Nr. 2 4.

Januar 2019 07038 € 3,50

\
\ WOCHE

WOCHE
Das kompakte Nachrichtenmagazin
SHISHA-BARS
Unbekannte
Gefahr
WIRTSCHAFT
Geschäft
mit Singles
THAILAND
Kinder
als Kämpfer

AM
LIMIT
Droht der
Verkehrskollaps?
BeNeLux, Österreich 3,90 €, Schweiz 5,90 sfrs
02

4 190703 803506
Nehmen Sie die digitale
Zukunft selbst in die Hand.
Neu: Frankfurter Allgemeine Digitec –
die Nachrichten-App zu Digitalisierung und Technologie.

Für
F.A .Z .- D ig it a l-
a b o n n e n te n
g ra ti s

Apple, the Apple Logo and iPhone are Trademarks of Apple Inc., reg. in the U. S. and other countries. App Store is a Service mark of Apple Inc.

• Das Neuste zu digitaler Wirtschaft, Industrie 4.0 und Technologie

• Selektion aller relevanten Beiträge aus der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
• Stellt die aktuellen Entwicklungen in einen gesellschaftlichen Kontext
• Als laufend aktualisierte Smartphone-App für Android und iOS
• Jetzt abonnieren für 4,99 €/Monat

F.A.Z. MEHR UNTER FAZDIGITEC.DE

 Inhalt 3

Frankfurter Allgemeine Woche

Ausgabe 2
4. Januar 2019

Meinung
5 Gesprächsstoff
6 Bild der Woche

9 Ein Verlust
Die CDU braucht Politiker
,, Mehr als drei, vier
Ziele sollte man
wie Friedrich Merz.
Titelillustration Jan Bazing

9 Veränderte Machtbalance sich zu Beginn des

Allein Donald Trumps Worte Jahres nicht setzen.

‘‘
schaffen in Syrien eine neue Lage.
Seite 32
Titel Woche-Reporter 10 Kinder im Ring
Am Limit Thailands gefährliche Boxtradition
Auf deutschen
Straßen und Titel 14 Am Limit
Schienen wird es Droht der Verkehrskollaps?
immer enger.
Droht uns der 20 Kluge Karren
Verkehrskollaps Wie Technik Staus verhindern könnte.
– oder kann die
Wende doch Politik 22 Die Kriege der anderen
noch gelingen? Syriens Kurden zwischen Vernichtung
Seite 14 und Unterwerfung
25 Kalter Rauch Zwischen den Fronten
Unbekannte
Gefahr Shisha-Bars boomen – aber über die Der amerikanische Abzug
Gefahren ist kaum etwas bekannt. aus Syrien bringt die
In Deutschland wird Kurden in neue Gefahr.
immer öfter Shisha 27 Auch du, Spanien
Seite 22
geraucht. Vor allem Auf der Iberischen Halbinsel feiern
junge Leute Rechtspopulisten erste Erfolge.
steigen darauf ein.
28 Feuerland
Seite 25
Wie der Klimawandel Malawi
Geschäft verändert.
mit Singles 31 Mächtiger Mentor
Zum Jahreswechsel Wolfgang Schäuble kämpft für
nutzen besonders Parteifreund Merz.
viele die Dienste
von Partnerbörsen. 31 Unterdessen in Leipzig
Seite 40 Krawall zum Jahreswechsel

Kinder als Gesellschaft 32 „Nicht zu hart mit sich selbst sein“

Kämpfer Ein Psychologe über gute Vorsätze und Stimme des Volkes?
Der Tod eines den inneren Schweinehund In Spanien ist die
jungen Kickboxers 34 Auf Hanf gebaut rechtspopulistische Partei
hält Thailand Vox im Aufwind.
Eine Stadt in Kalifornien will mit
in Atem. Seite 27
Drogen aus der Krise kommen.
Fotos AFP, Reuters

Seite 10
35 Spitzen der Gesellschaft
Guter Hoffnung mit Herzogin Meghan

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

4
Inhalt
Frankfurter Allgemeine Woche
Ausgabe 2
4. Januar 2019

Wirtschaft 36 Der Traum von Vollbeschäftigung

Sind bald alle Deutschen in Arbeit?
40 Zu allein
Für Partnerbörsen im Internet könnte
es kaum besser laufen als jetzt.
42 Streit um die Lufthoheit
Europäische und amerikanische
Milliardenauftrag Hersteller ringen um einen Grüne Hoffnung
Um den Ersatz der Auftrag der Bundeswehr. Das kalifornische
Tornado-Flotte ringen Wüstenstädtchen
europäische und 44 Lieferando ist hungrig
Needles will den

,,
amerikanische Der umkämpfte Markt für
Aufschwung schaffen
Rüstungshersteller. Essenslieferanten konsolidiert sich.
– mit Marihuana.
Seite 42 45 Wochengrafik Seite 34
Das Geschäft mit Drohnen boomt.

Geld 46 Rutschgefahr an der Börse

Um Was bei der Kapitalanlage im Jahr 2019
Vollbeschäftigung zu berücksichtigen ist
47 Frag den Mohr
zu erreichen, Lohnt der Kauf von CO2-Zertifikaten?

müsste die Feuilleton 48 Sind wir nicht Menschen?

Arbeitslosenzahl Eine Kurzgeschichte des amerikanischen
Schriftstellers T. C. Boyle
um gut eine 56 Raubkunst Wenn der

‘‘
Hunger kommt
Million sinken. Der Direktor der Florentiner Uffizien
will ein Bild zurück. Der Markt
Seite 36 57 Optimist – Pessimist der Essenslieferanten
ordnet sich neu.
Für fiktive Frauen läuft es rund – was
Es winkt ein
realen Journalisten aber wenig hilft. lukratives Geschäft.
Seite 44
Wissen 58 Was kommt
2019 wird ein großes Jahr für
Wissenschaft und Technik.
62 Gut zu wissen
Schwächelnde Nasen, sorgenvolle Briten
und faszinierende Himmelskörper Woche-Newsletter
Sie wollen schon
Sport 64 Die zweite Chance
am Donnerstag wissen,
T. C. Boyle Bei der Handball-WM ruhen viele was am Freitag
In der Geschichte „Sind Blicke auf dem Bundestrainer. im Heft steht? Dann
wir nicht Menschen?“ 66 Das war’s abonnieren Sie unseren
treiben transgene Newsletter unter
Haustiere ihr Unwesen. Greser & Lenz
www.fazwoche.de/
Seite 48 63 Impressum newsletter

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019


Amberg und Bottrop
Mehr Schutz
vor Gewalt
gefordert
Gewaltexzesse um die Silvesternacht haben
Polizei und Politiker alarmiert und mögliche
Gesetzeslücken offenbar werden lassen. Im
bayerischen Amberg hatte Ende Dezember
eine Gruppe junger Asylbewerber aus Syrien,
Iran und Afghanistan wahllos Passanten an-
gegriffen und dabei mindestens zwölf Perso-
nen verletzt. Bundesinnenminister Horst See-
hofer (CSU) kündigte daraufhin Gesetzesän-
derungen an, um gewalttätige Asylbewerber
in Zukunft schneller wieder außer Landes
bringen zu können.
Regelungsbedarf sieht auch der nord-
rhein-westfälische Vorsitzende und stellvertre-
tende Bundesvorsitzende der Gewerkschaft
der Polizei, Michael Mertens, nach einem Vor-
fall in Bottrop am 31. Dezember. Allerdings
liegt der Fall hier komplizierter: In Bottrop
war ein 50 Jahre alter Mann mit seinem Auto
in mehrere Menschengruppen gefahren. „Wir
vermuten, dass er vorher geschaut hat, wel-
che Leute ausländisch aussahen, und diese
Gruppen gezielt angesteuert hat“, sagte Mer-
tens der F.A.Z. Woche. Außerdem gebe es An-
zeichen, dass der Mann psychisch erkrankt
sei oder sich zumindest in einer psychischen
Ausnahmesituation befand. Möglichkeiten,
wie die Bevölkerung besser vor solchen Taten
geschützt werden könne, sieht Mertens vor al-
lem in einer engeren Vernetzung zwischen Po-
lizei, Ärzten und Gesundheitsämtern. „Es
müssen Standards entwickelt werden, wie
Allensbach-Umfrage
Die Gewerkschaft EVG hat unlängst
für die Bahnmitarbeiter ausgehandelt,
dass die Angestellten anstatt
Fotos EPA, Getty, dap (2), Illustration Carlo Giambarresi
einer Lohnerhöhung auch mehr
Urlaub nehmen können. Fragt man die
Deutschen, was sie wählen würden,
wenn sie die Möglichkeit hätten,
ergibt sich ein recht gemischtes Bild.
Rund 1200 Befragte (Bevölkerung von 16 Jahren an), Quelle: Institut für Demoskopie Allensbach, F.A.Z.-Grafik heu.
Gesprächsstoff 5
Tierhaltung
Leinenpflicht für
Hunde in Berlin
Für alle, die sich vor wild her-
anrasenden, bellenden, sab-
bernden Hunden fürchten,
deren weit entfernte Besitzer
noch ein hilfloses „Der tut
nichts, der will nur spielen“
hinterherrufen, beginnt die-
ses Jahr mit einer guten Nach-
richt: Berlin hat eine allge-
meine Leinenpflicht für Hun-
de eingeführt. Außerhalb
von Auslaufzonen und Privat-
grundstücken müssen Hun-
de dort seit dem 1. Januar an
der Leine geführt werden.
Beim Warten angefahren: Haltestelle in Bottrop Ähnlich rigide Regelungen
gab es bisher nur in Ham-
sich Ärzte verhalten sollen, wenn Patienten burg; die meisten anderen
Anzeichen einer möglichen Fremdgefähr- Bundesländer sehen einen
dung zeigen, wann solche Personen gemeldet Leinenzwang bei Versamm-
werden müssen.“ Dafür brauche es einen poli- lungen, in öffentlichen Ver-
tischen Willen und, um Personen vorüberge- kehrsmitteln, nahe Spielplät-
hend in Behandlung in einer geschlossenen zen, in Gaststätten und Ein-
Anstalt zu nehmen, auch klare medizinische kaufszentren oder während
Prognosen, so Mertens. Eine Häufung sol- der Brut- und Setzzeit vor.
cher Attacken oder ein spezielles Milieu, aus Auch für die Länge der Leine
dem mögliche Täter stammen, sieht er je- gibt es genaue Vorschriften.
doch ebenso wenig wie der Vorsitzende der Berlin wäre allerdings nicht
Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Berlin, wenn es nicht wenigs-
Wendt: „Bei den bekannten Einzelfällen zum tens eine Ausnahme erfun-
Beispiel 2016 am Breitscheidplatz in Berlin den hätte: Auf unbelebten
und im April 2018 in Münster handelt es sich Straßen und Plätzen (!) dür-
um nicht vergleichbare und vom konkreten fen Halter mit Hundeführer-
Geschehensablauf her unterschiedliche Vor- schein ihre Hunde auch wei-
kommnisse“, so Wendt. sku. terhin frei laufen lassen. sku.
Entschieden Sie sich als Berufstätiger
lieber für mehr Geld oder mehr Urlaub?
Mehr Geld Mehr Urlaub
40
in Prozent
37
23
Unentschieden
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
6 Bild der Woche

Lauf ohne
Wasser

Wenn der einzige Baum in der

Landschaft ein ausgetrockneter
Wasserlauf ist, der, aus der Vogelper-
spektive betrachtet, die Silhouette
eines Baums in den Boden zu zeich-
nen scheint, hat sie zugeschlagen:
die große Dürre. Vier Milliarden
Menschen leiden Schätzungen zu-
folge an mindestens einem Monat
im Jahr unter Wasserknappheit,
Tendenz steigend. Klimawandel, Be-
völkerungswachstum und höhere
Lebensstandards lassen den Durst
weltweit größer werden. Das Welt-
wirtschaftsforum stuft die Wasser-
krise als eine der drängendsten glo-
balen Gefahren ein. Davon, was es
bedeutet, wenn kein Regen fällt, hat
Europa im Hitzesommer 2018 ei-
nen schwachen Vorgeschmack be-
kommen. Die 48 Jahre alte australi-
sche Umweltaktivistin und Ultra-
läuferin Mina Guli treibt die Dürre
seit langem um. Sie hat 2012 die ge-
meinnützige Firma „Thirst“ ge-
gründet, die Chinesen im Wasser-
sparen schult. Unser an Silvester
aufgenommenes Foto zeigt, wie
Guli über den Grund des Leeu-
Gamka-Stausees in Südafrika läuft.
Mit hundert Marathons in hundert
Tagen will sie Aufmerksamkeit
schaffen. Als sie ihren 59. Lauf been-
det hatte, öffneten sich kurz die
Schleusen des Himmels. Erleichte-
Foto Kelvin Trautman/Flux Communications/AP

rung brachte das kaum. Und Mina

Guli plagt inzwischen eine Verlet-
zung. Sie will gehend weiterma-
chen, wohl wissend, dass ihre Akti-
on nicht mehr ist als ein Tropfen
auf dem heißen Stein.

Ursula Scheer

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019


  


 
  



 !"
   * "   * ,%    $ " ,% /$"$ "
 " $ "
" -

" "  $
 )  "
$" " ($ & "
 $ 
" ," "
 $  ''  /% " " ! * $ 0
 "
   " "
 $ "
" & ,
 $ ") %*$" $
  .$)   "
'  #+
,$  
 &   .  $ + " $  0 $   

 Meinung
CDU
Ein Verlust
Von Jasper von Altenbockum
Ein wirklich ernstzunehmender Gegner ist Friedrich Merz für
Annegret Kramp-Karrenbauer nicht mehr. Es war ein Fehler
von Merz, sich auf einen Kabinettsposten einzuschießen. Er
hat sich damit nur selbst ins Abseits geschoben. Denn wer hät-
te ernsthaft annehmen können, dass Angela Merkel etwa Peter
Altmaier, ihren ehemaligen Kanzleramtschef, entlässt, um
Merz Platz zu machen? Hätte sie das dann nicht schon viel
eher tun können, tun müssen, als Kramp-Karrenbauer nach
Berlin kam, um ihre Nachfolge anzutreten – und mit dem Pos-
ten des Generalsekretärs vorliebnehmen musste (vielleicht
nicht zu ihrem Nachteil)?
Der zweite Grund, warum Merz als Minister ein Ding der
Unmöglichkeit war und vorläufig ist: Er hätte als der Unterlege-
ne ein größeres Podium – Kabinett, Bundestag, Ministerium –
gehabt als die neue CDU-Vorsitzende. Mit dem Ergebnis, dass
ihm die Rolle des Kanzlerkandidaten mindestens so sehr zugefal-
len wäre wie Kramp-Karrenbauer. Man kann Merkel und ihre
Nachfolgerin für die Falschen halten. Aber blöd sind sie nicht.
Entsprechend alpha-männlich-feixend war ihre Reaktion: Beim
Durchzählen am Kabinettstisch habe keiner gefehlt, also kein
Syrien
Veränderte Machtbalance
Von Rainer Hermann
Gute Nachrichten aus Syrien sind selten. Eine davon betrifft die
Zahl der Opfer von Gewalt. Im vergangenen Jahr sind in Syrien
„nur“ noch knapp 20 000 Menschen durch den Krieg getötet
worden, so wenig wie in keinem anderen Jahr seit seinem Be-
ginn 2011. Ausgelöst worden war er durch eine Erhebung unzu-
friedener Syrer, die rasch in einen vielschichtigen Krieg münde-
te. Die heiße Phase nähert sich ihrem Ende, keineswegs besei-
tigt sind aber die Ursachen für den Aufstand. Denn das Regime
in Damaskus hat sich nicht verändert. Der Krieg, in dem es mili-
tärisch die Oberhand behielt, ließ es sogar noch brutaler wer-
den. Daher wird im Inneren die Gewalt andauern.
Neue Gefahr droht dem syrischen Regime auch von au-
ßen. Denn allein die Ankündigung des amerikanischen Präsi-
denten, seine Truppen aus Syrien abzuziehen, hat die Machtba-
lance in dem umkämpften Land verändert. Die Türkei kündig-
te eine Offensive im kurdischen Nordsyrien an, so dass für die
Kurden, die bisher mit amerikanischen Soldaten erfolgreich
den „Islamischen Staat“ (IS) bekämpften, die Verteidigung ge-
gen die Türkei zur obersten Priorität geworden ist. Das ver-
schafft den 30 000 IS-Kämpfern, die in Syrien und im Irak un-
9
Platz für Merz. Wolfgang Schäubles Intervention gegen das „Zu-
griffsrecht“ der CDU-Vorsitzenden auf die Kanzlerkandidatur
war die Retourkutsche auf so viel Selbstgewissheit.
Aber vielleicht ging es in dieser zweiten, unausweichli-
chen Abwehr auch nur noch um das Spiel um die Schuld am
Scheitern von Merz. Schuld sind aber nicht Merkel und
Kramp-Karrenbauer, sondern er selbst. Sein Ehrgeiz hat es
nicht zugelassen, dem Beispiel von Jens Spahn zu folgen: Prä-
sidium, Mandat, Ochsentour. Das ist ein Verlust für die
CDU. Denn es besteht kein Zweifel, dass sie Politiker braucht
wie diesen Friedrich Merz, besser gesagt: gebraucht hätte.
Weil sie gegangen sind, gegangen wurden, fehlt der Partei die
Breite, die sie zur Volkspartei braucht. Schäuble ist der letzte
Mohikaner. Kramp-Karrenbauer sucht jetzt den Schulter-
schluss mit der CSU. Das ist ein guter Anfang. Ausdruck der
Versöhnung ist die Unterstützung der CDU für einen CSU-
Spitzenkandidaten in der Europawahl. Wenn das gut klappt,
könnte der eine oder andere CSU-Politiker noch auf den Ge-
danken kommen, dass das Modell auch für den Bund eine
gute Sache sei. (Siehe Seite 31.)
tergetaucht sind, eine unverhoffte Chance, sich neu zu organi-
sieren. Nur wenn sich das Damaszener Regime und die syri-
schen Kurden auf eine Zusammenarbeit verständigen, kann die
drohende Ausweitung des türkisch kontrollierten Teils in Sy-
rien verhindert werden. Eine solche Einigung ist möglich,
wenn das Regime, das die territoriale Integrität Syriens wieder-
herstellen will, den Kurden (begrenzte) Autonomierechte zuge-
steht und sich diese im Gegenzug zur Einheit Syriens beken-
nen. Ohne Chance ist das nicht. Denn beide wollen eine Aus-
weitung der türkischen Präsenz in Syrien verhindern.
Ob es so weit kommt, hängt nicht zuletzt vom Verhalten
Russlands ab, dem Garanten für das Überleben des Regimes.
Auf Initiative Moskaus haben sich in Syrien jedoch auch Russ-
land, Iran und die Türkei zu einer Allianz zusammengeschlos-
sen. In Syrien verfolgen sie unterschiedliche Ziele. Gemeinsam
ist ihnen aber, dass sie als Nachfolgestaaten großer Imperien an
alte Größe anknüpfen wollen und sich dabei als eurasische Staa-
ten sehen, die in der gleichen Region um Einfluss konkurrie-
ren. Das birgt Konfliktstoff, der sich künftig auch auf dem syri-
schen Schlachtfeld entladen dürfte. (Siehe Seite 21.)
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
10
Woche-Reporter
Kinder
im Ring
Seit dem Tod eines jungen Kickboxers diskutiert
Thailand darüber, ob Minderjährige weiter
den Nationalsport ausüben dürfen. Boxverbände sehen
dagegen jahrhundertealte Traditionen bedroht.
E
in abwechselndes Knallen und Schnaufen tönt
aus einem Haus am Stadtrand von Chiang
Rai. Das Gebäude ist ein flacher Bau, an den
Seiten offen und mit einem Wellblechdach be-
deckt. Es erinnert mehr an eine Autowerkstatt als an eine
Sporteinrichtung. Doch im hinteren Teil des Gebäudes steht
statt einer Montagegrube ein Boxring. Dort setzt gerade ein
Boxer seine jugendliche Kraft dafür ein, auf zwei dicke Schlag-
polster einzudreschen. Ein anderer junger Mann hat sie sich
über die Unterarme gezogen. Nun werden sie mit heftigen
Schlägen und Tritten malträtiert. Knallen, Schnaufen, Knal-
len, Schnaufen. Dazwischen bellt der Sparringspartner Anwei-
sungen an seinen Boxer: „Links!“, „Komm rein!“, „Mehr!“, hal-
len seine Kommandos durch den Ring. In der Hitze von Nord-
thailand hat sich auf dem muskulösen Rücken des Boxers
glänzender Schweiß gebildet.
Der Boxer schlägt immer schneller auf seinen Trainings-
partner ein, bis dieser am Rand des Boxrings tief in den Seilen
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
hängt. Dann ziehen seine mit weißem Band verbundenen Hän-
de den Kopf des Partners hinunter. Er pfeffert abwechselnd
sein rechtes und linkes Knie in die nun nach unten zeigenden
Schlagpolster. Jedes Mal gibt es einen Knall, als würde man
mit einer Peitsche auf ein Sofakissen einschlagen. Nach mehre-
ren Schlägen steigert sich das Schnaufen des Boxers langsam
zu einem angestrengten Grunzen. Es geht so lange, bis der Part-
ner sich nicht mehr auf seinen Füßen halten kann. Mit dem
Hintern fällt er auf den Ringboden. Der Boxer tänzelt auf den
Zehenspitzen durch den Ring. Dann lässt er sich mit den Hän-
den auf den Boden fallen und macht einige Liegestütze.
In der Luft mischen sich verschiedene Gerüche von
Schweiß – dem frischen und dem alten, der zuvor schon in vie-
len Trainingsstunden in den Boden und die Geräte eingesi-
ckert ist. Der muffige Geruch erinnert an einen Raubtierkäfig.
Vom Rand schauen dem erfahreneren Kampfesbruder zwei
jüngere Boxer zu. Ein vierter Junge hat sich in die Wohnräume
der Boxschule zurückgezogen. Die Boxer hier sind zwischen
 neun und 18 Jahre alt. Der junge Mann, der gerade sein Trai-
ning absolviert hat, heißt Yodsuria. Er ist als Einziger in dieser
Schule volljährig. Er trainiert für einen großen Kampf in der
Hauptstadt Bangkok. Nach dem Training referiert er in kur-
zen, knappen Worten seine Lebensgeschichte. „Ich habe mit
acht Jahren angefangen zu boxen. Ich sah meinen Vater und
meinen Onkel, die auch Boxer waren. Und ich konnte mein ei-
genes Geld verdienen“, sagt er.
Die Jungen sollen Kampferfahrung sammeln
Seit seinem zwölften Lebensjahr trainiere er nun hier in der
Boxschule in Chiang Rai „Muay Thai“, wie die thailändische
Version des Kickboxens heißt. Der Sport zeichnet sich da-
durch aus, dass mit Tritten, Schlägen, Ellenbogen und Knien
gekämpft wird. In Thailand ist es nicht ungewöhnlich, dass
schon Kinder an den Sport herangeführt werden. „Am besten
ist es, wenn sie mit acht oder neun Jahren anfangen. Nur so
Foto Getty
können sie die Fähigkeiten lernen, die ein Boxer braucht“,
Dass Kinder im sagt Caovalit Chimlack, der Leiter der
Muay Thai Schule in Chiang Rai. Dazu gehört ihm
gegeneinander zufolge, dass Kinder das Gelernte auch
antreten, ist in früh im Boxring anwenden. „Ein
Thailand üblich. Kampf dauert nur fünfzehn Minuten.
Das tut nicht sehr weh“, sagt er. Auch
für den jüngsten Hoffnungsträger in seinem Kader, den neun
Jahre alten Pae-sa, wünsche er sich deshalb Kampferfahrung.
Aber derzeit gebe es in der Umgebung zu wenige Kinder in sei-
ner Gewichtsklasse.
Der Besitzer der Boxschule vertritt eine Meinung, die
derzeit nicht sehr populär ist. Denn in Thailand wird darüber
nachgedacht, Kinder aus dem Ring zu verbannen. Die Diskus-
sion ist eine Reaktion auf den tragischen Tod eines 13 Jahre al-
ten Jungen bei einem Boxkampf im November.
Anucha Tasako hat schon mehr als 170 professionelle
Wettbewerbe hinter sich, als er bei einem Tempelfest in der
Provinz Samut Takan nahe Bangkok wieder in den Ring steigt.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
12 Woche-Reporter
Pae-sa ist erst neun Jahre alt,
soll aber bald Wettkämpfe
bestreiten (Bild oben).
Der 18 Jahre alte Yodsuria
ist schon ein paar Schritte
weiter (Bild rechts).
Eine undeutliche Videoaufnahme des Kampfes zeigt, wie er
sich in der dritten Runde schon einmal vom Boden aufrappeln
muss. Er rettet sich an das andere Ende des Rings. Dann
kommt der deutlich kräftigere Gegner in dominanter Haltung
auf ihn zugetänzelt. In der Berichterstattung über den Fall
heißt es später, der Gegner sei zwei Jahre älter gewesen.
In dem Video nähert sich der Größere dann mit erhobe-
nen Fäusten. Auch der Dreizehnjährige hat seine Fäuste oben.
Aber es wirkt nur noch wie eine hilflose Abwehrgeste. Der Geg-
ner schlägt ein paar Geraden in Richtung des Kopfes, die zu-
nächst noch in den Handschuhen des Jüngeren landen. Unter
den hereinbrechenden Fausthieben gibt Anucha Tasako
schnell jegliche Verteidigungshaltung auf. Die Handschuhe sa-
cken nach unten. Zwei, drei kräftige Schläge treffen ihn nun
von rechts mitten ins Gesicht. Die nächste Linke geht direkt
aufs Kinn und dann noch einmal die Rechte und die Linke. Da
baumelt der Kopf schon unkontrolliert im Nacken, die Augen
sind in Richtung Decke gerichtet. Ohnmächtig fällt Anucha Ta-
sako auf den Boden. Der Junge stirbt zwei Tage später in ei-
nem Krankenhaus an seinen Verletzungen.
Ein Verbot des Kinderboxens droht
Der Tod des Dreizehnjährigen versetzte Thailand in einen
Schock. Manche sagen, der Kampf hätte abgebrochen werden
müssen, weil der Junge seinem Gegner in keiner Weise gewach-
sen war. Die Ärztin Jiraporn Laothamatas konnte zudem seit-
her in einer Studie nachweisen, dass das frühe Boxen irrepara-
ble Schäden an den Gehirnen der Kinder hinterlässt. Sie be-
zeichnet das Kinderboxen als „Missbrauch“. Nun wurde ein
Gesetz auf den Weg gebracht, das den Einsatz von Kindern in
dem Nationalsport des südostasiatischen Landes erstmals
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
strenger regulieren soll. Demnach könnte Kindern unter zwölf
Jahren das Boxen komplett verboten werden. Kinder im Alter
von zwölf bis fünfzehn Jahren sollen verpflichtet werden, im
Ring Helme zu tragen.
Doch die Boxverbände halten es für falsch, der jahrhun-
dertealten Tradition auf diese Weise Fesseln anzulegen. Landes-
weit sollen in den Boxschulen rund 100 000 Kinder unter 15
Jahren aktiv sein. Eigentlich gibt es eine Registrierungspflicht
für Boxer in diesem Alter. Aber die wird kaum eingehalten.
Viele Befürworter verweisen darauf, dass die jungen Boxer aus
armen Familien stammten. „Es ist besser als Drogen und
Glücksspiele“, sagt Caovalit Chimlack, der Chef der Boxschule
in Chiang Rai. Manche der Jungboxer ernähren ihre gesamte
Familie. Im Fall des getöteten Anucha Tasako sollte der Gewin-
ner ein Preisgeld von 2000 Baht bekommen (54 Euro). Das ers-
te Preisgeld von 300 Baht (acht Euro) habe er schon mit acht
oder neun Jahren verdient, sagt sein Onkel Damrong Tasako,
der den Jungen großgezogen hatte, in einem Interview.
Im Vergleich zu dem Lohn eines Reisbauern, der um die
200 Euro im Monat verdient, ist das viel Geld. Für die Jungen
ist das Boxen ein Ticket raus aus der Provinz. „Es war sein
Traum, einmal im Lumpini-Stadion oder Rajadamnern-Stadi-
on der Champion zu werden“, sagt der Onkel mit Blick auf die
wichtigsten Wettkampfstätten in Bangkok. Nach dem Tod sei-
nes Neffen wolle er niemandem die Schuld zuschreiben: „Er
starb wie ein Krieger. Er war ein Kämpfer.“ Caovalit Chimlack
von der Boxschule in Chiang Rai sagt, auch bei anderen Sport-
arten wie Fußball könne mal was passieren. „Dagegen sagt
aber auch keiner was.“ Außerdem wisse ein ausgebildeter Bo-
xer, wie er sich im Ring schützen könne. Mit der richtigen Aus-
bildung sei der Sport deshalb auch nicht gefährlich. Außer-

Der dreizehn Jahre alte Anucha
Tasako (Bild oben) starb an
Verletzungen, die er im Ring erlitten
hatte. Sein Traum soll es gewesen
sein, einmal im Lumpini-Stadion
Champion zu werden (Bild rechts).
dem solle sich niemand einmischen: „Muay Thai ist unsere
Tradition!“, ruft er empört aus.
Viele Eltern sehen ihre Söhne fast nie
Doch ganz frei von schlechtem Gewissen ist er offenbar nicht.
Er verweigert den Besuchern trotz vorheriger Zusage, seinem
jüngsten Kämpfer Pae-sa ebenfalls beim Training zuzuschau-
en. Das Thema ist derzeit zu sensibel. Stattdessen geht der
Neunjährige nun hinter das Gebäude und spielt mit den
Kampfhähnen, die Caovalit Chimlack dort unter geflochtenen
Körben hält. Pae-sa hat ein weiches Gesicht mit fast weibli-
chen Zügen. Sein kindlicher Körper und seine Arme wirken
schmächtig. Die Trainingshose mit den thailändischen Schrift-
zeichen hängt locker über den dünnen Beinen. Auch er
kommt aus einer armen Familie in der Provinz. Er ist mit sei-
nem Bruder hierhergekommen, der ebenfalls zum Boxer aus-
gebildet wird.
Der Junge hat vorher beim Kennenlernen nur ein paar
Sätze gesagt: „Ich mag das Boxen sehr, aber ich habe so gut wie
keine Wettkämpfe.“ Der Chef Caovalit Chimlack behauptet,
Pae-sa dürfe selbst entscheiden, wie viel Training er sich jeden
Tag zumutet. Am Vormittag besuche er die örtliche Grund-
Fotos Nuttakarn Sumon, Till Fähnders, AFP, Prisma
schule. Mindestens eine Trainingseinheit am Nachmittag ge-
hört aber offensichtlich zur Routine des Neunjährigen. Eine
solche Einheit beinhaltet für die älteren Jungen einen 45 Minu-
ten langen Lauf und danach eineinhalb Stunden im Ring, an
den Boxsäcken und anderen Geräten, die in dem Gebäude von
der Decke hängen und auf dem Boden liegen. „Man fängt erst
einmal klein an und steigert das Training dann nach und
nach“, sagt Caovalit Chimlack. Aber natürlich bleibe den Kin-
dern auch noch Zeit zum Spielen und Lernen.
13
Während der Besitzer der Boxschule dann noch über
seine eigene Erfahrung als einstiger Kinderboxer berichtet,
absolviert der 18 Jahre alte Yodsuria den Rest seines Trai-
nings. Ähnlich intensiv wie zuvor auf seinen Sparringspart-
ner boxt er nun auf einen Sack ein, der von einem Balken
hängt. „Er ist stark, das ist gut an ihm“, sagt Caovalit Chim-
lack über seinen besten Nachwuchskämpfer. Für den Kampf
am Wochenende bekommt er 30 000 Baht ausgezahlt (800
Euro), die Hälfte geht an Chimlack. Der Boxlehrer sagt, die
Jungen seien für ihn wie Söhne. Er selbst habe keine Kinder.
Und die meisten Eltern der Jungen wohnten in weit entfern-
ten Provinzen. Sie sehen ihre Söhne oft nur, wenn sie zu ei-
nem der Kämpfe kommen.
Yodsurias großer Kampf findet dann am Wochenende
im Stadion von Rajadamnern in der Hauptstadt Bangkok
statt. Der Kampf wird sogar im nationalen Fernsehen übertra-
gen. Die Halle ist voll besetzt. Es tönt schrille Trötenmusik aus
den Lautsprechern. Der Ring ist mit Werbung zugeklebt. In
der ersten Runde gelingt es seinem Gegner, Yodsuria mehrere
heftige Tritte direkt in den Bauch zu versetzen. Doch in den
verbleibenden Runden wiederholt er im Ring das, was er in
den Tagen zuvor mit seinem Sparringspartner geübt hatte. Mit
unbändiger Kraft prallen die Schläge und Tritte auf seinen Geg-
ner. Nach Ende der fünften Runde wird Yodsuria schließlich
zum Sieger des Kampfs gekürt. Zum Jubel reißt er seine mus-
kulösen Arme hoch. Er hat es geschafft. Auf jeden Gewinner
kommen aber Dutzende andere, die ihre Boxerkarriere schon
im Kindesalter wieder abbrechen. Für sie sind es nicht nur ver-
lorene, sondern auch gefährliche Jahre.
Till Fähnders, Chiang Rai
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
 Titelthema
Am
Limit
Auf deutschen Straßen und Schienen
wird es immer enger.
Droht uns der Verkehrskollaps?
G
ünther Krause plagte ein Albtraum. Russen ka-
men darin vor, Polen und Tschechen und Bal-
ten auch. In seiner Schreckensvision ging es
den Menschen aus diesen Ländern wirtschaft-
lich gut. So gut, dass sie die finanziellen Mittel hatten, um sich in
ihren Lastwagen und Ladas auf den Weg nach Deutschland zu
machen. Nicht dauerhaft, sondern vor allem, um mit den Deut-
schen Geschäfte zu machen, mit ihnen Waren auszutauschen
und vielleicht auch, um hier ein paar Tage ihrer Freizeit zu ver-
bringen. So wie in Italien, Frankreich oder Spanien auch. Doch
das alles verhieß in den Augen des Bundesverkehrsministers
nichts Gutes: Denn der Slawen-Treck in den Westen rollte
schnurstracks auf die deutsche Autobahn.
Das war vor 25 Jahren. Der Osten Europas war noch
arm und vergleichsweise immobil, was für den Verkehr in
Deutschland von Vorteil war. Doch nicht nur dem damaligen
Bundesverkehrsminister war klar, dass dieser Zustand nicht
von Dauer sein würde. Seine Worte hätte der CDU-Politiker
aus Rostock vielleicht weniger drastisch wählen können, doch
im Kern hat seine Prognose bis heute Bestand: Die Blechlawi-
ne, die über deutsche Straßen rollt, wird größer und größer,
und das liegt nicht nur am inländischen Verkehr. Jedes Jahr
aufs Neue verschärfen die Staupropheten ihren Pessimismus,
denn noch immer hält die Entwicklung der Verkehrswege mit
Illustration Kai Simons
dem wirtschaftlichen Fortschritt Europas nicht Schritt. Und
glaubt man Fachleuten wie Michael Schreckenberg von der
Uni Duisburg-Essen, dann „deutet nichts auch nur ansatzwei-
se auf eine Besserung hin“.
15
Am deutlichsten zeigt sich in der Ferienzeit im Sommer
oder an Weihnachten, wie sehr das ganze Land unter der Last
des Verkehrs ächzt. Doch auch an jedem beliebigen Freitag-
nachmittag kann man garantiert ein Land im Stillstand erle-
ben. 723 000 Mal standen 2017 irgendwo im Land die Auto-
fahrer im Stau. Das war, wie fast jedes Jahr, wenn der deut-
sche Autofahrerclub ADAC seine neue Bilanz zieht, ein All-
zeithoch. Die Karawanen erstreckten sich über eine Länge
von 1,45 Millionen Kilometern. Das heißt: Sie gingen mehr
als 36 Mal um die Erde.
Dreißig Stunden pro Jahr im Stau
Der Stillstand kostet nicht nur Nerven, sondern auch enorm
viel Geld. Berufspendler kommen zu spät zur Arbeit, Waren
verspätet an ihr Ziel. Speditionen müssen Standzeiten in ihrer
Kalkulation berücksichtigen, Unternehmen geben die Kosten
in Form von höheren Preisen an die Bevölkerung weiter. Nicht
zu vergessen der erhöhte Kraftstoffverbrauch und die damit ver-
bundenen höheren Ausgaben aller Verkehrsteilnehmer für Ben-
zin. Zwar gibt es nach wie vor kein einheitliches Modell, das
den volkswirtschaftlichen Schaden berechnet, der durch Staus
entsteht. Aber unter dem Strich liegen die Summen immer
dicht beieinander. Die Beratungsfirma Inrix schätzte den Scha-
den durch Staus auf deutschen Straßen 2017 auf knapp 80 Milli-
arden Euro, Verkehrsforscher Schreckenberg spricht von Einbu-
ßen von 60 bis 100 Milliarden Euro im Jahr. In den 30 Stunden,
die der deutsche Autofahrer im vergangenen Jahr durchschnitt-
lich stehend verbrachte, zahlte er 1770 Euro obendrauf.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
16
„Schmetterlingseffekt“
Die Ordnung des Autobahnverkehrs
wird durch das blaue Auto, das auf
die Autobahn auffährt, gestört. Dies
löst eine Kettenreaktion aus, da die
Autos die Abstände zueinander nicht
mehr einhalten können und immer
mehr Autofahrer bremsen müssen.
Auf den ersten Blick mag offensicht-
lich sein, woran das liegt: am immer dich-
ter werdenden Verkehr. Noch nie rollten so viele
Autos und Lastwagen über die deutschen Straßen
wie heute. Zum Jahresanfang 2018 waren nach An-
gaben des Kraftfahrt-Bundesamtes 46,5 Millio-
nen Personenwagen zugelassen; das waren fast
fünf Millionen Fahrzeuge mehr als noch 2010.
Auch die Zahl der Lastwagen und Zugmaschinen
steigt kontinuierlich. Und als wäre das nicht ge-
nug, wird mit jedem ausländischen Fahrzeug, das
sich auf den Weg nach Deutschland macht oder
die kostenlosen Autobahnen zum Transit nutzt,
das Gedrängel auf der Straße größer.
Besonders langsam schieben sich die Kolon-
nen vor allem dort über den Asphalt, wo der Ur-
laubsverkehr auf Baustellen trifft. 586 Stellen, an
denen vier Tage oder länger gebaut werden muss-
te, zählte das Verkehrsministerium auf deutschen
Autobahnen während der Sommerferien. Ein neu-
er Negativrekord, der sogar die Zahlen aus dem Su-
perstaujahr 2017 in den Schatten stellt. Bundesver-
kehrsminister Andreas Scheuer (CSU) verspricht
in solchen Zeiten zwar gern mal, dass nur dort ge-
baut würde, wo es wirklich nötig sei. Doch das ist
offenbar immer häufiger der Fall. Straßen und
Brücken sind vielerorts in keinem guten Zustand.
Allein zwischen Aschaffenburg und Dortmund,
der Sauerlandlinie A 45, sind 31 Talbrücken maro-
de, wie Stauforscher Schreckenberg erzählt. Viel
Zeit und Geld, um neue Kapazitäten zu schaffen,
Die Stau-Hauptstädte
Wartezeit im Jahr in Stunden
München 49
Heilbronn 46
Köln 46
Stuttgart 46
Hamburg 41
Berlin 40
Frankfurt 39
Ruhrgebiet 36
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
bleibe da nicht. „Wir rennen nur noch den Miss-
ständen hinterher.“
Um gegen den forschreitenden Verfall anzu-
kommen – und darüber hinaus auch das wachsende
Verkehrsaufkommen etwas aufzufangen –, inves-
tiert der Bund zurzeit mehr Geld ins Autobahnnetz
als je zuvor: 2018 waren es 8,6 Milliarden Euro, 950
Millionen Euro mehr als im Jahr zuvor. Für die
nächsten zwölf Jahre hat die Regierung 150 Milliar-
den Euro für das große Infrastrukturprogramm ein-
geplant. Die Not der Autofahrer lindern wird die Of-
fensive vorerst aber nicht: Denn wenn mehr gebaut
wird, gibt es auch mehr Staus.
Kaum einer will auf das Auto verzichten
Eine weitere Herausforderung ist der wachsende
Güterverkehr. Je besser es in Europa wirtschaftlich
läuft, desto mehr Lastwagen sind unterwegs. Und
die deutschen Autobahnen sind das Nadelöhr,
durch das die Reise sowohl von Nord nach Süd als
auch von Ost nach West verläuft. Laut dem Bundes-
verkehrswegeplan 2030 des Bundesverkehrsministe-
Nur neun Prozent
riums wird die Transportleistung gegenüber dem der Deutschen
Jahr 2010 um 43 Prozent wachsen. Allein der Hafen können sich
im belgischen Antwerpen plant, seinen Umschlag vorstellen, auch
in den nächsten 15 Jahren um 50 Prozent zu stei- ohne Auto
gern – mit der Folge, dass der Güterverkehr hierzu- auszukommen.
lande im Jahr um mindestens zwei Prozent zulegen Mehr als die Hälfte
dürfte. Ursprünglich war von Antwerpen nach will dagegen
Duisburg eine neue Eisenbahnstrecke geplant, die niemals auf ihr
einen Teil des Gütertransports übernehmen sollte. Auto verzichten.
Immer mehr Staus
Kosten im Jahr in Mrd. € in Deutschland
2,0
0,14
1,2
0,68
2,4
4,3
0,69 2006 2017
1,5 117000 723 000

Doch der neue Bundesverkehrswegeplan sieht die-
se Verbindung nicht mehr vor. Für Fachleute wie
Schreckenberg ist klar: „Das wird die Situation ein-
mal mehr verschärfen.“
Für das wohl größte Problem auf den Stra-
ßen halten Fachleute allerdings weder die steigen-
de Fahrzeugdichte noch die vielen Baustellen, son-
dern die Verkehrsteilnehmer selbst. Man steht
nicht nur im Stau, man ist auch Teil des Staus. Das
Auto öfter stehenzulassen und mit der Bahn zur
Arbeit oder in den Urlaub zu fahren kommt für
viele Deutsche nicht in Frage – auch wenn sie wis-
sen, dass ihnen ein stundenlanges Rumstehen
droht. Als das Allensbach-Institut die Bevölkerung
im Sommer 2017 nach ihren Fahrgewohnheiten
fragte, hielten sich nur neun Prozent für imstande,
auch ohne Auto auszukommen. Mehr als die Hälf-
te wollte dagegen niemals auf ihr Auto verzichten.
Und rund ein Drittel hielt es für „nur sehr schwer
vorstellbar“.
Obwohl die Not immer größer wird, sind
echte Lösungsansätze nach wie vor rar. Am nächst-
liegenden erscheint der Ausbau des Straßennetzes.
In der Realität allerdings fehlt dafür oft entweder
der Platz an den Verkehrsbrennpunkten oder das
Geld. Und auch wenn gebaut wird, ist die Abhilfe
nur von kurzer Dauer. Ökonomen sprechen vom
„fundamentalen Gesetz der Straßenverstopfung“:
Sobald wieder Platz auf der Straße ist, zieht das
neue Verkehrsteilnehmer an. Pendler, die zuvor
das Auto stehen gelassen haben, um Zeit und Ner-
Die schlimmsten Stau-Abschnitte
Staukilometer je Kilometer Autobahn
A 3 Oberhausen – Köln
A 3 Frankfurt – Würzburg
A 8 Stuttgart – Karlsruhe 401
A 1 Köln – Euskirchen 360
A 5 Heidelberg – Karlsruhe 347
A 3 Passau – Linz 292
A 9 Nürnberg – München 288
A 4 Köln – Heerlen/Aachen 277
17
ven zu sparen, wechseln auf die Straße – bis wieder
alles beim Alten ist.
Fachleute wie der Kölner Ökonom Axel
Ockenfels plädieren daher schon länger dafür, für
die Straßennutzung Gebühren zu erheben, die
sich an der Beliebtheit der jeweiligen Straßen ori-
entieren. Neuere Studien zeigen, dass so die Stra-
ßennutzung effektiv gesteuert werden kann. Die
Preise können den Fahrern durch smarte Bedie-
nungshilfen im Auto oder Handy in Echtzeit kom-
muniziert werden; smarte Assistenzsysteme helfen
im Zweifelsfall dabei, eine günstigere Strecke zu
finden. Allein: Politisch wären solche Ideen wohl
kaum umsetzbar.
Auch die Bereitstellung weiterer finanzieller
Mittel, wie sie der Bund verspricht, wird kaum Ab-
hilfe schaffen. Denn: Nach Einschätzung der Ver-
kehrsministerien der Länder fehlt es nicht an
Geld, sondern an Kapazitäten in der Planung und
im Bau. Wie drastisch die Engpässe sind, zeigt ein
Blick nach Nordrhein-Westfalen, dem mit Ab-
stand staureichsten Bundesland der Republik.
Von den 5700 Mitarbeitern der zuständigen Lan-
desplanungsbehörde gehen nach Angaben einer
Sprecherin in den nächsten zehn Jahren 1300 in
den Ruhestand. Der Markt für Bauingenieure ist
leer gefegt und eine Arbeit in der öffentlichen Ver-
waltung ohnehin für die meisten uninteressant,
weil die Industrie bessere Gehälter zahlt.
Gleichzeitig wird deutlich mehr gebaut als
früher. Das führt nicht nur zur Überlastung des
Überlastungsstau
Das blaue Auto wechselt im dichten Verkehr ab-
445 rupt die Spur – die nachfolgenden Autos müssen
427 dadurch bremsen. Der Stau nimmt seinen Anfang.
Obwohl das auslösende Auto normal weiter fährt,
verdichtet sich der Verkehr nach hinten immer
mehr und wird zu einem nennenswerten Stau.
18
11 344 000 000
Personals, es gibt auch erste Engpässe beim Bau-
material. Die Folge: Bauarbeiten verzögern sich,
es wird sich weiter stauen.
Große Hoffnungen ruhen deshalb auf der
Schiene. Im Koalitionsvertrag widmen sich CDU,
CSU und SPD den Chancen der Bahn so ausführ-
lich wie selten zuvor. „Mit einem Schienenpakt von
Politik und Wirtschaft wollen wir bis 2030 doppelt
so viele Bahnkundinnen und Bahnkunden gewin-
nen und dabei u. a. mehr Güterverkehr auf die um-
weltfreundliche Schiene verlagern“, heißt es dort
ehrgeizig. Einen Haken gibt es allerdings: Schon
jetzt ist das System an der Grenze der Belastbarkeit.
Nach aller Erfahrung wächst die Nachfrage der Kun-
den gerade dort, wo die Schienenkapazität schon
heute überfordert ist, wo sich (auch wegen vieler
Baustellen) Verspätungen und Zugausfälle ansam-
meln – und wo die Züge so voll sind, dass das Mit-
fahren zur Qual werden kann. Baustellen im Netz,
Probleme mit den Fahrzeugen und Personalmangel
haben die Pünktlichkeitswerte der Deutschen Bahn
in den vergangenen Monaten in den Keller getrie-
ben. Nur drei von vier Fernzügen waren 2018
pünktlich, versprochen waren 82 Prozent.
Auch der Blick auf die Marktanteile lässt den
Betrachter ernüchtert zurück. Zwar melden die Ver-
kehrsunternehmen jedes Jahr neue Fahrgastrekor-
de im Fern- und Regionalverkehr. Weil aber der Ver-
kehr insgesamt stark wächst, stagniert der Anteil
der Schiene hier bei acht Prozent. Das heißt: Wer
Bahn fährt, darf sich zu Stoß- und Urlaubszeiten in
Das Straßennetz ist
sechsmal so groß
Schienennetz Straßennetz
38460 Km 229 970 Km
Bestand Pkw
46474 594
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Menschen haben 2017
den Nahverkehr genutzt
volle Züge quetschen – während die Masse der
Deutschen weiter im Stau steht.
Dabei predigen Politiker und Umweltschützer
seit Jahrzehnten die Notwendigkeit, Verkehr von der
Straße auf die Schiene zu verlagern. Das kann aller-
dings nur klappen, wenn die Infrastruktur funktio-
niert. Lange setzten Bund und Bahn vor allem auf
den Ausbau der schnellen ICE-Strecken. Im Fernver-
kehr zahlt sich das aus. Doch in der Zeit, in der Milli-
arden für Köln–Frankfurt oder Berlin–München
ausgegeben wurden, blieben andere Verbindungen
zurück – vor allem jene in Richtung Osteuropa. Ne-
benstrecken wurden vernachlässigt, es gibt zu viele
eingleisige, nicht elektrifizierte Abschnitte. Um zu
sparen, verringerte die Bahn die Zahl der Überhol-
gleise. Jeder Neu- und Ausbau ist milliardenteuer
und dauert Jahre bis Jahrzehnte.
Schon seit einigen Jahren steuert der Bund in
der Infrastrukturpolitik um: Instandhaltung geht
vor Neubau, Gleise und Brücken werden saniert.
Doch die Mammutaufgabe hat eine Kehrseite. Die
Bahn weiß vor lauter Baustellen nicht mehr, wohin
mit ihren Zügen. Der Zustand wird noch länger an-
dauern, der Höhepunkt der Brückensanierungen
ist dieses Jahr geplant. So warnt die Bahn ihre Kun-
den vor: Auf den Strecken Berlin–Hannover und
Hannover–Hamm etwa wird im ersten Halbjahr ge-
baut – die Züge sind dann um bis zu 45 Minuten
länger unterwegs.
Die Güterbahnen ächzen derweil unter ei-
nem anderen Problem: der flexibleren, günstigeren
Güterverkehr
in Deutschland in Tonnen
Lkw
3111819 000
Bahn
363 512 000 Quellen: ADAC; INRIX; Destatis; eigene
Recherche; Flaticon/ F.A.Z.-Grafik Piron

Konkurrenz auf der Straße. Daran dürfte sich rela-
tiv wenig ändern, obwohl die Lkw-Maut seit Juli
auch auf allen Bundesstraßen erhoben wird und
der Bund die Mautsätze zum Jahresbeginn spürbar
angehoben hat. 2017 dümpelte der Marktanteil der
Schiene im Güterverkehr um die 18 Prozent – ob-
wohl der Bund, um es nicht bei Lippenbekenntnis-
sen zu belassen, seit Jahren Milliardenbeträge in
das System investiert.
Das Verkehrsnetz muss besser genutzt werden
Die Rettung des Schienengüterverkehrs allein mit
marktwirtschaftlichen Mitteln scheint derzeit so
aussichtslos wie eh und je. Die erlösende Nachricht
für die Deutsche Bahn und ihre Wettbewerber kam
denn auch aus Berlin, in letzter Minute vor der (ver-
späteten) Verabschiedung des Haushalts 2018 im
Sommer: Finanzminister Olaf Scholz (SPD) war
nach einigem Zögern doch bereit, Geld zur Unter-
stützung der Güterbahnen auszugeben. Damit der
Transport auf der Schiene billiger und konkurrenz-
fähig zur Straße werden kann, sollen sie weniger
Entgelte für die Nutzung der Trassen an die Netzge-
sellschaft der Deutschen Bahn zahlen. 175 Millio-
nen Euro stellte Scholz im Etat für das zweite Halb-
jahr 2018 ein, 350 Millionen sind es in diesem Jahr;
damit reduzieren sich die Trassenpreise um fast die
Hälfte. Erst vor kurzem genehmigte die EU-Kommis-
sion die Förderung. Weitere Etatmittel für Innovatio-
nen im Güterverkehr verweigerte Scholz jedoch der
enttäuschten Branche.
Die verkehrsstärksten Bahnhöfe in Deutschland
Tagesdurchschnitt Zugabfahrten (Fern- und Nahverkehr, S-Bahn)
Hamburg 1800
Frankfurt 1800
Köln 1800
München 1450
Berlin 1300
Stuttgart 1200
Hannover 760
Dortmund 750
19
142 000 000 nutzten den
Fernverkehr
Was mit Blick auf die Schiene zu tun ist, um
das wachsende Verkehrsaufkommen zu bewältigen,
ist für Bund und Deutsche Bahn klar: Neue Schie-
nen zu bauen ist eine teure und langwierige Sache,
die vorhandenen Kapazitäten müssen also besser ge-
nutzt werden. Im Gütertransport sollen bald 740
Meter lange Züge fahren können, und durch ein ge-
schickteres Baustellenmanagement sollen sich die
Störungen verringern. Digitalisierung soll dabei hel-
fen, genauso wie moderne Technik einen engeren
Taktverkehr ermöglichen soll. Bahnchef Richard
Lutz verkündete Anfang des Jahres das Projekt „Digi-
tale Schiene Deutschland“: Durch technische Auf-
rüstung des Netzes etwa mit dem modernen euro-
päischen Signalsystem ETCS werden 20 Prozent
mehr Züge fahren können, ohne dass ein einziger Ki-
lometer Schiene neu verlegt werden muss, so das
Versprechen. Mehr als 30 Milliarden Euro wird das
in den beiden nächsten Jahrzehnten kosten.
Die Kinderkrankheiten der neuen Technolo-
gie ließen sich vor einem Jahr auf der Neubaustre-
Umweltschützer
cke Erfurt–Nürnberg besichtigen: Eine Reihe von
und Politiker
ICE fuhren mit Verspätung oder blieben sogar lie- propagieren seit
gen. Güterzüge fahren dort bisher gar nicht. Denn Jahrzehnten, den
die Güterbahnen zögern, ihre Wagen mit der Tech- Verkehr stärker
nik auszurüsten, weil in Deutschland nur wenige auf die Schiene zu
Strecken damit ausgestattet sind. Bis sich die Vortei- verlagern. Eine
le auszahlen und womöglich den Marktanteil der Chance dafür gibt
Schiene erhöhen, wird noch Zeit vergehen. es aber nur, wenn
die Infrastruktur
Maja Brankovic und Kerstin Schwenn funktioniert.
60
Pünktlichkeit der Deutschen Bahn
Verspätung weniger als sechs Minuten, 2017
Fern- Nah-
verkehr
78,5%
verkehr
94,4%
PROZENT
der verspäteten Ab-
fahrten haben ihren
Ursprung an einem
2016 2016 der zehn verkehrs-
78,9% 94,8% stärksten Bahnhöfe.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
20 Titelthema
Kluge Karren
Schon lange träumen Menschen von autonomen
Autos. Nun ist auch die Technik so weit
– und sie dürfte manchen Stau verhindern.
E
s ist eine Vision mit Revolutions-
charakter. Autos helfen ihrem Fahrer,
sich ohne Gefahr in den Verkehr einzu-
fädeln. Sie unterstützen ihn dabei, Kreuzungen zu
überqueren. Technik bremst und beschleunigt das
Fahrzeug zur rechten Zeit. Die Autos bügeln die
Fehler der Fahrer aus, mehr noch: Sie bewahren die
Menschen davor, überhaupt welche zu machen.
Die Unfallzahlen sinken rapide, obwohl der Ver-
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
kehr zunimmt. „Natürlich werden Menschen wei-
ter grobe Schnitzer begehen, aber wenn sie es tun,
richten sie keinen Schaden mehr an.“
Mit diesen Worten skizzierte der renommier-
te amerikanische Industriedesigner Norman Bel
Geddes in seinem Buch „Magic Motorways“ den
Verkehr der Zukunft. Das Buch erschien im Jahre
1940. Schon in zwanzig Jahren, so prophezeite Ged-
des, würden die selbstfahrenden Autos Wirklich-
keit sein, und zwar überall. Damit hat sich der Ame-
rikaner verschätzt, wie so viele andere vor und
nach ihm. In der mehr als hundert Jahre währen-
den Geschichte des Automobils wähnte man auto-
nome Fahrzeuge immer wieder nur zwei Jahrzehn-
te entfernt – und wartete dann doch vergeblich auf
sie. Bis jetzt.
Im vergangenen Jahrzehnt hat die Autobran-
che rund um die Welt viel Geld und Gehirnaktivi-
tät darauf verwendet, ihre Produkte mit dem Inter-
net zu verbinden und Aufgaben zu automatisieren,

die bisher beim Fahrer lagen. Immer leistungsfähi-
gere, kleinere und vor allem günstigere Computer
sowie die dazugehörige Software ermöglichten die
Entwicklung, aber auch weiterentwickelte Sensor-
technik: Kameras, Radarsysteme oder die „Lidar“
genannte Abstands- und Entfernungsmessung per
Laserstrahl.
Wer sich im Internet das derzeit am häufigs-
ten verkaufte Auto in Deutschland zusammenstellt,
den Golf von Volkswagen, erkennt schnell, was heu-
te selbst in Mittelklassemodellen schon technisch
möglich ist – sofern denn die Bereitschaft da ist,
den entsprechenden Aufpreis zu zahlen. Für den
Golf bietet VW rund ein halbes Dutzend Fahrassis-
tenzsysteme an: Ein Toter-Winkel-Assistent zeigt
dem Fahrer an, wann er gefahrlos überholen kann.
Der Spurhalteassistent erkennt, wenn der Mensch
unbeabsichtigt den eigentlich vorgesehenen Pfad
nach links oder rechts verlässt – und steuert im
Zweifel dagegen. Die automatische Distanzrege-
lung wiederum passt die Geschwindigkeit des Fahr-
zeugs je nach Verkehrsfluss an und bremst das
Auto, wenn eine Kollision droht. Der im Jahr 1958
verstorbene Bel Geddes hätte seine Freude daran ge-
habt. Doch sind all diese Systeme erst der Anfang.
Perfekter Verkehrsfluss
Inzwischen arbeitet jeder Hersteller auf der Welt dar-
an, seine Autos weiter zu automatisieren. Deutsche
Fahrzeugproduzenten und deren Zulieferer etwa
wollen innerhalb der nächsten drei Jahre 18 Milliar-
den Euro investieren, um ihre Produkte noch stär-
ker zu vernetzen und zu automatisieren. Das Ziel sei
nicht nur, den Straßenverkehr sicherer zu machen,
heißt es vom Verband der Automobilindustrie. Es
geht längst auch darum, die Effizienz des bestehen-
den Straßennetzes zu steigern. Das ist auch drin-
gend nötig angesichts einer steigenden Zahl von Au-
tos und einer Infrastruktur, die nicht schnell genug
mitwächst.
Wie stark automatisiert fahrende Autos die
Straßen entlasten könnten, zeigt eine Modellrech-
nung der Unternehmensberatung Arthur D. Little.
Die Berater haben dafür den Verkehr auf einem
Teilstück der Bundesstraße 3 zwischen Frankfurt
und Bad Vilbel beobachtet. Sie zählten, wie viele
Autos vorbeifuhren, und berechneten mit einem
mathematischen Modell zwei Szenarien: einen
Mischverkehr aus je fünfzig Prozent herkömmli-
chen und autonomen Autos sowie einen vollkom-
men autonomen Verkehr. Das Ergebnis: Im Misch-
Illustration Mart Klein und Miriam Migliazzi
verkehr nimmt die Kapazität der Straße im Ver-
gleich zur heutigen Situation um gut ein Fünftel
ab – die selbstfahrenden Autos, die sich strikt an
die Regeln halten, bremsen die menschlichen Fah-
rer aus. Im autonomen Fall aber, wenn alle Fahr-
zeuge perfekt aufeinander abgestimmt über die
Straße rollen, steigert sich die Kapazität um mehr
21
als das Zehnfache. Wo heute 43 Autos fahren,
könnten es in Zukunft mehr als 500 sein, sagen die
Unternehmensberater.
Auch in den Innenstädten kann neue Techno-
logie die Straßen entlasten, wie zum Beispiel For-
schungsanstrengungen der Technischen Universi-
tät Berlin belegen. Im dort angesiedelten Labor für
Verteilte Künstliche Intelligenz arbeiten Wissen-
schaftler gerade an Parkplätzen, die Autos und ih-
ren Fahrern signalisieren, wenn sie frei sind. Solche
intelligenten Parkräume könnten gerade in Groß-
städten die lästige und teure Parkplatzsuche been-
den. Laut einer Erhebung des amerikanischen Auto-
software-Dienstleisters Inrix sind die Deutschen im
Durchschnitt 41 Stunden im Jahr damit beschäf-
tigt, einen Parkplatz zu finden. Auf mehr als 40 Mil-
liarden Euro beziffert Inrix die damit verbundenen
wirtschaftlichen Einbußen.
Das komplett automatisierte Fahren steht
aber erst am Ende einer Reihe von Entwicklungs-
schritten, die erst noch zu gehen sind. Einstweilen
ist es eine Vision, wenn Entwickler vom Verkehr auf
Abruf schwärmen, davon, dass sich Nutzer mit ih-
rem Smartphone Robotertaxen ordern. Dass es so
weit kommt, darüber sind sich viele Fachleute aber
einig. Nicht umsonst arbeiten Autohersteller wie
Volkswagen, Zulieferer wie Continental oder Ver-
kehrsunternehmen wie die Deutsche Bahn heute
schon an solchen Robotaxis. Deren Verbreitung wür-
de wohl dazu führen, dass Städter zunehmend auf
ein eigenes Auto verzichten.
Früher als in Städten dürften autonome Au-
tos aber auf Fernstraßen zum Einsatz kommen.
Fahrzeuge mit einem Autobahnassistenten sollen
ihren Insassen die Lenkarbeit abnehmen. Zwar
fließt der Verkehr auf der Autobahn mit hohem
Tempo, dafür ist er ohne Ampeln, Zebrastreifen,
Fußgänger oder Fahrradfahrer auch deutlich weni-
ger komplex als der Stadtverkehr. Und zum Bei-
spiel das richtig dosierte Bremsen oder das Reißver-
schlussverfahren beherrschen fahrende Computer
sehr viel besser als fahrende Menschen. So dürfte
sich in Zukunft der ein oder andere Stau verhin-
dern lassen.
Aber wann wird das alles Wirklichkeit? Es sei
schwer vorherzusagen, in welchem Jahr autonome
Autos tatsächlich losrollen, heißt es bei der Schwei-
zer Investmentbank UBS. „Aber wir erwarten, dass
die Technik innerhalb der nächsten zehn Jahren
den Massenmarkt erreichen wird“, lautet das Ergeb-
nis einer im Mai veröffentlichten Analyse. Die In-
vestmentbanker sehen dafür einen weiteren wichti-
gen Treiber – neben Sicherheits-, Komfort- und Ef-
fizienzgewinnen. Anfang des nächsten Jahrzehnts
könnte sich das globale Geschäft mit autonomen
Autos auf 1,3 bis 2,8 Billionen Dollar summieren.
Martin Gropp
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
 Politik 23

Die Kriege
der
anderen
Die Kurden im Nordosten Syriens
stehen vor der Wahl zwischen zwei Übeln:
Vernichtung oder Unterwerfung.

V
on Erleichterung kann nicht die Rede sein.
Aber die Nachricht aus Washington, der
Truppenabzug aus Syrien werde langsamer
vonstattengehen als ursprünglich verkündet,
verschafft der kurdischen Selbstverwaltung und ihren Milizen
im Nordosten des Landes zumindest eine Atempause. „Wir
schicken unsere Truppen langsam nach Hause, damit sie bei ih-
ren Familien sein können“, hieß es zu Beginn der Woche in ei-
nem Tweet des amerikanischen Präsidenten Donald Trump.
Gleichzeitig werde Amerika die Überreste des „Islamischen
Staates“ (IS) weiter bekämpfen. „Wir wissen nicht, wie die
jüngste Ankündigung aus Amerika in die Tat umgesetzt wird“,
sagt Fawzia Yousif, eine örtliche Funktionärin. Auch sie weist
darauf hin, dass der Kampf gegen den IS noch nicht gewonnen
ist. Einwohner der Region freuen sich zumindest darüber, dass
nach dem „Stress“ und der „Panik“ in den vergangenen Wo-
chen etwas Zeit gewonnen wurde. Doch sie wissen nicht, wie
viel.
Furcht und Unsicherheit dominieren die Äußerungen
kurdischer Gesprächspartner, was die Zukunft betrifft. Denn
die andauernde Bedrohung durch den IS und Tausende Dschi-
hadisten, die ihren Gegnern ein erbittertes letztes Gefecht lie-
fern wollen, ist bei weitem nicht ihre einzige Sorge. Wenn in
einer Angelegenheit Übereinstimmung
Kurden in Qamishli herrscht, dann darin, dass die Kurden
demonstrieren ohne amerikanischen Schutz am Ende
gegen den Abzug vor der Wahl zwischen zwei Übeln ste-
Foto AFP

der Amerikaner. hen werden: einem Einmarsch des

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

24 Politik

türkischen Militärs und seiner arabischen Hilfstruppen – oder
einer Rückkehr des syrischen Regimes. Die Türkei will sie ver-
nichten, das Regime will sie unterwerfen.
Der Verteilungskampf ist schon entbrannt
Trump hatte am 19. Dezember nicht nur Amerikas kurdische
Alliierte in Syrien geschockt, als er ebenfalls über Twitter ver-
kündete, der IS sei besiegt, er werde die rund 2000 amerikani-
schen Soldaten jetzt nach Hause holen. Aber sie hat er damit
am empfindlichsten getroffen. Die Kurden scheinen in dem
geopolitischen Machtkampf, der im Osten Syriens ausgefoch-
ten wird, unter die Räder zu geraten. Die Vereinigten Staaten,
Russland, Iran, die Türkei und das Assad-Regime verfolgen
hier eigene Interessen, und die Grenzen zwischen Gegnern
und Verbündeten lassen sich nicht immer scharf ziehen. Die
Verteilungskämpfe werden umso offener ausgetragen, seit-
dem das IS-Kalifat als gemeinsamer Feind von der Landkarte
so gut wie getilgt ist.
Kurdische Milizen konnten im Krieg gegen die Dschiha-
disten als Verbündete Washingtons ungekannte militärische
Stärke und politische Macht erwerben. Sie bilden das Rück-
grat der „Syrian Democratic Forces“, jener Truppe, die für die
internationale Koalition gegen den IS viele verlustreiche Ge-
fechte geführt hat. Zugleich brachten die Anti-IS-Milizionäre
ein beachtliches Territorium unter kurdische Kontrolle, und
das nicht immer zur Freude der arabischen Bevölkerung. Vor
allem alarmierte dies den nördlichen Nachbarn Syriens, die
Türkei: Weil die kurdischen sogenannten Volksverteidigungs-
kräfte und ihre politischen Vertreter treue Kader des PKK-An-
führers Abdullah Öcalan sind, gelten sie der türkischen Füh-
rung als gefährliche Feinde. Für Präsident Recep Tayyip Erdo-
gan ist die PKK eine Terrorbande, und einen Quasistaat in Sy-
rien unter Öcalans Banner will er um jeden Preis verhindern.
So droht er mit einer Großoffensive, deren Vorbereitungen öf-
TÜRKEI
Afrin Manbidsch
Aleppo Hassakeh
Assadsee
Idlib
E up
Latakia
h ra
fentlichkeitswirksam vorangetrieben werden. Schweres Gerät
wird in die Grenzregion verlegt. Die arabischen Brigaden, die
Ankara für seinen Feldzug angeworben hat, zeigen sich kampf-
bereit. Solche Hilfstruppen Ankaras haben zuvor schon den
Kurdenkanton Afrin erobert, und sie kontrollieren Territori-
um in nordsyrischen Regionen westlich des Euphrats. Der tür-
kische Verteidigungsminister Hulusi Akar nahm die Neujahrs-
feier zum Anlass, die Truppen im Grenzgebiet zu inspizieren
und die Drohung zu erneuern, Ankara werde keine Bedro-
hung entlang der Grenze dulden. „Gott wird uns den Sieg
schenken“, kündigte Erdogan an.
Lange hatte die bloße Präsenz amerikanischer Truppen
in der Konfliktregion einem türkischen Feldzug im Weg ge-
standen. Angesichts der Abzugsankündigung haben sich die
Kurden an das syrische Regime gewandt. Die syrischen Streit-
kräfte sollen nun als Puffer dienen. Baschar al Assad war in
mehreren Fällen ein – mal mehr, mal weniger – heimlicher
Alliierter der kurdischen Kräfte gewesen. Dass die Amerika-
ner sie irgendwann nicht mehr brauchen würden, wussten
sie schon lange. Und entsprechend lange gibt es aus der Füh-
rung schon die Forderung, ein Arrangement mit dem Re-
gime zu finden, das ihnen weiterhin Eigenständigkeit bietet.
Erst vor Monaten gab es Verhandlungen darüber. Im Som-
mer war eine kurdische Delegation in Damaskus. Nach kur-
dischen Angaben soll jetzt Assads Patron Russland in einem
Dialog vermitteln. „Die syrische Regierung wurde gebeten,
während der Gespräche die Grenzen zu sichern“, sagt die
Funktionärin Fawzia Yousif. Die Volksverteidigungskräfte
hatten Ende Dezember in einer Erklärung eine entsprechen-
de Einladung ausgesprochen.
Im Kurdengebiet liegen die Erdölfelder
Das Regime kam dieser Bitte gerne nach. Die Staatspresse in-
szenierte prompt seine angebliche Rückkehr in die Stadt Man-
bidsch – auch wenn kein syrischer Soldat wirklich einen Fuß
dorthin setzte. Für den syrischen Machthaber Assad und seine
Verbündeten in Moskau und in Teheran wäre eine Wiederein-
gliederung des Nordostens in sein zerstörtes Reich ein Ge-
winn. Dort liegen Erdölfelder, deren Einkünfte das Regime an-
gesichts der überstrapazierten Finanzen gut gebrauchen könn-
te. Es hat aber derzeit keinen Zugriff, weil sie noch im Aktions-
IRAK radius der Amerikaner liegen. Iran könnte überdies seine stra-
tegische Landverbindung durch die Levante in den Libanon
ausbauen, wenn Damaskus den Nordosten Syriens zurückbe-

Deir al Zor
SYRIEN kommt. Assad, der sich schon in der Vergangenheit geweigert
t

Homs hatte, den Forderungen nach strukturellen Änderungen nach-

SYRISCHE zukommen, dürfte einen hohen Preis verlangen, jetzt, da die
Abu Kamal
LIBANON
WÜSTE kurdisch beherrschten Regionen verwundbarer werden. Und
es ist nicht ausgemacht, dass er sich an die Vereinbarung hält,
wenn er wieder stark genug ist, sie zu brechen.
Damaskus
Junge Männer in Städten wie Manbidsch, die sich dem
Golan- Kurden Aufstand gegen den Machthaber angeschlossen hatten, fürch-
höhen Syrische Armee ten sich schon jetzt vor der Rückkehr seiner Sicherheitskräfte.
Türkische Armee und FSA 1) Und selbst jenen, die nicht zu den Feinden des Regimes zäh-
JORDANIEN Rebellengruppen len, drohte im Fall einer Übergabe an Damaskus die Zwangsre-
Quelle: syria.liveuamap.com „Islamischer Staat“ (IS) krutierung in die ausgezehrten Streitkräfte.
Stand 2.1.2019 100 km
F.A.Z.-Karte Levinger 1) Freie Syrische Armee
Christoph Ehrhardt, Beirut

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Kalter
Rauch
In Deutschland wird immer
öfter Shisha geraucht. Über die
Gefahren der orientalischen
Wasserpfeifen ist wenig bekannt.
I
m Vorbereitungsraum der Alois-Shisha-
Bar in Fellbach sind die Shisha-Schläuche
nach Geschmacksrichtungen sortiert.
„Traube-Minze“, „Falim-Lemon“ sowie „Sonstige“.
Unter einer metallenen Dunstabzugshaube zündet
die studentische Aushilfskraft Özgür, der den Gäs-
ten die Shishas gleich servieren will, drei kleine Koh-
lestücke an und wartet, bis sie glutrot durchgeglom-
men sind. Gute Shisha-Kohle wird aus Kokosnuss-
schale gemacht, weil sie eine lange Brenndauer ga-
rantiert. „Die Kohle muss richtig durchgeglüht sein.
Und die Shisha-Raucher sollten gut gegessen und ge-
trunken haben, dann kann nicht viel passieren“,
sagt Ali Mese, der die Bar vor sieben Jahren eröffnet
hat. Davor arbeitete der Türke im Daimler-Werk in
Untertürkheim. Als der Konzern eine großzügige
Abfindung anbot, entschloss er sich, am deutschen
Wasserpfeifen-Boom teilzuhaben. Diese Art des Ta-
Foto Getty
bakrauchens wurde im 16. Jahrhundert in Indien er-
funden und verbreitete sich vor allem in Persien. Auch junge Leute
Das persische Wort Shisha bedeutet „Flasche“. Was- rauchen Shisha;
serpfeifen stehen heute zum Privatgebrauch auch in die Drogenbeauf-
vielen deutschen Wohnzimmern. Und Shisha-Bars tragte Marlene
finden sich schon lange nicht mehr nur in Stadtvier- Mortler sieht
teln, in denen mehrheitlich Einwanderer leben. einen „klaren
Selbst in alten, umgebauten Dorfkneipen wird heu- Aufwärtstrend“.
te oft Shisha geraucht.
Wie viele andere Betreiber auch muss Ali
Mese seit einiger Zeit damit leben, dass die Konkur-
renz härter wird, weil Shisha-Bars, wie er selbst sagt,
„wie Pilze aus dem Boden“ schießen. In Berlin sol-
len es schon rund tausend sein. Zugleich beginnen
Politiker und Behörden zu verstehen, dass dieser
Trend neue Gefahren für Bar-Angestellte und Kon-
sumenten mit sich bringt – und damit neuen Rege-
lungsbedarf. In Baden-Württemberg versucht die
für das Gaststättengewerbe zuständige Wirtschafts-
ministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU), durch
einen rigiden Erlass Ordnung in den relativ jungen
Zweig des Gastronomiegewerbes zu bringen. Ande-
re Landesregierungen beschäftigen sich auch schon
mit dem Problem, beraten aber noch.
Im Südwesten gilt seit dem Herbst eine Allge-
meinverfügung. Sie untersagt die Vorbereitung und
den Verkauf von Shishas in allen normalen Gaststät-
ten. Bars, die Shishas anbieten, müssen jetzt vor al-
lem wegen der Gefahr von Kohlenmonoxid-Vergif-
tungen hohe Auflagen erfüllen. Das geruchlose Gas
wird beim Verschmelzen des Tabaks in den Wasser-
pfeifen freigesetzt. Shisha-Bars müssen eigens eine
Lüftungsanlage einbauen, um sicherzustellen, dass
die Konzentration von Kohlenmonoxid nicht über
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
26
dem erforderlichen Grenzwert liegt. Die Anlage
muss so gut sein, dass pro Shisha und Stunde 130 Ku-
bikmeter Luft nach außen befördert werden kön-
nen. In den Vorbereitungsräumen, wo die Kohle an-
geheizt wird, muss es einen zusätzlichen Dunst-
abzug geben. Shisha-Bars sollten künftig außerdem
mit mehreren Kohlenmonoxid-Warnmeldern ausge-
stattet sein, die regelmäßig kontrolliert werden müs-
sen. Schwangere, Menschen mit Herz-Kreislauf-Er-
krankungen sowie Minderjährige müssen durch ein
Schild am Eingang vor den Gefahren der Kohlen-
stoffmonoxid-Emission gewarnt werden.
Deutlich höhere Nikotinaufnahme
Nach Auffassung des Ministeriums sind Gäste und
Shisha-Barkeeper ohne diese Maßnahmen einer „er-
heblichen Gefahr“ ausgesetzt, sie können im
schlimmsten Fall eine Kohlenmonoxid-Vergiftung
erleiden, die zum Tod führen kann. Das geruchlose
Kohlenmonoxid mindert die Bindungsfähigkeit des
Hämoglobins für Sauerstoff, zusätzlich verlangsamt
sich durch das Kohlenmonoxid die Aufnahme von
Sauerstoff im Blut. Schon geringe Mengen Kohlen-
monoxid reichen aus, um die Sauerstoffaufnahme
gefährlich einzuschränken. Außerdem dauert es Wo-
chen, bis sich die Sauerstoffaufnahme nach einer
kurzfristigen hohen Kohlenmonoxid-Aufnahme
wieder normalisiert. In Hamburg soll es zwischen
2015 und 2018 etwa zwanzig schwere Kohlenmono-
xid-Vergiftungen gegeben haben, in Nordrhein-
Westfalen berichteten Toxikologen des Universitäts-
klinikums Düsseldorf von 40 Patienten mit Kohlen-
monoxid-Vergiftungen.
Auch Ali Mese in Fellbach bekam schon zwei-
mal Besuch vom Ordnungsamt. Beim ersten Be-
Das Gerücht, such wurden eine zu schwache Entlüftungsanlage
dass das Wasser und die fehlenden Kohlenmonoxid-Warnmelder
in den Shishas moniert. „Ich habe die Melder nachgerüstet und
Giftstoffe heraus- eine zweite Entlüftungsanlage eingebaut“, sagt
filtere, hält Mese. „Beim zweiten Besuch stimmten die Werte
sich hartnäckig. zum Glück, die haben sehr gründlich gemessen.“
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Uwe Stedtler, stellvertretender Leiter der Ver-
giftungs-Informations-Zentrale (VIZ), berichtet
von zahlreichen Fragen in telefonischen Beratungs-
gesprächen: „Wir hatten im Jahr 2018 elf Anfragen
zur Inhalation von Shisha-Rauch, davon vier, bei de-
nen explizit das Kohlenmonoxid als Problem und
wichtigstes Gift dokumentiert worden ist.“ Der Me-
diziner betont, dass die Inhalation von Kohlenmo-
noxid keineswegs die einzige Gefahr darstellt: „Der
Rauch aus Shisha-Pfeifen ist wie Zigarettenrauch
auch ein komplexes Gemisch potentiell schädlicher
Inhaltsstoffe. Beim regelmäßigen Shisha-Rauchen
wird auch krebserregender Teer inhaliert. Der Shi-
sha-Rauch enthält außerdem flüchtige organische
Substanzen wie Formaldehyd und Acrolein, die aku-
te Atemwegsreizungen, Husten und auch chroni-
sche Lungenschäden verursachen können.“
Medizinisch sind die Langzeitfolgen des Shi-
sha-Rauchens noch unzureichend erforscht. Wahr-
scheinlich ist das Rauchen der Shisha sogar gefährli-
cher als das einer Zigarette: Weil der Rauch durch
das Wasser abgekühlt wird, liegen viele Giftstoffe
im Rauch als Aerosole vor, sie können somit besser
in die feinen Lungenbläschen vordringen. Und weil
der Rauch kälter ist, wird er tiefer inhaliert. Die
Behauptung, das Wasser entgifte den Tabakrauch,
ist eine schöne Mär. Die Nikotinaufnahme ist für
den Shisha-Raucher möglicherweise sogar hundert-
mal höher als beim Rauchen einer Zigarette. Nach
Berechnungen der Weltgesundheitsorganisation
(WHO) entspricht die inhalierte Rauchmenge bei
einer Shisha-Sitzung der von etwa 100 Zigaretten.
Die dem Shisha-Tabak zugesetzten Aromastoffe
können außerdem Kontaktallergien hervorrufen.
Die Wirkung der Befeuchtungsmittel, mit denen
der Shisha-Tabak ebenfalls angereichert wird, ist we-
nig erforscht. Durch den Schwelprozess des Tabaks
auf der Shisha-Kohle entstehen 3600 bis 4000 Stoffe;
etwa 70 stehen im Verdacht, krebserregend zu sein.
Schlecht desinfizierte Shisha-Schläuche oder
schmutzige Mundstücke bergen zudem ein Infekti-
onsrisiko. Deutsche Bakteriologen untersuchten vor
acht Jahren Shisha-Schläuche mit einer Stichprobe:
45 Prozent waren stark mit Keimen kontaminiert.
Etwa die Hälfte aller deutschen Zehntklässler
gab nach einer Studie der Krankenkasse DAK an,
schon einmal an einer Wasserpfeife gezogen zu ha-
ben. Etwa ein Viertel aller Jugendlichen mit Migrati-
onshintergrund raucht regelmäßig Shisha. Der Erlass
zur besseren Belüftung von Gasträumen zur Verhin-
derung von Kohlenmonoxid-Vergiftungen, wie er in
Baden-Württemberg beschlossen wurde und in ande-
ren Bundesländern erwogen wird, kann nur ein ers-
ter Schritt sein. Auf die Sozial- und Gesundheitsmi-
nister in Bund und Ländern kommt viel Arbeit zu –
vor allem bei der Aufklärung der Bevölkerung.
Rüdiger Soldt, Stuttgart
 Politik 27

N Auch du,
ach ihrem überra- listen haben sich in Portugal noch
schenden Erfolg in An- nicht formiert, wo in diesem Jahr
dalusien traut sich die ebenfalls Wahlen anstehen.

Spanien
Partei „Vox“ in Spanien alles zu. Bis Die spanische Vox-Partei ver-
Anfang Dezember schienen Rechts- dankt ihren Aufstieg der Eskalation
populisten in Spanien keine Chance des Katalonien-Konflikts. Für ihre
zu haben. Doch ausgerechnet im Anhänger sind katalanische Politi-
Stammland der Sozialisten (PSOE) ker wie Carles Puigdemont und sein
feierte die Splitterpartei ihren bisher Rechtspopulisten spielten Nachfolger Quim Torra Erzfeinde
größten Triumph: Aus dem Stand ge- auf der Iberischen Halbinsel Spaniens. Vox verlangt, die „Einheit
wann sie im Dezember zwölf Sitze. lange keine Rolle. Das Spaniens“ mit allen Mitteln zu ver-
Im andalusischen Regionalparla- teidigen. So solle Madrid die katala-
ment in Sevilla führt seitdem an könnte sich jetzt ändern. nische Autonomie bis zur „vollstän-
„Vox“ politisch kein Weg mehr vor- digen Niederlage des Staatsstreichs“
bei. Seit einer Woche ist die Partei im aussetzen, wie es im Hundert-Punk-
Präsidium des Regionalparlaments te-Programm heißt. Vox will einen
vertreten. Und am 16. Januar hängt starken Zentralstaat. Die sozialisti-
es von den Rechtspopulisten ab, ob sche Partei des spanischen Minister-
es in Andalusien zu einer kleinen Re- präsidenten Pedro Sánchez verlor in
volution kommt: Die größte autono- Andalusien auch deshalb viele Stim-
me Region Spaniens soll dann zum men, weil ihre konservativen Mit-
ersten Mal in ihrer Geschichte mit glieder die Regierung in Madrid für
Juan Manuel Moreno von der Volks- zu nachgiebig gegenüber den Separa-
partei (Partido Popular, PP) einen tisten hält. Nur mit ihren Stimmen
konservativen Regierungschef erhal- wurde Sánchez im vergangenen Juni
ten – seit Anfang der achtziger Jahre Regierungschef.
hatten die Sozialisten die größte Regi- In Andalusien spielte zudem
on Spaniens fest im Griff. der ständig wachsende Zustrom von
Siegestrunken kündigte die Migranten aus Afrika eine Rolle.
Vox-Führung an, von Sevilla und Mehr als 62 000 Menschen kamen
Córdoba aus die „Reconquista“, die 2018 nach Spanien – so viele wie nie
„Rückeroberung“ ganz Spaniens zu zuvor. Die meisten von ihnen lande-
beginnen – Reconquista ist das spani- ten an den andalusischen Küsten,
sche Wort für den Sieg der katholi- Der Vox-Vorsitzende Santiago Abasca (links) wo zum Beispiel in der Provinz Al-
schen Könige über die muslimi- und der andalusische Vox-Kandidat mería Vox besonders erfolgreich
schen Mauren Ende des 15. Jahrhun- Francisco Serrano Castro nach dem Wahlerfolg war. Vox verlangt, eine Mauer um
derts. Im Mai stehen in Spanien im Dezember die spanischen Nordafrika-Exklaven
Kommunal-, Regional- und Europa- Ceuta und Melilla zu bauen sowie
wahlen an. Vox hofft, an die andalusi- die Reisefreiheit im Schengen-
sche Überraschung anzuknüpfen, die Meinungsforscher nicht Raum auszusetzen. Erste Kontakte hat Vox schon zu Steve Ban-
vorhergesagt hatten. Möglicherweise gibt es im neuen Jahr non geknüpft, dem früheren Wahlkampfleiter und Chefstrate-
auch noch vorgezogene Parlamentswahlen. Bis vor kurzem hat- gen von Donald Trump, der „rechte Nationalpopulisten“ aller
te die im Jahr 2013 von unzufriedenen PP-Mitgliedern gegrün- Länder vereinigen will.
dete Vox-Partei, die versprach, Spanien „wieder groß zu ma- Spätestens in den Wahlen im Mai wird sich zeigen, ob die
chen“, politisch noch ein Schattendasein gefristet. In der Parla- Rechtspopulisten im Rest Spaniens Fuß fassen können. In An-
mentswahl 2016 erhielt sie nur 0,2 Prozent der Stimmen. dalusien zögerten die konservative Volkspartei (PP) und die li-
berale Ciudadanos-Partei nicht und suchen die Zusammenar-
Zustrom von Migranten stärkt Vox-Partei beit mit den Rechtspopulisten. Mit ihrem Erstarken fragmen-
Bis zur Wahl in Andalusien erklärten Politikwissenschaftler das tiert sich das spanische Parteiensystem weiter. Jahrzehntelang
mit der „iberischen Ausnahme“. Als wichtigsten Grund nann- wechselten sich PP und Sozialisten in Madrid an der Regierung
ten sie die Jahre der Diktatur, die erst 1975 mit dem Tod von ab. Aber sie haben längst keine eigenen Mehrheiten mehr. Die
Francisco Franco zu Ende gegangen war. Etwa die Hälfte der Ciudadanos-Partei und die Linkspopulisten von Podemos sind
Spanier hat die Franco-Herrschaft noch miterlebt, die nationa- erst wenige Jahre alt und haben schon einen festen Platz in der
le Symbole und Slogans für ihre Zwecke nutzte. Nun gilt diese Parteienlandschaft. Vox könnte laut einer Anfang Januar veröf-
Ausnahme nur noch für das Nachbarland Portugal. Wie in Spa- fentlichten Umfrage in nationalen Wahlen mehr als zehn Pro-
Fotos dpa, Reuters

nien herrschte dort bis zur Nelkenrevolution 1974 eine Rechts- zent der Stimmen erhalten, ähnlich viel wie in Andalusien.
diktatur. Heute ist in Lissabon eine sozialistische Minderheitsre-
gierung im Amt, die zwei Linksparteien tolerieren; Rechtspopu- Hans-Christian Rößler, Madrid

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 asdfasdfSADFASD
sad<sadSADSDA
fasdfasdAasdfsadfasafasfasfasdff
asdfasasdfasdfasd
Feuerland
Malawi war nicht nur ein Vorzeigeland
in Afrika, sondern auch ein
Geheimtipp für Touristen. Doch der
Klimawandel verändert alles.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
A
ls hier noch Elefanten lebten, war es einfacher.“
Connis Matewere sagt es mit dem nüchternen
Bedauern einer Landwirtin, die tüchtige Unter-
stützer verloren hat. Für sie waren die gewaltigen Tiere, die vor
wenigen Jahren noch frei durch die Wald- und Steppenland-
schaft im südlichen Malawi zogen, eine Art Ordnungsfaktor –
hier, unweit der Distrikthauptstadt Mangochi, wo der riesige
Malawi-See endet und die Grenze zum Nachbarland Moçam-
bique nahe ist. Holzdiebe und Betreiber illegaler Holzkohlemei-
ler mieden die Region wegen der Elefanten, denn die tonnen-
schweren Kolosse verjagten die menschlichen Störenfriede.
Normalerweise sind Afrikaner eher schlecht auf das
größte Landsäugetier zu sprechen. Nach nächtlichen Besu-
chen von Elefanten bleiben oft zertrampelte Ernten zurück,
und auch wer tagsüber einem Elefanten begegnet, sucht besser
das Weite. Immer wieder kommen Menschen bei Begegnun-
gen mit Elefanten zu Tode. 520 der Tiere wurden darum im
Jahr 2017 in das Landesinnere umgesiedelt, darunter auch die
120 Tiere aus der Region im Süden. Die resolute Chefin des
 Politik
Eine Plackerei, Forstkomitees aus dem Flecken Chiwalo
die ganze Tage in seufzt. Nun müssen sie und ihre Mitstrei-
Anspruch nimmt: ter regelmäßig Patrouille gehen und zei-
Holzsammlerin im gen, dass niemand hier einfach Bäume
Süden Malawis fällen und daraus Holzkohle herstellen
darf. Am Ende der Trockenzeit wirkt
das südliche Malawi wie mit wenigen weichen Pastellfarben
gezeichnet. Ockerfarbene Erdtöne sind von Einsprengseln
gelblichen Grases durchsetzt. Aus der trockenen Erde sprie-
ßen dicke grüne Stengel mit einer Vitalität, die Afrikas Natur
so einzigartig macht. Zarte Grüntupfer in den Bäumen kündi-
gen das Wachstum der Natur an. Darüber spannt sich ein
sanft-blauer Himmel. Die Landschaft wäre von herbem Reiz,
würde sie nicht immer wieder an ein verlassenes Schlachtfeld
erinnern. Überall ragen Baumstümpfe wie abgebrochene, fau-
le Zähne aus dem Boden. Am Wegesrand sind ausgeblichene
Stämme zurückgeblieben, wo Holzdiebe bei ihrer Arbeit ge-
stört wurden. Selbst das Flussbett ist ausgetrocknet und vol-
ler Gestrüpp. Das Unterholz ist rußverschmiert wegen der
zahlreichen Buschfeuer, die von Menschen gelegt wurden,
um Tiere bis hin zu Mäusen zu jagen, die mancherorts als De-
likatesse gelten.
Selbst die alten Baobab-Bäume sind in Gefahr
„Unser Leben hat sich in den vergangenen Jahren völlig verän-
dert“, sagt Connis Matewere. Grund sei der Klimawandel. In
dem von Landwirtschaft geprägten Land hat er unmittelbare
Folgen. Die Gewissheit gilt nicht mehr, dass man mit dem No-
vember-Regen pflanzen und im April des Folgejahres ernten
kann. Mal bleibt der Regen aus, mal kommt er mit der Kraft
einer Sintflut und spült die Keimlinge mit sich fort. Mal
wächst der Mais bis zur Höhe der Hüfte, und dann setzt plötz-
lich Trockenheit ein. Der Grundwasserspiegel sinkt, und selbst
die großen Baobab-Bäume sind in Gefahr. Das ist ein Symbol,
denn viele dieser Bäume sind über 2000 Jahre alt und eigent-
lich imstande, bis zu 150 000 Liter Wasser zu speichern, wenn
ihre Wurzeln nur das Grundwasser erreichen.
Und dann ist da der Mensch. Seit 1950 hat sich die Bevöl-
kerung Malawis auf fast 18 Millionen Bewohner versechsfacht.
„Überall sind Menschen“, sagt die 52 Jahre alte Connis Mate-
were. „Und überall wurden Felder angelegt. Wir haben keine
Wälder mehr.“ Dabei sind es die Bäume, die mit ihren Blät-
tern den Boden vor dem Austrocknen schützen und deren
Wurzeln die Erde festhalten. Fehlen sie, spült Regen die Kru-
me fort. Tiefe Erosionskanäle zerteilen die Felder. Das Sam-
meln von Feuerholz wird zur Plackerei, die einen ganzen Ar-
beitstag kostet. Hinzu kam 2017 noch ein Schädling, der in
Afrika „Army Worm“ genannt wird – auf Deutsch „Heer-
wurm“. Wie Eroberer machen die Raupen sich über die Felder
her und ziehen weiter, wenn sie abgefressen sind. In 20 der 28
Distrikte Malawis wurde wegen der Schädlingsplage der Kata-
strophenzustand ausgerufen. 350 000 der 800 000 Einwohner
waren im Distrikt Mangochi von Hunger und Mangelernäh-
rung betroffen.
Malawi hatte bisher nie für die negativen Schlagzeilen ge-
sorgt, die Afrika sonst regelmäßig liefert. Die Menschen sind
von überwältigender Freundlichkeit, ethnische Spannungen
sind unbekannt. Bürgerkriege hat es hier nie gegeben. Hastings
29
Kamuzu Banda, der das Land in die Unabhängigkeit führte
und diktatorisch über Jahrzehnte regierte, trat als Greis 1994 wi-
derstandslos ab, nachdem er in einer demokratischen Wahl un-
terlegen war. In Reiseführern wird Malawi als Geheimtipp ge-
führt. Es ist landschaftlich vielfältig, mitunter atemberaubend
schön und für Touristen vergleichsweise unkompliziert. Nach
wie vor leben vier Fünftel der Einwohner auf dem Land.
Immer rascherer Verlust der Lebensgrundlagen
Doch vor diesem ruhigen Hintergrund sind die Folgen von
Überbevölkerung, Klimawandel und nachlässiger Regierungs-
führung umso deutlicher abzulesen. Malawi verliert mit zu-
nehmender Geschwindigkeit seine Lebensgrundlage. Men-
schen wie Connis Matewere und ihre Mitstreiter versuchen,
die malawische Forstbehörde zu unterstützen, der das Perso-
nal fehlt, um die Wälder zu kontrollieren. Eingebunden ist
das in ein Projekt der Deutschen Welthungerhilfe, den Forst
nachhaltig zu nutzen – als Holzlieferant und Schattenspender
für Gemüse- und Pflanzenfelder. Zwar hat auch der malawi-
sche Staat solche Konzepte – aber nicht die Kapazität, sie in
die Tat umzusetzen.
Afrikaner sind geschult im Umgang mit Europäern, und
in Malawi hat man rasch gelernt, dem Klimawandel viele Übel
zuzuschreiben. Idon Chadzuka, der am Ufersaum des Malawi-
Sees auf einem traditionellen Einbaum sitzt, klagt über den zu-
rückgehenden Fischbestand in dem fast 600 Kilometer langen
und etwa 80 Kilometer breiten Süßwassersee. Zunächst macht
der 54 Jahre alte Vorsitzende einer lokalen Fischervereinigung
den Klimawandel dafür verantwortlich. Doch dann gibt er zu,
dass auch der Mensch durch Überfischung seinen Teil dazu
beigetragen habe. Heutzutage sei es so-
Eine andere Arbeit gar schwer geworden, kleine Köder-
gibt es hier nicht: fische zu fangen, geschweige denn die
Holzkohleförderer großen Tiere. Mitunter werde mit engen
an einem illegalen Moskitonetzen selbst die Brut noch aus
Meiler in Kachala dem Wasser gefischt, berichtet er. Hinter
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
30 Politik
der Uferböschung lag vor wenigen Jahren noch ein
sumpfiger Ausläufer des Sees. In diesem Flachwasser,
von kleinen Grasinseln durchsetzt, fanden die Jung-
fische einen natürlichen Schutz. Durch Austrocknung je-
doch verlandete die weite Fläche völlig. Irene Pathiwi,
eine Bäuerin aus der Nachbarschaft, führt die Besucher
auf ein Gemüsefeld und dreht sich mit ausgestreckten
Armen im Kreis. „Hier überall war Wasser“, sagt die 60
Jahre alte Frau. Nichts erinnert heute mehr daran.
Die Fischer klagen, dass es zwischen November und Fe-
bruar zwar ein Fisch- und Fangverbot gebe, um die Bestände
nicht völlig zu verlieren, dies aber nicht beachtet werde. Die
Behörden kontrollierten unregelmäßig, wenn überhaupt.
Mancher Bauer, dessen Saat vertrocknet sei, fange nun illegal
Fische. Tatsächlich bieten entlang der Hauptverkehrsstraße
junge Burschen den Autofahrern größere Barsche oder Welse
an, und auf großen Gestellen glänzen Umgerechnet fünf
Hunderte kleiner silberner Fischleiber Euro verdienen die
beim Trocknen in der Sonne. Männer für drei
Wer von Mangochi aus Richtung Sack Holzkohle in
Lilongwe fährt, der zweitgrößten Stadt der Hauptstadt.
des Landes, wird mit der Abwesenheit
des Staates auf Schritt und Tritt konfrontiert. Sanft steigt die
Straße an und erklimmt einen Höhenzug. Die Landschaft
leuchtet in den gewohnten Ockertönen. Schon von weitem er-
kennt man wie irrlichternde Punkte auf der ansteigenden Stra-
ße Lastenradfahrer, die Holzkohle transportieren. Sie stammt
aus Hunderten illegalen Meilern im Bergland und ist in Säcke
aus weißem Plastikgewebe gefüllt, jeder etwa 35 Kilo schwer.
Häufig steigen die Kuriere ab und schieben die Räder. Mit
dem allerersten Morgenlicht gegen 5 Uhr sind die Radler auf-
gebrochen. Sie leisten Schwerstarbeit, denn selbst im Schatten
erreichen die Temperaturen rasch 30 Grad.
Bereitwillig geben die Männer Auskunft. Wer drei Säcke
Holzkohle in der Distrikthauptstadt Mangochi verkauft, hat
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
umgerechnet fünf Euro verdient. Wer aber von der Forstbehör-
de gefasst wird, hat nicht nur die Ladung, sondern auch sein
Fahrrad verloren. Ein Verlust, der mit umgerechnet fast 60
Euro zu Buche schlägt und praktisch den Ruin bedeutet. Die
jungen Männer sind zwischen 22 und 29 Jahre alt, alle Famili-
enväter, und sie berichten, es gebe keine andere Arbeit. Sie
stammen aus dem Ort Kachala, der berüchtigt ist für seine
Meiler und sein landesweites Vertriebssystem.
Hunderte illegale Holzkohlemeiler
Abgeholzte Hügel säumen den Weg in das Dorf. Unweit der
Straße liegt in Kachala der Meiler von Tingo Marupia. Der
Hang ist strategisch gewählt: so, dass die großen Bäume gefällt
und zum Ofen hin gerollt werden konnten. Mechanische Hilfs-
mittel wie Flaschenzüge, Motorsägen oder Gestelle sind hier
nicht auszumachen. Die Menschen arbeiten mit Äxten, Ha-
cken, Rechen und Spaten. Wird eine Erdschicht abgetragen,
weil das Holz verkohlt ist, besprengen die Männer den Brenn-
stoff mit Wasser aus Gießkannen und Schüsseln. So archaisch
die Arbeit in Hitze und Rauch ist, so routiniert sind die Helfer.
Die aufgesammelte Kohle wird in geflochtene Gestelle geschüt-
tet und mit Sackleinen umhüllt. Dann ist sie transportbereit.
Seit zehn Jahren ernährt der 42 Jahre alte Tingo Marupia
seine Familie auf diese Weise, und mit ihm arbeiten acht Dorf-
bewohner, die ebenfalls Meiler besitzen. So hilft jeder jedem.
Bryson Bwandi ist eine Art lokaler Anführer der Köhler. Er
klingt wie ein Manager, der fast schon routinemäßig beklagt,
wie schwer die – ungesetzlichen – Geschäfte geworden seien
und wie gering der Gewinn, den sie abwerfen. Ob er nicht wis-
se, dass er die Zukunft seiner Kinder gefährde und deren Le-
bensgrundlage zerstöre, wird er gefragt. „Wir tun das heute
für uns und unsere Kinder“, sagt er. Die Menschen hätten kei-
ne andere Möglichkeit, um Geld zu verdienen.
Leonhard Kamangadazi ist der Chef des Forstdistrikts,
und er kennt ihn wie seine sprichwörtliche Westentasche. Mit
vier Mitarbeitern soll er ein Gebiet von etwa 160 Quadratkilo-
metern kontrollieren. Es gebe die richtigen Gesetze und Stra-
tegien im Land, doch sie würden nicht umgesetzt, sagt er.
Auch Johannes Kaltenbach von der Welthungerhilfe sieht das
so. Es gebe eine nationale Holzkohlestrategie, die weit ins
nächste Jahrzehnt reiche – nur für die Durchsetzung der Plä-
ne werde zu wenig getan. Malawi verliert mittlerweile Jahr für
Jahr drei Prozent seiner Waldfläche, und viele haben die Holz-
verkohlung zum dauerhaften Job gemacht. Warum denn
überhaupt mit Holzkohle gehandelt werde? „Wir haben nicht
24 Stunden Elektrizität am Tag“, entgegnet der malawische
Forstwirt. Häufig und vor allem in der Regenzeit falle der
Strom aus. Die Holzkohle sei ein ständig verfügbarer und ver-
lässlicher Energieträger.
Es habe auch Zeiten gegeben, da sei es einfacher gewe-
sen, den Wald zu schützen, sagt Kamangadazi. „Aber dann
kam dieser Aufschrei.“ Er rollt mit den Augen und spricht von
denen, die sich von den frei laufenden Elefanten bedroht ge-
fühlt hätten. Nun seien die Tiere fort. Sicher, auch Elefanten
fügten den Bäumen Schaden zu. Aber nicht in dem Ausmaß,
in dem es jetzt die Menschen tun.
Peter Pauls, Mangochi (Text und Fotos)
 Unterdessen in 31

Leipzig

Gewalt gegen
Sachen
Vermummte Gewalttäter haben in
Leipzig den Jahreswechsel genutzt,

Mächtiger Mentor
um in Teilen der Stadt Chaos zu
stiften. 50 bis 60 Angreifer nah-
men eine Villa im Südwesten der
Stadt ins Visier, in der der 5. Straf-
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble ist keiner, der schnell senat des Bundesgerichtshofs ange-
aufgibt. Besonders, wenn er für Parteifreunde kämpft. siedelt ist. Sie schlugen die Fenster-
scheiben der ehemaligen Indus-
triellenvilla ein und versuchten,

W
olfgang Schäuble (unser Bild) wird im Spätsommer dieses Jahres 77 Jah- die Eingangstür anzuzünden. Zu-
re alt. Am regulären Ende dieser Legislaturperiode im Herbst 2021 wird vor hatten sie in der Nähe Barrika-
ihm nur noch ein Jahr fehlen, dann wäre er ein halbes Jahrhundert lang den errichtet und spitze Gegen-
ununterbrochen Mitglied des Deutschen Bundestages. Sein CDU-Parteibuch stammt stände auf der Straße verteilt. Im-
aus dem Jahr 1965. Schäuble ist der längstgediente Abgeordnete des obersten deutschen mer wieder kommt es in Leipzig
Parlaments, ihn als den erfahrensten zu bezeichnen ist zwar nicht objektiv messbar, wür- zu politisch motivierten Sachbe-
de aber wohl kaum bestritten werden. schädigungen. Vor allem im links-
In Zeiten, da ganze Generationen den Begriff Work-Life-Balance nutzen, um das alternativ geprägten Stadtteil Con-
Berufsleben nicht zu viel Herrschaft über das Private gewinnen zu lassen, wirkt Schäub- newitz und der Südvorstadt wer-
le wie aus der Art gefallen. Für ihn ist das Gleichgewicht zwischen politischer Arbeit den Geschäfte, Autos und Gebäu-
und seinem Leben vermutlich relativ leicht herzustellen, weil er den Eindruck erweckt, de kleinerer Firmen angegriffen,
dass sich beides sehr weit überschneidet. Schäuble ist mit Leib und Seele Politiker. die große Konzerne beliefern.
Er macht daraus kein Gesetz, sagte er kürzlich in der F.A.Z., es müsse ja nicht je- Auch Behörden werden zur Ziel-
der so machen wie er: mit 30 in den Bundestag einziehen und mit 76 immer noch drin scheibe. So gab es etwa 2017 einen
sitzen. Er sagte das in einem Interview, in dem er dafür warb, dass Friedrich Merz Partei- Brandanschlag auf ein Jobcenter.
vorsitzender der CDU werde. Schäuble scheint es sich zur Aufgabe, zur Herausforde- „Es geht darum, Institutionen zu
rung gemacht zu haben, alles in seiner Macht Stehende zu tun, um Merz auf einen ein- treffen, die für das Establishment
flussreichen Posten zu bringen, und der wirkmächtigste ist immer noch der des Bundes- stehen“, sagte ein Sprecher des
kanzlers. Ihm selbst war dieser Schritt nicht vergönnt. Helmut Kohl, dem er lange und sächsischen Landeskriminalamtes
loyal diente, tat nicht, was erforderlich gewesen wäre, um ihn zum Kanzler zu machen. der F.A.Z. Woche. Das Aggressions-
Schäuble, der seit 1990 durch ein Attentat gelähmt ist, reagierte auf Kohls Verhalten potential von rechts wie auch von
nicht in der Art, dass er mit der Politik gebrochen hätte. Selbst als ihn die Parteispenden- links sei gestiegen – auch, weil bei-
affäre nach nur kurzer Zeit sein Amt als CDU-Vorsitzender kostete, schmiss er nicht de Lager im Zuge der verschärften
hin, sondern kämpfte weiter. Einwanderungsdebatte stärker in
Noch in der vorigen Legislaturperiode galt Wolfgang Schäuble als derjenige, der zu- die Öffentlichkeit gedrängt seien,
mindest bis zur nächsten Wahl das Kanzleramt hätte übernehmen können, wenn Amts- etwa mit Demonstrationen. Um
inhaberin Angela Merkel überraschend ausgeschieden wäre. Doch nun, da die Verhältnis- seine Aktivitäten gegen politischen
se an der CDU-Spitze durch die Wahl Annegret Kramp-Karrenbauers zur Vorsitzenden Extremismus jeder Spielart zu bün-
so geregelt sind, dass diese wohl den Zugriff aufs Kanzleramt hätte, sollte überraschend deln, hat das LKA 2017 ein neues
gehandelt werden müssen, sind Schäubles letzte Aussichten vermutlich dahin. Daher mobiles Abwehrzentrum geschaf-
kämpft er – Interview für Interview – für Merz und für den Fall, dass nicht überraschend, fen. Dieses hat nun auch im Fall
sondern erst in eineinhalb oder zwei Jahren über die Kanzlerkandidatur entschieden wer- der Leipziger Silvesternacht die Er-
den muss. Der Gedanke ans Aufgeben scheint Schäuble vollkommen fremd. mittlungen übernommen.
Foto Imago

Eckart Lohse, Berlin Christoph Strauch

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Gesellschaft

Macht hier etwa jemand Diät? Mehr rauchen, um weniger zu essen, ist auch keine Lösung.

„Nicht zu hart mit sich

selbst sein“
Voller guter Vorsätze starten viele ins neue Jahr – und scheitern.
Wie hält man durch? Ein Gespräch mit dem Psychologen Sebastian Bartoschek
über das Seelenleben des inneren Schweinehunds.

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019


Herr Bartoschek, zu Neujahr 2018
hatten Sie sich vorgenommen
abzunehmen. Hat das geklappt?
Ja, aber ganz anders als geplant. Ich
habe anfangs damit ein bisschen rumge-
eiert, dann hatte ich eine Lebervergif-
tung, und der Arzt sagte mir: Schön,
dass Sie abnehmen wollen, jetzt müssen
Sie. Er verschrieb mir eine Low-Carb-
Diät. Ich habe tatsächlich zwölf Kilo ab-
genommen innerhalb von zweieinhalb
Monaten.
Wie sinnvoll sind Neujahrsvorsätze
überhaupt?
Aus psychologischer Sicht wäre es bes-
ser, sich am 1. Januar ganz allgemein sei-
ne guten Vorsätze zu machen, sich dann
aber eine Woche später noch einmal in
Ruhe hinzusetzen und durchzugehen,
was man wirklich ernst meint.
Wie viele Vorsätze sollten am Ende
auf der Liste stehen?
Aus der Arbeitspsychologie wissen wir,
dass wenige, aber dafür klar formulierte
Ziele sinnvoll sind. Mehr als drei, vier
Ziele sollte man sich nicht setzen, diese
aber sehr spezifisch und konkret ma-
chen und einen klaren Zeitrahmen ab-
stecken.
Wie sollte man mit Kollegen
und Freunden umgehen, die sagen:
Das schaffst du eh nicht?
Das muss man aushalten können. Mein
Schwiegervater sagte immer wieder:
Lass uns zusammen laufen gehen, das
ist doch besser als Tennis. Aber man
braucht sich nichts vormachen. Ich mag
laufen nicht, ich brauche eben einen
Ball. Das hab ich ihm so gesagt. Dafür
wurde ich belächelt. Aber das Belächeln
von anderen über die eigene Zielsetzung
muss man ignorieren.
Wie steht es mit Ersatzdrogen?
Raucher, die aufhören wollen,
erzählen oft, dass sie mehr essen.
Ich arbeite seit 19 Jahren mit Alkoholi-
kern und kann klar sagen: Das ist so.
Fotos Christine Klein, Christine Ruthenfranz
Wenn man eine Suchtdisposition hat,
dann steigt man auf so etwas ein. Man
will etwas angenehmes vermehren. In
dem Moment, wo man davon weggeht,
will man das Angenehme ersetzen. Un-
ter Sucht- und Genussmitteln gibt es sol-
che, die mehr, und solche, die weniger
schädlich sind. Da darf man nicht zu
hart zu sich selbst sein, wenn man sich
einen weniger schädlichen Ersatz sucht.
Wir sind keine Heiligen, und irgendein
Ventil braucht man. Ich kenne viele, die
sich exzessiv in Sport werfen.
Helfen Fitnessapps, am Ball zu
bleiben?
Ich war früher gläubiger Katholik, da
geht man regelmäßig beichten. Dabei
bekommen Sie mit, was Sie sich vorge-
nommen und nicht gepackt haben. Im
Prinzip sind diese ganzen Tracking-
Apps nichts anderes als eine Minibeich-
te. Über eine Schlaf-App habe ich zum
Beispiel erfahren, dass sich mein Herz-
schlag, wenn ich Alkohol trinke, nachts
nicht sonderlich beruhigt. So etwas zu
lernen und regelmäßig über die Mess-
werte zu schauen, das hätten die Jesui-
ten wohl Gewissenserforschung ge-
nannt.
Aber mit modernen Mitteln.
Und ohne, dass man eine dritte Person
dazuholen muss. Und wenn wir beim
Beispiel Abnehmen bleiben, da heißt es
immer, man solle nicht jeden Tag auf die
Waage steigen. Ich aber habe mich da
gar nicht dran gehalten, bin eher ein Da-
tenfetischist, wie so einige heutzutage.
Ich habe eine Smartwatch und die mit
meiner Waage gekoppelt. Zudem jeden
Tag Blutdruck gemessen und alles im
iPhone notiert. Ich habe mich daran er-
götzt, diese Kurve zu sehen, die von Tag
zu Tag runterging.
Gibt es psychologische Tricks,
um Vorsätze wie das Abnehmen
länger durchzuhalten?
Das Hauptproblem ist dabei die erste
Phase der unglaublichen Unzufrieden-
heit. In meinem Büro bin ich umgeben
von Psychologen. Ich habe also allen
klargemacht, dass ich Diät mache und
eventuell schlechtgelaunt bin und dass
es nichts mit ihnen zu tun hat. Man
weiß aus der Psychologie, dass es etwas
bringt, die wahrgenommene Kontrolle
durch andere Leute zu erhöhen. Und ich
habe mir durch diese Vorwarnung die
ganzen Sprüche geschenkt, die man
sonst bekommt wie: „Iss mal was, du
bist ja unausstehlich.“ Da entsteht
schnell das Gefühl, etwas essen zu müs-
sen. Ein guter Kollege fragte mich in der
33
Anfangsphase der Diät zudem: Was wür-
de dir denn jetzt guttun? Typisch Psycho-
loge, aber genau die richtige Frage.
Und was hat Ihnen gutgetan?
Ich war mehr draußen unterwegs und
machte Fotos von Gebäuden. Man sollte
sich öfter bewusst machen: Was macht
mir Spaß, und nehme ich mir die Zeit
dafür? Ich habe angefangen, bewusster
auf dem Handy zu spielen. Das macht
man oft nebenher und vor allem gern in
sozial geächteten Kontexten, zum Bei-
spiel am Tisch mit der Familie. Da nervt
es. Meine Erkenntnis aus diesem Jahr –
ich hatte durch die Erkrankung viel Zeit
zum Nachdenken – die Zeit, die ich
habe, möchte ich wirklich da sein. Das
klingt etwas nach dem ganzen Achtsam-
keitsgedöns, das seit ein paar Jahren wie-
der die ganz große Nummer ist. Das ist
nichts Neues, aber es ist etwas dran: Sich
bewusstmachen, was man tut, ist eine
gute Strategie. Meistens sind wir mit
dem Kopf schon beim nächsten Ding
und am Ende hat man das Gefühl,
nichts so richtig gemacht zu haben.
Klingt wie ein Plädoyer gegen
das berühmte Multitasking.
Genau das. Das ist leider Teil unserer Ar-
beitskultur. Ich habe mir vorgenom-
men, bewusst bei der Sache zu sein.
Was sind Ihre Vorsätze für 2019?
Ich will regelmäßige Feierabende haben
und jedes zweite Wochenende frei. Bis-
her habe ich immer gesagt, ich will je-
des Wochenende freihaben, oder der
Sonntag gehört der Familie. Ich bin seit
zwei Jahren regelmäßig daran geschei-
tert. Deshalb ist das neue realistische
Ziel: zwei Wochenende im Monat. Da
weiß ich, das kann ich mit der Arbeit so
geschoben bekommen, dass es klappt.
Und ich will mehr Zeit mit den Kindern
haben.
Die Fragen stellte Maria Wiesner.
Sebastian Bartoschek
Sebastian Bartoschek ist
promovierter Diplom-
Psychologe und
leitet ein Institut für Psychologische
Dienstleistungen in Herne.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
 Auf Hanf gebaut
Mit Marihuana aus der Krise: Das kalifornische Städtchen Needles will
Amerikas Boomtown des legalisierten Drogenkonsums werden.

W
enn man von Los Ange-
les Richtung Grand
Canyon fährt, kommt
man kurz vor dem Colorado-Fluss, der
Kalifornien von Arizona trennt, durch
ein Kaff namens Needles. „Needless“,
nennen es Spötter: überflüssig. Durchrei-
senden mag in Erinnerung bleiben, dass
es hier das teuerste Benzin zwischen Bars-
tow und Flagstaff gibt, und wer sich von
der Autobahn herunter wagt, entert ein
ziemlich heruntergekommenes Örtchen
– in dem junges Grün sprießt. Das
5000-Seelen-Nest, in dem viele Men-
schen unterhalb der Armutsgrenze le-
ben, hofft nämlich, sich mit Cannabis
dem Niedergang entgegenzustemmen.
Seit 2016 ist der private Gebrauch
von Cannabis in Kalifornien legal, und
in Needles haben bereits vier „Dispensa-
ries“, Marihuana-Apotheken, eröffnet.
Ein Cannabis-Konzern hat zwölf Hektar
Land gekauft und plant den Bau mehre-
rer Gewächshäuser. Außerdem funktio-
niert man einen ehemaligen Fastfood-La-
den in eine Fabrik für „Edibles“ um –
mit Cannabisölen versetzte Bonbons
und Gebäck. Dreihundertfünfzig neue
Jobs seien bereits entstanden, Starbucks
will bald eine Filiale in Needles eröffnen.
Die Geschichte des Städtchens ist
von Rückschlägen geprägt: 1883 als Bau-
arbeitersiedlung gegründet, weil am Ort
eine Eisenbahnbrücke über den Colora-
do-Fluss gespannt wurde, konnte Need-
les wenig später mehr als ein halbes Dut-
zend Saloons, ein neoklassizistisches Ho-
tel und sogar ein chinesisches Badehaus
vorweisen. Doch dann wurde die Brü-
cke weggespült, und ein neuer, besserer
Bahnübergang im zehn Meilen südlich
gelegenen Topock gebaut. In den zwanzi-

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019


Cheryll Luell betreibt
einen der vier
Marihuana-Shops im Ort.
ger Jahren, als die Große Depression
und verheerende Staubstürme die Men-
schen scharenweise Richtung Westen
trieben, erlebte Needles einen neuen
Boom: Der Ort war für Reisende aus
dem Osten die erste Station auf der be-
rühmten Route 66 in Kalifornien. In
den Siebzigern und Achtzigern jedoch
erreichte der Ausbau des Autobahnnet-
zes den amerikanischen Westen, der
I-40 Highway umging Needles, und die
Motels und Diner entlang der histori-
schen Route verfielen.
Jetzt soll Marihuana für einen neu-
en Aufschwung sorgen. Der frisch ge-
wählte Bürgermeister, Jeff Williams, ein
ehemaliger Polizist und langjähriger
Gegner der Marihuana-Legalisierung,
hofft das zumindest. Leicht war es nicht,
ihn davon zu überzeugen. „Es ähnelte
dem Wendemanöver eines Kriegs-
schiffs“, sagte der Lokalpolitiker der
„New York Times“. Gespräche mit Ärz-
ten und die Not der Kleinstadt, in der er
aufwuchs, überzeugten ihn schließlich.
Die Verlockungen des Marihuana-
Geschäfts sind schwer von der Hand zu
weisen, anderswo erntet man bereits die
Dividenden des „Green Rush“. Im Bun-
desstaat Colorado, wo Marihuana seit
2014 legal angebaut, vertrieben und be-
steuert wird, stieg der mit Cannabis er-
zielte Umsatz auf mehr als 1,5 Milliarden
Dollar. 2017 konnte Colorado Besucher-
rekorde verzeichnen, die 21 Milliarden
Dollar in die Kassen spülten – nicht zu-
letzt dank des Marihuana-Tourismus,
der den Behörden zufolge eine Zuwachs-
rate von 51 Prozent verzeichnet. Denver
hat einen solchen Einwohnerzuwachs
seit der Legalisierung zu verzeichnen,
dass schon einige Alteingesessene, von
Staus und höheren Immobilienpreisen
entnervt, das Weite suchen. Auch in
Needles werden Grundstückspreise nach
Jahren des Preisverfalls wieder teurer.
Zehn amerikanische Bundesstaa-
ten haben Marihuana legalisiert, in 33
Fotos Joe Buglewicz/Laif, dpa
ist die Droge zum medizinischen Ge-
brauch zugelassen. Kanada legalisierte
im vergangenen Jahr als zweites Land
weltweit nach Uruguay den Handel mit
der Hanfpflanze und ihren Wirkstoffen,
in Mexiko wurde das Verbot von Mari-
huana kürzlich für verfassungswidrig er-
klärt. Sollte sich Amerika ebenfalls zu ei-
ner landesweiten Legalisierung entschlie-
ßen, rechnet die Investmentbank Co-
wen vor, könnte bis 2030 ein 75-Milliar-
den-Dollar-Markt entstehen. Anleger
hoffen auf einen Goldrausch.
Großanleger zögern noch
Aber auf Bundesebene gilt in den Verei-
nigten Staaten der Gebrauch von Mari-
huana weiterhin als Verstoß gegen das
Betäubungsmittelgesetz, und nach der
demonstrativen Milde der Obama-Jahre
hat die Regierung Trump die Gangart
wieder verschärft – auch in Needles
beschlagnahmten FBI-Beamte bereits
Ware aus Dispensaries. Da sich Banken
mit der Verwaltung von Einnahmen aus
dem Cannabis-Geschäft genaugenom-
men strafbar machen, blicken viele In-
vestoren derzeit eher nach Kanada.
Der Tabakkonzern Altria, der un-
ter anderem Marlboro-Zigaretten her-
stellt, und die Mutterfirma der Biermar-
ke Corona, Constellation Brands, inves-
tierten dort im vergangenen Jahr fast
sechseinhalb Milliarden Dollar in Can-
nabis-Unternehmen. Auch der Geträn-
kekonzern Coca-Cola schielt, was Pläne
für einen Markteinstieg betrifft, über
die nördliche Grenze, um daheim nicht
in juristische Untiefen zu geraten.
In Needles lässt man sich nicht be-
irren. Die Lage am Colorado-Fluss ist
immerhin ein Pfund, mit dem man
nicht nur bei Anbau-Investoren wu-
chern kann. Kaum eine Dreiviertelstun-
de Autofahrt entfernt liegt das Wasser-
sportparadies Lake Havasu City, in dem
alljährlich zu den Collegeferien Tausen-
de partylustige junge Leute aus ganz
Amerika einfallen. Lake Havasu City
liegt am Ostufer des Colorado-Flusses
in Arizona, wo der private Gebrauch
von Marihuana unter Strafe steht. Mit
dem gezielten Aufbau einer Cannabis-
Kultur im nahen Needles ist es durchaus
denkbar, dass man dem Nachbarstaat ei-
nige Tourismus-Dollar streitig machen
kann. In den Shops der Kleinstadt wirbt
man bereits mit „Route 420“-Souvenirs,
ein Code für Cannabis. Und vielleicht
steht Needles mit dem grünen Gold tat-
sächlich eine neue Glanzzeit bevor.
Nina Rehfeld, Phoenix
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Spitzen der Gesellschaft 35
Guter Hoffnung
für 2019
Nein, keine Sorge: Wir verschonen
Sie mit der Weitergabe von rühren-
den Neujahrssprüchlein, die die
Prominenz Anfang Januar immer
so auf Instagram postet. Der Geist
des kleinen Prinzen fährt pünkt-
lich zum Feuerwerk in sie und pro-
duziert jede Menge Kalendersprü-
che, verbunden mit den besten
Wünschen. Aber wünschen kann
man sich vieles – also schauen wir
uns doch lieber an, was uns im
Jahr 2019 wirklich erwartet an der
Promi-Front. Auf jeden Fall dür-
fen Sie damit rechnen, ab Februar
beim Friseur wieder völlig orientie-
rungslos durch die Gazetten zu
blättern: Die ganzen Ihnen völlig
unbekannten Menschen, um die
es da gehen wird, haben dann
dank „Dschungelcamp“ und „Ba-
chelor“ einen gewissen Ruhm er-
langt. Aber es gibt Wichtigeres,
zum Beispiel im britischen Königs-
haus: Im April bekommt Herzogin
Meghan (unser Foto) ihr erstes
Kind. Das scheint sicher, aber zwei
Fragen dazu sind völlig offen: Ob
sie nach dem Vorbild ihrer
Schwippschwägerin Kate wenige
Stunden nach der Geburt wie aus
dem Ei gepellt vor die Fotografen
tritt. Und wo genau wir ihr ein
Denkmal bauen, wenn sie stattdes-
sen zwei Tage später zerwühlt in
Jogginghosen die Klinik verlässt.
Julia Bähr
 Wirtschaft

Der Traum
von der
Vollbeschäftigung
Die Arbeitslosenzahlen sinken immer weiter.
Die Unternehmen stellen sogar Menschen ein, die früher
kaum eine Chance gehabt hätten.
Sind bald alle Menschen in Deutschland in Arbeit?
 37

H
eiko Zimmermann versucht jeden Tag, das
Unmögliche möglich zu machen: Seine Auf-
gabe im Duisburger Jobcenter ist es, alleiner-
ziehende Frauen in Arbeit zu bringen. Die
größte Hürde, sagt er, sei die häufig fehlende Nachmittagsbe-
treuung für die Kinder. „Wie soll ich eine Stelle finden für je-
manden, der nur unter der Woche und nur von 8 bis 13 Uhr
arbeiten kann?“ Zimmermann, Jeans, T-Shirt, die Haare zu ei-
nem Dutt gebunden, schüttelt den Kopf. „Ob am Empfang, als
Küchenhilfe, als Reinigungskraft: selbst Teilzeitstellen erfor-
dern heute flexible Arbeitszeiten.“ Manchmal ruft er selbst in
einer Schule an und bittet um Unterstützung.
Jennifer Wagner kennt diese Probleme sehr genau. Die
junge, zierliche Frau, die eigentlich anders heißt, zieht ihre 13
Jahre alte Tochter allein groß. Mit Mitte 30 hat sie, von ein
paar Minijobs einmal abgesehen, noch nie gearbeitet. Immer-
hin, die Grundlagen sind da: nachgeholte mittlere Reife, eine
Weiterbildung zur Kauffrau für Bürokommunikation, weite-
re Kurse etwa zum Thema Lohnbuchhaltung. Als sie vor zwei
Jahren zum ersten Mal zu Arbeitsvermittler Zimmermann
kam, war für den sofort klar: Diese Frau muss ganz schnell Be-
rufserfahrung sammeln. Nur wie?
Deutschland träumt von der Vollbeschäftigung, doch
erreicht werden kann dieses Ziel nur, wenn auch Frauen wie
Jennifer Wagner Arbeit finden. Vollkommen unrealistisch er-
scheint das nicht mehr. Im Oktober ist die Arbeitslosenquo-
te in Deutschland erstmals seit der Wiedervereinigung unter
die 5-Prozent-Marke gesunken. Im November ging es weiter
runter auf 4,8 Prozent. Weniger als 2,2 Millionen Menschen
waren damit ohne Arbeit – eine kleine Sensation. Möglich ge-
macht haben es die gute Wirtschaftslage in Deutschland und
der große Bedarf der Unternehmen an Arbeitskräften. Die
werden zunehmend knapp. 44,8 Millionen Menschen waren
im Durchschnitt des Jahres 2018 in Deutschland erwerbstä-
tig, hat das Statistische Bundesamt gerade mitgeteilt, ein Re-
kordwert. Der Aufschwung am Arbeitsmarkt scheint kein
Ende zu kennen.
Von solch einer Entwicklung konnte Deutschland lange
nur träumen. Zwar gab es schon einmal sehr niedrige Arbeits-
losenzahlen, das war in der Wirtschaftswunderzeit der fünfzi-
ger und sechziger Jahre. Die Arbeitslosenquote betrug damals
im früheren Bundesgebiet zum Teil weniger als 1 Prozent. Ge-
nau genommen herrschte nicht nur Vollbeschäftigung, son-
dern es gab einen eklatanten Arbeitskräftemangel, sagen Ar-
beitsmarktforscher. Nicht umsonst wurden im großen Stil
Im Duisburger Gastarbeiter aus Italien und der Türkei angeworben. Dann
Jobcenter kommt aber kamen die Ölkrisen, später die Umbrüche im Zuge der
nicht für jeden Wiedervereinigung, und die Arbeitslosenquoten schossen in
Arbeitslosen ein die Höhe. Das Dilemma war, dass sie in Zeiten des Auf-
Foto Daniel Pilar

passendes schwungs nicht in gleichem Umfang wieder sanken – die So-

Stellenangebot ckelarbeitslosigkeit wuchs und wuchs. Den traurigen Höhe-
aus dem Drucker. punkt dieser Entwicklung markierte das Jahr 2005: Fast

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

38 Wirtschaft
5 Millionen Arbeitslose und eine Arbeitslosenquote von 11,7
Prozent, das war damals die Situation.
Über das, was dann passierte, haben sich selbst viele
Fachleute erst einmal verwundert die Augen gerieben. Die Ar-
beitslosigkeit sank fast kontinuierlich, und sogar im Krisen-
jahr 2009, als rund um Deutschland herum viele Menschen
ihre Arbeit verloren, bewahrheiteten sich hierzulande die Hor-
rorprognosen nicht. Ganz offiziell haben Union und SPD im
vergangenen Jahr das Ziel der Vollbeschäftigung in ihrem Ko-
alitionsvertrag festgeschrieben. Die guten Nachrichten, die die
Bundesagentur für Arbeit Monat für Monat vermeldet, werfen
die Frage auf: Wie weit sind wir davon noch entfernt?
Die Antwort lautet: noch ein gutes Stück, trotz aller Re-
korde am Arbeitsmarkt. „Um Vollbeschäftigung zu erreichen,
müsste die Arbeitslosenzahl noch um gut eine Million sinken“,
sagt Enzo Weber vom Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt-
und Berufsforschung. Üblicherweise spricht man von Vollbe-
schäftigung, wenn die Arbeitslosenquote weniger als 3 bis 4 Pro-
zent beträgt. Eine eindeutige Definition gibt es allerdings nicht.
In den sechziger Jahren nannte der Sachverständigenrat zur Be-
gutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung noch eine
Arbeitslosenquote von 0,8 Prozent als Maßstab. Klar ist: Wäh-
rend das Ruhrgebiet ebenso wie beispielsweise Bremerhaven
und einige Regionen in Ostdeutschland vom Ziel der Vollbe-
schäftigung noch weit entfernt ist, kann man es in Bayern und
Baden-Württemberg mit Arbeitslosenquoten von 2,7 und 3,0
Prozent schon als erfüllt ansehen. Damit wird ein wichtiger
Punkt deutlich, der zunächst überraschend sein mag: Auch in
Zeiten von Vollbeschäftigung wird es immer eine gewisse Ar-
beitslosigkeit geben. Denn auch wenn die Wirtschaft brummt,
machen immer mal Betriebe dicht. Wird jemand arbeitslos,
kann es einige Wochen dauern, bis geeignete Stellenangebote
gefunden und Bewerbungen geschrieben sind – Fachleute spre-
chen hier von „Sucharbeitslosigkeit“. Sie bereitet eigentlich nie-
mandem größeres Kopfzerbrechen.
Zahl der Langzeitarbeitslosen deutlich gesunken
Anders verhält es sich mit der strukturellen Arbeitslosigkeit.
Hier geht es darum, dass offene Stellen und Arbeitslose nicht
zusammenpassen, beispielsweise weil sie an unterschiedli-
chen Orten sind oder Bewerber nicht die richtige Qualifikati-
on mitbringen. Das lässt sich nicht so leicht beheben. Ähnli-
ches gilt, wenn Arbeitslose schon älter sind, gesundheitliche
oder psychische Schwierigkeiten haben oder keinen Berufs-
abschluss vorweisen können. Gerade auf viele Langzeitar-
beitslose trifft das zu. Umso bemerkenswerter ist, dass ihre
Zahl trotzdem von fast 1,8 Millionen im Jahr 2005 auf inzwi-
schen nur noch 764 000 gesunken ist, was neben der guten
Konjunktur auch an den aktuell vieldiskutierten Hartz-Re-
formen liegt.
Wie hoch derzeit der Anteil der strukturellen Arbeitslo-
sigkeit ist, lässt sich nicht exakt beziffern. Zahlen der Bundes-
agentur für Arbeit zufolge waren im Oktober von den 2,2 Mil-
lionen Arbeitslosen 683 000 Menschen weniger als drei Mona-
te arbeitslos und mehr als eine Million weniger als sechs Mona-
te. Hier ist eher von normaler Sucharbeitslosigkeit auszuge-
hen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass fast 1,2 Millionen
Menschen länger als sechs Monate arbeitslos waren.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Ein weiterer Indikator für verhärtete Arbeitslosigkeit:
Unter den durchschnittlich rund 2,5 Millionen Arbeitslosen
im Jahr 2017 waren mehr als 1,1 Millionen Menschen, die offi-
ziell als Langleistungsbezieher gelten. Sie bekamen in mindes-
tens 21 der vergangenen 24 Monate Arbeitslosengeld II (Hartz
IV). „Wenn das Ziel Vollbeschäftigung glaubhaft verfolgt wer-
den soll, muss dieses Segment aufgebrochen werden“, sagt Hol-
ger Schäfer vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirt-
schaft in Köln.
Jede zweite Frau arbeitet in Teilzeit
Eine große Herausforderung ist dabei die häufig sehr niedrige
Qualifikation der Arbeitslosen. So gab es im November mehr
als eine Million Arbeitslose, die eine Arbeit auf Helferniveau
anstrebten. Gemeldete Stellen gab es in diesem Bereich aber
nur 154 000. Für Fachkräfte hingegen mehr als dreimal so vie-
le. Unter Ausländern ist die Arbeitslosigkeit mit einer Quote
von 12 Prozent ebenfalls mehr als dreimal so hoch wie die der
Deutschen mit 3,9 Prozent. Auch viele Flüchtlinge haben nach
wie vor keine Arbeit. Gründe sind unter anderem häufig eine
fehlende Ausbildung sowie sprachliche und kulturelle Hür-
den. Eine dritte Gruppe, die derzeit sehr im Fokus der Öffent-
lichkeit steht, sind die Langzeitarbeitslosen. Ihre Zahl muss
weiter sinken, wenn Vollbeschäftigung erreicht werden soll,
trotz aller schon vorhandenen Erfolge.
Das allein reicht aber womöglich nicht. Aus Sicht vie-
ler Fachleute bedeutet Vollbeschäftigung mehr als niedrige
Arbeitslosigkeit. Gerade viele Frauen arbeiten in Deutsch-
land in Teilzeit. Jüngsten Zahlen des Statistischen Bundes-
amts zufolge war es im vergangenen Jahr fast jede zweite.
Von Vollbeschäftigung könne da nicht die Rede sein, meint
Arbeitsmarktforscher Weber. Darüber hinaus zählen eine
Million Menschen in Deutschland zur stillen Reserve: Sie ste-
hen dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung, sind
aber nicht als arbeitslos registriert, obwohl sie nicht arbei-
ten. Schließlich sind in der offiziellen Arbeitslosenzahl all
die Menschen, die sich in arbeitsmarktpolitischen Maßnah-
men oder Integrationskursen befinden, nicht erfasst. Sie fal-
len in die Unterbeschäftigung, die zuletzt allerdings eben-
falls deutlich gesunken ist.
Die Erfolge zeigen sich aber nicht nur in der Statistik,
sondern auch im Arbeitsalltag des Duisburger Jobvermittlers
Heiko Zimmermann. Mehr als zwei Jahre lang betreute er die
alleinerziehende Mutter Jennifer Wagner, drückte ihr Stellen-
ausschreibungen in die Hand und ermunterte sie nach jeder
abgelehnten Bewerbung, es weiter zu versuchen. Vor einiger
Zeit bekam Wagner dann sogar gleich zwei Stellen angeboten.
Ein Zeitarbeitsunternehmen wollte sie für eine kaufmänni-
sche Tätigkeit. Sie entschied sich aber für Angebot Nummer
zwei, eine Stelle als Inklusionshelferin. Seit Ende August be-
gleitet sie ein Kind mit leichtem Autismus durch den Schulall-
tag. Das besondere Glück: Da das Kind in der Regel von 8 bis
13 Uhr Unterricht hat, muss sie sich um die Betreuung ihrer
eigenen Tochter keine Sorgen machen – weder am Nachmit-
tag noch in den Schulferien. Eine Fügung, die selbst Jobver-
mittler Zimmermann kaum für möglich gehalten hätte.
Britta Beeger
 39

Arbeitslosenquoten
in Deutschland
Regionaldirektionen und Agenturbezirke,
November 2018, Arbeitslosenquoten bezogen
auf alle zivilen Erwerbspersonen in Prozent

Höchste Quote
10,7 Prozent im
Bezirk Duisburg

Niedrigste Quote
1,7 Prozent im
Bezirk Freising

2018
5 2005 46 45,1
4,86 Erwerbstätige
1,7 - 3,5 44
4 Deutschland, in Millionen
3,6 - 5,3 42
5,4 - 7,1 40
3 1994
7,2 - 8,9 2018 37,8
Arbeitslose 38
9,0 - 10,7 Deutschland, in Millionen
2,19
2 36
Quelle: Bundesagentur für Arbeit/ F.A.Z.-Grafik Niebel 1991 2018 1991 2018

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

40
Zu allein
Zum Jahresbeginn begeben
sich besonders viele Singles
auf die Suche nach einem
neuen Partner. Das Geschäft
der Online-Partnerbörsen
könnte nicht besser laufen.
M
an kann in Deutschland alles sein,
hat Ilse Aigner einmal gesagt. Man
kann geschieden sein, zum vierten
Mal verheiratet, schwul, lesbisch oder „irgend-
was“. Es gebe nur eine Sache, die bis heute „gar
nicht geht“: alleinstehend zu sein, zumal als Frau.
Ilse Aigner weiß, wovon sie spricht – und sie sagt
es sehr oft. Die CSU-Politikerin war Bundesland-
wirtschaftsministerin, bayerische Wirtschaftsmi-
nisterin und ist heute Präsidentin des dortigen
Landtags – und doch gibt es kaum ein Interview,
in dem die 54-Jährige nicht zu ihrem Beziehungs-
status Stellung bezieht. Ilse Aigner ist Single. Viele
fragen sich daher: Was ist nur los mit dieser Frau?
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Warum findet sie keinen Mann? Aigner sagt, sie
verstehe das Interesse an ihrem Privatleben nicht.
Sie sei „gerne allein“ – auch wenn das für die aller-
meisten eine „seltsame Vorstellung“ sei. So wie ihr
geht es laut einer Umfrage des Meinungsfor-
schungsinstituts Allensbach immerhin 4,4 Millio-
nen anderen Alleinstehenden im Land, die berich-
ten, freiwillig und gerne Single zu sein.
Dabei standen, zumindest statistisch gese-
hen, die Chancen nie besser, einen Partner zu fin-
den, wenn man einen sucht. Denn der Pool an ein-
samen Herzen in Deutschland war selten so groß
wie heute: 18,5 Millionen Alleinstehende zählte das
Statistische Bundesamt im vergangenen Jahr. Unter
diesem Begriff fasst die Behörde alle Personen, „die
ohne Ehe- oder Lebenspartner und ohne ledige Kin-
der in einem Ein- oder Mehrpersonenhaushalt le-
ben“. Mitte der neunziger Jahre hatten die Statisti-
ker noch 14,2 Millionen Alleinstehende gezählt.
Eine aktuelle repräsentative Umfrage der Online-
Partnerdienste Elitepartner und Parship unter den
18- bis 65-Jährigen im Land schätzt die Zahl der 18,5 Millionen
Singles in dieser Altersgruppe auf 16,8 Millionen. Alleinstehende
Die wenigsten Alleinstehenden sind also verwitwe- leben in
te Rentner, sondern deutlich jünger. Deutschland.
Gerade im Januar suchen besonders viele Sin- Vor mehr als
gles aktiv nach einer Beziehung. Denn dass rund 10 Jahren waren
um Weihnachten gerade Alleinstehende mit ihrem es 14,2 Millionen.
 Wirtschaft
Beziehungsstatus hadern, ist weit mehr als nur ein
Klischee. Die Online-Seelsorger von „die-liebes-
kümmerer.de“ berichten, dass im Dezember die
Zahl der Hilfesuchenden auf ihrer Plattform deut-
lich steigt. Im Januar dann beginnt nicht nur die
Diät- und Fitnessstudiozeit, es ist auch Flirt-Sai-
son. Mehr als doppelt so viele Singles wie sonst mel-
den sich bei Online-Partnerbörsen wie Parship
oder Tinder an – bis dann mit dem Valentinstag die
Normalität in Deutschland wiederkehrt.
Die Online-Partnerbörsen haben den Druck
zum Aktivwerden erheblich erhöht. 2500 Partner-
börsen oder Dating-Portale gibt es laut einer Markt-
studie des Unternehmens „Singlebörsen-Ver-
gleich.de“. Für sie scheint die Sache klar: Wer heute
noch allein ist, ist selbst schuld. Angeblich im Minu-
tentakt werden im Internet traurige Schicksale beer-
digt, finden einsame Herzen ihr Glück in der Zwei-
samkeit. Die Plattformen untermalen ihre Verspre-
chen mit allerlei Statistiken, die Paarungswillige
zum Mitmachen verlocken. Dreißig Prozent aller
heutigen Beziehungen hätten ihren Anfang im
Netz gefunden, werden Umfragen hoch- und run-
terzitiert. Und während es im echten Leben im
Schnitt rund fünf Jahre dauere, bis man einen neu-
en Partner gefunden hat – und jeder Fünfte sogar
mehr als ein Jahrzehnt alleine bleibt –, kommt man
in der Online-Welt statistisch gesehen schon nach
zehn Wochen zum Erfolg.
Studie: Singles sind „ökologische Zeitbomben“
Dass der Beziehungsstatus „Single“ ein Zustand ist,
den es zu überwinden gilt, sehen nicht nur jene so,
die damit ihr Geld verdienen – das klingt selbst in
der Wissenschaft durch. Studie um Studie rechnet
ihnen vor, dass Alleinstehende ungesünder leben,
früher sterben und auch ganz allgemein unglückli-
cher sind als all die anderen, deren Paarungsversu-
che geglückt sind. Soziologen wie der Heidelberger
Forscher Jan Eckhard sprechen in ihren Aufsätzen
vom „Risiko der Partnerlosigkeit“. Und britische
Wissenschaftler vom University College London
rechnen vor, dass Alleinstehende „ökologische Zeit-
bomben“ sind: Sie geben ein Drittel mehr für ihren
alltäglichen Konsum aus, produzieren 42 Prozent
mehr Verpackungsmüll und haben einen deutlich
höheren Energieverbrauch pro Kopf.
Kein Wunder also, dass das Geschäft mit der
Liebe im Internet läuft. Seit das Suchen und Finden
der Liebe eingezogen ist in die virtuelle Welt, ist die
Zahl der Alleinstehenden zwar besonders rasant ge-
stiegen – und doch wollen jeden Monat 11,9 Millio-
nen Deutsche diese zusätzliche Chance aufs Glück
nicht ungenutzt lassen, wie die Umfrage der On-
line-Partnerbörsen ebenfalls notiert. Ihre Dienste
Foto Plainpicture
lassen sich die Plattformen einiges kosten: Das Ba-
sisangebot gibt es zwar schon kostenlos – allerdings
mit derart eingeschränkten Funktionen bei gleich-
41
Insgesamt
2017
18,5
1997 Singles in Deutschland
14,3
Zahl der Alleinstehenden in Millionen
2017
1997 Frauen 9,5
8,6
2017
9,0
Männer Im Januar suchen
1997 besonders viele
5,7 Singles aktiv nach
Quelle: Statistisches Bundesamt F.A.Z.-Grafik swa. einer Beziehung.
zeitiger Preisgabe aller möglichen privaten Informa-
tionen, dass man als Gratisnutzer nach einem Tag
entweder flieht oder die Kreditkarte zückt. Wer sich
für Letzteres entscheidet, ist für eine sechsmonatige
„Premium-Mitgliedschaft“ bei Elitepartner oder
Parship 420 Euro los. Wer pessimistischer ist und ei-
nen Zwölf-Monats-Vertrag abschließt, bekommt
das volle Paket für knapp 660 Euro im Jahr. Und
die Hoffnungen der Deutschen in die Angebote
sind groß: 2016 war ihnen das Online-Dating
knapp 200 Millionen Euro wert.
Aber nicht alle gehen davon aus, dass der
Weg über Parship und Co. letzten Endes den Aus-
weg aus der Single-Gesellschaft bringen wird. Die
israelische Soziologin Eva Illouz etwa gehört zu de-
nen, die in der Liebe aus dem Netz das Ende der Ro-
mantik sehen. In ihrem Buch „Warum Liebe weh
tut“, das 2012 erschienen ist, schreibt sie von „ein-
schüchternden emotionalen Erwartungen“, die
durch das Online-Dating aufgebaut würden. Die
Folge seien nicht mehr, sondern weniger erfolgrei-
che Bindungen. Durch das Abgleichen psychologi-
scher Profile von Interessenten in Internet-Kontakt-
börsen entstehe der Eindruck, die Partnerwahl kön-
ne informierter, rationaler und rationeller erfolgen.
Die Ergebnismaximierung sei zum Selbst-
zweck geworden, eine „Mentalität des Verglei-
chens“ mache es immer schwieriger, sich für eine
Möglichkeit zu entscheiden, die einem „gut genug“
vorkomme. „Das Internet arrangiert die Auswahl
wie auf einem Buffet und lädt zu einer Form von
Wahl ein, die aus der ökonomischen Sphäre abgelei-
tet ist“, ist bei Illouz zu lesen. Oder anders gesagt:
Im Internet verkommt die Partnersuche zum On-
line-Shopping – wem die Ware nicht gefällt,
tauscht sie einfach um. Im schlimmsten Fall aber
kann man sich bei dem ganzen Angebot erst gar
nicht entscheiden.
Maja Brankovic
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
42 Wirtschaft
Streit um die
Lufthoheit
Die Bundeswehr braucht neue
Kampfflugzeuge. Viele Hersteller buhlen
um diesen milliardenschweren Auftrag.
Für Europa steht viel auf dem Spiel.
D
as Bieterrennen um den Milliardenauftrag der
Bundeswehr läuft geräuschlos und nahezu un-
bemerkt von der Öffentlichkeit ab. Dabei han-
delt es sich um das wohl wichtigste Rüstungsvorhaben der
nächsten Jahrzehnte. Noch im Januar will Verteidigungsminis-
terin Ursula von der Leyen (CDU) entscheiden, welches Flug-
zeug künftig die veraltete Flotte von bis zu 90 Tornado-Jets er-
setzen soll.
Um das milliardenschwere Projekt bewerben sich neben
dem vom Airbus-Konzern geführten Eurofighter-Konsortium
auch einige amerikanische und europäische Konkurrenten.
Neben den Rüstungsherstellern Saab aus Schweden und Frank-
reichs Dassault sind aus Übersee die Branchengrößen Lock-
heed Martin und Boeing mit von der Partie. Nach einer vorläu-
figen Auslese unter diesen Bietern haben sich Eurofighter und
Lockheed Martin als Favoriten herauskristallisiert.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Kalter Krieger: Der
Eurofighter wurde
Ende der neunziger
Jahre entwickelt.
Dass Lockheed mit seiner Neuheit F 35 der härteste Riva-
le der Europäer ist, hat vor allem technische Gründe. Der von
der Rüstungsschmiede in Kalifornien hergestellte Kampfjet ist
wegen seiner Flugeigenschaften und von seiner Unsichtbarkeit
für feindliches Radar her militärisch vielseitig einsetzbar. Ange-
sichts eines Entwicklungsetats in zweistelliger Milliardenhöhe
ist die Lockheed-Neuheit bis heute das teuerste Rüstungspro-
jekt der Welt. Doch die hohen Kosten schreckten Militärs in
Ländern wie Italien, den Niederlanden, Norwegen oder Groß-
britannien nicht ab, zumindest Teile ihrer veralteten Flotten
durch die F 35 zu ersetzen.
Käme dagegen in der Ausschreibung der Bundeswehr
der Eurofighter als Tornado-Ersatz zum Zuge, würden die Mi-
litärs in Berlin auf ein System setzen, das bereits zu Zeiten des
Kalten Krieges als Jagdflugzeug entwickelt wurde und seit
Ende der neunziger Jahre – parallel zu den Tornados – auf aus-
ländischen Missionen im Einsatz ist. Daher muss der Euro-
fighter für die neuen Aufgaben der Luftwaffe entsprechend
weiterentwickelt und grundlegend modernisiert werden, sagt
Bernhard Brenner, Vertriebsvorstand für Kampfflugzeuge bei
Airbus Defence and Space, der Rüstungssparte des deutsch-
französischen Konzerns.
Dass für Airbus bei diesem Großauftrag, der über die Ge-
samtlaufzeit einen zweistelligen Milliardenbetrag erreichen
kann, viel auf dem Spiel steht, hat allerdings auch andere
Gründe. Schließlich soll mit dem Tornado-Nachfolger nur die
Zeitspanne überbrückt werden, bis unter der Regie eines neu-
en Hersteller-Konsortiums in Europa ein neuer, digital gesteu-
erter Kampfjet abhebt. Bis spätestens 2040 wollen Airbus und
der französische Rivale Dassault ihr ehrgeiziges Vorhaben un-
ter dem sperrigen Kürzel FCAS realisieren. Die Investitionen

in das ehrgeizige Projekt sind langfristig auf einen dreistelligen
Milliardenbetrag taxiert. Damit verbinden vor allem die Politi-
ker in Berlin und Paris ihre Hoffnung, gemeinsame Rüstungs-
projekte in Europa voranzutreiben, um amerikanischen Kon-
kurrenten die Stirn zu bieten. Nicht von ungefähr gilt der Bau
eines neuen Kampfjets für die europäischen Streitkräfte als
wichtigster Gradmesser für die neue Partnerschaft zwischen
deutschen und französischen Rüstungsherstellern.
Technologieschub für Europas Rüstungsindustrie
Danach verstehen Airbus und Dassault künftige Kampfjets als
„fliegende Systeme“, die mit Satelliten kommunizieren, unbe-
mannte Drohnenschwärme steuern oder in Eigenregie über
den Einsatz von Raketen entscheiden. Um die dafür erforderli-
chen IT-Systeme parat zu haben, müssen die Airbus-Manager
ihr militärisches Wissen auf aktuellem Stand halten und den
Einsatz von Künstlicher Intelligenz prüfen.
Die geplante Weiterentwicklung des Eurofighters, der
bei einem Zuschlag der Bundeswehr für den Ersatz der Torna-
do-Flotte erforderlich wird, verschafft den dafür nötigen tech-
nologischen Schub: „Der Eurofighter bekäme durch diesen
Auftrag sozusagen eine zweite Luft“, bestätigt Airbus-Mann
Brenner. Zudem verschafft ein positives Signal aus Berlin auch
den nötigen Rückenwind für ähnliche Verkaufskampagnen in
der Schweiz, Finnland und Kanada. Auch in diesen Ländern
rangeln Eurofighter und Lockheed um Großaufträge.
Unabhängig von politischen Motiven sind für die Ein-
käufer der Bundeswehr der Preis sowie die Kosten für den lang-
Fotos Imago, EPA
fristigen Betrieb der Jets entscheidend. Auch in diesem Punkt
wähnen sich die Airbus-Manager im Vorteil. Weil die Luftwaf-
fe bereits über einige Erfahrungen mit dem Eurofighter ver-
43
Überflieger:
Die F 35 von Lockheed
ist das teuerste
Rüstungsprojekt der Welt.
fügt, seien dessen Betriebskosten weitgehend transparent und
auch auf lange Sicht gut kalkulierbar, heißt es.
Doch trotz der Favoritenrolle der Europäer wird um den
Großauftrag erbittert gerungen. Vor allem die Manager von
Lockheed sehen gute Chancen, mit ihrer F 35 auch bei deut-
schen Militärs zum Verkaufsabschluss zu kommen. Der vom
amerikanischen Waffengiganten entwickelte Kampfjet wurde
bereits an mehrere Streitkräfte in Europa sowie in die Türkei
oder auch Australien verkauft. Mit einem stattlichen Preis von
rund 100 Millionen Dollar je Stück sowie hohen Kosten für
den Betrieb und die Nutzung von Software-Lizenzen galt die
F 35 vielen Einkäufern jedoch als zu teuer.
Um gerade in Europa besser ins Geschäft zu kommen,
biete Lockheed – je nach Abnahmemenge – hohe Preisnachläs-
se an oder handele im Zusammenspiel mit der amerikani-
schen Luftwaffe, die auch als Verkäufer der F 35 fungiert, indi-
viduelle Offerten mit befreundeten Abnehmerstaaten aus.
Erst vor wenigen Wochen landete der Hersteller aus Kali-
fornien einen Coup in Belgien. Für umgerechnet 4 Milliarden
Euro erwarben die Militärs dort 34 Kampfjets. Dieser Einkauf
komme die belgische Luftwaffe, auf eine Gesamtnutzungsdau-
er von 40 Jahren gerechnet, günstiger als die vergleichbaren
Angebote der europäischen Rüstungshersteller, teilte die Regie-
rung in Brüssel mit, ohne jedoch weitere Details zu nennen.
Kenner der Rüstungsindustrie gehen davon aus, dass der von
amerikanischer Seite kalkulierte Stückpreis deutlich unter der
Grenze von 100 Millionen Dollar liegt. Lockheed selbst stellt
zudem in Aussicht, diesen Wert aufgrund interner Einsparun-
gen auf 80 Millionen Dollar bis 2020 senken zu wollen.
Ulrich Friese
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
44 Wirtschaft
Lieferando
ist hungrig
Die Bestell-Plattform Takeaway kauft
das Deutschland-Geschäft ihres
größten Konkurrenten. Was das für die
Marken Foodora und Co. bedeutet.
U
Foodora-Fahrer, nsere Innenstädte sind zugeklebt mit
wie hier in Berlin, Werbung für Bestellplattformen wie
radeln künftig Lieferando, Lieferheld oder Foodora.
für Lieferando. Durch die Straßen radeln ihre Fahrer auf orangfarbe-
nen Rädern oder mit pinkfarbenen Boxen auf dem
Rücken. In Zukunft dürfte sich der Anblick ändern.
Denn die Berliner Essensliefer-Plattform Delivery
Hero verkauft ihr gesamtes Deutschland-Geschäft
an den niederländischen Konkurrenten Take-
away.com.
Damit gehören neben der Marke Lieferando
dann auch die Bestellplattformen Pizza.de, Liefer-
held und der Bringdienst Foodora zu Takeaway. Deli-
very Hero erhält dafür 508 Millionen Euro in bar
und 9,8 Millionen Aktien im Wert von rund 422 Mil-
lionen Euro. Wenn die Aktionäre von Takeaway zu-
stimmen, hält Delivery Hero rund 19 Prozent der Ak-
tien an dem Konkurrenten. Als Aktionär will Deli-
very Hero dann an der verbesserten Marktposition
von Takeaway mitverdienen, die in Deutschland
nun, ähnlich wie Flixbus im Fernbusverkehr, alle gro-
ßen Konkurrenten in sich vereint hat. Die Transakti-
on erweitert die Größe von Takeaway erheblich,
„was für den Aufbau profitabler Essenslieferdienste
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
unerlässlich ist“, sagt Takeaway-Gründer Jitse Groen.
Für die Kunden könnte das jedoch in Zukunft höhe-
re Bestellgebühren bedeuten, wenngleich Takeaway
vorsichtig sein muss mit Preiserhöhungen. Denn der
größte Konkurrent für Online-Lieferdienste ist im-
mer noch das Telefon und der Marktanteil von Be-
stellungen im Internet entsprechend gering.
Angefangen hat Groen in Deutschland vor
fast zehn Jahren, damals noch unter der Marke Lie-
ferservice.de. Sie wurde vor vier Jahren mit Lieferan-
do zusammengeschlossen, als Groen den Konkur-
renten kaufte. „Damals haben wir 40 Prozent unse-
rer Kunden verloren, weil die verwirrt wurden von
anderen Logos und anderen Namen“, sagte Groen
vor einiger Zeit im Gespräch mit der F.A.Z. Das
wird auch mit dem neuen Deal eine Herausforde-
rung. Heute ist für Groen kaum etwas so wichtig
wie die Markenbekanntheit. „Wir müssen da sein,
wenn die Leute hungrig sind. Nur wissen wir nicht,
wann die Leute Hunger haben, deshalb müssen wir
schon vorher in ihrem Kopf sein.“ In den Kopf müs-
sen für die Kunden in Zukunft in Deutschland we-
niger Marken: Lieferheld, Pizza.de und Foodora sol-
len verschwinden und allesamt auf Lieferando um-
gestellt werden. Innerhalb von sechs Monaten nach
Abschluss der Transaktion soll es so weit sein. Ein
ehrgeiziges Ziel.
Takeaway und Delivery Hero haben jeweils
zwei Geschäftsmodelle: Sie bieten Internetplattfor-
men an, auf denen Restaurants gelistet werden, bei
denen hungrige Kunden bestellen können. Sie ver-
mitteln Pizzerien, Sushi-Läden oder indischen Re-
staurants über Apps und Internetseiten die Essensbe-
stellungen ihrer Kunden und kassieren dafür eine
Provision. Das Essen liefern die Restaurants aller-
dings selbst aus. Das Geschäftsmodell ist profitabel,
mit solchen Angeboten hat es Takeaway im Heimat-
markt Niederlande schon vor einigen Jahren ge-
schafft, schwarze Zahlen zu schreiben. Teurer sind
die Angebote wie Foodora, für das Delivery Hero
selbst Fahrer angestellt hat. Auch Takeaway bietet sol-
che Services an: Kunden können ihr Essen also auch
bei Nordsee oder Vapiano bestellen, selbst wenn sich
diese Restaurants keine eigenen Lieferdienste leisten.
Schon länger war über einen Zusammen-
schluss der erbitterten Gegner spekuliert worden.
Denn sie beide stecken allein in Deutschland jedes
Jahr zweistellige Millionenbeträge in das Marke-
ting, um sich gegenseitig Kunden abzujagen und au-
ßerdem neue zu gewinnen. Für Werbung hat Take-
away nur in Deutschland im vergangenen Jahr 71
Millionen Euro ausgegeben. Der Fokus von Deli-
very Hero liegt nun auf Wachstum in anderen
Märkten, die liquiden Mittel betragen 1 Milliarde
Euro. Von den Einnahmen will Delivery Hero ei-
nen großen Teil investieren, vor allem in Asien. In
Deutschland liefern aber nun die Niederländer.
Jonas Jansen
 Wochengrafik 45

100
Fliegen für PLUS MINUS
jedermann + Das Geschäft mit
Drohnen gehört
zu den wachstums-

METER
Kriegsgerät, Spielzeug, trächtigsten der
Wirtschaftsfaktor:
kommenden Jahre.


Drohnen heben jetzt
kommerziell richtig ab.
- Der Alarm in
London-Gatwick
ist die Maximalhöhe
für Drohnenflüge –
hat gezeigt: Drohnen es sei denn, man
können nützlich, aber hat eine Erlaubnis als
auch gefährlich sein. „Luftfahrzeugführer“.

Wachstumsschub Immer mehr in der Luft
Weltmarkt für zivile Drohnen nach Branchen in Milliarden Dollar Prognose zur globalen Auslieferung ziviler Drohnen
in Millionen
67,7
Infrastruktur Transport
45,2 Landwirtschaft 13,0 48,4
32,4 34,5
Wartung, Boden- und Paketzustellung 23,8
Überwachung, Bewässerungsanalyse, 15,9
6,4 10,2
Reparatur Saat, Düngung
Medien, Unterhaltung
2015 2016 2017 2018 2019 2020 2021
Sicherheit 8,8
Grenzüberwachung, Was an einer Drohne fasziniert
10,5 Sicherung von Werbeplakate, Umfrage in Deutschland, Auswahl in Prozent (2016)1)
Veranstaltungen Foto-/Videoaufnahmen
Landschaftsaufnahmen aus der Vogelperspektive 54

Versicherungen Bergbau Tiere beobachten 38

Telekommunikation
4,3 Reiz der Technik 29
6,8 6,3
Planung/Erkundung Spaß am Fliegen 27
Begutachtung von neuer Abbaugebiete,
Bereitstellung von Hotspots,
Ansprüchen Umweltschäden erkennen 1 Beobachten der Nachbarn
Wartung Mobilfunkmasten
1) 1007 Befragte, Mehrfachnennungen möglich. Quellen: F.A.Z.-Archiv; Freepik.com; PwC; Reichelt Elektronik; Statista; Tractica/ F.A.Z.-Grafik Walter

025 82 DJI
UNTERM
BEHINDERUNGEN

,
KILOGRAMM



STRICH
. Drohnen versprechen
die Wirtschaft
– ist eine Drohne des Luftverkehrs heißt der größte effizienter zu machen.
schwerer, muss sie
der Eigentümer mit
durch zivile Drohnen
wurden 2018 in
Drohnenhersteller der
Welt. Den Marktanteil . Dem gegenüber stehen
seinem Namen Deutschland gezählt. der Chinesen Sorgen vor Unfällen
und seiner Adresse 2015 waren es beziffern Fachleute und zunehmender
Foto dpa

kennzeichnen. erst 14 gewesen. mit 80 Prozent. Überwachung.

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Geld

Rutschgefahr an der Börse

Die Konjunkturprognosen für 2019 sind besser als die Stimmung der deutschen Anleger.
Wer auf internationale Papiere setzt, kann von dieser Entwicklung profitieren.

D
as Jahr 2018 hat Anlegern
an den Kapitalmärkten
drei unliebsame Erkennt-
nisse beschert. Die erste, nach Jahren
der Hausse verschüttete Erkenntnis lau-
tet: Es gibt Jahre, in denen die Aktienkur-
se deutlich fallen können. Die zweite:
Die Tagesschwankungen von Aktienkur-
sen und anderen Finanzmarktpreisen
können gewaltig sein. Vor allem in der
zweiten Jahreshälfte kam es vor, dass Ak-
tienkurse von Unternehmen, die uner-
wartet schlechte Quartalsergebnisse vor-
legten, an einem Tag um mehr als 10 Pro-
zent einbrachen. Und die dritte Erkennt-
nis lautet: Der deutsche Aktienmarkt
hat im vergangenen Jahr deutlich
schlechter abgeschnitten als die Aktien-
märkte in anderen Ländern: Während
der F.A.Z.-Index für 100 deutsche Ak-
tien um rund 20 Prozent einbrach, gab
der F.A.Z.-Index für 100 europäische Ak-
tien um 14 Prozent nach. In den Verei-
nigten Staaten ermäßigte sich der
S&P-Index für 500 amerikanische Werte
um knapp 10 Prozent.
Welche Schlüsse lassen sich aus
diesen Erkenntnissen für die Kapitalan-
lage im Jahre 2019 ziehen? Auch wenn
sich Kurse nicht zuverlässig vorhersagen
lassen, ist die Vermutung gestattet, dass
es auch künftig starke kurzfristige Kurs-
schwankungen geben wird. Langfristige
Anleger müssen sich daher um solche
kurzfristigen Ereignisse wenig küm-
mern und gegen eine unerfreuliche Kurs-
entwicklung einzelner Aktien hilft eine
breite Streuung. Sie schützt vor dem Risi-
ko, dass die Börsen in einzelnen Län-
dern besonders schwach abschneiden.
Wie überall in der Welt tendieren deut-
sche Aktienanleger dazu, überdurch-
schnittlich viel Geld an der deutschen
Börse zu investieren. So nachvollziehbar
diese Neigung auch ist, so gefährlich ist
sie. Denn 2018 war nicht das erste Jahr,
in dem der deutsche Aktienmarkt im in-
ternationalen Vergleich schlecht abge-
schnitten hat. Schließlich besitzt der
deutsche Aktienmarkt Eigentümlichkei-
ten, die ihn anfällig machen.
Weil viele Deutsche keine Aktien
kaufen, werden die Kurse der deutschen
Aktien de facto von ausländischen und
vor allem amerikanischen Anlegern ge-
macht. Doch deren Verhalten ist meist
schwer vorhersehbar.

Mehrwert
Jahre alt ist das Konzept von Digitalwährungen
mit ihrem bekanntesten Vertreter Bitcoin. Im Januar
2009 wurde der erste Bitcoin geschürft, bis zur
ersten Transaktion dauerte es aber noch bis zum

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019


Die Kurse deutscher Aktien
werden von ausländischen
Investoren gemacht.
Zudem ist der deutsche Aktien-
markt wegen der globalen Ausrichtung
vieler Unternehmen stärker von der Ent-
wicklung der Weltwirtschaft und nicht
zuletzt der Schwellenländer abhängig als
der amerikanische Aktienmarkt. Was im
Zeitalter der Globalisierung als Stärke
der deutschen Wirtschaft galt, könnte
im Zeitalter von Zöllen und Handelskon-
flikten aber zur Bürde werden.
Die deutsche Wirtschaft ist zudem
stärker als viele andere nationale Volks-
wirtschaften von der Industrie getrie-
ben. Autohersteller sind dabei die promi-
nentesten Vertreter der deutschen Indus-
trie. Viele Fachleute vermuten aller-
dings, dass der Wandel von der Indus-
trie- zur Wissensgesellschaft gerade in
der heimische Wirtschaft zu einer umfas-
senden Transformation führen wird, als
deren Folge die traditionelle Industrie
leiden wird. Auch das ist ein Grund, die
Aktienanlage geographisch breit zu
streuen – weit über Deutschland hinaus.
Nach dem schlimmen Aktienjahr
2018 dürften sich jedoch viele Anleger
fragen, ob Aktien überhaupt eine gute
Wahl sind. Die Antwort lautet: Es bleibt
nicht viel anderes übrig, wenn mit Kapi-
talanlagen auf lange Sicht positive Rendi-
ten erzielt werden sollen. Wahr ist: Auch
2019 kann ein schlechtes Aktienjahr wer-
den. Die Hurra-Prognosen von Banken
oder Vermögensverwaltern, die üblicher-
weise für ein Aktienjahr steigende Kurse
verheißen, sind für eine zuverlässige
Markteinschätzung kaum geeignet.
Ob 2019 ein gutes Aktienjahr
wird, dürfte stark von der wirtschaft-
lichen Entwicklung beeinflusst werden.
In den jüngsten Kursverlusten drückt
Foto Bloomberg
sich die Sorge der Börse aus, dass es min-
destens zu einer starken Verlangsamung
Jahr 2010. Ihren bisherigen Höhepunkt feierte
die Digitalwährung vor ziemlich genau einem
Jahr, als ein Bitcoin bis zu knapp 20 000 Dollar
kostete. Heute sind es nur noch rund 4000 Dollar.
des Wirtschaftswachstums in den Indus-
trienationen kommen wird, der eine Re-
zession folgen könnte. Die bisher vorlie-
genden Konjunkturdaten sehen aber bes-
ser aus als die Stimmung: Sie sprechen
wohl für ein niedrigeres Wirtschafts-
wachstum als im vergangenen Jahr, aber
es existieren keine konkreten Hinweise
auf einen Konjunktureinbruch oder gar
eine Rezession. Sollte sich das Wirt-
schaftswachstum besser entwickeln als
von der Börse erwartet, können sich die
Kurse im Jahresverlauf zumindest stabili-
sieren. Bricht die Wirtschaft entgegen
den Einschätzungen der Konjunkturfor-
scher doch ein, können die Aktienkurse
noch einmal deutlich fallen.
Gegen die Ausschläge von Aktien-
kursen hilft eine Strategie, in der im Rah-
men eines Sparplans monatlich oder
vierteljährlich Aktien oder Anteile an
Aktienfonds erworben werden. Dann
kauft man zwar auch, wenn die Kurse
sehr hoch sind, aber man ist auch im
Markt, wenn die Kurse fallen. Das Pro-
blem für den Anleger ist, dass alle Hoff-
nungen auf höhere Zinsen vergeblich
sein dürften. Die Aussichten für die In-
dustrienationen dürften in einer Kombi-
nation aus niedrigem Wirtschaftswachs-
tum, niedriger Inflation und niedrigem
Zinsniveau bestehen. Die Zinsen für
Bankeinlagen und Anleihen hoher Qua-
lität dürften also niedrig bleiben. Als zu-
verlässige Renditebringer dürften siche-
re Anleihen damit ausfallen.
Was aber ist mit Anleihen niedrige-
rer Bonität? Sie bieten höhere Renditen,
aber auch größere Risiken und gerade in
einer Welt, in der sich das Wirtschafts-
wachstum verlangsamen dürfte, gehen
mit Anleihen schwacher Schuldner –
egal, ob Unternehmen oder Staaten – Ri-
siken einher, die ein Anleger nicht tra-
gen sollte. Der Aktienkurs eines Unter-
nehmens, dem es nur vorübergehend
schlecht geht, kann sich wieder erholen.
Gerald Braunberger
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Frag den Mohr 47
Lohnt
der Kauf von
CO2-Zertifikaten?
Im vergangenen Jahr
lohnte er auf jeden
Fall. CO2-Zertifikate
waren eine der weni-
gen Geldanlagen, die
kräftige Gewinne verzeichneten. So
hat ein CO2-Zertifikat der Com-
merzbank mit der Wertpapierkenn-
nummer CZ549S im Jahresverlauf
von 7,50 Euro auf rund 24 Euro zu-
gelegt. Die Kursbewegung war je-
doch alles andere als kontinuier-
lich. 2018 war das erste Jahr, in
dem sich der Kauf von CO2-Zertifi-
katen wirklich lohnte. Zuvor war
das europäische Emissionshandels-
system sehr industriefreundlich aus-
gelegt gewesen. Es wurden reichlich
Zertifikate für Energie- und Indus-
trieunternehmen ausgegeben und
entsprechend sank der Preis. Mitt-
lerweile hat die Politik die Zahl der
Zertifikate verknappt. Der Ausstoß
von CO2, zu dem die Zertifikate be-
rechtigen, soll teurer werden und
zu Einsparungen anregen. Die Preis-
entwicklung von CO2 bleibt damit
stark von politischen Entscheidun-
gen beeinflusst. Das sollten Anleger
wissen. Sie kaufen zudem nicht die
Original-CO2-Zertifikate an der
Leipziger Energiebörse EEX oder
der Londoner ICE, sondern speziell
für Privatanleger konzipierte Pro-
dukte. Da sie die Zertifikate anders
als die Industrie nicht wirklich zu ei-
nem bestimmten Stichtag für ihren
CO2-Ausstoß benötigen, müssen
die zugrunde liegenden Kontrakte
immer wieder erneuert werden.
Das wird in der Finanzsprache Rol-
len genannt und ist in den meisten
Fällen mit Verlusten verbunden.
Die werden freilich in Jahren mit
derart starken Kursgewinnen wie
2018 weit überkompensiert. Ob
sich solche Jahre wiederholen, steht
allerdings in den Sternen.
Daniel Mohr ist Redakteur für
Finanzen und freut sich über Ihre
Fragen unter fragdenmohr@faz.de
 Feuilleton 49

T. C.
BOYLE
Sind wir
nicht
Menschen?

Ein Vorabdruck
Illustration Carlo Giambarresi

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

50 Feuilleton

D
er Hund war kirschrot, und was er im Maul hatte, konnte ich erst erkennen, als er unter den
Hortensien stehen blieb und das Ding schüttelte. Die kleine Episode hätte sich abgespielt,
ohne dass ich sie bemerkt hätte, aber ich war zum Herd gegangen, um Teewasser aufzuset-
zen, und sah zufällig in den Vorgarten. Das tiefe, satte Blaugrün des Rasens, das es schaffte, sowohl an
das dunkle Türkis des Ozeans als auch an das Viridiangrün der Wiesen von Kentucky zu erinnern,
war mein Stolz, und es ärgerte mich, wenn sich irgendwelche Hunde, ganz gleich welcher Farbe, dar-
auf vergnügten. Er hatte eine Menge Geld gekostet – eine Mischung aus Rotschwingel, Bahiagras und
Manilagras, versehen mit einem bestimmten Algen-Gen, so dass er abends, im Licht der Verandabe-
leuchtung, phosphoreszierte –, und er war zwar unempfindlich gegen Trockenheit und Krankheiten,
nahm es aber übel, wenn irgendwelche Menschen – oder Tiere – auf ihm herumspazierten.
Ich ging auf die Veranda und klatschte in die Hände, um den Hund zu verscheuchen, doch er
rührte sich nicht. Oder vielmehr: Er rührte sich, aber nur, um die Schultern anzuspannen und seine
Beute fester zu packen, bei der es sich, wie ich jetzt sah, um das Mikroschwein meiner Nachbarin Alli-
son handelte. Es war rehäugig, nicht größer als ein Pekinese und hatte aufgehört zu zappeln. Als ich
von der Veranda trat und mich nach etwas umsah, mit dem ich dem Hund drohen könnte, klopfte
mein Herz wie verrückt. Allison gehörte zu den Leuten, die ihre Haustiere vermenschlichten, und die-
ses Schweinchen war der Mittelpunkt ihres freund- und ehemannlosen Lebens, und wer würde ihr
die traurige Nachricht überbringen müssen? Wut stieg in mir auf. Woher war dieser blöde Köter ge-
kommen, und wem gehörte er überhaupt? Ich besaß keinen Rechen, auf dem Rasen lag nichts herum
(die Straßenbäume waren genetisch modifiziert und ließen zu keiner Jahreszeit irgendetwas fallen, we-
der Samen noch Zweige oder Blätter), und so stürmte ich mit leeren Händen auf das Tier zu und rief
das Erstbeste, das mir in den Sinn kam: „Böser Hund! Böser böser Hund!“
Ich dachte nicht nach. Und das Ergebnis entsprach nicht dem, was ich mir erhofft hätte, wenn
ich nachgedacht hätte: Zwar ließ der Hund das Schweinchen, bei dem sich etwaige Wiederbelebungs-
maßnahmen mittlerweile erledigt hatten, sogleich fallen, sprang aber im selben Moment hoch und
packte meinen linken Unterarm, wobei er ununterbrochen knurrte, als wäre mein Arm ein Stock, den
er bei einem freundschaftlichen Gerangel zwischen uns beiden erobert hatte. Eigenartigerweise floss
weder Blut, noch spürte ich einen Schmerz, nur einen festen, unnachgiebigen Druck und heißen, nas-
sen Speichel, während ich in die eine Richtung zog und der Hund, der mich aus stumpfen rosaroten
Augen anstarrte, in die andere zerrte. „Lass los!“, rief ich, doch der Hund dachte nicht daran. „Böser
Hund!“, rief ich und zog. Der Hund zerrte.
Auf der Straße war niemand zu sehen. Weder im Nachbargarten noch im Haus hinter mir war
jemand, der mir hätte helfen können. Ich war vor zehn Minuten aufgestanden und hatte T-Shirt,
Shorts und Slipper angezogen, und nun war ich, um acht Uhr morgens an einem sonst ganz norma-
len Tag, in diesen idiotischen interspeziären Pas de deux verwickelt und bereits erschöpft. Der Hund,
dieses kirschrote haarlose Monstrum mit den kräftigen Kiefern und schwellenden Muskeln eines Pit-
bulls, machte keine Anstalten, mich loszulassen: Er hatte meinen Arm und wollte ihn behalten. Nach
einer Weile ließ ich mich auf ein Knie nieder, damit ich nicht die ganze Zeit gebeugt stehen musste,
aber das schien den Hund nur noch entschlossener zu machen: Er versuchte, mich zu sich hinunterzu-
ziehen, und stemmte seine Pfoten tief in den Rasen. Ohne zu wissen, was ich tat, ballte ich die freie
Hand zur Faust und schlug ihm in rascher Folge dreimal auf den Kopf.
Das zeitigte sofort Wirkung: Der Hund heulte auf, ließ meinen Arm los und wich zum Rand
der Rasenfläche zurück, von wo er mich misstrauisch beäugte, als hätte ich eigenmächtig die Spielre-
geln geändert. Im nächsten Augenblick, gerade als ich merkte, dass ich doch blutete, rief hinter mir
jemand: „Das habe ich gesehen!“

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Feuilleton 51

Ein Mädchen kam über den Rasen auf mich zu, ein unnatürlich großes Mädchen, das ich zuerst
für einen Teenager hielt, bis ich merkte, dass es ein Kind von elf oder zwölf Jahren war. Der Hund lief
sofort zu ihr, und mir wurde alles klar. Sie baute sich vor mir auf, sah mich streng an und sagte: „Sie
haben meinen Hund gehauen.“
Das fand ich nicht witzig. „Ich blute“, sagte ich und zeigte ihr meinen Arm. „Siehst du? Dein
Hund hat mich gebissen. Du solltest ihn an die Kette legen.“
„Das kann nicht sein –, Ruby würde nie jemanden beißen. Sie hat bloß . . . gespielt, das ist alles.“
Ich hatte nicht vor zu diskutieren. Es handelte sich um mein Grundstück und meinen Arm,
und das tote Tier, das auf meinen Rasen blutete, war Allisons Mikroschwein. Ich zeigte darauf.
„Oh“, sagte sie und senkte die Stimme. „Das tut mir leid. Ich wusste nicht . . . Ist es Ihrs?“
„Es gehört meiner Nachbarin.“ Ich wies auf das Haus hinter der Hecke. „Sie wird am Boden zer-
stört sein. Dieses Schwein“ – ich wollte seinen Namen nennen, um auf meine persönliche Beziehung
zu diesem Tier hinzuweisen, doch er wollte mir einfach nicht einfallen – „ist ihr ein und alles. Und
direkt billig war es auch nicht.“ Ich warf einen Blick auf den knallroten Hund mit den rosaroten Au-
gen. „Wie du dir sicher vorstellen kannst.“
Sie war gut zehn Zentimeter größer als ich, und ihre Augen, die von einem beinahe leuchtenden
Violett waren, das es in der Natur gar nicht gibt – jedenfalls bis vor kurzem nicht –, musterten mich
unverwandt. „Sie braucht es ja nicht zu erfahren.“
„Was soll das heißen: ,Sie braucht es ja nicht zu erfahren‘? Das Tier ist tot – siehst du das nicht?“
„Es könnte ja überfahren worden sein.“
„Ich kann es nicht fassen: Ich soll meine Nachbarin anlügen?“
Das Mädchen zuckte die Schultern. Der Hund ließ sich hechelnd nieder. „Ich hab doch gesagt,
es tut mir leid. Ruby ist durchs Gartentor weggelaufen, als meine Mutter zur Arbeit gegangen ist, und
ich bin gleich hinterhergerannt, das haben Sie doch gesehen.“
„Und das?“ Ich hob den Arm, der nicht zerbissen, sondern eher abgeschürft war, denn die meis-
ten neuen Rassen haben genetisch modifizierte Zähne, um in Situationen wie diesen ernsthafte Verlet-
zungen zu vermeiden. „Der Hund ist hoffentlich geimpft.“
„Sie ist ein Kirschpit“, sagte sie mit einem verächtlichen Blick. „Die können gar keine Krankhei-
ten übertragen. Ich meine, das weiß doch jeder.“
Es war Dienstag, und ich arbeitete zu Hause, wie jeden Dienstag und Donnerstag. Ich war,
wie praktisch alle auf dem Planeten, in der IT-Branche tätig und hatte festgestellt, dass ich zu Hau-
se mehr erledigen konnte als im Büro. Meine Kollegen mit ihren Launen, Ansichten, Tics und so
weiter waren eine Prüfung – nicht dass ich sie nicht mochte, aber wenn es hoch herging, waren sie
irgendwie immer im Weg. Oder vielleicht stimmte es ja, vielleicht mochte ich sie einfach nicht. Je-
denfalls ging ich nach dieser kleinen Begegnung mit diesem Mädchen und seinem Hund ins Haus,
strich eine antibiotische Salbe auf meinen Arm, nahm den Tee und ein paar Proteinkekse mit an
den Schreibtisch und schaltete den Computer an. Wenn ich überhaupt an das tote Schweinchen
dachte, dann nur im Zusammenhang mit Allison, die das Tier natürlich würde sehen wollen, was
die Frage aufwarf, was ich bis dahin damit machen sollte: es einfach liegen lassen oder es in eine
Mülltüte stecken und in der Kühltruhe aufbewahren, bis Allison vom Büro nach Hause kam? Ich
dachte daran, meine Frau anzurufen – Connie war Regionaldirektorin der Bank USA, eine Virtuo-
sin auf dem Gebiet der zwischenmenschlichen Beziehungen, und würde wissen, was zu tun war –,
aber ich wollte sie wegen einer solchen Banalität nicht bei der Arbeit stören. Ich hätte das Schwein-
chen natürlich auch beerdigen oder es auf den Müll werfen und mich dumm stellen können, aber
letztlich tat ich gar nichts.

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

52 Feuilleton

Es war nach drei, als ich beschloss, Mittagspause zu machen, und weil es ein so schöner Tag war,
ging ich mit meinem Sandwich und einem Glas Eistee hinaus auf die Veranda. Inzwischen hatte ich
das Schweinchen, den Hund und den Kummer, der Allison bevorstand, vollkommen vergessen,
doch sobald ich hinaustrat, wurde ich daran erinnert: Die Bäume waren voller kreischender, kräch-
zender, plappernder Papageienkrähen, die sich aus einem ganz bestimmten Grund eingefunden hat-
ten. (Ich weiß nicht, ob es diese Vögel in Ihrer Gegend auch schon gibt – falls nicht, wird es nicht
mehr lange dauern, glauben Sie mir. Sie waren der Einfall eines Molekularembryologen an der hiesi-
gen Universität, der glaubte, die Kombination von Genen der Aaskrähe mit denen der invasiven Pa-
pageien werde den Überfällen der Letzteren auf die örtlichen Obstplantagen und Weingärten ein
Ende machen, denn die daraus resultierenden Vögel würden Abfälle und Aas bevorzugen und oben-
drein die heimischen Krähen verdrängen, denen fast sämtliche Singvogelbruten in unseren Gärten
zum Opfer gefallen waren. Das einzige Problem war der Geräuschfaktor: Irgendetwas schien nicht
nur die Lautstärke, sondern auch die Komplexität der Vogelrufe verdoppelt zu haben, so dass man
mittlerweile bei praktisch allen Aktivitäten unter freiem Himmel Ohrstöpsel brauchte.)
Ich hätte jedenfalls gern welche gehabt. Die Vögel waren überall, fluchten routiniert (Scheißvo-
gel! Scheiße-Scheiße-Scheiße!) und schlugen sich die glänzenden Flügel um die Köpfe. Beunruhigt
rannte ich zum zweiten Mal an diesem Tag die Verandatreppe hinunter und über den Rasen zum Blu-
menbeet, wo sich ein Schwarm Vögel auf den Überresten von Allisons Haustier niedergelassen hatte.
Ich fuchtelte mit den Armen, und sie flogen widerwillig davon und kreischten dabei Kackvogel! oder
den zerhackten Schrei, der mich praktisch jeden Morgen weckte: Krach-arsch! Was das Schweinchen
betraf (das ich, wie mir jetzt klarwurde, in die Garage hätte legen sollen), so waren seine Augen ver-
schwunden, und die bläuliche Haut war mit roten Wunden übersät. Soll ich ehrlich sein? Ich wollte
dieses Ding nicht anfassen – es war eklig. Die Vögel waren eklig. Wer konnte wissen, welche Zoonose-
Erreger sie mit sich herumtrugen? Und so stand ich vor einem Dilemma, als Allisons Wagen nebenan
mit blitzenden Lichtreflexen in die Einfahrt fuhr.
Allison war Anfang dreißig und hatte eine topplastige Statur und rotblondes, unbezähmbar
krauses Haar, das sie unter diversen Tüchern verbarg, was ihr etwas Exotisches verlieh, als wäre sie
hier, in diesem Vorort, gestrandet. Sie hatte ein gutes Herz und ein trauriges Gesicht, und hinter ihr
lag eine katastrophale Beziehung nach der anderen. Unwillkürlich wollte ich sie beschützen: eine
Frau, ganz allein in dem großen Haus, das ihre Mutter ihr hinterlassen hatte. Daher hatte ich, als sie
mit bereits tränennassen Augen über den Rasen auf mich zukam, das Gefühl, nicht genug getan zu
haben, zog, ohne lange nachzudenken, mein Hemd aus und breitete es über das tote Schweinchen.
„Ist sie das?“, fragte Allison und sah auf das hastig bedeckte Ding zu meinen Füßen. „Nein, sa-
gen Sie’s mir nicht.“ Und dann blickte sie mich an und wiederholte immer wieder meinen Namen:
„Roy, Roy, Roy“, als würde sie an etwas ersticken. Scheiße, Scheiße!, schrien die Papageienkrähen in
den Bäumen. Kack, kack, kack! Im nächsten Augenblick warf sie sich in meine Arme und klammerte
sich so fest an mich, dass ich kaum noch Luft bekam.
„Ich will sie gar nicht sehen“, sagte sie leise, und jede Silbe war ein warmer Lufthauch auf mei-
ner nackten Brust. Ich roch ihr Haar, ihr Shampoo und den Schweiß in ihren Achselhöhlen. „Die
Arme“, schluchzte sie und hob den Kopf, so dass ich die Tränen in ihren Augen sehen konnte. „Ich
habe sie so geliebt, Roy, ich habe sie so geliebt.“
Ich dachte an ein Abendessen bei ihr: Connie und ich, ein anderes Paar, Allison und ihr letzter
Freund, ein Grobian mit einem Quadratschädel, der im Tierheim arbeitete und streunende oder
transgene Tiere einschläferte. Allison behielt ihr Schweinchen während des ganzen Essens auf dem
Schoß und fütterte es von ihrem Teller, und danach, als alle im Wohnzimmer saßen und Brandy mit

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Feuilleton 53

Benedictine tranken, stellte sie das Tier auf den Hocker am Klavier, wo es mit seinen modifizierten
Hufen „Twinkle, Twinkle, Little Star“ spielte.
„Nein“, gab ich ihr recht, „das wollen Sie nicht sehen.“
„Es war ein Hund, nicht? Das hat“ – und hier musste sie kurz innehalten, um sich zu fassen –
„das hat jedenfalls Terry Wolfson gesagt, als sie mich in der Arbeit angerufen hat.“
Ich wollte gerade etwas Tröstliches sagen, irgendeine Plattitüde wie: Das arme Tierchen habe
nicht leiden müssen – obwohl ich doch genau wusste, dass dieser Köter so gnadenlos darauf herum-
gekaut hatte wie auf meinem Arm –, als von der Straße her jemand „Hallo?“ rief und wir auseinan-
derfuhren. Das hochgewachsene Mädchen stakste in Plateauschuhen auf uns zu. Der Hund war
auch wieder dabei, diesmal an der Leine. Ich spürte Ärger in mir aufwallen – hatte sie denn nicht
schon genug angerichtet? –, Ärger und Verlegenheit. Ich zeigte mich nicht gern halbnackt in der Öf-
fentlichkeit – und ich wurde auch nicht gern bei einer innigen Umarmung mit meiner unverheirate-
ten Nachbarin ertappt.
Falls sie meine Gedanken erriet, ließ sie sich nichts anmerken. Sie ging weiter, bis sie vor uns
stand, und der Hund trottete brav neben ihr her. Der Blick ihrer violetten Augen ging von mir zu dem
Etwas unter dem blutigen T-Shirt und schließlich zu Allison. „Je suis désolée, madame“, sagte sie.
„Pardonne-moi. Mon chien ne savait pas ce qu’il faisait – il est un bon chien, vraiment.“
Dieses Mädchen, dieses Kind überragte uns beide, seine Mimik war lebhaft. Es hatte Lidstrich,
Lippenstift und Blusher aufgetragen, als wäre es zehn Jahre älter und unterwegs zu einem Nachtclub,
und sein Haar – blonde Naturlocken – bedeckte wie ein Zelt die Schultern und fiel lang über den Rü-
cken. „Was redest du da?“, sagte ich. „Und warum sprichst du Französisch?“
„Weil ich es kann. Puedo hablar en español también, und Deutsch kann ich auch. Ich habe ei-
nen IQ von 162 und laufe hundert Meter in 9,58 Sekunden.“
„Toll“, sagte ich und wechselte einen Blick mit Allison. „Bewundernswert. Wirklich. Aber was
machst du hier? Was willst du?“
Deine Mutter!, kreischten die Vögel. Leck mich!
Sie trat von einem Fuß auf den anderen und wirkte verlegen wie das Kind, das sie ja war. „Ich
wollte Ihnen sagen, dass Sie es bitte, bitte nicht melden sollen, denn mein Vater sagt, dann muss sie
eingeschläfert werden. Sie ist ein guter Hund, wirklich, und sie hat so was noch nie gemacht, und wir
lassen sie nie, niemals frei herumlaufen. Es war bloß –“
„Ein unglücklicher Zufall?“, sagte ich.
„Ja“, sagte sie. „Eine Anomalie. Ein Unfall.“
Allisons Wangenmuskeln spannten sich. Aus rosaroten Augen sah der Hund gelassen zu uns
auf, als ginge ihn das alles nichts an. Eine garantiert insektenlose Brise strich raschelnd durch die Bäu-
me an der Straße. „Und was soll ich jetzt dazu sagen?“, fragte Allison. „Weißt du, wie ich mich fühle?
Ich soll dir verzeihen? Tut mir leid – das kann ich nicht. Nicht jetzt.“ Sie sah das Mädchen wütend an.
„Du liebst deinen Hund, hm?“
Das Mädchen nickte. „Und ich liebe Shushawna – ich habe sie geliebt.“ Ihre Stimme brach.
„Mehr als alles andere auf der Welt.“
Wir betrachteten das blutige T-Shirt zu unseren Füßen. Dann hob das Mädchen den Blick und
sagte: „Mein Vater will für alle Schäden aufkommen. Hier.“ Sie zog zwei Visitenkarten aus der Handta-
sche und reichte sie Allison und mir. „Er wird sämtliche Kosten für etwaige ärztliche Behandlungen
übernehmen“, versicherte sie mir, warf einen zweifelnden Blick auf meinen Arm und wandte sich
dann zu Allison. „Und er wird Ihnen Ihr Haustier ersetzen, wenn Sie das wollen, madame. Es war ein
Mikroschwein, oder? Von Recombicorp? Oder wenn Sie wollen – das hat mein Vater ausdrücklich

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

54 Feuilleton

gesagt –, könnten wir Ihnen einen Kirschpit wie Ruby besorgen oder auch eine Hundekatze, wenn
Ihnen das lieber wäre . . .“
Es war ein schmerzlicher Moment. Ich konnte alle beide verstehen, sowohl Allison als auch
das Mädchen, obgleich Connie und ich kein Haustier hatten, auch nicht von einer dieser neuen hy-
poallergenen Rassen, ebenso wenig wie Kinder, obwohl wir oft darüber gesprochen hatten. Hier
ging es um eine größere Trauer, ausgelöst durch tiefe Verbundenheit und Verlust und die Tatsache,
dass die Welt sich ändert, ganz gleich, ob wir dafür bereit sind oder nicht. Wir hätten den Moment
überstanden, glaube ich, wir wären zu einer Art Übereinkunft gelangt – Allison war nicht nachtra-
gend, und ich würde ebenfalls kein Theater veranstalten –, doch in diesem Augenblick strich die Bri-
se durch den Vorgarten, schlug das T-Shirt zurück und enthüllte den augenlosen Kopf des Schwein-
chens, und das war’s dann. Allison stieß einen erstickten Schrei aus, und der knallrote Köter riss sich
los und stürzte sich darauf.
Ich war in der Küche und mixte mir einen Drink, als Connie nach Hause kam. Die Haustür fiel
dröhnend ins Schloss. (Connie war immer in Eile und verschwendete keine Bewegung. Ich hatte sie
ungefähr hundertmal gebeten, die Tür nicht zuzuschlagen, aber sie war einfach außerstande, die zwei
Sekunden zu erübrigen, die es dauerte, eine Tür geräuschlos zu schließen.) Im nächsten Augenblick
donnerte ihr Aktenkoffer auf das Tischchen in der Eingangshalle, die Absätze hämmerten – tack-
tack-tack-tack – auf das Parkett, und dann war sie in der Küche und sagte: „Mach mir auch einen,
Schatz, ja? Oder nein, lieber Wein. Haben wir noch Wein?“
Ich fragte sie nicht, wie ihr Tag gewesen war – ihre Tage waren immer gleich: Vollgas, nichts als
Situationen, mit denen sie sich befasste wie ein Fünf-Sterne-General, der den Feind ins Meer zurück-
wirft. Ich umarmte sie nicht und gab ihr auch keinen Kuss. Wir gehörten nicht zu den Leuten, die so
was taten – in ihren Augen (und, um ehrlich zu sein, auch in meinen) war das einfach überflüssig. Wort-
los öffnete ich den Küchenschrank, nahm ein Glas heraus, schenkte ihr den Sancerre ein, den sie so
mochte, und reichte ihn ihr. Das Fenster stand offen, um die leise Brise hereinzulassen, doch von den
Vögeln war nichts zu hören. Sie waren wohl davongeflogen, um einen anderen Garten heimzusuchen.
„Allisons Schweinchen ist heute getötet worden“, sagte ich, „in unserem Vorgarten. Von einem
dieser transgenen Pitbulls – du weißt schon, diese knallroten, für die sie so viel Reklame machen.“
Sie zog die Augenbrauen hoch, ließ den Wein im Glas kreisen und nippte daran.
„Und mich hat er auch gebissen“, fügte ich hinzu und hob den Arm, um den sich wie eine Man-
schette kurz unterhalb des Ellbogens eine bläulich-violette Verfärbung gelegt hatte.
Ihre Antwort hatte überhaupt nichts mit dem zu tun, was ich gesagt hatte, aber unsere Unterhal-
tungen waren oft zusammenhangslos: In ihrem Kopf lief ein ganz bestimmtes Frage-und-Antwort-
Spiel ab und in meinem ein anderes, und so passten unsere Antworten nie ganz zusammen. Sie ging
gar nicht auf meine Verletzung, den Hund, Allison oder die emotionalen Folgen dieses Ereignisses ein,
sondern stellte das Glas auf die Theke, tupfte sich die Lippen ab und sagte: „Ich will ein Kind.“

Fortsetzung in der kommenden Woche

„Sind wir nicht Menschen?“ (Are We Not Am 28. Januar erscheint

Men?), aus T.C. Boyle: „The Relive Box“. T.C. Boyles Roman „Das Licht“.
Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren. Aus dem Englischen von Dirk van Gunsteren,
Erscheinungstermin: Frühjahr 2020. © 2019 Hanser Verlag, München 2019, 284 S.,
Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG, München geb., 25 Euro.

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

Feuilleton 55

Illustration Carlo Giambarresi

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

56 Feuilleton

A Raubkunst
m Neujahrstag hat Eike und müsse unverzüglich zurückgege-
Schmidt, Direktor der ben werden. Die Staatsanwaltschaft
Florentiner Uffizien, im Florenz ermittelt.
Palazzo Pitti ein Gemälde aufgehängt. Der Direktor der Uffizien, Der deutsche Museumsdirektor
Genauer gesagt, die Schwarzweißre- Schmidt hat die Reproduktion mit
produktion eines Gemäldes, das dort Eike Schmidt, will ein Bild zurück. der Aufschrift „Rubato – Stolen – Ge-
lange hing: das Stillleben einer Blu- stohlen“ und einer Erklärung über
menvase des niederländischen Malers das Schicksal des Werks versehen. Bei
Jan van Huysum. Das 47 mal 35 Zenti- der publikumswirksamen Aktion im
meter kleine Ölgemälde wurde zu Be- Palazzo Pitti sagte er: „Deutschland
ginn des Zweiten Weltkrieges auf die hat die moralische Pflicht, dieses
Jaufenburg in Südtirol gebracht. Dort asdf Werk unserem Museum zurückzuge-
entwendeten es 1943 Soldaten der ben. Wegen dieses Vorfalls sind die
deutschen Wehrmacht und ließen es Wunden des Zweiten Weltkriegs und
nach Deutschland bringen. des Nazi-Terrors noch immer nicht
Fast ein halbes Jahrhundert war Schmidt und die Reproduktion des Werks verheilt.“ Schmidt wird bald ans
Jan van Huysums „Vaso di Fiori“ ver- Kunsthistorische Museum in Wien
schollen. 1991 tauchte das Bild wieder auf. Gegenwärtig befin- wechseln. „Wir sind gerne bereit, diese fotografische Erinne-
det es sich im – unrechtmäßigen – Besitz einer Familie in rung zu entfernen, wenn den Uffizien das Original zurückgege-
Deutschland, mutmaßlich in einem der fünf neuen Bundeslän- ben wird“, sagte er. Ob er seiner Wahlheimat Italien das beson-
der. Über Vermittler hat die Familie den italienischen Behör- dere Abschiedsgeschenk aus Deutschland noch wird überge-
den den „Rückkauf“ angeboten beziehungsweise die Zahlung ben können, steht freilich dahin.
einer Art Ablösesumme. Die Behörden haben dieses Ansinnen
zurückgewiesen: Das Gemälde gehöre dem italienischen Staat Matthias Rüb, Rom

Strizz

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Optimist
In der Welt der Fiktion wenden sich die realen Bedingungen zum Besseren.
Die harte Wirklichkeit von Journalisten bestimmt indes
Geschichten von Mord und Totschlag. Da gibt es kein Happy End.
Frauen auf dem
Karrieresprung
Von Ursula Scheer
Wie schnell der Wind sich doch dreht:
Eben noch erschütterte der Weinstein-
Skandal das Filmbusiness, schon über-
bietet man sich in der Branche mit Insze-
nierungen komplexer Frauencharakte-
re, gerne in fortgeschrittenem Alter, die
mehr bieten als romantische Heldinnen
oder schwach ausgeleuchtete Mütter hin-
ten in den Kulissen. Für beide Rollen ste-
he sie nicht zu Verfügung, sagte Keira
Knightley dem „Guardian“, und das Dis-
ney-Märchen „Cinderella“ sei für ihre
Tochter verboten, weil eine Prinzessin
von heute doch bitte unabhängig den gif-
tigen Apfel aushuste, statt sich vom Prin-
zen vielleicht gegen ihren Willen küssen
zu lassen.
Nun gut, in ihrer Unmärchenhaftig-
keit ist das schon eine fragwürdige
Emanzipationspädagogik. Aber was op-
timistisch stimmen kann, ist eine regel-
rechte Schwemme ambitionierter Kinofilme, die gera-
de aus dem Leben bedeutender Schrifstellerinnen er-
zählen, die sich gegen männliche Widerstände durch-
setzten. „Astrid“ handelt von der jungen Astrid Lind-
gren; Glenn Close spielt in „Die Frau des Nobelpreis-
trägers“ eine ehelich unterlegene Ghostwriterin,
„Mary Shelley“ mit Elle Fanning erklärt die Entste-
hung von „Frankenstein“, und in „Colette“ schlüpft
Keira Knightley in die Rolle der frivolen Grande
Foto Florence Museum Press Office/AFP Illustration Thomas Fuchs
Dame der französischen Literatur. Das Zauberhafte
an letzterem Film ist, dass er, obwohl er Colette selbst
notorisch unterschätzt, mit leichter Hand Genderste-
reotype als schon vor hundert Jahren brüchig aus-
weist. Es tritt nicht nur als eine faszinierende Trans-
gender-Figur auf, sondern auch als ein Betrüger, Lie-
bender und maskuline Muse brillierender Mann: Do-
minic West spielt als Colettes Ehepartner Willy alle an
die Wand. Das ist dann wohl wahrer Feminismus:
dass die interessanteste Figur im Raum nicht zwang-
haft immer eine Frau sein muss.
Pessimist 57
Journalisten auf
der Abschussliste
Von Michael Hanfeld
Vor Weihnachten zieht die Organisation
„Reporter ohne Grenzen“ Bilanz, in den
Tagen zwischen den Jahren folgen ande-
re internationale Journalistenvereinigun-
gen. Was sie vorlegen, ist eine Addition
des Schreckens, eine Beschreibung des
Zustands der Pressefreiheit, und diese
wird nicht besser. Sie benennen, wie vie-
le Journalisten und Mitarbeiter von Me-
dienorganisationen in oder wegen der
Ausübung ihrer Tätigkeit ums Leben ge-
kommen sind. 94 seien es gewesen, teilt
die Internationale Journalisten-Föderati-
on (IFJ) mit, zwölf mehr als im Jahr zu-
vor: 84 Journalisten, Kameraleute und
Techniker sowie zehn weitere Mitarbeiter.
Sie wurden gezielt ermordet, Opfer von
Bombenanschlägen oder gerieten ins
Kreuzfeuer; in Afghanistan, in Mexiko,
im Jemen, in Syrien, Indien, Pakistan, den
Vereinigten Staaten und Somalia, aber
auch in Europa, wo vier Journalisten getötet wurden.
Einer von ihnen war der saudi-arabische Regimekriti-
ker Jamal Khashoggi, der im Oktober im Konsulat Sau-
di-Arabiens in Istanbul von einem Tötungskommando
umgebracht wurde. Ein weiterer war der slowakische
Journalist Ján Kuciak. Er wurde mit seiner Verlobten
Martina Kušnirová im Februar 2018 erschossen. Kuciak
hatte zu Verbindungen führender Politiker zur organi-
sierten Kriminalität recherchiert. Sein Fall stürzte das
Land in eine tiefe politische Krise, die Regierung stürzte,
im Oktober nahm die Polizei vier Verdächtige fest, de-
nen der Mord an Kuciak und Kušnirová zur Last gelegt
wird. Die Tat, sagte der slowakische Präsident Andrej
Kiska in seiner Neujahrsansprache, habe die Gesell-
schaft zur Selbstreflexion gezwungen und 2018 zu ei-
nem „Jahr des Ringens um Anständigkeit und Gerechtig-
keit“ gemacht. Dass 2019 in diesem Ringen nicht nur in
der Slowakei, sondern weltweit diejenigen die Ober-
hand behalten, die für die (Presse-)Freiheit eintreten,
wagt man nicht zu hoffen.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
 Was kommt
Fliegende Autos und ein schwimmendes Atomkraftwerk, Steaks aus der Petrischale,
digitale Gesichtserkennung, Wetterkapriolen sowie ein Blick auf die
dunkle Seite des Mondes. 2019 wird ein großes Jahr für Wissenschaft und Technik.
 Wissen
Fliegende Flitzer
„Nur Fliegen ist schöner.“ Als der Autohersteller Opel vor 50
Jahren sein sportliches GT-Modell auf den Markt brachte, wa-
ren fliegende Autos allenfalls etwas für spleenige Ingenieure
oder bunte Comic-Hefte. Zwar hatte schon 1918 der amerika-
nische Rennfahrer Glenn Curtiss einen ersten Entwurf für so
einen fliegenden Flitzer gemacht, zwar drehte eine rollende
Kiste der Firma Pitcairn Aircraft zwanzig Jahre später ihre ers-
te Runde über Washington. Doch so richtig hob die Idee nicht
ab. Das wird sich ändern. Denn gleich mehrere Hersteller be-
reiten einen Marktauftritt vor. 2019 wird der chinesische Auto-
bauer Geely über seine amerikanische Tochtergesellschaft Ter-
rafugia ein zweisitziges Auto mit ausklappbaren Flügeln ver-
kaufen – zum Preis von einer halben Million Dollar. Das slowa-
kische Unternehmen Aeromobile zieht mit einem 300 PS star-
ken Verbrennungsmotor nach. Der Dritte im Bund ist die hol-
ländische Gesellschaft PAL-V. Sie wird versuchen, von 2020 an
mit einem dreirädrigen auch Gyrocopter genannten Zweisit-
zer samt einklappbaren Flügeln den beiden Konkurrenten Pa-
roli zu bieten. Opel jedoch, einer der Auto- und Flugzeugpio-
niere der zwanziger Jahre, kämpft heute ums Überleben.
Leonardos Jubiläum
Florenz rüstet sich für ein Jubiläum: den 500. Todestag von
Leonardo da Vinci am 2. Mai. Es wird nicht einfach sein, Herr
über die zu erwartenden Massen an Besuchern in der Haupt-
stadt der Toskana zu werden. Doch nichts war auch je einfach
an diesem Mann: sein Leben nicht, sein Werk nicht, und selbst
seine Grabstätte gibt Rätsel auf. Als er 1519 auf Schloss Clos
Lucé im französischen Amboise starb, verlor die Renaissance
ihr wohl größtes Genie. Er hatte phantastische Maschinen ent-
worfen und riesige Anlagen gebaut, er konnte in Spiegelschrift
schreiben, studierte Mathematik, baute Flugapparate, konzi-
pierte den ersten Hubschrauber und das erste Auto; er malte
in Öl, zeichnete mit der Feder und gab der Welt einige ihrer
größten Kunstwerke: das Abendmahl, die Mona Lisa, den vi-
truvianischen Menschen. Bis heute beschäftigt er die Gelehr-
ten, bis heute konnten sie ihn nicht bis ins Detail entschlüs-
seln, bis heute ist selbst der Verbleib seiner Gebeine ungewiss.
Denn sein Grab in der Amboiser Kirche Saint-Florentin wur-
de von Napoleons Soldaten in der Französischen Revolution
samt Gotteshaus abgerissen. Ein halbes Jahrhundert später
grub man die Überreste aus, fand ein
Ein Gyrocopter Skelett, trug es in der Kapelle Saint-
genanntes fliegendes Hubert zu Grabe und legte einen
Foto Reuters
Auto über den Ufern schweren Grabstein mit der Auf-
des Toten Meers. schrift „Leonardo da Vinci“ darüber.
59
Internet im Höchsttempo
Im Mobilfunk wird eine neue Ära eingeläutet. Nach LTE
(4G) und UMTS (3G) startet 5G in Deutschland. Die jüngs-
te Variante im Zahlen- und Buchstabensalat der Kommuni-
kationstechnik soll das Internet auf dem Smartphone schnel-
ler und die Kommunikation zwischen Maschinen leichter
machen. So werden durch das neue Netz auf der einen Seite
die Latenzzeiten und der Energieverbrauch der Geräte verrin-
gert. Auf der anderen Seite können in kürzerer Zeit mehr Da-
ten übertragen und mehr Teilnehmer als bisher gleichzeitig
im Netz bedient werden. Während es in China schon erste
Handys gibt, die mit diesem neuen Standard arbeiten, setzt
Deutschland im Frühjahr eine seiner milliardenschweren
Auktionen an, um die Frequenzen unter den Netzanbietern
zu versteigern. Aufgrund der komplizierten Technik der neu-
en Netze sind allerdings wöchentliche Aktualisierungen der
Nutzer-Software erforderlich. Diese Aktualisierungen kön-
nen schnell zu großen Lücken im Sicherheitsnetz führen
und Cyberangriffen Tür und Tor öffnen.
Am Himmel braut sich was zusammen
Der Welt stehen turbulente Wochen ins Haus. Denn Forscher
sagen für 2019 das bislang wärmste Jahr der Menschheitsge-
schichte voraus. Es besteht nach Angaben der World Meteoro-
logical Organization (WMO) eine 80 Prozent hohe Wahr-
scheinlichkeit, dass ein auch „El Niño“ genanntes Wetterphä-
nomen mit einer bislang noch nicht gesehenen Kraft bereits
begonnen hat. Dieses Phänomen braut sich im Pazifik zusam-
men, geht es dort doch mit der Umkehr der Temperaturver-
hältnisse einher. Eigentlich ist das Wasser vor der Küste Süd-
amerikas kälter und das vor Australien und den indonesischen
Inseln wärmer. Bei El Niño aber erwärmt sich der Ostpazifik
vor Südamerika stärker, während vor Australien und Indone-
sien die Wassertemperatur sinkt.
Diese scheinbar kleine Veränderung hat große Folgen
für Wind und Wetter auf dem gesamten Planeten. Das letzte
Phänomen dieser Art wurde 2016 registriert, das bislang
wärmste Jahr seit der wissenschaftlichen Aufzeichnung des
Wetters. Viele der großen Korallenriffe im Pazifik sind seit-
dem schwer beschädigt oder gar schon abgestorben. Bislang
ging die WMO davon aus, dass 2019 nur mit einem schwa-
chen El Niño zu rechnen sei. Im Oktober aber hat sich das
Wasser im östlichen Pazifik so stark erwärmt, dass nun mit ei-
nem relativ starken Phänomen gerechnet werden muss. Das
heißt für den Rest der Welt: schwere Stürme, heftige Nieder-
schläge und Kapriolen auf dem Thermometer.
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
60

China startet eine Rakete mit seiner Mond-Sonde „Chang’e-4“ Russlands schwimmendes Atomkraftwerk

Von der Petrischale auf den Teller: Ein Steak von Aleph Farms Das erste Bauhaus: Das Haus am Horn in Weimar

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Wissen
Atomkraftwerk auf hoher See
Es ist eines der größten und gefährlichsten Experimente der
Menschheitsgeschichte: Wenn nach den eisigen Winterwo-
chen 2019 im Nordosten Russlands die ersten wärmeren Win-
de wehen, wird sich eine gigantische Barke über die Ostsibiri-
sche See auf die Stadt Pewek zubewegen. Auf ihrer fußballfeld-
großen Ladefläche sind zwei Atomreaktoren der Modellmar-
ke KLT-40S montiert. Beide sind mit jeweils rund 250 Brenn-
elementen bestückt und sollen im Jahresverlauf 40 000 priva-
te Haushalte mit Strom beliefern. Das erste schwimmende
Atomkraftwerk der Welt: die Akademik Lomonossow. Über
Jahre hatten russische Ingenieure in der Tausende Kilometer
entfernten U-Boot-Werft von Sewerodwinsk daran gearbei-
tet. Es gab Pannen, Verzögerungen und Probleme. Das
schwimmende Kraftwerk lief im Juni 2010 in Sankt Peters-
burg offiziell vom Stapel. Im April 2018 wurde es von Schlep-
pern erst über die Ostsee, dann über die Nordsee und den
Nordatlantik in die Barentssee nach Murmansk gezogen. Im
kommenden Frühjahr soll die Atombarke mit einem Eisbre-
cher und einem Schlepper vor Pewek in Position gebracht
werden. Dann, so lautet der Plan, soll der kommerzielle Be-
trieb beginnen. Umweltschutzorganisationen nennen die Aka-
demik Lomonossow eine „nukleare Titanic“; Moskau nennt
sie die „Zukunft der Menschheit“.
Frische Steaks aus der Petrischale
Fleisch aus der Konserve ist seit den Napoleonischen Kriegen
bekannt. Fleisch aus der Petrischale steht seit Jahren ganz
oben auf der Agenda der Forschung. Das sogenannte In-vitro-
Fleisch sorgte zwar immer wieder für Schlagzeilen, schmeckte
aber bestenfalls wie ein gammliger Döner. Ein kleines Biotech-
Unternehmen aus Israel will es nun aber geschafft haben,
recht delikates Rindfleisch ganz ohne das Schlachten von Rin-
dern auf den Tisch zu bringen – und zwar in der Form eines
knackigen Steaks. Und das könnte in diesem Jahr schon in den
Handel kommen. Dabei hat die Firma Aleph Farms angeblich
nichts weiter machen müssen als die natürlichen Fleischzellen
von Kühen zu analysieren, sie im Labor zu kopieren und in
der Atmosphäre eines wohltemperierten Kühlhauses zu kulti-
vieren. So sind die Zellen aus sich heraus gewachsen. Sie bilde-
ten ein Gewebe und entwickelten dabei sowohl das Aroma wie
auch den Geschmack eines saftigen Stück Rindfleischs. Eine
etwa handtellergroße Scheibe Fleisch soll nicht mehr als 50
Euro kosten und dabei Umwelt und Tierwelt schonen.
Das Bauhaus feiert Geburtstag
Das Bauhaus wird im April 2019 hundert Jahre alt. Doch die
altehrwürdigen Einrichtungen in Weimar, Dessau und Ber-
Fotos Xinhua/eyevine /Laif, dpa (2), Roger Hagmann
lin lassen ihre Fans nicht nur weit in die Vergangenheit bli-
cken. Der einst von einer Gruppe aus Architekten, Ingenieu-
ren, Gestaltern und Malern rund um den deutschen Bau-
meister Walter Gropius während einer Schaffenszeit von nur
14 Jahren kreierte Bauhaus-Chic wirft aufgrund seines gestal-
terischen Minimalismus und seiner Zeitlosigkeit einen Blick
in die Zukunft des Aussehens: von Computern bis Fahrrä-
dern, von Autos bis zu Wohneinrichtungen. Die Form folgt
der Funktion, Schnickschnack ist teuer, und Schnörkel sind
61
out. Der legendäre Apple-Chef Steve Jobs war ein Fan. Von
Schanghai bis Chicago, von Tokio bis Tel Aviv mit seinen
rund 4000 auf die alten Bauhausmeister zurückgehenden
Häusern wird das gefeiert.
Gesichtskontrolle
George Orwell hatte ihn einst kommen sehen: „Big Brother“.
Mit den technischen Entwicklungen rund um die Künstliche
Intelligenz (KI) scheint die Menschheit nun einen großen
Schritt in diese Richtung zu machen. Denn während China an
der Totalüberwachung seiner Bürger durch digitale Technik ar-
beitet, wird in den kommenden Monaten auch in Amerika
eine KI-Anwendung für Furore sorgen: die Gesichtserken-
nung. Computer können zwar schon seit einiger Zeit über
Bildschirme die Gesichter von Millionen Menschen mit nahe-
zu hundertprozentiger Genauigkeit erkennen. Nun aber hat
die Datenindustrie ein paar handliche Anwendungen für den
Alltag daraus gemacht. So werden Kartenbesitzer von Base-
ball-Spielen einiger amerikanischer Top-Teams von den kom-
menden Wochen an keine Papier- oder elektronischen Tickets
mehr in Händen halten, sondern einfach so durch die Sicher-
heitsschleusen der Stadien gehen. Sind ihre Gesichtsmerkmale
doch auf den Computern der Veranstalter gespeichert, so dass
eine eindeutige Zuordnung der Person möglich ist. In Singa-
purs neuester Shopping-Mall wird technische Gesichtserken-
nung eingesetzt, um Passanten eine passende Shoppingliste
auf ihr Handy zu spielen. In Tokio wird die gleiche Technik er-
probt, um die Stadt für die Olympischen Spiele 2020 sicher zu
machen. Sieben von zehn Fluggesellschaften und Flughäfen in
der Welt testen Verfahren zur Gesichtserkennung. Apple hat
seine Smartphones mit sogenannter Facial Recognition ausge-
stattet. Der koreanische Konkurrent Samsung zieht nach.
Licht auf der dunklen Seite des Mondes
Pink Floyd hat sie besungen, Mark Twain hat sie beschrieben,
China macht sich nun auf, sie zu erkunden: die dunkle Seite des
Mondes. Hat Peking doch eine unbemannte Weltraummission
ausgerüstet, die mit der nach der chinesischen Mondgöttin be-
nannten Sonde „Chang’e-4“ schon in diesen Tagen auf der von
der Erde abgewandten Seite ein ferngesteuertes Fahrzeug aus-
setzt, das dann die Oberfläche des Trabanten erkunden wird.
Die Bilder, die die Sonde im Laufe des Jahres zur Erde funken
wird, dürften unter den Menschen eine neue Begeisterung für
den Mond entfachen – ganz so wie vor einem halben Jahrhun-
dert, als mit dem Amerikaner Neil Armstrong der erste Mensch
den Mond betreten hatte. In Finsternis allerdings dürfte das Vor-
haben der Chinesen nicht stattfinden. Denn da sich der Mond
einmal im Monat um sich selbst dreht, während er gleichzeitig
die Erde umrundet, ist unserem Planeten zwar immer dieselbe
Mondhälfte zugewandt. Seit der Mensch jedoch Satelliten, Rake-
ten und Raumstationen ins Weltall schießt, steht fest: auf der
vermeintlich dunklen Seite herrscht kein Schatten. Und nicht
nur das: Sowjetische Wissenschaftler hatten schon 1959 mit ih-
rer Mondsonde Lunik3 festgestellt, dass die vermeintlich dunk-
le Mondseite deutlich heller ist als die andere Hälfte.
Stephan Finsterbusch
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
62
Nervensystem
Im Alter riecht
die Nase
deutlich weniger
Im Alter sehen die Augen
schlechter, und die Ohren hö-
ren weniger, die Knochen
schmerzen häufiger, und die
Kräfte lassen nach. Doch
nicht nur das: Auch die Nase
riecht nicht mehr ganz so
gut wie in jungen Jahren.
Das jedenfalls stellten Wissen-
schaftler um Carsten Marr
vom Institut of Computatio-
nal Biology des Helmholtz-
Zentrums München nach Ex-
perimenten mit Mäusen fest.
Die Tiere wurden mit einge-
färbten Nervenzellen so prä-
pariert, dass die Forscher
dem Riechsinn bei der Ar-
beit zusehen und die dabei
gewonnenen Daten mit ei-
nem aufwendigen Computer-
system analysieren konnten.
Das Ergebnis: Riechnerven
gehen aus Stammzellen her-
vor. Sie durchlaufen dabei
verschiedene Stadien. Mit zu-
nehmendem Alter lässt die-
ser Prozess nach. Der Grund:
Die Riechzellen bleiben unge-
nutzt in den Stammzellen lie-
gen.
Summa Summarum
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
Gut zu wissen
Astronomie 1
Saturn verliert seine Ringe
Nichts ist für die Ewigkeit – schon gar nicht
im Weltall. Wie britische Wissenschaftler
nun herausfanden lösen sich die Ringe um
den Saturn langsam aber stetig auf. Da diese
Ringe fast ausschließlich aus Milliarden Stü-
cken Wassereis bestehen, gehen ihre Auflö-
sungserscheinungen als Regen über dem Pla-
neten nieder. Dieser Regen hinterlässt Spu-
ren in der Atmosphäre des Saturns – und die-
se Spuren können die Wissenschaftler mes-
sen. Wie die Forscher um James O’Dono-
ghue in der Fachzeitschrift „Nature“ schrei-
ben, dünnen sich die Ringe im Laufe der Zeit
aus. In vielleicht 300 Millionen Jahren könn- Die Ringe des Saturns
ten sie dann ganz verschwunden sein. „Wir
schätzen, dass dieser Ring-Regen eine so gro- schläge. Und das wirft ein neues Licht auf die
ße Wassermenge abtropfen lässt, dass sich in Ringe um den Saturn. Denn ihre Geschichte
einer halben Stunde eine Schwimmhalle von ist bis heute nicht geklärt. So ist etwa unklar,
olympischer Größe füllen könnte“, erklärte wie alt sie sind und ob sie schon zur Entste-
O’Donoghue. Der Forscher hatte mit seinem hung des Sonnensystems vor vier Milliarden
Team die Ringe des Saturns durch eines der Jahren da waren oder erst vor 100 Millionen
beiden sogenannten Keck-Teleskope auf Ha- Jahren entstanden. Die Ringe sind zwischen
waii untersucht. Dabei setzten sie Infrarot- 10 Meter und 100 Meter dick und haben ei-
Untersuchungen ein. Damit konnten sie nen Durchmesser von fast einer Million Kilo-
Emissionen von Wasserstoffionen feststellen. metern. Sie liegen genau in der Äquator-Ebe-
Diese Ionen sind ein Indikator für Nieder- ne des Saturns.
„Die Botschaft ist: Nehmt
die Wissenschaft ernst.“
Der britische Zellforscher und Nobelpreisträger
Sir Paul Nurse nach der Unterzeichnung eines
Briefes an Theresa May and Jean-Claude-Juncker,
in denen viele Spitzenforscher und Nobelpreisträger
für einen geordneten Brexit plädieren, um den
Schaden eines Rückzugs aus der EU für die
Wissenschaft im Vereinten Königreich so klein
wie möglich zu halten.
bislang unbekannte Tierarten haben Forscher
im vergangenen Jahr im Delta des asiatischen
Flusses Mekong entdeckt. Wie die Naturschützer
des World Wide Funds mitteilten, waren darunter
 Impressum 63

Astronomie 2 Frankfurter Allgemeine Woche

Wochenmagazin der
Rendezvous im All Frankfurter Allgemeinen Zeitung
© F.A.Z. GmbH,
Frankfurt am Main, 2019
Ein Auftakt nach Maß: Denn die amerikanische Raumfahrtbehörde Nasa ist mit einem techni-
schen Meisterstück in das neue Jahr gestartet. Flog doch knapp 6,5 Milliarden Kilometer von Alle Rechte vorbehalten.
der Erde entfernt am Rande unseres Sonnensystems die Raumsonde „New Horizons“ relativ Verantwortlicher Redakteur
Dr. Nikolas Busse
knapp an einem „Ultima Thule“ genannten Himmelskörper vorbei. Dabei konnte sie ihre digi-
talen Kameras auf dieses Himmelsobjekt richten, erste Aufnahmen machen und in den frühen Redaktion
Philip Eppelsheim, Susanne
Stunden dieses jungen Jahres mehrere technische Signale zur Erde senden. Nie zuvor war es Kusicke, Andreas Nefzger (Politik);
der Wissenschaft gelungen, so nah an einen so weit entfernten Himmelskörper heranzukom- Maja Brankovic, Daniel Mohr
(Wirtschaft); Melanie Mühl, Ursula
men. Ultima Thule liegt faktisch in der äußersten Region des Sonnensystems, dem sogenann- Scheer (Feuilleton/Gesellschaft);
ten Kuipergürtel. Der sieht aus wie eine riesige Unterlegscheibe, befindet sich außerhalb der Stephan Finsterbusch (Wissen)
Bahn des Planeten Neptun und Art Director
setzt sich aus Hunderttausenden Holger Windfuhr
kleineren Himmelskörpern zu- Bildredaktion
Christian Pohlert
sammen. Die sind teilweise nur
wenige Hundert Kilometer Chefin vom Dienst
Dr. Elena Geus
groß. Die Existenz dieses Gür-
Gestaltung
tels ist erst seit Ende der achtzi- Benjamin Boch
ger Jahre bekannt. Vor fünf Jah- Informationsgrafik
ren entdeckten die Wissenschaft- Thomas Heumann
ler mit dem Weltraumteleskop Anschrift
„Hubble“ dann Ultima Thule. Frankfurter Allgemeine Zeitung
GmbH, Hellerhofstraße 2–4,
Die genaue Form und Farbe die- 60327 Frankfurt, woche@faz.de
ses Objektes sind noch nicht be-
Geschäftsführung
kannt. Das könnte sich mit wei- Thomas Lindner (Vorsitzender),
teren Aufnahmen durch die Ka- Dr. Volker Breid
meras von New Horizons än- Verantwortlich für Anzeigen
dern. Die Raumsonde der Ame- Ingo Müller;
für Anzeigenproduktion:
rikaner war 2006 ins All geschos- Andreas Gierth
sen worden. Sie sollte unter an- Druck
derem den „Pluto“ erkunden. Vogel Druck und Medienservice
Diesen Zwergplaneten hatte die GmbH, Leibnizstr. 5,
97204 Höchberg
Sonde nach fast zehn Jahren
Vervielfältigungs- und
Illustration von der Sonde New Horizons und Ultima Thule Flugzeit passiert. Sie machte ge- Nutzungsrechte für Inhalte
stochen scharfe Bilder von ihm der Frankfurter Allgemeinen
und sorgte so bei den Wissenschaftlern auf der Erde für Furore. Der Pluto dreht am inneren Woche erwerben Sie
auf www.faz-rechte.de
Rande des Kuipergürtels seine Bahnen. Nachdem New Horizons nun Ultima Thule vor der
Linse hat, könnte die Forschung ein weiteres Kapitel im Missionsbuch aufschlagen. Die rund
zweieinhalb Tonnen schwere Sonde flog mit einer Geschwindigkeit von 50 000 Kilometern je
Stunde in 3500 Kilometern Abstand an Ultima Thule vorüber. Dabei machte sie tausend Auf-
nahmen. Diese Bilder per Funk zur Erde zu senden wird aufgrund der Größe der Daten fast
Fotos dpa, AFP (3), Picture Alliance

zwei Jahre dauern. Die am Neujahrstag empfangenen ersten kleineren Funksignale der Sonde
hatten mehr als sechs Stunden gebraucht, bevor sie die riesige Distanz bis zur Erde zurückleg- Abo-Bestellung:
ten. „Wir haben endlich den Rand des Sonnensystems erreicht“, sagte Hal Weaver vom Johns- Telefon (069) 75 91-33 59 oder
Hopkins-Forschungszentrum in den Vereinigten Staaten. Die Objekte, die dort im Kuipergür- www.faz.net/woche-abo;
Monats-Abonnement-Preise
tel kreisen, haben sich seit Milliarden Jahren offenbar kaum verändert. Daher könnte ihre nä- Inland: 13,90 € (3,20 €
here Erkundung noch für einige Überraschungen sorgen. pro Ausgabe, statt 3,50 €
im Einzelkauf);
Digitalabonnement: 11,90 €;
Kombi-Abonnement Print
und Digital: 15,90 €. Studenten:
drei unbekannte Arten von Säugetieren, Print 6,95 €, Digital 5,95 €.
Alle Preise inkl. gesetzl. MwSt.
23 Fisch-, 14 Amphibien- und 26 Reptilienarten. und Versand. Kombi- und
Auslandspreise unter
Der Mekong ist mit einer Länge von mehr als www.faz.net/woche-abo
Kundenservice:
4000 Kilometern eine der größten Flüsse der Erde. Telefon: (069) 75 91-10 00,
Telefax (069) 75 91-21 80
oder www.faz.net/meinabo

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Die zweite Chance
Bei der Handball-WM ruhen nicht nur große Hoffnungen auf der deutschen Mannschaft,
sondern auch viele Blicke auf dem Bundestrainer: Christian Prokop muss nun liefern.

FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019

 Sport
A
m liebsten möchte keiner beim
Deutschen Handballbund (DHB)
mehr über den unsichtbaren Ruck-
sack sprechen, den Bundestrainer
Christian Prokop seit einem knappen Jahr mit sich
herumträgt. Prokop ist seit Februar 2017 Chef der
deutschen Männer-Nationalmannschaft; er kam als
weitgehend Namenloser mit ziemlich wenig Erfah-
rung im Trainerjob einer Bundesliga-Mannschaft.
In seinem Fall war das der SC DHfK Leipzig.
Dieser 40 Jahre alte „Innovativtrainer“ mit
seinem Sinn für ausgeklügelte Handballtaktiken
sollte die Deutschen also vor einem Jahr zur Titel-
verteidigung bei der Europameisterschaft in Kroa-
tien führen. Im Januar 2016 hatte der Isländer Da-
gur Sigurdsson mit der deutschen Mannschaft bei
der EM in Polen den Titel geholt. Nach einer enttäu-
schenden Weltmeisterschaft 2017 trat Sigurdsson
aber zurück. Prokop übernahm von ihm eine ziem-
lich selbstbewusste Mannschaft voller Europameis-
ter, schied bei der EM vor einem Jahr jedoch schon
vor dem Halbfinale aus. Er wollte der Mannschaft
seine Handschrift verleihen – das aber ging schief.
Prokop, von DHB mit einem Fünf-Jahres-Vertrag
ausgestattet, durfte weitermachen.
Diese Vorgeschichte muss man kennen, um
sich auszumalen, was auf Prokop und seine 16 aus-
erwählten Handballprofis dieser Tage zukommt: Es
ist die Weltmeisterschaft im eigenen Land. Deutsch-
land ist mit Dänemark Gastgeber. Die Hallen wer-
den gut gefüllt sein, Millionen Menschen werden
die Spiele am Bildschirm verfolgen. Die Erwartung
an das deutsche Team ist hoch, der Druck riesig.
Wenn das Turnier am 10. Januar mit dem
Spiel der DHB-Auswahl gegen die gemeinsame
Mannschaft von Nord- und Südkorea in Berlin be-
ginnt, werden viele Fans hoffen, dass Deutschlands
beste Ballwerfer an alte Zeiten anknüpfen können.
Viele Augen werden auf den Trainer gerichtet sein.
Prokop gibt sich optimistisch.
Anders als seine Vorgänger im höchsten deut-
schen Handballtraineramt ist er kein Ziehkind des
DHB, wie es einst Heiner Brand und dessen Nach-
folger Martin Heuberger waren. Er hatte in seiner
Christian Prokop Jugend für den Zweitligisten Dessau sowie für die
während eines Erstligisten Wuppertal und Minden gespielt, kam
Länderspiels der auf ein halbes Dutzend Einsätze in der B-National-
DHB-Auswahl mannschaft und hatte sich nach einer schwereren
in Leipzig im Knieverletzung als Profi früh dem Trainerberuf
vergangenen Jahr verschrieben.
Er machte den Trainerschein, ließ sich in ei-
nem jahrelangen Studium außerdem zum Lehrer
für Sport und Wirtschaft ausbilden, trainierte Ju-
gendmannschaften in Hildesheim, war Trainer in
Braunschweig, Hannover, Magdeburg, Schwerin so-
Foto dpa
wie in Essen und ging vor fünf Jahren nach Leipzig.
65
Dort ging Prokops Stern auf. Vor zwei Jahren wur-
de er zum Trainer der Saison gewählt. Das ließ den
DHB bei ihm anklopfen. Prokop hatte in jungen
Jahren eine steile Karriere gemacht.
Die Schwierigkeit im Handball und seiner
Turnierform bei Großereignissen wie einer WM
oder EM aber sind die hohe Leistungsdichte unter
den führenden Nationen und die hohe Fehleranfäl-
ligkeit der einzelnen Teams in solchen Drucksitua-
tionen. Prognosen über den Ausgang eines Tur-
niers sind da unmöglich. Bei der WM 2017 spielten
die Deutschen unter Sigurdsson herausragend, bis
sie im Achtelfinale gegen Qatar einen Schwarzen
Tag erwischten. Ein Jahr später schien die DHB-
Auswahl unter Prokop auf einem guten Weg. Dann
standen die ambitionierten Deutschen den guten
Spaniern gegenüber, und plötzlich lief bei Prokops
Mannschaft nichts mehr.
Viele Talente und eine lenkende Hand
Er habe bei jenem Turnier den Draht zur Mann-
schaft verloren, wird es später heißen. Es ging um
Aufstellungen, Strategien und Taktiken, die vielen
missfielen. Spielzüge wurden vom Team anders ge-
spielt als vom Trainer geplant. Prokop stand ziem-
lich dumm und einsam da – obwohl ja nicht er im
Alleingang dieses Turnier verpatzt hatte, sondern
seine ziemlich erfahrene und eigentlich auch ziem-
lich gute Mannschaft. Das deutsche Team hat heute
Talente im Kader, von denen andere nur träumen
können. Und auch das Klima ist wieder besser.
Topspieler wie Torwart Andreas Wolff oder
Abwehr-As Hendrik Pekeler (beide THW Kiel) be-
richten, dass der Umgang zwischen Team und Trai-
ner besser geworden sei. Prokop sei lockerer, bereit,
auf Teambelange einzugehen, ohne die eigene Chef-
rolle abzugeben. Er selbst hatte nach der verpatzten
EM viele Nationalspieler und Vereinstrainer be-
sucht, um deren Sicht der Dinge zu hören. Ein Trai-
ner, der aus seinen Fehlern lernt? Auf jeden Fall ei-
ner, der die Lehren aus seinem ersten großen Tur-
nier gezogen haben und es nun besser machen will.
Sein Minimalziel: das Halbfinale in Hamburg. Das
Maximalziel: das Finale im dänischen Herning.
Für den DHB hängt viel an diesem Turnier.
Der mit 750 000 Mitgliedern größte Handballver-
band der Welt will sich offen, bunt, geschickt dar-
stellen. Er möchte die Lücke zum Fußball verrin-
gern und der zweitbeliebteste Teamsport der Deut-
schen bleiben. Bei allem organisatorischen Ge-
schick gehört zur einer großen WM eine große
deutsche Mannschaft – und für die ist vor allem der
Trainer verantwortlich. Christian Prokop hat eine
zweite Chance, eine dritte wird es nicht geben.
Frank Heike
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
66
Das Abgeschmackteste zum Jah-
Das war’s reswechsel sind diese sogenann-
ten guten Vorsätze, an die sich so-
wieso kein Aas hält! Dieses ganze Gelaber von weniger essen
und trinken, mehr Sport, mal wieder ein Buch, öfter mal aufs
Smartphone verzichten, noch mehr Achtsamkeit und Zuwen-
dung und Gesprächsbereitschaft und verschwitztes Aufeinan-
derzugehen, oder, wie Bundespräsident Steinmeier es aus-
drückte: Lassen Sie uns dafür sorgen, dass unsere Gesell-
schaft mit sich im Gespräch bleibt! Macht nur, aber lasst mich
in Ruhe, möchte man ihm zurufen, und an die erleuchteten
Worte der alten Hexe Margaret Thatcher erinnern, die bei sol-
chen unangenehm euterwarmen und von Mundgeruch um-
wehten Vorstellungen von menschlichem sogenanntem Mitein-
ander konstatierte, dass es so etwas wie Gesellschaft gar nicht
gebe. Aber letztlich sind es ja nur noch gut 360 Tage und dann
ist auch dieses verfluchte Jahr wieder rum, und dann das nächs-
te und übernächste und überübernächste, aber: Mach dir
nichts aus dem Hohn, nimm dir die Niederlage nicht zu Her-
zen: auf geht’s, altes Herz! (Emerson)
Vielleicht bleibt uns allen ja wenigstens das Merz-Thea-
ter erspart, das die Laienspielschar aus schlechten Verlierern
Greser und Lenz
FRANKFURTER ALLGEMEINE WOCHE 2/2019
noch auf dem Spielplan hält, weil sie es nicht erträgt, dass der
stolze Jüngling im zarten Alter von 63 Jahren wieder einer
Frau unterlegen war, die zudem noch einen umgekehrt propor-
tional zur Größe des lächerlichen Saarlandes ausgeprägten
Sinn für Humor hat und die Ambitionen des politisch ewig Er-
folglosen mit den Bemerkungen in die Tonne trat, dass die Par-
tei die Alternative Ministeramt oder nichts nicht schätzen
würde und überhaupt ein Blick in die Runde beim Kabinetts-
frühstück ergeben habe, dass das Kabinett vollzählig gewesen
sei – schöner als mit der Formulierung Annegret Kramp-Kar-
renbauers, es gebe für die Kanzlerin keinen Handlungsbe-
darf, kann man niemandem in den Hintern treten!
Schön in den Hintern getreten hat auch Amerikas soge-
nannter Präsident seinen Spezialkräften im Irak, die naturge-
mäß gerne unerkannt bleiben und für Fotos nicht zur Verfü-
gung stehen, was Trampel Trump nicht anfocht. Trost spendet
da J. D. Salinger, der vor hundert Jahren geboren wurde: Ich hof-
fe nur, daß irgend jemand soviel Vernunft hat, mich einfach in
den Fluß zu werfen, wenn ich einmal wirklich sterbe. (. . .) Wer
will denn noch Blumen, wenn er tot ist? Niemand.
Richard Wagner
 WISSEN, WORAUF
ES ANKOMMT.

WOCHE
N \
6 AUSGABE
WOCHE
Nr. 50 7. Dezember
2018 07038 € 3,50

\
N U R 7,– €

Apple, the Apple Logo and iPad are Trademarks of Apple Inc., reg. in the U. S. and other countries. App Store is a Service mark of Apple Inc.
Das kompakte Nac
hrichtenmagazin

DIGITALISIERUNG
Wie smart ist
Deutschland?
KLIMASCHUTZ
Leben ohne
Kohle?
YADEGAR ASISI
Die Kunst der
großen Bilder

DER
AUFSTAND
Warum Macron sch
eitert

Jede Woche gut informiert

Die wichtigen Themen kompakt aufbereitet und eingeordnet
Keine Ausgabe verpassen: Print oder digital
Freitags im Briefkasten oder am Vortag ab 17.00 Uhr als digitale Ausgabe
Noch komfortablerer Lesegenuss auf dem Display
Die Digital-Ausgabe jetzt im optimierten, lesefreundlicheren Design

JETZT BESTELLEN:
z faz.net/woche-testen e ( 069) 75 91-33 59
PR19040
 "!
###

<
=< 7



"=<=
"
"
 "


7"

    #   

     

 
  
 
 #   
  

-.!%&& "! '.& 2 %!2 . /2.&

8! & 2, 2./4..  !$ .%'&!#.&
4& %  4&4&#'. /2.
#'&:.2!.2 !/2 .$%!. 7/2 !
.'& !&2.&2!'&$& 4/!#/2!6$/ 4&
7.5&4&/%!2$! /  2'&
.!'/,
. 3 
4& %& '#4%&2!.&
/!& )!$, ". $ .2 $/ .'//'. & .
<' / 4$ 5. 4/!# -.&: !/:2 !&
!%. 4& !/2 /!2 3;(3 !.#2'. .
24!&& . >.'&.
%9,

-.!%&& "! '.& /)!$2 4 !&.

!'$!& 6'& , '&2&& *(11
 (0;+ ! ! % 6'& !&% ).!62&
=&6/2'. :4. .54& /2$$2 8!.,
-'2'   2'& !&'
.!'