8 graswurzelrevolution dezember 2018/434
amerika in bewegung
Im zehnten Jahrzehnt
Noam Chomsky, der bekannteste Anarchist der Gegenwart, wird am 7. Dezember 90 Jahre alt
Wenn heute gefragt wird, welche*r linke Intellektuelle weltweit den
größten Bekanntheitsgrad genießt, ist es nicht unwahrscheinlich,
dass der Name „Noam Chomsky“ fällt, und das ist sowohl unter
Leuten so, die sich selbst als links verstehen, als auch im bürger-
lichen Feuilleton. Dass der US-amerikanische Anarchist dabei von
den einen bewundert wird, während die anderen ihn verächtlich als
Verschwörungstheoretiker abtun, ist nicht weiter erstaunlich, aber
diese unterschiedlichen Einschätzungen gehen durchaus quer durch
die politischen Lager.
Jetzt, wo Chomsky neunzig Jahre alt wird, ist ein weiteres Mal ein
günstiger Zeitpunkt, die Frage zu stellen: Wer ist dieser Mann?
Frühe Prägungen
Noam Chomsky wurde am 7.
Dezember 1928 in Philadel-
phia geboren und wuchs dort
zu einer Zeit im von deutschen
Einwanderer*innen geprägten
Stadtviertel Germantown auf,
als man den Antisemitismus in
den USA, wie er es später for-
mulierte, „noch mit dem Messer
schneiden konnte“. Seine Eltern
William Chomsky und Elsie
Simonofsky waren beide aus
Russland eingewanderte Juden
und fühlten sich der jüdischen
Kultur ihr Leben lang zutiefst
verbunden. Dasselbe gilt im Üb-
rigen auch für ihren Sohn Noam,
auch wenn er seit vielen Jahren
wegen seiner Kritik an der Re-
gierungspolitik in Israel von vie-
len entweder als Antisemit oder
als „selbsthassender Jude“ oder
beides denunziert wird. Der Va-
ter entwickelte sich zu einem der
führenden Hebraisten seiner Zeit
und brachte Noam so schon früh
in Kontakt mit seinem späteren
Fachgebiet, der Linguistik.
Vom Alter von zwei bis zwölf
besuchte Noam die Oak Lane
Country Day School, eine Schu-
le in der Tradition des progressi-
ven Pädagogen und Philosophen
John Dewey, die man heute
wohl als antiautoritär bezeich-
net. In der dortigen Schülerzei-
tung schrieb er auch im Alter
von zehn Jahren seinen ersten
Artikel, nämlich über den Fall
Barcelonas im Spanischen Bür-
gerkrieg Anfang 1939.
Während er sich an die Zeit an
dieser Institution immer noch
gerne und sehr gut erinnert, be-
schreibt er seine folgende Zeit
an der High School bis 1945
buchstäblich als schwarzes
Loch, und auch die darauffol-
gende Zeit als Student an der
University of Pennslvania fühl-
te sich für ihn nicht wesentlich
besser an. So spielten sich seine
Aktivitäten in der ersten Hälfte
der 1940er zum Großteil abseits
des Curriculums von Schule und
Universität ab. Sein tiefes Inter-
esse am Anarchismus und des-
sen vielfältigen Verästelungen
entwickelte sich zu genau dieser
Zeit, in der man ihn häufig im
nahegelegenen New York fand,
wo einer seiner Onkel einen
Zeitungsstand besaß, der Treff-
punkt aller möglicher radikaler
Kräfte war, und wo es außerdem
Buchhandlungen gab, die mehr
zu bieten hatten als das in dieser
Hinsicht etwas zurückgebliebe-
ne Philadelphia.
Hinwendung zu Linguistik und
Kognitionswissenschaft
Die Eltern begannen, sich Sor-
gen zu machen, da Noam zum
College-Dropout zu werden
drohte, und so brachten sie ihn
in engere Verbindung mit ei-
nem Freund der Familie, Zellig
Harris, der nicht nur die soziali-
stisch-zionistische Ausrichtung
Noams im Hinblick auf den sich
bereits abzeichnenden Israel-Pa-
lästina-Konflikt teilte, sondern
auch Linguistikprofessor an der
University of Pennslvania war.
Chomsky, dessen Interesse an
Harris zunächst in erster Linie
politischer Natur war, wendete
sich zunehmend der Sprachwis-
senschaft zu und reichte 1949
seine Bachelorarbeit über die
Morphophonemik des moder-
nen Hebräischen ein, die in stark
erweiterter Form 1951 zu seiner
Magisterarbeit wurde.
Obwohl Chomsky auch weiter-
hin seinen politischen Interessen
nachging, aufmerksam die Er-
eignisse in Israel/Palästina ver-
folgte und sich wie viele seiner
Zeitgenoss*innen an der Bür-
gerrechtsbewegung beteiligte,
waren die Jahre 1946 bis 1964
für ihn von seiner sprachwissen-
schaftlichen Arbeit geprägt, die
bald, 1957, nach der Publikation
eines schmalen Büchleins mit
dem unscheinbaren Titel Struk-
turen der Syntax unter dem Na-
men „generative Grammatik“
bekannt werden sollte. Es sind
genau diese generative Gram-
matik und ihre Implikationen
(unter anderem für unser psy-
chologisches und biologisches
Weltbild), die Chomsky ur-
sprünglich zu seinem Weltruhm
verhalfen, obwohl es sich bei
der Sprachwissenschaft sonst
um eine eher wenig beachte-
te Disziplin handelt, bei der es
den meisten schwer fiele, neben
Chomsky überhaupt noch weite-
re Linguist*innen zu nennen.
Angeborene Ideen
Was hat es mit der generati-
ven Grammatik auf sich? Laut
Chomskys seinerzeit revolutio-
nären Ansatz hat jeder Mensch,
der eine Sprache erlernt hat, ein
Regelsystem internalisiert, das
Anzeige
wortung freiheitlicher Prinzipi-
en der politischen und sozialen
Organisation waren bis dahin
weitgehend theoretisch geblie-
ben. Der von den USA insge-
heim 1960 begonnene Krieg
in Vietnam und später in ganz
Indochina änderten das drama-
tisch, und Chomsky begann,
systematisch und bis heute ohne
Pause das zu praktizieren, was
er die „Verantwortlichkeit der
Intellektuellen“ nannte, näm-
lich Lügen zu enthüllen und die
Wahrheit zu sagen.
Zunächst war dies die Wahrheit
über die Indochinakriege, die
wohl kaum jemand so umfang-
und facettenreich ausgesprochen
hat wie er, aber es kamen schnell
andere Bereiche der Außen- und
Innenpolitik der USA und an-
derer Staaten hinzu. Dabei fiel
der Beschluss, den Schritt vom
Noam Chomsky Foto: Wikipedia Sympathisanten zum Aktivisten
zu machen, Noam Chomsky al-
les andere als leicht: „Ich hasste
die Entscheidung. Von Natur
„FR: Sie bezeichnen sich als Anarchist. Wie hilft die Anarchie da weiter? aus bin ich eigentlich ein Ein-
siedler und würde viel lieber
Noam Chomsky: Anarchismus ist ein breiter Begriff. Es besitzt einen Kern von allein arbeiten statt öffentlich
aktiv zu sein“, so einer seiner
Grundsätzen mit zeitlosen Werten, die Menschen zum Handeln anleiten sollen. rückblickenden Kommentare zu
Diese Grundsätze wurden in der Aufklärung reformuliert, wo sie ihre Blütezeit diesen Jahren. Gar nicht dazu in
Widerspruch steht, was er 1970
erlebten. Im Grunde haben sie aber tiefer liegende Wurzeln. gegenüber dem Antikriegsakti-
visten Fred Branfman sagte, mit
Was zeichnet einen Anarchisten aus? dem er damals Lager entwurzel-
Anarchisten entdecken zum Beispiel nicht legitimierte Machtstrukturen, ter Indochinaflüchtlinge in Laos
besuchte: „Ich bin viel zu spät
sie verlangen, dass Macht stets gerechtfertigt wird. Ist das nicht der Fall, aktiv geworden.“
arbeitet ein Anarchist an der Überwindung dieses Zustandes. Der Anarchismus Die anderswo hinreichend be-
schriebene Flut seiner Artikel,
ist manifest in dem Fortschritt in der Menschheitsgeschichte, von dem ich Vorträge, Interviews und Bücher
zur Lage in den USA, in ein-
gesprochen habe. zelnen Ländern oder Gebieten
Dann sollte jeder Anarchist sein? anderswo oder auf der gesam-
ten Welt und zu den Aussichten
Ja, jeder sollte ein Anarchist sein und immer dann, wenn er eine illegitime Macht auf Besserung durch Widerstand
ist mittlerweile unübersehbar
erkennt, bekämpft und zerstört, ist er ein Anarchist. In diesem Sinne sind die geworden, aber es gibt immer
meisten Menschen Anarchisten.“ noch kein Anzeichen dafür, dass
dieser Rebel Without a Pause
Quelle: Anarchist Noam Chomsky „Die Demokratie wird zerschreddert“ „Jeder sollte ein Anarchist sein“: Ein Gespräch mit dem Linguisten Noam Chomsky (so der Titel eines sehenswerten
von Michael Hesse, Frankfurter Rundschau, 24.1.2014, http://www.fr.de/kultur/anarchist-noam-chomsky-die-demokratie-wird-zerschreddert-a-621750?fbcli
d=IwAR2pbjIPV1kT3vfGqVY5praA8gi1YO5R-pkyicY4loTyousTtKYvIHxNf6g
Films über ihn) in nächster Zeit
vorhat, sich zur Ruhe zu setzen.
Die Motivation dafür wird ein
weiteres Mal klar, wenn man
es ihm ermöglicht, unendlich Äußerung „Uff!“ wieder wechselnde Umwelt hört, was er dazu erst Anfang
viele Sätze hervorzubringen und Chomskys Schluss hieraus sein sollen. Zu einem zentralen November 2018 angesichts der
zu verstehen. Deutsch, Franzö- war, dass genau dieses ange- Punkt an Chomskys Kritik wur- wachsenden Gefahr eines Atom-
sisch, Suaheli – sie alle haben ein borene Wissen der eigentliche de später auch, dass die behavio- krieges und der immer bedroh-
ihnen eigenes Regelsystem, das und wichtigste Gegenstand der ristische Idee von der völligen licher werdenden Klimakrise
sie von allen anderen Sprachen Sprachwissenschaft sein sollte. Determiniertheit menschlichen in der einem Interview sagte,
unterscheidet. Jeder Versuch, ein Das nannte er in Anlehnung Verhaltens von außen nicht nur nämlich dass die heutige Zeit
solches Regelsystem auch nur an eine frühere philosophische widersinnig, sondern auch an- sicher die gefährlichste Zeit sei-
für eine einzige Sprache zu be- Tradition Universalgrammatik. tilibertär ist. Für unter sorgfäl- nes eigenen Lebens, mit noch
schreiben, weist wegen des im- Mit der Wiederaufnahme dieser tiger Erwägung aller Umstände größerer Sicherheit aber die ge-
mer noch in den Kinderschuhen Tradition einher ging ein Angriff getroffene, aber dennoch freie fährlichste Zeit in der Geschich-
steckenden Verständnisses der Chomskys gegen den bis in die Entscheidungen autonomer In- te der Menschheit sei. Man kann
Linguist*innen gravierende Lüc- 1950er in Psychologie und Ko- dividuen ist in ihr kein Platz. nur hoffen, dass er noch lange
ken auf und fällt selbst da, wo er gnitionswissenschaft vorherr- zu dem Versuch beitragen kann,
gelingt, unerhört komplex aus. schenden Behaviorismus, der Individuum und Welt – Über das Blatt zu wenden und Bedin-
Das Paradoxe an dieser Beob- sämtliches Verhalten von Tieren fünfzig Jahre Kampf um eine gungen zu schaffen, unter denen
achtung ist, dass alle Kinder wie Menschen abgesehen von bessere Gesellschaft die Menschen einen Weg finden,
unter normalen Umständen einigen elementaren Reflexen ihre naturgegebenen Möglich-
imstande sind, sich genau das auf Konditionierung durch die Das eben Gesagte hieß natürlich keiten frei und zugleich ohne
anzueignen, an dessen Be- Umwelt zurückführen wollte. durchaus nicht, dass die Umwelt Krieg und Unterdrückung aus-
schreibung die Linguist*innen Chomsky und die keine Rolle spielt, denn sonst zuleben. Letzteres Prinzip war
immer noch scheitern, nämlich Mitstreiter*innen, die mit ihm würden wir alle gleich denken zweifellos mitgemeint, als die
das Regelwerk ihrer Sprache. an der oder im Umfeld der ge- und dieselbe Sprache sprechen. indische Schriftstellerin Arund-
Die Schlussfolgerung: Kinder nerativen Grammatik arbeiteten, Es heißt nur, dass sich menschli- hati Roy bereits vor Choms-
müssen einen Vorteil habe, über waren dagegen schon seit den che Existenz in einem biologisch kys 75. Geburtstag schrieb:
den die Sprachwissenschaft frühen 1950ern zu dem Schluss gegebenen Rahmen abspielt und „Chomsky Zindabad!“
nicht verfügt, ein angeborenes gekommen, dass diese Art von dass der Mensch nur innerhalb
Wissen, dass es ihnen erlaubt, Erklärung weder im Bereich der dieses Rahmens adäquat leben Michael Schiffmann
aus dem sie umgebenden chao- Sprache noch in anderen rele- kann. Bestimmte Bedingungen, Literatur:
tischen Lärm herauszufiltern, vanten Bereichen der menschli- denen Menschen unterworfen Robert Barsky, Noam Chomsky. Libertärer
was für die Regeln der eigenen chen Psyche funktionieren kann. werden, stellen eine so offen- Querdenker, Edition 8, Zürich 1999.
Sprache relevant ist und was Ganz gleich, ob es sich um Vor- Noam Chomsky, Probleme sprachlichen Wis-
sichtliche Vergewaltigung des- sens, Philo, Bodenheim 1996.
nicht, und dadurch im wesent- stellungen von Raum und Zeit, sen dar, was für sie zuträglich Noam Chomsky, Die Verantwortlichkeit der
lichen ohne äußere Anweisun- moralische Auffassungen von ist, dass Widerstand gegen sie Intellektuellen. Zentrale Schriften zur Politik.
gen und Hilfen ein System zu Gut und Böse oder den in der zur Pflicht wird. Kunstmann, München 2008.
Noam Chomsky & Emran Feroz, Kampf oder
konstruieren, das in unendlich Geschichte immer wieder zum Man könnte sagen, dass Choms- Untergang! Warum wir gegen die Herren der
vielen verschiedenen Situatio- Vorschein kommenden Frei- ky Anfang der 1960er an den Menschheit aufstehen müssen, Westend,
nen Anwendung finden kann heitsdrang der Menschen han- Schnittpunkt der beiden intel- Frankfurt 2018.
Michael Schiffmann (Hg.), absolute noam choms-
und das für das Verständnis des delt – es ist schwer vorstellbar, lektuellen Welten kam, in denen ky, orange press, Freiburg 2004. Bio-Beiträge aus
achtzig Seiten langen Satzes am wie diese spezifisch menschli- er sich bis dahin bewegt hatte. diesem Buch unter -1486126347 https://uni-
Ende der deutschen Version von chen Attribute ausschließlich Seine Unterstützung des US- mannheim.academia.edu/MichaelSchiffmann
Neil Smith & Nicholas Allott, Noam Chomsky.
James Joyces Ulysses genauso Ergebnis der Konditionierung und weltweiten Kampfes gegen Ideas and Ideals, 3rd edition, Cambridge Universi-
geeignet ist wie für die simple durch eine zufällige und immer Unterdrückung und seine Befür- ty Press 2016.