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ISSN 1616-1203
Kartographie, Topographie und Raurnkonzepte
in den Kulturwissenschaften
I
1 Addressing the >topographical turn< in cultural theory which emphasizes spatial con-
i stellations and sites, the article discusses concepts of space botli in Anglo-American
Cultural Theory and in European Culture Studies in order to develop their differentes.
I
Within Cultural Studies the program to )spatialize( historical narratives has created a
whole language of symbolic topographical figures which function as a counter-dis-
I
I Course for minorities. To argue against the tendency of translating theories in order to
transform them into >neutraltools<,independent of their historical origin, the article
discusses various space-discourses in European cultural theories; it refers to studies
from the current cultural reorientation of the humanities but also t o those from the
early 2othcentury to illuminate different relationships between philosophy, historiog-
raphy and cultural techniques.
1. Ein Kartenstreit
Der Eintritt von Figuren in das Genre des Kriminalromans kann als Zeichen
ihrer erreichten Popularität gelten. Insofern wurde die Karriere, die Topo-
graphie und Kartographie in der letzten Dekade zu verzeichnen hatten, durch
Miles Harveys Krimiqalgeschichte der Kartographie besiegelt.' Im Jahre 2001
war das Feuilleton mit einer Kontroverse beschäftigt, die wie ein der Wirk-
lichkeit entlehntes Supplement zu Harveys literarischer Geschichte der
Kartographie wirkte. Ausgelöst wurde sie durch den Verkauf des einzigen
erhaltenen Exemplares einer im Jahre 1507 von Martin Waldseemüller her-
gestellten Weltkarte aus dem Besitz des Fürsten Waldburg-Wolfegg an die
amerikanische Kongressbibliothek in Washington. Nicht die Verkaufssumme
von 10 Millionen Dollar löste den Streit a/us - es ging vielmehr um Belange
nationaler Kultur. Da die aus zwölf Holzschnitt-Tafeln zusammengesetzte,
insgesamt drei Quadratmeter messende Karte zu den ersten gehört, die auf
die Entdeckung der )Neuen Welt<reagierten, und da sie zudem die erste Karte
ist, die den Namen >America<fur die kurz zuvor neu entdeckten Territorien
verzeichnet, wird die Waldseemüller-Karte in den USA als ))Geburtsurkunde
Amerikas« betrachtet. Dieser Wert einer Karte als »geographischer Tauf-
'Miles Harvey, The Island of Lost Maps. A True Story of Cartographic Crime. New
York 2000; dt.: Gestohlene Welten. Eine Kriminalgeschichte der Kartographie. Obers. V.
Andrea Ott. München 2001.
KulturPoetik Bd. 2,2 (2002),S. 151-165
ISSN 1616-1203 . O Vandenhoeck &Ruprecht 2002
152 Sigrid Weigel
schein(<'wird nicht durch die Tatsache gemindert, dass die Namensgebung
auf einen Irrtum zurückgeht. Denn der Kartograph ging im Jahre 1507 davon
aus, dass nicht Columbus sondern Amerigo Vespucci die neuen Gebiete ent-
deckt hätte; nach Aufklärung dieses Irrtums hat er auf später hergestellten
Karten den Namen durchgestrichen. Da aber hatte die (nach Angabe des Kar-
tographen aus 1000 Drucken bestehende) Auflage der Universalis cosmogra-
pllia sccunrilli?~Ptl~oloni~iei
traditionem et Americi Vespucii aliort4rnqtre lilstra-
tionrs bereits große Aufmerksamkeit erzielt.
Es ist also eine doppelte Singularität, die das seit längerem artikulierte Be-
gehren der USA motivierte, in den Besitz der Karte zu gelangen: die Bedeu-
tung der Karte als Namensurkunde des Kontinents und das Faktum des letz-
ten verbliebenen Exemplars. Umgekehrt war das deutsche Interesse, im Besitz
der Karte zu bleiben, durch die Aufnahme in die »Liste des geschützten deut-
schen Kulturgutes~(ratifiziert worden, die den Export a n eine staatlich erteilte
Ausfuhrgenehmigung knüpft. Nun löste der Verkauf aber weniger Debatten
über Kriterien für die Definition »deutschen Kulturgutes« aus als vielmehr
einen Streit über \~erantwortlicheund Verfahren solcher Genehmigungen im
Spannungsfeld zwischen Rundes- und Landeshoheit. Einzig aus der Passage
eines Feuilletonartikels lässt sich eiii Motiv für die Einordnung in das Register
)Kulturgut von nationaler Bedeutung( ableiten. Diese betrifft das Recht der
Erstentdeckung bzw. -erfindung:
Miaruin soll inan den Amerikanern nicht ihren geographischen Taufschein überlas-
scii? [)er Kulturpatriot rnuß dagegenhalten, daß, wenn schon die Deutschen die Welt
nicht mitentdeckt haben, sie doch die ersten waren, die sie kartographierten. Das
Zeugnis diescr Tat aber ist unbedingt schützenswert.'
Abgesehen davon, dassauch dieser Bewertung ein Irrtum anhaftet, da der
1475 in Fribourg &borene Waldseemüller nicht ohne weiteres dem deutschen
Erbe zuzuschlagen ist,4 und abgesehen davon, dass Zeitgenossen auch anderer
Nationalitäten (wie etwa Johannes Ruysch 1507 und Francesco Rosselli 1508)
die Neue Welt kartographierten, - abgesehen also von derartigen Ungereimt-
heiten in einer nationalen Inanspr~ichnahmedes Erstrechts, zeugt die Kon-
troverse von einen1 interessanten Deutungsstreit. In ein und demselben
Druck tritt hier nämlich das Dokument für den Ursprung einer Nation in
Konkurrenz zum Dokriment für den Platz einer anderen Nation in der Fort-
schrittsgeschichte naturwissenschaftlich-technischen Wissens. Während sich
E.H., Verlorene Mieltkai-tc. In: Frankfrrt& Allgemeine Zeitung, 23.7.2001.
' Ehd.
Nach Herstellung der Weltkarte war Waldseernüller viele Jahre für den Grafen Rcn6
dc Lorraine und dessen Sohn Antoine tätig, U.a. für die StraDburger Neuedition der
(;t~ogrnpliicides Ptol«ma~is(1513)wie für die Herstellung der ersten gedruckten Wand-
karte Europas Cartu iterieruria Europae (1511 ) und großer Navigationskarten; vgl. den
biographischen Eintrag in: Peter KreeftIRonald Tacelli (Hg.), Handbook of Christian
Apologetics. Crowborough 1995.
Zum )topographical turn( 153
das amerikanische Interesse a n der Urkunde als Dokument einer Beglaubi-
gung auf das Dargestellte richtet, wird dagegen auf deutscher Seite die Autor-
schaft am kartographischen Verfahren ins Feld geführt; während die Bilder
und Zeichen der Karte dort in ihrer Funktion der Bezeichnung thematisiert
werden, geraten sie hier als )techne( in den Blick. Eingeschlossen in den na-
tionalen Streit ist damit eine Kontroverse um Symbolisierungen; sie zielt auf
die doppelte Bedeutung einer topographischen Darstellung: als Repräsenta-
tion einerseits und als technisches Verfahren in der Geschichte des Wissens
\
andererseits.
In dieser unterschiedlichen Behandlung von Kartographie und Topogra-
phie und in den unterschiedlichen Schriftkonzepten, die der jeweiligen Lek-
türe räumlicher Darstellungen einhergehen, verweist die genannte Kontro-
verse aber auf Differenzen in der Entwicklung arnerikanischer und europäi-
scher Theoriebildungen, genauer: auf konzeptionelle Urigleichzeitigkeiten
zwischen den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften. Zwar sind bei-
d e in den letzten Jahrzehnten durch einen deutlichen >topograyhicalturn( i
!
gekennzeichnet, der gleichsam als theoretischer Fluchtpunkt der immer wie- '.
der beschworenen >linguistic<und >pictorial turns<betrachtet werden kann.
Doch größer als die Gemeinsamkeiten sind womöglich die Unterschiede -
selbst wenn diese nicht immer die Form eines Gegensatzes annehmen, wie
das zuweilen in griffigen Aussagen über den Status von Karte und Geographie
I
geschieht. Beispielsweise in der These Alfred Korzybshs „The map is not the
t e r r i t ~ r y «die
, ~ Wolfgang Schäffner in seiner Untersuchung des topographi-
schen Dispositivs in militärischen, navigatorischen und philosophischen
Operationen in d e n Niederlanden um 1600 zitiert, und der Gegenthese
)>Mapsare territories~,die Douglas Turnbull als programmatischen Titel ei-
ner Studie gewählt hat.6 Wo es einerseits um eine Aussage zur Semiotik der
1 Kartographiqgeht, wird andererseits die Macht symbolisaher Konstruktionen
bzw. der Einsatz von Karten in der Geschichte der Kolonisierung hervorge-
j hoben. In diesem Sinne soll der Umgang mit topographischen Figuren im
Folgenden als ein Feld theoretischer Überlegungen untersucht werden, an
dem in geradezu paradigmatischer Weise signifikante Differenzen zwischeii
:' den Cultural Studies und den Kulturwissenschaften kenntlich werden.
I
i
i
i
t
Alfred Korzybski, Science and Sanity. An Introduction to Non-Aristotelian Systems
and General Semantics. Lakeville 1958; zit. nach: Wolfgang Schäffner, Operationalc To-
pographie. Kepräsentationcräume in den ~iederlandenum 1600. In: ~ ~ n s -Rhein- ~ ö r ~
bergerIMichae1HagnerIBcttina Wahrig-Schrnidt (Hg.), Räume des Wissens. Kepräsenta-
tion, Codicrung, Spur. Berlin 1997, S. 66.
Douglas Turnbull, Maps are Territories - Science is an Atlas. A Portfolio of Exhibits.
Chicago 1989.

2. Die Topographie der Cultural Studies
Eine Kritik der Kolonisierungsgeschichte war es auch, die die Karriere des
topographischen Diskurses und der daran gekoppelten Inanspruchnahme
des Raums für soziale Theorie in den Cultural Studies begründete. Exempla-
risch kann dafür die monographische Studie des Chicagoer Geographen J.M.
Blaut zum kolonialen Weltbild Europas stehen.' Diese setzte nicht nur das von
Edward W. Soja formulierte Programm »to spatialize the historical narrati-
ve(? um, sondern definierte gleichzeitig auch die zentrale Negativfolie der
Cultural Studies: »the West((,d. h. den europäischen Kontinent und alle eu-
ropäisierten Kulturen wie die USA und Kanada. Das Datum 1492 - d. h. das
Bild Europas vor und nach 1492, das hier die Darstellung organisiert - spielt
aiich in anderen Beiträgen eine zentrale Rolle. So diskutierte etwa Jose Rabasa
1987 die Rriefe Hernan Cortes' an Kar1 V., »to gauge the distance separating
the interested conqueror from the rzeutral a n t h r o p o l ~ g i s t «Im
. ~ Mittelpunkt
seiiies Beitrags steht Cortes' Karte von Mexiko Stadt (1524) als Bild für die
ideale Stadt der Conquistadores. Die Karte stelle die Stadt in den Mustern von
Zoo und Botanischem Garten dar, durch die die Codes der mittelamerikani-
schen Zivilisation überdeckt und unsichtbar gemacht würden, ohne jedoch
vollständig zu verschwinden:
..
I hc destruction of the city obviously does not imply the disappearance of Mesoame-
risaii civilization. The codes registered within tlie plan continue to exist, though in
a disinembcred form. And it is precisely in the interstices of this objectification of
t h c city thal the whole array of the oppositional practiccs of everyday life pprliferates
in a n invisible mode.'O
Mit den oppositionellen Praktiken des Alltagslebens bezieht sich der Autor
auf Michel de Certeaus Theorie der Arts de faire,'' in der die alltäglichen
Handlungsweisen als eine Art Rhetorik beschrieben sind, die neben den ma-
terialisierten, sichtbaren auch unsichtbare Spuren in den Raum zeichnet. De
Certeaus Kunst des Handelns steht für eine grammatologische Reformulie-
rung von Konzepten sozial markierter Räume," in deren Folge das Paradigma
' James M. Blaul, Colonizers's Model of the World. Geographical Diffusionism and
Euroceiitric History. New York 1993. Mit )diffusionism<(von engl. )diffusion<:Verbrei-
tung) meint Blaut den Glauben a n die europäische Uberlegenheit und den Mythos vom
autonomen Aufstieg Europas.
Edward W. Soja, Postmodern Geographies. The Reassertion of Spacc in Critical So-
iial Theory. I.ondon, Ncw York 1989.
lose Rabasa, Dialogue as Conquest. Mapping Spaces fur Counter-Discourses. In:
(:uliural Critique 6 ( 1987),S. 131-1 59, hier S. 133.
l 0 Ebd., S. 146.
I ' Michcl de Certeau, 1,'lnvention du quotidien. Bd. 1: Arts de faire. Paris 1980; engl.:
Thc Practice of Everyday Life. Ubers. V.Steven F, Rendall. Berkeley 1984; dt.: Kunst des
Handelns. Ebers. v. Ronald Voullie. Herlin 1988.
" Henri Lefebvre, La Production de I'esyace. Paris 1974. Die englische Übersetzung:
Zum >topographicalt u r n < 155
von der Lesbarkeit der Stadt theoretisch konkretisiert wurde. Das Projekt
nimmt einen sehr spezifischen theoriegeschichtlichen Ort ein: im Anschluss
an, nach und partiell auch gegen Foucault bzw. dessen Wirkungsgeschichte.
Während Foucaults Mikrophysik der Macht13 in der Stadt- und Architektur-
theorie der 70er Jahre zunächst vorwiegend zu einer Beschreibung der mo-
dernen Stadt im Dispositiv des Uberwachens geführt hatte, intervenierte de
Certeau in diesen Entwurf der Stadt als großes Gefängnis, indem er mit den
Arts de faire den Aspekt der Poiesis in den kulturellen Praktiken der Bewohner
hervorhob.
In Rabasas Lektüre von Cortes' Karte werden die »Arts de Faire« nun über-
setzt in oppositionelle Praktiken, die sich in den Zwischenräumen der kolonia-
len Repräsentation bilden. Diese Operation entspringt sichtlich dem histori-
schen Index von Rabasas eigenem Theorieprojekt, nämlich einer postkolonia-
len Kritik des Kolonialismus. In ihr werden die historischen Koristellatioiien,
denen er seine theoretischen Instrumentarien entnimmt, gleichgültig - und
damit mir Notwendigkeit verkannt. Derselbe Vorgang betrifft auch Rabasas
Deutung der Stadtdarstellung: Während nämlich der Botanische Garten, ein
verräumlichtes Tableau klassifikatorischen Wissens, erst im Kontext der )His-
toire naturelle(, also im 18. Jahrhundert, zu einem dominanten topographi-
schen Modell des Wissens wurde, referiert Cortes' Karte von Mexiko Stadt,
mittelalterlichen Paradiesbildern folgend, eher auf den Topos eines )hortus
conclususc. Eine solche historische Differenzierung bleibt dem Theorieprojekt
des >MappingSpates< aber gleichgültig, denn ihm geht es u m die Programma-
tik eines )Counter-Discourse~.Rabasas Lektüre von Cortes' Karte kann als Al-
legorie eines solchen Vorhabens verstanden werden: der Entfaltung von Gegen-
diskursen in den Zwischenräumen einer kolonisierten oder auch eurozentri-
schen Topographie.
Im Folgenden avancierte die Figur des )Zwischenraums<zum symboli- I
i
:, schen Ort der Cultural Studies, die sich als Theorie eines Minoritätendiskur-
j ses etabliertet. Nicht im Gegensatz der Kulturen, sondern zwischerz ihnen
: liegt der Ort, von dem aus der Gegen-Diskurs entwickelt werden soll.
The contemporary black English, like the Anglo-Africans of earlier generations and
I perhaps, like all blacks in the West, stand between ( a t least) two great cultural assem-
blages, both of which have mutated through the Course of the modern world that
formed them and assiimed new configurations.
i
!
i
The Production of Space. Oxford 1991, hat allein bis 1999 zwolf Auflagcn erlebt und in
I der Critical Theory eine weit gröilere Wirkungsgeschichte erzielt als in der europäischen
Theoriebildung. Lefebvres Triade (soziale Praktiken, Repräsentation des Raums, Rcprä-
sentationsraum) ist einer der wichtigsten Bezugspunkte des spatial turns( in den Cultur-
al Studies.
"Michel Foucault, Mikrophysik der Macht. Über Strafjustiz,Psychiatrie und Medizin.
Berlin 1976. i
 Auf diese Weise begründet Paul Gilroy seine Untersuchung zu ))Modernity
and Double C o n s c i o u ~ n e s s c ( , ~
der
~ nder Schwarze Atlantik als »Countercul-
ture of Modernity« entworfen wird. »Black Atlanticcc ist hier weniger Bezeich-
nung für ein Territorium, denn Name für ein Programm. Die Situation von
))stereophonic,bilingual, o r bifocal cultural forms«,15 in der sich die Schwar-
zen in den Regionen u m den Atlantik befinden, sei es in Afrika, England,
Nord- oder Südamerika, wird darin zum Paradigma einer interkulturellen
und transnationalen Gegenkultur der Moderne, eines Gegen-Diskurses, der
sich aus der Erinnerung an die Kultur der Kolonisierten und Sklaven speist.
Insofern geht es in 7'he Rlack Atlatitic weniger u m die Historiographie eines
geographischen Rauines, wie beispielsweise in Fernand Braudels opus ma-
gnum Das Mittelnzecr,lh als vielmehr um den Entwurf einer symbolischen
lopographie für den theoretischen Diskurs.
Es handelt sich beim )topographical turn<in den Cultural Studies also we-
niger u m einen metaphorischen Gebrauch des )mapping( als u m die Trans-
formation )klassischer( diskurshistorischer Kritik'' in den präskriptiven Ent-
wurf für eine andere Theorie. Diese gründet in Erfahrungen eines Bruchs mit
der Gleichung von kultureller Identität und nationalem Territorium und ver-
dichtet sich in der Figur des )displacement(,die an die Stelle konventioneller
Migratioilskonzepte wie )Exil<oder >Diaspora<getreten ist. Das Verfahren des
)iilapping( und der Diskurs der )spacesc sind dabei zu Topoi im eigentlichen
Wortsinn geworden: Gemeinplätze der Cultural Studies, die die Ersetzung
ciiies historiographischen Narrativs durch ethnologische Perspektiven anzei-
gen. Der Ethnologe wurde dabei zum Modellfall des Theoretikers überhaupt,
allen voran Jaines Clifford mit seiner »travelling theory<(.lsDamit verwandel-
I: ten sich die Cultural Studies zu einer ethnographisch beeinflussten Kultur-
\ spezifischen Raumbildern beschreibt, so dass seine Studie über die Formen der
; theorie, deren Texte durch topographische Konzepte dominiert sind - sei es
) in Mary Louise Pratts Konzept der ),contact z ~ n e « ,in' ~Frederic Jamesons
(;eopolitical Aesthetic, Homi Bhabhas postkolonialer Location of Culture oder
in lrit Rogoffs Terra infirtnn." Das Projekt einer Kartierung postkolonialer
l4 Pali1 Gilroy, The Black Atlantic. Modernity and Double Consciousness. Cambridge,
klt\. I.oi1don 1993.
l 5 Ebd., S. 3.
l 6 Fernand Dra~idcl,Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps
I 1 ILa Mbdiierranee el le monde mediterranken a I'epoque de Philippe; 1949,2. Fassung
1963).3 Dde. Ubers. V.Grete Osterwald. FrankfurtIM. 1990.
"Wie sie noch vorlag in: Edward W: Said, Orientalism. New York, London 1978; dt.:
0rieni;ilisinus. Ubers. V. Lilianc Weissberg. FrankfurtIM. 1981.
l 8 Vgl. lamcs T. Clifford, It-avelling Cultures. In: Lawrence GrossbergICary Nel-
soii1Paula A. Treichler (Hg.), Cultural Studies. New York, London 1992, S. 96-1 16; Ders.,
Ico~ites.Travel and Translation in the Late Twentieth Century. London 1997.
l 9 Mary Louise Pratl, Fieldwork in Common Places. In: lames Clifford/George E. Mar-
ilis (Hg.), Writing Cultlirc. The Poetics and Politics of Ethnography. Berkeley 1986.
2 0 Frederic jameson, The Geopolitical Aesthetic. Cinema and Space in the World Sys-
tt'111. Hloomiiigton 1992; Homi K. Rhabha, 'The Location of Culture. London 1994, dt.:
kultureller Praktiken wird darin mit dem einer Ethnographie unter dem
Stichwort der )writing culture<enggeführt. Insofern ist in diesem Projekt auch
die Literaturtheorie besonders gefragt, da diese ihre Konzepte nicht selten am
Schnittpunkt von Narration und topographischen Figuren gewinnt.
3. Literarische Topographien und die Übersetzung von Theorie
»A novel is a figurative mapping«, wie Hillis Miller in seinem Buch Topogra-
phies f ~ r m u l i e r t . ~Innerhalb
' des Bedeutungsspektrums des Begriffs )Topo-
graphie~- als Schrift eines OrtesIRaums, als räumliche Metaphorik, als kar-
tographisches Diagramm oder als Bezeichnung für eine räumliche bzw. kar-
tographische Ordnung der Dinge - zielt Millers Untersuchung vor allem auf
die Bedeutung von Orten, Landschaften und Raumkonzepten in Literatur
und Philosophie. Die literarische Topographie ist ihm Paradigma für all jene
Verfahren, mit denen Bedeutungen in Räume bzw. auf Landschaften proji-
ziert werden.
Topographische Figuren stehen im Zentrum auch vieler anderer Literatur-
theorien, weil die literarische Darstellung strukturell mit der Aufgabe konfron-
tiert ist, das Verhältnis von Zeit und Raum im Kontinuum des Textes zu gestal-
ten. So ist die Bewegung im Raum beispielsweise ein prominentes literarisches
Verfahren zur Darstellung individueller oder kultureller Entwicklungen in der
Dimension der Zeit, ein Verfahren, das ein ganzes Register topographischer
Figuren hervorgebracht hat. Erinnert sei nur an Bachtins Begriff des C h r o n o -
toposc, der die Verdichtung und die erzählerische Visualisierung von Zeit in
Zeit im Roman letztlich auf ein Archiv topographischer Bedeutungsfiguren
. ~ ~ auch an Walter Benjamins Schrift über den Ursprung des
h i n a ~ s l ä u f t Oder
deutschen Trauerspiels (1927), in dessen Szenarien, wie er formuliert, die Ge-
schichte in den Schauplatz h i n e i n ~ a n d e r t . 'Oder
~ a n Gaston Bachelards Poetik
des Raumes, die er selbst - auf die Psychoanalyse anspielend - als eine Topo-
Analyse, als »Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens((,im ))Theater
der Vergangenheit«, vorstellt. Auch in seiner Poetik gilt der Raum als Speicher
verdichteter Zeit.'4
Die Verortung der Kultur. Vorwort V. Elisabeth Bronfen. Ubers. V. Michael Schiffmann U.
Jürgen Freudl. Tübingen 2000; Irit Rogoff, Terra infirma. Geography's Visual Culture.
I London 2000.
"J. Hillis Miller, Topographies. Stanford 1995, S. 19.
Michail M. Bachtin, Formen der Zeit im Roman. Untersuchungen zur historischen
: Poetik [1975]. Hg. V. Edward Kowalski U. Michael Wegner. Aus dem Kuss. V. Michael
j
Dewey. FrankfurtIM. 1989.
23 Walter Benjamin, Gesammelte Schriften. Rd. 1.1. Hg. V. Rolf Tiedemann U. Hermann
Schweppenhäuser. FrankfurtIM. 1974, S. 271.
i 24 Gaston Bachelard, Poetik des Raumes [La Poetique de I'espace, 19571. Übers. V. Kurt
I
I

Im Unterschied zu solchen topographischen Figuren in Theorien literari-
scher Darstellung geht es in Hillis Millers Reflexion zum Verhältnis von Phi-
losophie, Literatur und Topographie nun - neben raumspezifischen Denkfi-
guren in der Philosophie (vor allem Heideggers) - u m die Bedeutung von
Karte und Topographie für einzelne Schriftsteller und damit also zugleich um
Orte und Landschaften als Voraussetzung von Literatur. Insofern könnte man
sagen, dass der >topographical turn( - anders als in den Cultural Studies - in
der Literaturtheorie dazu geführt hat, die Orte nicht mehr nur als narrative
Figuren oder Topoi. sondern auch als konkrete, geographisch identifizierbare
,I Orte in den Blick zu nehmen. So untersucht z. B. Franco Moretti in Atlante
drl Roinat7zo Europco2' Karten explizit nicht als Metaphern, sondern als ana-
lytisches Instrument, um nach den topographischen Bedingungen verschie-
dener Entwürfe aus der europäischen Literaturgeschichte des 19. Jahrhun-
derts zu fragen. In seinem Buch wird die Lektüre einzelner Texte durch Karten
bzw. Diagramme ergänzt, die etwa ~ J a n Austen's
e Britain(( verzeichnen oder
~SherlockHolmes' London«; eine Karte, auf der z. B. Morde, andere krimi-
nelle Ereignisse und Holmes' Bewegungen durch die Stadt mithilfe bestimm-
ter Symbole in einen Stadtplan Londons eingetragen sind.2h
Aus der Genese verschiedener Literaturen aus spezifischen geographischen
und kulturellen Topographien folgt das Problem ihrer Un/Ubersetzbarkeit,
und zwar nicht nur die der Literatur selbst, sondern auch die der Theorie, die
aus der Lektüre konkreter Texte gewonnen wurde. »I,iterary theory is born,
that is, from a certain kind of ~ - e a d i n g ( wie
( , ~ ~Hillis Miller schreibt. Diese
Feststellung betrifft über die Literaturtheorie hinaus aber jede Art von Theo-
rie, die - wie die jüngeren Kulturtheorien - einer bestimmten Art von Lektüre
entspringt, einer Lektüre nicht nur von Texten, sondern auch von anderen
kulturellen Praktiken. Für Hillis Miller folgt daraus die Diagnose einer Un-
übersetzbarkeit von Theorie, genauer: jener Konzepte, die den Kern einer
jeweiligen Theorie ausmachen,2Rsowie die Gefahr einer Reduktion der über-
setzten Begriffe auf »abstrakte theoretische Dieser Beobachtung
stehe aber nicht nur die laufende Praxis entgegen: »The most important event
of the last thirty years in North American literary study is no doubt the assi-
1,eoiiharci. I:rankl'~iri/M.,Wien, Rerlin 1975, S. 40. Zum Verhältnis von Literatur und
'Topographie vgl. a u c h Sigrid Weigel, 'Topographien der Geschlechter. Kulturgeschichtli-
che Studien zur Liieratiir. Reinbek 1990; Dies., Topographische Poetologie. In: Dies.,
Inget~orgBachmann. Hinterlassenschaften unter Wahrung des Briefgeheimnisses. Wien
1999, S. 355-409.
25 Franco Moretti, Atlante del Romanzo Europeo. 1800-1900. Turin 1997; engl.: Atlas
of the European Novel 1800-1900. London, New York 1998; dt.: Atlas des europäischen
Romans. Wo die Literatur spielte. Ubers. V.Daniele dell' Agli. Köln 1999; frz. Atlas du
roman europecn, 1800-1900. Paris 2000.
L6 Ebd., cngl. Fassung, C. 135.
2 7 Miller (Anm. 211, S. 32 1.
"Ebd., S. 322.
29 Ehd., S. 323.
Lum >topographicalt u r n < 159
milation, domestication, and transformation of European t h e ~ r ~ Miller«.~~
selbst stellt seiner These zudem sogar das Gebot zur Übersetzung von Theorie
entgegen. Für diesen Widerspruch bietet er statt einer theoretischen Lösung
eine Lektüre des Buches Rut aus dem Alten Testament an, die eine Allegorie
des Theorietransfers darstellt: ein buchstäbliches »border crossing(c, das Ruth
- bzw. die Theorie - anderen Gesetzen unterstellt.
Dieser Vorgang der Theorie-Übertragung ist geeignet, das oben diskutierte
Beispiel der Cultural Studies zu kommentieren. In der Übertragung werden die
Konzepte indifferent gegenüber der kulturellen Topographie, der sie entstam-
men: Sie werden zu reinen >toolsc. Das führt zu dem paradoxen Phänomen,
dass mit dem )topographical turn( in den Cultural Studies ein Bruch mit der
topographischen Herkunft theoretischer Konzepte einhergeht. Diese Beobach-
tung möchte ich nicht als grundsätzlichen Einwand gegenüber der Übertra-
gung von Theorie und deren Verwendung als )tools( verstanden wissen. Denn
problematische Effekte zeitigt dieser Transfer erst, wenn Konzepte, die ihrer
topographischen Genese entkleidet wurden, an ihren Ort zurückkehren und
dort dann, unter Absehung von ihren spezifischen kulturellen Implikationen,
als scheinbar geschichts- und kulturneutrale lnstrumente verwendet werden.
4. Raumtheorien als Kulturtheorien in Europa
In der europäischen Theoriebildung beschreibt der )topographical turn( eine
andere Konstellation als in den Cultural Studies. Hier ging es weniger um die
Formierung eines topographischen Dispositivs im theoretischen Diskurs als
um die Rekonzeptualisierung des Raums und seiner (Be-)Deutung. Dabei liegt
die Betonung der topographischen Wende auf >graphisch(.Spielte der Rauin in
der europäischen Philosophegeschichte (von Euklid bis Kant) immer schon
eine eminente Rolle für die Formulierung wahrnehmungs- und erkenntnis-
theoretischer Postulate, so wurde der Raum im 20. Jahrhundert auch für die
Kulturtheorie'(wieder) relevant - sowohl in den Kulturtheorien der Moderne
wie auch in der jüngsten kultunvissenschaftlichen Reformuiierung geisteswis-
senschaftlicher Perspektiven, die nicht zuletzt zu einer Renaissance jener Kul-
turtheorien gefuhrt hat. Für diese stellt der Raum einen gemeinsamen Flucht-
I punkt dar fur die philosophische (z. B. Cassirer), soziologische (z. B. Simmel)
/ und anthropologische (z. B. Spengler) Analyse kultureller Konfigurationen.
Gegenüber den Raumkonzepten der ersten Jahrhunderthälfte jedoch wurde
zum Ende des Jahrhunderts die Bedeutung von Räumen radikal reformuliert:
als Signatur materieller und symbolischer Praktiken. Dafür stehen nicht nur
Michel Foucault »Heterotopien«, die verräumlichte Bilder als Konstellationen
analysieren, denen eine strukturelle Spaltung inhärent ist." Dafür steht auch
O'Ebd., S. 3 17.
'IVgl. Michel Foucault, Andere Räume [Des Espaces autres; Vortrag von 1967). In:
 160 Sigrid Weigel
Marc Auges Auseinandersetzung mit der ))Idee der Kultur als Textcc und der
»Idee der lokalisierten Gesellschaft« in seiner Studie Non-Lieux, wo er die im-
plizite Fortschreibung des ethnologischen Modells anthropologisch konzipier-
ter Räume im jüngeren Kulturalismus kritisiert, in der eine Gesellschaft mit
deren lokalisierbarer, homogener Kultur gleichgesetzt wird.32 Dazu gehören
vor allem aber die bereits erwähnten Arts de faire von Michel de Certeau." Der
Raum ist hier nicht mehr Ursache oder Grund, von der oder dem die Ereignisse
oder deren Erzählung ihren Ausgang nehmen, er wird vielmehr selbst als eine
Art Text betrachtet, dessen Zeichen oder Spuren semiotisch, grammatologisch
oder archäologisch zu entziffern sind. Dieser graphische turn im Raumdiskurs
zeigt sich sehr deutlich, wenn man dekonstruktive und postmoderne Topogra-
phien mit einem Klassiker zur Kulturgeschichte eines europäischen Raums
kontrastiert.
Fernand Braudel hat sich in seiner Historiographie des Mittelmeerraums
methodisch die Aufgabe gestellt, die »Beziehungen zwischen Geschichte und
Raum darzustellen«.34 Braudels Arbeit wurde 1949 erstveröffentlicht und
1963 in einer stark überarbeiteten Form wieder aufgelegt (die deutsche Über-
setzung beruht auf dieser zweiten Fassung). Ihre Idee und Entstehung reichen
in die 20er Jahre zurück; sie standen im Kontext von Bemühungen - nicht
nur der Annales-Schule -, kultur- und sozialgeschichtliche Perspektiven in
die Historiographie einzuführen. Braudels Buch liefert aber weniger eine Ge-
schichte des Raums als eine Ableitung von sozialen Phänomenen und histo-
rischen Ereignissen aus den als natürlich erscheinenden Gegebenheiten des
liaums. Die dreiteilige Konzeption der Darstellung folgt drei Zeitebenen, die
hinsichtlich ihres Rhythmus unterschieden werden: (1) die »gleichsam unbe-
wegte Geschichte«, die auch als ))la plus longue durke« bezeichnet wird und
geographische Bedingungen betrifft, (2) die Geschichte »langsamer Rhyth-
men((, die auch als »soziale Geschichte der Gruppen und Gruppierungen«
bezeichnet wird und vor allem infrastrukturelle und ökonomische Daten ver-
sainmclt, und ( 3 ) die ))ruhelos wogende Oberfläche« der Ereignisgeschichte,
die sich vornehmlich als Geschichte von Kriegen darstellt.35
In dieser Komposition bilden Raum und Zeit gleichsam ein Kontinuum,
- -
Karlheinz Barck U.a. (Hg.),Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer an-
deren Ästhetik. Leipzig 1990, S. 34-46. Zwar stehen in der Rezeption der )Heterotopien(
eher die - oft als Pathosformel zitierten - anderen oder ausgeschlossenen Räume im
Vordergrund, doch geht es im Text grundsätzlicher u m die Analyse räumlicher Inszenie-
rungen von Vorstcllungeii mit nicht-genuin räumlicher Bedeutung, die a m Beispiel der
Spicgel~~ene exemplarisch entwickelt wird.
! " Marc Auge, Non-Lieux. Introduction a u n e anthropologie de la surmodernite. Paris
\: 1992; tingl.: Non-Places. Introduction LO an Anthropology of Supermodernity. Ubers. V.
J o h n Howc. London 1995; dt.: Orte und Nicht-Orte. Vorüberlegungen zu einer Ethnolo-
gie der Einsanikeit. Übers. V.Michael Bischoff. FrankfurtlM. 1994, S. 61 ff.
"Siehe Anni. I I.
"'Rraudel (Anm. 16), Bd. 1, S. 15.
'5 Ebd., S. 20.
Zum >topographicalturn( 161
in dem die Zeit in dem Maße zunimmt, wie der Raum zUrbCktritt.3h M,,
könnte auch sagen, dass in Braudels Mittelmeergeschichte die Zeit gleichsam
aus dem Raum heraus wächst. Oder auch: Am Anfang war der Raum. Dieser
ist bei Braudel Anfang und Ursache anthropologischer G~setzmäßigk~iten
oder Regeln, die abgeleitet werden aus einer Typologie unterschiedlicher
Landschaften - Berge, Hochebenen, Ebenen etc. -, die zusammen eine ))Ge-
samtkartographie« des Mittelmeerraumes bilden. Hiervon ausgehend folgt
Braudels Darstellung dem Motiv einer zunehmenden Vereinheitlichung die-
ses heterogenen Raums in der Geschichte: zunächst durch ein gemeinsames
Klima, dann durch die Verkehrswege - und schließlich mit Hilfe einer Durch-
schnittsrechnung. Während der zweite Teil die Entwicklung von Verkehr, Ver-
waltung, Post-, Geldwesen etc. als Kampf gegen den Raum darstellt, der hier
als »Feind Nummer eins« tituliert wird, da er den sozialen und kulturellen
Tätigkeiten durch seine Trägheit Widerstand entgegenstelle,': werden die de-
taillierten Recherchen über die Nachrichten- und Geldzirkulation (die Brau-
del unter das schöne Motto stellt: »dem Jahrhunderts das Maß zu nehmen«)
durch die Perspektive zunehmender Vereinheitlichung und Modellbildung
auf ein mittleres Maß hin nivelliert: die Verwandlung der heterogenen Räume
in einen homogenen Raum )Europac als Effekt einer Durchschnittsberech-
nung nach dem Muster der volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung. Dabei ist
auffällig, dass der Name )Europa( bei Braudel genau an diesem Übergang voii
heterogenen Räumen zum homogenen Raum auftaucht, als Name einer idea-
len Einheit, die im Spannungsverhältnis zum Mittelmeer steht.3R
Auch die Einführung des Kulturbegriffs steht im Kontext des Raum-Zeit-
kontinuums. Die Abgrenzung der )Kultur( gegenüber der )Gesellschaft( ge-
schieht in Anlehnung an das Rhythmusmodell: die Kultur wird durch Bestän-
digkeit und Beharrungsvermögen, Langsamkeit und Dauerhaftigkeit gekenn-
zeichnet - Eigenschaften, die durch eine sogenaiinte Raumhaftung des
Kulturellen und durch die Religion als sein Movens erklärt werden. Die Ab-
grenzung, die Braudel hier vornimmt, liege sich schematisch zusammenfas-
sen in der F o h e l : Gesellschaft = Kultur - (Religion + »Bodenständigkeit«).
In diesem Kontext taucht auch der Begriff des ,Abendlandes( auf, in bekann-
ter Opposition zum )Morgenland<.Den Fluchtpunkt des zweiten Teils stellt
der Sieg des Abendlandes dar, als durch die Reconquista herbeigeführte Wie-
derherstellung Europas. Erst im Barock, als der Kultur des christlichen Mit-
telmeerraums, konnte in der Sicht Braudels Europa zu sich selbst kommen."
j6Dies gilt n u r für das Mittelmeerbuch, nicht für Braudels Kulturtheorie überhaupt.
Vgl. dagegen etwa: Ferdinand Braudel, Die Kulturgeschichte: Die Vergangenheit erklärt
die Gegenwart. In: Ders., Schriften zur Geschichte. Bd. 1: Gesellschaften und Zeitstruk-
turen. Ubers. V. Gerda Kurz U.a. Stuttgart 1992.
" Ebd., Bd. 2, S. 37.
I8Ebd., Bd. I, S. 269 f.
j9Fernand Braudel, Schriften zur Geschichte. Bd. 2: Menschen und Zeitalter. Ubers. V.
Jochen Grube U.a.. Stuttgart 1993, S. 637.
 162 Sigrid Weigel
In genauer Umkehr zum Gründungsmythos, der den Raub der Europa vom
fremden Kontinent erzählt, ist es hier Europa, das die iberische Halbinsel
erobert und damit seinen Sieg in Gestalt einer Kultur christlicher Einheit
realisiert. Die vom Raum ausgehende Geschichte stellt sich also als fortschrei-
tende Vereinheitlichung dar, die sich über die Stufen Klima, Verkehrswege,
den Namen Europas als Einheitszeichen und schließlich den Sieg des Chris-
tentums vollzieht.
Die kulturgeschichtliche Bedeutung des Raums teilt Braudel mit etlichen
Zeitgenossen, wenn auch in sehr unterschiedlichen Ausformungen. Erinnert
sei nur an Carl Schmitts ))weltgeschichtlicheBetrachtung« Land und Meer,40
die die Geschichte Europas unter das Motto ~ l Mer a contre la Terre« stellt und
als Kampf zwischen den Landwesen bzw. nLandtreterncc u n d den »Seeschäu-
mern(c erzählt. Aufgebrochen wurden derart duale Topographien dagegen in
zeitgenössischen Kulturtheorien, die den Raum in die triadische Konstella-
tion von Raum, Zeit und Zahl setzten, so z. B. in Spenglers Morpllologie der
~Vcltscsc-hichte4'- hier steht die Zahl am Anfang - oder, ganz anders, in den
))Grundzügen einer Formenlehre des Mythos - Raum, Zeit und Zahl« in Cas-
sirers Pl~ilosophieder symbolische~iFormen," die die Raumreflexionen der
Philosophie im Lichte der zeitgenössischen physikalischen und mathemati-
schen Erkenntnistheorie reformuliert. Aufgebrochen wurden derart homoge-
ne Kulturmodelle des Raums aber auch durch soziologische und politikwis-
senschaftliche Perspektiven. So z. B. in Georg Simmels Analyse zur »Sprache
des Raums(<und zu den Grundqualitäten der Raumform (wie Ausschließlich-
keit, Begrenzung, Fixierung, Nähe und Distanz, Bewegung), die für die unter-
schiedliche Gestaltung von Gemeinschaften relevant sind und im Hinblick
auf besondere Raumkonfigurationen beleuchtet werden." Hier wird der Zwi-
schenraum, als Raum zwischen den Menschen, ebenso bedeutsam wie etwa
in klannah Arndts Uberlegungen zum Begriff des Politischen: )>DerMensch
ist a-politisch. Politik entsteht in dem Zwischen-den-Menschen, also durch-
aus außerhalb des Menschen«. Und: »Politik handelt von dem Zusammen-
und Miteinander-Sein der Verschiedenen. Politisch organisieren sich die
Menschen nach bestimmten wesentlichen Gemeinsamkeiten in einem abso-
luten Chaos der I > i f f e r e n ~ e n «Insofern
.~~ also der Zwischenraum in der euro-
päischen Philosophie als O r t für die Konstitution des Sozialen und Politi-
JV<:rl Schmitt, Land und Meer. Eine weltgeschichtliche Betrachtung. Leipzig 1942.
" Oswald Spengler. Der Untergang des Abendlandes. Umrisse einer Morphologie der
LVeltgeschichte. 2 Bde. München 1918 U. 1922.
4 2 Ernst Cassirer, Philosophie der symbolischen Formen. 3 Bde. Berlin 1923, 1925,
1929.
"'Vgl. das Kapitel uber den Raum und die räumlichen Ordnungen der Gesellschaft in
, Georg Simmel, Gesamtausgabe. Hg. V. Otthein Rammstedt. Bd. 11: Soziologie. Untersu-
/' chungen iiber die Formen der Vergesellschaftung [1908].FrankfurtIM. 1992, S. 687-790.
4 W ~ n n a Arendt,
h Was ist Politik? Fragmente aus dem Nachlai,. Hg. V. Ursula Ludz.
München 1993, S. 9 u.1 l F.
Zum >topographicalturn< 163
schen beschrieben wurde, eignet er sich nicht für jene programmatische theo-
riepolitische Besetzung, die er in den Cultural Studies erfahren hat.
5. Philosophie und )technec des topographischen Wissens
Aber der Raum ist in der europäischen Philosophiegeschichte noch in eine
andere, eher kulturtechnische Wissenstradition eingebunden. Denn tatsäch-
lich scheinen Reflexionen über den Zusammenhang von Raum und Zahl dem
Verhältnis von Raum und Zeit vorausgegangen zu sein. In diesem Sinne je-
denfalls erörtert Walter Burkert die Genese des dreidimensionalen Raumkon-
zepts mit Bezug auf Texte von Platon, Aristoteles und Euklid. Dabei erläutert
er z. B. das Ableitungssystem des Aristoteles, in dem zunächst aus den Prin-
zipien Oarchaic) von »Einem« und nunbestimmter Zweiheit(<die Zahlen ge-
wonnen bzw. »gezeugt<(werden, während dann »die Zahlen ihrerseits durch
Bestimmung des Unbestimmten die Dimension des Raumes« zeugen: die
1
zwei die Strecke, die drei die Fläche oder Ebene und die vier schließlich den
Körper. Das heißt »Auf der Stufe vier treffen sich Wahrnehmung und Kör-
p e r w e l t ( ~Vor
. ~ ~diesem Hintergrund, so Burkert, »steht nun der Entwurf eines
!
I
Weltmodells als Raumfigur, als stereometrische bestimmte Gestalt<(." Seine
i Darstellung, die ferner die Entdeckung der Kugelgestalt der Erde und die
$
Konflikte zwischen dem physikalischen Raum (platonischer Kugel-Kosnios)
1
und dem geometrischen Raum (euklidischer) erklärt, läuft auf die These hi-
1
f naus, dass die >techne<dem Erkennen vorausgeht und das räumliche Denken,
das die europäische Philosophie dominiert, als Effekt der räumlichen An-
schauung betrachtet werden muss.
Der Mangel einer Geschichte des Raums, den Burkert am Schluss seines
Beitrags beklagt, besteht wohl weiterhin, auch wenn in der Zwischenzeit eine
Reihe von Entwürfen zu einem solchen Projekt vorliegen. Beispielsweise Mar-
garet W e r t h e i ~ sHistory of Space," in der die virtuellen Räume des Cyber-
space als techno-religiöse Konstruktionen gedeutet werden, die an die Stelle
des christlichen Himmelsraums in der Göttlicher1 Komödie getreten sind. Die
Stationen, die den großen Bogen zwischen diesen beiden Punkten in Wert-
heims )longue durke( europäischer Raumkonstruktionen ausfüllt, sind U. a.
die Zentralperspektive und die »kosmologische Revolution der perspektivi-
schen Malereicc, Newton, Descartes, Kant und schliefllich Einsteins Relativi-
tätstheorie.
45 Walter Burkert, Konstruktion des Raumes und raumlicher Kategorien im griechi-
schen Denken, In: Dagmar Reichert (Hg.),Raumliches Denken. Zurich 1996, S. 57-85,
hier S. 63.
46Ebd.,S. 71.
47MargaretWertheim, The Pearly Gates of Cyberspace. A History of Space from Dante
to the Internet. New York 1999; dt.: Die Himmelstur zum Cyberspace Von Dante zum
Internet. Aus dem Engl. V. Ilse Strasmann. Zurich 2000.
164 Sigrid Weigel
Ohne den Anspruch einer derart umfassenden Historiographie des Raums
hat Franco Farinelli die Zentralperspektive in eine andere Konstellation ge-
stellt. Sein kleiner Beitrag zur Kritik der kartographischen Vernunft, der das
Prospekt für eine riesige Forschungsarbeit enthält, eröffnet faszinierende Per-
spektiven für den engen Zusammenhang von Philosophie und Raumtechni-
ken. Darin diskutiert er die Bedeutung der Wiederentdeckung von Ptolo-
mäus' Gcngrapliin im 15. Jahrhundert für die Erneuerung von Kartographie
und Topographie wie auch für die Entwicklung der linearen Zentralperspek-
tive der Renaissance, und zwar irn Hinblick auf die Entstehung des Begriffs
der )Projektion(:)>Projectioest rei solidae in planum transcriptio« (Projektion
ist die Übertragung fester Dinge auf die Fläche)." Dieses Konzept der Projek-
tion organisiert in Farinellis Beitrag Korrespondenzen zwischen Ptolomäus
und der Zentralperspektive einerseits und zwischen dieser und der Philoso-
phie andererseits:
Alles in allem kann maii hier nun Gerlings apodiktische Aussage ,>Geographieist
nicht Ontologie(<,beruhigt umkehren: Geographie ist echte Ontologie. Doch das
heinerkeii die Geographen nicht, dafür aber die Kiinstler, die die ptolemäische Pro-
jektion in die I'erspcktive übertragen haben. Das heißt, eigentlich bemerkte es auch
ein (;cograph, Imman~ielKant, aber er wird dadurch vom Geographen zum Philo-
~ophe1-i.~"
Kants Theorie der Erkenntnis wird von Farinelli vor dem Hintergrund der
ptolemäischen Form der Beschreibung gedeutet, die eine Kugel auf die Fläche
überträgt. )>Damitbewegte sich Kant von der empirischen Geographie zu
einer Geographie der Vernunft, oder wie er selbst sagte, zu einer Geographie
der )dunklen Räume unseres eigenen Verstandes<~~.'~ Vor diesem Horizont
verweist Farinelli nicht nur auf die zahlreichen Karten- und Landschafts-To-
poi in Kants Schrift. Er stellt zudem das Kantsche a priori der ))reinen An-
~ , es in der Kritik der reinen
schauung, welche den Nainen Rauin f ü h r e t ~wie
Vcriziil!fi heißt, zwar nicht unbedingt auf die Füße, analysiert es aber als spe-
zifisches Verfahren der Anschauung, das der Technik der Projektion ent-
spricht. Dabei bezieht er sich U.a. auf Kants Beschreibung des Gebrauchs der
transzendentalen Ideen, der darin bestehe,
\
den Vcrstand zu einem gewissen Ziele zu richten, in Aussicht auf welches die Rich-
tungslinien aller seiner Kegeln in einem Punkt zusammenlaufen, der ob er zwar nur
eiiic Idee (Jocrrs iinriyirlarius),d. h. ein Punkt ist, aus welchem die Verstandesbegriffe
wirklich nicht ausgehen, indem er ganz außerhalb der Grenzen möglicher Erfahrung
licgt. dennoch dazu dient, ihnen die größte Einheit neben der größten Ausbreitung
zu verschaffen.
Ein Zitat aus: Fraricis Ag~iillon,Opticorum libri sex. Antwerpeii 1613; Franco Fari-
Vori dcr Natur der Moderne. Eine Kritik der kartographischen Vernunft. In: Rei-
iielli,
chcrt (Anin. 45),S. 267-301, hier S. 269.
." Ehd., S . 775.
50 Ehd., S. 280.
Zum )topographicalt u r n < 165
Dazu Farinelli: »ist es zuweit hergeholt, in jenem focils imaginarius den pto-
lomäischen Punkt G zu sehen und in den ,Richtungslinienc die Achsen, die
aus ihm entspringen?« Und nachdem er noch Kants Erklärung, dass die ))sys-
tematische Einheit (als bloße Idee) lediglich nur projektierte Einheit(( sei, zi-
tiert hat, beantwortet Farinelli seine Frage selbst mit der These: »Der ptolo-
mäische Punkt G ist nichts anderes als die reine Vernunft, und Kants erste
Kritik die kartographische Beschreibung der Projektion((."
Farinellis Kritik der kartographischen Vernunft behauptet mit dieser Ant-
wort die kartographische Technik als eine Voraussetzung philosophischer An-
s c h a u ~ n g Damit
. ~ ~ entwirft er Perspektiven für eine kartographische Ge-
schichte europäischen Wissens, die sich jenseits des Gegensatzes von meta-
phorischer Kartographie und )eigentlicher<Geographie bewegt. Hier geht es
I, weder um eine Ableitung von (europäischer) Geschichte aus dem Raum noch
um eine Historiographie europäischer Kaumkonzepte. Europa wird hicr
nicht als territoriale Einheit gesetzt, die die Grenzmarken einer kulturge-
schichtlichen Rekonstruktion vorgibt; auch geht es nicht u m eine Topogra-
A phie theoretischer Figuren. Viel eher lässt sich sein Beitrag als Anleitung lesen
zur Untersuchung der Bedeutung topographischer und kartographischer
Kulturtechniken für die Konstitution von Kulturen, die heute den Namen
)Europa<tragen. Die Differenzen zwischen den Cultural Studies und den Kul-
i! turwissenschaften lassen sich damit nicht einfach auf den Gegensatz zwischen
Politisierung und Historisierung bringen; zu beachten sind auch die theorie-
geschichtlichen und kulturtechnischen Implikationen von Figuren, die oft-
mals denselben Namen zu tragen scheinen.
C
Prof: Dr. Sigrid We~gel,Direktorin des Zentrums fur Literaturforschung (Geistes-
~.issenschaftlicheZentren Berlin), Jagerctr. 1011 1, D- 101 I 7 Berlin;
E-Mail: litera@zfl.gzw-berlin.de
ti
Ebd., S. 282.
52Bev~r er seine Kant-These ausführt, vollzieht Farinelli aber noch einen Umweg über
Hobbes, der sein Konzept klarer Worte und ihrer eindeutigen Beziehung zum Referenten
(im Gegensatz zum metaphorischen Gebrauch) als eine Beziehung beschreibt, wie Dinge
sie nur in der kartographischen Darstellung bzw. im geometrischen Bild erreichen. Dass
Hobbes seine Abgrenzung gegenüber der Metapher gerade mithilfe eines Vergleichs ent-
wickelt, entgeht nun wiederum dem Geographen Faririelli. Uberzeugender ist seine Lek-
türe des Frontispiz im Leviathan, das er als Figur einer Projektion deutet, in der der Punkt
G,der Ursprung der Projektion und so der Welt, mit der Spitze der Krone zusammenfällt,
die das Gewaltmonopol symboIisiert.