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Manuskript

radioWissen

Herrlichkeit und Katzenjammer – Die Epoche der Romantik

Autor: Peter von Matt


Redaktion: Petra Herrmann

SPRECHER:
„Romantisch“ – „Mein Gott, bist du romantisch!“ – „Das ist mir zu romantisch!“ – „Glotzt
nicht so romantisch!“ … Ist das Wort „romantisch“, das wir alle gebrauchen, eigentlich ein
Schimpfwort? Zu dieser Überzeugung könnte man gelegentlich kommen. Oder ist es uns
möglich, in ganz alltäglichen Situationen „romantisch“ als eindeutig positives Wort zu
verwenden? Könnten wir zum Beispiel sagen: „Du hast eine großartig romantische
Einstellung“?

Geradezu ein Schimpfwort ist „romantisch“ zwar nicht, aber fast immer, wenn wir das
Wort fallen lassen, ist ein Vorwurf damit verbunden. Das ist merkwürdig. Denn
gleichzeitig zweifelt niemand daran, dass die Romantik eine der größten Epochen
deutscher Dichtung, deutscher Malerei und Musik war. Die Lieder Schuberts und
Schumanns, in denen sich die romantische Lyrik mit der romantischen Musik einzigartig
verschwistert, erklingen noch immer in den Konzertsälen der ganzen Welt. Woher also
dieser Vorwurf? Woher unsere spontanen Vorbehalte gegenüber dem Wort und seiner
Bedeutung? Sind wir uns überhaupt klar über seinen genauen Sinn? Um den genauen
Sinn eines Wortes zu gewinnen, muss man nach seinem Gegenteil fragen. Und das
Gegenteil zu „romantisch“ ist zweifellos „realistisch“, „sachlich“, „vernünftig“,
„wirklichkeitsnah“.

Das gibt schon einigen Aufschluss. Jener Vorwurf meint offenbar nicht einfach eine
besondere Gefühlsseligkeit, sondern eine grundsätzlich falsche Einstellung zur Welt, zur
Realität und Wirklichkeit. Das ist es, was wir jedes Mal unterstellen, wenn wir das Wort
„romantisch“ mit Spott und Ironie gebrauchen. Nun verhält es sich tatsächlich so, dass
die Romantik im historischen Sinn, die Romantik als das Denken und die Kunst einer
ganzen Epoche, begriffen werden muss als eine Grundhaltung gegenüber der Welt, der
Realität und Wirklichkeit. Ob sie falsch ist, können wir erst sagen, wenn wir mehr darüber
wissen. Merkwürdig ist, dass der Spott über das Romantische schon in der Romantik
selbst begonnen hat. So dichtet Heinrich Heine:

HEINE:
Das Fräulein stand am Meere
Und seufzte lang und bang,
Es rührte sie so sehre
Der Sonnenuntergang.
Mein Fräulein! sein sie munter,
Das ist ein altes Stück;
Hier vorne geht sie unter
Und kehrt von hinten zurück.

SPRECHER:
Darin steckt genau jener Vorwurf einer unangemessenen, verqueren, falschen Einstellung
zur Wirklichkeit von Natur und Welt. Das Gedicht verspottet die Frau, die am Meer steht
und auf die untergehende Sonne schaut, weil sie, wie das Gedicht nahelegt, Dinge sieht
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und empfindet, die es gar nicht gibt. Gibt es sie wirklich nicht? Ist diese Frau wirklich so
lächerlich? Ein Mensch steht ruhig da und schaut zum Horizont, dorthin, wo der Himmel
die Erde berührt – wenn wir die Literatur der romantischen Epoche überblicken, fällt auf,
dass genau diese Situation so häufig und in so vielen Variationen wiederkehrt, dass sie
als urbildlich für die romantische Kunst überhaupt gelten darf. Das kann ein Ort am Meer
sein oder auf einem hohen Berg, auf dem Turm eines Schlosses oder ganz einfach am
Fenster einer bürgerlichen Wohnung. Beim gleichen Heine, der so schnöde spotten kann,
beginnt ein anderes Gedicht folgendermaßen:

HEINE:
Das Meer erglänzte weit hinaus,
Im letzten Abendscheine;
Wir saßen am einsamen Fischerhaus,
Wir saßen stumm und alleine.
Der Nebel stieg, das Wasser schwoll,
Die Möwe flog hin und wieder;
Aus deinen Augen, liebevoll,
Fielen die Tränen nieder.

SPRECHER:
Das ist ganz und gar ernst. Hier löst der Blick auf den Horizont, auf das wunderbare
Leuchten dort, wo der Himmel die Erde berührt, die tiefsten Gefühle der menschlichen
Seele aus.
Franz Schubert hat dieses Erlebnis in Musik verwandelt, als er Heines Verse vertonte. Bei
einem andern Romantiker, bei Joseph von Eichendorff, ist das, was Schuberts Musik
ausdrückt, wieder reines Gedicht, ein Ereignis und Erlebnis in Versen: Einer steht am
Fenster und horcht in die Dunkelheit hinaus. Er sieht nur die Sterne und die unmessbare
Weite der Nacht. Aber er hört Laute, Töne, Klänge. Ein Posthorn ist zu vernehmen.
Jemand reist offenbar in die Ferne. Und zwei Wanderer, junge Stimmen, singen
irgendwo. Sie singen von einer wilden Natur, von Wäldern und Schluchten und dann von
einem magischen Italien mit wuchernden Gärten, Palästen und rauschenden Brunnen.
Und das scheint den Mann am Fenster mitreißen zu wollen – aus seinem Haus, in die
Ferne, in die unendliche Nacht.

EICHENDORFF:
Es schienen so golden die Sterne,
Am Fenster ich einsam stand
Und hörte aus weiter Ferne
Ein Posthorn im stillen Land.
Das Herz mir im Leib entbrennte,
Da hab ich mir heimlich gedacht:
Ach, wer da mitreisen könnte
In der prächtigen Sommernacht!
Zwei junge Gesellen gingen
Vorüber am Bergeshang,
Ich hörte im Wandern sie singen
Die stille Gegend entlang:
Von schwindelnden Felsenschlüften,
Wo die Wälder rauschen so sacht,
Von Quellen, die von den Klüften
Sich stürzen in die Waldesnacht.
Sie sangen von Marmorbildern,
Von Gärten, die überm Gestein
In dämmernden Lauben verwildern,
Palästen im Mondenschein,
Wo die Mädchen am Fenster lauschen,
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Wann der Lauten Klang erwacht


Und die Brunnen verschlafen rauschen
In der prächtigen Sommernacht. –

SPRECHER:
So ist es immer wieder in der Kunst der Romantik. Einer steht da und horcht und schaut
in die Ferne. Diese Ferne ist eine Unendlichkeit. Es ist die Unendlichkeit des Meeres oder
der Nacht oder endlose Wälder. Und alles, was zählt, ist für ihn dort. Das Hier gilt nichts,
das Dort gilt alles. Hier ist er und dort möchte er sein. Die Situation am Fenster – für uns
etwas ganz Gewöhnliches – ist für die romantische Erfahrung zum Zerreißen gespannt.
Die Bewegungslosigkeit dessen, der da steht und horcht und schaut, ist die Ruhe eines
Pfeils, der auf dem Bogen liegt und hinter dem die gezogene Sehne zittert.
Der größte deutsche Maler jener Zeit, Caspar David Friedrich, hat seine Bilder noch und
noch so aufgebaut, dass im Vordergrund zwei, drei Menschen dastehen oder sitzen, oft
nur einer allein; sie wenden uns den Rücken zu und blicken in die Ferne; und diese Ferne
besteht nur aus Licht, einem unvergleichlichen Licht, wie es vor und nach diesem Maler
niemand zu malen vermochte. Dennoch ist der Sinn und Inhalt dieser Bilder nicht das
wunderbare Licht als solches. Das Licht markiert den Rand unserer Welt, und zwar so,
dass ich plötzlich weiß: Dahinter ist noch etwas, etwas ganz anderes; dahinter erst ist
das, worauf es ankommt.

Wenn „romantisch“ eine Grundhaltung zur Welt meint, wie anfangs gesagt wurde, dann
wissen wir jetzt etwas mehr davon. Es ist nicht eine Grundhaltung, die sich in vagen
Gefühlen verliert, sondern eine, der die ganze sichtbare, greifbare, unmittelbar
vorhandene Welt als unwesentlich erscheint. Das Wesentliche ist immer hinter dem
Horizont. Das Wesentliche ist immer hinter dem Sichtbaren. Alles, was mich als
selbstverständliche Wirklichkeit umgibt, ist nur Schein und vordergründig und vorläufig.
Da ist noch eine zweite Welt, und auf die allein kommt es an. Und nun gibt es Menschen,
die das wissen, und Menschen, die es nicht wissen. Es gibt Menschen, die sehen durch
die vordergründige Welt hindurch, und Menschen, die sehen nur diese allein. Es kommt
auf die Augen an. Genauer noch: Es kommt auf das zweite Augenpaar an, das im
Menschen angelegt ist und eines Tages zu sehen und zu erkennen beginnt. Dieses zweite
Augenpaar sieht durch die vordergründige Welt hindurch auf die andere Wirklichkeit, die
dahinter ist. Wem es nie gelingt, dieses zweite Augenpaar in sich zu erwecken, der bleibt
blind, auch wenn er alle Dinge um sich herum so scharf sieht wie ein Raubvogel.
Einer der ersten und kühnsten Romantiker, Novalis, hat in seiner berühmtesten Dichtung,
den „Hymnen an die Nacht“, beschrieben, wie diese andern Augen in uns sich öffnen. So
wie das erste Augenpaar zum Sehen und Erkennen das Sonnenlicht braucht, sagt er,
braucht das zweite Augenpaar ein anderes Licht; ein Gegenlicht. Das andere Licht ist die
Nacht. Die Nacht, in der das Sonnenlicht verschwunden ist und mit ihm alles Sichtbare –
diese Nacht erst macht uns wahrhaft sehend. Die „Hymnen an die Nacht“ beginnen
jedoch mit einem Preislied auf das Licht der Sonne und des Tages:

NOVALIS:
Welcher Lebendige, Sinnbegabte, liebt nicht vor allen Wundererscheinungen des
verbreiteten Raums um ihn das allerfreundliche Licht – mit seinen Farben, seinen
Strahlen und Wogen; seiner milden Allgegenwart, als weckender Tag. Wie des Lebens
innerste Seele atmet es der rastlosen Gestirne Riesenwelt und schwimmt tanzend in
seiner blauen Flut – atmet es der funkelnde, ewigruhende Stein, die sinnige, saugende
Pflanze und das wilde, brennende, vielgestaltete Tier – vor allen aber der herrliche
Fremdling mit den sinnvollen Augen, dem schwebenden Gange, und den
zartgeschlossenen, tonreichen Lippen. Wie ein König der irdischen Natur ruft es jede
Kraft zu zahllosen Verwandlungen, knüpft und löst unendliche Bündnisse, hängt sein
himmlisches Bild jedem irdischen Wesen um. – Seine Gegenwart allein offenbart die
Wunderherrlichkeit der Reiche der Welt.
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SPRECHER:
Und dann kommt die Umkehr. So schön, so herrlich das alles ist: Erst das andere Licht,
das schwarze Licht der Nacht, führt mich der Wahrheit zu, öffnet die Augen in mir, auf
die es ankommt. Zunächst ist das allerdings ein beklemmender Vorgang: Das Dunkel
sucht die Seele heim, und gespensterhaft nahen sich Träume und Erinnerungen:

NOVALIS:
Abwärts wend ich mich zu der heiligen, unaussprechlichen, geheimnisvollen Nacht.
Fernab liegt die Welt – in eine tiefe Gruft versenkt –, wüst und einsam ist ihre Stelle. In
den Saiten der Brust weht tiefe Wehmut. In Tautropfen will ich hinuntersinken und mit
der Asche mich vermischen. – Fernen der Erinnerung, Wünsche der Jugend, der Kindheit
Träume, des ganzen langen Lebens kurze Freuden und vergebliche Hoffnungen kommen
in grauen Kleidern, wie Abendnebel nach der Sonne Untergang. In andern Räumen
schlug die lustigen Gezelte das Licht auf. Sollte es nie zu seinen Kindern wiederkommen,
die mit der Unschuld Glauben seiner harren?

SPRECHER:
Doch dann verwandelt sich die Beklemmung in einen wunderbaren Zustand. Es ist, als
könnte die Seele Flügel entfalten und durch unendliche Räume fliegen. Die Nacht wird zur
Mutter, der jungen schönen Mutter, die sich einst über uns beugte, als wir klein waren.
Und auf einmal erscheint das Licht des Tages arm und kindisch – so groß ist das Glück,
das die Seele jetzt erfährt. Und in diesem Moment gehen die inneren Augen ganz auf,
das zweite Augenpaar ist erwacht und sieht und erkennt.

NOVALIS:
Was quillt auf einmal so ahnungsvoll unterm Herzen und verschluckt der Wehmut weiche
Luft? Hast auch du ein Gefallen an uns, dunkle Macht? Was hältst du unter deinem
Mantel, das mir unsichtbar kräftig an die Seele geht? Köstlicher Balsam träuft aus deiner
Hand, aus dem Bündel Mohn. Die schweren Flügel des Gemüts hebst du empor. Dunkel
und unaussprechlich fühlen wir uns bewegt – ein ernstes Antlitz seh ich froh erschrocken,
das sanft und andachtsvoll sich zu mir neigt und unter unendlich verschlungenen Locken
der Mutter liebe Jugend zeigt. Wie arm und kindisch dünkt mir das Licht nun – wie
erfreulich und gesegnet des Tages Abschied. Also nur darum, weil die Nacht dir abwendig
macht die Dienenden, säetest du in des Raumes Weiten die leuchtenden Kugeln, zu
verkünden deine Allmacht – deine Wiederkehr – in den Zeiten deiner Entfernung.
Himmlischer als jene blitzenden Sterne dünken uns die unendlichen Augen, die die Nacht
in uns geöffnet.

SPRECHER:
Das ist der entscheidende Satz: „ die unendlichen Augen, die die Nacht in uns geöffnet
…“ Von jetzt an gibt es das Wissen um die zweite Welt, gibt es eine leibhaftige Erfahrung
dieser zweiten Welt, aber auch den wilden Drang, ihr näher zu kommen. Und es beginnt,
was man die romantische Suche nennen könnte oder den romantischen Weg. Das
Eichendorff-Gedicht von dem Mann, der am Fenster steht und die zwei jungen Gesellen
hört, die von einem fernen Italien singen, dem sie entgegenwandern in dieser Nacht –
dieses Gedicht wird nun verständlicher. Es beschwört den Moment, in dem sich die innern
Augen öffnen und die Vision der andern Welt aufsteigt – und mit dieser Vision das
brennende Bedürfnis, selbst dorthin zu gelangen. Deshalb trägt das Gedicht als Titel ein
Wort, das in der deutschen Sprache wie kein anderes mit der Epoche der Romantik
verknüpft ist: „Sehnsucht“. Es ist äußerst wichtig, dieses Wort von Anfang an in seinem
ganz genauen Sinn zu erfassen. „Sehnsucht“, wenn Novalis das Wort gebraucht oder
Brentano oder Eichendorff, „Sehnsucht“ meint nicht eine unbestimmte sentimentale
Regung; es meint den plötzlichen reißenden Wunsch, sich der wirklichen und
wahrhaftigen Welt anzunähern und auszubrechen aus allem, was mich umgibt.
Auszubrechen aus der ganzen langweiligen Gewöhnlichkeit, in der all die Leute stecken,
die das zweite Augenpaar nicht besitzen und keine Ahnung haben von dem, worauf es
doch allein ankommt.
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Daraus ergibt sich nun zweierlei: erstens, dass er romantische Mensch nicht nur ein Ziel,
sondern auch einen Weg vor sich hat, und auf diesem Weg kann allerlei passieren,
Dramatisches, Gefährliches, Herrliches und Komisches; und zweitens, dass die
Gesellschaft von jetzt an scharf unterteilt ist in jene, die auf diesem Weg sind oder doch
etwas davon wissen, und die vielen andern, die Ahnungslosen, die stumpfsinnigen
Spießbürger und Philister, denen noch nie etwas gedämmert hat von einer zweiten,
höheren Welt.

Zwischen den beiden Gruppen herrscht Krieg und Streit und unerbittliche Gegnerschaft.
Die romantische Literatur ist in ihren Liedern, Balladen und Erzählungen von beidem
zutiefst geprägt: vom Weg des Helden zu seinem herrlichen Ziel und vom Streit gegen
die Philister. Wie kann Eichendorff, dieser fromme, liebenswürdige Dichter, loslegen,
wenn es gegen die Spießer und Philister geht, für welche die Kunst und sogar die Liebe
nichts anders ist als ein Gegenstück des Marktes und des Geschäfts. Dieser
abscheulichen Welt des Alltags stellt er das Reich des Romantikers gegenüber, und das
ist in diesem Fall der Wald, der wilde, rauschende Wald. Und der Dichter denkt sich
selbst als Räuber und Wegelagerer, der aus diesem Wald herausbricht und den Philistern
die schöne Frau entreißt, die sie auf dem Markt verkaufen wollen. Er nimmt sie mit in
sein verwunschenes Reich, wo sie dann in der Nacht von hohen Felsen herunter
Zauberlieder singt.

EICHENDORFF:
Der Wegelagerer
Es ist ein Land, wo die Philister thronen,
Die Krämer fahren und das Grün verstauben,
Die Liebe selber altklug feilscht mit Hauben –
Herr Gott, wie lang willst du die Brut verschonen!
Es ist ein Wald, der rauscht mit grünen Kronen,
Wo frei die Adler horsten, und die Tauben
Unschuldig girren in den kühlen Lauben,
Die noch kein Fuß betrat – dort will ich wohnen!
Dort will ich nächtlich auf die Krämer lauern
Und kühn zerhaun der armen Schönheit Bande,
Die sie als niedre Magd zu Markte führen.
Hoch soll sie stehn auf grünen Felsenmauern,
Dass mahnend über alle stillen Lande
Die Lüfte nachts ihr Zauberlied verführen.

SPRECHER:
Es ist das „Land, wo die Philister thronen“, diese Welt der Spießbürger, der vernagelten
Seelen, wo in den Erzählungen E. T. A. Hoffmanns immer wieder der Weg des Helden
beginnt, eines jungen Menschen, der eines Tages aufwacht, seine inneren Augen
aufschlägt und nun mühsam und von vielen Gefahren bedroht dem Ziel nachzustreben
beginnt, das ganz unbestimmt vor seiner Seele dämmert. In den Gedichten der
Romantiker erscheint dieser Weg natürlich verkürzt: Auf die erwachende Sehnsucht –
„Sehnsucht“ nun also in dem beschriebenen Sinn – folgt der Aufbruch zur großen Fahrt in
die Wildnis, in die Wälder, in die Ferne, nach Italien oder zu irgendeinem fantastischen
Inselreich. In diesen Ablauf verdichtet Eichendorff immer wieder den romantischen Weg.
Dass aber schon die erwachende Sehnsucht nicht ganz ungefährlich ist, zeigt sein
Gedicht „Lockung“. Äußerlich führt es nichts anderes vor als diesen Moment vor dem
romantischen Aufbruch. Und wenn es auch in jeder Zeile wunderbar tönt und klingt, sind
doch seltsame Zwischentöne zu vernehmen, die auf eine unheimliche Dimension dieses
Vorgangs verweisen. Die Nixen zum Beispiel, die Wasserfrauen, die da am Schluss
auftauchen, sind sie nur schöne Spielgefährtinnen? Führen sie den erwachten und
erweckten jungen Mann zu seinem Ziel? Oder sind sie Verführerinnen, die ihn davon
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abbringen und ins Unheil stürzen? So zweideutig wie der Titel „Lockung“ ist das ganze
Gedicht:

EICHENDORFF:
Hörst du nicht die Bäume rauschen
Draußen durch die stille Rund?
Lockt’s dich nicht, hinabzulauschen
Von dem Söller in den Grund,
Wo die vielen Bäche gehen
Wunderbar im Mondenschein
Und die stillen Schlösser sehen
In den Fluss vom hohen Stein?
Kennst du noch die irren Lieder
Aus der alten, schönen Zeit?
Sie erwachen alle wieder
Nachts in Waldeseinsamkeit,
Wenn die Bäume träumend lauschen
Und der Flieder duftet schwül
Und im Fluss die Nixen rauschen –
Komm herab, hier ist’s so kühl.

SPRECHER:
An diese Zusammenhänge müssen wir denken, wenn uns eine so altvertraute, fröhliche
Erzählung wieder begegnet wie die vom „Taugenichts“. Auch hinter ihrer vordergründigen
Gemütlichkeit steckt verborgen jene reißende Kraft des romantischen Aufbruchs. Und
wenn der Taugenichts in der zweiten Strophe seines Wanderlieds jener Leute gedenkt,
die zu träge sind, um sich von Haus und Broterwerb loszureißen, dann steckt darin
unverkennbar etwas von dem bösen romantischen Gericht über die Spießer und Philister:

EICHENDORFF:
Ich ging in das Haus hinein und holte meine Geige, die ich recht artig spielte, von der
Wand, mein Vater gab mir noch einige Groschen Geld mit auf den Weg, und so
schlenderte ich durch das lange Dorf hinaus. Ich hatte recht meine heimliche Freude, als
ich da alle meine alten Bekannten und Kameraden rechts und links, wie gestern und
vorgestern und immerdar, zur Arbeit hinausziehen, graben und pflügen sah, während ich
so in die freie Welt hinausstrich. Ich rief den armen Leuten nach allen Seiten recht stolz
und zufrieden Adjes zu, aber es kümmerte sich eben keiner sehr darum. Mir war es wie
ein ewiger Sonntag im Gemüte. Und als ich endlich ins freie Feld hinauskam, da nahm ich
meine liebe Geige vor und spielte und sang, auf der Landstraße fortgehend:
„Wem Gott will rechte Gunst erweisen,
Den schickt er in die weite Welt,
Dem will er seine Wunder weisen
In Berg und Wald und Strom und Feld.
Die Trägen, die zu Hause liegen,
Erquicket nicht das Morgenrot,
Sie wissen nur vom Kinderwiegen,
Von Sorgen, Last und Not um Brot.“

SPRECHER:
Das romantische Erleben und Erfahren der Welt ist also nicht nur eine bestimmte
Grundhaltung dieser Welt gegenüber, sondern bringt eine Reihe von Situationen und
Handlungselementen mit sich, die in der Literatur zu lyrischen Szenen und dramatischen
Ereignissen aller Art werden können. Da gibt es den Kampf gegen die Krämerseelen der
Philister, es gibt die Verlockung zum Aufbruch, es gibt die begeisterte Fahrt in die Ferne,
und es gibt schließlich auch den Moment, wo das Ziel erreicht ist oder doch erreicht
scheint. In diesen Momenten wird die vordergründige Welt ganz durchsichtig auf die
andere Wirklichkeit hin, und die Seele, die das erlebt, ist hier und dort zugleich, ist wie
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fliegend oder flüssig, wunderbar aufgelöst in einem widerstandlosen, klingenden Zustand.


Diese vollkommenen Augenblicke sind allerdings in der Literatur seltener, als man
erwarten sollte. Das Suchen, das Sehnen, das wilde Wünschen und Von-den-Wünschen-
verzehrt-Werden ist weit häufiger Thema der Gedichte und Geschichten. Aber es gibt ihn,
diesen vollkommenen Augenblick, auch als Ereignis der Dichtung. Und da ist es dann so,
dass man kaum mehr weiß, wovon die Rede ist. Ungeordnet, wild wie wuchernde
Blumen, gehen in diesen Gedichten dann Bilder und Klänge durcheinander; Farben
blühen auf und versinken, Gärten und Wälder, Tiere und Bäume, Flüsse und Quellen,
Berge und Täler, Menschen und Geister – alles schwimmt und strömt durcheinander, und
ich verstehe das Ganze am allerbesten dann, wenn ich gar nichts mehr verstehe. Das
Gedicht und seine Welt sind ein einziges Stück Musik. Keiner konnte das so gut wie
Clemens Brentano: Strophen schreiben, in denen die deutsche Sprache wie aus einem
Traum heraus redet und murmelt. So etwa in seinem „Nachtlied“, das am Schluss dieser
Sendung stehen soll.
Man kann den Klang- und Farbenteppich, den es aufrollt, wunderbar finden oder ärgerlich
unverständlich – beides ist möglich, denn jedes romantische Gedicht will im Grunde, dass
sich an ihm die Geister scheiden. Wie immer man sich dazu stellt, wichtig ist zu wissen,
dass diese hypnotisierende Sprache nur eine Möglichkeit im breiten Spektrum dessen
verkörpert, was die Romantik an dichterischer Gestalt, an Erfahrung von Welt, Natur und
Gesellschaft verwirklicht hat.

BRENTANO:
Nachtlied
Allem Tagewerk sei Frieden!
Keine Axt erschall im Wald!
Alle Farbe ist geschieden,
Und es raget die Gestalt.
Tauberauschte Blumen schließen
Ihrer Kelche süßen Kranz,
Und die schlummertrunknen Wiesen
Wiegen sich in Traumes Glanz.
Wo die wilden Quellen zielen
Nieder von dem Felsenrand,
Ziehn die Hirsche frei und spielen
Freudig in dem blanken Sand;
In der Düfte Schwermut wiegen
Sich die Rosen in den Schlaf
(Das Geheimnis ruht verschwiegen,
Das sie in den Busen traf);
Und es wandeln, die sich lieben,
Flüsternd auf dem sel’gen Pfad,
Wo sie gestern Scherze trieben,
Zu des Meeres Glanzgestad.
Die Sirene stimmet wieder
Ihre gift’gen Lieder an,
Und die Herzen tauchen nieder
In den tiefen, süßen Wahn.
Denn es schied die Sonne wieder
In der ew’gen Flammen Pracht,
Und es hebt die dunkeln Glieder
Abermals die alte Nacht,
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Und die Erde, aufgeriegelt,


Sendet ihren Geist heran;
Um das Haupt schwebt, sternbesiegelt,
Ihm der blaue Weltenplan.
Und des Waldes dunkle Riesen
Drängen sich ums enge Tal,
Und durch ihre Kronen gießen
Sterne geisterhaften Strahl.
Aus der Tiefe aufgewiegelt,
Wachsen stumme Brunnen an;
Drinnen schaun sich, mondumspiegelt,
Die Gedanken traurig an.

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