man könne gegen kobs auch formuliert hat:
jemanden feindlich verfahren, der mich „tätig lädiert
hat“, sich auf ein Delikt im „bürgerlich-gesetzlichen „Vergrößert der Feind seine Gefährlichkeit,
Zustande“ bezieht, so dass das Wort „feindlich“ die Ü- nimmt freilich auch seine rechtliche Entpersonali-
belszufügung gemäß dem Strafgesetz, nicht aber eine tät zu; […]“ 18
Entpersonalisierung charakterisiert.15 So richtig diese
Interpretation ist, so falsch ist die Deutung des weiteren Diese Textstellen bei Jakobs verweisen auf einen weit
Fußnotentextes Kants. Denn in diesem weiteren Text ausgreifenden Vorgang der Entpersonalisierung. Dazu
macht Kant nichts weiter, als den Einleitungstext zum zählen beispielsweise die Sicherungsverwahrung und die
zweiten Abschnitt zu bekräftigen: Nur im Naturstande, 16
der im Kontext mit dem Einleitungstext Kriegszustand Vgl. K. Marxen, Das Problem der Kontinuität in der neueren
bedeutet, kann jemand als Feind behandelt werden. deutschen Strafrechtsgeschichte, KritV 1990, S. 287-298; ders.,
Der Kampf gegen das liberale Strafrecht, Duncker & Humblot,
Berlin 1975, insbes. S. 263 ff.; W. Naucke, Die Aushöhlung der
Damit bin ich bei meiner zweiten These, die das Problem strafrechtlichen Gesetzlichkeit durch den relativistischen poli-
des Feindstrafrechts zu erfassen sucht als – wie es Klaus tisch aufgeladenen strafrechtlichen Positivismus, in: W. Nau-
Marxen und Wolfgang Naucke formuliert haben – „Kon- cke, Gesetzlichkeit und Kriminalpolitik. Abhandlungen zum
tinuitätsproblem der neueren deutschen Strafrechtsge- Strafrecht und zum Strafprozeßrecht, Vittorio Klostermann,
Frankfurt am Main 1999, S. 256-273; ders., Über die Zerbrech-
14
I. Kant, Zum ewigen Frieden, in: W. Weischedel (Hrsg.), lichkeit rechtsstaatlichen Strafrechts. Materialien zur neueren
Immanuel Kant, Werke in zehn Bänden, Bd. 9, Wissenschaftli- Strafrechtsgeschichte, Nomos, Baden-Baden 2000.
17
che Buchgesellschaft Darmstadt, 1968, S. 203. J. Vogel, Einflüsse des Nationalsozialismus auf das Straf-
15
G. Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS recht, Berliner Wissenschafts-Verlag, Berlin 2004.
18
3/2004, S. 90, dortige Fußn. 19. G. Jakobs, Staatliche Strafe: Bedeutung und Zweck, a.a.O.
(o. Fußn.4), S. 44.
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Bereiche der so genannten Bekämpfungsgesetzgebung, Die weite Vorverlagerung der Strafbarkeit bei politischen
etwa bei der Wirtschaftskriminalität, beim Terrorismus, Delikten hat eine lange Tradition, die nach 1945 nicht
bei der organisierten Kriminalität, bei Sexualdelikten und abbricht. Beibehalten wird auch die gesetzliche Möglich-
anderen gefährlichen Straftaten, wobei – so Jakobs – keit, den Versuch gleich der vollendeten Tat zu bestrafen.
jeweils Individuen bekämpft werden sollen, die sich in Die strafrechtswissenschaftliche Diskussion der Nach-
ihrer Haltung (etwa bei Sexualdelikten) oder in ihrem kriegszeit wird in der Bundesrepublik bestimmt durch die
Erwerbsleben (etwa bei Wirtschaftskriminalität, Rausch- sog. finale Verbrechenslehre. Sie rückt den Willen des
giftkriminalität, sonst organisierter Kriminalität) oder Täters in den Mittelpunkt der Betrachtungen und an den
durch eine Einbindung in eine Organisation (beim Terro- Beginn der Fallprüfung. Immer größere praktische Be-
rismus, bei organisierter Kriminalität, schon bei der deutung gewinnen Gefährdungsdelikte, die den Zugriff
Verbrechensverabredung nach § 30 StGB) „vermutlich staatlicher Strafgewalt schon weit vor dem Eintritt einer
dauerhaft, zumindest aber entschieden vom Recht abge- Verletzung zulassen.
wandt haben, also die kognitive Mindestgarantie nicht
leisten, die für die Behandlung als Person erforderlich Das Strafrecht der Bundesrepublik gegen den inneren
ist.“19 politischen Gegner und politisch Andersdenkende auf
dem Höhepunkt des Kalten Krieges – das jedenfalls in
Wenn der Vorgang der Entpersonalisierung als ein der Strafrechtswissenschaft bislang kaum kritisch reflek-
Merkmal für das Feindstrafrecht und damit als Kennzei- tiert worden ist (ich kenne nur die Arbeit von Grünwald
chen der Behandlung des Menschen als Gefahr gilt und zu den Staatsgefährdungstatbeständen 1951-196821) –
dies für die genannten Gesetzgebungs- und Kriminali- war ein Strafrecht der weiten Vorverlagerung der Straf-
tätsbereiche auch festzustellen ist, dann haben wir es in barkeit und der Anknüpfung am Täterwillen. In der gest-
Wirklichkeit mit einer umfassenden Ausprägung von rigen Eröffnungsveranstaltung des Strafverteidigertages
Feindstrafrecht zu tun. Diese Ausprägung ist dann nicht fiel mehrfach das Stichwort „Stammheim“. Auch die
nur deswegen umfassend, weil sie weite Bereiche der wissenschaftliche Aufarbeitung dieses Feindstrafrechts
Gesetzgebung zur Gefahrenbekämpfung und des Krimi- scheint nach meinem Eindruck noch nicht wirklich er-
nalitätsgeschehens von Gefährdungen erfasst, sondern folgt zu sein, obwohl es einen wichtigen Aspekt der hier
auch, weil sie vor allem in der Faktizität eine lange histo- behandelten historischen Kontinuitätslinie darstellt.22
rische Tradition hat.
Eng verknüpft mit der historischen Tradition der Be-
Das Feindstrafrecht richtet sich nicht erst seit den ge- kämpfung des bösen und gefährlichen Willens des Ver-
nannten Bekämpfungsgesetzen der jüngsten Zeit gegen brechers ist die Idee der Zweckmäßigkeit, die die Ge-
den Feind der Rechtsordnung, gegen dessen Gefährlich- setzgebung seit dem 19. Jahrhundert durchzieht und
keit und gegen dessen bösen Willen. damit eine Abkehr von dem Kern des liberalen Straf-
rechts als striktes Trennmittel gegenüber aktueller Politik
Möglichst früh und mit aller Macht den Feind strafrecht- und Macht zu fungieren und als eigenständiges Rechts-
lich zu bekämpfen, war eine Devise in der NS-Zeit. Es gebiet die Freiheit gegen den Täter und den Staat zu
erfolgte die Ausdehnung der Strafbarkeit in den Bereich garantieren, bedeutet. Mit der Devise gegen Ende des 19.
der Vorbereitung hinein. Im Besonderen Teil betraf das Jahrhunderts, dass das zweckmäßige Strafrecht das ge-
vor allem politische Delikte, aber keineswegs nur diese. rechte Strafrecht sei, wird das Strafrecht Machtmittel für
Im Allgemeinen Teil wurden bei Verbrechen prinzipiell Machthaber, gründet sich auf seine faktische Durchset-
die erfolglose Anstiftung und die erfolglose Beihilfe zung und ist austauschbar gegen andere Machtmittel wie
sowie sonstige Vorbereitungshandlungen für strafbar das Zivilrecht, das Polizeirecht oder das Ordnungs-
erklärt. Beseitigt wurde die obligatorische Strafmilderung widrigkeitenrecht.
beim Versuch. Der Versuch konnte genauso hart bestraft
werden und wurde oft genauso hart bestraft wie die voll- Diese Entwicklung mündet in die Maßregeln der Besse-
endete Tat. rung und Sicherung mit ihrer Betonung von Schuldunab-
hängigkeit und präventiver Effektivität, mit ihrer Eineb-
Doch die Doktrin des Willensstrafrechts ist nicht typisch nungsfunktion von Strafrecht, Polizeirecht, Zivilrecht
nationalsozialistisch. Schon weit vor 1933 (und zwar und Unterbringungsrecht und ihrer Erwartung, von
bereits in der Bismarck-Zeit) entschied sich die Recht- wechselnden politischen Systemen benutzt zu werden.
sprechung in der Frage, wann ein strafbarer Versuch
beginnt, für die sog. subjektive Theorie, für die Auffas-
sung, dass maßgeblich auf den Täterplan und seinen
Willen abzustellen sei. Und der durch Franz von List im 21
G. Grünwald, Die Staatsgefährdungstatbestände 1951-1968,
Ausgang des 19. Jahrhunderts begründetet sog. moder- in: G. Arzt/G. Fezer/U. Weber/E. Schlüchter/D. Rössner
nen Schule entstammt die symptomatische Verbrechens- (Hrsg.), Festschrift für Jürgen Baumann, Gieseking, Bielefeld
lehre, nach der „primär die besondere psychische Be- 1992, S. 103-118.
22
schaffenheit das strafrechtlich Relevante“ ist.20 Im Hinblick auf die vom 30.9. bis 2.10.2006 an der Deut-
schen Richterakademie Wustrau stattfindende Tagung des
Forums Justizgeschichte zu dem Thema „Die RAF und die
19
Justiz. Nachwirkungen des Deutschen Herbstes“ sind diesbe-
G. Jakobs, a.a.O. (o. Fußn. 15), S. 92. züglich wichtige Erkenntnisse zu erwarten.
20
K. Marxen, Problem der Kontinuität, a.a.O. (o. Fußn. 16), S.
293.
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Dieser historische Verlauf, der in seinen tatsächlichen 70. Geburtstag des Berliner Strafrechtslehrers Detlef
Ausprägungen hier nur sehr verkürzt wiedergeben wer- Krauß gezeigt hatte. Darüber will ich – die zweite These
den konnte und zu dem auch das deutsche Kolonialstraf- damit beschließend – aus meiner persönlichen Erinne-
recht in der Zeit von 1886 bis 1918 gehört, lässt sich rung folgendes berichten.
interpretieren als eine weit ausgreifende historische Ent-
wicklungslinie von einem liberalen rechtsstaatlichen Die Diskussion drehte sich anhand des Folterverbotes um
Strafrecht der Aufklärung zu einem Feindstrafrecht der die Frage, ob und wie es gelingen könnte, unverfügbare
Moderne. Rechtsprinzipien zu erhalten. Wolfgang Naucke themati-
sierte, dass es dabei nicht nur um das Problem der „Ret-
Je nach politisch-historischen Entwicklungsphasen tung“ von § 136a StPO gehe, sondern auch darum, nicht
schlägt das Pendel des Feindstrafrechts besonders stark zu übersehen, dass das Folterverbot mit Vorschriften
aus. Das lässt sich nachweisen an der NS-Zeit, aber auch konkurriert, bzw. von solchen ergänzt wird, die folter-
an Teilen der Strafrechtsentwicklung und –praxis in der ähnliche Gewalt gegen den Beschuldigten gerade zulas-
DDR. Nach einer Phase gewisser Beruhigung in der alten sen, namentlich § 81 a StPO (speziell die gewaltsame
Bundesrepublik, die sich trotz des vorhandenen besonde- Entnahme von Blutproben gegen die Einwilligung des
ren Feindstrafrechts gegen den politischen Gegner ein- Beschuldigten). Diese Problematisierung war nun alles
stellte, beginnt das Pendel seit einiger Zeit unter den andere als ein Plädoyer für die Abschaffung des Folter-
Schlagwörtern oder besser hinter den Fassaden von Glo- verbotes, sondern die Aussage, dass die Forderungen der
balisierung, Risikogesellschaft, Sicherheitsgesellschaft Aufhebung des Folterverbotes durch bereits vorhandene
und Informationsgesellschaft wieder besonders heftig zu gesetzliche Konstellationen der Gewaltanwendung gegen
schlagen, egal ob diese Pendelschläge beispielsweise Beschuldigte unter Umständen begünstigt werden. Ob-
Sicherheitsstrafrecht, Interventionsstrafrecht oder Risiko- wohl Naucke in der Diskussion nicht expressiv verbis die
strafrecht genannt werden. In all diesen Strafrechtsfor- Abschaffung der legalisierten folterähnlichen Gewalt
men ist die Entpersonalisierung in der beschriebenen gefordert hatte, erhob sich allein schon gegen das Auf-
Weise der Bekämpfung des gefährlichen Feindes tenden- zeigen dieses Zusammenhangs Protest, interessanter
ziell angelegt und tritt mehr oder weniger klar zu Tage. Weise insbesondere von Seiten Hassemers und von Lü-
Ein besonderes Kennzeichen dieses gegenwärtigen Pen- derssen. Die in einiger Erregung vorgetragene Aussage
delschlages in Deutschland ist die Diskussion um die beider lautete auf einen Nenner gebracht:
Enttabuisierung des Folterverbots und die Legitimierung
der Abwägung der Menschenwürde. „Wenn Sie kritisch über § 81 a StPO reden, dann
ist § 136 a StPO nicht mehr zu halten.“
So unterschiedlich die Pendelausschläge auch sind, die
Bewegungsrichtung ist immer dieselbe, nämlich Redu- Dieser Streit ist damit auch ein Streit darüber, in welcher
zierung und Einschränkung von Freiheit. Wenn das Pen- Schärfe man das Kontinuitätsproblem vor dem Hinter-
del zum Stillstand gekommen ist, sich dabei aber nicht grund konkreter aktueller Entwicklungen sehen darf. Um
mehr in seine Ausgangslage zurückbewegen kann, dann konkret zu bleiben: Im Lichte des in der Diskussion über-
ist der Zustand erreicht, den Peter-Alexis Albrecht in raschender Weise kaum beachteten absoluten Gebotes
seinem Büchlein mit dem Titel „Die vergessene Freiheit“ des Satzes 2 in Art. 104 Abs. 1 GG, wonach festgehalte-
bereits für die heutige Wirklichkeit feststellt.23 ne Personen weder seelisch noch körperlich misshandelt
werden dürfen und im Lichte des in letzter Konsequenz
Schon einmal, auf der Strafrechtslehrertagung in Rostock durch ein obiter dictum das BVerfG legalisierten gewalt-
1995, wurde über diese Wandlung des liberalen Straf- samen Einsatzes von Brechmitteln,24 ist es geradezu
rechts heftig gestritten; damals noch unter der Thematik zwingend erforderlich, § 81 a StPO und die darauf beru-
„Das Strafrecht zwischen Funktionalismus und ‚alteuro- hende Praxis jedenfalls zu problematisieren. Der Blick
päischem’ Prinzipiendenken“. Auf die Fragestellung, ob auf ausländische Rechtsordnungen zeigt, dass beispiels-
sich das „alteuropäische“ Strafrecht verabschiedet, wurde weise in Frankreich eine richterlich angeordnete Blutent-
keine klare Antwort gefunden. Indes wurde ganz über- nahme gegen den Willen des Verdächtigten und Be-
wiegend ein klares Bekenntnis für ein funktionalistisches schuldigten grundsätzlich nicht zwangsweise durchge-
modernes Strafrecht abgegeben. So mancher vehemente setzt werden darf.25 Allerdings ist die Verweigerung der
Befürworter dieses Strafrechts ist ein ebensolcher vehe- Blutentnahme strafbewehrt.26
menter Gegner des Feindstrafrechts, ohne zu bedenken,
dass es gerade das funktionalistische moderne Straf-
rechtsverständnis ist, das die Tür zum Feindstrafrecht
weit aufgestoßen hat. 24
BVerfG StV 2000, 1 m. Anm. Naucke. Siehe nun aber auch
die Große Kammer des EGMR im Fall Jalloh vs. Deutschland,
Freilich, die Fronten und Lager sind auch hier nicht so HRRS 2006 Nr. 562 m. Bespr. Gaede in HRRS 2006, 241 ff.
25
eindeutig, wie das auf den ersten Blick erscheinen mag. Das ergibt sich aus Art. 55-1 CPP (Code de procédure péna-
Die Streitlinien können auch anders verlaufen, wie sich le) und Art. 706-47-2 CPP.
26
das beispielsweise anlässlich des Ehrenkolloquiums zum Art. 55-1 Abs. 3 CPP. Die Hinweise auf die französische
Rechtslage verdanke ich Frau Dr. Juliette Lelieur-Fischer
23
P.-A. Albrecht, Die vergessene Freiheit, Berliner Wissen-
schaftsverlag, Berlin 2003.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 310

3. Ausländische Entwicklungslinien des Planck-Institut für ausländisches und internationales


Feindstrafrechts: Die Übereinstimmung zwi- Strafrecht Freiburg wurden grundlegende Fragestellun-
gen erarbeitet.32 In Vorbereitung befindet sich die Veröf-
schen Erscheinungsformen deutschen und fentlichung einer größeren rechtsvergleichenden straf-
ausländischen Feindstrafrechts rechtlichen Untersuchung von Walter Gropp und Arndt
Sinn von der Universität Gießen. Diesbezüglich sind
Die Debatte um das Feindstrafrecht lässt sich nicht füh- erste Ergebnisse nachzulesen in der Internetzeitschrift für
ren, ohne internationale Entwicklungen respektive Ent- Internationale Strafrechtsdogmatik, Heft 3, dieses Jahres.
wicklungen im ausländischen Recht zu berücksichtigen.
Das Beispiel Kolumbiens mit der Publikation von Ale- Ein vorläufiges Resumée führt zu der Schlussfolgerung,
jandro Aponte27 ist dafür ebenso signifikant wie die Auf- dass die internationale und ausländisches strafrechtliche
sätze in dem Buch von Thomas Uwer und dem Organisa- Bekämpfung des Terrorismus das Feindstrafrecht voll zur
tionsbüro von David Cole über die Entwicklungen in den Entfaltung bringt. Der vorherrschende Ansatz bei der
USA28 und von Philipp Thiée über die Frage nach dem Terrorismusbekämpfung in den einzelnen Ländern liegt
Feindstrafrecht im Islam.29 in der Erweiterung des Strafrechts, insbesondere durch
Vorfeldkriminalisierungen, im Abbau prozessualer Ga-
Die internationale wissenschaftliche Beschäftigung mit rantien und der Verlagerung von Regelungsmaterien des
dem Thema Feindstrafrecht schreitet weiter voran. Aus- Strafprozessrechts in das Polizei- und Ordnungsrecht.
druck dafür ist ein sich in Vorbereitung befindender
lateinamerikanisch-deutsch-italienisch-spanischer Sam- Die Entwicklung in Deutschland bleibt dahinter teilweise
melband mit 80 Beiträgen, der von Manuel Cancio Meliá sogar zurück, bzw. läuft insoweit verzögerter oder auch
herausgegeben wird.30 Von ihm wird weitere Aufklärung glimpflicher ab. Man denke nur an so manche Entschei-
darüber erhofft, ob und inwieweit das Feindstrafrecht dung des BGH aus der jüngsten Zeit. Sinn hat allerdings
auch in anderen Ländern einerseits auf dem Hintergrund anhand von § 129 a StGB nachgewiesen, dass die ver-
eines ganz bestimmten rechtsphilosophischen Vorver- gleichsweise verzögerte Entwicklung in Deutschland sich
ständnisses diskutiert und andererseits in die mit der nicht auf die Vorverlagerung der Strafbarkeit bezieht, die
These 2 umschriebene weit ausgreifende historische in Deutschland mit am weitesten vorangeschritten ist.
Entwicklungslinie des Wandels des liberalen Strafrechts Für Spanien wird von Cancio Meliá von der weitestge-
zu einem Feindstrafrecht eingeordnet wird. Dass eine henden Einebnung der Unterschiede zwischen Vorberei-
solche Diskussion andernorts stattfindet, ist nicht selbst- tung und Versuch berichtet, zwischen Teilnahme und
verständlich, schon gar nicht sind die Ergebnisse in ande- Täterschaft, zwischen politischen Zwecken und Unter-
ren Ländern „vorprogrammiert“. Zu unterschiedlich sind stützung terroristischer Vereinigungen berichtet. Durch
die ausländischen Strafrechtskulturen, und die ihnen sukzessive Ausdehnungen – so Cancio Meliá – ist es
zugrunde liegenden Straf- und Menschenrechtsverständ- soweit gekommen, dass ein irgendwie „Dabeisein“, „Da-
nisse, als a priori von der internationalen Übertragbarkeit zugehören“, „Einer-von-denen-sein“ ausreicht, auch
meiner beiden bisherigen Thesen ausgegangen werden wenn es nur im Geiste ist.33
könnte.
Merklich ausgeweitet wird in den einzelnen Ländern
Bei der Betrachtung der internationalen bzw. ausländi- auch der Terrorismusbegriff. Nicht mehr nur Gewalt
schen Entwicklungslinien kann es deswegen in dem gegen Personen wird erfasst, um von Terrorismus spre-
Rahmen meines Vortrages nur darauf ankommen zu chen zu können, sondern auch Gewalt gegen öffentliche
fragen, ob auch das ausländische Strafrecht als Feind- Infrastruktureinrichtungen und teilweise gegen privates
strafrecht erscheint und insoweit mit dem modernen Eigentum. Zunehmend wird auf den Nachweis einer
deutschen Strafrecht übereinstimmt. politischen oder ideologische Motivation bei den Tätern
verzichtet. Ein Beispiel dafür ist Russland.
Was die internationale und ausländische Rechtsentwick-
lung betrifft, so richtet sich der Blick besonders auf die Ausgedehnt werden die strafrechtlich relevanten Bege-
Gesetzgebung beim „Kampf“ gegen den Terrorismus und hungsweisen. Finanzielle Unterstützung wird als Beihilfe
die organisierte Kriminalität. Dazu liegen bislang um- zum Terrorismus gewertet. Die Einschränkung wichtiger
fangreiche Untersuchungen des Max-Planck-Instituts für Grundrechte durch eine Reihe von polizeirechtlichen
ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht Hei-
delberg sowie der Universität Leuven vor.31 Am Max- (eds.), Legal Instruments in the Fight against International
Terrorism, Martinus Nijhoff Publishers, Leiden, Bosten 2004.
27 32
A. Aponte, Krieg und Feindstrafrecht, Nomos, Baden-Baden Vgl. dazu H.-J. Albrecht/U. Sieber, herausgegeben für das
2004. Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales
28
D. Cole, Deren Freiheit, unsere Sicherheit, in: Th. U- Strafrecht, Forschungsbericht 2004-2005, Freiburg 2006, S. 24-
wer/Organisationsbüro (Hg.), a.a.0. (o. Fußn. 1), S. 165-193. 37 (28-31); U. Sieber, Grenzen des Strafrechts – Das neue
29
P. Thiée, Feindstrafrecht im Islam?, in: Th. U- Forschungsprogramm, in: H.-J. Albrecht/U. Sieber (Hrsg.),
wer/Organisationsbüro (Hg.), a.a.O. (o. Fußn.1), S. 195-224. Perspektiven der strafrechtlichen Forschung. Dun-
30
Vgl. im Vorgriff darauf M. Cancio Meliá, Feind“strafrecht“?, cker&Humblot, Berlin 2006, S. 35-79 (55-61); ders., Straf-
ZStW 117 (2005), S. 267-289. rechtsvergleichung im Wandel, in: U. Sieber/H.-J. Albrecht
31
Chr. Walter u.a. (Hrsg.) Terrorism as a Challenge for Na- (Hrsg.), Strafrecht und Kriminologie unter einem Dach, Dun-
tional and International Law: Security versus Liberty?, cker&Humblot, Berlin 2006, S. 78-130 (87-94).
33
Springer, Berlin u.a. 2004; C. Fijnaut/J. Wouters/F. Naert M. Cancio Meliá, a.a.O. (o. Fußn. 3), S. 287.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 311

Einzelmaßnahmen in der nationalen Gesetzgebung nach Kampf gegen den Terrorismus, in Italien auch und be-
dem 11. September 2001 (Abhöranordnungen und Wei- sonders gegen die Mafia, entstanden.
terleitung von Daten) mit präjudizierenden Auswirkun-
gen auf das Strafrecht und Strafprozeßrecht hat eine neue Zu beobachten ist in einigen Ländern die Entwicklung
Qualität erfahren. einer besonderen Anti-Terror-Gerichtsbarkeit, bis hin zur
Einrichtung von besonderen Militärtribunalen unter
Unter Berufung auf Aufklärungs- und Nachweisschwie- Verweigerung prozessualer Minimalrechte. Der Sprung
rigkeiten findet ein dramatischer Abbau von prozessualen in den rechtsfreien Raum, wie etwa Guantanamo, ist in
Rechten statt. Spezielle Eingriffs- und Überwachungs- dieser Logik dann nur folgerichtig.
maßnahmen (insbes. elektronischer Art) werden entwi-
ckelt, die sich in der Zukunft zu neuen globalen Syste- Die durch einen Rechtsvergleich zu findenden grundsätz-
men der Überwachung von „verdächtigen“ oder „gefähr- lichen Veränderungen des Strafrechts und Strafprozess-
lichen“ Straftätern entwickeln können. Der Aufbau eines rechts betreffen aber in den jeweiligen Ländern nicht
Terrorismus-Informations- und Präventionssystems in etwa allein die Bekämpfung des Terrorismus. Grundle-
den USA, das „Millionen von amerikanischen Transport- gende Veränderungen im strafrechtlichen Koordinaten-
und Postarbeitern und Angestellten öffentlicher Versor- system zeigen sich auch bei der Diskussion um Beweis-
gungsbetriebe in die Lage versetzen wird, verdächtige erleichterungen sowie in Mitwirkungspflichten Privater
Aktivitäten im Zusammenhang mit Terrorismus und zum Zwecke der Strafverfolgung (z.B. bei der Geldwä-
Kriminalität zu erkennen und zu melden“, weist in diese schebekämpfung). Einzelne Rechtsordnungen schaffen
Richtung.34 spezielle Verfolgungs- und Gerichtszuständigkeiten nicht
nur für Terrorismus, sondern auch für Wirtschaftskrimi-
Der Abbau prozessualer Garantien und „schützender nalität, organisierte Kriminalität und Terrorismus.36 Be-
Formen“ des Strafrechts betrifft in vielen ausländischen sondere Ermittlungsmaßnahmen werden teilweise auch
Rechtsordnungen aber auch die Schaffung von neuen für allgemeine Delikte angewandt und fast schrankenlos
Möglichkeiten zum verlängerten Festhalten von verdäch- ausgeweitet, wie etwa der Große Lauschangriff in Italien,
tigen Personen durch die Polizei. Genannt sei nur die der sich auch gegen anwesende Personen in Privatwoh-
Vorbeugehaft verdächtiger Ausländer bzw. die Vorbeu- nungen richten kann, selbst wenn kein Grund vorliegt,
gehaft von so genannten unentbehrlichen Zeugen in den dass dort eine verbrecherische Aktion stattfindet.
USA, oder die Internierung von terrorismusverdächtigen
ausländischen Personen in besonderen Haftanstalten in Die Reaktion ausländischer Gesetzgebung und ausländi-
England, ohne dass sie vor ein dortiges Gericht gestellt scher Rechtsprechung auf komplexe Täterstrukturen
werden. besteht in der Schaffung von Organisationsdelikten,
Verschwörungstatbeständen, erweiterten Zurechnungsfi-
Der Organisationsgrad von Straftätergruppen und deren guren sowie anderen Vorverlagerungen und Zurech-
längerfristig angelegte Deliktsbegehung relativieren vor nungsformen des Strafrechts, für die der Terrorismus nur
allem auch die für das Strafrecht zentrale Unterscheidung ein Anwendungsfall ist.37
von Repression und Prävention, die es allerdings nicht
allen Rechtsordnungen gibt. Die Zusammenfassung meiner dritten These lautet mit-
hin, dass in den ausländischen Rechtsordnungen ebenso
Ulrich Sieber hat darauf hingewiesen, dass dies die Um- wie in Deutschland das moderne Strafrecht durch ein
gehung von strafprozessualen schützenden Formen durch Feindstrafrecht eine nicht unmaßgebliche Prägung erhält.
Verlagerung von Maßnahmen in das Verwaltungsrecht, Für die ausländischen Rechtsordnungen liegen noch
das Polizeirecht oder das Recht der Nachrichten- nicht genügend Erkenntnisse vor, mit denen Erklärungen
diensteunterstützt.35 Letzteres führt bei der Terrorismus- für diese feindstrafrechtlichen Entwicklungen gegeben
bekämpfung in einzelnen Rechtsordnungen zu der er- werden können. Aufgrund dessen kann auch über even-
wähnten Auflösung der rechtlichen und politischen Dif- tuelle Gegenmodelle noch nicht auf einer ausreichend
ferenzierung zwischen innerer und äußerer Sicherheit, gesicherten Basis diskutiert werden.
Kriegshandlung und Verbrechen, Prävention und Repres-
sion, Polizei und Militär, Geheimdiensten und Polizei Für Deutschland stellt sich die Situation anders dar. Nach
sowie Krieg und Frieden. Bestimmte derartige Auflösun- einer weit verbreiteten Auffassung erweisen sich die im
gen – die auch in Gesetzesform gegossen sind – sind Grundgesetz statuierten Grund- und Menschenrechte in
allerdings nicht neu. In manchen Ländern, wie in Frank- ihrer Tradition klassischer humanistischer Errungen-
reich und Italien, werden sie je nach Bedrohungslagen in schaften der Aufklärung als Schranke für das Strafrecht.
Kraft gesetzt und existieren bereits seit vielen Jahren, als Weiter gedacht, sind sie die durch Verfassung positivier-
sie im Zusammenhang mit dem eher innerstaatlichen te Schranke für das Feindstrafrecht. Und noch weiter:
Das Bundesverfassungsgericht hat nicht nur die Aufgabe,
34
M. Hildebrandt, Civil Liberties in Gefahr? Die innenpoliti-
schen Sicherheitsmaßnahmen der USA nach dem 11. Septem- 36
Vgl. zum Ganzen H.-J. Albrecht/U. Sieber (Hrsg.), Straf-
ber 2001, in: B. Rill (Hrsg.), Terrorismus und Recht – Der recht und Kriminologie, a.a.0. (o. Fußn.32), S. 28 ff.; U. Sieber,
wehrhafte Rechtsstaat, Akademie für Politik und Zeitgeschich- Grenzen des Strafrechts, a.a.0. (o. Fußn.32), S. 56 ff.
te, München 2003, S. 14. 37
Vgl. zum Ganzen H.-J. Albrecht/U. Sieber (Hrsg.), a.a.O. (o.
35
Sieber, Grenzen des Strafrechts, a.a.0. (o. Fußn. 32), S. 56 ff. Fußn. 32), S. 28 ff.; U. Sieber, Grenzen des Strafrechts, a.a.0.
(o. Fußn.32), S. 56 ff.
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dass die Schranke geschlossen bleibt und das Feindstraf- Auch mit seiner Entscheidung zu § 14 Abs. 3 Luftsicher-
recht keine Durchfahrt bekommt, sondern auch die Funk- heitsgesetz hat der 1. Senat des BVerfG dem Feindstraf-
tion, das Feindstrafrecht zu begrenzen, das heißt zu ver- recht, in Wirklichkeit aber dem Feindrecht, jedenfalls auf
hindern, dass es überhaupt bis zur Schranke gelangen den ersten Blick eine deutliche Abfuhr erteilt. Bei nähe-
kann. rem Hinsehen zeigt sich jedoch auch an dieser Entschei-
dung in letzter Konsequenz die „feindstrafrechtliche
Das ist freilich schön gesagt. Das schöne Bild werden Durchlässigkeit“. Bevor ich darauf näher eingehe, sei
sich all jene nicht zerstören lassen wollen, die in der folgendes in Erinnerung gerufen:
Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Luft-
sicherheitsgesetz38 eine Bestätigung dafür erblicken. Man Das Polizeiliche wird – so auch Jakobs – nicht aus dem
könnte in der Tat geneigt sein, angesichts dieses Urteils – Feindstrafrecht ausgeklammert. Diese Verklammerung
insbesondere wegen der klaren Aussagen des BVerfG zur führte Jakobs auf der Strafrechtslehrertagung im Mai
Menschenwürde – von einem Sieg des Rechtsstaates über 2005 - und jetzt in der ZStW nachzulesen - zu der Be-
das Feindstrafrecht zu sprechen. Die Entscheidung des schäftigung mit § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes,
BVerfG zum Luftsicherheitsgesetz will ich deshalb mit wonach ein Luftfahrzeug abgeschossen werden darf, „das
der vierten These ein wenig näher beleuchten. gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden
soll“.41 In Wirklichkeit, dass sei nur am Rande angefügt,
4. Verfassungsrecht: Das Grundgesetz und ist es aber in diesem Kontext weniger das Polizeiliche,
das Bundesverfassungsgericht als (durchläs- sondern das Militärische, das die Verklammerung mit
dem Feindstrafrecht ausmacht.
sige) Begrenzungen des Feindstrafrechts
Die Sprengkraft dieser Vorschrift resultiert nach Jakobs
Das Grundgesetz lässt – worauf ich in meinem Vortrag aus dem Umstand, dass sie nur dann einen sinnvollen
auf dem Strafverteidigertag vor zwei Jahren ausführlich Regelungsgegenstand aufweist, wenn – wie bisher einzig
eingegangen bin39 - unterschiedliche strafrechtliche In- beim Widerstandsrecht nach Art. 20 Abs. 4 GG – (in der
terpretationslinien zu, die sich das BVerfG in je unter- Sprache des Militärs so genannte) Kollateralschäden in
schiedlicher Weise und teilweise ergebnisorientiert zu den Kauf genommen werden dürfen, konkreter der Tod
eigen macht: zum einen die Linie der Strafrechtsbegren- von Passagieren, die für den Konflikt nicht einmal an-
zung, zum anderen die Linie der Legitimierung von satzweise verantwortlich gemacht werden können. Damit
Strafbarkeitsausdehnung. Allerdings sind keine klaren – so Jakobs weiter – „werden diese bürgerlichen Opfer
Kriterien sichtbar, die die eine oder andere Linie zu be- entpersonalisiert; denn ihr Lebensrecht wird ihnen zu-
gründen vermögen. Zurückzuführen ist das u.a. darauf, gunsten anderer genommen.“ 42
dass sich schon nicht eindeutig sagen lässt, ob das
Grundgesetz in toto auf dem Boden eines klassischen Die Erst-Recht-Schlussfolgerung, die Jakobs daraus
liberalen Rechtsstaates steht. Mehrere Interpretationen zieht, ist die folgende:
werden gegeben. Mit der Verwendung des Begriffs
Rechtsstaates im verfassungsrechtlichen Kontext waren „Wenn … der Staat im extremen Notfall sogar
und sind höchst unterschiedliche Vorstellungen verbun- gegenüber seinen dafür nicht verantwortlichen
den. Man lese hierzu nur die Arbeit von Böckenförde Bürgern kein Tabu kennt …, sondern das Erfor-
über Entstehung und Wandel des Rechtsstaatsbegriffs.40 derliche vollzieht, kann er sich bei Maßnahmen
zur Vermeidung des extremen Notfalls, die sich
Die verfassungsrechtlichen Schranken sind durchlässig. gegen Terroristen, also gegen Urheber des Not-
Diese Einschätzung trifft auch auf das Feindstrafrecht zu, falls richten, erst recht kein Tabu auferlegen, zu-
obwohl der Bekämpfungsgesetzgebung und ihrer mitun- mindest nicht innerhalb des Rahmens des Erfor-
ter bedingungslos erfolgenden Umsetzung deutliche derlichen – das ist die systemsprengende Kraft der
Grenzen aufgezeigt werden. Jüngstes Beispiel dafür ist Vorschrift.“43
der Beschluss der 3. Kammer des Zweiten Senats des
Bundesverfassungsgerichts. Die Aufhebung des den Was sagt das Urteil des BVerfG dazu?
Terrorverdächtigen El Motassadeq betreffenden Haftver-
schonungsbeschlusses durch die Instanzgerichte wurde § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes sei unabhängig
wegen Verletzung seines Freiheitsgrundrechts für verfas- davon, dass es bereits an einer Gesetzgebungsbefugnis
sungswidrig erklärt. des Bundes für eine solche Regelung ermangelt, mit dem
Grundrecht auf Leben und mit der Menschenwürdegaran-
38
tie des Grundgesetzes nicht vereinbar, soweit von dem
Urteil des BVerfG vom 15. Februar 2006 – 1 BvR 357/05. Einsatz der Waffengewalt tatunbeteiligte Menschen an
39
J. Arnold, Der Einfluss des BVerfG auf das nationale Straf- Bord des Luftfahrzeuges betroffen werden. Diese würden
und Strafverfahrensrechts, Teil 1, StraFo 2004, S. 402-407; Teil
2, StraFo 2005, S. 2-9.
dadurch, dass der Staat ihre Tötung als Mittel zur Ret-
40
E.-W. Böckenförde, Entstehung und Wandel des Rechts- tung anderer benutzt, als bloße Objekte behandelt; ihnen
staatsbegriffs, in: H. Ehmke/C. Schmid/H. Scharoun (Hrsg.),
41
Festschrift für Adolf Arndt, Europäische Verlagsanstalt, Frank- G. Jakobs, Terroristen als Personen im Recht? ZStW (117)
furt am Main 1969, S. 53-76. 2005, S. 839-851 (848).
42
Ebenda.
43
Ebenda.
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werde dadurch der Wert abgesprochen, der dem Men- ist darauf bedacht, die Menschenwürde auch den zu tö-
schen um seiner selbst willen zukommt. tenden Terroristen nicht zu versagen:

Dass es sich bei der der Vorschrift des § 14 Abs. 3 Luft- „Wer, wie diejenigen, die ein Luftfahrzeug als
sicherheitsgesetz zugrunde liegenden Konstellation um Waffe zur Vernichtung menschlichen Lebens
einen extremen Notfall handelt, wird vom BVerfG ver- missbrauchen wollen, Rechtsgüter anderer
neint. Im Anwendungbereich der relevanten Vorschrift rechtswidrig angreift, wird nicht als bloßes Objekt
gehe es nicht um die Abwehr von Angriffen, die auf die staatlichen Handelns in seiner Subjektqualität
Beseitigung des Gemeinwesens und die Vernichtung der grundsätzlich in Frage gestellt, […[ wenn der
staatlichen Rechts- und Freiheitsordnung gerichtet sind. Staat sich gegen den rechtswidrigen Angriff zur
Mit anderen Worten handelt es sich bei dem Regelungs- Wehr setzt und ihn zur Erfüllung seiner Schutz-
fall des § 14 Abs. 3 Luftsicherheitsgesetz nicht um jene pflichten gegenüber denen, deren Leben ausge-
Konstellation, die vom Einzelnen im Interesse des löscht werden soll, abzuwehren versucht. Es ent-
Staatsganzen verlangen könnte, sein Leben aufzuopfern, spricht im Gegenteil gerade der Subjektstellung
wenn es nur auf diese Weise möglich ist, das rechtlich des Angreifers, wenn ihm die Folgen seines
verfasste Gemeinwesen vor Angriffen zu bewahren, die selbstbestimmten Verhaltens persönlich zuge-
auf dessen Zusammenbruch und Zerstörung abzielen. rechnet werden und er für das von ihm in Gang
Das BVerfG lässt es letzten Endes allerdings offen, ob in gesetzte Geschehen in Verantwortung genommen
einer solchen Situation – wenn sie dann vorliegt – eine wird. Er wird daher in seinem Recht auf Achtung
Einstandspflicht des unschuldigen Bürgers besteht. der auch ihm eigenen menschlichen Würde nicht
beeinträchtigt.“47
In der Literatur hingegen wird die Einstandspflicht des
unschuldigen Bürgers durchaus bejaht, so von Michael In dieser Formulierung ist eine merkwürdige Vermi-
Pawlik.44 Dabei bezieht sich Pawlik aber nur auf die schung von bestimmten vergeltungsorientierten Strafthe-
Abwehr einer existentiellen Bedrohung der Rechtsge- orien auf der einen Seite mit der Legitimierung und Be-
meinschaft, die ein solches Gefährlichkeitspotential in gründung für präventives staatliches Handeln jenseits des
sich bergen muss, das in etwa einem Verteidigungsfall Strafrechts auf der anderen Seite erkennbar. Dies provo-
im Sinne von Art. 115a Abs. 1 GG oder eines bewaffne- ziert zu der Frage, was dem Staat im Präventionsbereich
ten Angriffs im Sinne von Art. 51 UN-Charta entspricht jenseits des Strafrechts unter Berufung auf die Wahrung
und real vorliegen müsse.45 Bei Jakobs wird es indessen der Menschenwürde nicht etwa alles verboten, sondern
nicht hinreichend deutlich, was er unter dem extremen gerade erlaubt ist und was dafür – wenn nicht die Men-
Notfall versteht. Denn Jakobs scheint Reinhard Merkel schenwürde – die Schranke ist.
beizupflichten, dessen Position von Pawlik aber gerade
abgelehnt wird. Merkel hat als Anwendungsfall zwar Erinnert sei an die Kant-Interpretation, wonach sich der
ebenfalls einen extremen Notfall vor Augen, aber ein Verbrecher mit seiner Tat zwar selbst aus der Gesell-
solcher liegt nach seiner Auffassung bei jedwedem terro- schaft ausgeschlossen hat, die Gesellschaft, der Staat
ristischem Anschlag vor, wie ihn der 11. September 2001 diesen Ausschluss wegen der Einhaltung des Freiheitsge-
darstellte. Diese Anschläge zielten auf das Herz des Staa- setzes der Vernunft nicht anerkennen darf. Das mag im
tes und bedeuteten immer eine Bedrohung der Rechts- Präventionsbereich bei klaren staatlichen Notstandssitua-
gemeinschaft als Ganzes. In einem solchen Fall sei es tionen anders zu beurteilen sein. Aber dann muss dieses
legitim, den unschuldigen Bürger aus den Grundrechten Problem benannt und es müssen Kriterien dafür entwi-
zu exkludieren.46 Anders als bei Pawlik wird damit bei ckelt werden. Vielleicht ist auch dies ein Anwendungsfall
Merkel nicht nur der Terrorist, sondern auch der un- für das, was Hassemer in seinem Eröffnungsvortrag zum
schuldige Bürger zum Feind erklärt und als Feind behan- Strafverteidigertag als „sicherheitsorientiertes rechts-
delt. staatliches Strafrecht“ bezeichnet hatte.48

Das BVerfG will genau diese Konsequenz vermeiden. Es Andernfalls ist nicht auszuschließen, dass sich aus der
ist jedoch fraglich, ob damit auch der Erst-Recht-Schluss Erlaubnis zu schwerwiegenden Zwangs- und Gewalt-
von Jakobs widerlegt worden ist, der bekanntlich darin handlungen durch den Staat, die im Namen der Men-
besteht, zu sagen: Wenn der Staat schon mit unschuldi- schenwürde begangen werden, im Umkehrschluss gerade
gen Bürgern wie mit Feinden verfährt, dann sind erst die Legitimierung der Abwägung der Menschenwürde
recht die Feinde zu exkludieren. entwickeln lässt; genau so wie dies vor dem Hintergrund
der Folterdiskussion vertreten wird.49 Kritisiert wird
Das BVerfG hält die Abschussermächtigung nicht dabei, dass die „Unantastbarkeitsgarantie“ zur Suche
zugleich auch dann für verfassungswidrig, wenn davon nach einem festen Begriffsinhalt im Sinne unverrückba-
allein die Täter betroffen sind. Dies ist im Ergebnis ein- rer Konturen des Würdeanspruchs führe. Die Absolutheit
leuchtend, jedoch irritiert die Begründung. Das BVerfG
47
Urteil des BVerfG vom 15. Februar 2006 1 BvR 357/05,
44 Rdnr. 141.
Vgl. M. Pawlik, § 14 Abs. 3 des Luftsicherheitsgesetzes – ein
48
Tabubruch? JZ 2004, S. 1045-1055 (1052 ff.). W. Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht, a.a.O. (o. Fußn. 3),
45 S. 141.
Ebenda, S. 1054.
46 49
R. Merkel, Die Zeit vom 8.7.2004, S. 33. Vgl. dazu M. Herdegen, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz,
Kommentar, Art. 1, Rdnr. 45, Lfg. 44, Februar 2005.
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des Würdeschutzes komme der menschlichen Sehnsucht die Substanz der Zivilgesellschaft als potentielle Gefahr
nach einfachen Gewissheiten entgegen, die den Urteilen- versteht und unter einen allgemeinen Verdacht stellt.
den von der Last komplexer Abwägung möglichst befrei- Immigration und Asyl, religiöse Vereinigungen und
ten. Bezeichnet wird dies als das Streben nach größtmög- politische Bewegungen, ethnische Minderheiten, auslän-
licher Simplifikation. dische Staatsangehörige und transnationale Gemeinschaf-
ten, sicherheitsrelevante Arbeitsplätze und Tätigkeitsfel-
Das Streben nach größtmöglicher Simplifikation erweist der sowie schließlich ganze Religionen oder Länder
sich in Wirklichkeit jedoch als juristischer Widerstand werden zu Anknüpfungspunkten für Überwachung und
gegen den Anfang vom bitteren Ende des Rechtsstaates. gegebenenfalls für sozialen und wirtschaftlichen Aus-
schluss.“52
Damit bin ich bei meiner fünften und letzten These ange-
langt. Wohl nicht zuletzt die rechtliche und politischen Ge-
samtentwicklung bedenkend, sah sich Hassemer – aller-
5. Juristischer Widerstand gegen das Feind- dings nicht so sehr im gestrigen Eröffnungsvortrag, son-
strafrecht dern statt dessen zu den Petersberger Justiztagen im Mai
vergangenen Jahres –zu der Feststellung veranlasst, dass
Die Forderung nach Widerstand gegen das Feindstraf- es heute außerordentlich schwer sei, unverfügbare
recht soll formuliert werden vor dem Hintergrund der Rechtsprinzipien zu begründen, obwohl sie begründet
Erkenntnis, dass es keinen Ausgleich zwischen dem und beachtet werden müssten. Doch sei nicht sicher, ob
freiheitlichen rechtsstaatlichen Geist und dem Bekämp- das heute noch gelingen kann.53 Die rechtspolitische
fungsstrafrecht gibt, zu unversöhnlich stehen sich beide Antwort, die Hassemer gestern gab, bestand in der Auf-
Richtungen gegenüber. forderung zum Nachdenken über ein „rechtsstaatliches
Sicherheitsstrafrecht“.54 Eine solche Antwort ist nahe an
Die Lösung liegt auch nicht darin, das Feinstrafrecht aus den realen politischen Verhältnissen gedacht. Ob sich
dem Bürgerstrafrecht auszuklammern, um damit das gute damit der dramatische Wandel des Strafrechts verhindern
Bürgerstrafrecht erhalten zu können. Wie gesehen, sind oder wenigstens weiter verzögern lässt, ist gerade ange-
Strafrecht und Gefahrenabwehr so miteinander verzahnt, sichts der aufgezeigten historischen Entwicklungslinien
dass das eine von dem anderen gar nicht getrennt werden des Feindstrafrechts respektive Bekämpfungsstrafrecht,
kann. Peter-Alexis Albrecht nennt dies „nach-präventives die Hassemer deutlich kürzer sieht, völlig offen. Die
Strafrecht“, das kein Recht mehr sei.50 Skepsis überwiegt.

Doch selbst wenn die Entkopplung gelingen sollte, wird Freilich liegen auch zahlreiche rechtsphilosophische und
dadurch das außerhalb des Strafrechts ohnehin schon rechtstheoretische Entwürfe aus der jüngsten Zeit vor, die
existierende Feindrecht in einer Weise weiter aufgeladen, sich gegen die umschriebene Entwicklungen richten.
dass es sich an einem bestimmten Punkte unweigerlich Sofern diese Entwürfe auf einem klassischen rechtsstaat-
gegen das übrig gebliebene Strafrecht selbst richten wür- lichen Strafrecht beharren, und eine Strafrechtsbegren-
de. Man kann dies deutlich an den neueren Entwicklun- zung fordern, sehen sie sich – wie schon gezeigt wurde –
gen im Polizeirecht sehen, die im Januar-Heft der Krimi- der Kritik ausgesetzt, die veränderte Wirklichkeit nicht
nalistik im Zusammenhang mit der Diskussion über den zu berücksichtigen und sich deswegen in allzu einfachen
mehrmonatigen Sicherheitsgewahrsam als Wandel des Gewissheiten, ja in absoluten Wahrheiten, zu befinden.
Polizeirechts von einer Quelle rechtsstaatlicher Gefah-
renabwehr hin zu einem „Recht der Risikosteuerung“ im Sich dieser Kritik stellend, könnte ein Ansatz darin be-
Rahmen eines präventiven Schutzes neuer Art bezeichnet stehen, nach der Realität gegenwärtiger Strafrechtsbe-
wird.51 grenzungen in der Praxis zu fragen. Denn es ist gerade
die Wirklichkeit der Strafrechtsbegrenzung, die beson-
Wenn man dann noch die politischen Konzepte für die ders den Alltag von Strafverteidigerinnen und Strafver-
präventiven Bekämpfungsstrategien bedenkt, besteht in teidigern in all ihren Betätigungsfeldern, die es im Ein-
der Tat wenig Veranlassung zu der Hoffnung, dass we- zelnen einmal empirisch zu untersuchen gilt, prägt. Ver-
nigstens die noch verbliebenen unverfügbaren Grenzen teidigung ist Strafrechtsbegrenzung, und zwar unabhän-
staatlicher Eingriffe auf Dauer erhalten bleiben. gig von ihrem Erfolg im Einzelfall. Strafrechtsbegren-
zung durch Verteidigung ist Eintreten für die Freiheit.
Die hinter den Bekämpfungsstrategien stehenden politi- Strafverteidigung befindet sich im Widerstand gegen das
schen Konzepte hat Hans-Jörg Albrecht wie folgt um- Feindstrafrecht. Diese These ließe sich an vielen Beispie-
schrieben: len belegen. Das nächste Buch über das Feindstrafrecht
könnte derartige Beispiele aufarbeiten. Allein die Zeit-
Die neue Gesetzgebung greife insgesamt in einer Weise schriften „Strafverteidiger“ und „StraFo“ sind monatlich
in die Gesellschaft ein, „die deren Freiräume und damit 52
H.-J. Albrecht, Der erweiterte Sicherheitsbegriff und seine
50 Folgen, Informationsbrief des RAV, 91/2003, S. 6-23 (9).
P.-A. Albrecht, Das nach-präventive Strafrecht: Abschied 53
W. Hassemer, Sicherheitsbedürfnis und Grundrechtsschutz:
vom Recht, Manuskript für den 100. Band der Frankfurter
Umbau des Rechtsstaats? StraFo 2005, S. 312-318 (318).
kriminalwissenschaftlichen Studien, 2006. 54
51 W. Hassemer, Sicherheit durch Strafrecht, a.a.O. (o. Fußn. 3),
Ch. von Denkowski, Kriminalistik 1/2006, S. 11-22.
S. 143.
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gefüllt mit Fällen der Rechtsprechung, und Handbücher dafür sind aber auch die Vertretung von deutschen Ange-
für die Strafverteidiger gibt es in ausreichender Anzahl. hörigen von Opfern der früheren Militärdiktatur in Ar-
gentinien.
Doch ein komprimiertes Kompendium, mit dem zusam-
menhängend gezeigt werden kann, dass die Strafverteidi- Doch das praktische Forschungsfeld der Strafrechtsbe-
gung mit ihrem Widerstand gegen Feindstrafrecht sich grenzung kann noch weiter gezogen werden, indem die
konkret für das liberale Strafrecht einsetzt, liegt noch Untersuchungsfrage auch auf die Praxis der Justizorgane
nicht vor. Das wäre dann zugleich ein „Handbuch“ des übertragen wird. Es würde sich erweisen, ob und inwie-
anwaltlichen Widerstandes gegen Feindstrafrecht. Ein weit die Justizorgane die Strafrechtsdogmatik als Wider-
solches Kompendium könnte geordnet nach Tätigkeits- standsmittel gegen das Feindstrafrecht anwenden.
feldern der Strafverteidigung exemplarische Fälle auf-
nehmen und beträfe dann nicht nur die momentan noch Und indem Strafrechtswissenschaft und Kriminologie
spektakulären Verfahren in Terrorismusfällen, wie sie sich an einem solchen Vorhaben beteiligen, möglicher-
beispielsweise von Michael Rosenthal, Gerhard Strate weise auch durch Befragungen der Rechtsakteure, könn-
oder Gül Pinar bis zum Bundesverfassungsgericht bei ten sie damit in einem ganz konkreten Projekt, die bis-
Überwindung vieler Hindernisse getragen werden. Dabei lang eher belächelte Forderung, dass sie Strafrechts-
könnte ein Schwerpunkt der Darstellung auf dem Ablauf begrenzungwissenschaft sein sollen, umsetzen. Am Ende
der strafrechtsbegrenzenden Tätigkeit des Strafverteidi- eines solchen Projekts bestünde dann die Aufgabe zur
gers liegen. Mir kam dieser Gedanke, als wir im Vor- Rechtsvergleichung, aber auch zur zusammen hängende
stand des Republikanischen Anwältinnen- und Anwälte- Betrachtung der Entwicklungen im Völkerstrafrecht
vereins über das Verfahren Darkanzanli, das bekanntlich unter dem Gesichtspunkt von Strafrechtsbegrenzung. Ist
zu der Entscheidung des BVerfG über den Europäischen die Errichtung des Internationalen Strafgerichtshofes auf
Haftbefehl führte, informiert wurden. Die Geschichte der der Grundlage des Rom-Statuts nicht ein gutes Beispiel
Strafverteidigung in diesem Verfahren – belegt durch die dafür, dass der Feind selbst bei schlimmsten Verbrechen
immer und immer wieder unternommenen Schritte der gerade nicht entpersonalisiert wird? Auch dies sieht Ja-
Verteidigung gegen die Auslieferung von Darkanzanli – kobs übrigens anders, indem er die Auffassung vertritt,
ist eine Geschichte des Widerstandes gegen Feindstraf- dass die Bestrafung von Menschenrechtsverletzern, so-
recht und Feindrecht. Denn was Letzteres, das Feindrecht fern diese einer „gemeinschaftlich-gesetzlichen“ Welt-
betrifft, war Darkanzanli zugleich ein von der „EU- verfassung diene, zwar legitim sei, doch handele es sich
Terrorliste“ Betroffener. dabei nicht um Strafe gegen schuldige Personen, „son-
dern gegen gefährliche Feinde, und deshalb sollte man
Aber wie gesagt, das ist nur ein besonders anschauliches die Sache auch so nennen: Feindstrafrecht.“55
Beispiel mit einer besonderen internationalrechtlichen
Verzahnung, um die freilich noch weiter zu präzisierende Ich meine abschließend, dass die Hoffnung nicht ganz
Anregung für ein Projekt über „Strafrechtsbegrenzung unberechtigt ist, durch das Aufzeigen des vorhandenen
und Strafverteidigung“ zu verdeutlichen. Dazu würde juristischen Widerstandes gegen das Feindstrafrecht
auch gehören, exemplarische Fälle bis zu ihrem Ende zu Anhaltspunkte für die Begründung heute zu finden, wa-
verfolgen, was auch die Rechtsfolgen, inklusive Straf- rum die unverfügbaren Rechtsprinzipien aufrechtzuerhal-
vollstreckung und Strafaussetzung betrifft. ten sind und warum deshalb der Widerstand verstärkt
werden muss. Vielleicht zeigt sich auf diese ganz prakti-
Aber auch das internationale Strafrecht wäre dabei in den sche Weise, dass es eine starke Strömung gegenwärtigen
Blick zu nehmen. Rechtshilfe- und Auslieferungsverfah- strafrechtlichen Denkens gibt, die in einem „radikalen“
ren, Ausländerrecht, Verteidigung vor den internationa- Überpositivismus, in einem freiheitlichen liberalen Straf-
len Gerichten, und selbst das Eintreten gegen Straflosig- recht nach wie vor tief verwurzelt ist. Davon wiederum
keit sind dafür Stichpunkte. würden zwei Seiten profitieren: sowohl ein kritischer
rechtsphilosophischer Entwurf, als auch der Entwurf
Was das Eintreten gegen Straflosigkeit betrifft, so ist das eines „rechtsstaatlichen Sicherheitsstrafrechts“. Freilich,
kein Widerspruch zur Strafrechtsbegrenzung. Denn so- eine Garantie, dass das Feindstrafrecht am Ende nicht
weit sich das Eintreten gegen Straflosigkeit auf Men- triumphiert, ist das nicht. Aber die Idee des Feindstraf-
schenrechts- und Völkerrechtsverbrechen bezieht, die im rechts ist mehr denn je diskreditiert.
Namen oder im Auftrage des Staates begangen worden
sind, richtet sich die Inanspruchnahme des Rechts gegen ***
die verbrecherische Politik des Staates. Beispiele für
anwaltliches Handeln in diesem Kontext sind die Straf-
anzeige u.a. beim Generalbundesanwalt gegen Rumsfeld 55
G. Jakobs, Bürgerstrafrecht und Feindstrafrecht, HRRS Heft
u.a. wegen der Folterungen in Abu Ghraib. Beispiele 3/2004, S. 95.
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Feindstrafrecht – Einige Anmerkungen zur rig erklärten § 14 Abs.3 Luftsicherheitsgesetz aus jedem
Arbeitsgruppe „Feindstrafrecht – Ein Ge- berufenen Munde zu hören und in fast jeder Zeitung zu
lesen war.
spenst geht um im Rechtsstaat“ auf dem 30.
Strafverteidigertag 2006 Was also bleibt, ist die argumentative Auseinanderset-
zung.
Von Rechtsanwalt Dr. Klaus Malek, Freiburg
i.Br. II.

I. Es gibt in der Tat Dinge, über die man nicht diskutiert.


Menschen sind, wie immer sie sich benehmen mögen,
Es war nicht einfach, unter den Strafverteidigervereini- keine „wilden Tiere“, die man einfach aus der staatsbür-
gungen eine Mehrheit für eine Arbeitsgruppe mit dem gerlichen Rechtsordnung eliminieren könnte. Wer ande-
Titel „Feindstrafrecht“ auf dem 30. Strafverteidigertag in res will, kann von Glück sagen, dass die Anhänger einer
Frankfurt zu finden. Zwar hatte die Podiumsdiskussion ungeteilten Geltung des Rechts diese Geltung auch dem
am Schlusstag des 29. Strafverteidigertages in Aachen Urheber solcher verfassungswidriger Forderungen zu-
unter Teilnahme von Günther Jakobs bei den meisten kommen lassen.
Anwesenden ein Gefühl der Unzufriedenheit hinterlas-
sen, wobei der kleinste gemeinsame Nenner von Kritik Aber es gibt Fragen, die zu diskutieren und an Jakobs zu
und Selbstkritik die Erkenntnis war, dem Thema „Feind- stellen sind.
strafrecht“ und seinem Protagonisten – wie auch immer –
nicht gerecht geworden zu sein. Zunächst ist klarzustellen, dass Jakobs nicht nur Situati-
onen beschreibt und analysiert, wie er nicht müde wird
Viele Kollegen zogen aus dem „Debakel von Aachen“ zu behaupten,3 sondern Lösungen anbietet und propa-
den Schluss, hier müsse, am besten gleich auf dem giert. Jakobs Haltung ist nicht deskriptiv, sondern hin-
nächsten Strafverteidigertag, etwas zurecht gerückt wer- sichtlich seines Konzepts legitimatorisch-affirmativ.4
den. Dieser Meinung war auch der Verfasser dieser Zei- Zwar erreicht Jakobs neuer Vortrag auf dem Strafvertei-
len. Andere erhoben jede Diskussion über die Thesen digertag5 nicht die Schärfe und Eindeutigkeit früherer
Jakobs in den Rang eines Tabus, das zu brechen zumin- Veröffentlichungen; dass seinen Ausführungen deswe-
dest den Verdacht rechtfertigte, dessen Sympathisant zu gen jedoch „jeder rechtspolitische Impetus“ fehle, wie er
sein. selbst meint, wird man schwerlich behaupten können.

Die zunächst ablehnende Haltung vieler Kolleginnen und Unbeantwortet bleiben (und sie blieben es auch in Frank-
Kollegen lag, wie die Diskussion zeigte, auch darin be- furt in der auf die Referate folgenden Diskussion in hart-
gründet, dass sie sich als Rechtspraktiker in „philosophi- näckiger Weise) vor allem die „praktischen“ Fragen, auf
schen“ Fragen – als solche nämlich wurde das Feindstraf- die ein phantasiebegabter Jakobs-Leser unvermeidlich
recht betrachtet – dem Elfenbeinturm der Rechtswissen- stößt: Was ist denn mit den „wilden Tieren“ zu tun, wenn
schaft hoffnungslos unterlegen fühlten.1 Man müsse Kant sie sich nicht zähmen lassen? Jakobs Thesen legen, wenn
studiert haben, um Jakobs zu widerlegen, war eines der man sie ernst nimmt, wahrhaft gespenstische Antworten
Argumente. – Selbstredend muss man nicht! Man muss nahe. Wäre die Diskussion um die in den 70er Jahren des
es eben so wenig, wie die Einsicht in die Evolutionstheo- vergangenen Jahrhunderts immer wieder behauptete, von
rie die Kenntnis von Darwins „Entstehung der Arten“ offizieller Seite bestrittene Tötung politischer Gefange-
erfordert, oder die Verteidigung der Gleichheit vor dem ner etwa unter der Herrschaft des Feindstrafrechts in
Gesetz nur von dem erwartet werden darf, der die Klassi- gleicher Weise zu führen, wie zu RAF-Zeiten geschehen,
ker der Französischen Revolution im Original zu zitieren oder wäre die staatliche Liquidierung von Personen, die
weiß. Wer anderes glaubt, der ist dem Meister aus Bonn sich nicht auf Dauer „in einen bürgerlichen Zustand
bereits auf den Leim gegangen. zwingen“ lassen, eine Option, die auch ein Rechtsstaat
lediglich unter dem Gesichtspunkt des Verhältnismäßig-
Das andere Argument gegen die Durchführung der vor- keitsprinzips (etwa der Erforderlichkeit der Maßnahme)
geschlagenen Arbeitsgruppe, man müsse Jakobs quasi tot zu diskutieren hätte? Müsste man Jakobs Diskussionsbei-
schweigen2, war von jeher blauäugig und wurde spätes- trag „Endlos lässt sich nicht kontrafaktisch leben“ wört-
tens dann gänzlich unvertretbar, als das Thema just zum lich nehmen? Von Alejandro Aponte konnte man in der
Strafverteidigertag in der Diskussion um den vom Bun- Arbeitsgruppe einiges dazu hören.6 – Dem Meister selbst
desverfassungsgericht am 15.2.2006 für verfassungswid- sind solche Erörterungen eher unappetitlich. Selbstver-

3
1
Gegen diese Überschätzung hilft beispielsweise von Kirch- So kündigte er in einem Telefonat mit dem Verfasser kurz vor
manns vergnüglicher und zeitloser Vortrag „Von der Wertlo- dem Frankfurter Strafverteidigertag seinen neuen Vortrag mit
sigkeit der Jurisprudenz als Wissenschaft“, gehalten 1848. den Worten an, er werde „noch mehr als bisher“ nur beschrei-
2
Eine Haltung, die auch beim Festredner des Frankfurter Straf- ben und nicht werten; er sei in dieser Hinsicht immer missver-
verteidigertags, Prof. Winfried Hassemer, in der Diskussion standen worden.
4
anklang. Allerdings zeigte sein Vortrag, der dem Feindstraf- Zur Nomenklatur vgl. Greco (GA 2006, 102 ff.).
5
recht breiten Raum widmete, dass er sich selbst keineswegs der Siehe abgedruckt in diesem Heft der HRRS.
6
Methode des „Totschweigens“ bedient. Siehe abgedruckt in diesem Heft der HRRS.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 317

ständlich sei er, so seine Antwort auf entsprechende senschaftlichen Veröffentlichungen hochkarätiger Auto-
Publikumsfragen, gegen eine „öffentliche Vierteilung“ ren ist unüberschaubar, von journalistischen Beiträgen in
der Feinde. - Das ist beruhigend. Presse, Funk und Fernsehen ganz zu schweigen. Warum
dies so ist, hat Hassemer nicht beantwortet. Eine nicht
Eine weitere Frage, die Jakobs den eher organisatori- fern liegende Vermutung ist die, dass „feindstrafrechtli-
schen Problemen zurechnet, mit denen er nichts zu tun che“ Normen, die schon längst Eingang in das bürgerli-
haben will, ist die nach der Definitionsmacht und den che Strafrecht gefunden haben (eine Feststellung, die
Kriterien der Feinderklärung. Wer bestimmt denn, wer auch Jakobs nicht bestreitet), kontinuierlich ausgebaut
der Feind ist? Das Parlament, der Bundespräsident, die und vorangetrieben werden (an Vorbildern, etwa den
Bundeskanzlerin, ein Gericht (wenn ja, welches?), die USA und Großbritannien, fehlt es ja nicht), und dass für
Polizei oder der Leiter der örtlich zuständigen Justizvoll- diese Entwicklung die philosophischen und rechtwissen-
zugsanstalt? – Und nach welchen Kriterien wird der schaftlichen Legitimationen nachgeliefert werden müs-
Feind definiert? Genügt die dauerhafte Abwendung vom sen. Noch gibt es Guantanamo nicht bei uns. Für Jakobs
Recht? Jakobs in Frankfurt: „Der notorische Radfahrer ist es keineswegs undenkbar. Dem (zukünftig) Fakti-
ohne Licht muss nicht lebenslang weggesperrt werden.“ schen bereits jetzt die normative Kraft zu verleihen, das
Soll uns auch das beruhigen? ist Jakobs „Leistung“, der, um es mit Frank Saliger7
auszudrücken, „ins Schwarze des Zeitgeistes“ getroffen
Ein letztes: Hassemer stellt in seinem Festvortrag die hat. – Und dies ist beunruhigend.
Frage, „…warum solche Lehren (gemeint ist das Ja-
kobs’sche Konzept, d.Verf.) heutzutage Aufmerksamkeit ***
oder gar Zustimmung finden.“ Dass Jakobs Thesen
Aufmerksamkeit in hohem Maße zuteil wurde, darüber 7
Vgl. dessen Referat in JZ 2006, 756 ff.
lässt sich kaum streiten. Alleine die Zahl der rechtswis-

Zurechnen-Können, Erwarten-Dürfen Aufmerksamkeit nicht zufällig gewählt worden. Auch ist


er für sich genommen nicht etwa »ein sinnloser Laut«3,
und Vorsorgen-Müssen – Eine Erwide- sondern regt als kompositionaler Neologismus bestimmte
rung auf Günther Jakobs Konnotationen oder Assoziationen an. Aber Konnotatio-
nen und Assoziationen sind allenfalls Vorformen von
Von Dr. Jochen Bung, Universität Frankfurt Argumenten; und daher sollte man nicht mehr länger
gebannt auf das Wort »Feindstrafrecht« starren, sondern
am Main.
sich auf die Argumente konzentrieren, die das perhorres-
zierte Wort zu tragen behaupten. Ich konzentriere mich
Die Versachlichung der Diskussion um das Feindstraf-
in diesem Beitrag auf Argumente von Jakobs, die er
recht1 enthält eine für die Strafrechtswissenschaft
während des 30. Strafverteidigertages in Frankfurt am
schwerlich zu überschätzende Chance zur Grundlagen-
Main dem Publikum präsentiert hat, und zwar sowohl in
besinnung. Man wünscht sich, diese Chance wäre durch
seinem Vortrag als auch in der sich daran anschließenden
einen anderen Begriff eröffnet worden, aber auszuschlie-
Diskussion.4 Insoweit der Beitrag auf Jakobs` Kritik an
ßen ist es nicht, dass es gerade dieser Begriff sein musste.
Argumenten eingeht, die der Verfasser an anderer Stelle
Seine Ecken und Kanten schleifen sich freilich durch die
vorgetragen hat5, versteht er sich als Erwiderung.
andauernde Verarbeitung im wissenschaftspublizisti-
schen Kreislauf merklich ab. Aber das ist gut so, denn
nun vermag man im Begriff des Feindstrafrechts nicht I. Jakobs gegen Palmström-Normativismus
länger eine Kriegserklärung, sondern das Angebot zu
erkennen, in ein zivilisiertes Gespräch über die Grundla- In seinem Frankfurter Vortrag über die »Bedingungen
gen des Strafrechts einzutreten. Der Begriff als Wort von Rechtlichkeit« geht es Jakobs – dem dezidiert philo-
oder als bloßer Name besagt nicht viel.2 Zwar ist er von sophischen Titel entsprechend – zuvörderst um die Kritik
Jakobs aus Gründen der Distinktion und Gewinnung von einer fundamentalen Verkennung des Wesens der
Rechtsgeltung, die man in Anlehnung an das bekannte
1
Zutreffend diagnostiziert Arnold das »Ende der Gespenster-
Gedicht von Christian Morgenstern (»Die unmögliche
jagd« und den Beginn der wissenschaftlichen Debatte, in: Tatsache«) als Palmström-Normativismus bezeichnen
Thomas Uwer/Organisationsbüro (Hg.), Bitte bewahren Sie kann. Palmström wird von einem Auto überfahren. Er
Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat, Schriftenreihe der Strafver- stellt – »entschlossen weiterlebend« – fest, dass das
teidigervereinigungen, Berlin 2006, S. 13 ff. Die Beiträge des Kraftfahrzeug an dieser Stelle gar nicht fahren durfte.
Bandes sind ein Beleg für diese Einschätzung. Vgl. insoweit
auch die Abhandlungen von Hörnle, Deskriptive und normative 3
Hegel, Phänomenologie des Geistes [1807], Frankfurt am
Dimensionen des Begriffs »Feindstrafrecht«, GA 2006, S. 81 ff. Main 1973, S. 26.
sowie Sinn, Moderne Verbrechensverfolgung – auf dem Weg 4
Der Vortrag ist in dieser Ausgabe der HRRS abgedruckt.
zu einem Feindstrafrecht?, ZIS 2006, S. 107 ff. 5
Bung, Feindstrafrecht als Theorie der Normgeltung und der
2
In ihrem Vorwort zur genannten Monographie (Fn. 1) spre- Person, in: Uwer/Organisationsbüro (Hg.), Bitte bewahren Sie
chen Uwer und von Schlieffen anschaulich von der »Hierogly- Ruhe. Leben im Feindrechtsstaat (Fn. 1), zugleich veröffent-
phe Feindstrafrecht«, a.a.O., S. 11. licht in HRRS 2/2006, S. 63 ff.
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Daher kommt er zu dem Ergebnis, dass er den Unfall »A und B tun das, was sie „der Norm N folgen“ nennen«
geträumt haben muss, »weil, so schließt er messerscharf, ist wahr genau dann, wenn A und B der Norm N folgen.
nicht sein kann, was nicht sein darf«. In einer Art Um- Das zeigt, dass die Bezugnahme auf Normen und damit
kehrung des naturalistischen Fehlschlusses schließt auch deren spezifische Dimension von Geltung irreduzi-
Palmström vom Sollen aufs Sein und übersieht dabei, bel ist.8 H.L.A. Hart hat argumentiert, dass etwa die
dass das Recht nicht schon allein deswegen gilt, weil es Voraussagbarkeit von Strafe nicht als zureichende Erklä-
Geltung beansprucht. rung dafür angesehen werden kann, dass soziale Regeln
existieren. Wir sagen nämlich, so Hart, »dass wir einen
Die Kritik am Palmström-Normativismus findet sich Menschen tadeln oder bestrafen, weil er eine Regel
schon in früheren Texten von Jakobs, so etwa in dem gebrochen hat«9. Die Kursivierung des »weil« ist, wenn
Einwand, niemand spaziere allein deswegen nächtens im man so will, eine Theorie der Zurechnungsfähigkeit in
Park, weil er weiß, dass er nicht erschlagen werden darf, nuce. Der intensionale Gehalt dieses Junktors widersteht,
sondern auch im Bewusstsein dessen, dass diese Norm wie Hart bemerkt, »der Analyse in klaren, harten und
Bestandteil einer Ordnung ist, die typischerweise garan- tatsächlichen Begriffen«10. Er begründet das in Recht und
tiert, dass niemand während nächtlicher Spaziergänge im Moral vorausgesetzte Modell der Zuschreibung verant-
Park erschlagen wird.6 Die kognitive Sicherheit des Ver- wortlicher Handlungsurheberschaft, wobei im Falle der
trauens in die Normgeltung ist wesentliches Konstituens Verantwortlichkeit für den Normbruch das Verstehen der
jener Ordnung, die wir als Rechtsordnung ansprechen. Norm notwendiger Bestandteil der Prämissen des prakti-
Sie ist beileibe kein freischwebendes, allenfalls in der schen Syllogismus ist. Harts »weil«, insofern es die
Rechtsidee verankertes System, sondern muss, wie gera- Handlungsverantwortung der Person meint, ist nicht
de der große Normativist Hans Kelsen hervorgehoben naturalisierbar, etwa im Sinne von deskriptiv zu erfas-
hat, im Großen und Ganzen wirksam sein.7 Man kann senden und prognostisch zu generalisierenden Verhal-
diesen Gedanken als Rechtsrealismus bezeichnen, und er tensregularitäten. Insoweit gibt es mit dem Rechtsrealis-
markiert den Bereich, in dem die Rechtswissenschaft nur mus von Jakobs vermutlich keinen Dissens. Dass Nor-
um den Preis wissenschaftlicher Naivität sich dem An- men eine Geltungsdimension sui generis eröffnen und
spruch verweigern kann, zugleich auch Gesellschaftswis- damit auch eine Form von Rationalität, die nicht auf
senschaft zu sein. Auf dem abstrakten Niveau solcher Berechenbarkeit reduziert werden kann, führt noch lange
Erörterungen kann niemand die Wahrheit des Rechtsrea- nicht zum abstrakten Normativismus Palmströms, und
lismus bestreiten. Jakobs, der selbst eine der fundiertesten Normentheorien
Wie immer bei sehr abstrakten Einsichten muss jedoch vorgelegt hat11, wäre sicherlich der letzte, der das bestrei-
besondere Sorgfalt dem gelten, was man für die Wirk- ten würde.
lichkeit in concreto daraus ableiten kann. Zwei Dinge
folgen aus dem Rechtsrealismus jedenfalls nicht. Zum Hat man damit aber bestimmte radikale Formen des
einen folgt nicht, dass ein besonders konsequenter Rechtsrealismus ausgeschlossen, gibt es noch eine zweite
Rechtsrealismus schließlich ganz darauf verzichten könn- Möglichkeit des Kurzschlusses aus der abstrakten Ein-
te, Recht als einen genuinen Geltungsbereich in Bezug zu sicht in die Angewiesenheit des geltenden Rechts auf
nehmen. Das zeigt eine einfache Überlegung: Ersetzen seine Wirkung; die nämlich, dass – populärhegelianisch
wir Aussagen der Form »A und B folgen Norm N« sys- zu reden – die Wirklichkeit des Rechts auch das Vernünf-
tematisch durch deskriptive Interpretationen der Form »A tige ist. Hierüber, meine ich, muss man mit Jakobs strei-
und B tun das, was sie „der Norm N folgen“ nennen«. ten. Denn der schiere Umstand, dass es Sicherungsver-
Offenkundig funktioniert dieser Vorschlag nicht, denn: wahrung, Untersuchungshaft und Vorfeldkriminalisie-
rung gibt, besagt noch überhaupt nichts über die Mög-
6
Vgl. Jakobs, Staatliche Strafe. Bedeutung und Zweck, hrsg. lichkeit einer vernünftigen Begründung dieser Institute
von der Nordrhein-Westfälischen Akademie der Wissenschaf- und Regelungen. Niemand (außer etwa einem natur-
ten, Paderborn 2004, S. 29. – Heute spricht man vom Sicher- rechtsgläubigen Palmström) würde behaupten, dass
heitsstaat, aber die Idee ist viel älter, vgl. etwa den Zusatz zu Norm N nicht gilt, weil sie nicht gelten darf. Aber dass
§ 268 der Hegelschen Rechtsphilosophie: »Das Zutrauen haben bestimmte Normen oder Rechtsinstitute abgeschafft
die Menschen, dass der Staat bestehen müsse [...], aber die gehören, ist eine legitime Argumentationsform, die mit
Gewohnheit macht das unsichtbar, worauf unsere ganze Exis-
tenz beruht. Geht jemand zur Nachtzeit sicher auf der Straße, so
Wirklichkeitsverkennung nichts zu tun hat.12 Vielmehr
fällt es ihm nicht ein, dass dieses anders sein könne, denn diese
8
Gewohnheit der Sicherheit ist zur andern Natur geworden, und Nur am Rande möchte ich bemerken, dass dies nicht heißt,
man denkt nicht gerade nach, wie dies erst die Wirkung beson- dass man die Bedeutung von Normen nicht im Sinne von
derer Institutionen sei. Durch die Gewalt, meint die Vorstellung Wahrheitsbedingungen spezifizieren könnte. Das ist ein für die
oft, hänge der Staat zusammen; aber das Haltende ist allein das Frage der Anwendbarkeit des juristischen Syllogismus bedeut-
Grundgefühl der Ordnung, das alle haben.« (Hegel, Grundlinien samer Punkt, weil dieser – als deduktives Schema – über das
der Philosophie des Rechts [1820], Werke 7, 2. Aufl., Frankfurt Prinzip der Wahrheitserhaltung definiert ist.
9
am Main 1989, S. 414). Hart, Der Begriff des Rechts [1961], Frankfurt am Main
7 1973, S. 23 f.
Vgl. Kelsen, Reine Rechtslehre, 2. Aufl., Wien 1960,
10
S. 215 ff. Kelsen bezeichnet die Bestimmung des Verhältnisses Ebd., S. 24.
11
von Geltung und Wirksamkeit des Rechts als »eines der wich- Jakobs, Norm, Person, Gesellschaft, 2. Aufl., Berlin 1999.
12
tigsten und zugleich schwierigsten Probleme der positivisti- Vgl. K. Günther, Schuld und kommunikative Freiheit, Frank-
schen Rechtstheorie«, ebd., S. 215. Da sich die Frage der furt am Main 2005, S. 254: »Mit der Normbefolgungspflicht
Rechtswirkung auch für das Naturrecht stellt, kann man aber der Rechtsperson verliert der Staatsbürger nicht das Recht, für
ohne weiteres auf die Rechtstheorie insgesamt extrapolieren. eine Abschaffung oder Änderung der Norm öffentlich einzutre-
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 319

ist es eine konstitutive Bedingung für jede Lex-lata- Funktionsweise des normlogischen Kalküls ist es charak-
Debatte, dass sie sich zumindest in einem Möglichkeits- teristisch, dass die deontischen Operatoren wechselseitig
raum von Gesichtspunkten de lege ferenda bewegt. In definiert werden können.14 Dass jemand etwas tun darf,
diesem Sinne ist Jakobs` herablassende Haltung gegen- ist danach z.B. äquivalent nicht etwa mit der Aussage,
über der Rechtspolitik der Kurzschluss eines falsch ver- dass jemand etwas nicht tun muss, sondern damit, dass er
standenen Rechtsrealismus. Dass Recht etwas ist, das im nicht etwas nicht tun muss. Die materielle Logik unserer
Großen und Ganzen praktiziert werden muss, dass eine normalsprachlichen Rede vom Müssen, Dürfen oder
Normenordnung nur Bestand hat, wenn sie auch eine Können entzieht sich jedoch der Hermetik dieser defini-
Zwangsordnung ist, besagt überhaupt nichts gegen torischen, auf einem formalen Begriff der Negation beru-
Rechtspolitik. henden15 Äquivalenzen. Der Vorwurf der Realitätsferne
ist hier ganz fehl am Platz. Im Gegenteil ist die Berück-
Es ist – beiläufig gesagt – das große Problem der enor- sichtigung der materiellen Logik unseres normativen
men Vagheit von Begriffen wie »im Großen und Gan- Vokabulars eine wesentliche Bedingung dafür, dass eine
zen« oder »partiell« (der Feind taucht in letzter Zeit bei Untersuchung der Bedingungen von Rechtlichkeit nicht
Jakobs vermehrt in begrifflich abgerüsteter Gestalt als ihren Gegenstand verfehlt.
»Partialfeind« auf), die es so schwer machen, den argu-
mentativen Gehalt der Rede vom Feindstrafrecht auszu- Zum Beispiel ist die bloße Auskunft, dass es ein Recht
loten. Dass wir wissenschaftlich mit vagen Begriffen der Gefahrenabwehr gibt, von eher bescheidenem epi-
arbeiten müssen, bedarf keiner Erörterung, ebenso die stemischem Zuschnitt. Interessant wird es erst, wenn man
von Jakobs in seinem Frankfurter Vortrag hervorgehobe- zu Aussagen übergeht, die deontisches Vokabular in dem
ne Unverzichtbarkeit idealtypisierender Begriffsbildung. eben erläuterten materiellen Sinne enthalten. Zum Bei-
Aber über die zulässigen Grenzen der Vagheit lässt sich spiel: Polizeirecht ist nötig, weil es Situationen gibt, in
sehr wohl streiten.13 Wenn jemand etwa sagen würde, denen Gefahren abgewehrt werden müssen. Bleiben wir
Feind sei derjenige, der sich zumindest teilweise im Gro- beim Beispiel der Gefahrenabwehr. Eine Teilklasse jener
ßen und Ganzen nicht zuverlässig verhält, würde ich Situationen, in denen Gefahren abgewehrt werden müs-
sagen, dass die Grenzen zulässiger wissenschaftlicher sen, stellen solche Konstellationen dar, in denen die
Vagheit oder rechtsdogmatischer Operationalisierbarkeit Gefahr von einem Menschen ausgeht. Und eine Teilklas-
überschritten sind. Dass die Vagheit bei Jakobs schon so se dieser Konstellationen wiederum bilden Situationen,
weit geht, vermag ich nicht mit Sicherheit auszuschlie- in denen dem Betreffenden im Wege kommunikativen
ßen. Handelns schwerlich beizukommen ist. Zum Beispiel:
Ich bin am Steuer eingeschlafen und rase auf eine Grup-
II. Vom Polizeigedanken im Recht pe von Menschen zu. Insoweit es um solche Gefahren
geht, lässt sich ein Vorsorgen-Müssen behaupten, das
Wer die Entthronung normativistischer Omnipotenz zumindest teilweise außerhalb des Mediums symbolisch
durch die Wirklichkeit nicht aushalte, argumentierte vermittelter Interaktion organisiert werden muss, nament-
Jakobs in seinem Frankfurter Vortrag, solle sich auf lich in der besonders effektiven Organisationsform der
Rechtspolitik oder auf Normlogik verlegen. Dabei ver- Polizei. Es gibt Gefahrsituationen, bei denen der Versuch
fällt – wie eben gezeigt – die Kritik an der Rechtspolitik einer verständigungsorientierten Lösung entweder von
in den selben Fehler, den sie der Rechtspolitik vorwirft: vornherein sinnlos ist oder mit Sicherheit zu spät kommt,
Sie ist zu abstrakt und kann leicht mit dem Hinweis ent- d.h. zu Schäden führt, die wir nicht in Kauf zu nehmen
kräftet werden, dass Rechtspolitik Teil der Rechtswirk- bereit sind. Die entscheidende Frage ist offenkundig, was
lichkeit ist. Dass man es mit der Politisierung des Rechts wir schon als eine solche Situation ansehen dürfen und
nicht übertreiben, zum Beispiel nicht alle möglichen was noch nicht, mit anderen Worten die Frage nach der
gesellschaftlichen Reformideen als Staatszielbestimmun- legitimen Grenze der Gefahrenabwehr oder, positivis-
gen in die Verfassung aufnehmen soll, ist kein Gegen- tisch gesprochen, der Grenze des Gefahrenabwehrrechts.
einwand, sondern selbst eine rechtspolitische Forderung. Sie könnte durch das Strafrecht gezogen werden. Denn
Wie verhält es sich aber mit Jakobs` Kritik an der Norm- das Strafecht (in dem idealtypischen Sinne, den Jakobs
logik? Dass diese jedenfalls dann vom Vorwurf der Rea- meint, wenn er vom Bürgerstrafrecht spricht) ist als Sys-
litätsferne getroffen wird, wenn sie sich darauf be- tem der Zurechung in der normativen Ansprechbarkeit
schränkt, im sog. deontischen Kalkül die Spielfiguren hin der Person verankert und als System der Freiheit im
und her zu schieben, ist nicht zu bestreiten. Das erklärt Gedanken der Selbstverantwortlichkeit dieser Person.
wohl auch, warum es selbst grundlagenorientierte und Aber das Strafrecht – dieses Exerzitium rechtsstaatlichen
formalen Methoden nicht von vornherein feindlich ge- Denkens – hat schon immer ein nicht zu übersehendes
genüberstehende Juristen abgelehnt haben, sich mit die- Legitimationsproblem. Gegenwärtig steht dafür exempla-
ser hermetischen Disziplin näher zu beschäftigen. Für die risch die Debatte mit den Neurowissenschaften, die sich
nicht umsonst das Strafrecht als Hauptschauplatz der
ten. Vielmehr gründet sich die Normbefolgungspflicht […]
14
gerade auf das gegenüber jeder positiv geltenden Norm weiter- S. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, Mün-
hin bestehende Recht und auf die Möglichkeit, die ablehnende chen 1982, S. 43 f.
15
Stellungnahme in demokratischen Verfahren zur Geltung zu Vgl. Brandom, Expressive Vernunft, Frankfurt am Main
bringen.« 2000, S. 244.
13
Auf diesen wichtigen Punkt hat in der Frankfurter An-
schlussdiskussion Frank Saliger aufmerksam gemacht.
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 320

argumentativen Auseinandersetzung ausgesucht haben.16 die auf den ersten Blick sogar noch weiter geht, wenn er
Hier wird insinuiert, künftigen Generationen könnte das argumentiert, was wir erwarten dürfen, sei (über die
Sprachspiel der Zurechnung eines freien oder zumindest äußere Normkonformität hinaus) »kommunikative Loya-
vernünftig motivierten Willens und einer persönlichen lität«21. Darin liegt ersichtlich die Gefahr der begriffli-
Schuld ähnlich unaufgeklärt vorkommen, wie uns Heuti- chen Erzeugung von Meta-Rechtsgütern, die sich alle
gen das überkommene Sprachspiel über den Einfluss über den Gedanken eines die Kommunikationsbedingun-
parapsychischer Phänomene wie Dämonen.17 Zum Glück gen sichernden Strafrechts einstellen. Auch scheint es
sind die Widersprüche oder Ungereimtheiten der neuro- kein großer Schritt mehr zu der Überlegung, dass man –
szientistischen Avantgarde einstweilen noch so augenfäl- sicherheitshalber – von seiner kommunikativen Freiheit
lig18, dass wir uns nicht veranlasst sehen müssen, an der erst gar keinen Gebrauch macht, um sich nicht dem Vor-
Praxis der Zuschreibung individueller Verantwortung wurf kommunikativ illoyalen Verhaltens auszusetzen.
festzuhalten, sei es im Strafrecht19 oder anderswo. Aber Allerdings geht Kindhäuser nicht so weit zu sagen, wer
die Frage bleibt – und sie drückt das zentrale Problem sich kommunikativ illoyal verhalte, sei damit schon ein
aus, das im Begriff des Feindstrafrechts enthalten ist: potentieller Kandidat für das Gefahrenabwehrrecht.22
Wie kann man das Strafrecht gegen den „Polizeigedan- Hier ist Jakobs` Version des Zusammenhangs von Zu-
ken“ im Recht behaupten?20 rechnungsfähigkeit und Zuverlässigkeit deutlich radika-
ler: Wer sich nicht (im Großen und Ganzen) rechtstreu
III. Zurechnen-Können und Erwarten- verhält, verliert den Anspruch, jedenfalls im Vollsinne
Dürfen als Rechtsperson behandelt zu werden. Insoweit kommt
es nur noch auf die Entstörung der sozialen Ordnung an.
Es ist klar, dass es auf diese Frage keine einfache Ant- Wenn es überhaupt noch eine normative Dimension
wort gibt. Offenkundig aber hängt ein wesentlicher Teil dieser Entstörung gibt, dann jene, die man versuchte, im
der Antwort von der Beantwortung einer anderen Frage älteren Polizeirecht auf den Begriff der Polizeipflicht zu
ab, nämlich der, was man von einer Person als Adressatin bringen. Diese dogmatische Figur ist aber nicht ohne
des Rechts erwarten darf. Auch auf die Bedeutung dieser Grund aufgegeben worden, weil sie keine verständliche
Frage hat die Diskussion um das Feindstrafrecht auf- Handlungsanweisung enthält.23 Es gibt keine verständli-
merksam gemacht. Die Antwort von Jakobs lautet be- che generelle Anordnung der sozialen Mitwirkung. Und
kanntlich: Was wir erwarten dürfen, ist Rechtstreue. Er vor allem bleibt, wer nicht mitmacht, selbstverständlich
geht sogar so weit zu behaupten, die Präsumtion rechts- Person im Recht. Das kann man meinetwegen als Axiom
treuen Verhaltens sei eine Bedingung des Status der im klassischen Sinne bezeichnen.24 Aber es erschließt
Person-im-Recht. Das enthält den keineswegs selbstver- sich auch aus der Überlegung, dass Rechte gegenüber
ständlichen Gedanken, dass man sich diesen Status ver- Pflichten deontologisch primär sind. Denn eine Pflicht ist
dienen muss. Kindhäuser formuliert eine ähnliche Idee, nicht zu denken, ohne ein Recht zu verpflichten, während
ein Recht sehr wohl denkbar ist, ohne die Pflicht, es
16 auszuüben. Und wenn Jakobs erwidern würde, dass unter
S. dazu K. Günther, Hirnforschung und strafrechtlicher
Schuldbegriff, KJ 2006, 116 f.
Umständen die Macht zu verpflichten dem Recht vorge-
17
Vgl. Rorty, Unkorrigierbarkeit als Merkmal des Mentalen, in: ordnet ist, würde ich sagen, dass die Pflicht, die aus der
P. Bieri (Hg.), Analytische Philosophie des Geistes, 3. Aufl., Macht erwächst, keine Pflicht ist, sondern Gewalt. Am
Weinheim 1997, S. 256 f. Ende käme es dann also auf die Frage an, wie man zur
18
Insbesondere der semantische Parasitismus am mentalisti- Gewalt steht. Dass es Gewalt gibt, ist dabei nicht der
schen Vokabular und der inkonsistente Skeptizismus des Ei- interessante Punkt. Die interessante Frage ist die, ob
genpsychischen, wonach man sich permanent darüber irren Gegengewalt legitim ist. Der Terrorist (der den Rechts-
könnte, was man weiß und was man will. staat nicht verstehen will) würde diese Frage natürlich
19
Dazu Jakobs, Individuum und Person – Strafrechtliche Zu-
rechnung und die Ergebnisse moderner Hirnforschung, ZStW 21
117 (2005), S. 247–266. Kindhäuser, Rechtstreue als Schuldkategorie, ZStW 107
20
Diese Überlegung ist Nauckes Diagnose der »Zerbrechlich- (1995), S. 718 ff. sowie S. 725 ff. »Schuld im demokratischen
keit des rechtsstaatlichen Strafrechts« verpflichtet, vgl. Naucke, Rechtsstaat ist, noch ganz allgemein formuliert, ein Handeln,
Über die Zerbrechlichkeit des rechtsstaatlichen Strafrechts, das mangelnde Rechtstreue – also ein Defizit an kommunikati-
Baden-Baden 2000, insbes. den gleichnamigen Aufsatz a.a.O., ver Loyalität, die rechtsförmige Verständigung überhaupt er-
S. 411 ff. sowie die Ausführungen über das »Vordringen des möglicht – ausdrückt«, a.a.O., S. 725 f.
22
Polizeigedankens im Recht«, ebd., S. 379 ff. Über Nauckes Immerhin aber: »Die gesteigerte Reaktion auf terroristische
Vorstellung von Rechtsmetaphysik bin ich mir allerdings noch Gewalttaten lässt sich [...] dadurch erklären, dass der Terrorist
nicht ganz im Klaren (vgl. aber Fn. 24). Zur These, dass die glaubhaft behauptet, über den vordergründigen Bankraub etc.
zentrale Problematik im Begriff des Feindstrafrechts die Ab- hinaus die Zerstörung der staatlichen und rechtlichen Ordnung
grenzung zum Polizeirecht ist, s. auch Roellecke, Der Rechts- überhaupt zu bezwecken, und das heißt: Verständigung in toto
staat im Kampf gegen den Terror, JZ 6/2006, 269: »Da der aufzukündigen«, Kindhäuser, a.a.O., S. 727, Fn. 86.
23
Rechtsstaat Terroristen [...] nicht verstehen kann, ist der norma- Vgl. Götz, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht,
tive Ansatz einem Rechtsgebiet zu entnehmen, das nicht an die 13. Aufl., Göttingen 2001, § 9.
24
Intention von Personen, sondern an eine objektiv gegebene Bedenkt man freilich, dass kein System von Aussagen ohne
Ordnung anknüpft. Das ist die Abwehr von Gefahren für die Begriffe auskommt, die nur durch ihre Rolle im System recht-
öffentliche Sicherheit und Ordnung, also das Polizeirecht.« S. fertigt sind, kann man auch vom Axiom im nicht-klassischen
zu der Thematik demnächst auch Hassemer, Gefahrenabwehr Verständnis sprechen. Vielleicht sind es Axiome dieser Art, aus
durch Strafrecht, WestEnd. Neue Zeitschrift für Sozialfor- denen Naucke das ableitet, was er »Rechtsmetaphysik« nennt
schung 2/2006 sowie ders., HRRS 4/2006, S. 130 ff. (vgl. Fn. 20).
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 321

uneingeschränkt mit Ja beantworten. Aber inwieweit und Terrorismus wenigstens gelegentlich vergegenwärti-
können wir uns die Antwort des Terroristen zu eigen gen.
machen? Roellecke schreibt: »Terroristen nehmen zum
Beispiel Geiseln. Wir dürfen und tun das nicht und soll- Was den Internbereich des Strafrechts anbetrifft, hat
ten daran festhalten. Terroristen foltern. Wir dürfen und Kindhäuser eine sehr wichtige Einsicht formuliert, indem
tun das nicht und sollten daran festhalten.«25 Dem Inhalt er klar gestellt hat, dass »Schuldzurechnung [...] keinen
solcher Aussagen den Status kultureller Tabus zuzu- geglückten Dialog mit dem Täter voraus[setzt].«28 Daher
schreiben, ist im übrigen verfehlt. Nicht, dass sie nicht in sollten wir die Zurechnungsfähigkeit an bescheideneren
der ein oder anderen Rechtskultur diesen Status bean- Bedingungen der Zuverlässigkeit ausrichten; etwa an
spruchen können, aber das ist für die Theorie des Unan- Ausschlussbedingungen, wie sie in § 20 StGB normiert
tastbaren im Recht kein ergiebiger Punkt, weil Tabus sind. Die personale Selbstverwaltung findet – sieht man
ihren spezifischen Status der Unantastbarkeit verlieren, einmal von der Rechtsfolgenseite, d.h. vom Strafvollzug
wenn man sie zum Gegenstand der Theoriebildung ab – erst da ihre Grenze, wo über die normative Unzuver-
macht. Daher verdient es den Vorzug, Aussagen der lässigkeit hinaus kognitive Unberechenbarkeit des Ver-
fraglichen Art ohne Umschweife als Axiome eines uni- haltens gegeben ist.29
versellen Rechtssystems zu betrachten, auch wenn die
Strukturen dieses Systems nicht den Charakter eines ***
Ableitungszusammenhangs im technischen Sinne ha-
ben.26

Im übrigen gibt es außerhalb dieses Systems normative


Ressourcen, die in der bisherigen Diskussion über
Rechtsstaat und Terrorismus bedauerlicherweise eine viel
zu geringe Rolle gespielt haben. So ist es uns gegenüber
der terroristischen Bedrohung nicht etwa ins Belieben
gestellt, ob wir mutig oder feige sind, ob wir die Bedro- 28
Kindhäuser, a.a.O. (Fn. 21), S. 732.
29
hung (eigentlich: die Angst) selbst aushalten oder gleich Wenn Jakobs argumentiert, ich pathologisiere diejenigen, die
nach dem schützenden Staat rufen. Nach einem Argu- hartnäckig dissentieren, stimmt das insoweit nicht, als Dissens
ment des Aristoteles ist es nämlich der Mut, der das Prä- (auch der hartnäckigste) gerade nicht aus der Kommunikation
dikat der »sittlichen Schönheit« verdient27, und das sollte herausfällt. Auch jenseits der „Dissidenten“-Fälle habe ich
man sich bei den etwas aufgeregten Debatten über Terror Sympathien für Hypothesen, die die Unterscheidung zwischen
gesund bzw. normal und krank zumindest erschweren (s. zu
25
diesem Topos etwa Fromm, Die Pathologie der Normalität,
Roellecke, JZ 6/2006, S. 269. Berlin 2005, S. 15 ff.). Freilich glaube ich (insoweit in Überein-
26
Gleichwohl verdichten sich die argumentativen Pfade des stimmung mit dem geltenden Recht), dass es pathologische
Systems auch jenseits »deutscher Grundrechtsintrovertiertheit«, Fälle normativer Unansprechbarkeit gibt, vgl. insoweit auch
Gaede HRRS 7/2006, S. 247. Sinn, ZIS 2006, S. 114. Diese Fälle sind aber im wesentlichen
27
Aristoteles, Nikomachische Ethik, hrsg. von Günther Bien, einem sozial helfenden Recht aufgegeben.
4. Aufl., Hamburg 1985: Meiner (Philosophische Bibliothek
Bd. 5), S. 65.

Prozessdokumentation

In dieser Ausgabe kein Eintrag. Sie bleiben eingeladen, zum weiteren Ausbau der Dokumentationsrubrik beizu-
durch die Einsendung von Dokumentationsvorschlägen tragen.

Schrifttum

Katalin Ligeti: „Strafrecht und strafrechtli- Dr. Katalin Ligeti nicht weniger zur Aufgabe gemacht als
che Zusammenarbeit in der Europäischen die Aufarbeitung der strafpolitischen Entwicklung in der
Europäischen Union. Unter europäischer Strafpolitik
Union“; Duncker & Humblot, Strafrechtliche versteht sie dabei ein neues zwingendes Institutionen-
Abhandlungen N.F. 164, Berlin, 2005, 409 S., system, das sich auf die Gesamtheit der Bemühungen
ISBN 3-428-11663-1. erstreckt, eine Harmonisierung mitgliedstaatlicher Straf-
rechte und die Schaffung eines supranationalen Straf-
Mit ihrer Hamburger Dissertation „Strafrecht und straf- rechts zu erreichen (S. 19 ff.). Durch Untersuchung und
rechtliche Zusammenarbeit in der Europäischen Union“, Bewertung der aktuellen Entwicklungslinien will die
die von Prof. Dr. Michael Köhler betreut wurde, hat sich Autorin einen Beitrag zur Europäischen Integration leis-
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ten, an deren Ende sie die Entstehung eines einheitlichen gliedsstaaten gegen Ausweitungs- und Funktionalisie-
Strafrechtsraums sieht. Dass sie diesen Ausgang des rungstendenzen vorgebracht worden seien. Eine Funda-
Entwicklungsprozesses auch für wünschenswert hält, mentalkritik hält sie aus diesem Grund für voreilig. Ge-
stellt sie in einem rechtspolitischen Bekenntnis der Un- nuin europäisch sei nur die Bedrohung der Rechtsklarheit
tersuchung voran. Nicht zuletzt deshalb soll der Begriff durch die rechtstatsächliche Überflutung mit europäi-
des „Europäischen Strafrechts“ als Rechtsbegriff mit schen Vorgaben, die eine hohe Komplexität und Rege-
klarem Inhalt etabliert werden, und nicht mehr als bloßes lungsdichte zur Folge hätten (S. 44). Dieser Zustand sei
Etikett für die Gesamtheit der politischen und juristi- im Hinblick auf das Gebot der Rechtsstaatlichkeit nicht
schen Aktivitäten auf diesem Gebiet dienen (S. 28). hinnehmbar und führe im Zusammenspiel mit dem Man-
gel an Transparenz und Mitgestaltung dazu, dass die
Die aktuelle Entwicklung der Strafrechtspflege in der Legitimierung der europäischen Strafpolitik noch unvoll-
Europäischen Union sieht Ligeti insbesondere durch zwei kommen ist. Vor allem der Europäischen Verfassung
miteinander verknüpfte Trends geprägt, namentlich Ent- misst Ligeti aber große identitäts- und legitimitätsstiften-
wicklung und Erleichterung der Rechtshilfe sowie Har- de Bedeutung zu (S. 36, 46 ff.), denn diese liefere die
monisierung und Vereinheitlichung von Strafnormen. faktischen Voraussetzungen zur Überwindung der „Kri-
Das Hauptaugenmerk europäischer Strafpolitik liege se“.
dabei auf den praktischen Bedürfnissen, die durch Inter-
nationalisierung der Kriminalität, Ineffektivität der tradi- Vor diesem Hintergrund beginnt Ligeti dann mit der
tionellen Rechtshilfe sowie neue supranationale Schutz- Umsetzung ihres eigenen Untersuchungsansatzes. Im
inhalte hervorgerufen würden. Der Ablauf ihrer Untersu- ersten Teil (S. 49-226) widmet sie sich der strafrechtli-
chung folgt konsequent sowohl diesen Entwicklungs- chen Zusammenarbeit in der Europäischen Union. Zu-
trends als auch der Abstufung in Art. 29 ff. EUV. An- nächst wird der institutionelle Rahmen referiert. Dabei
hand der Darstellung des institutionellen Rahmens, der erfolgt eine theoretische Beschränkung auf den acquis
horizontalen Kooperationsformen und -mechanismen communautaire des dritten Pfeilers (S. 49); allerdings
zwischen den Mitgliedstaaten sowie der europäischen nicht ohne auf die Vielzahl der Dokumente außerhalb des
Strafermittlungseinrichtungen wird die polizeiliche und EU-Bereichs hinzuweisen, deren Fülle eine Berücksich-
justizielle Zusammenarbeit erläutert, bevor in einem tigung unmöglich machte. Sodann geht Ligeti Fragen der
zweiten Schritt die Harmonisierung des materiellen Straf- Strafgewalt nach; gegliedert nach jurisdiction to prescri-
rechts aufgegriffen wird, um die Entstehung des materiel- be, jurisdiction to enforce und Strafgewaltkonflikten, auf
len Europäischen Strafrechts in concreto anschaulich zu deren Vermeidung die gegenwärtige Strafpolitik gerich-
machen. Die Arbeit schließt mit der Zusammenführung tet sei. Die Aktualität ihrer Ausführungen zeigt sich an
und Auswertung dieser drei Elemente europäischer Kri- dieser Stelle schon daran, dass erst kürzlich ein derartiger
minalpolitik. Vorab geht Ligeti jedoch ganz grundsätz- Ansatz im Grünbuch zum Grundsatz „ne bis in idem“ zur
lich auf die Frage der Legitimität des Europäischen Straf- Diskussion gestellt wurde.
rechts ein (S. 29 ff.).

Ligeti nimmt in dieser Hinsicht vor allem zwei Heraus- Im Anschluss wendet sich die Autorin den allgemeinen
forderungen wahr. Dies sind die fehlende demokratische Voraussetzungen der strafrechtlichen Rechtshilfe zu (S.
Legitimation europäischer Strafgesetzgebung und die 92 ff.). Es schließen sich Erörterungen der wichtigsten
Modernität des Europäischen Strafrechts. Sie gelangt zu Kooperationsformen an, wobei nach Auslieferung, sons-
dem Schluss, dass formal-demokratische Strukturen tiger Rechtshilfe und Vollstreckungshilfe untergliedert
keine erhöhte soziale Legitimität zu erzeugen vermögen, wird. Interessant ist vor allem ihr Vorschlag zur Interpre-
sondern dies nur durch gesteigerte Transparenz und die tation von Art. 54 SDÜ. Für die internationale Geltung
Schaffung von Möglichkeiten der Einflussnahme auf das des ne bis in idem-Grundsatzes soll es auf die betroffe-
Rechtsetzungsverfahren erreicht werden kann. Die Span- nen Rechtsgüter ankommen, die den Gegenstand der
nungen zwischen Europäischer Integration und nationaler Verurteilung bildeten (S. 105 ff.). Allerdings scheint
Souveränität sollen durch gesteigerte Rechtsstaatlichkeit dieser Sichtweise vom EuGH in van Esbroeck jüngst
der Europäischen Strafpolitik abgebaut werden, um da- eine Absage erteilt worden zu sein, denn auf rechtliche
mit zugleich deren Akzeptanz zu erhöhen. Ligeti bemän- Qualifizierung und das geschützte rechtliche Interesse
gelt vor allem das Fehlen einer unparteiischen, unabhän- soll es nach dieser Entscheidung gerade nicht ankommen,
gigen Gerichtsbarkeit, effektiver Rechtsmittel und ratio- sondern nur auf die Identität der materiellen Tat, verstan-
naler Entscheidungskriterien. Einen entsprechenden den als das Vorhandensein eines Komplexes konkreter,
Ausbau der Rechtsstaatlichkeit hält sie für unerlässlich. unlösbar miteinander verbundener Umstände (EuGH C-
Auf die materielle Problematik einer europäischen Straf- 436/04 - Urteil der Zweiten Kammer vom 9. März 2006,
gesetzlichkeit (vgl. dazu nur die Arbeiten von Braum, van Esbroeck, HRRS 2006, 113).
Europäische Strafgesetzlichkeit, 2003; ders., wistra 2006,
121, 122) geht sie indessen nicht ein. Eine Auseinander- Auf dem Gebiet des Auslieferungsrechts sieht Ligeti
setzung mit den materiellen Legitimationsvoraussetzun- allgemein einen Trend, der auf eine stärkere gegenseitige
gen europäischer Strafvorschriften bleibt aus. Allerdings Anerkennung justizieller Entscheidung und die Berück-
sieht Ligeti im Hinblick auf das materielle Recht ohnehin sichtigung der Individualinteressen des Verfolgten ge-
kein spezifisch europarechtliches Problem durchschei- richtet ist (S. 124). Als vorläufigen Endpunkt dieser
nen, da sich in der gegenwärtigen Debatte lediglich Ar- Entwicklung identifiziert Ligeti den Rahmenbeschluss
gumente wiederholten, die bereits zuvor in den Mit- zum Europäischen Haftbefehl (S. 125 ff.).
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Im Bereich der sonstigen Rechtshilfe wird die Nutzung Strafrechtsharmonisierung. Des kompromisshaften Cha-
moderner Technologien wegen ihrer Bedeutung für die rakters dieser Selbstbeschränkung ist sich die Autorin
Praxis der Strafverfolgung intensiv diskutiert, vor allem bewusst (S. 235). Dies gilt in gleichem Maß für die Aus-
in Form der Überwachung von Bankgeschäften und Te- blendung von Fragen der Unternehmensstrafbarkeit (S.
lekommunikation (S. 138 ff.). Innerhalb dieser Zusam- 236). Gerade letzteres vermag zu überraschen, da der
menarbeit scheine sich das Gewicht in Richtung auf ein Anpassungsdruck auf das nationale Strafrecht bzw. das
proactive policing zu verschieben. Insgesamt sei dieser Beharrungsvermögen der Mitgliedsstaaten in diesem
Bereich durch 5 neue Tendenzen gekennzeichnet: Abbau Bereich besonders scharf hervorzutreten scheinen. Zu-
der Hindernisse bei Kooperation und Koordination, Ver- dem ist wegen des zunehmend multinationalen Charak-
einfachung und Beschleunigung des Rechtshilfeverfah- ters von Organisation und Tätigkeitsfeldern ein konzer-
rens, Einsatz neuer Formen der Zusammenarbeit, Inter- tiertes Vorgehen auf Unionsebene besonders angezeigt,
aktion zwischen Rechtshilfe, polizeilicher und zollbe- so dass einige Sätze hierzu erfreulich gewesen wären.
hördlicher Zusammenarbeit sowie verstärkte Berücksich-
tigung von Betroffenenrechten (S. 171). Wegen der inso- Eine Enzyklopädie zum Europäischen Strafrecht durfte
fern fortschreitenden Verpolizeilichung der Rechtshilfe von der Autorin hingegen nicht erwartet werden; zumal
betont die Autorin aber dennoch die zusätzliche Notwen- sie ihr Ziel, die markanten Züge der Rechtsentwicklung
digkeit, als Gegengewicht einen europäischen ordre zu veranschaulichen, gleichwohl erreicht. Bei diesem
public als flexiblen, anpassungsfähigen Sicherungsme- Unterfangen verfährt Ligeti im Wesentlichen nach dem-
chanismus zu konkretisieren, (S. 144 f., 171) und selben Muster. Zunächst werden der rechtspolitische
daneben eine zügige Justizialisierung des Rechtshilfe- Hintergrund und die Erscheinungsformen der Kriminali-
rechts zu betreiben (S. 172). tät geschildert, bevor Rechtsgrundlagen, deren Systema-
tik und Regelungsinhalt des jeweiligen acquis ausgeführt
Im Rahmen der Vollstreckungshilfe wird der Schwer- werden. Ihr gelingt es dabei trotz der großen Stofffülle,
punkt erwartungsgemäß beim Grundsatz der gegenseiti- prägnant die maßgeblichen historisch-politischen Abläu-
gen Anerkennung gesetzt (S. 174 ff.). Klar erkennt sie fe und Hauptzüge der untersuchten Regelungsbereiche
dabei, dass rechtsstaatliche Garantien gewährleistet sein hervorzuheben. Gerade „Neueinsteigern“ in diesem
müssen. Gerade in Bezug auf den fair trial-Grundsatz Rechtsgebiet sei der Abschnitt zur informativen Lektüre
zeigt Ligeti potentielle Interessenkonflikte auf (S. 178). anempfohlen, um sich zügig und durchaus unterhaltsam
einen Überblick zu verschaffen. Ligeti scheint ihr Ziel
Das Ende des 1. Teils bilden Ausführungen zu den Euro- der Exemplifizierung der Entwicklungsstränge mithin
päischen Strafermittlungseinrichtungen (S. 197 ff.). Auf vollends erreicht zu haben.
dieser Grundlage können abschließend - befördert durch
den klug gewählten Aufbau - in der Zusammenschau die In der abschließenden Zusammenschau lässt die Autorin
allgemeinen Entwicklungstendenzen aufgezeigt werden. nochmals die Grundzüge einer Strafrechtsharmonisierung
Die Autorin sieht einen einheitlichen europäischen in der Europäischen Union insgesamt sichtbar werden.
Rechtsraum im Entstehen begriffen. Durch Rahmenbe- Europarechtliche Vorgaben hätten danach großen Ein-
schlüsse sollten einheitliche überschaubare Kriterien der fluss gewonnen, wobei die Möglichkeiten des EG-Rechts
Zusammenarbeit etabliert werden, um das derzeitige trotz ihrer weit reichenden sowohl strafrechtskonstituie-
„Vertragschaos“ zu beseitigen (S. 222). Entscheidende renden als auch -begrenzenden Möglichkeiten von den
Bedeutung misst sie in diesem Prozess dem Grundsatz Mitgliedstaaten grundsätzlich als problematisch angese-
der gegenseitigen Anerkennung als Ausdruck der Ver- hen würden, was zu einer Verlagerung in die dritte Säule
rechtlichung und Entbürokratisierung der internationalen geführt habe (S. 247 f.). Herausragende Relevanz komme
Zusammenarbeit zu (S. 220). Aufgrund der damit ver- als unionsrechtlichem Regelungsinstrument dabei dem
bundenen Justizialisierung sieht Ligeti diesen Ansatz Rahmenbeschluss zu. Den besonderen Reiz dieses Rege-
grundsätzlich positiv. Auch der derzeitigen Verpolizeili- lungstypus machten das Fehlen eines Erfordernisses zur
chung der Zusammenarbeit und damit verbundenen Um- Kommissions- und Parlamentsbeteiligung oder der Rati-
gehung der Rechtshilfe könne in Gestalt von supranatio- fikation aus (S. 265 f.). Inhaltlich erachtet Ligeti eine
nalen Justizorganen entgegengewirkt werden. Institutio- Harmonisierung auf diesem Weg zur Entstehung eines
nell-organisatorisch fänden sich diese Ansätze in Gestalt einheitlichen Rechtsraums für sehr wichtig. Zu den bis-
der Europäischen Staatsanwaltschaft verwirklicht. herigen Haupterrungenschaften dieser Entwicklung zählt
die Angleichung der Strafniveaus in der Europäischen
Im Mittelpunkt des 2. Teils steht die Harmonisierung Union, die für Ligeti zum wichtigsten Merkmal europäi-
mitgliedstaatlicher Strafrechte (S. 227-368). Ligeti refe- scher Strafpolitik überhaupt geworden ist (S. 272).
riert den Wandel der wissenschaftlichen und politischen
Diskussion im Zuge des Maastricht-Vertrags und zeigt Gekennzeichnet sei die europäische Strafpolitik aber vor
dabei die historischen und strafpolitischen Hintergründe allem durch seine rapide Entwicklung und enorme Band-
dieser Entwicklung auf. Zwar findet mittlerweile eine breite (S. 363), was vielfach zur Erweiterung des strafba-
Ausdehnung auf alle Bereiche schwerer Kriminalität ren Bereichs geführt hätte (S. 366). Zudem sei der ge-
statt, doch konzentriert sich Ligeti auf die Delikte gegen genwärtige Prozess der Harmonisierung durch seine
die finanziellen Interessen der Gemeinschaft, namentlich enorme Komplexität geprägt, was anhand der Tatbestän-
Betrug, Korruption und Geldwäsche, als besonders typi- de des Betrugs, der Korruption und der Geldwäsche auch
scher Anwendungsfelder der fortlaufenden europäischen exemplifiziert wurde. Ein integriertes Konzept der Straf-
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rechtsharmonisierung fehle indessen, was den Integrati- des Stoffes gelungen. Ihre Untersuchung liefert eine
onsprozess bisweilen fragmentarisch erscheinen lasse. gelungene Einführung in die Thematik des Strafrechts
Die notwendige Zusammenarbeit mit anderen internatio- und der strafrechtlichen Zusammenarbeit in der Europäi-
nalen Organisationen wie der OECD sowie politischer schen Union. Auch wenn man sich hier und da einige
Einfluss, insbesondere der USA, erschwerten gleichfalls genauere Ausführungen erhofft hätte, stört dies das Ge-
dessen konsequente Fortführung. Nach Meinung Ligetis samtbild nicht. Denn trotz der erwähnten Einschränkun-
können diese Schwächen nur durch Schöpfung eines gen schafft sie es, den Leser mit den prägenden Zügen
einheitlichen europäischen Strafrechtsraums überwunden und vor allem der Komplexität und den rechtspolitischen
werden. Ein solcher erscheint ihr als geeignete Abhilfe Hintergründen der Entwicklung vertraut zu machen. Sie
gegen Komplexität, Unüberschaubarkeit, Lückenhaftig- findet dabei in der Zusammenfügung von Inhalten nor-
keit und zudem als Sicherung gegen Utilitätsdenken, das mativer Regelungskörper, politischer Implikationen,
humanitären Überlegungen, welche sich vor allem aus Beispielsfällen, pragmatischen Erwägungen und histori-
den Konventionen des Europarats speisten, nicht hinrei- schen Perspektiven nicht nur durchlaufend die richtige
chend Beachtung schenkt (S. 367). und gut lesbare Mischung, sondern hat damit zugleich
eine Rezeptur gewählt, die aus sich selbst heraus aussa-
In ihrer Schlussbetrachtung (S. 369 ff.) blickt die Autorin gekräftig, weil prägend für dieses Rechtsgebiet ist.
nochmals auf die gewonnenen Erkenntnisse der Untersu-
chung zurück. Sie sieht eine Entwicklung des europäi- Überrascht registriert man als Leser allerdings eine
schen Strafrechts im Spannungsfeld zwischen zwei Po- durchaus störende Vielzahl von Rechtschreibfehlern. Die
len, namentlich traditionellem national-staatlichem Ver- Verantwortung hierfür wird man aber wohl beim Verlag
ständnis des Strafrechts sowie der justiziellen Integration suchen müssen. Für eine Nicht - Muttersprachlerin bleibt
in der Europäischen Union. Eine klare Tendenz zur Ent- die Arbeit in jedem Fall auch eine enorme sprachliche
wicklung eines einheitlichen Strafrechtsraumes sei je- Leistung. Bei ihren Ausführungen zeigt sich die Autorin
doch auszumachen (S. 371). Zur Sicherstellung der Ein- zudem stets meinungsfreudig und kreativ. Ihr persönli-
heit des Rechtsraums müsse auch eine europäische cher Stil ist angenehm. Sie verfährt erfrischend undog-
„Strafermittlungsbehörde“ vorgesehen werden (S. 372). matisch und unaufgeregt. Zu auftauchenden Streitständen
Integrationsfördernd wirke sich dabei auch die EU- oder Kontroversen nimmt sie – auch wenn man in der
Osterweiterung aus, die zu einer nachhaltigen Harmoni- Sache letztlich anderer Auffassung sein mag – stets mit
sierung der Zusammenarbeit im Dritten Pfeiler veranlas- plausiblen Argumenten Stellung und gibt weiterführende
sen könnte (S. 373 f.). Anleitung zur Vertiefung, wenn sie diese selbst aufgrund
des beschränkten Raumes nicht leisten kann.
Katalin Ligeti ist eine überzeugte Europäerin. Dieser
Umstand mag bisweilen zur Konsequenz haben, dass Skeptischer fällt das Urteil aus, soweit es um das Leitmo-
einige Aspekte der derzeitigen Entwicklung zu unkritisch tiv ihrer Arbeit geht. Ligeti hatte es sich zum Ziel gesetzt,
gesehen werden bzw. zu viel Potential und Hoffnung in einen Rechtsbegriff „Europäisches Strafrecht“ zu etablie-
einzelne Integrationsinstrumente gesetzt wird. Im Hin- ren. Jedoch wird allenfalls ein Programm oder Muster
blick auf die grundsätzliche Legitimität des Europäischen europäischer Strafrechtsentwicklung erkennbar. Für
Strafrechts lassen sich Einwände gegen die Gestaltung einen Rechtsbegriff fehlt demgegenüber die Substanz.
und Entwicklung des materiellen Strafrechts wohl nicht Meines Erachtens sind daher keine hinreichend klaren
durch den Hinweis entkräften, es gäbe identische Konturen erkennbar, um daraus zwingende Folgerungen
Schwierigkeiten auch im nationalen Strafrecht. Damit für die Gestaltung des europäischen Strafrechtsraums
würden vor allem Schrittmacherfunktion und Gewicht ziehen zu können; zumal auch nicht recht deutlich wird,
des Europäischen Strafrechts und die damit verbundene ob ontologisch oder normativ begründet werden soll.
Fernwirkung für das nationale System verkannt. Dies gilt Dennoch weist die Untersuchung in die richtige Richtung
insbesondere wegen der Konzentration der europäischen und bestätigt die Autorin als kritische Denkerin. Trotz
Kriminalpolitik auf „moderne“ Gebiete und Formen des der vorgenannten Bedenken bereichert die Arbeit zwei-
Strafrechts. Auch dem Prinzip der gegenseitigen Aner- felsohne die Debatte um das Europäische Strafrecht. Sie
kennung wird als Mittel zur Verwirklichung eines ein- liefert eine gute Basis für eine – gleichwohl erforderlich
heitlichen europäischen Rechtsraums trotz einiger Vor- bleibende – vertiefte Auseinandersetzung mit Wesen und
behalte sehr viel positive Wirkmacht zugeschrieben. In Grenzen des Europäischen Strafrechts.
der rechtspolitischen Wirklichkeit erweist es sich aber
zunehmend als Mechanismus, um Verfahrensrechte zu Dr. Frank Meyer, LL.M (Yale), Freiburg i.Br.
schleifen. Schließlich fehlt es an einer Auseinanderset-
zung mit der potentiellen Wechselwirkung zwischen ***
Harmonisierung des materiellen Strafrechts und dem
Grundsatz gegenseitiger Anerkennung (vgl. dazu Vogel,
GA 2003, 314, 333). Jens Schmidt, Verteidigung von Ausländern,
2. Auflage (Praxis der Strafverteidigung Band
Dennoch hat Ligeti eine beeindruckende Leistung er- 27), C.F. Müller, Heidelberg, 2005, 372 Seiten,
bracht. Eine ungeheure Materialmenge stand zur Bewäl-
tigung an, die sich ob der fortlaufenden, rapiden Rechts-
ISBN 3-8114-3054-8, 42,- Euro.
entwicklung überdies permanent wandelte und erweiter- Der nunmehr in zweiter Auflage vorliegende Band zu der
te. Nach Auffassung des Rezensenten ist die Bändigung Verteidigung von Ausländern schließt, wie schon die
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vorangegangene Auflage, eine große Lücke in der ange- finden von Entscheidungen zum Anrechnungsmaßstab
botenen Literatur für Strafverteidiger: Obwohl im Jahr von im Ausland erlittener Haft für eine Vielzahl von
2005 nach Angaben des Statistischen Bundesamtes Ländern.
(www.destatis.de) etwa ein Viertel der Verurteilten nicht
die deutsche Staatsbürgerschaft besaß (viele der in dem Im vierten Teil − einem der Schwerpunkte des Buches −
„Praxishandbuch“ benannten Besonderheiten betreffen werden die verfahrensrechtlichen Besonderheiten aufge-
darüber hinaus auch Beschuldigte mit Migrationshin- zeigt und Lösungsansätze vermittelt. Hier stehen zu-
tergrund, die die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen), nächst die sprachlichen Barrieren im Vordergrund, mit
wird diese − große, aber keineswegs homogene − Gruppe all ihren Folgeproblemen (Dolmetscher, Übersetzung von
in Literatur und Ausbildung kaum spezifisch behandelt Entscheidungen, Kostenfragen). Sodann wird die Frage
(auch in der Ausbildung zum Fachanwalt für Strafrecht der notwendigen Beiordnung bei sprachunkundigen Aus-
wird darauf i.d.R. nicht eingegangen). Dabei treten hier ländern behandelt, die Verteidigung in der Untersu-
eine ganze Reihe von Besonderheiten und auch Schwie- chungshaft (Haftgrund der Fluchtgefahr bei Ausländern),
rigkeiten auf, die der Verteidiger „im Auge behalten“ Besonderheiten im Ermittlungsverfahren, Art. 54 SDÜ
und auf die er sein Verteidigerhandeln ausrichten muß, und die besondere Möglichkeit der Verfahrenseinstellung
um eine erfolgreiche Verteidigung zu gewährleisten. Die im Hinblick auf eine zu erwartende Ausweisung nach §
hierfür erforderlichen Kenntnisse des Straf-, Strafprozeß- 154 b StPO mit ausführlicher Tabelle zur Praxis der
und Ausländerrechts, sowie internationalen Rechtshilfe- einzelnen Bundesländer, so daß der Verteidiger wieder-
rechts werden von Schmidt umfassend und eingängig um auf einen Blick erkennt, wann es sich lohnt, die Ver-
vermittelt. Der Verteidiger bekommt einen Leitfaden für teidigungstaktik darauf auszurichten. Zuletzt werden
die Gesamtproblematik der betroffenen Verteidigungs- weitere Besonderheiten der Verteidigung in der Haupt-
mandate an die Hand, angefangen mit einer klaren Dar- verhandlung aufgezeigt und Schmidt geht auch auf Ju-
stellung des Ausländerrechts und Ausländerstrafrechts gendstrafverfahren gegen Ausländer ein.
über die Besonderheiten des Strafverfahrens, der Straf-
vollstreckung und des Strafvollzugs, bis hin zur Ausliefe- In Teil fünf wird die Verteidigung von Ausländern in
rung und Abschiebungshaft. Dem Leser − oder besser Strafvollstreckung und Strafvollzug dargestellt, hier ist
„Benutzer“ − des Praxishandbuchs werden zahlreiche wiederum eine Tabelle sehr hilfreich, in der die Regelun-
Tabellen, Übersichten, Checklisten, Musterschriftsätze, gen der einzelnen Bundesländer zur Möglichkeit des
Gesetzestexte, Verwaltungsrichtlinien, völkerrechtliche Absehens von Vollstreckung nach § 456 a StPO darge-
Verträge und praktische Tips an die Hand gegeben (nicht stellt sind.
zuletzt auch auf der Homepage www.verteidigung-von-
auslaendern.de), die das Zurechtfinden erleichtern und In den Teilen sechs und sieben werden die Vorausset-
die für die Verteidigung wesentlichen Punkte verdeutli- zungen von Auslieferung, Auslieferungshaft und Ab-
chen. schiebehaft erläutert, der Abschnitt zum Europäischen
Haftbefehlsgesetz ist allerdings durch das Urteil des
Schmidt behält die Gliederung seines Handbuchs in acht BVerfG vom 18. Juli 2005 zunächst überholt. Praktisch
Teile bei, die er jeweils gründlich überarbeitet und auf ist in Teil sechs wiederum eine Tabelle, in der die zur
den neuesten Stand von Rechtsprechung und auch Ge- Anwendung kommenden Übereinkommen der Bundes-
setzgebung gebracht hat (mit dem neuen Zuwanderungs- republik mit anderen Staaten alphabetisch aufgeführt
gesetz wurde das Ausländerrecht vollständig überholt). sind. Teil acht enthält Musteranträge und -schriftsätze,
Im ersten Teil geht Schmidt auf ausländerrechtliche die ebenfalls auf den neuesten Stand gebracht wurden
Grundbegriffe ein und stellt dann ausführlich Verteidi- und für den Verteidiger hilfreiche Anhaltspunkte bei der
gungsstrategien zur Vermeidung der Ausweisung dar, die Abfassung von Schriftsätzen bieten können.
von Beginn des Strafverfahrens an berücksichtigt werden
sollten, um nicht im anschließenden Verwaltungsverfah- Schmidt schreibt in einem sachlichen und zugleich leicht
ren vor „vollendeten Tatsachen“ zu stehen. Die Regelun- eingängigen Stil. Er gibt zahlreiche Hinweise auf ein-
gen insb. des AufenthG, die vielen Verteidigern − insbe- schlägige Rechtsprechung und weiterführende Literatur
sondere nach der Neufassung des Gesetzes im Jahre 2002 zu den einzelnen Problempunkten und weist gerade auch
− nicht mehr geläufig sein dürften, werden prägnant durch die optische Darstellung auf wesentliche Punkte
dargestellt, eine Tabelle und eine Checkliste erleichtern hin. Wer Ausländer verteidigt, kann hier eine Vielzahl
die Anwendung der Vorschriften in der Praxis. wertvoller Anregungen finden, aber auch gezielt einzelne
Punkte nachlesen. Die klare Gliederung des Buches und
Im zweiten Teil geht Schmidt auf spezifische Probleme das umfangreiche Inhaltsverzeichnis erleichtern das Auf-
ein, die bei der Anwendung des materiellen Strafrechts finden der jeweils passenden Stellen. Das Werk verdient
auf Ausländer entstehen können (z.B. Irrtümer aufgrund deshalb seine Bezeichnung als „Praxishandbuch“, seine
des abweichenden kulturellen Hintergrunds, abweichen- Anschaffung ist uneingeschränkt zu empfehlen
de Wertvorstellungen, Probleme mit ausländischen Füh-
rerscheinen, Straftaten nach dem AufenthG etc.). Aktuel- Rechtsanwältin Hannah Milena Piel, Karlsruhe.
le höchstgerichtliche Entscheidungen werden in diesem
Zusammenhang dargestellt. In Teil drei des Buches wer- ***
den Besonderheiten bei der Strafzumessung behandelt.
Ein Blick auf die angefügte Tabelle erleichtert das Auf-
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Vollständige Rechtsprechung des BGH


Hinweis Bei den folgenden Leitsätzen ohne besondere Angabe handelt es sich wie auch oben um Leitsätze des Bearbei-
ters. Die oben hervorgehoben angegebenen Entscheidungen werden im Folgenden ohne die Leitsätze wiedergegeben.
Aufgenommen sind auch die oben genannten EGMR- und BVerfG-Entscheidungen sowie eventuell auch weitere
BVerfG-Entscheidungen, die keine besonders hervorzuhebenden Leitsätze aufweisen.

572. BGH 2 StR 10/06 - Beschluss vom 21. Juni 2006 Strafzumessung (moralisierende Erwägungen; Berück-
(LG Koblenz) sichtigung der Lebensführung; persönliches Schicksal
Überzeugungsbildung; Beweiswürdigung; fragwürdige des Angeklagten).
Zeugenaussage; Tateinheit (teilweise Identität der Aus- § 46 Abs. 2 StGB
führungshandlungen); Betrug; Täterschaft (Kurier; Ab-
grenzung zur Beihilfe). 580. BGH 2 StR 146/06 - Beschluss vom 2. Juni 2006
§ 261 StPO; § 52 StGB; § 263 StGB; § 29 BtMG (LG Gießen)
Unterbringung in einer Entziehungsanstalt (Hang zu
573. BGH 2 StR 109/06 - Beschluss vom 21. Juni 2006 übermäßigem Rauschmittelkonsum; symptomatischer
(LG Darmstadt) Zusammenhang; hinreichend konkrete Aussicht eines
Totschlag; Notwehr (Erforderlichkeit; umgekehrter Tat- Behandlungserfolgs; Verhältnis zur Zurückstellung der
bestandsirrtum); Überschreitung der Grenzen der Not- Strafvollstreckung).
wehr (Furcht; Todesangst). § 64 StGB; § 35 BtMG
§ 212 StGB; § 32 StGB; § 33 StGB; § 16 StGB
1. Belegen die Feststellungen einen Hang des Angeklag-
574. BGH 2 StR 34/06 - Urteil vom 14. Juni 2006 ten zu übermäßigem Rauschmittelkonsum sowie einen
(Landgericht Darmstadt) symptomatischen Zusammenhang zwischen den abgeur-
Vollzug von Untersuchungshaft als Strafmilderungs- teilten Taten und seiner Abhängigkeit, so hat der Tatrich-
grund (Anrechnung auf die Freiheitsstrafe; besondere ter zu prüfen und zu entscheiden, ob bei dem Angeklag-
Nachteile); Verfall (Verhältnis zur Einziehung). ten die Gefahr besteht, auch in Zukunft infolge des Han-
§ 46 Abs. 2 StGB; § 51 StGB; § 73 StGB; § 74 StGB ges erhebliche rechtswidrige Taten zu begehen.

575. BGH 2 StR 57/06 - Beschluss vom 21. Juni 2006 2. Liegen die rechtlichen Voraussetzungen der Unter-
(LG Koblenz) bringung in einer Entziehungsanstalt (§ 64 StGB) vor,
Betrug (Täuschung; Irrtum bei bestimmten Personen; insbesondere die hinreichend konkrete Aussicht eines
rein mechanische Tätigkeit; Darstellungspflicht); Un- Behandlungserfolgs, so ist die Anordnung der Unterbrin-
treue; wettbewerbsbehindernde Absprache (Veranstalter gung zwingend. Hiervon darf auch nicht abgesehen wer-
einer Ausschreibung); Beweiswürdigung. den, weil eine Zurückstellung der Strafvollstreckung
§ 263 StGB; § 266 StGB; § 298 StGB; § 261 StPO nach § 35 BtMG ins Auge gefasst ist.

576. BGH 2 StR 65/06 - Urteil vom 14. Juni 2006 (LG 581. BGH 2 StR 147/06 - Beschluss vom 23. Juni 2006
Koblenz) (LG Bad Kreuznach)
Unzulässige Verfahrensrüge (Beweisermittlungsantrag); Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Ban-
schwerer Raub (Versuch; Vollendung; Irrtum über die de; Verhältnis zur unerlaubten Einfuhr von Betäubungs-
Art der Beute); Ablehnung eines Beweisantrags (Begut- mitteln; Bewertungseinheit).
achtung durch einen psychologischen Sachverständigen; § 30a BtMG
Anknüpfungstatsachen).
§ 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 3 StPO; § 249 582. BGH 2 StR 154/06 - Beschluss vom 5. Juli 2006
StGB; § 250 StGB; § 22 StGB; § 23 StGB (LG Koblenz)
Nachträgliche Bildung der Gesamtstrafe; Zäsurwirkung.
577. BGH 2 StR 79/06 - Beschluss vom 23. Juni 2006 § 55 StGB
(LG Köln)
Urteilsformel (gleichartige Tateinheit). 583. BGH 2 StR 166/06 - Beschluss vom 28. Juni 2006
§ 260 Abs. 4 StPO; § 52 StGB (LG Gera)
Teilweise Einstellung des Verfahrens.
§ 154 Abs. 2 StPO
578. BGH 2 StR 114/06 - Beschluss vom 21. Juni 2006
(LG Köln) 584. BGH 2 StR 177/06 - Beschluss vom 9. Juni 2006
Mittäterschaft (gemeinsamer Tatplan). (LG Frankfurt)
§ 25 Abs. 2 StGB; § 16 Abs. 1 StGB Nötigung (Versuch; Nötigungserfolg); Strafzumessung;
Beruhen.
579. BGH 2 StR 135/06 - Beschluss vom 23. Juni 2006 § 240 StGB; § 22 StGB; § 23 StGB; § 46 Abs. 2 StGB; §
(LG Gera) 337 StPO
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585. BGH 2 StR 186/06 - Beschluss vom 9. Juni 2006 absicht (andere Straftat; einheitliches Tatgeschehen;
(LG Frankfurt) Zäsur).
Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (psy- § 244 Abs. 3 StPO; § 13 StGB; § 212 StGB; § 211 StGB
chische Beihilfe; minder schwerer Fall); Einziehung
(Verhältnismäßigkeit). 595. BGH 3 StR 79/06 - Urteil vom 22. Juni 2006 (LG
§ 29a BtMG; § 27 StGB; § 74 StGB; Art. 20 Abs. 3 GG Lübeck)
Tat im prozessualen Sinn (Identität; Nämlichkeit; unver-
586. BGH 2 StR 217/06 - Beschluss vom 23. Juni 2006 wechselbares Geschehen; Tatzeit); Anklageschrift.
(LG Bonn) § 199 StPO; § 264 StPO
Bande (Bandenabrede); Mittäterschaft.
§ 29a BtMG; § 30 BtMG; § 25 Abs. 2 StGB 1. Gegenstand der Urteilsfindung ist gemäß § 264 Abs. 1
StPO die in der Anklage bezeichnete Tat, wie sie sich
587. BGH 2 StR 226/06 - Beschluss vom 12. Juli 2006 nach dem Ergebnis der Hauptverhandlung darstellt. Tat
(LG Aachen) im Sinne dieser Vorschrift ist ein einheitlicher geschicht-
Anrechnung in den Niederlanden erlittener Untersu- licher Vorgang, der sich von anderen ähnlichen oder
chungshaft (Verhältnis 1:1). gleichartigen unterscheidet und innerhalb dessen der
§ 51 Abs. 4 StGB Angeklagte einen Straftatbestand verwirklicht haben soll.

588. BGH 2 StR 271/05 - Beschluss vom 28. Juni 2006 2. Verändert sich im Laufe eines Verfahrens das Bild
Einstellung des Verfahrens. vom Tathergang im Vergleich zu dem Geschehen, auf
§ 154 Abs. 2 StPO das die Anklage hinweist, so kommt es darauf an, ob die
„Nämlichkeit der Tat“ trotz der Abweichung noch ge-
589. BGH 2 StR 499/05 - Beschluss vom 11. Juli 2006 wahrt ist. Dies ist dann der Fall, wenn bestimmte Merk-
(LG Wiesbaden) male die Tat weiterhin als einmaliges, unverwechselbares
Ausschluss von der Ausübung des Richteramts kraft Geschehen kennzeichnen, selbst wenn die Beweisauf-
Gesetzes (Verletzter); nicht rechtsfähiger Verein (Ver- nahme im Vergleich zur Anklageschrift eine andere Tat-
mögensnachteil der Mitglieder bei Straftat gegen das zeit ergibt.
Vereinsvermögen); Parteivermögen; Untreue; CDU;
Manfred Kanther. 596. BGH 3 StR 132/06 - Beschluss vom 18. Juli 2006
§ 22 StPO; § 54 BGB; § 266 StGB (LG Düsseldorf)
Unbegründete Revision.
590. BGH 2 ARs 202/06 / 2 AR 126/06 - Beschluss § 349 Abs. 2 StPO
vom 7. Juni 2006
Nachträgliche Entscheidungen in Jugendsachen (Abgabe 597. BGH 3 StR 136/06 - Beschluss vom 11. Mai 2006
an das Wohnsitzgericht; Vorrang des erkennenden Ge- (LG Flensburg)
richts). Zumessung von Jugendstrafe (Generalprävention; Voll-
§ 58 JGG zug von Jugendstrafe in anderer Sache; straffreie Füh-
rung; Erziehungsgedanke).
591. BGH 2 ARs 301/06 / 2 AR 99/06 - Beschluss vom § 18 Abs. 2 JGG
28. Juni 2006
Zuständigkeitsbestimmung (Wohnsitz; Zweckmäßigkeit).
§ 42 Abs. 3 JGG 598. BGH 3 StR 166/06 - Urteil vom 22. Juni 2006
(LG Hannover)
592. BGH 2 ARs 78/06 / 2 AR 8/06 - Beschluss vom Recht auf Verfahrensbeschleunigung (rechtsstaatswidrige
31. Mai 2006 (Oberlandesgericht Frankfurt/Main) Verfahrensverzögerung; Anforderungen an die Verfah-
Übertragung neuer Anteilsrechte vor Eintragung einer rensrüge; Kompensation durch das Revisionsgericht);
Kapitalerhöhung (Abtretung; Nichtigkeit); Kontrolle über Aufklärungspflicht (Beiziehung von Akten; Senatsheft
eine Aktiengesellschaft. des Revisionsgerichts).
§ 35 Abs. 1 Satz 1 WpÜG; § 29 Abs. 2 WpÜG; § 189 § 354 Abs. 1a StPO; Art. 5 Abs. 3 Satz 1 EMRK; Art. 6
AktG; § 191 AktG Abs. 1 EMRK; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO; § 244 Abs. 2
StPO
593. BGH 3 StR 64/06 - Beschluss vom 4. April 2006
(LG Düsseldorf) 599. BGH 3 StR 172/06 - Beschluss vom 22. Juni 2006
Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Ab- (LG Düsseldorf)
grenzung zwischen Täter- und Gehilfenschaft; Kuriertä- Vergewaltigung (Gewalt; Herunterreißen der Kleidung).
tigkeit). § 177 Abs. 1 Nr. 1 StGB
§ 29a BtMG; § 25 Abs. 2 StGB; § 27 StGB
600. BGH 3 StR 88/06 - Urteil vom 22. Juni 2006 (LG
594. BGH 3 StR 77/06 - Urteil vom 1. Juni 2006 (LG Hannover)
Lübeck) Vergewaltigung; Strafzumessung (Verhängung der Min-
Operative Fallanalyse (Beweisantrag); Totschlag durch deststrafe; Vorstrafen; Geständnis).
Unterlassen (Garantenstellung; Ingerenz); Verdeckungs- § 177 Abs. 2 StGB; § 46 Abs. 2 StGB
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 328

601. BGH 3 StR 89/06 - Urteil vom 22. Juni 2006 (LG § 154 Abs. 2 StPO; § 349 Abs. 2 StPO
Itzehoe)
Überzeugungsbildung (Zweifelssatz; in dubio pro reo; 608. BGH 3 StR 221/06 - Beschluss vom 29. Juni 2006
abstrakt-theoretische Möglichkeit); Unterbringung in (LG Düsseldorf)
einem psychiatrischen Krankenhaus (außerordentlich Unzulässige Revision (Wochenfrist für die Einlegung).
beschwerende Maßnahme; Wahrscheinlichkeit schwerer § 341 Abs. 1 StPO
Störungen des Rechtsfriedens).
§ 261 StPO; § 63 StGB 609. BGH 3 StR 226/06 - Beschluss vom 18. Juli 2006
(LG Krefeld)
1. Der Tatrichter darf die Anwendung des Zweifelssatzes Aufbau der Urteilsformel bei mehreren Angeklagten.
nicht auf Zweifel an einer dem Angeklagten nachteiligen § 260 Abs. 4 StPO
Tatsache stützen, die auf der Unterstellung einer bloß
gedanklichen, abstrakt-theoretischen Möglichkeit beru- 610. BGH 3 StR 235/06 - Beschluss vom 18. Juli 2006
hen, die realer Anknüpfungspunkte entbehrt. Andernfalls (LG Stade)
überspannt er die Anforderungen an die richterliche Ü- Unbegründete Revision (Abänderung der Kosten- und
berzeugungsbildung. Auslagenentscheidung).
§ 349 Abs. 2 StPO
2. Die Unterbringung in einem psychiatrischen Kranken-
haus nach § 63 StGB ist eine den Betroffenen außeror- 611. BGH 3 StR 284/05 - Urteil vom 29. Juni 2006
dentlich beschwerende Maßnahme. Deshalb darf sie auch (Kammergericht Berlin)
bei Vorliegen der übrigen Voraussetzungen nur dann Beweiskraft des Protokolls (Unklarheiten; Mängel; Lü-
angeordnet werden, wenn eine Wahrscheinlichkeit höhe- cken; Widersprüche); Protokollberichtigung (Berücksich-
ren Grades und nicht nur die einfache Möglichkeit künf- tigung durch das Revisionsgericht; Beweiskraft).
tiger schwerer Störungen des Rechtsfriedens besteht. § 274 StPO

602. BGH 3 StR 174/06 - Beschluss vom 27. Juni 2006 612. BGH 3 StR 389/05 – Urteil vom 11. Mai 2006
(LG Lüneburg) (LG Hildesheim)
Beweiskraft des Protokolls; Protokollberichtigung (Wi- Bestechlichkeit (konkludentes Fordern eines Vorteils);
dersprüchlichkeit des unberichtigten Protokolls; Maßgeb- Amtsträger (Aufsichtsratsvorsitzender einer Aktienge-
lichkeit des berichtigten Protokolls). sellschaft); Untreue (Treueverhältnis aufgrund Spenden-
§ 274 StPO zusage).
§ 332 StGB; § 11 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. c) StGB; § 266
603. BGH 3 StR 175/06 - Beschluss vom 29. Juni 2006 StGB
(LG Düsseldorf)
Strafzumessung (Urteilsgründe; bestimmende Umstände; 613. BVerfG 2 BvR 2030/04 (3. Kammer des Zweiten
längerer Zeitraum zwischen Begehung und Urteil). Senats) – Beschluss vom 3. Juli 2006 (LG Braun-
§ 46 Abs. 2 StGB schweig/AG Braunschweig)
Unverletzlichkeit der Wohnung (Bestehen von Ver-
604. BGH 3 StR 177/06 - Beschluss vom 27. Juni 2006 dachtsgründen; keine Erforderlichkeit bei weniger ein-
(LG Wuppertal) schneidenden Ermittlungsmöglichkeiten; Vorrang mögli-
Unerlaubtes Handeltreiben mit Betäubungsmitteln (Ab- cher Zeugenbefragungen); richterliche Anordnung (ei-
grenzung von Täterschaft und Gehilfenschaft; Strafzu- genverantwortliche Prüfung; konkrete Anordnung).
messung). Art. 13 Abs. 1 GG; § 102 StPO; § 105 StPO
§ 29 BtMG; § 25 Abs. 2 StGB; § 27 StGB; § 46 Abs. 2
StGB 614. BVerfG 1 BvR 1299/05 (1. Kammer des Ersten
Senats) – Beschluss vom 21. Juni 2006 (-)
605. BGH 3 StR 182/06 - Beschluss vom 18. Juli 2006 Telekommunikationsgesetz; Subsidiarität der Verfas-
(LG Aurich) sungsbeschwerde (fachgerichtlicher Rechtsschutz; feh-
Unzulässige Aufklärungsrüge. lende Information; Auskunftsklage); Erhebung, Speiche-
§ 244 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO rung und Verwendung von Verbindungsdaten und Teil-
nehmerdaten; Auflagen an Telekommunikationsunter-
606. BGH 3 StR 189/06 - Beschluss vom 13. Juni 2006 nehmen zur Vorhaltung von Daten und Überwachungs-
(LG Kleve) einrichtungen auf eigene Kosten; (Teil-
Unzulässige Revision (fehlende Begründung); Wieder- )Nichtannahmebeschluss.
einsetzung in den vorigen Stand (fehlende Nachholung § 23 Abs. 1 Satz 2 BVerfGG; § 92 BVerfGG; § 88 Abs.
der versäumten Handlung). 3 Satz 1 TKG; § 92 TKG; § 95 Abs. 3 TKG; § 95 Abs. 4
§ 345 StPO; § 346 StPO; § 44 StPO TKG; § 97 Abs. 3 Satz 3 TKG; § 97 Abs. 4 TKG; § 100
TKG; § 110 TKG; § 111 TKG; § 112 TKG; § 113 TKG
607. BGH 3 StR 209/06 - Beschluss vom 11. Juli 2006
(LG Aurich) 615. BVerfG 1 BvR 150/03 (1. Kammer des Ersten
Teilweise Einstellung des Verfahrens; unbegründete Senats) - Beschluss vom 1. Juni 2006 (LG Mühlhau-
Revision. sen/AG Eisenach)
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 329

Verwendung verbotener Kennzeichen (Begriff des „zum Verursacher; subsidäre Inanspruchnahme Dritter oder des
Verwechseln ähnlich“; Parole „Ruhm und Ehre der Waf- Opfers).
fen-SS“; gesteigerter Grad sinnlich wahrnehmbarer Ähn- Art. 2 Abs. 1 GG; § 85 StVollzG; § 130 StVollzG
lichkeit; fehlende Ähnlichkeit mit nationalsozialistischen
Parolen); Bestimmtheitsgebot (Analogieverbot; Ausle- 620. BVerfG 2 BvR 537/05 (3. Kammer des Zweiten
gung; Wortlautgrenze); Meinungsfreiheit. Senats) – Beschluss vom 14. Juni 2006 (LG Bochum)
Art. 103 Abs. 2 GG; Art. 5 Abs. 1 S. 1 GG; § 86 a Abs. 1 Rechtskraft von Aufhebungsentscheidungen des Bundes-
Nr. 1 StGB; § 86 a Abs. 2 Satz 2 StGB; § 86 Abs. 1 Nr. 4 verfassungsgerichts (Entscheidung des Beschwerdege-
StGB richtes trotz aufgehobenem Durchsuchungs- und Be-
schwerdebeschluss im Verfahren gegen die Durchsu-
616. BVerfG 1 BvR 2293/03 (1. Kammer des Ersten chungsanordnung); Unverletzlichkeit der Wohnung.
Senats) – Beschluss vom 1. Juni 2006 (VGH Baden- Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 95 Abs. 2
Württemberg/VG Stuttgart) BVerfGG
Vernichtung erkennungsdienstlicher Unterlagen nach
Einstellung gemäß § 170 Abs. 2 StPO; Recht auf infor- 621. BVerfG 2 BvR 750/06 (1. Kammer des Zweiten
mationelle Selbstbestimmung (Anspruch auf Vernich- Senats) – Beschluss vom 21. Juni 2006 (BGH)
tung; Grundrechtsschranken; Verhältnismäßigkeits- (Keine) Berücksichtigung rechtsstaatswidriger Verfah-
grundsatz; kriminalistischer Restverdacht); Begründung rensverzögerung bei der Strafzumessung beim Mord
(Formelhaftigkeit; fehlende Gefahrenprognose). (lebenslange Freiheitsstrafe; keine Umwandlung in zeiti-
Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 1 Abs. 1 GG; § 38 Abs. 1 PolG- ge Freiheitsstrafe; Verjährung; verfassungskonforme und
BW konventionskonforme Auslegung; Rechtsfolgenlösung);
Individualbeschwerde; Konventionsbeschwerde; Nicht-
617. BVerfG 2 BvR 1085/05 (3. Kammer des Zweiten annahmebeschluss; redaktioneller Hinweis.
Senats) – Beschluss vom 17. Juni 2006 (LG Kassel/AG Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 6 EMRK; Art.
Kassel) 13 EMRK; § 211 StGB; § 46 Abs. 2 StGB; § 78 Abs. 2
Abfrage von Verbindungsdaten; Fernmeldegeheimnis StGB; § 57a StGB
(geringerer Schutz beim Missbrauch des Mediums zur
Begehung von Straftaten); Strafvereitelung (Mitteilung 622. BGH 1 StR 113/06 – Urteil vom 27. Juni 2006
einer bevorstehenden Verhaftung; verteidigungsfremdes (LG Augsburg)
Verhalten; Täuschung mittels Telekommunikationsend- Mord (Heimtücke: Arglosigkeit, Wehrlosigkeit, Ausnut-
einrichtungen); Anforderungen an die richterliche An- zungsbewusstsein: entbehrliches Herbeiführen der über-
ordnung (zulässige Abfrage der Verbindungsdaten eines raschenden Angriffsmöglichkeit, Alkoholeinfluss); Be-
ganzen Tages bei Begehung am Vormittag); Nichtan- weiswürdigung (erschöpfende).
nahmebeschluss. § 211 StGB; § 21 StGB; § 261 StPO
Art. 10 GG; Art. 2 Abs. 1 GG; Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 6
EMRK; § 100g Abs. 1 Satz 1 StPO; § 100h Abs. 2 Satz 2 623. BGH 1 StR 129/06 – Urteil vom 27. Juni 2006
StPO; § 258 StGB (LG Traunstein)
Beweiswürdigung (Grenzen der Revisibilität beim Frei-
spruch; Zweifelsgrundsatz; Gesamtwürdigung).
618. BVerfG 2 BvR 1117/06 (3. Kammer des Zweiten § 261 StPO
Senats) – Beschluss vom 14. Juni 2006 (LG Chem-
nitz/AG Chemnitz) 624. BGH 1 StR 167/06 – Beschluss vom 22. Juni 2006
Durchsuchungsanordnung (ausnahmsweise Entbehrlich- (LG Augsburg)
keit der weitergehenden Umschreibung des Tatvorwurfs Bezeichnung des angewendeten Strafgesetzes (Zuord-
bei sehr detaillierter Beschreibung der zu suchenden nung zu Einzeltaten; Ordnungszahlen; Schluss aus dem
Beweismittel); Unverletzlichkeit der Wohnung (Rechts- Gesamtzusammenhang des Urteils).
anwaltskanzlei); Anforderungen an die richterliche Ent- § 267 Abs. 3 Satz 1 StPO
scheidung (Begrenzungsfunktion; genaue Beschreibung
der zu suchenden Gegenstände); ausnahmsweise Nach- 625. BGH 1 StR 169/06 – Beschluss vom 20. Juni 2006
holung der Tatvorwurfumschreibung im Beschwerdever- (LG München)
fahren; Nichtannahmebeschluss. Recht auf ein faires Verfahren (Wahlverteidigung; Recht
Art. 13 Abs. 1 GG; Art. 13 Abs. 2 GG; § 102 StPO; § auf Verfahrensbeschleunigung von Mitangeklagten als
103 StPO Rechtfertigungsgrund; Terminierungen).
§ 137 StPO; Art. 6 Abs. 1 Satz 1, Abs. 3 lit. c EMRK;
619. BVerfG 2 BvR 1295/05 (2. Kammer des Zweiten Art. 20 Abs. 3 GG; Art. 2 Abs. 1 GG
Senats) – Beschluss vom 27. Juni 2006 (OLG
Hamm/AG Arnsberg) 626. BGH 1 StR 188/06 – Urteil vom 11. Juli 2006 (LG
Verlegung eines Sicherungsverwahrten in eine andere Bamberg)
Justizvollzugsanstalt; allgemeines Persönlichkeitsrecht Tötungsvorsatz (Schluss aus objektiven Umständen;
(Anspruch auf Resozialisierung); Gefahr für die Sicher- voluntatives Vorsatzmoment); Beweiswürdigung (lü-
heit oder Ordnung der Anstalt („Unruhe“ in der Anstalt); ckenhafte; widersprüchliche; Grenzen des Zweifelssat-
Verhältnismäßigkeit (vorrangige Maßnahmen gegen den zes); verminderte Schuldfähigkeit und Unterbringung in
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 330

einem psychiatrischen Krankenhaus (Wahnsyndrom; Vor § 1 StPO; § 33a StPO; § 356 a StPO; Art. 103 Abs. 1
überwertige Idee). GG
§ 212 StGB; § 15 StGB; § 21 StGB; § 261 StPO
635. BGH 4 StR 123/06 – Beschluss vom 13. Juni 2006
Worauf der Vorsatz eines Täters gerichtet war, ist eine (LG Landshut)
sog. innere Tatsache. Rückschlüsse hierauf sind in aller Gefährlicher Eingriff in den Straßenverkehr (Außenein-
Regel nur möglich auf Grund seiner eigenen Angaben griff und Griff in das Lenkrad bei fahrendem Wagen;
oder auf Grund der äußeren Umstände (vgl. BGH NStZ- straßenverkehrsspezifische Gefahr für Leib oder Leben
RR 2005, 264, 265 m. w. N.). und Sachen von bedeutendem Wert); gefährliche Kör-
perverletzung (mittels einer das Leben gefährdenden
627. BGH 1 StR 46/06 – Urteil vom 16. Mai 2006 (LG Behandlung).
Karlsruhe) § 315 b Abs. 1 Nr. 3 StGB; § 224 Abs. 1 Nr. 5 StGB
BGHSt; Härteklausel beim Verfall (Entreicherung: ent-
behrlicher Bezug zu der rechtswidrigen Tat; Bruttoprin- 636. BGH 4 StR 127/06 – Beschluss vom 4. Juli 2006
zip); Wert des Erlangten bei Tatbeteiligten in einer Han- (LG Bielefeld)
delskette (keine Gesamtschuldnerschaft); Aufrechterhal- Verwerfung der Revision als unbegründet.
tung der Rechtsfolge (Anwendung zugunsten des Ange- § 349 Abs. 2 StPO
klagten).
§ 73 Abs. 1 Satz 1 StGB; § 73c Abs. 1 Satz 2 StGB; Art. 637. BGH 4 StR 138/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
14 GG; § 354 Abs. 1a Satz 1 StPO; § 426 BGB (LG Paderborn)
Verwerfung der Revision als unbegründet.
628. BGH 1 StR 220/06 – Beschluss vom 21. Juni 2006 § 349 Abs. 2 StPO
(LG Mosbach)
Aufklärungsrüge (Aufklärungspflicht; Darlegungsanfor- 638. BGH 4 StR 146/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
derung an die Rüge). Grundsätzlich keine Wiedereinsetzung in den vorigen
§ 244 Abs. 2 StPO; § 344 Abs. 2 Satz 2 StPO Stand zur Ergänzung von Verfahrenrügen (Glaubhaftma-
chung mangelnden Verschuldens).
629. BGH 1 StR 223/06 – Beschluss vom 11. Juli 2006 Art. 103 I GG; § 44 Satz 1 StPO
(LG Landshut)
Darstellung der Beweiswürdigung (keine Dokumentati- 639. BGH 4 StR 147/06 – Beschluss vom 20. Juli 2006
onspflicht). (LG Bielefeld)
§ 261 StPO Verwerfung der Revision als unbegründet.
§ 349 Abs. 2 StPO
630. BGH 1 StR 317/06 – Beschluss vom 13. Juli 2006
(LG Traunstein) 640. BGH 4 StR 163/06 – Beschluss vom 6. Juli 2006
Verwerfung der Revision als unbegründet. (LG Bielefeld)
§ 349 Abs. 2 StPO Mangelhafte Beweiswürdigung bei Vergewaltigung
(Serientaten); Misshandlung einer Schutzbefohlenen
631. BGH 4 StR 27/06 – Beschluss vom 22. Juni 2006 (rohes Misshandeln nur bei gefühlloser, fremde Leiden
(LG Dortmund) missachtender Gesinnung).
Verwerfung der Revision als unbegründet. § 177 Abs. 2 StGB; § 225 StGB; § 261 StPO
§ 349 Abs. 2 StPO

632. BGH 4 StR 64/06 – Beschluss vom 22. Juni 2006 641. BGH 4 StR 175/06 – Beschluss vom 1. Juni 2006
(LG Stralsund) (LG Saarbrücken)
Verwerfung der Revision als unbegründet. Unzureichende Strafzumessungsbegründung bei Verge-
§ 349 Abs. 2 StPO waltigung (geringes Maß an Gewalt; länger andauernde
intime Beziehung zum Tatopfer; keine festgestellten
633. BGH 4 StR 87/06 – Urteil vom 13. Juli 2006 (LG psychischen Tatfolgen beim Opfer).
Essen) § 177 Abs. 2 StGB; § 46 StGB; § 354 Abs. 1a StPO
Rechtliches Gehör der Staatsanwaltschaft vor der Be-
kanntgabe einer Strafobergrenze für den Fall eines Ges- 642. BGH 4 StR 178/06 – Beschluss vom 13. Juni 2006
tändnisses; schwerer Bandendiebstahl; Gesamtstrafenbil- (LG Saarbrücken)
dung. Sexuelle Nötigung (Gewalt; fortwirkende Drohung; fina-
§ 244 a StGB; § 55 StGB; Vor § 1 StPO; § 33 StPO; § le Verknüpfung; Vergewaltigung); Strafverfolgungsver-
261 StPO jährung (Ruhen); Nötigung.
§ 78 StGB; § 78 b Abs. 1 Nr. 1 StGB; § 177 Abs. 1 Nr. 2
634. BGH 4 StR 110/05 – Beschluss vom 16. Mai 2006 StGB; § 240 Abs. 1, Abs. 4 Nr. 1 StGB
(LG Cottbus)
Rechtliches Gehör; unzulässige Gegenvorstellung; vor- 643. BGH 4 StR 182/06 – Beschluss vom 13. Juni 2006
rangige Anhörungsrüge nach § 356a StPO. (LG Dortmund)
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 331

Wirksame Revisionsrücknahme der durch den Verteidi- Kommunale Mandatsträger sind keine Amtsträger, es sei
ger eingelegten Revision durch den Angeklagten (Vor- denn, sie werden mit konkreten Verwaltungsaufgaben
aussetzung der Verhandlungsfähigkeit des Angeklagten). betraut, die über ihre Mandatstätigkeit in der kommuna-
§ 302 Abs. 1 Satz 1 StPO len Volksvertretung und den zugehörigen Ausschüssen
hinausgehen. Erschöpft sich aber die Tätigkeit eines
644. BGH 4 StR 190/06 – Beschluss vom 27. Juni 2006 kommunalen Mandatsträgers im Handeln in Wahlen und
(LG Dessau) Abstimmungen in der Volksvertretung selbst, in Teilen
Verstoß gegen die Teilrechtskraft (mangelnde Feststel- der Volksvertretung wie den Fraktionen oder in den
lungen für die Strafzumessung). unmittelbar der Volksvertretung zugehörigen Ausschüs-
§ 353 Abs. 2 StPO; § 46 StGB; § 261 StPO sen, kommt lediglich eine Strafbarkeit nach § 108e StGB
in Betracht. Gleiches gilt für die Tätigkeit im Vorfeld
645. BGH 4 StR 192/06 – Beschluss vom 20. Juni 2006 von Wahlen und Abstimmungen in Volksvertretungen,
(LG Hagen) also etwa für die Einflussnahme auf andere Ratsmitglie-
Notwendige Verteidigung (absoluter Revisionsgrund der der und die sonstige Beteiligung an der politischen Wil-
Abwesenheit bei Scheinverteidiger). lensbildung auf Gemeindeebene.
§ 140 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 5 StPO; § 338 Nr. 5 StPO
651. BGH 5 StR 85/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
646. BGH 4 StR 199/06 – Beschluss vom 6. Juli 2006 (LG Braunschweig)
(LG Paderborn) Sexueller Missbrauch von Kindern; milderes Gesetz.
Rücktritt vom unbeendetem Versuch (Freiwilligkeit: § 176 Abs. 2 StGB a. F.; § 2 Abs. 3 StGB; § 176 Abs. 2
Hilfeschreie; Erörterungsmangel). StGB
§ 24 Abs. 1 StGB
652. BGH 5 StR 196/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
647. BGH 4 StR 207/06 – Beschluss vom 27. Juni 2006 (LG Berlin)
(LG Münster) Erhebliche Verminderung der Steuerungsfähigkeit (schi-
Verwerfung der Revision als unbegründet. zoaffektive Psychose); Unterbringung in einem psychiat-
§ 349 Abs. 2 StPO rischen Krankenhaus (Gefährlichkeitsprognose); minder
schwerer Fall der Vergewaltigung.
648. BGH 5 StR 154/06 – Beschluss vom 13. Juli 2006 § 20 StGB; § 21 StGB; § 63 StGB; § 177 StGB
(LG Lübeck)
Gesetzlicher Richter (Ablehnungsverfahren; Richter in 653. BGH 5 StR 199/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
eigener Sache; Besorgnis der Befangenheit); rechtliches (LG Dresden)
Gehör; Formalentscheidungen nach § 26a StPO (Unzu- Unbegründeter Antrag auf Prozesskostenhilfe für die
lässigkeit; ungeeignete Begründung); Ablehnung von Nebenklägerin.
Beweisanträgen wegen Bedeutungslosigkeit; redaktionel- § 397a Abs. 2 StPO
ler Hinweis.
Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 103 Abs. 1 GG; Art. 6 654. BGH 5 StR 229/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
Abs. 1 Satz 1 EMRK; § 26a StPO; § 338 Nr. 3 StPO; § (LG Berlin)
26a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 27 StPO; § 244 Abs. 3 Satz 2 Nachträgliche Gesamtstrafbildung (Geldstrafe; Anrech-
StPO nung).
§ 55 StGB; § 51 Abs. 2, Abs. 4 Satz 1 StGB
649. BGH 5 StR 76/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006
(LG Wuppertal)
Bestechung (Amtsträgereigenschaft von kommunalen 655. EGMR Nr. 7485/03 (1. Kammer) –
Abgeordneten); Untreue; Strafzumessung (fehlerhafte Zulässigkeitsentscheidung vom 13. Dezember 2005
Beurteilung der Konkurrenzen; Beruhen); Adhäsionsver- (Witzsch vs. Deutschland)
fahren (Ungeeignetheit). Missbrauchsverbot der EMRK (Nazi-Propaganda;
§ 11 StGB; § 331 StGB; § 332 StGB; § 266 StGB; § Holocaust: Ausschwitz-Lüge und Inabredestellen der
108e StGB; § 52 StGB; § 53 StGB; § 406 Abs. 1 Satz 4 Verantwortung von Hitler und der NSDAP);
StPO Meinungsfreiheit (Äußerungsfreiheit) und faires
Verfahren (Beweisführungsanspruch bei feststehenden
650. BGH 5 StR 77/06 – Beschluss vom 29. Juni 2006 Wahrheiten; Äußerungen in privaten Briefen); Schutz des
(LG Wuppertal) Andenkens Verstorbener (arrangierter Strafantrag;
Bestechung (Amtsträgereigenschaft von kommunalen Tatprovokation; Fall „Wolffsohn-Brief“);
Abgeordneten); Untreue; Strafzumessung (fehlerhafte Gesetzlichkeitsprinzip (nulla poena sine lege).
Beurteilung der Konkurrenzen; Beruhen; aussetzungsfä- Art. 17 EMRK; Art. 10 EMRK; Art. 6 EMRK; Art. 5
hige Freiheitsstrafe: Bewährung); Adhäsionsverfahren GG; Art. 103 GG; § 189 StGB; § 130 StGB; § 194 StGB;
(Ungeeignetheit). Art. 7 EMRK
§ 11 StGB; § 331 StGB; § 332 StGB; § 266 StGB; §
108e StGB; § 52 StGB; § 53 StGB; § 56 StGB; § 406 656. BGH 5 StR 482/05 – Urteil vom 29. Juni 2006
Abs. 1 Satz 4 StPO (LG Wuppertal)
HRRS August/September 2006 (8-9/2006) 332

Strafzumessung (gerechter Schuldausgleich); gesonderte Untreue; Adhäsionsverfahren (Ungeeignetheit).


Gesamtgeldstrafe; Verfall (Vorrang der Verletztenan- § 266 StGB; § 406 Abs. 1 Satz 4 StPO
sprüche).
§ 46 StGB; § 73 Abs. 1 Satz StGB; § 53 Abs. 2 Satz 2 659. BGH 5 StR 485/05 – Urteil vom 29. Juni 2006
StGB (LG Wuppertal)
BGHR; Recht auf gesetzlichen Richter (Richter in eige-
657. BGH 5 StR 483/05 – Urteil vom 29. Juni 2006 ner Sache; Ablehnungsverfahren; Vorbefassung nach
(LG Wuppertal) Abtrennung von Verfahren gegen Tatbeteiligte und nach
Untreue (Grenzen der Treupflicht); eigene Sachentschei- deren Verurteilung); Untreue (Vermögensnachteil durch
dung des Revisionsgerichts; Beweiswürdigung (Frei- Ausschaltung des Wettbewerbs durch Schmiergeldzah-
spruch; Darstellungsmangel). lungen); Adhäsionsverfahren (Ungeeignetheit); redaktio-
§ 266 StGB; § 354 Abs. 1 StPO; § 261 StPO neller Hinweis.
§ 26a Abs. 1 Nr. 2 StPO; § 266 Abs. 1 StGB; § 338 Nr. 3
658. BGH 5 StR 484/05 – Urteil vom 29. Juni 2006 StPO; Art. 101 Abs. 1 Satz 2 GG; Art. 6 Abs. 1 Satz 1
(LG Wuppertal) EMRK; § 406 Abs. 1 Satz 4 StPO

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