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Herausgegeben von

Hauke Brunkhorst,
Regina Kreide und
Habermas-
Cristina Lafont Handbuch

Verlag J. B. Metzler
Stuttgart · Weimar
Die Herausgeber
Hauke Brunkhorst ist Professor für Soziologie an
der Universität Flensburg.
Regina Kreide ist Vertretungsprofessorin für
politische Theorie und Ideengeschichte an der
Justus-Liebig-Universität Giessen.
Cristina Lafont ist Professorin für Philosophie an
der Northwestern University, Evanston.

Bibliografische Information der Deutschen National-


bibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese
Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über
<http://dnb.d-nb.de> abrufbar. © 2009 Springer-Verlag GmbH Deutschland
Ursprünglich erschienen bei J.B. Metzler’sche
Verlagsbuchhandlung und Carl Ernst Poeschel Verlag
ISBN: 978-3-476-02239-4
GmbH in Stuttgart 2009
ISBN 978-3-476-02570-8
ISBN 978-3-476-05223-0 (eBook) www.metzlerverlag.de
DOI 10.1007/978-3-476-05223-0 info@metzlerverlag.de

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V

Inhaltsverzeichnis

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . VII 4. Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie –


Erkenntnis und Interesse (1968) . . . . . . . . 165
5. Kommunikative Vernunft – »Vorberei-
I. Intellektuelle Biographie . . . 1 tende Bemerkungen zu einer Theorie
des kommunikativen Handelns« (1971) 176
6. Spätkapitalismus und Legitimation –
II. Kontexte Legitimationsprobleme im Spät-
kapitalismus (1973) . . . . . . . . . . . . . . . . . 188
1. Geschichtsphilosophie, Anthropologie 7. Geschichte und Evolution – Zur
und Marxismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 Rekonstruktion des Historischen
2. Frankfurter Schule . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17 Materialismus (1976) . . . . . . . . . . . . . . . . 199
3. Staatsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 8. Aporien der kulturellen Moderne –
4. Pragmatizismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 »Die Moderne – ein unvollendetes
5. Hermeneutik und linguistic turn . . . . . . . 29 Projekt« (1980) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
6. Sprechakttheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 9. Platzhalter und Interpret – »Die Philo-
7. Psychoanalyse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 sophie als Platzhalter und
8. Nachmetaphysisches Denken . . . . . . . . . 44 Interpret« (1981) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
9. Recht und Kant . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 10. Theorie der Gesellschaft – Theorie des
10. Kognitive Entwicklungspsychologie . . . . 58 kommunikativen Handelns (1981) . . . . . . 220
11. Systemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 61 11. Diskursethik der Moral – »Diskursethik –
12. Evolutionstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 Notizen zu einem Begründungs-
13. Macht-Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 programm« (1983) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234
14. Juristische Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . 72 12. Verteidigung der Moderne – Der philoso-
15. Demokratie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 phische Diskurs der Moderne (1985) . . . . 240
16. Moral-Diskurse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 13. Demokratie und Recht – Faktizität
17. Völkerrechtsverfassung. . . . . . . . . . . . . . . 87 und Geltung (1992) . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254
18. Europäische Verfassung . . . . . . . . . . . . . . 94 14. Europa und Verfassung – »Braucht
19. Gerechtigkeit und Rawls . . . . . . . . . . . . . . 99 Europa eine Verfassung?« (2001) . . . . . . 263
20. Dekonstruktivistische Diskurse . . . . . . . . 104 15. Religion, Metaphysik und Freiheit –
21. Poststrukturalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 Glauben und Wissen (2001) . . . . . . . . . . . 273
22. Feministische Diskurse . . . . . . . . . . . . . . 112 16. Menschliche Natur und genetische
23. Neopragmatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 116 Manipulation – Die Zukunft der mensch-
24. Jüdische Philosophie . . . . . . . . . . . . . . . . 121 lichen Natur. Auf dem Weg zu
25. Monotheismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 einer liberalen Eugenik? (2002) . . . . . . . . 282
17. Völkerrechtsverfassung und Politik –
»Hat die Konstitutionalisierung des
III. Texte Völkerrechts noch eine Chance?« (2004) 291

1. Schelling, Marx und Geschichts-


philosophie – Das Absolute und die IV. Begriffe
Geschichte: Von der Zwiespältigkeit in
Schellings Denken (1954) . . . . . . . . . . . . . 133 1. Deliberation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 301
2. Theorie der Öffentlichkeit – Struktur- 2. Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
wandel der Öffentlichkeit (1961) . . . . . . . 148 3. Diskursethik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306
3. Technik und Verdinglichung – Technik 4. Egalität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 307
und Wissenschaft als Ideologie (1968) . . . 155 5. Erkenntnisinteresse . . . . . . . . . . . . . . . . . 309
VI Inhaltsverzeichnis

6. Europäische Staatsbürgerschaft . . . . . . . 312 25. Pragmatische Wende . . . . . . . . . . . . . . . . 360


7. Evolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 315 26. Radikaler Reformismus . . . . . . . . . . . . . . 362
8. Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 318 27. Rationale Rekonstruktion . . . . . . . . . . . . 364
9. Historischer Materialismus . . . . . . . . . . . 320 28. Rationalität und Rationalisierung . . . . . . 367
10. Ideologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 29. Sozialpathologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368
11. Intellektuelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 30. Spätkapitalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 371
12. Kolonialisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 328 31. System und Lebenswelt . . . . . . . . . . . . . . 374
13. Kommunikative Anthropologie . . . . . . . 331 32. Verfassungspatriotismus . . . . . . . . . . . . . 377
14. Kommunikatives Handeln . . . . . . . . . . . . 332 33. Weltbürgergesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . 379
15. Konservatismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336
16. Kontrafaktische Voraussetzungen . . . . . . 338
17. Legale und legitime Kriege . . . . . . . . . . . 343 V. Anhang
18. Legalität, Legitimität und Legitimation . . 345
19. Lernprozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 347 1. Zeittafel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 383
20. Macht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 349 2. Bibliographie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 384
21. Massenkultur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 2.1 Primärtexte und Siglen . . . . . . . . . . . . . . 384
22. Menschenrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353 2.2 Auswahlbibliographie . . . . . . . . . . . . . . . 385
23. Nachmetaphysisches Denken . . . . . . . . . 356 3. Die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . 386
24. Öffentlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 4. Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 389
VII

Vorwort

Die Arbeiten von Jürgen Habermas zur Theorie der wenn sie nicht mehr rezipiert werden. Lehr- und
Gesellschaft, zur politischen Theorie, zur Rechts- Handbücher können deshalb nichts anderes ma-
und Sozialphilosophie gehören zu den meist rezi- chen, als das ›Werk‹ dem Autor zu enteignen, in-
pierten theoretischen Texten der zweiten Hälfte des dem sie es in Kategorien und Subkategorien, in wir-
20. Jahrhunderts, sowohl innerhalb der Philosophie kungsgeschichtliche Bezüge und Teiltheorien zerle-
und Humanwissenschaft wie auch in einer breiter gen. Aus dem ›Werk‹ von Parsons wird dadurch die
gefassten intellektuellen und politischen Öffentlich- funktionalistische Soziologie, aus dem von Luh-
keit. Seit den 1950er Jahren haben sie sich in einem mann die Systemtheorie und aus dem von Habermas
Strom nicht abreißender Kritik und Gegenkritik, Po- die Kommunikationstheorie der Gesellschaft. Dieses
lemik und Gegenpolemik, in Umbauten und Revi- ›Werk‹ soll in seiner Komplexität nachvollziehbar
sionen provoziert und weit die philosophischen und werden.
sozialwissenschaftlichen Denkströmungen der Ge- Einer kurzen Darstellung von Habermas’ intellek-
genwart geprägt und immer wieder weit in die poli- tueller Biographie folgen Erläuterungen zum theore-
tisch diskutierende Öffentlichkeit hinein gewirkt. tischen Kontext der Theorie, dann werden die wich-
So lassen sich bereits die ersten Konturen linker tigsten Referenzautoren vorgestellt und die Debatten
und rechter Flügelbildung erkennen, quer zu diesen, sowie die jeweiligen zeitgenössischen intellektuellen
bisweilen auch parallel, Anschlüsse, die das Früh- Bezüge vergegenwärtigt. Eine ausführliche Darstel-
werk gegen das spätere ausspielen, oder umgekehrt lung einzelner Werke, Monographien und besonders
ans spätere anschließen und das frühere, die stark rezipierter und wichtiger Aufsätze bietet im
Schelling’schen, Heidegger’schen und Marxistischen, Anschluss daran einen Überblick über zentrale Theo-
ja sogar die sozialwissenschaftlichen Quellen längst reme sowie die interdisziplinäre Rezeption und Wei-
verdrängt haben. Nicht nur seine Interpreten, auch terentwicklungen der Theorie. Am Ende steht eine
der Autor Habermas gibt immer wieder neuen An- Rubrik mit kurzen Einführungen und Erläuterun-
lass zu Distanzierungen und Dekonstruktionen, zu gen zu den wichtigsten Begriffen und Stichworten,
kritischen und unkritischen Stellungnahmen, zu oft die dieser jüngsten Gestalt einer kritischen Theorie
hoch spezialisierten Fortentwicklungen und Neuan- der Gesellschaft zugrunde liegen.
sätzen. Seine Protagonisten und Kritiker greifen Fä- Noch einige Hinweise zur Benutzung des Bandes:
den des weitverzweigten theoretischen Netzes auf, Zitiert werden in der Regel die deutschen Erstausga-
spinnen es fort, verknüpfen es mit anderen Netzen ben; die erweiterten späteren Ausgaben sind durch
oder schneiden es entzwei und für eigene Zwecke die Jahreszahl nach der Sigle gekennzeichnet. Arti-
neu zu. kel aus Sammelbänden des Autors werden in der Re-
Der vorliegende Band wendet sich gleichermaßen gel nicht mit ihrem Titel, sondern unter dem Namen
an das wissenschaftlich spezialisierte wie an das po- des Sammelbandes und der entsprechenden Sigle
litisch und philosophisch breiter interessierte Publi- und Seitenzahl der Aufsätze erwähnt. Bei allen Lite-
kum. Schon die bereits publizierten Arbeiten von raturangaben werden, wenn vorhanden, die deut-
Habermas werden global rezipiert und haben eine schen Ausgaben bzw. Übersetzungen zitiert, das Er-
Wirkungsgeschichte, die längst unüberschaubar ge- scheinungsjahr des Originaltextes findet sich in der
worden ist. Da der Autor seine Theorie ständig wei- Literaturliste in Klammern.
terentwickelt, immer noch umbaut, fast jedes Jahr An diesem umfangreichen Band haben viele mit-
ein neues Buch mit neuen Aufsätzen publiziert, kann gewirkt. Zu großem Dank sind wir einigen Mitarbei-
es nicht der Zweck dieses Handbuchs sein, im Jahr tern verpflichtet: Semhar Marcos, Marieke Kupers
seines achtzigsten Geburtstags ein abgeschlossenes und ganz besonders Sophie Wulk danken wir für
Werk vorzustellen. Der Begriff des Abschlusses ist ihre kompetente Durchsicht der Texte. Nikolaus
ohnehin ebenso problematisch wie der des Werkes. Gramm und Michael Adrian haben nicht nur die
Abgeschlossen ist eine Serie von Texten, die einem englischsprachigen Beiträge mit gewohnter Professi-
Autor zugeschrieben werden, immer erst dann, onalität übersetzt, sondern auch wertvolle inhaltli-
VIII Vorwort

che und redaktionelle Anregungen gegeben, Niko- ell maßgeblich zum Gelingen des Projektes beigetra-
laus Gramm hat überdies mit Sachverstand und der gen. Bei allen Beteiligten möchten wir uns ganz
notwendigen Genauigkeit das Endlektorat über- herzlich für die gewährte Unterstützung bedanken.
nommen. Nicht zuletzt gilt Ute Hechtfischer vom Metzler-
Der »Fördergesellschaft der Universität Flens- Verlag ein ganz besonderer Dank. Sie hat, zusam-
burg« und der »Vereinigung von Freunden und För- men mit Franziska Remeika, alle inhaltlichen Frei-
derern der Goethe-Universität Frankfurt am Main« heiten gelassen und zugleich bei unzähligen Fragen
danken wir für die großzügige finanzielle Unterstüt- zur Realisierung des Bandes mit Sachverstand, Ge-
zung des Bandes, die entscheidend zu seiner Reali- lassenheit und Geduld zu deren Lösung beigetragen.
sierung beigetragen hat. Auch das Institut für Sozio-
logie der Universität Flensburg, das Institut für Mai 2009 Hauke Brunkhorst
Grundlagen der Sozialwissenschaften der Goethe- Regina Kreide
Universität und das Institut für Politikwissenschaft Cristina Lafont
der Justus-Liebig-Universität Gießen haben finanzi-
1

I. Intellektuelle Biographie

Im Alter zwischen 10 und 16 Jahren war Jürgen Ha- kratie westlichen Zuschnitts, ohne Armee und ohne
bermas gerade alt genug, um die Kriegsjahre, die Todesstrafe, prägte die Biografien dieser Generation
Siege, die Eroberung ganz Europas, die bedingungs- tief. Auch wenn sie sich sehr unterschiedlich zur
lose Kapitulation und die Nürnberger Prozesse be- Vergangenheit des ›Dritten Reiches‹ äußerten und
wusst zu erleben. Im August 1939 hatten Joachim verhielten, hatten Intellektuelle wie Habermas,
von Ribbentrop, Herrmann Göring, Rudolf Hess, Enzensberger, Lübbe, Dahrendorf, Kluge oder Luh-
Ernst Kaltenbrunner, Alfred Jodl, Arthur Seyß-In- mann kaum eine Chance, sich den Übergang von
quart, Hans Frank, Alfred Rosenberg, Wilhelm Kei- Hitler zu Konrad Adenauer, vom autoritären Staat
tel, Julius Streicher, Fritz Sauckel usw. unter dem der 1930er zum wohlwollenden Paternalismus der
Oberbefehl des Führers Polen überfallen, ausgeplün- 1950er Jahre, vom NS- zum CDU-Staat durch
dert, Arbeits- und Vernichtungslager errichtet, Mil- schlichte Verdrängung, Verleugnung oder gar Recht-
lionen von Menschen verschleppt, versklavt, ermor- fertigung des nationalsozialistischen Faschismus zu
det und dasselbe dann in ganz Europa, besonders im erleichtern. Sie mussten sich dazu verhalten. Sie
Osten, fünf Jahre lang wiederholt. Im Oktober 1945 konnten nicht einfach im Amt bleiben wie ein viel zu
wurde ihnen in Nürnberg der Prozess gemacht, und großer Teil des höheren Staats-, Universitäts- und
ein Jahr später wurden sie gehängt. Die Generation, Wirtschaftspersonals. Sie hatten keins. Sie konnten
die während des Krieges noch zur Hitlerjugend kam die große Verdrängung und den »Verdrängungsanti-
und allenfalls im letzten Kriegsjahr als Flakhelfer kommunismus« der 1950er Jahre (wie Habermas
diente oder zum Volkssturm eingezogen wurde, in- oder Enzensberger) als Fortwirken des Nazi-Regi-
tellektuelle Figuren wie Niklas Luhmann, Hermann mes kritisieren und trotzdem heute noch durch jün-
Lübbe, Ralf Dahrendorf, Hans Magnus Enzensber- gere historische Studien, wie eine kürzlich erschie-
ger, Ulrich Wehler, Odo Marquard, Alexander Kluge, nene über den von Habermas sehr geschätzten Bon-
die Brüder Hans und Wolfgang Mommsen oder ner akademischen Lehrer Oskar Becker, überrascht
Günther Grass, aber auch Politiker wie Helmut Kohl werden, wie tief die Kontinuitäten in die damalige
oder Johannes Rau, alle ungefähr so alt wie Haber- Bundesrepublik hineinreichten und wie wenig den
mas, erlebten ihre primäre und sekundäre Sozialisa- Studenten die politische Vergangenheit ihrer Lehrer
tion, Kindheit und Schulzeit, Pubertät und Adoles- bekannt war. Sie konnten die diskrete Kumpanei ih-
zenz im Nazireich, ihre tertiäre Sozialisation, die rer Lehrer und der Behörden, die regelmäßig nach
durch das Studium erzwungene Verlängerung der der Formel: You don’t ask, we don’t tell verfuhren,
Jugend im besetzten und in Besatzungszonen aufge- aber auch (wie Lübbe) als »kommunikatives Be-
teilten Deutschland. schweigen« der »braunen Biographieanteile« recht-
Der Umbruch von 1945, der totale Zusammen- fertigen und gutheißen. Sie konnten die Übernahme
bruch des Reiches, sein (vom konservativen deut- des Nazipersonals in die Bundesrepublik (wie Ha-
schen Staatsrecht vehement und erfolgreich bestrit- bermas) für eine »sozialhygienische« Katastrophe
tenes) Verschwinden als Staat, die Aufdeckung der oder (wie Lübbe) für einen zwar moralisch fragwür-
Naziverbrechen, die plötzliche Erfahrung, dass man, digen, »asymmetrischen«, aber funktional notwen-
wie Habermas es einmal in einem Interview ausge- digen, sozialintegrativen Segen halten. Sie konnten
drückt hat, in einem durch und durch verbrecheri- auch (wie Luhmann) den Übergang von dem bei
schen Regime gelebt hatte, und schließlich die Neu- diesen Jugendlichen, Pimpfen und Flakhelfern oft
gründung der Bundesrepublik im Westen des ehe- schon verhassten Naziregime zur Besatzungsmacht
maligen Reichsterritoriums – dieser in wenigen unter dem bewusst desengagierten Gesichtspunkt
Jahren vollzogene Austausch fast des gesamten staat- funktionaler Äquivalenz vergleichen: Als Flakhelfer
lichen Institutionensystems, der Wechsel von dem sei er vom Vorgesetzten geschlagen, danach von den
vielleicht verbrecherischsten Regime, dass die Welt Engländern, die sie gefangengenommen hätten, be-
in ihrer an Groß- und Staatsverbrechen nicht armen richtet Luhmann und fügt lakonisch, aber ohne die
Geschichte erlebt hat, zur parlamentarischen Demo- affirmative Absicht der Neokonservativen hinzu,
2 I. Intellektuelle Biographie

Personal und Inhalt seien ausgetauscht worden, Rol- russischer Revolution und Hitlers Verbrechen, die
len und Funktionen aber geblieben. Eine soziologi- später den Historikerstreit auslöste, kam nicht ganz
sche Einsicht, die dem späteren Lieblingskontrahen- zufällig von einer Figur aus der unmittelbar vorher-
ten von Habermas ein Abstraktionsgewinn (funk- gehenden Kriegsgeneration und wurde dann von ei-
tionale Äquivalenz) sein mochte, musste aus der nigen jüngeren, neokonservativen Historikern über-
Perspektive seines Frankfurter Kollegen als »schlech- nommen.
te Abstraktion« (Hegel) erscheinen. Zumindest passt Die Kriegs- und Vorkriegsgeneration, deren terti-
sie gut zu einer Theorie, die Habermas in seiner De- äre Sozialisation noch ganz in die Nazizeit fiel oder
batte mit Luhmann zu Beginn der 1970er Jahre als die sich gar schon 1933 aktiv für den Nationalsozia-
»Hochform technokratischen Bewusstseins« charak- lismus engagiert hatte, sperrte sich zumeist heftig
terisierte. gegen die von Westen eindringenden Ideen egalitä-
Intellektuelle Figuren der Generation Wehler, Ha- rer Freiheit und politischer Autonomie. Die Verach-
bermas, Enzensberger, Luhmann, Kluge, Grass, Dah- tung des westlichen Liberalismus und Demokratis-
rendorf wurden denn auch persönlich, politisch und mus war ungebrochen. Bei Intellektuellen wie Hei-
in ihrem Werk durch den Umbruch und die Befrei- degger, Schmitt, Hans Freyer, Ernst Jünger oder
ung von 1945 tief geprägt. Das kann man fast bis in Gehlen in der ersten, bei Habermas’ Lehrer, dem
jeden Satz, den Habermas geschrieben hat, verfolgen Bonner Philosophen Erich Rothacker, der noch 1944
und nachvollziehen. Der noch selbst erfahrene Fa- einen Aufsatz über die Kriegswichtigkeit der Philo-
schismus, noch mehr der Schock der Befreiung, ist sophie publiziert hatte, bei Helmut Schelsky, Ernst
immer irgendwie präsent. Die erhebliche intellektu- Forsthoff oder Joachim Ritter in der zweiten, poli-
elle Aggressivität, die Habermas zum Wohle der po- tisch und beruflich aktiven Generation des ›Dritten
litischen Kultur der Bundesrepublik wiederholt zum Reichs‹ überwiegen beredtes Schweigen, Verdrän-
Zuge kommen lässt, ist immer defensiv. Aber auch in gung, Verleugnung oder, wie bei Carl Schmitt, die
den Schriften des sehr viel unpolitischeren Ironikers boshaft trotzige und offen antisemitische Selbst-
Luhmann, der im Übrigen jede Nähe zu den vielfäl- rechtfertigung, die er in einer Aphorismensamm-
tigen Kreisen Carl Schmitts ebenso gemieden hat lung, die heute von den Schülern und Apologeten als
wie Habermas, ist der Bezug auf die zwölf Jahre von heilige Schrift rezitiert wird, gleich nach dem Krieg
1933 bis 1945 ständig anwesend. So wie Habermas niedergelegt hat. Ansonsten hat auch Schmitt so ge-
Martin Heidegger, mit dem er in Deutschland sein tan, als hätte er immer schon vor dem Niedergang
Studium begann, durch Charles Sanders Peirce sub- des Staats gewarnt. Die eindeutigen Formulierungen
stituiert hat, so hat auch Luhmann sich mit Talcott vom Ende des Staats hat er jedoch erst nach dem
Parsons von Arnold Gehlen und den deutschen in- Krieg gefunden und dem Begriff des Politischen 1963
tellektuellen Sonderentwicklungen abgestoßen. Ob im Vorwort hinzugefügt und damit auf die Bundes-
sie es so sagen (wollten) oder nicht, die 16-Jährigen republik, nicht aufs ›Dritte Reich‹ gemünzt.
von 1945 konnten das Jahr des Kriegsendes im Nach- Die einzigen, denen in diesen beiden Generatio-
hinein kaum anders wahrnehmen denn als Befrei- nen das Verdrängen und Verleugnen unmöglich war,
ung und als »neuen Anfang«, mit dem Hannah waren illegale Widerstandskämpfer wie der 1937
Arendt ihr düsteres Buch über die totale Herrschaft aufgeflogene, den Rest der Nazizeit eingekerkerte
so plötzlich und hoffnungsvoll enden lässt. und nach Ablauf der Zuchthausstrafe in die berüch-
Die heftigen, polemischen Auseinandersetzungen tigte Strafdivision 999 abkommandierte Wolfgang
um den Nationalsozialismus, die diese Generation Abendroth; oder es waren die wenigen im Lande ge-
im Unterschied zur Diskretion ihrer Lehrer aus- bliebenen und nicht untergetauchten, liberalen Geg-
zeichnete, betrafen, von wenigen Ausnahmen abge- ner der Nazis wie Karl Jaspers; oder die Verjagten
sehen, nicht mehr die Relativierung der Massenver- selbst, die wie Hannah Arendt, Leo Strauss, Thomas
brechen, die völkerrechtliche Rechtfertigung des Mann, Karl Löwith, Franz Neumann, Hans Kelsen,
Angriffskriegs oder die Infragestellung der Legitimi- Ernst Fraenkel oder Max Horkheimer und Theodor
tät des Nürnberger Gerichts, sondern die Erklärung W. Adorno nicht nur Deutschland, sondern auch
des ›nationalsozialistischen‹ oder – schon diese Be- Europa verlassen mussten; oder es waren die weni-
grifflichkeit ist strittig – ›faschistischen‹ Grauens gen, die wie Eugen Kogon 1945 den Konzentrations-
und seine Vergleichbarkeit oder Unvergleichbarkeit lagern entronnen sind. Sie schrieben schon während
mit andren Formen totaler Herrschaft, vor allem des des Krieges oder gleich danach die heute noch wich-
Stalinismus. Die Idee eines »Kausalnexus« zwischen tigsten Bücher über den Nationalsozialismus und
I. Intellektuelle Biographie 3

die Epoche des Faschismus, den Behemoth (Neu- manifest und damit für jedermann erkennbar und
mann), den (noch Mitte der 1930er Jahre noch namhaft zu machen.
in Deutschland heimlich verfassten) Doppelstaat Noch als Student, ein Jahr vor Fertigstellung der
(Fraenkel), die Origins of Totalitarianism (Arendt), Dissertation, hat Habermas in einem Artikel, der im
die Dialektik der Aufklärung (Horkheimer/Adorno), Juli 1953 unter der Überschrift »Mit Heidegger ge-
den SS-Staat (Kogon). Aber ihre Stimme hatte in der gen Heidegger denken: Zur Veröffentlichung von
hegemonial vermachteten und undurchdringlichen Vorlesungen aus dem Jahre 1935« in der FAZ er-
Öffentlichkeit der Adenauer-Republik, trotz des ge- schien, die in diesen Vorlesungen offensichtlich ge-
legentlichen Aufkeimens von Gegenöffentlichkeiten, wordenen Nähe nicht nur der Person, sondern auch
keinen Ort und wurde erst in den 1960er Jahren ver- des Denkens von Heidegger zum Nationalsozialis-
nommen. Der ehemalige Zentrumspolitiker und mus angeprangert. Heidegger hatte damals eine Vor-
entschiedene Antinazi Adenauer setzte stattdessen lesung aus den 1930er Jahren ohne jeden Kommen-
auf kommunikatives Beschweigen und tat das dis- tar, aber ein wenig zugunsten des eigenen Glorien-
kret kund, indem er sich wissentlich mit NS-Figuren scheins retuschiert, wieder veröffentlicht, in der von
wie dem Mitverfasser der Nürnberger Gesetze, Hein- der »inneren Wahrheit und Größe dieser Bewegung«
rich Globke, umgab. die Rede war. Für die Publikation hatte Heidegger
Umgekehrt bei der Habermas, Luhmann, Dah- den Hinweis auf »diese Bewegung« mit dem Klam-
rendorf, Grass, Lübbe, Mommsen nachfolgenden merzusatz »(nämlich mit der Begegnung der plane-
Generation der 1968er. Sie wurde nach (oder am) tarisch bestimmten Technik und des neuzeitlichen
Ende des Hitler-Reichs geboren und ist die erste Ge- Menschen)« versehen. Von der Technik hatte Hei-
neration, die ganz und gar durch die Bundesrepublik degger sich nach dem Krieg deutlich distanziert, so
und den Westen, durch Europa und Amerika, auch dass der Zusatz dem damaligen, mit dem Werk Hei-
durch eine liberaler gewordene Erziehung geprägt deggers vertrauten Leser, wie eine frühe und früh auf
wurde. Sie musste sich nicht mehr, wenn sie sich zu Distanz zum Regime gehende Bemerkung erschei-
den Nazis verhielt, zu einem Teil ihrer eigenen Le- nen musste (vgl. TK, 76). Heideggers Hauptwerk
bensgeschichte verhalten, denn die ins NS-Regime Sein und Zeit aus den 1920er Jahren prägte zu jener
so oder so verstrickte Lebensgeschichte ihrer Eltern Zeit die gesamte deutsche Philosophie. Aber nicht
lag vor ihrer Geburt. Den Nationalsozialismus kann- Heideggers Vorlesung und seine offenbar ungebro-
ten sie nur noch aus Zeitungen, Büchern, Filmen chene Wertschätzung des Nationalsozialismus, die
und vom Hörensagen. Die Spiegelaffäre und der politische Kritik daran wurde als Skandal, als Bruch
Auschwitzprozess waren ihr politisches Schlüsseler- einer stillschweigenden Verabredung, als Verstoß ge-
lebnis. Dadurch wurde der Nationalsozialismus zur gen den common sense des kommunikativen Be-
gegenwärtigen Vergangenheit, blieb aber trotzdem schweigens verstanden. Was die Geister empörte
lebensgeschichtlich unerreichbar vergangene Gegen- und erstarren ließ, war nicht, dass Habermas mit
wart, die nicht mehr durch eigenes Erleben, sondern Heidegger gegen Heidegger zu denken empfahl, son-
nur noch durch Zeugen, Geschichte, Literatur, Kunst dern dass er das politisch begründete.
und Einbildungskraft vergegenwärtigt werden Habermas rückte in den folgenden Jahren weiter
konnte. Das erleichterte die Wahrnehmung des la- nach links, und die Begegnung mit Adorno, an des-
tenten Faschismus im Alltagsleben der Bundesrepu- sen Institut für Sozialforschung er Soziologie lernte
blik und im wiederholt, besonders im Vietnamkrieg, und praktizierte, wenig später die Habilitation bei
auflebenden Imperialismus ihrer westlichen Nach- Abendroth – beides von den Nazis verfolgte, marxis-
barn. Aber es erleichterte auch die maßlose Über- tische Intellektuelle – hat aus dem linken Heidegge-
treibung, die scheinrevolutionäre Kopie der vor- und rianer Habermas einen Neomarxisten gemacht, al-
antifaschistischen Weimarer Linksradikalen und lerdings einen, der sich zum Marxismus immer un-
Kommunisten, die Verwechslung der ungebroche- orthodox und revisionistisch verhalten hat. Bis heute
nen Nazi-Mentalitäten des CDU-Staats mit offen fa- gehört ein neu angeeigneter Marxismus zum unauf-
schistischer Herrschaft und die voreilige Identifika- gebbaren Kernbestand seines Werks, und vieles in
tion des imperialistischen Vietnamkriegs mit der diesem ist ohne die gründliche Kenntnis von Marx
amerikanischen Demokratie im Ganzen, und es er- und der marxistischen Literatur, vor allem auch des
mutigte den aktionistischen Versuch, die projek- gewaltigen Umbruchs nicht nur des Denkens, son-
tierte Latenz des Faschismus durch kalkulierte Pro- dern auch der Verhältnisse in der Zeit zwischen He-
vokation und experimentelle Gewalt (Dutschke) gel und Marx kaum richtig zu verstehen. Im Werk
4 I. Intellektuelle Biographie

von Habermas spielt Kant zwar mittlerweile eine zugleich zu einer breiten Palette philosophischer
größere und grundlegendere Rolle als Marx. Marx und sozialwissenschaftlicher Theorie- und For-
bleibt aber wesentlich (s. Kap. II.1). Denn es ist ge- schungsprogramme. Der Autor steigt in einen fach-
rade die schon für Marx charakteristische Verbin- wissenschaftlichen oder fachphilosophischen Dis-
dung einer normativ anspruchsvollen Philosophie kurs ein, eignet ihn sich an, schlägt sich so lange mit
der Vernunft mit einer empirischen Theorie der Ge- den Fachkollegen, bis die ihn akzeptieren und zitie-
sellschaft, die das Werk von Habermas von anderen ren, und wenn sie ihm gerade nahekommen wollen,
Zeitgenossen, von Soziologen wie Luhmann ebenso verlässt er das Boot, um das im fremden Terrain Er-
wie von Philosophen wie John Rawls trennt (s. Kap. oberte der eigenen Theorie einzuverleiben und die
II.19). An der Stelle Hegel’schen Geistes steht seit Fachkollegen kopfschüttelnd in ihren Fächern zu-
Marx der Begriff der Gesellschaft, und trennt die rückzulassen. In seinem produktiven Eklektizismus
ganze moderne Richtung kritischen Denkens vom gleicht das Werk von Habermas vielleicht noch am
18. und frühen 19. Jahrhundert, von Hegel und von ehesten dem des großen amerikanischen Soziologen
Kant. Die an das Programm der frühen Frankfurter Talcott Parsons.
Schule im New Yorker Exil (Horkheimer, Adorno, Weite Passagen der eigenen Theorie entwickelt er
Marcuse, Löwenthal) anschließende Integration von in der immanenten Kritik anderer Autoren. In der
Philosophie und Sozialwissenschaft in eine kritische Theorie des kommunikativen Handelns, die er noch
Gesellschaftstheorie ist das Signum des Habermas- in der Zeit seiner Tätigkeit als Max-Planck-Direktor
schen Werks. in Starnberg verfasst und zu Beginn seiner zweiten
Die Gesellschaftstheorie von Habermas greift Frankfurter Lehrtätigkeit 1981 publiziert hat, sind
zwar den philosophischen Grundbegriff der Ver- das die soziologischen Klassiker, die jeweils verein-
nunft auf und expliziert ihn sprachphilosophisch, seitigten Forschungsprogramme der phänomenolo-
verwendet ihn aber für die Entwicklung einer sozial- gischen Handlungstheorie und der funktionalisti-
wissenschaftlichen Theorie. Sie beruht auf der – schen Systemtheorie, hinzu kommen in den philoso-
zuvor nur von dem Austromarxisten Max Adler vor- phisch explikativen Exkursen die Sprechakttheorien
weggenommenen – Idee einer vollständigen Trans- (Austin, Searle) und die empiristischen und herme-
formation von Erkenntniskritik in Gesellschafts- neutischen Rationalitätstheorien, deren Darstellung,
theorie. Es wäre ebenso falsch, Habermas als bloßen Rekonstruktion und Kritik ihr Autor immer von
Philosophen argumentativer Begründung oder gar Neuem das abzuringen versucht, was den eigenen
als Diskursethiker zu verstehen, wie ihn nur als So- Thesen standzuhalten scheint. Anders als der sehr
zialwissenschaftler und Soziologen zu rezipieren. Er viel konstruktiver verfahrende, seine eigentlichen
ist, obwohl er immer versucht hat, seine Theorie in Quellen eher verdunkelnde Luhmann, lebt Haber-
beiden Disziplinbereichen mit den dort jeweils dis- mas ganz von der Dauerkommunikation und Dau-
ziplinär spezialisierten Mitteln zu verteidigen, kein erpolemik mit anderen Theorien, vom Wechselbad
Philosoph und kein Soziologe, sondern (als Berufs- aus Einbeziehung und Ausgrenzung des Anderen.
soziologe, der er von 1956–59 und dann wieder von Das gilt insbesondere für die Theorie- und For-
1964–82 war, ebenso wie als Berufsphilosoph, der er schungsprogramme, die für die Entwicklung der
von 1961–71 und dann wieder von 1983–94 war) der Habermas’schen Version einer kritischen Theorie
Autor einer wirklich interdisziplinären Theorie der der Gesellschaft die wichtigsten geworden sind, die
Gesellschaft. Der Begriff der Gesellschaft bildet das Frankfurter Schule und die funktionalistische Sys-
Zentrum seines Werks. In der Einleitung zu Erkennt- temtheorie. Mit Luhmann, mit dem er 1971 einen
nis und Interesse fasst er sein Forschungsprogramm damals breit rezipierten und diskutierten Streit aus-
1968 in dem einen Satz zusammen, dass eine »radi- gefochten hat, dokumentiert in dem gemeinsamen
kale Erkenntniskritik« »nur als Gesellschaftstheorie« Sammelband Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
möglich sei (EI, 9; Habermas 2000; Thyen 2008). Mit technologie?, verbindet ihn die Wende der Gesell-
der knapp 15 Jahre später fertiggestellten Theorie des schaftstheorie zur Kommunikation, die ihn von der
kommunikativen Handelns hat sich das Vorhaben ei- älteren Frankfurter Schule trennt.
ner erkenntnistheoretischen Rechtfertigung der Ge- Mit seinem bewusst als politisch verstandenen
sellschaftstheorie bzw. der Begründung von Er- Programm philosophischer Aufklärung aber hat sich
kenntnistheorie als Gesellschaftstheorie dann erle- Habermas – trotz seiner immanenten Kritik am ver-
digt (s. Kap. III.4; III.5; IV.14). meintlichen Vernunftdefaitismus der ersten Gene-
Habermas verhält sich dialogisch und räuberisch ration kritischer Theoretiker wie Horkheimer und
I. Intellektuelle Biographie 5

Adorno – an die Kontinuität dieser Denktradition Verständigung, die eine Einigung nach der Logik des
angeschlossen. Dabei orientiert er sich ganz an jener besseren Arguments erlauben soll. So beansprucht
Maxime der Dialektiker, dass der Sinn kritischer Habermas, das Defizit der normativen Grundlegung
Theorie darin bestehe, gegen sich selbst zu denken, einer primär von moralischen Intuitionen getrage-
d. h. sie weder zu dogmatisieren noch zu musealisie- nen Kritischen Theorie zu beseitigen, indem er Kri-
ren, sondern auf der Grundlage neuer zeitgeschicht- tik als Verfahren argumentativer Begründung, als
licher Erfahrungen systematisch weiterzuentwi- diskursive Prüfung kontroverser Geltungsansprüche
ckeln. Habermas trat das Erbe der Kritischen Theo- expliziert. Die praxisorientierte Reorganisation der
rie mit der Absicht ihrer Transformation an, die er Kritischen Theorie hat nicht nur zu intellektuellen
als linguistic turn und als pragmatic turn versteht (s. Anschlüssen geführt, die mittlerweile bis weit in den
Kap. II.5) – zum Verdruss all jener, die sich Kritische mainstream sozialdemokratischer Politik (beider
Theorie nicht anders vorstellen können, denn als Volksparteien der Bundesrepublik) reichen, zu dem
Analyse falschen Bewusstseins. Demgegenüber hat Habermas selbst sich zumeist in deutlicher Distanz
Habermas die »negative Dialektik« Adornos aus der verhalten, jedenfalls jede Affirmation immer mit
Erstarrung angesichts vollendeter Negativität gelöst Vorbehalten und ironischen Distanzierungen ge-
und in eine konsequent nachmetaphysisch ange- pflastert hat (siehe nur die vergiftete pro-Schröder-
legte, normativ gehaltvolle Theorie der Gesellschaft Stellungnahme vor der Wahl 1998). Sie hat vor allem
überführt. Die Nähe zu Adorno wird vor allem in ei- in jüngster Zeit auch eine Vielzahl von Versuchen
ner negativistischen Lesart des moral point of view angeregt, im Anschluss an Habermas (und Foucault,
deutlich, in der »negative[n] Idee der Abschaffung Derrida, Butler u. a.) das Programm einer radikalen
von Diskriminierung und Leid« (EA, 7). Damit Gesellschaftskritik wiederaufzunehmen, die sich
nimmt das nachmetaphysische Denken aber zu- nicht von vornherein auf Sozialdemokratie und Par-
gleich Abstand von der negativen Geschichtsphilo- lamentarismus festnageln lässt (s. Kap. II.11; II.20).
sophie Horkheimers und Adornos (s. Kap. IV.26). In seinen zahlreichen zeitdiagnostischen Arbei-
Entschieden verabschiedet er die von diesen nur ten und ständigen intellektuellen Interventionen
mehr negativ festgehaltene Utopie einer von allen geht es ihm um die Verbindung von philosophischer
Zwängen erlösten Menschheit, auch zu der eigenen Normativität und soziologischer Theorie mit der re-
frühen Formulierung der Idee einer herrschafts- flexiven Selbstbeschreibung der Gesellschaft, in der
freien Kommunikation geht er später ebenso auf Di- wir leben. Habermas hat der Bundesrepublik über
stanz wie zum Negativismus Adornos, für den das Jahrzehnte immer wieder neue Stichworte geliefert,
Ganze das Unwahre ist. Es ist weder das Wahre (He- an denen sich oft zentrale politische Debatten und
gel) noch das Unwahre (Adorno), sondern was es ist, Konflikte entzündet haben. Er hat den (auf die Zeit
hängt an zufälligen, sich ändernden Umständen und vor 1945 gerichteten) antifaschistischen Konsens mit
an den Resultaten unserer praktischen Interventio- einem (auf die 1949 gegründete Bundesrepublik ge-
nen. Wahrheit und Falschheit des Denkens wie der münzten und bereits nach vorn, auf die entstehende,
Welt, auf deren Einrichtung es sich bezieht, sind, da- postnationale Konstellation – so ein Buchtitel der
mit schließt Habermas an Heidegger und den Prag- 1990er Jahre – gerichteten) westlich orientierten
matismus an und erinnert an den jungen Marx, Verfassungspatriotismus verbunden – ein Begriff,
praktische Fragen. den er dem konservativen Liberalen Dolf Sternber-
Und doch ist das konsequente Weiterdenken kri- ger entwendet, postnational uminterpretiert und in
tischer Theorie durch Habermas ganz im Geiste der den 1980er Jahren mit breiter Wirkung in Umlauf
Dialektik. Denn Horkheimer und Adorno haben gebracht hat (Kap. IV.32). Noch aus den späten
stets hervorgehoben, dass ihre gesellschaftstheoreti- 1950er Jahren stammt der für das ganze Werk und
schen Reflexionen geschichtlich zu verorten sind, einen erheblichen Teil seiner politischen Wirkungs-
dass der Wahrheit ihrer Theorien ein ›Zeitkern‹ ei- geschichte zentrale Begriff der Öffentlichkeit (s. Kap.
gen ist. Deshalb war es nur konsequent, wenn Ha- III.2).
bermas seine Version Kritischer Theorie als »Gesell- ›Öffentlichkeit‹ ist der Grundbegriff der politi-
schaftstheorie« versteht, »die der geschichtsphiloso- schen Theorie, und er verbindet Theorie und Kritik.
phischen Selbstgewissheit entsagt hat, ohne den Eine wichtige praktische Implikation der Habilitati-
kritischen Anspruch aufzugeben« (Habermas 1986, onsschrift ist die Kritik an der entpolitisierten Öffent-
391). An die Stelle einer unbestimmten Utopie des lichkeit der vermarkteten und vermachteten Gesell-
ganz Anderen tritt das Konzept der intersubjektiven schaft der 1950er Jahre, in der wenige mächtige Me-
6 I. Intellektuelle Biographie

dienkonzerne das öffentliche Leben dominierten gierten Totalrevolution aller gesellschaftlichen Ver-
und der soziale Konformismus der durch wachsende hältnisse hat Habermas jedoch als »Scheinrevolu-
Wohlfahrtsstaatlichkeit befriedeten und atomisier- tion« zurückgewiesen. Eine Revolutionierung des
ten Massen nicht nur in Deutschland die politi- Spätkapitalismus, von der die Studenten von Berlin
sche Dauermobilisierung der Zwischenkriegs- und bis Berkeley träumten, hat er nie für möglich gehal-
Kriegszeiten abgelöst hatte. Eine Folge der sanften, ten, und im Aktionismus, den Rudi Dutschke pro-
demokratischen Gleichschaltung des CDU-Staats pagierte, glaubte er zwar keine sachliche, wohl aber
waren der staatliche Zugriff auf die Pressefreiheit in eine methodische Verwandtschaft mit dem italieni-
der Spiegel-Affäre ebenso wie der aktive und passive schen Faschismus wiedererkennen zu können. Trotz
Widerstand gegen die erst damals vor deutschen Ge- des scharfen Tonfalls, der sich in den Begriffen »lin-
richten beginnenden NS-Prozesse. Beides löste frei- ker Faschismus« und »Scheinrevolution« Ausdruck
lich Gegenbewegungen aus, die im Ruf nach einer verschaffte und heftige Gegenkritik entfachte, war
Repolitisierung des öffentlichen Lebens gipfelten, der die Kritik von Habermas an der Studentenbewe-
zur Parole der Studentenbewegung wurde. gung – ganz anders als die heutige, verspätete Selbst-
Der Strukturwandel der Öffentlichkeit hatte einen kritik ihrer Aktivisten und Renegaten – eine Kritik
großen Einfluss auf die beginnende Studentenbewe- von innen. Er hat nicht den Marxismus der Studen-
gung. Die Mischung aus Habilitationsschrift, intel- tenführer kritisiert, sondern ihren Rückfall in die
lektuell zugespitzter Gesellschaftskritik und soziolo- orthodoxe Klassen- und Arbeitswerttheorie, der er
gisch-politikwissenschaftlichem Fachjargon passte allenfalls für das 19. Jahrhundert Gültigkeit zugeste-
nicht schlecht ins Milieu der vom Zigarettendunst hen wollte. Er hat mit Marx den »utopischen Sozia-
verhangenen SDS-Versammlungen, zu dessen Grün- lismus« Dutschkes kritisiert und den voluntaristi-
dungsgeneration nach der Abspaltung von der SPD schen Aktionismus, der die latente Gewalt des Sys-
Habermas als Mitglied des Fördervereins gehörte. tems durch provokativ vorlaufende Gegengewalt
Das Buch enthält bereits die zentrale Forderung der hervorlocken und manifest machen wollte. Das hat
1968er nach der Herstellung von Öffentlichkeit in er »linken Faschismus« genannt, die Verwendung
allen Gremien und Organisationen, in denen öffent- dieses Ausdrucks aber in mehreren Interviews und
liche Angelegenheiten nicht-öffentlich verhandelt Stellungnahmen stark eingeschränkt und zugege-
werden. Demokratie sollte wieder zur öffentlichen ben, dass er die phantasievoll provokanten und ge-
Angelegenheit nicht nur des politischen Systems, der waltlosen Aktionen anfangs in ihrem innovativen
Parteien, Parlamente und Exekutivspitzen, sondern Charakter unterschätzt habe und darin erst im
der ganzen Gesellschaft und ihrer nur vermeintlich Nachhinein eine neue Qualität des Protestes erken-
unpolitischen Organisationen (wie etwa der Ge- nen konnte, die wesentlich zu einer erfolgreichen
werkschaften) werden. Die Hoffnung auf eine Er- Repolitisierung der Öffentlichkeit beigetragen
neuerung der Demokratie durch organisationsin- habe.
terne Öffentlichkeiten ist inzwischen zusammen mit Habermas hat die neuartige, spontane und erst-
ihrer teilweise erfolgreichen und dann frustrieren- mals globale politische Bewegung, die in Berlin, Pa-
den Umsetzung in den 1970er Jahren vergangen, ris, New York und Berkeley, wo er in der Hochphase
aber der entscheidende Gedanke, dass Demokratie, der Revolte unterrichtete, ihre Zentren hatte, in ei-
demokratische Legitimation eine Sache der ganzen ner Serie von Vorträgen und Aufsätzen analysiert, zu
Gesellschaft und nicht nur ihres politischen Teilsys- erklären und in ihren Chancen einzuschätzen ver-
tems und der parlamentarischen Verfassungsorgane sucht. Außerdem war er Ende der 1960er Jahre stän-
ist, ist es nicht, und er hat in der heutigen Weltgesell- dig auf den Treffen und Versammlungen der radika-
schaft mit ihrer überraschend einflussreichen und len Studenten vor allem in Frankfurt anzutreffen
zunehmend unbeherrschbaren Weltöffentlichkeit, und hat häufiger als die meisten seiner Kollegen mit
von der es in den 1950er und frühen 1960er Jahren ihnen diskutiert (Kraushaar 1998). Während ein von
noch kaum eine Vorahnung gab, an Aktualität und der neoliberalen Episteme kontaminiertes Kollektiv-
Brisanz gewonnen. bewusstsein sich heute die Identifizierung der pro-
Öffentlichkeit, deren Entdemokratisierung durch testierenden Studenten mit den Aufständen gegen
Macht und Konsumismus Habermas im Struktur- das Elend der damals so genannten »Dritten Welt«
wandel kritisierte, war das zentrale Stichwort der nur noch kontraintuitiv als pathologische Projektion
späten 1960er Jahre. Seine Verbindung mit der von (›Hitlers Kinder‹) erklären kann, hatte Habermas
den radikalen Sprechern dieser Bewegung propa- seinerzeit die naheliegende und immer noch bessere
I. Intellektuelle Biographie 7

Erklärung parat, es handele sich um neue moralische viel liberaleren italienischen und französischen Blät-
Sensibilitäten, die durch die permissive Erziehung der tern zu publizieren. Besonders enttäuscht und erbost
1950er und vor allem 1960er Jahre und die verlän- hatte ihn die vorauseilende Unterwerfung einer
gerten Schul- und Ausbildungszeiten (verlängerte Ju- Gruppe linker Professoren, denen vom Niedersäch-
gend, Adoleszenskrise) ermöglicht worden seien: sischen Ministerpräsidenten Albrecht (CDU) in der
»Die persönliche Identifizierung mit den Hungern- Hochphase des Terrorismus ein schriftliches Be-
den, den Elenden und Abhängigen der Dritten Welt kenntnis zur damals so genannten ›freiheitlich de-
spricht für die Kraft der moralischen Phantasie, sie mokratischen Grundordnung‹ (FdGO) der Bundes-
ist zudem ein notwendiger Impuls für die Untersu- republik abverlangt worden war. Eine der schmäh-
chung kausaler Zusammenhänge zwischen Repres- lichsten Reaktionen des Staates auf den von seinen
sionen bei uns und Repressionen in unterentwickel- Repräsentanten und dem Springer-Konzern zur
ten Ländern« (Habermas 1969, 183). Habermas ver- Staatskrise aufgeblähten Terrorismus, der zu keinem
wehrt sich deshalb gegen die von ihm selbst anfangs Zeitpunkt eine größere Gefahr für die Verfassung
geteilte, aber allzu forsche Kritik am vermeintlichen der Bundesrepublik darstellte als jedes x-beliebige
Utopismus der Studenten, die darauf abzielten, »die alltägliche Gewaltverbrechen, waren die, ausgerech-
Verwendung technologisch verfügbarer Potentiale net noch von der Regierung Brandt auf den Weg ge-
für die Befriedigung zwanglos artikulierter Bedürf- brachten Berufsverbote für Beamte, die im Verdacht
nisse« nach Maßgabe öffentlicher Verständigung standen, eine linke Gesinnung zu haben. Aber – im-
von der Bindung an ein repressives und partiell über- merhin – die Bonner Republik überlebte den staat-
flüssiges Leistungsprinzip freizusetzen; ein Motiv, in lich verursachten Staatsnotstand und die Demokra-
dem er sich mit Marcuse trifft (Habermas 1969, 183; tie überlebte einige Jahre später sogar die Wieder-
vgl. TW, 100 ff.). Er sieht jedoch keinen Grund, auch vereinigung, und inzwischen ist sie weniger unter
nicht für das Ziel einer grundlegenden Veränderung nationalistisch-faschistischen, sondern immer mehr
des institutionellen Rahmens der spätkapitalisti- unter Globalisierungsdruck geraten.
schen Gesellschaft und einer umfassenden Demo- Ein weiteres Stichwort der 1960er Jahre war Spät-
kratisierung der Gesellschaft, »die Legitimations- kapitalismus. Habermas hat es, ebenso wie das da-
grundlage unserer Verfassung zu verlassen« (ebd.). mals wieder in Mode gekommene der Krise, nicht
In Äquidistanz zum technokratischen Reformismus erfunden, sondern aufgegriffen, uminterpretiert und
der damaligen großen Koalition aus Sozial- und in einer originellen Wendung zur spätkapitalisti-
Christdemokraten einerseits und zur schwärmeri- schen Legitimationskrise zusammengezogen. In die-
schen Revolutionsromantik der radikalen Studen- sem Buch sind viele Motive seines bisherigen Wer-
ten, allen voran Habermas’ Jahrgangsgenosse kes zusammengefasst und für die danach folgende
Enzensberger, andererseits, legte Habermas sich, als Ausarbeitung der Theorie exemplarisch aufbereitet
der Spiegel deutschen Intellektuellen 1968 die Frage worden. Das 1973 dazu unter dem Titel Legitimati-
»Reform oder Revolution?« vorlegte, auf das Pro- onsprobleme im Spätkapitalismus publizierte Buch
gramm eines radikalen Reformismus fest, der eine re- erlebte hohe Auflagen und eine weltweite Rezeption
volutionäre Umwälzung gesellschaftlicher Herr- (s. Kap. III.6). Es war fast zeitgleich mit dem ähnlich
schaftsverhältnisse im Rahmen und mit den Mitteln erfolgreichen Buch Claus Offes über die Struktur-
des demokratischen Verfassungsstaats für möglich probleme des kapitalistischen Staats erschienen. Beide
hielt. In der ersten sozialdemokratischen Regie- Bücher trafen den Nerv der sozialdemokratischen
rungserklärung schien es zunächst so, als wäre mit Reformpolitik jener Zeit, die mit Willy Brandt und
Brandts Parole »Mehr Demokratie wagen!« der radi- großen Hoffnungen endlich an die Macht und gleich
kale Reformismus des Frankfurter Philosophen und wieder ans Ende ihres reformistischen Lateins ge-
Soziologen zur Macht gekommen. Eine Hoffnung, kommen war.
die in den bleiernen 1970er Jahren schnell enttäuscht Alle politischen Reformen schienen an der Flexi-
wurde, in denen auch Habermas, der damals von bilität und Elastizität des spätkapitalistischen Sys-
den neokonservativen Gegenintellektuellen als geis- tems abzugleiten. Die Politik war selbst zum Zen-
tiger Ziehvater der Terroristen denunziert wurde, trum der Krise eines Kapitalismus geworden, der
eine »andere«, nicht mehr freie und demokratische zwar die Ökonomie politisch im Griff zu haben
»Republik« heraufziehen sah. Er weigerte sich, noch schien, genügend materiellen Wohlstand für alle
weiter in der FAZ zu schreiben und erwog, seine po- produzierte, eine – ihm in harten Klassenkämpfen
litischen Essays in den vergleichbaren, aber (damals) abgetrotzte und auf die Sieger der Geschichte in der
8 I. Intellektuelle Biographie

nordwestlichen Hemisphäre beschränkte – halbwegs Habermas schließt zu diesem Zeitpunkt keineswegs


gerechte Verteilung des Reichtums zuließ, aber als aus, dass sich im Fall einer Eskalation von Legitima-
Nebeneffekt andere Krisen, solche der Politik, der tionskrisen die Gesellschaft entdemokratisiert, um
Motivation, der Rationalität produzierte, die das Le- sich den in der rechtsstaatlichen Verfassung norma-
gitimationsgefüge der Gesellschaft erschütterten. tiv verankerten Rechtfertigungsnotwendigkeiten zu
Der Begriff der Legitimationskrise ist ein gutes Bei- entziehen. Legitimationskrisen sind bedrohliche
spiel für die politische Relevanz einer Theorie, die Störungen der Sozialintegration, die an die Repro-
neue Phänomene wissenschaftlich beschreibt und zu duktion zuverlässiger Intersubjektivitätsstrukturen,
erklären versucht, warum und woran die Sozialde- an gerechtfertigte und insofern glaubwürdige Nor-
mokraten nicht nur in Westdeutschland, sondern men gebunden ist. Solche Störungen können zu Mo-
überall im Nordwesten des Globus gescheitert wa- tivationskrisen führen, wenn die alten Traditionsbe-
ren. stände ihre sozialintegrative Kraft einbüßen und da-
›Krisen‹ definiert Habermas in dieser Studie, die durch beispielsweise, wie in den 1960er Jahren, die
sich erstmals in größerem Umfang systemtheoreti- Leistungsideologie unglaubwürdig wird. Entschie-
scher Termini bedient, als die Unlösbarkeit von Steu- den verwirft Habermas alle technokratischen und
erungsproblemen, als die Unvereinbarkeit »struktu- neokonservativen Kompensationsstrategien, Legiti-
rell ungelöster Systemimperative« (LS, 11). Die Kri- mation, Glaubwürdigkeit und Sinn technisch herzu-
sensymptome sind zwar ökonomisch mitbedingt, stellen: »Es gibt keine administrative Erzeugung von
aber sie manifestieren sich in erster Linie im politi- Sinn« (LS, 99). Er konstatiert also eine Widerstän-
schen und im soziokulturellen Bereich. Aus diesem digkeit, die aus der Normativität einer Gesellschaft
Grund führt er den Begriff der Legitimations- und resultiert, deren Sozialintegration aus der Ressource
der Motivationskrise als komplementäre Kategorien Sinn schöpft. »Erst wenn die Handlungsmotive nicht
ein, um sie von der dem Bereich materieller Repro- mehr über rechtfertigungsbedürftige Normen laufen
duktion zugehörigen Wirtschaftskrise abzuheben. würden und die Persönlichkeitsstrukturen nicht
Ökonomisch bedingte Krisentendenzen zwingen mehr unter identitätsverbürgende Deutungssysteme
den Staat, zugunsten der konjunkturellen Entwick- ihre Einheit finden müßten, könnte […] Konformi-
lung wirtschaftspolitisch zu handeln. Ein Scheitern tätsbereitschaft in beliebigem Umfang hergestellt
staatlicher Strategien kann zu einer Rationalitäts- werden« (LS, 64 f.).
krise führen. Entgegen der traditionell marxisti- Diese technokratische Annahme hält aber Haber-
schen Krisendiagnose versucht Habermas, im An- mas für höchst unwahrscheinlich. Umgekehrt sieht
schluss an seine ältere kritische Auseinandersetzung er im normativen Potential der Demokratie eine re-
mit der Werttheorie von Marx in dem Band Theorie ale gesellschaftliche Größe, die staatliche und öko-
und Praxis von 1963, nun zu zeigen, dass in den auf nomische Akteure bei ihrer Interessenverfolgung in
den Liberalkapitalismus folgenden spätkapitalisti- Rechnung stellen müssen. Für ihn bleibt die fort-
schen Gesellschaften, in denen der Sozialstaat in den schreitende Demokratisierung das einzige Mittel,
Wirtschaftskreislauf interveniert, sich der Klassen- den systemischen Gefährdungen der Demokratie zu
gegensatz in einen Klassenkompromiss transfor- begegnen. Die berühmte Formulierung John De-
miert hat und das Sozialprodukt nach politischen weys, die einzige Therapie gegen die Leiden der De-
Kriterien verteilt wird. Zwar können die ökonomisch mokratie sei more democracy, bringt die politische
bedingten Krisen im mittlerweile in den Stürmen Pointe des Habermas’schen Legitimationskrisenthe-
der Globalisierung untergegangenen state-embedded orems treffend zum Ausdruck. Nur eine egalitäre
Spätkapitalismus normalerweise abgefangen wer- Demokratie, die sich aus der kommunikativen Macht
den. Aber nur in der Weise, dass die einer, wie Habermas in seiner späten Rechtsphiloso-
phie Faktizität und Geltung (1992) zwanzig Jahre
»kontradiktorischen Steuerungsimperative, die sich im
Zwang zur Kapitalverwertung durchsetzen, eine Reihe an- nach Erscheinen der Legitimationsprobleme schreibt,
derer Krisentendenzen erzeugen. Die fortbestehende Ten- unbezähmbaren und anarchischen Öffentlichkeit
denz zur Störung des kapitalistischen Wachstums kann ad- speist, könnte die Krisendynamik der Medien Macht
ministrativ bearbeitet und stufenweise über das politische und Geld unter Kontrolle bringen, ohne ihre Pro-
ins soziokulturelle System verschoben werden. Ich meine,
duktivität zu vernichten.
dass dadurch der Widerspruch einer vergesellschafteten
Produktion für partikulare Ziele wieder unmittelbar eine In der Theorie des kommunikativen Handelns hat
politische Form annimmt – freilich nicht die des politi- Habermas das Programm der Legitimationsprobleme
schen Klassenkampfes« (LS, 60). ausgearbeitet, teilweise revidiert und präzisiert. An
I. Intellektuelle Biographie 9

der zentralen Grundannahme, dass die Polarität zwi- durch demokratische Selbstbestimmung »die syste-
schen Kapitalismus und Demokratie unversöhnbar mischen Imperative eines interventionistischen
sei, ändert sich nichts. Er ist davon überzeugt, dass Staatsapparates ebenso wie die des Wirtschaftssystems
nur eine starke und in sozialen Kämpfen von unten in Schach zu halten« seien und setzt hinzu: »Das ist
immer wieder erneuerte und erweiterte Demokratie eine defensiv formulierte Aufgabe, aber diese defen-
der kapitalistischen Expansion Grenzen ziehen kann: sive Umsteuerung wird ohne eine radikale und in
die Breite wirkende Demokratisierung nicht gelin-
»Zwischen Kapitalismus und Demokratie besteht ein un-
auflösliches Spannungsverhältnis; mit beiden konkurrieren
gen können« (Habermas in: Honneth/Joas 1986,
nämlich zwei entgegengesetzte Prinzipien der gesellschaft- 396). So bleibt es beim normativen Vorrang des
lichen Integration um den Vorrang. Wenn man dem in de- Reichs der Freiheit über das der gleichwohl als Herr-
mokratischen Verfassungsgrundsätzen ausgedrückten schaft von Macht und Geld in komplexen Gesell-
Selbstverständnis traut, behaupten moderne Gesellschaf- schaften unaufhebbaren Notwendigkeit.
ten den Primat der Lebenswelt gegenüber den aus ihren in-
Das Postulat der Demokratisierung erhält für Ha-
stitutionellen Ordnungen ausgegliederten Subsystemen«
(TKH II, 507). bermas angesichts der epochalen Dynamik einer
Globalisierung und Deregulierung des Kapitalismus
Umgekehrt wird die ebenso gefährliche wie produk- nur umso mehr Gewicht. Parallel mit der Expansion
tive Spannung zwischen Kapitalismus und Demo- der kapitalistischen Ökonomie als weltweit verbrei-
kratie sich in dem Maße zu einem tödlichen Antago- teter Wirtschaftsweise und »nach dem Ende der bi-
nismus zuspitzen, in dem die Steuerungsmedien polaren Machtkonstellation« droht Demokratie er-
Geld und Macht die lebensweltlichen Verständi- neut in die Defensive zu geraten, bedingt durch die
gungspraktiken überformen und kolonialisieren. politischen Konsequenzen dessen, was Habermas
Die »in der Moderne eingespielte Balance zwischen die »postnationale Konstellation« nennt (NR, 324).
den drei großen Medien der gesellschaftlichen Inte- Zu dieser Konstellation gehört auch, dass die staats-
gration [gerät] in Gefahr […], weil Märkte und ad- interventionistisch kontrollierten Krisen des kapita-
ministrative Macht die gesellschaftliche Solidarität, listischen Systems nach Abzug dieser Kontrolle
also Handlungskoordinierung über Werte, Normen ebenso wiederkehren wie die sozialen Konfliktlagen
und verständigungsorientierten Sprachgebrauch aus nach der neoliberalen Umkehr der sozialdemokrati-
immer mehr Lebensbereichen verdrängen« (NR, schen Umverteilung des Reichtums von oben nach
116). Gegen diesen Kolonialisierungsprozess muss unten. Deshalb gerät heute »die Konzeption einer
politischer Widerstand mobilisiert werden, was in- weltweiten Privatrechtsgesellschaft«, die »die legiti-
des nur innerhalb einer diskursiven Öffentlichkeit matorischen Anforderungen deflationiert«, wieder
geschehen kann. direkt in den Fokus der Kritik (NR, 358).
Nur durch die öffentliche Mobilisierung kommu- In seinen Arbeiten der letzten beiden Jahrzehnte
nikativer Macht, die bei Habermas wie bei Arendt – zur Globalisierung von Kapitalismus, Recht und Po-
das wird oft missverstanden – keine bloße Seminar- litik entwirft Habermas die Idee einer »Weltinnen-
diskussion, sondern öffentliche Kampagne und Mo- politik ohne Weltregierung« bzw. einer »Weltgesell-
bilisierung und deren materielle Deckungsreserve schaft ohne Weltregierung« (NR, 329). Die Aufgaben
die rächende Gewalt ist, kann die Herrschaft der öko- einer supranationalen Weltorganisation bestünden
nomischen Imperative und die Verselbständigung in erster Linie in einer global orientierten Politik, die
der Staatsapparate gegenüber der Bürgergesellschaft sich auf die Felder der Friedenssicherung, der Men-
verhindert werden. Konsensuelle Entscheidungen, schenrechte und der Umwelt konzentriert. Der pri-
die in anspruchsvollen Verfahren der Meinungs- märe Funktionsbereich der Weltinnenpolitik besteht
und Willensbildung zustandegekommen und mit Habermas zufolge darin, »einerseits das extreme
der Mobilisierung kommunikativer Macht verknüpft Wohlstandsgefälle der stratifizierten Weltgesell-
sind, haben die Funktion einer Richtgröße für das schaft zu überwinden, ökologische Ungleichge-
ökonomische ebenso wir für das politische Funkti- wichte umzusteuern und kollektive Gefährdungen
onssystem. Zwar verabschiedet Habermas sich von abzuwehren, andererseits eine interkulturelle Ver-
der alten linken Utopie, die Ökonomie könne von ständigung mit dem Ziel einer effektiven Gleichbe-
innen her demokratisiert, also durch Partizipation rechtigung im Dialog der Weltzivilisation herbeizu-
und Selbstbestimmung gesteuert werden. Wie beim führen« (NR, 334). Darüber hinaus müsste sich die
späten Marx bleibt sie auch bei Habermas ein Reich UNO als wichtigste Institution jener Weltinnenpoli-
der Notwendigkeit. Aber er insistiert darauf, dass tik an demokratischen Legitimationskriterien mes-
10 I. Intellektuelle Biographie

sen lassen. »Denn weder der Deliberation noch der der 1970er Jahre abzugrenzen. Davon unbeeinflusst
Öffentlichkeit sind von Haus aus nationale Grenzen ist das Wort ›Diskurs‹ oder die Rede von ›herr-
eingeschrieben« (Habermas 2007, 436). Die Idee ei- schaftsfreier Kommunikation‹ in den frühen 1970er
ner deliberativen Demokratie, die Habermas in Fak- Jahren von Erziehungswissenschaftlern, die ein Dis-
tizität und Geltung entwickelt (s. Kap. III.13; III.15), kursbuch nach dem anderen schrieben, von den Pä-
nimmt heute in der Globalisierungsdiskussion einen dagogen, die jedes Problem diskursiv lösen oder von
prominenten Platz ein und wird bisweilen als elitäre therapeutischen Gruppen, die herrschaftsfreie Kom-
Kompensation von massiven Demokratiedefiziten munikation ins Betriebsklima von Großbetrieben
durch die Einrichtung entscheidungsbegleitender integrieren wollten, aufgegriffen, breitenwirksam re-
und entscheidungsvorbereitender Diskussionsforen zipiert, aber meist konkretistisch missverstanden
missverstanden. Habermas hingegen hat immer dar- worden. So identifiziert Habermas in der Kommuni-
auf bestanden, dass die deliberativen Problemlö- kationstheorie verschiedene ideale Präsuppositionen
sungsverfahren einer inklusiven Öffentlichkeit erst (der Wahrheit, der Wahrhaftigkeit, der normativen
durch ihre strukturelle Kopplung an egalitäre Ent- Richtigkeit und logischen Stimmigkeit), die wir bei
scheidungsverfahren, die keineswegs notwendig par- jedem Sprechakt implizit beachten und kontrafak-
lamentarischer Natur sein müssen, zur deliberativen tisch unterstellen müssen, ob wir – und das ist die
Demokratie werden. Pointe – wollen oder nicht (s. Kap. II.5; III.5; III.15;
Bereits seit den 1970er Jahren wurden Begriffe, III.17; IV.15). Das wurde in der einschlägigen Litera-
die damals bei ihrem Autor einen zunächst noch tur, die sich auf Habermas und den Diskursbegriff
sehr abstrakten, theoretischen Sinn hatten, wie Kom- berief, dann als Programm verstanden, das es im
munikation oder Diskurs, breit rezipiert und drangen Unterricht oder bei der Therapie oder zwischen den
zur Zeit der großen Bildungsreformen vor allem ins betrieblichen Tarifparteien umzusetzen galt; als wäre
Erziehungssystem ein. Das war zuvor schon mit dem es eine positiv gesetzte Rechtsnorm oder eine an-
von Habermas und dem acht Jahre älteren Freund wendungsorientierte physikalische Theorie.
und ehemaligen Studienkollegen Karl-Otto Apel ge- Eine reflexive Theorie wie die Diskurstheorie je-
meinsam geprägten Begriff des emanzipatorischen doch, die sich (wie die Marx’sche oder die Luhmann-
Erkenntnisinteresses passiert, der die Wissenschafts- sche Theorie) selbst in ihren Gegenstandsbereich
und Hochschulkritik der 1968er stark beeinflusst einbezieht, richtet ihr Hauptaugenmerk auf die Be-
hat. Habermas fühlte sich hier zwar meistens miss- dingungen möglicher Emanzipationsprozesse und
verstanden, aber auch solche theoretischen Begriffe nicht auf ihre Initiierung und Umsetzung, und das
wie ›Diskurs‹ und ›Kommunikation‹ oder auch ›Er- hat sachliche Gründe, die mit der Logik gesellschaft-
kenntnisinteresse‹ waren nicht ohne zeitdiagnosti- licher Praxis und emanzipatorischen Lernens zu tun
sche Bedeutung oder Nebenbedeutung, und der Dis- haben. Eine reflexive Theorie lässt sich nicht einfach
kursbegriff kommunizierte (trotz des sehr verschie- objektivierend anwenden, als wäre sie eine Tugend-
denen theoretischen Kontextes) untergründig sogar lehre, ein Satz guter Ratschläge, wohlbegründeter
mit dem, im französischen Poststrukturalismus pro- Imperative und Maximen oder zweckrationaler Stra-
minent gewordenen und in Paris sofort politisierten, tegien. Es geht bei der Analyse der eigentümlichen
stark voluntaristischen Begriff des ›Diskurses‹, wie Wirkung von Sprechaktpräsupposition, die Argu-
er etwa im Werk Michel Foucaults verwendet wird. mentationen ermöglichen, nämlich weder um Ziele,
Auch wenn Habermas den poststrukturalistischen die sich durch rationales Handeln planmäßig umset-
Voluntarismus immer zurückgewiesen hat, der Dis- zen lassen noch gar um kommunikative Mittel und
kursbegriff dient ihm wie Foucault auch dazu, die Techniken der Emanzipation von Herrschaft, son-
komplexe und differenzierte, moderne Wissensge- dern um Bedingungen der Möglichkeit von Kommu-
sellschaft aus einer macht- und herrschaftskritischen nikation, die sich weder ändern noch in zweckratio-
Perspektive zu beobachten (s. Kap. II.20). nale Programme gießen und auf diese Weise der in-
Eine unmittelbar politische, aber eher reformisti- strumentellen Vernunft der Pädagogen, Therapeuten
sche Bedeutungskomponente hatte der Diskursbe- und Betriebswirte gefügig machen ließen.
griff bei Habermas ohnehin. In der neuen Einleitung Am Beginn der 1980er Jahre und im letzten Teil
zur Aufsatzsammlung Theorie und Praxis spricht er von Habermas’ Hauptwerk, der zweibändigen Theo-
von der Institutionalisierung praktischer Diskurse, rie des kommunikativen Handelns steht dann die zeit-
auch um sich vom neoleninistischen Voluntarismus diagnostische Formel von der Kolonialisierung der
der maoistischen Nichtregierungsorganisationen Lebenswelt (s. Kap. IV.12). Die Kolonialisierungsdia-
I. Intellektuelle Biographie 11

gnose hatte einen politischen Sinn und stellt so et- der Lebenswelt. Es zeigt auch, dass sich die Haber-
was wie ein funktionales Äquivalent für die ältere mas’sche Kolonialisierungsthese recht gut mit dem
marxistische Terminologie dar, die auch schon theo- zeitdiagnostischen Potential des Foucault’schen
retische Erklärungen mit praxisnahen Interpretatio- Poststrukturalismus verträgt, dabei aber nicht genea-
nen und Weltdeutungen verknüpft hatte. Sie soll Be- logisch verfährt, sondern an die marxistische und
griffe wie ›Ausbeutung‹, deren präziser Gehalt sich neomarxistische Verdinglichungskritik (Lukács,
im Wohlfahrtsstaat verflüchtigt hat, oder Begriffe Adorno) anschließt. Man muss nur einmal einen der
wie ›Entfremdung‹, deren politische Unterschei- neuen Modul- und Lernzielpläne lesen, um schlag-
dungskraft sich in evangelischen Akademien ver- artig zu erkennen, dass die monetäre Kolonialisie-
braucht hat, substituieren, aktualisieren und den Ge- rung die Universität nicht nur der Warenform
halt beider Begrifflichkeiten in einem Ausdruck zu- (Adorno) unterwirft, sondern auch ein neues akade-
sammenziehen. Deshalb wählt Habermas hier auch misches Disziplinarindividuum (Foucault) erzeugt.
die drastische Metapher von »Kolonialherren«, die Aus der Kritik der politischen Ökonomie (Marx) und
»von außen« »in eine Stammesgesellschaft« eindrin- der Kritik der instrumentellen Vernunft (Horkhei-
gen und »die Assimilation« »erzwingen« (TKH II, mer) wird die Kritik der funktionalistischen Ver-
522). Aber die neuen Kolonialherren sind vollstän- nunft – so der Untertitel des zweiten Bandes der
dig depersonalisiert und ihre Befehle sind »die Im- Theorie des kommunikativen Handelns.
perative der verselbständigten Subsysteme« (ebd.) Die Pointe der Kolonialisierungsdiagnose würde
der technisch wissenschaftlichen Zivilisation, des man verfehlen, verstünde man sie nur strategisch
Rechts und der Verrechtlichung, des Geldes und des wie etwa die Diagnose eines Motorschadens oder ei-
Kapitals, der administrativen und der sozialen nes Schienbeinbruches. Diagnosen gesellschaftlicher
Macht, die nicht mehr in ferne und transkontinen- Pathologien verbinden strategische Optionen näm-
tale Stammesgesellschaften, sondern in die ubiqui- lich mit der Einsicht in das Zerreißen eines kommu-
täre kommunikative Infrastruktur der uns alltäglich nikativen Zusammenhangs, den nicht Experten,
nahen und vertrauten Lebenswelt eindringen. Diese sondern letztlich die Betroffenen selbst stiften und
soziale Lebenswelt ist ihrerseits auch keine archai- als solchen erkennen müssen, um die strategischen
sche oder vormoderne Gemeinschaft wie die Stam- Optionen, den Riss zu reparieren, überhaupt wirk-
mesgesellschaften Afrikas, Amerikas oder Australi- sam werden zu lassen. Hier gilt von der gestörten
ens vor zwei-, drei- oder vierhundert Jahren, son- Kommunikation, was der junge Hegel vom Selbstbe-
dern selbst eine hoch rationalisierte, in sich wusstsein schrieb: »Ein geflickter Strumpf ist besser
differenzierte moderne Lebenswelt. Diese ist jedoch als ein zerrissener; nicht so das Selbstbewußtsein«
auf Formen wahrheitsfunktionaler gesellschaftlicher (Hegel 1970, 558). So wie der Riss im Selbstbewusst-
Kommunikation und Konsensbildung angewiesen, sein des Subjekts ist auch die Störung der gesell-
die sich durch Zahlungen, Gerichtsentscheide oder schaftlichen Kommunikation nicht einfach ein Feh-
Verwaltungsmaßnahmen nicht ersetzen lassen, ohne ler, sondern erschließt eine bis dahin verborgene
lebensbedrohliche Krisen und Pathologien auszulö- Wahrheit der Gesellschaft und vermag zum Wider-
sen. Die Systemimperative enteignen – Marx sagte spruch zu werden, der sie über ihre Grenzen hinaus-
expropriieren – die Lebenswelt von ihrer eigenen treibt, während der »an seiner Gesundheit erkrankte
kommunikativen Substanz, beuten sie aus und geben gesunde Menschenverstand« (Adorno 1973) es sich
sie in dinglicher und verdinglichter Münze zurück, in unentzweit heimischer Harmonie wohl sein lässt,
indem sie alle Formen kommunikativer Verständi- bis das Kind zur Waffe greift. Es verhält sich hier
gung und kommunikativer Konflikte an die Pro- grundlegend anders bei der Diagnose des Auto- oder
blemlösungsverfahren des Rechts, der Macht und Knochenmechanikers, aber ähnlich wie bei der
des Marktes assimilieren. Die gegenwärtig in ganz Krankheitsdiagnose eines Psychoanalytikers, die
Europa mit Macht und Recht und gegen den längst Habermas schon in Erkenntnis und Interesse (1968)
gebrochenen Willen der Hochschulangehörigen zum Paradigma kommunikativer Verständigung ge-
durchgesetzte, betriebswirtschaftliche Reform der macht hatte. Die Diagnose einer Sozialpathologie
Universitäten, durch die wissenschaftliche Kommu- hat zwar die strategische Stoßrichtung einer Einzäu-
nikation, Forschung und Lehre von ihren kommuni- nung, Kontrolle, Steuerung und Zähmung von poli-
kativen Lebensquellen abgeschnitten und der Logik tischer Macht, ökonomischem Kapital und positi-
von Geld- und Warenströmen assimiliert wird, ist vem Recht. Aber solche Zäune müssen die Bürger im
ein gutes aktuelles Beispiel für die Kolonialisierung kommunikativen Handeln selbst errichten. Nur ein-
12 I. Intellektuelle Biographie

verständnisorientiertes Handeln kann zum Beispiel eine von Schröders Regierungsprogramm weit ent-
das für die moderne Republik konstitutive Instru- fernte Modernisierung nach Kriterien sozialer Ge-
ment (oder Medium) des positiven Rechts demokra- rechtigkeit stark, für eine weltwirtschaftliche Ord-
tisch legitimieren. Im Prozess demokratischer Legiti- nung, die sich nicht in der Herstellung eines globa-
mation verbindet sich die öffentliche Willensbil- len Marktes erschöpft: eine europäische Demokratie,
dung, die zu einer änderbaren und manipulierbaren die zum Vorreiter einer die nationalen Grenzen
Entscheidung (positives Recht) führt, mit den nicht überschreitenden Zivilgesellschaft werden müsse.
manipulierbaren Wahrheitsansprüchen praktischer Die neue rot-grüne Koalitionsregierung begrüßt er
Diskurse (s. Kap. III.13). nach vielem Wenn und Aber, hier eine Absage, dort
Demokratische Legitimation funktioniert näm- eine ironische Spitze, manchmal weiß man nicht
lich nur in dem Maße, in dem sie sich, wie Habermas recht, redet er eigentlich für oder gegen die Opposi-
in seiner Rechtsphilosophie zu zeigen versucht hat, tion, die zur Macht drängt, jedenfalls bleibt sein Pro
der strategischen Absicht selbstinteressierter Ak- ambivalent, nur das Nein zu Kohl und seiner fast
teure entzieht und in der Änderung des positiven zwanzigjährigen Herrschaft ist ohne Wenn und
Rechts den »zwanglosen Zwang des besseren Argu- Aber, so dass er den Regierungswechsel am Ende
ments« wirksam werden lässt (Habermas in: Haber- doch noch affirmativ als »Zeichen einer selbstbe-
mas/Luhmann 1971, 137). Demokratisch gesetztes wußten Demokratie« herbeisehnen kann (ZÜ, 13).
Recht, so die These von Faktizität und Geltung, ver- Im selben Jahr schaltet Habermas sich erstmals in
mittelt die positive Faktizität des Rechts mit seiner die anschwellende Debatte über Bioethik ein. In zwei
diskursiv erzeugten Geltung. Eine allein auf den Aus- Zeitungsbeiträgen kritisiert er die genetischen Ma-
gleich und die friedliche Koordination strategisch- nipulationen als Versuche der »Anmaßung und
instrumenteller Interessen gerichtete Demokratie Knechtung«. Klone erscheinen ihm als Sklaven ihrer
(des Schumpeter’schen/Weber’schen/Popper’schen/ Züchter (Süddeutsche Zeitung vom 17.1.1998; Die
Luhmann’schen Typus) oder, wie Habermas erst Zeit vom 19.2.1998). Letztlich geht es ihm in der
jüngst in Zwischen Naturalismus und Religion (2005) ganzen Debatte primär um den Schutz der Autono-
schrieb, »eine ›post-truth-democracy‹ […] wäre mie des Subjekts, zu der eben auch gehört, sich zu
keine Demokratie mehr« (NR, 150). seiner natürlichen Gegebenheit frei verhalten zu
In einer Zeit, in der die Folgen der fortschreiten- können. Und das könne der versklavte Klon nicht
den Globalisierung immer deutlichere Konturen an- mehr. Vor dem Hintergrund seiner unverhohlen ar-
nehmen und sich in Deutschland mit dem Ende der tikulierten Abscheu »vor gentechnisch hergestellten
langen Ära Kohl erstmals eine politische Wende in Schimären« bringt Habermas erneut den in den
Richtung einer rot-grünen Regierungskoalition ab- 1970er Jahren ausdrücklich preisgegebenen Begriff
zeichnete, wendet sich Habermas wieder häufiger der »Gattungsgeschichte« ins Spiel. Dieser Begriff
der Zeitdiagnose zu – mit der erklärten Absicht, der taugt zwar nach wie vor nicht mehr als Träger einer
»aufgeklärten Ratlosigkeit« entgegenzuwirken. The- kritischen Gesellschaftstheorie, aber als Grenzbe-
sen über die totalitären Züge des Zeitalters trägt er griff, wenn, wie bei genetischen Manipulationen, das
im Frühjahr 1998 als Gast der amerikanischen Uni- »ethische Selbstverständnis sprach- und handlungs-
versität in Kairo vor unter dem Titel »Aus Katastro- fähiger Subjekte im Ganzen auf dem Spiel steht« (LE,
phen lernen? Ein zeitdiagnostischer Rückblick auf 27). Zur Buchmesse im Herbst 2001 erscheint dann
das kurze 20. Jahrhundert«. Wenige Monate später eine Abhandlung mit dem Titel Die Zukunft der
präsentiert er seine Gegenwartsanalyse auf dem Kul- menschlichen Natur. Auf dem Weg zu einer liberalen
turforum der Sozialdemokraten, wo er auf der Gale- Eugenik? Die Kritik an der Verdinglichung der
rie des Willy-Brandt-Hauses mit dem damaligen menschlichen Natur durch biotechnische Eingriffe
SPD-Kanzlerkandidaten Gerhard Schröder disku- wird viel beachtet, zumal Habermas seine ethisch
tiert. Habermas warnt vor der Gefahr einer Zerstö- sparsame, deontologische Moralphilosophie richti-
rung der liberalen politischen Kultur als Folge jener gen Handelns mit Kierkegaard in ein neues Verhält-
aktuellen Krisentendenzen wie Armut, soziale Unsi- nis zum (negativen) Guten stellt und auf liegenge-
cherheit, Desintegration und Exklusion. Im Zuge der bliebene und in der linguistischen Wende der 1970er
Entwicklung eines transnationalen weltwirtschaftli- Jahre überwunden geglaubte Motive und Überle-
chen Systems würden genau diejenigen Bedingun- gungen der Anthropologie zurückgreift.
gen gefährdet, die den sozialstaatlichen Kompromiss Das erneute politisch-publizistische Engagement
vorübergehend ermöglicht hätten. Er macht sich für während dieser Zeit wird durch den Kosovo-Krieg
I. Intellektuelle Biographie 13

ausgelöst. Unter der rot-grünen Regierung kommt durchaus informierten, mit westlicher Philosophie
es zum ersten Kampfeinsatz der Bundeswehr in der insgesamt vertrauten Publikum zu diskutieren. Ha-
Geschichte der Bundesrepublik. Gleich nach Kriegs- bermas’ These, dass die Menschenrechte, für deren
beginn verteidigt Habermas – trotz der zahlreich Unteilbarkeit er plädiert, absoluten Vorrang genie-
bleibenden Zweifel – in einem Leitartikel für Die Zeit ßen, auch vor der Souveränität der Einzelstaaten, ist
die Interventionspolitik der Bundesregierung. Zwar besonders in China politisch kontrovers. Zugleich
gilt ihm die militärische Gewaltanwendung (ohne hält er dem Westen entgegen, dass er die Menschen-
UNO-Mandat) als fragwürdiges Mittel. Aber er hat rechte nicht als politisches Machtmittel missbrau-
den legitimierenden Zweck der Durchsetzung der chen dürfe.
Menschenrechte und damit langfristig der »Trans- Nach seiner Rückkehr aus China wird in den Me-
formation des Völkerrechts in ein Recht der Welt- dien die Nachricht verbreitet, dass der Philosoph
bürger« im Auge (ZÜ, 27 ff.). Dass Habermas davon und Soziologe eine der bedeutendsten Auszeichnung
überzeugt war, den Militäreinsatz und den Rechts- in Deutschland erhält: den Friedenspreis des Deut-
bruch nicht zuletzt durch die Schaffung neuen schen Buchhandels. Laut Begründung des Börsen-
Rechts zu rechtfertigen, hat viel Kritik auch von poli- vereins wird er damit als der Zeitgenosse gewürdigt,
tisch ihm Nahestehenden ausgelöst. Das Vorgriffsar- »der den Weg der Bundesrepublik Deutschland
gument, das die Nato zum Stellvertreter einer künf- ebenso kritisch wie engagiert begleitete […], der von
tigen Weltpolizei erklärte, war in der Tat problema- einer weltweiten Leserschaft als der prägende deut-
tisch und mit Sicherheit nicht durch das bestehende sche Philosoph der Epoche wahrgenommen wird«
Völkerrecht gedeckt (weshalb beispielsweise der Völ- (GW, 5). Unter den etwa 1000 Gästen bei der Preis-
kerrechtler Tomuschat sich ausdrücklich gegen das verleihung in der Paulskirche am 14. Oktober 2001
Völkerrecht für die Aktion der Nato engagiert hatte). fällt die große Beteiligung politischer Repräsentan-
Die geschlossene und von der Weltgemeinschaft ten auf, des Bundespräsidenten, des Bundeskanzlers,
weitgehend akzeptierte Nato-Aktion hätte aber als des Außenministers, des Wirtschaftsministers, der
Beginn eines Wandels der Staatenpraxis zur Initia- Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, des Kul-
tive für ein neues, über die UN-Charta hinausgehen- turstaatsministers. Habermas nimmt in seiner Dan-
des, menschenrechtlich zentriertes Völkerrecht wer- kesrede, die in den nächsten Tagen in allen wichti-
den können. Daraus ist nichts geworden. Im zweiten gen Tageszeitungen erscheint, die Anschläge vom
Irakkrieg 2002 ließ sich die breite internationale Ko- 11. September 2001 in New York zum Anlass, über
alition und der breite Staatenkonsens, die dafür er- Bedingungen der Modernität sowie einer gelingen-
forderlich gewesen wären, nicht mehr finden, und den Säkularisierung nachzudenken. In seiner Dan-
außerdem kamen im Nachhinein Manipulationen kesrede, die den programmatischen Titel »Glauben
des amerikanischen Außenministeriums vor dem und Wissen« trägt, gibt er gleich zu Beginn das
Kosovokrieg zutage, die auch Habermas (neben der Grundmotiv seiner Ausführungen zu erkennen. Am
Unverhältnismäßigkeit der ›Kollateralschäden‹) zu 11. September sei die »Spannung zwischen säkularer
einer nachträglichen Revision motiviert haben. Gesellschaft und Religion in einmaliger Weise ex-
Im Frühjahr 2001 bereist Habermas erstmals für plodiert« (GW, 37). Habermas plädiert für Augen-
zwei Wochen China, das ihn sehr fasziniert. In Pe- maß und dafür, dass sich der Westen Rechenschaft
king, in der Qinghua-Universität sowie in Shanghai über den eigenen Säkularisierungsprozess geben
in der Fudan-Universität hält er vor großen, Tau- möge. Er macht, ähnlich wie wenige Tage zuvor Der-
sende umfassenden Zuhörerschaften Vorträge. »Ich rida bei Entgegennahme des Adorno-Preises am sel-
habe mit Gesprächen unter Akademikern gerechnet. ben Ort, darauf aufmerksam, dass hinter der verbre-
Nun spreche ich plötzlich vor riesigen Sälen. Es ist cherischen Wahnsinnstat auch Motive einer mögli-
alles viel politischer, als ich dachte« (Die Weltwoche cherweise berechtigten Kritik an der einseitig
vom 26.4.2001). In den zwei Wochen referiert Ha- instrumentellen Rationalisierung westlichen Zu-
bermas sowohl über die Globalisierung und die schnitts sichtbar werden könnten.
postnationale Konstellation als auch über Men- Seit den 1990er Jahren richten sich die Interessen
schenrechte. Außerdem steht er in sechs Treffen in und politischen Stellungsnahmen von Habermas zu-
Akademien, der Partei-Hochschule und informellen nehmend auf die internationale Politik und das in-
Diskussionszirkeln Rede und Antwort. Eine ganze ternationale Recht. Eines seiner Bücher trägt den Ti-
Reihe seiner Bücher liegen in chinesischer Überset- tel der Der gespaltene Westen, und dieses Stichwort
zung vor, so dass er die Gelegenheit nutzt, mit einem spiegelt bereits die Frontstellungen und Parteibil-
14 I. Intellektuelle Biographie

dungen der entstehenden Weltöffentlichkeit, die bodenlos und ohne Folgen. Solche Praktiken brauchen al-
quer durch alle Länder und nationalen Öffentlich- lerdings Regeln und Kommunikationsformen, die die
Staatsbürger moralisch nicht überfordern, sondern die Tu-
keiten hindurchgeht und sie politisch polarisiert.
gend der Gemeinwohlorientierung nur in kleiner Münze
Die kontinuierliche Präsenz von Habermas als erheben. Wenn ich mir einen Rest Utopie bewahrt habe,
wissenschaftlicher Autor und Essayist ist gewiss eine dann ist es allein die Vorstellung, daß Demokratie – und
ungewöhnliche Leistung schriftstellerischer Selbst- der offene Streit um ihre besten Formen – den Gordischen
disziplin, aber auch Zeichen seines publizistischen Knoten der schier unlösbaren Probleme zerhauen kann«
und politischen Sinns. Habermas ist nicht nur der (Habermas 1990, 128).
Theoretiker diskursiver Vernunft, sondern auch ein
durchaus nicht erfolgloser Praktiker des Diskurses. Literatur
Er argumentiert nicht nur, er polemisiert auch und
Adorno, Theodor W.: Ästhetische Theorie. Frankfurt 1973.
hat als glänzender Polemiker die politische Streitkul-
Habermas, Jürgen: »Einleitung einer Podiumsdiskussion«
tur der Bundesrepublik zu ihrem Nutzen immer wie- (8.2.1968, Frankfurt). In: Ders.: Protestbewegung und
der angeheizt und aus ihrer selbstgerechten Schläf- Hochschulreform. Frankfurt a. M. 1969, 183.
rigkeit geweckt. Er stellt nicht nur starke Argumente –: »Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und
auf, riskiert nicht nur gewagte Hypothesen, sondern Interesse«. In: Stefan Müller-Doohm (Hg.): Das Interesse
der Vernunft. Frankfurt a. M. 2000, 16.
macht auch Hegemoniepolitik und hat einen sehr
–: »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie der
realistischen Sinn für Machtverhältnisse. Aber kommunikativen Kompetenz«. In Ders./Niklas Luh-
Machtkämpfe, auch solche um kommunikative mann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie.
Macht, müssen von guten Argumenten, die – wenn Frankfurt a. M. 1971, 137.
es gut geht – in diesen Kämpfen wirksam werden, –: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.): Kom-
unterschieden werden. In der Rolle des öffentlichen munikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1986, 391.
–: Vergangenheit als Zukunft. Hg. von Michael Haller. Zü-
Intellektuellen mischt Habermas sich seit den 1950er rich 1990, 128.
Jahren und bis heute kontinuierlich ins politische –: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende
Handgemenge ein und hat einen bisweilen nicht un- Politik: eine Replik«. In: Peter Niesen/Benjamin Her-
erheblichen Einfluss gewonnen – und »Einfluss« ist borth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit.
anders als die rein instrumentellen Medien der ad- Frankfurt a. M. 2007, 436.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 2. Frankfurt
ministrativen Macht und des Geldes ein Kommuni- a. M. 1970, 558.
kationsmedium, das eine unreine Mixtur aus guten Kraushaar, Wolfgang: Die Frankfurter Schule und die Stu-
oder schlechten Argumenten und hegemonialer oder, dentenbewegung. Von der Flaschenpost zum Molotow-
in diesem Fall eher gegenhegemonialer Attraktivität cocktail 1946–1995. 3 Bde. Frankfurt a. M. 1998.
darstellt: Thyen, Anke: »Nachwort zur Neuausgabe von Erkenntnis
und Interesse«. In: Jürgen Habermas: EI 2008, 402 ff.
»Was wir brauchen, ist ein kleines Mehr an solidarischen Hauke Brunkhorst/Stefan Müller-Doohm
Praktiken; ohne das bleibt auch das intelligente Handeln
15

II. Kontexte

1. Geschichtsphilosophie, verschiedener solcher Verhaltensformen und vor al-


lem die methodische Auflage einer empirischen
Anthropologie und Überprüfung aller derart gerichteten Aussagen; aus
Marxismus der Lektüre von Sein und Zeit muss hingegen ur-
sprünglich die Vorstellung erwachsen sein, dass sich
die historische Entwicklung dieser mit Gehlen un-
Es dürfte nahezu unmöglich sein, das Anliegen der terschiedenen Handlungsformen auch in einem kri-
Habermas’schen Theorie zu beschreiben, ohne dabei tischen Licht betrachten lässt, wenn nämlich als ein
auf die drei im Titel genannten Denktraditionen Be- Maßstab die ursprüngliche, originäre Verfasstheit
zug zu nehmen: All seine ursprünglichen Intuitio- des menschlichen Daseins zugrunde gelegt wird.
nen, ja der ganze Motivationsgrund seines Schaffens Aus dem Versuch einer Kombination beider Denk-
werden durch die Geschichtsphilosophie, die philo- ansätze, der anthropologischen Handlungstheorie
sophische Anthropologie und den Marxismus so und ihrer Wendung in eine diagnostische Kritik,
stark geformt, dass auch ihr späteres Verblassen in entsteht im Jahr 1954 der Aufsatz »Dialektik der Ra-
den Schriften nicht darüber hinwegtäuschen kann, tionalisierung«, in dem Habermas bereits einige der
wie sehr sie in gewandelter Form sein Werk bis heute Motive vorwegnimmt, die später seine kritische Ge-
bestimmen. Insofern stellt der Versuch einer kurzen sellschaftstheorie kennzeichnen werden: In Form
Erinnerung an diese drei Denktraditionen eine Art einer Entfremdungsdiagnose werden hier die nega-
von Archäologie der reifen Sozialphilosophie von tiven Effekte veranschaulicht, die der technische
Jürgen Habermas dar: Wir verfolgen zurück, aus Fortschritt in der sozialen Lebenswelt dadurch hin-
welchen theoretischen Schichten die Annahmen terlässt, dass er Einstellungen des »Verfügbarma-
stammen, die heute zusammengenommen den Kern chens« befördert, durch die die zuvor noch sinnlich
seiner Theorie ausmachen. erfahrbare Dingwelt allmählich aus dem Erfah-
Wollte man tatsächlich im Sinne einer solchen rungshorizont des Menschen verschwindet (Haber-
Archäologie verfahren und sich fragen, welches mas 1954).
Denkmotiv die tiefliegendste, basalste Schicht des Gewiss, diese frühe Zeitdiagnose ist noch voll-
Habermas’schen Werkes bildet, so würde man zu- kommen in einer Sprache verfasst, die sich einer ori-
nächst wohl auf die Tradition der philosophischen ginellen Amalgamierung von philosophischer An-
Anthropologie stoßen. Der junge Philosoph, der sein thropologie und Heidegger’scher Daseinsanalyse
Studium 1954 in Bonn mit einer Promotion bei verdankt: Als der wesentliche Zug in der menschli-
Erich Rothacker beschließt, hatte während seiner chen Geschichte wird mit Gehlen die methodische
frühen Jahre wesentliche Anstöße durch die anthro- Optimierbarkeit des instrumentellen Handelns in
pologische Handlungstheorie Gehlens (Gehlen der Technik gedacht, als deren Folge mit Heidegger
1940) und die Daseinsanalyse Heideggers (Heideg- eine wachsende Weltentfremdung und Entgegen-
ger 1927/2006) erhalten; auch wenn die beiden, da- ständlichung unserer Lebenswelt begriffen wird;
mals enorm einflussreichen Ansätze eher in einem aber das Bild, das damit von der spezifischen Struk-
Spannungsverhältnis zueinander stehen, so war ih- tur moderner, hochentwickelter Gesellschaften er-
nen doch als ein gemeinsamer Grundsatz die These zeugt wird, besteht doch im Wesentlichen schon in
zu entnehmen, dass sich der Mensch seine eigene der Vorstellung, dass es ein Prozess der nur einseiti-
Lebenswelt oder sein Dasein im Wesentlichen durch gen, technischen oder instrumentellen Rationalisie-
praktische Vollzüge schafft, die der Bewältigung von rung ist, der zu sozialen Verwerfungen oder Patho-
tiefsitzenden Zwängen seiner gesellschaftlichen Re- logien in den gegebenen Lebensverhältnissen führt.
produktion dienen. Von Gehlen übernimmt Haber- Von der Hintergrundkonstruktion dieses frühen,
mas alsbald das Vorstellungsmodell des Menschen wegweisenden Aufsatzes rückt Habermas nun aber
als eines sich in seiner natürlichen Umwelt verhal- ab, sobald er sich mit der Wut der Enttäuschung das
tenden Wesens, die Idee einer Unterscheidbarkeit ganze Ausmaß der ideologischen Verstrickung Hei-
16 II. Kontexte

deggers in den Nationalsozialismus klargemacht hat choanalyse nachgebildeten Konstruktion die Fiktion
(PPP, 65–71); fallengelassen wird jetzt der normative einhergeht, als sei die Menschengattung so wie ein
Rahmen der Daseinsanalyse von Sein und Zeit und zum Kollektiv erweitertes Subjekt zu einer Besin-
beibehalten nur die anthropologische Handlungs- nung auf den eigenen, verunglückten Bildungspro-
theorie, die in den darauffolgenden Jahren durch zess in der Lage (KK); in der Auseinandersetzung
theoretische Generalisierung und empirische Erwei- mit Niklas Luhmann wird diese Denkfigur daher
terung sogar noch stärkeres Gewicht erhält (KK). In preisgegeben und durch die nur noch mäßig speku-
die damit entstandene Lücke tritt nun zunächst, wie lative Idee ersetzt, dass sich die Entwicklung mensch-
sich mit einem vereinseitigenden Blick auf architek- licher Gesellschaften auf den rational nachkonstru-
tonische Zwänge der Theoriebildung wohl sagen ierbaren Bahnen einer Rationalisierung von unter-
lässt, eine am deutschen Idealismus orientierte, aber schiedlichen Handlungstypen, der Arbeit und der
empirisch vermittelte Geschichtsphilosophie. Interaktion, vollzieht. Soviel an geschichtsphiloso-
Schon in seiner Dissertation war Habermas am phischem Rest, wie in einer solchen Konzeption evo-
Rande den geschichtsphilosophischen Konsequen- lutionären Forschritts enthalten ist, muss Habermas
zen nachgegangen, die sich für Marx aus Schellings aber beibehalten, um die Pointe seiner Theorie kom-
Idee einer Contraction Gottes für sein eigenes, mate- munikativer Vernunft nicht zu verspielen; denn
rialistisches Projekt ergeben hatten: Die schlechten, diese soll sich ja weiterhin als kritisches Organ der
korrumpierten Zustände, als die die sozialen Ver- Artikulation eines Vernunftanspruchs verstehen
hältnisse der Gegenwart im Sinne eines säkular ver- können, der in den Strukturen der inzwischen ent-
standenen Sündenfalls gedeutet werden können, sol- wickelten, heute gegebenen Rationalität des Verstän-
len durch eine Emanzipation überwunden werden, digungshandelns angelegt ist.
in der die Menschheit sich als eine Vereinigung asso- Nur die letzte der drei Denktraditionen, von der
ziierter Produzenten von der Gewalt der Materie be- Habermas in seinem Frühwerk Gebrauch macht, hat
freit (TP). Es ist nicht so, dass Habermas dieses ge- alle Differenzierungen, Erweiterungen und Umbau-
schichtsphilosophische Schema der revolutionären ten seiner Theorie weitgehend unverändert über-
Aufhebung einer sich im menschlichen Leben na- standen. Während die anthropologische Handlungs-
turgeschichtlich reproduzierenden Gewalt jemals im theorie Gehlens zwar zur nie wieder preisgegebenen
Rahmen seiner eigenen Theorie übernommen hätte; Einsicht in die Gleichursprünglichkeit von Tätigsein
aber die damit verknüpfte Vorstellung, nach der wir und rationalen Operationen, von Handeln und Er-
uns der Schlechtigkeit oder Pathologie unserer ge- kennen führt, später aber durch den Pragmatismus
genwärtigen Zustände allein im Lichte einer reflexi- und die Sprechakttheorie noch wesentlich erweitert
ven Rückbesinnung auf eine bislang undurchschaute wird, während die Geschichtsphilosophie schon bald
Geschichte selbstbewirkter Verstrickungen versi- durch eine empirisch angelegte Evolutionstheorie
chern können, scheint ihn damals doch so sehr über- ersetzt wird, behalten nur einige Kernaussagen des
zeugt zu haben, dass er sie eine Zeit lang für seine Marxismus in der Spanne der theoretischen Ent-
eigenen Absichten fruchtbar macht. Habermas über- wicklung von Habermas ihren ursprünglichen Platz
nimmt in seiner frühen Theorie geschichtsphiloso- bei. Schon in seiner frühen Auseinandersetzung mit
phische Denkfiguren genau bis zu dem Maße, in Marx macht sich der junge Philosoph trotz aller Kri-
dem sie dem Zweck dienen können, der kritischen tik dessen Vorstellung zu eigen, dass die sozialen Pa-
Diagnose einer Vorherrschaft instrumenteller Hand- thologien moderner Gesellschaften mit den Folgen
lungsorientierungen in der Moderne einen normati- zu tun haben müssen, die der marktwirtschaftliche
ven Rückhalt zu geben: Statt auf einen originären, Zwang zur Steigerung von ökonomischer Rendite
noch heilen Modus unserer praktischen Weltbezüge und Profit bewirkt: Was in dem genannten Aufsatz
zu rekurrieren, soll sich der Maßstab der Kritik al- zur »Dialektik der Rationalisierung« bereits als Do-
lein im Zuge einer der menschlichen Gattung als sol- minanz von instrumentellen Einstellungen bezeich-
cher zugeschriebenen Selbstreflexion auf ihre eige- net und später mit der Formel von der »Kolonialisie-
nen Fehlentwicklungen ergeben, in der sich als rung der Lebenswelt« gefasst wird, soll durch ein
Ursache der gegenwärtigen Herrschaftsformen und Einsickern wirtschaftlicher Nutzenkalküle in alle an-
Kommunikationsstörungen die Dominanz von in- deren Handlungssphären hinein ausgelöst worden
strumentellen Einstellungen erweist. sein. So sehr Habermas in der weiteren Ausarbei-
Schon bald sieht Habermas freilich ein, dass mit tung seiner Theorie die für ihn ursprünglich konsti-
einer solchen geschichtsphilosophischen, der Psy- tutiven Denktraditionen der philosophischen An-
2. Frankfurter Schule 17

thropologie, der Geschichtsphilosophie und des 2. Frankfurter Schule


Marxismus später auch empirisch umformulieren
und sprachanalytisch präzisieren wird, von der mar-
xistischen These einer Verselbständigung ökonomi- Als das Institut für Sozialforschung im Jahr 1950 in
scher Handlungsorientierungen wird er nicht mehr Frankfurt wiedereröffnet wird, nimmt es seine em-
lassen; sie bildet einen zentralen Bestandteil seiner pirische Forschungstätigkeit ohne direkten An-
Gesellschaftstheorie noch heute. schluss an das philosophische Selbstverständnis der
1930er und 1940er Jahre wieder auf. Zwischen den
Literatur soziologischen Studien, die fortan am Institut erar-
Gehlen, Arnold: Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung
beitet werden, und den philosophisch-kulturkriti-
in der Welt. Berlin 1940. schen Forschungen, in denen Horkheimer, Adorno
Habermas, Jürgen: »Die Dialektik der Rationalisierung«. und der in den USA gebliebene Marcuse ihre ur-
In: Merkur 8, Nr. 78 (1954), 701–724. sprünglichen Bemühungen fortsetzen, besteht kein
Heidegger, Martin: Sein und Zeit [1927]. Tübingen 2006. innerer Zusammenhang mehr. Als ein einheitlicher,
Axel Honneth
philosophisch integrierter Schulzusammenhang ist
die kritische Theorie von nun an zerfallen.
Den Ansätzen der drei philosophischen Vertreter
des ursprünglichen Instituts bleibt bei allen Diffe-
renzen im Detail aber der Hintergrund einer Ge-
schichtsphilosophie gemeinsam, in welcher die his-
torische Entwicklung als ein Prozess der technischen
Rationalisierung gedeutet wird, der sich im geschlos-
senen Herrschaftssystem der zeitgenössischen Ge-
sellschaft vollendet. Von den philosophischen Prä-
missen dieser Zeitdiagnose nimmt erst eine Theorie
Abschied, die sich zunächst kaum als ein Neuansatz
innerhalb der kritischen Theorie zu erkennen gibt.
Jürgen Habermas geht zwar als Assistent Adornos
aus dem Institut für Sozialforschung hervor, hat aber
seiner theoretischen Herkunft und Orientierung
nach zu Beginn mit der philosophischen Tradition
der kritischen Theorie nur wenig gemeinsam. In sei-
ner wissenschaftlichen Entwicklung kommen viel-
mehr mit der philosophischen Anthropologie, der
Hermeneutik, dem Pragmatismus und schließlich
der Sprachanalyse Theorieströmungen zur Geltung,
denen die ältere Generation um Adorno und Hork-
heimer stets fremd, ja feindlich gegenüberstand.
Gleichwohl formt sich aus den Habermas’schen Ar-
beiten allmählich eine Theorie heraus, die so deut-
lich von den ursprünglichen Zielsetzungen der kriti-
schen Theorie motiviert ist, dass sie heute als der
einzig ernstzunehmende Neuansatz dieser Tradition
gelten darf. In ihr gelangt das, was sich an abwei-
chenden, intersubjektivistischen Impulsen im Den-
ken der randständigen Mitglieder des Instituts be-
reits angekündigt hatte, zu theoretischem Selbstbe-
wusstsein und wird zum Bezugsrahmen einer
anderen Konzeption von Gesellschaft.
Das Fundament dieser Konzeption bildet die Ein-
sicht in die sprachliche Intersubjektivität sozialen
Handelns. Habermas findet zu der zentralen Prä-
18 II. Kontexte

misse seiner Theorie auf dem Weg einer Beschäfti- rechterhaltung eines kommunikativen Einverständ-
gung mit der hermeneutischen Philosophie und der nisses von Anbeginn an abhängig ist. Weil der
Sprachanalyse Wittgensteins. Aus ihnen lernt er, Mensch seiner Natur nach eine persönliche Identität
dass die menschlichen Subjekte vorgängig immer überhaupt nur auszubilden vermag, solange er in die
schon durch das Medium der sprachlichen Verstän- intersubjektiv tradierte Welt einer sozialen Gruppe
digung miteinander verbunden sind. Die Lebens- hineinwachsen und sich darin bewegen kann, würde
form des Menschen zeichnet sich durch eine in den die Unterbrechung des kommunikativen Verständi-
Strukturen der Sprache verankerte Intersubjektivität gungsprozesses eine Voraussetzung des menschli-
aus – für die Reproduktion des sozialen Lebens stellt chen Überlebens verletzen, die ebenso fundamental
daher die sprachliche Verständigung zwischen Sub- ist wie die der kollektiven Naturaneignung: Die
jekten eine fundamentale, ja unhintergehbare Vor- sprachliche Kommunikation ist das Medium, in dem
aussetzung dar. Dieser These verleiht Habermas in die Individuen sich jener Gemeinsamkeit ihrer Hand-
seinem Denken gesellschaftstheoretisches Gewicht, lungsorientierungen und Wertvorstellungen versi-
indem er sie zum Ansatzpunkt einer Auseinander- chern können, die nötig ist, damit die Aufgabe der
setzung mit der sozialphilosophischen und soziolo- materiellen Reproduktion gesellschaftlich gemeistert
gischen Tradition macht: So kritisiert er an der werden kann. Von dieser Dimension sozialer Inter-
neuzeitlichen Sozialphilosophie die Tendenz einer aktion aber abstrahiert die Geschichtsphilosophie,
allmählichen Reduktion aller intersubjektiv-prakti- die der kritischen Theorie bislang als theoretisches
schen Belange auf Fragen der technisch angemesse- Bezugssystem diente; nur daher konnte sie auf die Il-
nen Entscheidung (TP), und so macht er gegenüber lusion eines marxistischen Funktionalismus verfal-
dem sozialwissenschaftlichen Funktionalismus die len, in dem alle gesellschaftlichen Phänomene auf die
Tatsache geltend, dass die Reproduktionsaufgaben Funktionen hin betrachtet werden, die sie in der
einer Gesellschaft stets durch das normative Selbst- menschlichen Bearbeitung der Natur übernehmen.
verständnis der kommunikativ vergesellschafteten Der entscheidenden Schritt allerdings, den Ha-
Subjekte festgelegt sind und somit lebensnotwendige bermas damit in Richtung auf eine eigene Theorie
Funktionen als solche in menschlichen Lebenszu- der Gesellschaft und damit zu einer Neufassung der
sammenhängen gar nicht anzutreffen sind (LSW, kritischen Theorie unternimmt, ergibt sich erst
71 ff.) Und auf diesem Weg wird er schließlich auch durch eine Aufladung der beiden Handlungsbegriffe
zu seiner Kritik des Marxismus geleitet, deren Er- der ›Arbeit‹ und der ›Interaktion‹ mit unterschiedli-
gebnis eine handlungstheoretisch erweiterte Kon- chen Typen der Rationalität oder Rationalisierung.
zeption von Geschichte ist: Wenn die Lebensform Dieser folgenreiche Schritt verdankt sich dem Inter-
des Menschen sich durch das Medium der sprachli- esse, die neugewonnene Unterscheidung von zwei
chen Verständigung auszeichnet, dann lässt sich die Handlungstypen für eine Theorie der gesellschaftli-
gesellschaftliche Reproduktion nicht so sehr auf die chen Rationalisierung fruchtbar zu machen. Den
Dimension der Arbeit reduzieren, wie Marx dies in unmittelbaren Anlass dazu gibt eine Auseinander-
seinen theoretischen Schriften getan hatte; neben setzung mit der Technikkritik Marcuses, den theore-
der Tätigkeit der Naturbearbeitung muss vielmehr tischen Rahmen aber stellt das Rationalitätskonzept
die Praxis der sprachlich vermittelten Interaktion als Max Webers dar (TW, 48 f.).
eine ebenso fundamentale Dimension der geschicht- Habermas fasst die beiden Handlungsformen, die
lichen Entwicklung angesehen werden (EI, Kap. 1,2 er in seiner Marxkritik unterschieden hatte, nicht
und 3). nur als die Muster von spezifischen Tätigkeitswei-
Schon mit dieser Überlegung trennt Habermas sen, sondern auch als Rahmen für besondere Er-
sich implizit von den geschichtsphilosophischen kenntnisleistungen auf; insofern müssen sich die
Grundannahmen, die für die Tradition der kritischen beiden fundamentalen Dimensionen der gesell-
Theorie bislang bestimmend waren (vgl. dazu Well- schaftlichen Reproduktion, also ›Arbeit‹ und ›Inter-
mer 1977; McCarthy 1980; Honneth 1982; Brunk- aktion‹, auch durch eine jeweils eigene Form der
horst 1983). Denn die Eigenart der menschlichen Wissenserzeugung und dementsprechend durch
Vergesellschaftung erblickt er nun nicht mehr, wie eine eigene Form der ›Rationalität‹ unterscheiden
noch Adorno, Horkheimer und Marcuse, in dem lassen. Dann aber erweist sich Webers Konzept der
Vorgang einer sich stetig erweiternden Naturbearbei- Rationalisierung als zu eng: Denn ebenso, wie sich
tung, sondern darin, dass die kollektive Sicherung für die instrumentellen Tätigkeiten und das techni-
der materiellen Existenz von der gleichzeitigen Auf- sche Wissen spezifische Formen der Rationalisie-
2. Frankfurter Schule 19

rung behaupten lassen, müssen sich auch für die ner einzigen Theorie zusammengebracht, in der die
kommunikative Praxis und das in ihr eingelagerte Rationalität des kommunikativen Handelns im Rah-
Wissen eigenständige Möglichkeiten der Rationali- men einer Sprechakttheorie rekonstruiert, im
sierung aufzeigen lassen. Habermas fasst schon früh Durchgang durch die Geschichte der soziologischen
die allgemeine These, die sich aus dieser Kritik an Theorien von Weber bis Parsons zur Grundlage ei-
Weber ergibt, in einer der Systemtheorie entlehnten ner Gesellschaftstheorie fortentwickelt und schließ-
Begrifflichkeit zusammen: Während sich in den Sub- lich zum Bezugspunkt einer kritischen Zeitdiagnose
systemen zweckrationalen Handelns, in denen die gemacht wird.
Aufgaben der gesellschaftlichen Arbeit und politi- Der Begriff der kommunikativen Rationalität
schen Verwaltung organisiert sind, die Gattung über nimmt in der Habermas’schen Theorie von nun an
die Akkumulation technischen und strategischen dieselbe Schlüsselstellung ein, die in der »Dialektik
Wissens fortentwickelt, bildet sie sich innerhalb des der Aufklärung« dem Begriff der instrumentellen
institutionellen Rahmens, in dem die sozialen inte- Rationalität zugekommen war. Wie Adorno und
grierenden Normen reproduziert werden, über die Horkheimer aus der Rationalitätsform der Naturbe-
Befreiung von kommunikationshemmenden Zwän- herrschung, so entwickelt Habermas aus dem Ratio-
gen fort (TW, bes. 63 ff.). nalitätspotential des kommunikativen Handelns die
Auf der Linie dieses Gesellschaftskonzepts, in Entwicklungsdynamik eines Geschichtsprozesses,
dem zweckrational organisierte Handlungssysteme der bis in die als Krise begriffene Gegenwart führt.
von einer Sphäre der kommunikativen Alltagspraxis Der Grundgedanke seiner Konstruktion ist der, dass
unterschieden und für beide sozialen Bereiche ge- in den kommunikativen Sprechakten, durch die in-
sonderte Formen der Rationalisierung behauptet dividuelle Handlungen koordiniert werden, kultur-
werden, liegen all die Erweiterungen, die Habermas invariante Geltungsansprüche aufbewahrt sind, die
im Laufe der 1970er Jahre an seiner Theorie vor- im Zuge eines kognitiven Rationalisierungsprozes-
nimmt: Eine Universalpragmatik dient der weiteren ses historisch allmählich ausdifferenziert werden.
Aufhellung der sprachlichen Infrastruktur des kom- Auf diesem Weg einer Dezentrierung des lebens-
munikativen Handelns (Habermas 1976); eine The- weltlichen Wissens, das wie ein Horizont alles kom-
orie der sozialen Evolution soll die Logik der Ent- munikative Handeln umfängt, sondert sich als ein
wicklung gesellschaftlichen Wissens und damit den Aspekt schließlich auch eine kognitive Einstellung
Prozess der zweibahnigen Rationalisierung klären aus, in der Subjekte allein unter Erfolgsgesichtspunk-
helfen (RHM); mit der weiteren Aufnahme system- ten auf ihre Umwelt Bezug nehmen können.
theoretischer Konzeptionen schließlich ist eine Be- Es ist eine solche historisch entstandene Fähigkeit
stimmung der Mechanismen beabsichtigt, durch die zum strategischen Handeln, in der Habermas die so-
sich soziale Handlungsbereiche zu zweckrational or- ziale Bedingung zur Entstehung systemisch organi-
ganisierten Systemen verselbständigen (Habermas sierter Handlungsbereiche angelegt sieht – denn da-
1971). Greifen diese theoretischen Bemühungen durch, dass die Subjekte lernen, rein erfolgsorien-
auch in die unterschiedlichsten Wissensgebiete aus, tiert zu handeln, erwächst die Möglichkeit, die
so sind sie doch alle auf dasselbe Ziel der kommuni- sozialen Handlungen anstatt durch Verständigungs-
kationstheoretischen Grundlegung einer kritischen prozesse nun durch sprachlose Medien wie das Geld
Gesellschaftstheorie gerichtet; mit ihrer Hilfe will oder die Macht zu koordinieren (TKH, hier: II,
Habermas die Rationalität des kommunikativen 229 ff.). Die beiden Handlungssphären, die infolge
Handelns als eine so fundamentale Bedingung der der Institutionalisierung dieser Steuerungsmedien
gesellschaftlichen Entwicklung erweisen, dass sich aus der kommunikativen Lebenswelt herausgelöst
die von Adorno und Horkheimer diagnostizierten werden, sind die Bereiche der ökonomischen Pro-
Tendenzen einer instrumentellen Verdinglichung als duktion und der politischen Verwaltung. Das Wirt-
einseitige, nämlich allein zweckrational ausgerich- schaftssystem und die Sphäre staatlichen Handelns
tete Formen der gesellschaftlichen Rationalisierung werden von nun an ohne Rückgriff auf den Prozess
kritisieren lassen. In der Theorie des kommunikati- einer kommunikativen Verständigung integriert; sie
ven Handelns, die Habermas 1981 in zwei Bänden stehen in modernen Gesellschaften als normfrei re-
veröffentlicht, nimmt dieses Programm zum ersten gulierte Systeme jenen weiterhin kommunikativ or-
Mal systematische Gestalt an (TKH; dazu Bernstein ganisierten Handlungssphären gegenüber, in denen
1985; Honneth 1985, bes. Kap. 9). Die Erträge der die symbolische Reproduktion des sozialen Lebens
verschiedenen Forschungsarbeiten sind hier zu ei- vonstatten geht.
20 II. Kontexte

An der historischen Entkoppelung von ›System‹ Bonß/Ders. (Hg.): Sozialforschung als Kritik. Frankfurt
und ›Lebenswelt‹ rechtfertigt Habermas die Einfüh- a. M. 1982, 87 ff.
–: Kritik der Macht. Frankfurt a. M. 1985
rung des zweistufigen Gesellschaftskonzeptes, in das
McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse.
seine Konstruktion mündet; darin wird als der fun- Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1980.
damentale Reproduktionsmechanismus auch von Wellmer, Albrecht: »Kommunikation und Emanzipation.
modernen Gesellschaften zwar der Prozess der kom- Überlegungen zur sprachanalytischen Wende der Kriti-
munikativen Verständigung angesehen, zugleich schen Theorie«. In: Axel Honneth/Urs Jaeggi (Hg.): The-
aber als ein historisches Produkt die Existenz von orien des Historischen Materialismus. Frankfurt a. M.
1977, 465 ff.
solchen normfreien Handlungssphären unterstellt, Axel Honneth
die allein einer systemtheoretischen Analyse zu-
gänglich sind. Als das Wesentliche einer soziologi-
schen Theorie der Moderne erweist sich damit die
Verschränkung von Kommunikationstheorie und
Systemkonzept: Jede Analyse der Verständigungs-
prozesse, durch die sich heute Gesellschaften in ih-
rer lebensweltlichen Basis reproduzieren, verlangt
nach einer Ergänzung durch die Systemanalyse, mit
deren Hilfe die systemischen Formen der materiel-
len Reproduktion untersucht werden. Aus dieser
dualistischen Konstruktion gewinnt Habermas
schließlich auch den Rahmen, in dem er seine Zeit-
diagnose zu entwickeln versucht; ihr zentrales Motiv
ergibt sich aus der Absicht, den Prozess der »Dialek-
tik der Aufklärung« so auszulegen, dass die resigna-
tiven Konsequenzen vermeidbar werden, zu denen
Adorno und Horkheimer sich getrieben sahen. Als
eine krisenhafte Tendenz der Gegenwart erscheint
nun nämlich nicht mehr die Existenz von zweckratio-
nalen Organisationsformen des sozialen Lebens als
solche, sondern erst ihr Eindringen in jene Binnen-
bereiche der Gesellschaft, die auf Prozesse der kom-
munikativen Verständigung konstitutiv angewiesen
sind: An diesem Phänomen einer »Kolonialisierung
der sozialen Lebenswelt« macht Habermas daher
seine eigene Diagnose einer Pathologie der Moderne
fest.

Literatur
Bernstein, Richard J.: »Introduction«. In: Ders. (Hg.): Ha-
bermas and Modernity. Oxford 1985.
Brunkhorst, Hauke: »Paradigmenkern und Theoriedyna-
mik der kritischen Theorien«. In: Soziale Welt 34 (1983),
21 ff.
Habermas, Jürgen: »Eine Auseinandersetzung mit Niklas
Luhmann: Systemtheorie oder kritische Theorie der Ge-
sellschaft«. In: Ders./Niklas Luhmann: Theorie der Ge-
sellschaft oder Sozialtechnologie. Frankfurt a. M. 1971,
142–290.
– »Was heißt Universalpragmatik?«. In: Karl-Otto Apel
(Hg.): Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a. M.
1976, 174 ff.
Honneth, Axel: »Von Adorno zu Habermas. Der Gestalt-
wandel kritischer Gesellschaftstheorie«. In: Wolfgang
3. Staatsrecht 21

3. Staatsrecht blik (Dietrich/Perels 1976; Balzer/Bock/Schöler


2001). Als Schüler der sozialistischen Juristen Hugo
Sinzheimer und Hermann Heller war es Abendroths
Wenn er sich an seine Studienzeit im Frankfurt der größtes intellektuelles und politisches Verdienst im
1950er Jahre zurückerinnerte, erwähnte Habermas Adenauerdeutschland, die Idee des ›sozialen Rechts-
gelegentlich Horkheimers Sorge, ihm und anderen staats‹ in ihrem ursprünglichen Verständnis zu ret-
linkslastigen Studenten könnten alte Ausgaben der ten, wie sie Heller (und, obwohl er manchmal ver-
Zeitschrift für Sozialforschung in die Hände fallen. gessen wird, der junge Franz L. Neumann) in den
Dabei war die Zeitschrift sicher im Keller des Insti- letzten Tagen der Weimarer Republik verzweifelt
tuts für Sozialforschung weggeschlossen, allem An- verfochten hatte. In seinem vieldiskutierten Aufsatz
schein nach, um die Erinnerung an die radikale Ver- »Zum Begriff des demokratischen und sozialen
gangenheit des Instituts zu verdrängen. Obwohl er Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik
Marx, Lukács, Bloch und die Dialektik der Aufklä- Deutschland« (1954) verteidigte Abendroth die ur-
rung bereits gelesen hatte, bevor er nach Frankfurt sprüngliche Weimarer Interpretation der Idee eines
kam, räumt Habermas ein, zunächst wenig von dem sozialen Rechtsstaats als einer Bresche für den de-
interdisziplinären hegelmarxistischen Forschungs- mokratischen Sozialismus (Abendroth 1967). Im
programm gewusst zu haben, in dessen Rahmen das Widerstand gegen konservative Schüler Carl
Institut in den 1930er Jahren brillante und innova- Schmitts wie Ernst Forsthoff verwahrte er sich dage-
tive Arbeiten hervorgebracht hatte (Dews 1986, gen, Artikel 20 des Grundgesetzes könne als rigide
94 f.). Zwar schloss seine Tätigkeit als Assistent Ador- Festschreibung des wirtschaftlichen und gesell-
nos diese überraschende Lücke bald, doch gebührt schaftlichen Status quo und damit als Verfassungs-
zumindest ein Teil der Anerkennung dafür, Haber- grundlage für nicht mehr denn allenfalls begrenzte,
mas mit der reichen Tradition der linken Weimarer korrigierende Eingriffe in ein grundsätzlich kapita-
Theoriebildung zumal deutsch-jüdischer Proveni- listisches Wirtschaftssystem ausgelegt werden. Seit-
enz vertraut gemacht zu haben, dem Juristen und dem sich massive, die ›formale‹ Demokratie bedro-
Politologen Wolfgang Abendroth (1906–1985) – der hende Konzentrationen von wirtschaftlicher Macht
lange Zeit der einzige marxistische Ordinarius in der gebildet hatten und die klassische liberale Trennung
Bundesrepublik war und von Habermas 1966 in ei- von Staat und Gesellschaft kollabiert war, vermochte
nem wohlwollenden Artikel in der Zeit mit dem Ti- für Abendroth allein eine umfassende Demokrati-
tel eines »Partisanenprofessors« geschmückt wurde sierung sowohl des Staats als auch der Wirtschaft die
(Habermas 1966). Eine treffliche Bezeichnung: Der ursprünglichen humanistischen Ideale der unvollen-
Linkssozialist Abendroth war nicht nur im Unter- deten liberalen und demokratischen Revolutionen
grundkampf gegen die Nazis aktiv gewesen und hatte einzulösen. Wohl räumte er ein, dass Artikel 20 keine
unter antifaschistischen Partisanen gekämpft, son- ausdrückliche Entscheidung zugunsten einer demo-
dern engagierte sich sein Lebtag nach Kräften in lin- kratisch-sozialistischen Zukunft implizierte, doch
ken politischen Bewegungen und Parteien. bestand er – unter dem Protestgeschrei rechter Ver-
Wer mit Habermas’ Biographie ein wenig vertraut leumder, die in den 1950er Jahren die juristischen
ist, kennt die traurige Geschichte von Horkheimers Fakultäten Deutschlands unter ihren Fittichen hat-
Feindseligkeit gegenüber dem jungen Habermas, die ten – darauf, dass Artikel 20 eine sozialistische Bun-
diesen dazu brachte, Frankfurt zu verlassen und sich desrepublik nicht nur zuließ, sondern tatsächlich
unter Abendroths Ägide in Marburg mit der bahn- unmittelbar weitreichende egalitäre Sozialreformen
brechenden Studie Strukturwandel der Öffentlichkeit erforderte, die eine linke Entwicklung Westdeutsch-
(1962) zu habilitieren. Was in der Schilderung dieser lands wahrscheinlich machten.
Ereignisse mitunter übergangen wird, ist der nicht In den abschließenden programmatischen Ab-
unerhebliche intellektuelle und politische Einfluss, schnitten von Strukturwandel der Öffentlichkeit las-
den Abendroth damals auf Habermas ausübte. sen sich unmittelbare Parallelen zu Abendroths Pro-
Im Westdeutschland der 1950er Jahre war Abend- gramm erkennen. Wie Abendroth stützt sich der
roth ein seltenes Bindeglied nicht nur zu der vom junge Marxist Habermas auf eine große Erzählung
Nationalsozialismus nahezu vollständig ausgelösch- über die Transformation des Kapitalismus, um eine
ten marxistischen Tradition, sondern auch zu der le- radikale Lesart der Idee eines sozialen Rechtsstaats
bendigen intellektuellen Kultur der linken Jurispru- zu untermauern, der zufolge die ›neofeudale‹ insti-
denz und politischen Theorie der Weimarer Repu- tutionelle Struktur, die sich im Kontext des organi-
22 II. Kontexte

sierten Kapitalismus und des Zusammenbruchs der mas ein Argument, das unmittelbar an ihre radikals-
liberalen Trennung von Staat und Gesellschaft gebil- ten Schriften erinnert: Der organisierte Kapitalismus
det hatte, einer Demokratisierung bedürfe (SÖ, § 23). führt zum Niedergang des Parlaments, zu wachsen-
Zwar etwas vorsichtiger als Abendroth, macht sich der Machtbefugnis in Verwaltung und Rechtspre-
Habermas gleichwohl für ein Reformprogramm mit chung und zunehmend autoritären Formen von po-
mustergültigen demokratisch-sozialistischen Ele- litischer Herrschaft. Mit direktem Bezug auf die zen-
menten stark. Selbst Habermas’ eigene originelle trale These von Hellers Rechtsstaat oder Diktatur?
Einsicht, dass neuartige Prozesse der Entscheidungs- (1930) prophezeit Habermas gleichermaßen, dass
findung und des Interessenausgleichs, wie sie im entweder entscheidende Schritte in Richtung einer
postliberalen politischen Leben vorherrschend ge- sozialen Demokratie eingeleitet werden müssten
worden waren, auch eine effektive Institutionalisie- oder liberale Demokratien, die wie Deutschland
rung neuer Formen von kritischer Öffentlichkeit noch in ihren Kinderschuhen steckten, sich der er-
bräuchten, könnte man mit guten Gründen als eine schreckenden Aussicht auf einen Rückfall in autori-
theoretische Weiterentwicklung von Abendroths po- täre Regime gegenübersähen. Auch hier macht sich
litischer Vision verstehen. Es überrascht daher nicht, Habermas Abendroths unmittelbar von den Weima-
dass dieser Habermas’ Ideen in seinem Aufsatz »Das rer Debatten beeinflusste Auffassung zueigen, dass
Problem der innerparteilichen und innerverbandli- ein demokratischer und sozialer Wohlfahrtsstaat
chen Demokratie in der Bundesrepublik« (1964) den normativen Kern der Rechtsstaatlichkeit schüt-
überschwänglich lobte und in ihnen eine normative zen könne, indem er soziale Rechte ebenso wie ver-
Bereicherung seiner eigenen Vorschläge sah (Abend- gleichsweise berechenbare Formen staatlicher Ein-
roth 1967, 273, 281 ff.). griffe in die Wirtschaft nach gesetzlich regelten Ver-
Allgemeiner gesprochen, trug Abendroth ver- fahren garantiert.
mutlich dazu bei, Habermas mit den linken Strö- Es überrascht also nicht, dass ein zunehmend vor-
mungen in der politischen Theorie und Jurispru- sichtiger und sogar konservativer Horkheimer die-
denz der 1920er und 1930er Jahre bekannt zu ma- ser und anderen Schriften des jungen Habermas so
chen – mindestens bot er ihm den professionellen feindselig gegenüberstand: Sie müssen ihn schmerz-
und intellektuellen Raum, um sich mit diesen Strö- lich an das Deutschland der 1930er Jahre erinnert
mungen auseinanderzusetzen. Gewiss bewiesen Ha- haben, für ihn eine traumatische Periode, die am
bermas’ Schriften eine größere Wertschätzung für besten in den hintersten Winkeln seiner Seele begra-
die normative politische Theorie und besonders die ben blieb – und im Institutskeller.
normativen Grundlagen der Demokratie als die von Bei zahlreichen Anlässen hat Habermas in späte-
Abendroth oder seinen Weimarer Vorgängern. Doch ren Jahren Abendroths politische und intellektuelle
seine erheblichen Anleihen beim linken Weimarer Integrität gerühmt, während er sich zugleich allmäh-
politischen und staatsrechtlichen Denken im Struk- lich, aber unmissverständlich von der reformmar-
turwandel und mehr noch in den »Reflexionen über xistischen Vision eines demokratischen Sozialismus
den Begriff der politischen Beteiligung«, der langen distanzierte, die sein Marburger Lehrer zeitlebens
Einleitung in Student und Politik (1961), stehen au- vertrat. Ein angemessenes Verständnis der unver-
ßer Zweifel. Besonders in der letztgenannten Schrift meidlichen funktionalen Differenzierung unserer
bringt Habermas eine Kernthese auf den neusten Gesellschaft, so Habermas’ Argument, ist mit den
Stand, die Neumann und Ernst Fraenkel (beide, wie holistischen Modellen einer demokratisch-sozialis-
Abendroth, Sinzheimer-Schüler) in den 1930er Jah- tischen Planwirtschaft, in der es keine rechtmäßige
ren formuliert hatten: Mit dem Übergang von einer Autonomie von Marktmechanismen geben kann,
freien Konkurrenzwirtschaft zu einem Monopol- unvereinbar. Traditionelle Sozialisten wie Abend-
bzw. organisierten Kapitalismus geraten die klassi- roth erliegen in seinen Augen einer naiven Vorstel-
sche Herrschaft des Gesetzes und insbesondere die lung von bürokratischen Staatseingriffen und setzen
zentrale Stellung der Gleichheit verbürgenden Ge- sich nicht genügend mit den notwendigen Beschrän-
neralität der Norm unweigerlich in die Defensive. kungen des Rechtsmediums und den Gefahren der
Mit ausgiebigen Zitaten von zumeist jüdischen, nun Verrechtlichung auseinander. In Faktizität und Gel-
in den USA lebenden Emigranten (darunter Otto tung (1992), seinem Hauptwerk in der Politik- und
Kirchheimer, laut Abendroth »der begabteste und Rechtstheorie, werden die Weimarer politologischen
intelligenteste« der sozialistischen Weimarer Juris- und rechtstheoretischen Debatten kurz gestreift, wo-
ten [Dietrich/Perels 1976, 146]) wiederholt Haber- bei Habermas Interpretationen der Rechtsstaatlich-
3. Staatsrecht 23

keit, in deren Mittelpunkt die Allgemeinheit des Ge- zum politischen und ökonomischen Status quo ist
setzes steht, offen kritisiert. Ausdrücklich verweist er zumindest ein Ausdruck echter Dilemmata, denen
auf Student und Politik, worin er mittlerweile augen- sich die demokratische Linke heute gegenübersieht.
scheinlich kaum mehr als eine Jugendsünde sieht: Noch auf eine andere Weise steht Habermas di-
Die Reformulierung des Hegel- und Webermarxis- rekt in der Schuld Wolfgang Abendroths und der
mus der 1920er und 1930er Jahre dieses Buches sei Zwischenkriegslinken, deren Andenken im Nach-
zu sehr durch eine überpointierte Auffassung von kriegsdeutschland Abendroth zu wahren half. Eine
der Allgemeinheit des Gesetzes geprägt, die sich von wesentliche Zielscheibe von Habermas’ politischem
Carl Schmitt und seiner Verfassungslehre von 1928 und rechtstheoretischem Denken bildet Carl Schmitt
herschreibt und von Neumann und anderen in den (1888–1985), Deutschlands führender rechter
Diskurs der linken deutschen Jurisprudenz über- Rechtswissenschaftler und, zumindest für einige
nommen wurde (FG, 521). Jahre, eifriger ›Kronjurist des Dritten Reichs‹. Wie
Trotz der theoretischen Distanzierung von bereits festgestellt, befehdete Abendroth im West-
Abendroth bleibt dessen Einfluss spürbar. Nach wie deutschland der 1950er Jahre die Schüler Schmitts
vor verficht Habermas eine Interpretation, der zu- im Zusammenhang mit der Debatte um den sozialen
folge der soziale Rechtsstaat auf eine, wie er es heute Rechtsstaat intellektuell wie politisch. Eine Genera-
nennt, ›reflexive‹ Reform des Sozialstaats angewie- tion zuvor hatten die linken Weimarer Anwälte
sen ist (FG, 468–537). Obwohl es kaum mit konkre- Franz L. Neumann und Otto Kirchheimer, die später
ten Details angereichert wird, erfordert das unvoll- zur ersten Generation von Politik- und Rechtstheo-
endete Projekt des sozialen Wohlfahrtsstaats diesem retikern des Instituts für Sozialforschung gehören
Modell zufolge wesentlich anspruchsvollere Maß- sollten, ihren theoretischen und politischen Zorn
nahmen als die rein regulativen, korrigierenden Ein- gegen Schmitt und seine Schüler gerichtet. Auch Ha-
griffe in den gegenwärtigen Kapitalismus. Kurz ge- bermas’ Schriften bezeugen eine eindrucksvolle Ver-
sagt: Habermas hat mit dem sozialen und ökonomi- trautheit mit Schmitts verstreutem Œuvre – ebenso
schen Status quo oder mit einem Sozialstaat, der wie eine tiefe politische und moralische Abscheu vor
nicht mehr als eine paternalistische Daseinsvorsorge dessen Gesinnung (Habermas 1987). Man kann die
bietet, niemals seinen Frieden gemacht. Und obwohl Strategie von Neumann und Kirchheimer so verste-
sich ihre theoretischen Konturen verständlicher- hen, dass sie eine sozialdemokratische Erwiderung
weise im Lauf der Jahrzehnte verschoben haben, hat auf Schmitts normative Verwerfung der modernen
Habermas auch die ursprüngliche Forderung nach Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu geben ver-
einer weitreichenden Demokratisierung der Gesell- suchten, die auch Schmitts empirische Diagnose zu-
schaft keinesfalls aufgegeben, wenn er auch dazu rückwies, eine ›normativistische‹ Gesetzlichkeit
neigt, die schwierigen Herausforderungen zu beto- müsse sich unter den zeitgenössischen politischen
nen, die die Komplexität und funktionale Differen- und gesellschaftlichen Bedingungen unweigerlich
zierung der Gesellschaft für die üblichen linken Pro- zersetzen (Scheuerman 1994). Interessanterweise
grammatiken mit sich bringen. Mit gutem Recht hat Habermas eine parallele Angriffsstrategie ver-
kann man sagen, dass der systematische Versuch von folgt und in seiner wiederholten Kritik an Schmitt
Faktizität und Geltung, integrale Zusammenhänge seine eigene Theorie gelegentlich als das beste Ge-
zwischen radikaler Demokratisierung, Rechtsstaat- genmittel gegen die gefährliche Versuchung des
lichkeit und einem ›reflexiven‹ Sozialstaat aufzuzei- Schmitt’schen Dezisionismus betrachtet. Der Wider-
gen, deutliche Spuren von Abendroths einstmaliger spruch gegen Schmitt zieht sich wie ein roter Faden
Kritik an jenen Schmitt-Anhängern aufweist, die durch seine Politik- und Rechtstheorie: Nicht nur in
Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaat in einen Gegen- Habermas’ frühen politischen Schriften bildet dieser
satz brachten. einen Hauptangriffspunkt, sondern noch in den
Wenn linke Kritiker über einen Mangel an Radi- jüngsten Erörterungen der Globalisierung und der
kalität in Habermas’ jüngeren Veröffentlichungen Aussichten auf eine postnationale Demokratisie-
klagen, dann sprechen sie eigentlich vom Nieder- rung. In einem 1984 mit Peter Dews und Perry An-
gang eines plausiblen Modells für einen demokrati- derson geführten Interview findet sich das auf-
schen Sozialismus, wie ihn Abendroth einst verfoch- schlussreiche Bekenntnis: »Ich stand dem Dezisio-
ten hat. Habermas’ Skepsis aber besteht zweifellos nismus vom ersten Moment an kritisch gegenüber
zurecht. Seine Zurückhaltung bezüglich der mögli- – von der Minute an, als ich zum ersten Mal Schmitt
chen Konturen einer grundsätzlichen Alternative las, beispielsweise« (Dews 1986, 194).
24 II. Kontexte

Obwohl er Schmitt bereits zu Beginn seiner Lauf- Versuch verstehen, Schmitts politischen Existentia-
bahn äußerst ablehnend gegenübersteht, nutzt Ha- lismus und seine Vernunftfeindlichkeit zu diskredi-
bermas in seinen frühen politischen Schriften tieren. Wenn Habermas in Technik und Wissenschaft
Schmitt und seine Schüler (z. B. Ernst Forsthoff und als ›Ideologie‹ (1968) die Technokratie kritisiert, stellt
Werner Weber), um beunruhigende empirische Ent- er Parallelen zu Hermann Lübbes auf den neusten
wicklungen zu dokumentieren – etwa den Nieder- Stand gebrachter Version einer Politik der »puren
gang eines deliberativen Parlamentarismus, dem Ha- Dezisionen« (TW, 124) fest, während in Legitimati-
bermas im Gegensatz zu Schmitt entgegenzuwirken onsprobleme im Spätkapitalismus (1973) Niklas Luh-
hofft. In diesen ersten Kämpfen mit Schmitt scheint mann unfreundlich als insgeheimer Jünger Schmitts
Habermas – wie vor ihm Neumann und Kirchhei- und seiner dezisionistischen Rechtstheorie behan-
mer – das Ärgernis von Schmitts autoritären poli- delt wird. Die kritische Strategie dieser Texte beruht
tisch-programmatischen Präferenzen als Verdingli- weniger auf dem Motto ›Mitgefangen, mitgehangen‹
chung beunruhigender faktischer Entwicklungen zu als auf der impliziten Anerkennung von Schmitts
betrachten (SÖ 1971, 244 bzw. SÖ 1990, 305). Wenn großer intellektueller und politischer Anziehungs-
Strukturwandel der Öffentlichkeit die unheilvolle kraft und der damit einhergehenden Notwendigkeit,
Aussicht auf ein von der Regierung dominiertes ple- selbst verhältnismäßig moderaten Umformulierun-
biszitäres Regime skizziert, in dem die zwanglose gen seiner Ideen entgegenzutreten. Es überrascht
Debatte, das Rechtsstaatsprinzip und die Parla- daher nicht, das sich Habermas’ eindringlichste Ana-
mentsherrschaft zugunsten maßgeschneiderter Öf- lysen des Schmitt’schen Denkens in Faktizität und
fentlichkeiten, rechtlicher Willkür und von oben or- Geltung finden, wo er über die Standardkritik am
ganisierter Akklamation über Bord geworfen wur- Dezisionismus hinausgeht und Schmitts spezifische
den, dann entspricht Habermas’ Beschreibung von Beiträge zur Politik- und Rechtslehre bekämpft. Hier
dessen Kernelementen spiegelbildlich Schmitts Ver- argumentiert Habermas für das gerichtliche Recht
teidigung eines massenbasierten autoritären Regie- auf Normenkontrolle, indem er unter anderem auf
rungssystems. Als Gegenentwurf zu einem dezisio- Schmitts Polemik aus der Weimarer Zeit gegen Hans
nistischen Modell von Recht und Politik hält sich Kelsens Verteidigung von Verfassungsgerichten re-
Habermas schon früh an genau das Merkmal des agiert. Auch Schmitts wirkungsmächtiger Darstel-
klassischen Liberalismus, das Schmitt verachtet lung des parlamentarischen Niedergangs begegnet
hatte: Wo Schmitt das liberale Bürgertum als bloße Habermas zum Teil mit einer Theorie der deliberati-
›redende Klasse‹ mit bestenfalls harmlos unpoliti- ven Zivilgesellschaft: Selbst wenn moderne Legisla-
schen und schlimmstenfalls gefährlich anarchisti- tiven keinesfalls freie und ungebundene deliberative
schen und machtzersetzenden Impulsen denunziert Körperschaften sind, so funktionieren sie doch im
hatte, schlägt Habermas eine deliberative Konzep- Zusammenspiel mit einer Zivilgesellschaft, in der
tion politischer Legitimität vor, in der die Möglich- Deliberation und Diskussion zumindest gelegentlich
keit einer fundamentalen Transformation des mo- lebendig bleiben.
dernen Staats und vielleicht sogar der Auflösung Im Laufe der vergangenen rund zehn Jahre hat
›des Politischen‹ im üblichen Verständnis beschlos- Schmitt Habermas regelmäßig als Zielscheibe seines
sen ist. Bei allem Respekt gegenüber Schmitt könn- neuen Plädoyers für ein globales Regieren gedient.
ten sich Macht und Recht, in angemessen deliberati- Die eher gemischte Bilanz der ›humanitären Militär-
ver Weise verstanden, auf Ratio reduzieren lassen. interventionen‹ im ehemaligen Jugoslawien und im
Sofern man es mit radikalen sozialdemokratischen Nahen und Mittleren Osten hat Schmitts Kritik des
Reformen verbindet, könnte somit das wertvollste so genannten ›diskriminierenden Kriegsbegriffs‹
Vermächtnis der liberalen Bürgergesellschaft für die zweifellos zu einem intellektuellen Nachleben ver-
Moderne bewahrt werden. Im Gegensatz zu Schmitts holfen. Diskriminierend seien diese Kriege, weil in
normativen Sehnsüchten und seiner düsteren empi- ihnen liberale Staaten typischerweise ihre grund-
rischen Diagnose könnten Orte einer wirkungsvol- sätzliche Brutalität und imperialistischen Ziele unter
len kritischen Öffentlichkeit und deliberativen Wil- dem heuchlerischen Mantel einer humanitären Rhe-
lensbildung garantiert werden. torik und eines liberalen Völkerrechts verschleier-
Habermas’ lebenslange Suche nach einem belast- ten. Selbst auf linke Kritiker etwa der NATO-Inter-
baren, in einer schlüssigen Theorie des kommunika- vention in Jugoslawien oder des zweiten, von den
tiven Handelns verankerten deliberativen Modell für UN gebilligten Golfkriegs (›Operation Desert
Politik und Recht lässt sich zumindest zum Teil als Storm‹) übt Schmitt heute eine gewisse Anziehungs-
3. Staatsrecht 25

kraft aus, wie sich mühelos an den Seiten der New – /Friedeburg, Ludwig v./Oehler, Christoph/Weltz, Fried-
Left Review und unzähliger linker akademischer rich: Student und Politik. Neuwied 1961.
Heller, Hermann: Rechtsstaat oder Diktatur? Tübingen
Fachzeitschriften ablesen lässt. Im Bewusstsein die-
1930.
ser Entwicklungen hat es Habermas in Der gespal- Scheuerman, William E.: Between the Norm and the Excep-
tene Westen (2004) und anderswo auf sich genom- tion. The Frankfurt School and the Rule of Law. Cam-
men, Schmitts jüngste Anhänger an den verdrießli- bridge 1994.
chen Umstand zu erinnern, dass die Kritik an Schmitt, Carl: Die Verfassungslehre. München 1928.
diskriminierenden Kriegen von einem unhaltbar vi- William Scheuerman (Übers. Michael Adrian)
talistischen und existentialistischen ›Begriff des Po-
litischen‹ lebt. Schmitt und all jene, die sich heute
von ihm beeinflussen lassen, übersähen bequemer-
weise auch, dass die internationalen Beziehungen
einem ambitionierten Prozess der Verrechtlichung
unterliegen: Angesichts der voranschreitenden Ver-
rechtlichung der zwischenstaatlichen Angelegenhei-
ten seien Schmitts Ängste vor einer ›Moralisierung‹
des Kriegs so irreführend wie überzogen. Ehrgeizi-
ger noch ist Habermas’ Allianz mit der von Schmitt
am meisten gefürchteten Nemesis in der internatio-
nalen politischen Theorie: Eifrig reformuliert Ha-
bermas derzeit Immanuel Kants kosmopolitische
Vision einer Konstitutionalisierung des Völkerrechts
ohne Weltstaat. Mit großem Scharfsinn verteidigt er
ein friedfertiges und zugleich nichtstaatliches kos-
mopolitisches globales Regieren – mit anderen Wor-
ten: Carl Schmitts schlimmsten Alptraum (GW, 187–
93).

Literatur
Abendroth, Wolfgang: Antagonistische Gesellschaft und po-
litische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie.
Neuwied 1967.
Balzer, Friedrich-Martin/Bock, Hans Manfred/Schöler, Uli
(Hg.): Wolfgang Abendroth. Wissenschaftlicher Politiker.
Bio-bibliographische Beiträge. Opladen 2001.
Dews, Peter (Hg.): Habermas: Autonomy and Solidarity –
Interviews with Jürgen Habermas. London 1986.
Dietrich, Barbara/Perels, Joachim (Hg.): Wolfgang Abend-
roth. Ein Leben in der Arbeiterbewegung. Gespräche.
Frankfurt a. M. 1976.
Habermas, Jürgen: »Partisanenprofessor im Lande der Mit-
läufer. Der Marburger Ordinarius Wolfgang Abendroth
wird am 2. Mai sechzig Jahre alt«. In: Die Zeit, 29. April
1966 (wieder abgedruckt unter dem Titel »Der Partisa-
nenprofessor« in: PPP, erw. Ausg. von 1981, Frankfurt
a. M. 21991, 249–252).
–: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu ei-
ner Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied
5
1971.
–: »Die Schrecken der Autonomie«. In: Ders.: Eine Art
Schadensabwicklung. Frankfurt a. M. 1987, 103–114.
–: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu ei-
ner Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft [1962]. Neu-
ausgabe mit einem neuem Vorwort. Frankfurt a. M.
1990.
26 II. Kontexte

4. Pragmatizismus fortzusetzen und auf dem Niveau des linguistic turn


und des sinnkritischen Realismus von Peirce zu er-
neuern.
Der philosophische Denkweg von Jürgen Habermas Die philosophischen Konsequenzen »des« Prag-
ist ohne die kritisch-konstruktiven Wechselwirkun- matismus bei Apel und Habermas fallen also ganz
gen mit dem von Karl-Otto Apel in wichtigen Wei- unterschiedlich aus. Bezogen auf die Frage nach ei-
chenstellungen wohl kaum zu verstehen und seine nem charakteristischen, eine philosophische Argu-
philosophische Selektivität wäre ohne die theorie- mentationsebene eigenen Rechts auszeichnenden
architektonischen Alternativen, die Apel eröffnet, Begründungsgedanken kann man zugespitzt sagen:
philosophisch gar nicht richtig zu bewerten. Apel Eine Letztbegründung philosophisch tragender Ge-
und Habermas verbindet eine lebenslange kollegiale danken ist für Apel möglich und philosophisch un-
Freundschaft, die in der gemeinsamen Studienerfah- erlässlich, für Habermas weder möglich noch nötig.
rung im Bonn der frühen 1950er gründete und sich Diese Grunddifferenz hat Apel in den letzten Jahren
erhalten hat in der philosophisch befreienden Erfah- mehrfach motiviert, in philosophischen Interventio-
rung des amerikanischen Pragmatismus, zu dessen nen ›mit Habermas gegen Habermas zu denken‹. Im
ersten intellektuellen Dolmetschern innerhalb der Folgenden werden die wichtigsten Vorbehalte Apels
deutschsprachigen Philosophie Apel (1967; 1970) gegen das universalpragmatische Denken beschrie-
zählt. Es ist sicher eine Vereinfachung, aber wohl ben, die auf die Grunddifferenz zurückgehen. Wie
keine falsche, wenn man die seit Mitte der 1980er Habermas sie verarbeitet, kann aus Platzgründen
wachsenden (Apel 1988, 103–153) und inzwischen hier nicht mehr dargestellt werden (vgl. Habermas
tiefen (Apel 1998, 24–27, 649–838) philosophischen 2002).
Positionsdifferenzen zwischen Apel und Habermas Wie lässt sich in aller Kürze bestimmen, was mit
mit den Divergenzen zwischen den beiden Haupt- der bei postmoderner Beleuchtung (und gewiss
richtungen des amerikanischen Pragmatismus ver- nicht nur hier) ominös wirkenden Formel von der
gleicht, die wir heute einerseits Peirce, andererseits ›philosophischen Letztbegründung‹ gemeint ist? Die
Dewey zuordnen. Was Peirce mit Kant und beide für die Transzendentalpragmatik zentrale (Kuhl-
mit Apel philosophisch am tiefsten verbindet, ist die mann 1993; Böhler 2002) Idee reflexiver Letztbe-
Überzeugung vom Wert regulativer Ideen für die gründung entspringt der Einsicht, dass die für den
Konstruktion einer sinnkritischen, postmetaphy- Sinn jeglichen Infragestellens notwendigen gedank-
sisch denkenden Philosophie und das Insistieren auf lichen Voraussetzungen ihrerseits nicht sinnvoll in-
einem geltungslogisch eigenständigen, von Erkennt- frage gestellt werden können, falls es solche Voraus-
nisfortschritten empirisch forschender Wissenschaf- setzungen gibt. Die Einsicht ergibt sich im rationa-
ten nicht revidierbaren Ebene philosophischer Ar- len Selbstverständnis von Personen, die aktuell
gumentation. Einschlägig, um Apels Position der Argumentationshandlungen vollziehen und sich ak-
›transzendentalen Sprachpragmatik‹ (ebd., 9–32) zu tualiter darauf besinnen, wie sie sich selbst und be-
charakterisieren, sind hier die Stichworte der Letzt- liebige andere in größter Allgemeinheit als Subjekte
begründung und des dialektischen, auf eine ideale (bzw. ›Intersubjekte‹, vgl. Niquet 1999) denken müs-
wie auf jede reale Kommunikationsgemeinschaft be- sen, um sich selbst und beliebige andere als aktuelle
zogenen Diskursapriori (ebd., 598–607). Was Dewey oder potentielle »Diskursteilnehmer« denken zu
mit Rorty und mit Habermas philosophisch verbin- können. Als Diskursteilnehmer können wir Argu-
det – und von Apel am tiefsten unterscheidet – ist mentationshandlungen vollziehen, mit deren Hilfe
das Bemühen um eine Transformation der Philoso- wir die Ansprüche auf Allgemeingültigkeit, die wir
phie durch konsequente Detranszendentalisierung mit Behauptungen jedweder Art verbinden, an den
und eine Vorstellung von Kontinuität im Verhältnis Gründen jedweder Art prüfen, die wir zur Kritik
von Philosophie und empirischen Kultur- und Sozi- oder Begründung der Ansprüche vorbringen kön-
alwissenschaften im Horizont eines rekonstruktiven nen. Kants Konsistenzforderung der ›Selbsteinstim-
Naturalismus. Hingegen ist Apels Transformation migkeit der Vernunft‹ operationalisiert Apel als ei-
der Philosophie (1973) geprägt von dem Versuch, die nen Test der Vermeidung performativer Selbstwi-
für transzendentalphilosophische Argumente seit dersprüchlichkeit beim Versuch der Bestreitung
Kant charakteristische Denkfigur der reflexiven Auf- solcher Präsuppositionen.
deckung ›notwendiger Bedingungen der Möglich- Dass es gedanklich-begriffliche Präsuppositionen
keit‹ von rationalen Vermögen und Operationen des Argumentierens gibt, die im und durch Argu-
4. Pragmatizismus 27

mentieren nicht hintergehbar sind, weil andernfalls facto unterlaufen –, oder falsch – denn, als skepti-
der Sprecher in dem, was er tut, dem Sinn dessen wi- sches Argument vorgebracht, ist jede Abstandnahme
derspricht, was er behaupten will (zum ›performati- ihrerseits bereits ein Moment von Diskursivität und
ven Selbstwiderspruch‹ vgl. Kettner 1993), nimmt unterliegt den Diskurspräsuppositionen.
Habermas ebenso an wie Apel – seit ihrer Rezeption Für die Ausklammerung der Letztbegründungs-
der Sprechakttheorie und seit Habermas’ philoso- problematik aus dem Rechtfertigungszusammen-
phischer Entdeckung der performativ-propositiona- hang kritischer Gesellschaftstheorie zahlt Habermas
len Doppelstruktur der menschlichen Rede. Aber den – wie Apel meint: vermeidbaren und jedenfalls
für Apel, nicht für Habermas, liegt im Gefüge der ra- zu hohen – Preis, dass er quasi hegelianisch die le-
tionaliter nicht anders möglichen (d. h. nicht kontin- bensweltliche Sittlichkeit in die Rolle der maßgebli-
genten) Präsuppositionen diskursiven Argumentie- chen Quelle moralischer Normativität erheben,
rens nicht nur (1) der letzte rationale Maßstab aller damit aber nolens volens ihre innere Zerrissenheit,
Moralurteile der normativen Ethik, sondern auch Zurückgebliebenheit und Konventionalität harmo-
der (2) letzte rationale Maßstab für alle Objektivität nistisch verklären muss. An Habermas’ lebens-
reklamierenden (Raz 1999) Behauptungen der theo- weltkonservativer Pose nachgeahmter Wittgenstei-
retischen Philosophie (z. B. der Bedeutungstheorie, nialität, zugespitzt im Diktum, ›die moralischen
der Ontologie, der Philosophie des Geistes). Alltagsintuitionen bedürfen der Aufklärung der Phi-
Punkt 1 hat Konsequenzen für die Diskursethik losophen nicht‹, diagnostiziert Apel eine Selbstver-
und überhaupt für die normative Begründung kriti- leugnung der Kritischen Theorie.
scher Gesellschaftstheorie (Kettner 1996), Punkt 2 Ein zweites, dem Versuch der Vermeidung des
für die philosophische Vernunfttheorie, z. B. in der diskursreflexiven Letztbegründungsansatzes ge-
radikalen Kritik an rational-eliminativen reduktio- schuldetes Problemsyndrom betrifft die in der Theo-
nistischen Theorieprogrammen, die die Konsistenz- rie des kommunikativen Handelns systemrelevante
forderung der »Selbsteinholbarkeit« (Apel 1994b; Behauptung, der verständigungsorientierte Sprach-
Hellesnes 2007) ignorieren. gebrauch müsse in verschiedenen Hinsichten als pri-
Apels Diagnose zufolge kann Habermas strikt re- mär, erfolgsorientierter (z. B. strategischer) Sprach-
flexive Letztbegründungsargumente nur um den gebrauch hingegen könne nur als parasitär begriffen
Preis von Inkonsistenzen vermeiden. Die Theorie werden. Apel zufolge gelingt der Nachweis mit den
des kommunikativen Handelns kann einen morali- soziologischen Bordmitteln der Theorie des kommu-
schen Rationalisierungsprozess zwar beschreiben, nikativen Handelns nur oberflächlich und scheitert
aber ihr Fortschrittskriterium, die postkonventio- am Problem des offen strategischen Sprachge-
nelle Moralität der Diskursethik, als ein solches brauchs, der nicht mehr im Abhängigkeitsverhältnis
nicht rechtfertigen (Apel 1998a, bes. 680–693). Da- der Vortäuschung zum verständigungsorientierten
mit, so Apel gegen Habermas, wird der Anspruch Sprachgebrauch steht. Der Nachweis auch von des-
der Kritischen Theorie, ohne geschichtsphilosophi- sen parasitärem Status lässt sich nur unter einer Hin-
sche Erblasten gleichwohl ein empirisch gehaltvol- sicht führen, die mit den Theoriemitteln der Univer-
les, aber nicht wertneutrales Verstehen der mensch- salpragmatik nicht konstruiert werden kann, näm-
lichen Kulturevolution transdisziplinär zustande zu lich der Hinsicht einer philosophischen Theorie von
bringen, zu einem bloß auf der internen Negation Rationalitätstypen, die untereinander in Vorausset-
des Gegebenen ansetzenden kritischen Projekt un- zungs- und Stützungsverhältnissen stehen, welche
ter anderen ähnlichen Projekten immanenter Kri- ihrerseits innerhalb dieser Theorie expliziert und
tik. Alternativ und besser wäre der Anspruch der begründet, d. h. nach ihrem relativen Recht einsich-
Kritischen Theorie im Rahmen einer robust letztbe- tig gemacht werden können. Der Aufbau einer sol-
gründbaren Verantwortungsethik der Emanzipation chen Theorie muss die Reflexionsschraube eine Dre-
zu situieren. Habermas’ Vorbehalt, die diskursrefle- hung weiter drehen, als nicht- und quasi-transzen-
xive Letztbegründung kritisch relevanter normati- dentale Theorien es können. Denn durch strikte
ver Maßstäbe (wie die konsensualistische Gerech- Reflexion muss, und nur so kann, diejenige Rationa-
tigkeitskonzeption in der Habermas’schen Version lität ausgewiesen werden, die von einer philosophi-
von Diskursethik, vgl. ED) könne von Skeptikern, schen Rationalitätstheorie selbst vorausgesetzt und
Nihilisten und allemal von Argumentationsverwei- in Anspruch genommen werden muss. Apel meint,
gerern unterlaufen werden, ist irrelevant – denn die durch und nur durch Reflexion auf das diskursim-
Bezeichneten können jede Art von Begründung de manente Voraussetzungsverhältnis lasse sich die pa-
28 II. Kontexte

rasitäre Abhängigkeit des rein strategischen Verhan- Reflexion auf die teils entgegenkommenden (z. B. die
delns von der Kommunikation im emphatischen, die Menschenrechtskultur), teils widerständigen (z. B.
Konsenssuche über Geltungsansprüche einschlie- Systemzwänge des Wirtschaftssystems) Realisie-
ßenden Sinn tatsächlich erweisen (Apel 1998b, 701– rungsbedingungen der diskursethischen Grund-
726, bes. 723 f.; 1994a). norm in der aktuellen Welt (vgl. bes. Apel 2001).
Habermas’ Diskurstheorie von Demokratie und Dieser begründungstheoretisch gewiss hochge-
Recht (FG) gilt eine dritte Gruppe von Vorbehalten spannte Rahmen gestattet Apel einige sehr realisti-
(Apel 1998c, 727–838, bes. 738). Soll die normative sche Einwände auch gegen Habermas’ Engführung
Ausdifferenzierung in universalistische Gerechtig- und tendenzielle Gleichsetzung von Rechtsprinzip
keitsmoral, in die Ethik des für Individuen oder für und Demokratieprinzip, darunter den folgenden:
Gruppen guten Lebens und in demokratisch gesetz- Vom Demokratieprinzip schlechthin nicht abzulö-
tes positives Recht nicht nur geschichtlich beschrie- sen ist seine historische Kontingenz und der Um-
ben und erklärt werden, sondern diese Ausdifferen- stand, dass Volkssouveränität in der heutigen Welt in
zierung und die verschiedenartigen normativen Dis- einer Vielheit von partikularen, im Medium politi-
kurse und Öffentlichkeiten bis hin zum Modell eines scher Macht operierenden Selbstbehauptungssyste-
deliberativ-demokratischen Rechtstaats, die im sel- men ausgelegt ist, unerachtet des Prozeduralismus
ben Zuge mit ausdifferenziert werden, als ein Ratio- der Konsensbildung gleicher und freier Bürger in
nalisierungsfortschritt innerhalb normativer Felder vielen dieser Systeme, und so auch partikular ausge-
rekonstruiert und gerechtfertigt werden, dann sind legt wird, solange die Institutionalisierung einer
Begründungsleistungen nötig, die nur im Rekurs auf weltbürgerlichen Rechtsordnung Utopie bleibt. Im
ein moralisch-normativ gehaltvolles und rational de- Unterschied ist das Rechtsprinzip nicht nur univer-
finitiv ausweisbares Diskursprinzip erbracht werden salistisch, sondern von Haus aus auch auf Globalität
können. Das Diskursprinzip aber, das Habermas in angelegt, wenn man sein diskursives Design von den
Faktizität und Geltung einführt (vgl. FG, 138: »Gültig Menschenrechten her denkt (Apel 1998c, 820 f.).
sind genau die Handlungsnormen, denen alle mögli- Menschenrechte begreift Apel, anders als Habermas,
cherweise Betroffenen als Teilnehmer an rationalen als eine polynormative Universalie zwischen positi-
Diskursen zustimmen könnten«), sei – weil sein vem Recht und universalistischer Moral. Das Dis-
dünner normativer Gehalt, reine Unparteilichkeit, kursprinzip wiederum, das Apel meint, bleibt un-
gegenüber der normativen Differenz von Moral und geachtet seiner Affinität zu Demokratie- und
Recht, wie Habermas sagt, »neutral« sein soll – ohne Rechtsprinzip von beiden wohl unterschieden, weil
bestimmten moralisch-normativen Gehalt. Einmal es nicht nur auf diesen Ebenen, sondern auch noch
ausgelagert, kann dieser Gehalt auch nicht ohne peti- auf einer anderen, tieferen Ebene des begründenden
tio principii später noch eingeführt werden. Der Ver- Denkens operiert.
zweigungsarchitektonik, die Habermas in Faktizität
und Geltung aufbaut, fehlt ihr höchster moralisch-
Literatur
normativer Schlussstein und sie ist deshalb begrün-
dungstheoretisch einsturzgefährdet (Apel 1998c, Apel, Karl-Otto (Hg.): Charles Sanders Peirce, Schriften, Bd.
735–742; Kettner 2002). I: Zur Entstehung des Pragmatismus. Frankfurt a. M.
1967.
Apels Alternative (Apel 1998c, 759–837; vgl. be-
–: Charles Sanders Peirce, Schriften, Bd. II: Vom Pragmatis-
reits Apel 1988) ist der große Theorierahmen einer mus zum Pragmatizismus. Frankfurt a. M. 1970.
›geschichtsbezogenen Verantwortungsethik‹, deren –: Transformation der Philosophie. 2 Bde. Frankfurt a. M.
moralisch-normative Grundnorm – die »Forderung 1973 (Bd. I: Sprachanalytik, Semiotik, Hermeneutik; Bd.
der Lösung aller moralisch relevanten Interessen- II: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft).
konflikte durch praktische Diskurse über Geltungs- –: Diskurs und Verantwortung. Das Problem des Übergangs
zur postkonventionellen Moral. Frankfurt a. M. 1988.
ansprüche unter Ausschaltung strategischer Gewalt- –: »Ist die transzendentalpragmatische Konzeption der
praktiken« (Apel 1998c, 754) – sich den Argumenta- Diskursrationalität eine Unterbestimmung der Ver-
tionspräsuppositionen entnehmen und diskursrefle- nunft?«. In: Petra Kolmer/Harald Korten (Hg.): Grenz-
xiv letztbegründen lässt. Nicht als eine jenseitige bestimmungen der Vernunft. Freiburg 1994a, 77–102.
Utopie, sondern als eine regulative Idee steht diese –: »Die hermeneutische Dimension von Sozialwissenschaft
und ihre normative Grundlage«. In: Karl-Otto Apel/
Grundnorm in einer kritischen moralischen Span- Matthias Kettner (Hg.): Mythos Wertfreiheit? Neue Bei-
nung zum Gegebenen. Was Apel architektonisch den träge zur Objektivität in den Human- und Kulturwissen-
»Teil B der Diskursethik« nennt, ist die notwendige schaften. Frankfurt a. M. 1994b, 49–76.
5. Hermeneutik und linguistic turn 29

–: Auseinandersetzungen in Erprobung des transzendental-


pragmatischen Ansatzes. Frankfurt a. M. 1998.
5. Hermeneutik
–: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch und linguistic turn
Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?«. In: Apel 1998,
649–700 (Apel 1998a).
–: »Das Problem des offen strategischen Sprachgebrauchs Habermas bezeichnet seine Aneignung der Herme-
in transzendentalpragmatischer Sicht«. In: Apel 1998, neutik in den 1960er Jahren im Vorwort zur zweiten
701–726 (Apel 1998b). Auflage von Zur Logik der Sozialwissenschaften als
–: »Auflösung der Diskursethik? Zur Architektonik der einen der entscheidenden Einflüsse auf seine Trans-
Diskursdifferenzierung in Habermas’ Faktizität und Gel-
tung«. In: Apel 1998, 727–838 (Apel 1998c). formation der Kritischen Theorie von einer subjekt-
–: The Response of Discourse Ethics. Leuven 2001. philosophischen in eine kommunikationstheore-
Böhler, Dietrich: »Dialogreflexive Sinnkritik als Kernstück tisch fundierte Theorie, die schließlich in seinem
der Transzendentalpragmatik«. In: Ders./Matthias Kett- Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns
ner/Gunnar Skirbekk (Hg.): Reflexion und Verantwor- (1981) ihren vorläufigen Abschluss findet. Als zwei-
tung. Auseinandersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frank-
furt a. M. 2002, 15–43. ten Haupteinfluss auf diese Transformation erwähnt
Habermas, Jürgen: »Zur Architektonik der Diskursdiffe- Habermas seine Aneignung der analytischen Philo-
renzierung. Kleine Replik auf eine große Auseinander- sophie (s. Kap. II.6, III.5). Allerdings bedarf es für
setzung«. In: Dietrich Böhler/Matthias Kettner/Gunnar die Erläuterung der Verbindungen zwischen der
Skirbekk (Hg.): Reflexion und Verantwortung. Auseinan- Hermeneutik und Habermas’ sprachphilosophischer
dersetzungen mit Karl-Otto Apel. Frankfurt a. M. 2002,
44–64. Wendung der Kritischen Theorie zunächst einer ein-
Hellesnes, Jon: »Das Selbsteinholungsprinzip und seine gehenderen Betrachtung der etwas delikaten Frage
Feinde«. In: Michele Borrelli/Matthias Kettner (Hg.): Fi- nach der Rolle von Heideggers Philosophie in dieser
losofia trascendentalpragmatica – Transzendentalprag- Entwicklung.
matische Philosophie. Cosenza 2007, 225–234. Die vermutlich bekannteste biographische Tatsa-
Kettner, Matthias: »Ansatz zu einer Taxonomie performati-
ver Selbstwidersprüche«. In: Andreas Dorschel et al.
che zu Habermas’ ›gebrochener‹ Beziehung zu Hei-
(Hg.): Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M. 1993, degger ist wohl seine Veröffentlichung des Artikels
187–211. »Mit Heidegger gegen Heidegger denken: Zur Veröf-
–: »Karl-Otto Apel’s Contribution to Critical Theory«. In: fentlichung von Vorlesungen aus dem Jahre 1935«
David M. Rasmussen (Hg.): Handbook of Critical The- (PPP, 65–71) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung
ory. Oxford 1996, 258–286.
–: »The Disappearance of Discourse Ethics in Habermas’
1953. In diesem Artikel kritisiert Habermas Hei-
Between Facts and Norms«. In: Rene von Schomberg/ degger für die Entscheidung, seine Vorlesungen von
Kenneth Baynes (Hg.): Discourse and Democracy. Essays 1935, in denen er von der »inneren Wahrheit und
on Habermas’s Between Facts and Norms. Albany/New Größe« der Nazi-Bewegung schreibt, ohne jeden er-
York 2002, 201–218. läuternden Kommentar, ohne jeden Ausdruck des
Kuhlmann, Wolfgang: »Bemerkungen zum Problem der
Bedauerns oder gar der Entschuldigung für seine
Letztbegründung«. In: Andreas Dorschel et al. (Hg.):
Transzendentalpragmatik. Frankfurt a. M. 1993, 221– Verwicklung in das Naziregime wiederzuveröffentli-
237. chen. Über diesen gegen die Person Heidegger
Niquet, Marcel: Nichthintergehbarkeit und Diskurs. Prolego- gerichteten Vorwurf hinaus geht es Habermas aber
mena zu einer Diskurstheorie des Transzendentalen. Ber- auch um die schwierige Frage der internen Bezie-
lin 1999.
hung zwischen Heideggers moralischem Scheitern
Raz, Joseph: »Notes on Value and Objectivity«. In: Ders.:
Engaging Reason. Oxford 1999, 118–160. als Person und der Struktur seiner Philosophie. Die-
Matthias Kettner ser Frage hat sich Habermas in verschiedenen Auf-
sätzen seit 1970 auf jeweils unterschiedliche Weise
genähert (PPP, 65–81; DM, 158–90; TK, 49–83). Eine
konstante Größe innerhalb dieser Auseinanderset-
zungen stellt die Ansicht dar, dass der eigentümliche
Weg Heideggers zu seiner berühmten Kehre besser
durch die externen Umstände von Heideggers politi-
scher Verstrickung in das Naziregime zu erklären sei
als mit den philosophischen Erfordernissen der in-
neren Weiterentwicklung von Heideggers ursprüng-
lich in Sein und Zeit entworfenem philosophischen
Programm. Diese Diagnose liegt Habermas’ äußerst
30 II. Kontexte

kritischer Einstellung gegenüber Heideggers Spät- zung in Heideggers hermeneutischer Transforma-


werk zugrunde, macht diese aber zugleich mit einer tion der Phänomenologie in Sein und Zeit und dies
anderen Konstante in seinem Verhältnis zu Hei- stellt ebenso die Leitidee von Habermas’ Umstellung
degger vereinbar, nämlich seiner Auffassung, dass kritischer Theorie auf Kommunikationstheorie in
Sein und Zeit »das bedeutendste philosophische Er- der Theorie des kommunikativen Handelns dar.
eignis seit Hegels ›Phänomenologie‹« (PPP, 65) sei. Zur Überwindung des für die traditionelle Philo-
Auch wenn Habermas’ kritische Studien zu Heideg- sophie charakteristischen S-O-Modells verallgemei-
ger es einem nicht immer leicht machen, zu verste- nert Heidegger in Sein und Zeit die Methode der tra-
hen, aus welchen Gründen er Sein und Zeit eigent- ditionellen Hermeneutik von einem Instrument für
lich eine so hohe Wertschätzung zukommen lässt, ist die Interpretation (hauptsächlich heiliger oder recht-
es dennoch klar, dass seine selbstgestellte Aufgabe licher) autoritativer Texte zu einer Verstehensweise
»mit Heidegger gegen Heidegger [zu] denken« ohne von Menschen als solchen. Infolgedessen konnte die
diese Wertschätzung keinerlei Sinn ergäbe. Denn in Hermeneutik eine radikal neue Auffassung von der
diesem Fall wäre es ja angemessener, statt mit, ein- Besonderheit des Menschen ausbilden: Mensch zu
fach nur gegen Heidegger zu denken, oder seine Phi- sein, besteht nicht mehr in erster Linie darin, ein
losophie schlicht rechts liegen zu lassen. vernünftiges Wesen, sondern darin, ein selbstinter-
Natürlich ließe sich die gerade angesprochene pretierendes Wesen zu sein, wie Charles Taylor es
selbstgestellte Aufgabe zunächst auch rein historisch treffend ausdrückt (vgl. Taylor 1985). Und gerade
verstehen. Einerseits hatte Heideggers Hauptwerk weil der Mensch aus nichts weiter als aus Interpreta-
bereits in den 50er Jahren innerhalb und außerhalb tionen aufgebaut ist, wird die Aktivität der Interpre-
Deutschlands unbestreitbar an Einfluss gewonnen, tation eines bedeutungsvollen Textes zum angemes-
was sich im weiteren Verlauf nur noch verstärken sensten Modell für das Verständnis jeglicher
sollte. Darüber hinaus ist der Einfluss von Sein und menschlicher Erfahrung. Dieser Perspektivenum-
Zeit auf Habermas’ eigene philosophische Entwick- schwung bedeutet einen tiefen Einschnitt gegenüber
lung ebenso unübersehbar. Wie Habermas selbst traditionellen philosophischen Auffassungen, die
mehrfach bemerkt, war er bis 1953 »durch und zumeist entgegengesetzt unter der Annahme arbei-
durch Heideggerianer« (vgl. Dews 1986, 194). Ein ten, dass sich menschliche Erfahrung am besten
flüchtiger Blick auf Habermas’ Dissertation über nach dem Modell der Wahrnehmung physischer Ge-
Schelling reicht zur Bestätigung dieser Selbstein- genstände rekonstruieren lässt. Heidegger hält die-
schätzung aus. Doch über diese lediglich histori- sen Ansätzen zweierlei entgegen. Erstens vermittele
schen und biographischen Details hinaus ist die sys- traditionelle Philosophie dadurch ein völlig verzerr-
tematische Frage der Natur und Reichweite der Ver- tes Bild menschlicher Identität, dass sie menschliche
bindungen zwischen Heideggers und Habermas’ Erfahrung in Kategorien darzustellen versuche, die
jeweiligen philosophischen Auffassungen wesentlich einem menschlichen Wesen gänzlich fremden Ge-
interessanter. Im Ausgang von Habermas’ selbstge- genstandsbereich (nämlich dem physischer Gegen-
stellter Aufgabe möchte ich daher im Folgenden zu- stände) entstammen. Um diesen Einwand zu unter-
nächst auf die meiner Ansicht nach wichtigsten mauern, entwirft Heidegger ein alternatives herme-
Überschneidungen beider Werke hinweisen. Ist erst neutisches Modell des Menschen, als eines primär
einmal geklärt, inwieweit Habermas ›mit Heidegger‹ selbstinterpretierenden Wesens. Zweitens bringe das
denkt, wird sich dann auch schärfer fassen lassen, S-O-Modell, indem es sich an der Wahrnehmung als
inwieweit und in welche Richtung sein Denken ›ge- eines privaten Erlebnisses isolierter Subjekte orien-
gen Heidegger‹ geht. tiere, einen methodologischen Individualismus
Betrachtet man Heideggers und Habermas’ An- (oder gar Solipsismus) mit sich, der ein ebenso ver-
sätze im Zusammenhang derjenigen philosophi- zerrtes Bild menschlicher Erfahrung forciere (und
schen Auffassungen, zu deren Weiterführung und damit nichts als philosophische Scheinprobleme
Transformation sie jeweils angetreten sind, besteht provoziere, wie beispielsweise den Bedarf nach Be-
die wesentliche Gemeinsamkeit beider in dem Ver- weisen der Existenz der Außenwelt). Zur Verteidi-
such der Entfaltung einer Perspektive jenseits des Pa- gung dieser Position liefert Heidegger einen alterna-
radigmas mentalistischer Philosophie (d. h. dessen, tiven, hermeneutischen Ansatz unserer Erfahrung,
was Heidegger das Subjekt-Objekt-Modell [S-O-Mo- der es ermöglicht, den Menschen als ein Wesen zu
dell] und Habermas das bewusstseinsphilosophische verstehen, das eine symbolisch strukturierte Welt
Paradigma nennt). Das ist die ausdrückliche Zielset- bewohnt, in der alles, dem es begegnet, bereits als et-
5. Hermeneutik und linguistic turn 31

was vorverstanden ist. Nach dem Vollzug einer sol- tik die methodologische Unmöglichkeit einer sol-
chen hermeneutischen Wende stellt sich die Welt chen Perspektive ohne Verlust des Objekts selbst
nicht mehr als Gesamtheit von Gegenständen dar, (Sprache als bedeutungstragende und -erzeugende
sondern als ein Verweisungszusammenhang von Be- menschliche Aktivität) einsieht. Habermas führt dies
deutsamkeit, der das Selbstverständnis des Daseins später in dem Aufsatz »Zum Universalitätsanspruch
ebenso sehr strukturiert wie das Verständnis all des- der Hermeneutik« so aus:
sen, was ihm in der Welt begegnen kann (Lafont »Nun hat uns die Hermeneutik darüber belehrt, daß wir,
2000, 2005). Die Grundzüge dieses hermeneutischen solange wir uns in einer natürlichen Sprache bewegen, stets
Modells einer sprachlich artikulierten, intersubjektiv beteiligt sind und hinter die Rolle des reflektierten Mitspie-
lers nicht zurücktreten können« (LSW, 344).
geteilten und gegenseitiges Verstehen ermöglichen-
den Lebenswelt arbeitete Gadamer in Wahrheit und Gleichzeitig ist sich Habermas allerdings auch sehr
Methode wesentlich ausführlicher aus, indem er das wohl der Schwierigkeiten bewusst, die diese Einsicht
vollzieht, was Habermas treffend als »die Urbanisie- für jeglichen Versuch mit sich bringt, die interne
rung der Heideggerschen Provinz« (PPP, 392 f.) be- Perspektive eines Teilnehmers an einer sprachlich
zeichnet hat. erschlossenen Lebenswelt mit der externen Perspek-
Habermas’ Übernahme entscheidender Einsich- tive des Gesellschaftskritikers in Einklang zu brin-
ten aus der hermeneutischen Konzeption der Le- gen, die das Vorhaben einer Kritischen Theorie er-
benswelt spielt für seinen eigenen Bruch mit dem fordert. Genau hierin liegt der Hauptangriffspunkt
bewusstseinsphilosophischen Paradigma eine ent- für Habermas’ Kritik an dem diesen Aufsatz moti-
scheidende Rolle. Die Auswirkungen dieses Paradig- vierenden Universalitätsanspruch der Hermeneutik.
mas hält er für den einschneidendsten Mangel der In dieser methodologischen Auseinandersetzung
Arbeiten der ersten Generation Kritischer Theoreti- werden zwei durchaus zu unterscheidende Problem-
ker. Wie er in einem Interview mit Peter Dews er- stränge sichtbar, die Habermas bereits in diesem frü-
klärt, blieb im theoretischen System der ersten Ge- hen Aufsatz identifiziert und in den folgenden Jahr-
neration Kritischer Theorie »[…] no room for ideas zehnten kontinuierlich ausarbeitet. Der erste ist de-
of the life-world or of life-forms […]. So they were skriptiver, der zweite normativer Natur.
not prompted to look into the no-man’s-land of eve- Auf der deskriptiven Ebene muss die Hermeneu-
ryday life« (Dews 1986, 196). Folglich unterblieb in tik unweigerlich relativ schnell an die Grenze ihrer
diesen Arbeiten auch eine detaillierte Auseinander- Erklärungsfähigkeit stoßen, weil Sprechern in der
setzung mit dem Phänomen sprachlicher Kommu- Situation der Teilnahme an einer geteilten Lebens-
nikation als dem Reproduktionsmechanismus le- welt der gleichzeitige Zugriff auf jene Art externen
bensweltlicher Strukturen. Habermas machte schon empirischen Wissens verstellt ist, das die rekon-
1967 in seinem Aufsatz »Zur Logik der Sozialwis- struktiven Wissenschaften bereitstellen. Wie Haber-
senschaften« ausdrücklich auf die Überlegenheit der mas bemerkt, klärt hermeneutische Selbstreflexion
hermeneutischen Sprachkonzeption gegenüber der »Erfahrungen auf, die dem sprechenden Subjekt im
aus Husserl’scher Perspektive ausgearbeiteten Phä- Gebrauch seiner kommunikativen Kompetenz wi-
nomenologie der Lebenswelt von Alfred Schütz, aber derfahren, aber sie kann diese Kompetenz nicht er-
auch gegenüber der »positivistischen Sprachanalyse« klären« (LSW, 337). Dieses Erklärungsdefizit macht
aufmerksam, die er zu dieser Zeit im Werk Wittgen- sich jedoch nicht allein im Hinblick auf die rekon-
steins (früh und spät) personifiziert sah. Während er struktiven Wissenschaften wie Linguistik und Ent-
letzteren eine Auffassung von Sprache als reinem wicklungspsychologie bemerkbar, die Habermas in
Kommunikationsinstrument zuschreibt, erkennt er diesem Aufsatz diskutiert. Es tritt auch mit Bezug
in der hermeneutischen Auffassung die Ausarbei- auf die meisten von den empirischen Wissenschaf-
tung einer konstitutiven, welterschließenden Di- ten (inklusive den Sozialwissenschaften) erarbeite-
mension des Sprachgebrauchs. Habermas zufolge ten Kausalerklärungen zutage. Wie Habermas in der
liegt der methodologische Hauptunterschied zwi- Theorie des kommunikativen Handelns im Detail
schen jenen Konzeptionen und der hermeneuti- darlegt, bleiben im Rahmen der bloßen Teilnehmer-
schen Konzeption darin, dass der Husserl’sche wie perspektive insbesondere jene systemischen Mecha-
auch der positivistische Ansatz von der Möglichkeit nismen verborgen, die von außen in die Lebenswelt
der Einnahme einer Außenperspektive ausgeht, von durchgreifen. Die adäquate Erfassung solcher Me-
der aus sich die Sprache objektivieren (d. h. als Ana- chanismen verlangt vom Sozialwissenschaftler die
lyseobjekt zurichten) lässt, während die Hermeneu- Einnahme einer externen Perspektive, wie sie
32 II. Kontexte

beispielsweise in der im weiteren Sinne funktionalis- gemaßten Anspruchs auf ein Wissensmonopol oder
tischen Tradition von Autoren wie Marx, Parsons einen privilegierten Zugang zur Wahrheit anderen
oder Luhmann übernommen wird. Unter diesem aufzuoktroyieren. Der Kritische Theoretiker ver-
Gesichtspunkt spiegeln sich in Habermas’ Kritik an komme damit unweigerlich zu einem verkappten
der Blindheit der Hermeneutik gegenüber den mate- »Sozialtechnokraten« (Gadamer 1971, 274 f.). In ei-
riellen (gesellschaftlichen und wirtschaftlichen) Um- ner solchen Kritischen Theorie falle das vorgeblich
ständen lebensweltlicher Reproduktionsmechanis- emanzipatorische Interesse des Kritischen Theoreti-
men die Hauptargumente wider, die die Mitglieder kers letztlich einfach mit dem Interesse eines ›Sozial-
der ersten Generation Kritischer Theorie, und be- ingenieurs‹ in eins, der vorschreibt, ohne zuzuhören.
sonders Marcuse, bereits in den 30er Jahren gegen In scharfem Gegensatz dazu dürfe sich, so Gadamer,
Heideggers Ansatz geltend gemacht hatten (McCar- eine auf dem verständigungsorientierten Dialog fu-
thy 1991, 83–96). Selbstverständlich ist es eines, die ßende hermeneutische Sichtweise von Gesprächs-
Notwendigkeit der Integration der funktionalisti- teilnehmern nicht einfach selbst eine überlegene
schen und hermeneutischen Perspektiven zu er- Einsicht in den ›Selbstbetrug‹ anderer zuschreiben,
kennen, jedoch etwas wesentlich anderes und An- die von der Forderung nach Bestätigung dieser An-
spruchsvolleres, dann auch tatsächlich eine stim- sichten durch ein Gespräch mit diesen Teilnehmern
mige Darstellung für eine zugleich durch selbst- selbst befreit wäre. So besehen stellt die dem herme-
genügsame Systeme und durch die Lebenswelt neutischen Ansatz eigene normative Selbstbeschrän-
strukturierte Gesellschaft vorzulegen. Dieser The- kung eine echte Herausforderung für die Bestrebun-
menbereich soll jedoch an dieser Stelle nicht weiter gen kritischer Theorie dar. Denn schließlich stellt ja
vertieft werden, da er sicher die am wenigsten mit dieser Argumentation zufolge jegliche Abweichung
der Hermeneutik verknüpfte Seite der Kritischen von den Symmetriebedingungen unter gleichberech-
Theorie betrifft. Stattdessen wenden wir uns nun ei- tigten Gesprächspartnern automatisch die Legitimi-
ner anderen Schwierigkeit normativer Natur zu, die tät der Kritik des Theoretikers ebenso in Frage wie
sich aus dem Versuch ergibt, Hermeneutik und Kri- sein Recht, anderen seine eigenen Ansichten über
tische Theorie miteinander in Einklang zu bringen. die wohlgeordnete Gesellschaft aufzuzwingen. Im
Während die gerade angeführten Grenzen der Er- Rückblick kann man in Habermas’ Theorie kommu-
klärungsfähigkeit des hermeneutischen Ansatzes nikativen Handelns zwei Hauptstrategien erkennen,
nämlich deutlich auf einen Mangel des letzteren auf- sich dieser Herausforderung zu stellen, ohne die An-
merksam machen und seine Erweiterung durch die liegen und die Möglichkeit einer kritischen Gesell-
Integration des in den Sozialwissenschaften verfüg- schaftstheorie preiszugeben. Diese beiden Strategien
baren empirischen Wissens nahelegen, kann man stellen zugleich das Herzstück von Habermas’ eige-
dasselbe nicht über die normativen Grenzen sagen, nem Vorgehen als kritischer Theoretiker dar.
die der hermeneutische Ansatz den gesellschaftskri- Die erste Strategie betrifft das Kernstück des her-
tischen Zielsetzungen des Sozialtheoretikers aufer- meneutischen Ansatzes, nämlich dessen Auffassung
legt. Denn indem letzterer zugesteht, dass »[…] wir, von der Sprache als lebensweltlich konstitutiv. Ha-
solange wir uns in einer natürlichen Sprach bewe- bermas’ Auffassung von Kommunikation lässt sich
gen, stets beteiligt sind und hinter die Rolle des re- hier zwar nicht im Einzelnen schildern (s. Kap. III.5),
flektierten Mitspielers nicht zurücktreten können«, aber es bedarf dennoch der kurzen Erwähnung des
setzt er ja augenscheinlich genau die Autorität aufs entscheidenden Ansatzpunkts, dank dessen Haber-
Spiel, derer er bedarf, um das bestehende gesell- mas’ Theorie sich deutlich von der Hermeneutik ab-
schaftliche Selbstverständnis als ideologisch kritisie- setzt, nämlich die Fähigkeit letzterer, externalistische
ren zu können. Gadamer brachte dies in der be- Elemente im Rahmen der Erläuterung sprachlicher
rühmt gewordenen Kontroverse mit Habermas (vgl. Verständigung unterzubringen (Lafont 1999, 227–
Gadamer 1986, 219–75, sowie LSW, 331–68) mit 274). Das bedarf einer kurzen Erklärung.
dem Hinweis auf den Punkt, dass der ideologiekri- Gemäß dem hermeneutischen Ansatz stellt eine
tisch arbeitende Gesellschaftstheoretiker die Sym- geteilte Welterschließung oder, in Gadamers Wor-
metrie des Dialoges unter Gesprächspartnern zu- ten, eine gemeinsame Tradition die Grundvoraus-
gunsten der Einnahme einer Außenperspektive setzung jeglicher Verständigung oder jeglicher Ein-
durchbrechen müsse und damit lediglich dazu in der verständnisse dar, die Sprecher durch Gespräche
Lage sei, seine eigenen Ansichten über die richtige zustande bringen können. Sobald dies jedoch zuge-
Gesellschaftsform auf der Grundlage eines selbstan- standen wird, drängt sich unmittelbar die Frage auf,
5. Hermeneutik und linguistic turn 33

wie Sprecher je in die Lage kommen können, eine nikation von den Beteiligten, dass sie in wie auch
solche faktisch geteilte Welterschließung in Frage zu immer kontrafaktischer Weise zwischen jedermanns
stellen oder gar zu revidieren, oder auch nur mit an- (miteinander unverträglichen!) Überzeugungen und
deren zu kommunizieren, die nicht demselben Kon- der vorausgesetzten Weltordnung unterscheiden. In
text der Welterschließung angehören. Die so ver- Habermas’ eigener Terminologie müssen sie im In-
standene sprachliche Welterschließung scheint ge- teresse gegenseitiger Verständigung einen ›reflexi-
nauso unrevidierbar von innen wie unzugänglich ven Weltbegriff‹ erwerben. Die formale Vorausset-
von außen. Um solchen kontraintuitiven Konse- zung einer einzigen objektiven Welt verdankt sich
quenzen aus dem Weg zu gehen, weist Habermas in somit lediglich dem universalen Geltungsanspruch,
der Kontroverse mit Gadamer die seitens der Her- der den von den Sprechern vollzogenen Sprechakten
meneutik erhobene Behauptung zurück, dass Ver- inhärent ist. Sie ist nichts weiter als ein Ausdruck der
stehen nur auf der Grundlage eines faktischen Ein- rationale Kritik und gegenseitige Lernprozesse er-
verständnisses von Sprechern untereinander mög- möglichenden Kommunikationsregel, dass von zwei
lich sei, die demselben Welterschließungskontext entgegengesetzten Ansichten nur eine richtig sein
angehören. Stattdessen führt Habermas die Mög- kann. Auf diese Weise ergeben der formale Weltbe-
lichkeit von Verstehen auf ein ›kontrafaktisches Ein- griff und die drei universalen Geltungsansprüche
verständnis‹ zurück, das die Sprecher allein auf- zusammen ein Koordinatensystem, das die Interpre-
grund ihrer Kommunikationskompetenz gemein tationsanstrengungen von Kommunikationsteilneh-
haben. Dieses kontrafaktische Einverständnis basiert mern selbst dann auf ein gemeinsames Verständnis
auf lediglich formalen Voraussetzungen und ist da- zu lenken vermag, wenn ihre Überzeugungen oder
mit nicht von geteilten Inhalten oder der gemeinsa- Weltbilder auseinandergehen. Genau dieser formale
men Teilhabe der Gesprächspartner an einer be- Rahmen schafft Sprechern die Voraussetzung, sich
stimmten Welterschließung abhängig. Habermas’ auf dieselben Gegenstände beziehen zu können,
Theorie kommunikativer Vernunft (s. Kap. III.5) wenn ihre Interpretationen derselben auch vonein-
nach müssen an innerweltlicher Verständigung inte- ander abweichen (WR, 44 ff.). Infolgedessen steht ih-
ressierte Gesprächspartner die Wahrheit dessen, was nen ein für Meinungsverschiedenheiten und Kritik
sie sagen, die normative Richtigkeit der von ihnen notwendiger, bestimmten Inhalten gegenüber exter-
mit ihren Sprechakten eingegangenen Interaktion ner Standpunkt jederzeit offen, ohne dass sie da-
sowie die Wahrhaftigkeit ihrer Sprechaktangebote durch zum Verlassen der geteilten Kommunikati-
unterstellen. Diesen drei Geltungsansprüchen onssituation gezwungen wären. Da eine solche
(Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit) entspre- externalistische Perspektive jedem Kommunikati-
chend müssen Sprecher ebenfalls den Begriff einer onsbeteiligten gleichermaßen offen steht, kann Ha-
für alle möglichen Beobachter gleichen objektiven bermas Gadamers Vorwurf erfolgreich zurückwei-
Welt gemeinsam haben. sen, dass der Kritische Theoretiker im Interesse der
Wie Habermas in der Theorie des kommunikati- Durchführung seines kritischen Vorhabens die Sym-
ven Handelns erläutert, müssen »Aktoren, die Gel- metrie verständigungsorientierter Kommunikation
tungsansprüche erheben, [...] darauf verzichten, das durchbrechen und zu einem verkappten ›Sozialtech-
Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit, von Kom- nokraten‹ verkommen müsse. Habermas macht dies
munikationsmedien und dem, worüber kommuni- in der Theorie des kommunikativen Handelns wie
ziert wird, inhaltlich zu präjudizieren« (TKH I, 82). folgt geltend:
Nur dadurch wird es möglich, dass »die Inhalte des »Wer, was die Beteiligten bloß voraussetzen, zum Thema
sprachlichen Weltbildes von der supponierten Welt- macht und eine reflexive Einstellung zum Interpretandum
ordnung selbst abgelöst werden« (ebd.). Dies wiede- einnimmt, stellt sich nicht außerhalb des untersuchten
rum ergibt sich als direktes Erfordernis, wenn es Ge- Kommunikationszusammenhangs, sondern vertieft und
sprächspartnern darauf ankommt, herauszufinden, radikalisiert diesen auf einem Wege, der prinzipiell allen
Beteiligten offen steht« (TKH I, 188).
ob sich die Dinge so verhalten, wie sie meinen, oder
aber so sind, wie jemand anderes denkt; denn in die- Diese Bemerkung bringt allerdings auch schon die
ser Situation können sie ja offensichtlich nicht wei- zweite von Habermas im Zusammenhang mit der
terkommen, solange jeder dogmatisch seine eigene hermeneutischen Herausforderung verfolgte Haupt-
Sichtweise mit den tatsächlich in der Welt vorliegen- strategie ins Spiel. Denn durch die Verortung der
den Umständen identifiziert. Aus diesem einfachen Möglichkeit der Einnahme einer externalistischen
Grund verlangt verständigungsorientierte Kommu- Perspektive in der Struktur verständigungsorientier-
34 II. Kontexte

ter Kommunikation selbst gelingt es Habermas auch, retische Rekonstruktion von sozialen Bedingungen,
den von Gadamer gegen seine Version der Kriti- die für die rationale Bestätigung oder Verwerfung
schen Theorie in den 70er Jahren vorgebrachten Pa- politischer Vorschläge durch die Gesamtheit der
ternalismusvorwurf zu entkräften. Allerdings wird Bürger erforderlich sind, gibt der Theoretikerin ei-
zugleich klar, dass diese Strategie auf der Übernahme nen gewichtigen Maßstab für die Bewertung beste-
des in Gadamers Vorwurf in Anschlag gebrachten hender gesellschaftlicher Zustände an die Hand, mit-
Legitimitätskriteriums beruht, dass nämlich das tels dessen die der Fortschreibung traditioneller Un-
letzte Kriterium für die Berechtigung von Kritik gerechtigkeiten dienenden sozialen Verhältnisse
oder von Vorschlägen zur gesellschaftlichen Verbes- rational kritisierbar werden. Gleichzeitig verdankt
serung aus dem tatsächlichen Dialog aller Beteilig- sich die Einsicht in diesen Maßstab jedoch auch nicht
ten hervorzugehen hat. Daher muss die Kritische dem privilegierten Zugang zur Wahrheit auf Seiten
Theoretikerin unabhängig von der eventuell vorlie- der Theoretikerin, sondern seiner Verankerung in
genden Überlegenheit ihres empirischen und theo- den von den Beteiligten immer schon geteilten Kom-
retischen Wissens sich selbst als Teilnehmerin unter munikationspraktiken. Folglich steht diese Art der
gleichen einreihen, um ihre Kritik und ihre Vor- Kritik nicht nur allen Beteiligten offen, sondern ist
schläge im tatsächlichen Dialog mit den Betroffenen darüberhinaus auch öffentlich an sie adressiert.
zu verifizieren. Wie Habermas in Faktizität und Gel- Wie erfolgreich der Habermas’sche Ansatz kriti-
tung pointiert bemerkt, »gibt es in Begründungsdis- scher Theorie letztlich in all seinen Anliegen ist, muss
kursen grundsätzlich nur Beteiligte« (FG, 212). hier offen bleiben. Die Reichweite der Theorie kom-
In dieser Einsicht ist Habermas’ unverwechselba- munikativer Vernunft, auf dem er beruht, ist so atem-
rer Beitrag zur Weiterentwicklung der Kritischen beraubend, dass allein im Fortgang der Forschung zu
Theorie zu sehen. Dem Habermas’schen Ansatz zu- entscheiden sein wird, welche der zahlreichen für
folge steht es der Kritischen Theoretikerin nämlich den durchgängigen Erfolg erforderlichen Annahmen
nicht länger frei, ihre Kritik vorherrschender gesell- sich bewähren, und welche modifiziert oder revidiert
schaftlicher Verhältnisse einfach auf ihre eigene Auf- werden müssen. Nichtsdestoweniger ist unbestreit-
fassung der wohlgeordneten Gesellschaft und des bar, dass in Habermas’ Ansatz eine echte, kritikfähige
guten Lebens zu gründen. Stattdessen hat sie den Alternative zur Hermeneutik vorliegt.
Bürgern selbst Raum für die Bestimmung, Entwick-
lung und Verfolgung ihrer unterschiedlichen kollek- Literatur
tiven und individuellen Lebenspläne zu geben (FG, Dews, Peter (Hg.): Autonomy and Solidarity. Interviews
107–110). Diese entschieden demokratische Wende with Jürgen Habermas. London 1986.
Kritischer Theorie erlaubt nun die Rechtfertigung Gadamer, Hans-Georg: Wahrheit und Methode. Tübingen
der Behauptung, dass die in die von der Theoretike- 1960.
–: Hermeneutik II. Gesammelte Werke 2. Tübingen 1986.
rin vorgetragene Kritik eingehenden Wertungen den –: »Die Universalität des hermeneutischen Problems«
Raum der Bürger zur politischen Selbstbestimmung [1966]. In: Gadamer 1986, 219–231.
nicht illegitim beschränken. Damit muss die von ihr –: »Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik. Metakriti-
entwickelte Kritik jedoch auch nicht zwangsläufig sche Erörterungen zu Wahrheit und Methode« [1967].
auf den fragwürdigen Versuch von Seiten der Theo- In: Gadamer 1986, 232–250.
–: »Replik zu Hermeneutik und Ideologiekritik« [1971]. In:
retikerin hinauslaufen, ihre eigenen politischen Vor-
Gadamer 1986, 251–275.
lieben bezüglich der wohlgeordneten Gesellschaft Heidegger, Martin: Sein und Zeit. Tübingen 1927.
unter dem Deckmantel einer selbstverkündeten epi- Lafont, Cristina: The Linguistic Turn in Hermeneutic Philo-
stemischen Autorität zu befördern. sophy. Cambridge, Mass. 1999.
Mit diesem Vorschlag lässt Habermas’ Ansatz Kri- –: Heidegger, Language and World-Disclosure. Cambridge,
Mass. 2000.
tischer Theorie die paternalistischen Tendenzen des
–: »Heidegger’s Hermeneutics«. In: Hubert Dreyfus/Mark
traditionellen Marxismus zugunsten der Betonung Wrathall (Hg.): The Blackwell Companion to Heidegger.
der normativen Bedeutung der politischen Selbstbe- Cambridge, Mass. 2005, 265–284.
stimmung von Seiten der Bürger hinter sich. Aller- McCarthy, Thomas: Ideals and Illusions. On Reconstruction
dings fällt er damit auch nicht der hermeneutischen and Deconstruction in contemporary Critical Theory.
Versuchung anheim, den Beteiligten und ihren ange- Cambridge, Mass. 1991.
Taylor, Charles: »Self-interpreting Animals«. In: Ders.: Hu-
stammten Traditionen blind die alleinige Entschei- man Agency and Language. Philosophical Papers. Bd. 1.
dung über die moralische Qualität der von ihnen Cambridge, Mass. 1985, 45–76.
vollzogenen Praktiken zu überlassen. Denn die theo- Cristina Lafont
35

6. Sprechakttheorie hat sich jedoch nicht durchsetzen können. Neben


phonetischen und lexikalischen (»phatischen«) Teil-
handlungen sollte der lokutionäre den »rhetischen«
Die systematische Beschäftigung mit Sprechhand- Akt umfassen, Ausdrücke mit einer bestimmten Be-
lungen beginnt mit einer Korrektur, die John deutung zu verwenden. Searle hat zu Recht einge-
Langshaw Austin an seinem ursprünglichen Kon- wandt, dass auch Indikatoren, die zum illokutionä-
zept performativer Äußerungen vornimmt. Austin ren Akt gehören, etwa performative Verben wie »be-
war der Ansicht, dass die Sprachphilosophie den fehlen« und »behaupten«, etwas bedeuten (1968,
Aussagecharakter sprachlicher Äußerungen über- 407). Im Rückgriff auf Frege ersetzt Searle daher
bewertet und demgegenüber die Bedeutung der Austins Differenzierung durch die abstraktere Un-
Handlungen, die man mit Äußerungen vollziehen terscheidung zwischen propositionalen und illoku-
kann, unterschätzt. Während er zunächst glaubte, tionären Akten, die den Aspekt des Gehalts (der Pro-
konstative Äußerungen, die wahr oder falsch sein position) von der Kraft oder Rolle der Äußerung
können, von performativen Äußerungen, die glü- (der Illokution) trennt, aber nicht mehr zwischen
cken oder scheitern, aber weder wahr noch falsch dem Gesagten und dem Getanen unterscheidet. Ne-
sein könnten, abgrenzen zu können, muss er am ben der illokutionären Kraft identifizieren Austin
Ende seiner William James-Vorlesungen eingeste- und Searle auch perlokutionäre Effekte von Sprech-
hen, dass auch manche performativen Äußerungen handlungen, beispielsweise dass man jemanden da-
auf Wahrheit/Falschheit Anspruch erheben und durch ängstigen oder erfreuen kann, dass man an-
auch konstative Äußerungen missglücken können kündigt, das Salz zu reichen. Als Wirkungen oder
(Austin 1972). Der Inhalt einer Warnung, die nicht Folgen von Handlungen sind Perlokutionen nicht
eintrifft, ist eben falsch, und eine Tatsachenfeststel- unmittelbar Teil der Kommunikation, während das
lung über den gegenwärtigen König von Frankreich bei illokutionären Erfolgen immer der Fall sei.
wird daran scheitern, dass er nicht existiert. Austin Eine Möglichkeit, illokutionäre Aspekte von
unterscheidet zwei Arten möglicher Fehlschläge: Sprechakten von ihren perlokutionären Effekten zu
Solche, bei denen keine erfolgreiche Äußerung voll- unterscheiden, liegt Austin zufolge darin, dass perlo-
zogen wird, etwa wenn es an der für Befehle not- kutionäre Effekte nicht per Konvention in Kommu-
wendigen Autorisierung fehlt, und solche, bei denen nikationshandlungen inbegriffen sein können. Es
ein erfolgreicher, aber defizitärer Sprechakt vollzo- gibt beispielsweise keinen Sprechakt des Überzeu-
gen wird, etwa in der inkonsequenten oder unauf- gens, der lautete: »Hiermit überzeuge ich Sie ...«.
richtigen Äußerung eines Versprechens, an das man Dies wirft die Frage auf, in welchem Sinn illokutio-
sich nicht halten will. Letztlich gibt es auch keine le- näre Akte konventionell sind. Für Austin und Searle
xikalischen oder grammatischen Eigenschaften, an- hat die Konventionalität illokutionärer Akte eine so-
hand derer man konstative von performativen Äu- ziale, grammatische und semantische Dimension.
ßerungen ausnahmslos unterscheiden könnte. Im Institutionell gebundene Sprechhandlungen, die
zweiten Teil seiner Theorie der Sprechakte überwin- Austin häufig als Beispiele heranzieht, setzen etab-
det Austin daher die Trennung zwischen performa- lierte soziale Konventionen voraus. Wenn ich bean-
tiven und konstativen Äußerungen zugunsten einer spruche, ein Schiff zu taufen oder einer Person etwas
Unterscheidung verschiedener Typen von Perfor- zu befehlen, sollte ich in einer bestimmten sozialen
mativa, unter die auch konstative Sprechakte einge- Position sein, weil ansonsten die Glückensbedingun-
reiht werden. gen des Versuchs nicht erfüllt sein werden. Ein ande-
Austin kann nun an Äußerungshandlungen eine rer Sinn von Konventionalität kommt ins Spiel, wenn
einheitliche Struktur ablesen: man sagt etwas (loku- Austin und Searle behaupten, es sei stets gramma-
tionärer Akt), gleichzeitig tut man etwas, indem man tisch möglich, die Kraft einer Äußerung durch aus-
etwas sagt (illokutionärer Akt), und erreicht mögli- drückliche Verwendung von Indikatoren herauszu-
cherweise etwas dadurch, dass man etwas sagt (per- stellen. Dass ich das Land verlassen werde, kann ich
lokutionärer Akt). Lokutionärer und illokutionärer durch die Verwendung eines performativen Verbs
Akt können nicht separat vollzogen, wohl aber un- als Versprechen deklarieren: »Ich verspreche, dass
abhängig voneinander variiert werden: Was man ich das Land verlassen werde.« In dieser Bedeutung
sagt, kann gleich bleiben, während die illokutionäre von sprachlicher Konventionalität liegt die prinzipi-
Kraft oder Rolle der Äußerung variiert und umge- elle Offenkundigkeit oder doch zumindest Offenleg-
kehrt. Austins Vorstellung eines lokutionären Aktes barkeit von illokutionären Rollen begründet, die für
36 II. Kontexte

perlokutionäre Effekte nicht gelten kann. Die Spre- und Wörtlichkeit des Sprachgebrauchs nicht ihrer-
cherin macht durch die Verwendung geeigneter seits konventionell signalisiert werden.
Kraft-Indikatoren deutlich und nimmt gleichzeitig Strawson hat darüber hinaus Zweifel an der not-
vorweg, um welchen illokutionären Akt es sich bei wendigen Konventionalität illokutionärer Akte ge-
ihrer Äußerung handelt. Aufgrund ihrer grammati- weckt und stattdessen ein Kontinuum zwischen völ-
schen Konventionalität liegt der Vollzug illokutionä- lig konventionellen und überhaupt nicht konventio-
rer Akte (vorausgesetzt, die Äußerung wird verstan- nellen Sprechhandlungen skizziert (Strawson 1964).
den) allein in der Hand der Sprecherin. Eine dritte An die Stelle einer rein konventionalistischen Be-
Dimension von Konventionalität resultiert schließ- deutungstheorie setzt er eine Kombination aus Aus-
lich aus der Regelauffassung sprachlicher Bedeu- tins Regelkonzeption der Bedeutung und H. P. Grice’
tung, die sich auf illokutionäre wie propositionale bedeutungsnominalistischer Idee der Sprecherbe-
Anteile erstreckt. Austin und Searle sind der An- deutung (vgl. auch Searle 1972). Grice’ Idee war in
sicht, sprachliches Handeln basiere auf der Aktuali- groben Zügen die, dass eine Person, damit sie mit ei-
sierung der wörtlichen Bedeutung von Ausdrücken ner Äußerung etwas meinen kann, mindestens drei
in »ernsthaften und aufrichtigen« Äußerungen, und Dinge beabsichtigen muss: dass sie eine gewisse Re-
die Möglichkeit von Nicht-Standardverwendungen aktion beim Hörer erzielt, dass diese Absicht erkannt
sprachlicher Ausdrücke hänge »parasitär« von ihrer wird, und schließlich, dass das Erkennen dieser Ab-
Standardverwendung ab. sicht dem Hörer einen Grund gibt, die intendierte
Nicht alle Sprechhandlungen erfüllen das Muster Reaktion zu zeigen (Grice 1976). Auf die For-
expliziter, ernsthafter und aufrichtiger wörtlicher schungsliteratur, die diese Konzeption entwickelt
Äußerungen; Austin zählt etwa ironische, monologi- und erörtert hat, kann hier nicht eingegangen wer-
sche, dramaturgische oder poetische Rede zum den (vgl. Avramides 1989). Unumstritten ist, dass
nicht-standardgemäßen Sprachgebrauch. Derrida Grice’ Programm, indem es auf die Konventionali-
hat die Rede vom parasitären Charakter »nicht- tätsunterstellung illokutionärer Akte verzichtet und
ernsthafter« Sprachverwendung seinerseits ironi- auf das Erreichen einer Reaktion beim Hörer ab-
siert und stattdessen die für verschiedenste gleich- stellt, illokutionäre Aspekte perlokutionären Effek-
rangige Verwendungen offene »Iterierbarkeit« der ten von Sprechhandlungen angleicht. Ob sich die
immer gleichen Sprachzeichen als Kern sprachli- Differenzierung zwischen Illokution und Perloku-
chen Verhaltens ausgezeichnet (Derrida 1985). tion dann terminologisch dadurch beibehalten lässt,
Searle (1977, 205) hat Derridas Kritik an der Parasi- dass ein spezieller Fall von Effekt – das Verstehen
tismusthese zurückgewiesen: »[T]here could not, for der Äußerungsbedeutung als Inhalt, den der Spre-
example, be promises made by actors in a play if cher zu erkennen geben wollte – als illokutionärer,
there were not the possibility of promises made in nicht aber perlokutionärer Erfolg deklariert wird
real life«. Searle erörtert jedoch nicht die Frage, ob (Hornsby 2006), oder ob man die Kröte schlucken
die Möglichkeit ihrer dramaturgischen (unaufrichti- und alle illokutionären Akte als perlokutionäre Akte
gen, ironischen etc.) Verwendung nicht umgekehrt analysieren muss, die aber über die kritische Eigen-
ebenfalls eine notwendige Bedingung für die Exis- schaft der Offenheit der kommunikativen Intention
tenz ernsthafter Versprechen im wirklichen Leben verfügen (Meggle 1997), die auch für die Konventio-
ist. Selbst wenn sich eine so starke Auffassung von nalisten das zentrale Merkmale illokutionärer Akte
der komplementären Notwendigkeit standardgemä- ist, ist bisher offengeblieben. Bis in die Gegenwart
ßer und wie immer kreativ-abweichender Verwen- hinein ist die Debatte über Intention und Konven-
dung nicht halten lassen sollte, kann sich die Kritike- tion in Sprechakten nicht entschieden. Konventio-
rin der konventionalistischen Auffassung auf die nalistische Ansätze beanspruchen weiterhin Voll-
These zurückziehen, dass der Standardgebrauch von ständigkeit, nicht zuletzt, um eine bedeutungsvolle
Äußerungen faktisch jederzeit von der Möglichkeit Unterscheidung zwischen illokutionären und perlo-
einer abweichenden Verwendung begleitet wird. Die kutionären Akten aufrechterhalten zu können (Als-
Existenz konventioneller Kraft-Indikatoren etwa ist ton 2000).
mit der Ausbeutbarkeit solcher Indikatoren im unei- Habermas’ Aufnahme der Sprechakttheorie ist
gentlichen Sprechen gleichbedeutend (Davidson sprachphilosophisch und rationalitätstheoretisch
1982). Auch wenn ernsthafte und wörtliche Äuße- motiviert. Sprachphilosophisch kann die Sprechakt-
rungen sich stets Konventionen des Sprachgebrauchs theorie dazu beitragen, semantizistische Verkürzun-
zunutze machen können, können Ernsthaftigkeit gen in der Bedeutungstheorie zu vermeiden. Die tra-
6. Sprechakttheorie 37

ditionelle Bedeutungstheorie hatte zugunsten der als Festlegung auf etwas (Searle 1972) bzw. als Über-
Analyse propositionaler Gehalte auf die Analyse des nahme von Verantwortung für etwas (Alston 2000)
Handlungsaspekts der Kraft verzichtet und die Be- charakterisiert wird. Äußerungen »gelten als« etwas,
deutung aller Äußerungen an die von Behauptungen das dem Sprecher dann zugerechnet werden kann.
assimiliert. Gleichzeitig bietet die Analyse der illo- Gleichzeitig treten Geltungsansprüche an die Stelle,
kutionären Kraft, wie sie von der Sprechakttheorie die der Wahrheitsbegriff in der klassischen Semantik
identifiziert wurde, nach Habermas’ Interpretation innehatte, die die Bedeutung sprachlicher Ausdrü-
die Chance, den »Sitz der Rationalität« im illokutio- cke mit den Bedingungen, unter denen sie zutreffen,
nären Bestandteil von Äußerungen wahrzunehmen identifizierte. Wenn die Sprechhandlung »gilt«, dann
(ND, 125), um so individualistische und teleologi- verhält es sich so, wie in ihr ausgedrückt. Habermas’
sche Abstraktionen der zeitgenössischen Hand- Brückenschlag zwischen dem Verstehen von Äuße-
lungstheorie zu korrigieren und den Kern eines al- rungen und den Bedingungen ihrer Akzeptabilität
ternativen Vernunftkonzepts in den illokutionären erweitert auch das Verständnis der Illokution. Ein
Angeboten zu sprachlicher Verständigung aufzusu- erfolgreich vollzogener Sprechakt erreicht illokutio-
chen. Was die Kritik der semantizistischen Abstrak- näre Ziele im engeren Sinn, insofern er verstanden
tionen betrifft, so orientiert sich Habermas an Karl wird, und im weiteren Sinn, indem er vom Hörer ak-
Bühlers Schema der Sprachfunktionen, das zwischen zeptiert wird. Während Habermas die Bestimmung
der Verständigung über Sachverhalte in der Welt, des illokutionären Erfolgs im engen Sinn mit Auto-
der Herstellung interpersonaler Beziehungen und ren wie Austin, Strawson und Searle teilt, die als illo-
dem Ausdruck von Intentionen oder Erlebnissen kutionären Akt das verstehen, was eine Sprecherin
differenziert (Bühler 1934, ND, 105). Er unterschei- unter normalen Umständen vorwegnehmen neh-
det entsprechend zwischen behauptendem, regulati- men kann, liegt für Habermas der illokutionäre Er-
vem und expressivem Sprachgebrauch und ersetzt folg im weiteren Sinn gerade in dem, was von der
durch diese Klassifikation die eher induktiv erstell- Sprecherin nicht zu antizipieren ist, nämlich ob der
ten alternativen Taxonomien von Austin und Searle. Hörer das einseitige Sprechaktangebot akzeptiert.
Habermas betont, dass alle Sprechhandlungen prin- Auch in seiner These vom bedeutungstheoreti-
zipiell in Bezug auf alle drei Funktionen untersucht schen Primat verständigungsorientierter Sprechakte
werden können – das Ausdrücken einer Proposition, geht Habermas über die klassische Sprechakttheorie
die Herstellung einer intersubjektiven Beziehung hinaus. Hauptgesichtspunkt der Unterscheidung
und das Äußern von Intentionen –, dass aber eine zwischen verständigungsorientierten und strategi-
der drei Dimensionen in jedem Sprechakt im Vor- schen Sprechhandlungen ist, ob eine Sprecherin illo-
dergrund steht oder »thematisch wird«. Die ent- kutionäre Ziele (also das Verstehen und Akzeptieren
scheidende Innovation liegt nun darin, dass den drei von Äußerungen) nur konditional zu Gründen und
Bedeutungsdimensionen entsprechende Register Einwänden, die sich auf die erhobenen Geltungsan-
von Geltungsansprüchen zugeordnet werden, näm- sprüche richten können, verfolgt. Verständigungs-
lich Ansprüche der propositionalen Wahrheit, der orientiertes oder kommunikatives Handeln sei der
normativen Richtigkeit und der expressiven Auf- Originalmodus sprachlicher Verständigung, wäh-
richtigkeit (oder künstlerischen Stimmigkeit, die rend strategisches Handeln einen abgeleiteten Status
später aus dem dritten Geltungsanspruch ausdiffe- habe (TKH I, 388). Habermas’ Adaption von Austins
renziert wird, DM, 366), die jeweils mit unterschied- und Searles Parasitismusthese ist zugeschnitten auf
lichen Typen von Gründen eingelöst werden können. verdeckt strategische Handlungen, bei denen ein
Mit der Einführung von Geltungs- oder Akzeptabili- weitergehendes, nichtdeklariertes Ziel nur unter der
tätsansprüchen in die Analyse von Sprechhandlun- Bedingung erreicht werden kann, dass ein anderes
gen wird die Fusion bedeutungs- und rationalitäts- illokutives Ziel offen angestrebt wird. Schwieriger ist
theoretischer Thesen möglich, die sich in der be- die Erfassung offen erfolgsorientierter Sprechhand-
rühmten Formel äußert: »Wir verstehen einen lungen wie Drohungen, bargaining oder mancher
Sprechakt, wenn wir wissen, was ihn akzeptabel Befehle. Sie erscheinen zunächst als nicht verständi-
macht« (TKH I, 400). gungsorientiert, da sie ihre Akzeptabilität aus-
Geltungsansprüche übernehmen in Habermas’ schließlich ihrer Sanktionsbewehrung verdanken
pragmatischer Bedeutungstheorie zwei Funktionen. und sie ihr illokutionäres Ziel, vom Hörer akzeptiert
Sie zeigen die unvermeidliche Selbstbindung des zu werden, unabhängig von möglichen Einwänden
Sprechers an, die in der klassischen Sprechakttheorie gegen ihre normative Richtigkeit verfolgen. Solche
38 II. Kontexte

»einfachen Aufforderungen« sind aber verständlich tion charakteristische Phänomen noch nicht erfasst
auch für Hörer, denen wir nicht unterstellen, dass sie werden, dass illokutionäre Ziele im weiteren Sinn
(bereits) über verständigungsorientierte Sprach- häufig nur unter dem Vorbehalt verfolgt werden
kompetenz verfügen (Habermas 1986, 401), ihr Ver- können, dass die in ihnen erhobenen Geltungsan-
stehen kann also nicht rein abgeleiteten Status ha- sprüche nicht bestritten werden (kommunikatives
ben. Habermas hat sie daher zunächst als Grenzfälle Handeln im starken Sinne). Der Vorbehaltlosigkeit,
verständigungsorientierten Handelns aufgefasst. In mit der die illokutionäre Kraft einer Äußerung öf-
jüngeren Arbeiten hat er sich der Herausforderung fentlich gemacht werden muss, korrespondiert im
gestellt und eine neue Systematisierung innerhalb kommunikativen Handeln die Vorbehaltlichkeit
des kommunikativen Handelns eingeführt. Er unter- weitergehender Handlungsziele: Werden die Gel-
scheidet nun kommunikatives Handeln in einem tungsgründe einleuchtend bestritten, ist der Spre-
schwachen Sinne (das auch rein sanktionsgestützte cher rational gebunden, seinen Anspruch zurückzu-
Sprechhandlungen umfasst) vom auf intersubjektiv nehmen. Gegenüber der klassischen Sprechakttheo-
geteilte Gründe gestützten, kommunikativen Han- rie verfolgt die Theorie kommunikativen Handelns
deln im starken Sinne (WR, 122). also ein ehrgeizigeres Programm der Analyse sprach-
Eine zweite »Originalmodus«-These vertritt Ha- licher Normativität. Allerdings ist gegen die verbrei-
bermas mit Austin und Searle, und gegen Derrida tete Kritik einer vermeintlich allzu normativisti-
und Davidson, in Bezug auf die wörtliche Bedeutung schen Sicht von Sprechhandlungen auf den spezifi-
von Äußerungen, von deren Verständnis das Verste- schen und begrenzten Typ der Normativität
hen jeglicher Nicht-Standardverwendung wiederum hinzuweisen, die sich in der Festlegung einer Spre-
abhängig sei. Habermas führt daher die Norm, cherin auf Bedeutung und Geltung erschöpft. Ha-
sprachliche Ausdrücke bedeutungsidentisch zu ver- bermas hat stets betont, dass es sich bei den dem
wenden, in Analogie zu den drei Geltungsansprü- kommunikativen Handeln innewohnenden Stan-
chen ein. Im Gegensatz zu Searle betont Habermas dards von Bedeutungs- und Geltungsnormativität
aber, dass die Unterstellung von Sprecherin und Hö- nicht um moralische oder anderweitig präskriptive
rer, ihre Ausdrücke bedeutungsidentisch über die Normen handelt (NR, 103).
Zeit hinweg zu verwenden, im Normalfall eine fal-
sche, kontrafaktische Annahme ist. Die These vom Literatur
Originalmodus der wörtlichen Verwendung von Alston, William P.: Illocutionary Acts and Sentence Mean-
Ausdrücken ist also von vornherein nicht so zu ver- ing. Ithaca/London 2000.
stehen, dass Kompetenz in Bezug auf wörtliche Be- Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart 1972
deutung als hinreichende Bedingung für Sprachver- (engl. 1962).
stehen aufgefasst wird. Die wichtige Frage ist, ob sie Avramides, Anita: Meaning and Mind: An Examination of a
Gricean Account of Language. Cambridge 1989.
in jedem Einzelfall eine notwendige Bedingung ist.
Bühler, Karl: Sprachtheorie. Jena 1934.
Davidson hat Versprecher und Scherze als Beispiele Davidson, Donald: »Communication and Convention«. In:
dafür angeführt, dass die Verfügung über die wörtli- Ders.: Inquiries into Truth and Interpretation. Oxford
che Bedeutung des Gesagten in manchen Fällen we- 1982, 265–280.
der hinreichend noch notwendig für das Verstehen –: »A Nice Derangement of Epitaphs«. In: Ernest LePore
einer Äußerung ist (Davidson 1986). (Hg.): Truth and Interpretation. Perspectives on the Philo-
sophy of Donald Davidson. Oxford 1986, 433–446.
Wenn Habermas sich entschieden auf die Seite Derrida, Jacques: »Signature Event Context« [1972]. In:
der Konventionalisten gegen die Intentionalisten in Ders.: Margins of Philosophy. Chicago 1985, 308–330.
der Sprechakttheorie schlägt, so stützt er sich vor al- Grice, H. Paul: »Intendieren, Meinen, Bedeuten«. In: Georg
lem auf rationalitätstheoretische Argumente, da die Meggle (Hg.): Handlung, Kommunikation, Bedeutung.
Vernünftigkeit sprachlichen Handelns in Grice’ Sinn Frankfurt a. M. 1976, 377–389 (engl. 1957).
Habermas, Jürgen: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans
auf individuelle Zweckverfolgung beschränkt blei- Joas (Hg.): Kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M.
ben muss. Zwar könnte die neue Kategorie des 1986, 327–405.
schwach kommunikativen Handelns auch dazu die- Hornsby, Jennifer: »Speech Acts and Performatives«. In:
nen, Meinen im Sinne von Grice als einfache Auf- Ernest LePore/Barry C. Smith (Hg.): Oxford Handbook
forderung, eine Äußerung als einen bestimmten of Philosophy of Language. Oxford 2006, 893–909.
Meggle, Georg: »Theorien der Kommunikation – Eine Ein-
illokutionären Akt zu verstehen, in den verständi- führung«. In: Geert-Lueke Lueken (Hg.): Kommunika-
gungsorientierten Sprachgebrauch zu inkludieren. tionstheorien – Theorien der Kommunikation. Leipzig
Damit kann aber das für sprachliche Kommunika- 1997, 14–40.
7. Trieb und Psychoanalyse 39

Searle, John: »Austin on Locutionary and Illocutionary


Acts«. In: Philosophical Review 77, 4 (1968), 405–424.
7. Psychoanalyse
–: Sprechakte. Frankfurt a. M. 1972 (engl. 1969).
–: »Reiterating the Differences: A Reply to Derrida«. In:
Glyph 1 (1977), 198–208. Auf die von Horkheimer und Adorno beschriebene
Strawson, Peter F.: »Intention and Convention in Speech ›Dialektik der Aufklärung‹ gab es nur zwei Antwor-
Acts«. In: Philosophical Review 73, 4 (1964), 439–460. ten: politische Resignation oder Utopismus. Herbert
Peter Niesen Marcuse wählte die zweite Alternative und versuchte
aus der scheinbar unerbittlichen Logik der Argu-
mentation Horkheimers und Adornos auszubre-
chen, insoweit diese in einer psychoanalytischen Be-
grifflichkeit formuliert war (vgl. PPP). Während
Marcuse die utopische Idee einer repressionsfreien
Gesellschaft in Triebstruktur und Gesellschaft nur als
theoretische Möglichkeit vorgetragen hatte, vertrat
er – unter dem Einfluss der Neuen Linken – diese
Idee Ende der 1960er Jahre als ein konkretes politi-
sches Programm.
Habermas dagegen sah sich als ein radikaler Re-
former, der sowohl den politischen Quietismus als
auch die Idee der Revolution ablehnte, und wählte
eine andere Strategie. Er stellte die Annahmen, die
Horkheimers und Adornos Konstruktion zugrunde
lagen, in Frage und konnte damit der Wahl zwischen
zwei gleichermaßen inakzeptablen Alternativen ent-
gehen. Seine Auseinandersetzung mit Freud in Er-
kenntnis und Interesse stellt so auch eine Kritik der
psychoanalytischen Voraussetzungen der Dialektik
der Aufklärung dar.
Indem Horkheimer und Adorno die ›Dialektik
der Aufklärung‹ mit Hilfe Freuds darlegen – wobei
sie sich auch auf Hegel, Marx, Nietzsche und Weber
beziehen –, stellen sie die Hypothese auf, die Entste-
hung des Selbst sei stets auch selbstzerstörerisch und
von Gewalt gekennzeichnet. Zu diesem Standpunkt
gelangen sie durch die Anwendung des Prinzips des
Äquivalententauschs – demzufolge jede Errungen-
schaft ihren Preis hat – auf die Entwicklung des
Selbst; dieses Prinzip nimmt dort die Form der »In-
troversion des Opfers« an (Horkheimer/Adorno
1969, 62). Laut Horkheimer und Adorno versuchten
mythische Kulturen, den Lauf der menschlichen An-
gelegenheiten und der Naturprozesse durch Opfer-
gaben an die Götter zu beeinflussen; sie hofften, die
Gottheiten würden sich erkenntlich zeigen und den
Menschen zu Hilfe kommen. Odysseus, den Hork-
heimer und Adorno als den Prototypen des moder-
nen Bürgers ansehen, glaubte sich von der prä-ratio-
nalen und prä-individuellen Welt des Mythos eman-
zipieren zu können und sich dem Gesetz des
Äquivalententauschs durch Entsagung entziehen zu
können. Anstatt ein Stück der äußeren Welt zu op-
fern, würde er einen Teil seiner inneren Natur, seines
40 II. Kontexte

Selbst opfern. Er rechnete damit, die Formlosigkeit zess der Ich-Entwicklung und damit auch das Pro-
seiner inneren Welt unter die Kontrolle eines verein- jekt der Aufklärung selbst zunichte. Da die Ich-Ent-
heitlichten Ichs bringen und so sein unbewusst- wicklung die fortschreitende Verdinglichung des
triebhaftes Leben unterdrücken zu können, dadurch Selbst mit sich bringt, zerstört sie systematisch die
das Gesetz des Äquivalententauschs überlisten und Voraussetzungen, die für das Ziel eines gelingenden
die zahlreichen, die verschiedenen regressiven Ver- Lebens erforderlich wären.
suchungen der archaischen Welt verkörpernden Ge- Nach dem Krieg verfolgte Adorno die in der Dia-
fahren bestehen zu können, die ihn auf dem Weg lektik der Aufklärung formulierte psychoanalytische
nach Hause erwarteten. Problematik weiter fort. Aufgrund seines Theo-
Hier hat Odysseus’ Strategie allerdings einen rems, dass das Ganze das Unwahre sei, war ihm der
Schönheitsfehler, und dieser wird zur ›Keimzelle‹, Rückfall in positive Spekulation verwehrt; daher
aus der sich die ›Dialektik der Aufklärung‹ entwi- konnte er die Psychoanalyse nur in kritischer Ab-
ckelt. Auch wenn sie nicht nach außen gerichtet ist, sicht verwenden. Er vertrat die Auffassung, dass je-
ist die ›Entsagung‹ der inneren Natur, die »der der Versuch, sich eine humanere Existenz auszuma-
Mensch […] sich selber zelebriert«, um nichts weni- len, zwangsläufig auf »Ideologie«, und damit auf
ger ein Opferakt als das Opfer des Hinterviertels ei- eine »falsche Versöhnung mit der unversöhnten
nes Ochsen (ebd., 61). Und als ein solches bleibt es Welt« hinauslaufe (Adorno 1972, 67, 66). Es gab je-
dem Gesetz des Äquivalententauschs unterworfen. doch, wie Albrecht Wellmer bemerkte, einen Ort,
Demzufolge muss für Odysseus’ Überleben – d. h. an dem Adorno seine Vorbehalte gegen eine falsche
für den Sieg über die Gefahren der inneren und äu- Versöhnung und seine Verweigerung gegenüber
ßeren Natur – ein Preis entrichtet werden; dieser positiver Spekulation außer Acht ließ, nämlich in
Preis besteht in der Verdinglichung des Selbst. In seiner ästhetischen Theorie. Er behauptete dort,
dem Maße, in dem das Ich sich von seiner archai- dass neue Formen einer weniger repressiven Syn-
schen Prähistorie und seinem unbewusst-triebhaf- thesis – in Gestalt einer nicht-verdinglichten Bezie-
ten Leben distanziert, verliert es die mimetische Be- hung zwischen Besonderem und Allgemeinem, Teil
ziehung zur Welt und verdinglicht sich selbst. Doch und Ganzem – in exemplarischen Werken avancier-
wird die Mimesis in diesem Prozess zugleich auf per- ter Kunst bereits erreicht seien, insbesondere in
verse Weise ›aufgehoben‹: Das objektivierte Selbst Schönbergs Musik und in Becketts Theater. Er deu-
ahmt die verdinglichte Welt, die es zu Objekten ge- tete sogar an, dass jene Art einer ästhetischen Inte-
macht hat, mimetisch nach. gration, die sich in diesen Werken erkennen ließ,
Horkheimers und Adornos These, wonach der in eine nicht mehr verdinglichte Form der gesellschaft-
der Dialektik der Aufklärung beschriebene Weg den lichen Synthesis ankündigen könnte, die in einer
einzigen Pfad der Ich-Entwicklung darstelle, verlei- zukünftigen Gesellschaft möglicherweise zu ver-
tete sie dazu, das selbstherrliche Ich zum Ich als sol- wirklichen sei.
chem zu erheben. Die Integration des Selbst ist laut Adorno erlaubte sich jedoch – vielleicht aufgrund
Horkheimer und Adorno ihrem Wesen nach gewalt- eines fortbestehenden marxistischen Vorurteils ge-
sam: »Furchtbares hat die Menschheit sich antun gen die Psychologie – in Hinsicht auf die Synthesis
müssen, bis das Selbst, der identische, zweckgerich- des Selbst nicht dieselbe spekulative Freiheit. So ver-
tete, männliche Charakter des Menschen geschaffen suchte er niemals, aus dem ›gewaltfreien Miteinan-
war, und etwas davon wird noch in jeder Kindheit der des Verschiedenen‹, das er in avancierten Kunst-
wiederholt« (ebd., 40; vgl. auch Castoriadis 1984, werken zu erkennen glaubte, Möglichkeiten neuer,
497 f.). Zudem muss das Ich zur Erhaltung seiner weniger repressiver Formen der Integration des
Einheit und seiner Identität fortwährend an zwei Selbst zu extrapolieren (vgl. Wellmer 1983; 1985;
Fronten über seine Grenzen wachen: gegenüber der Whitebook 1995). Dies ist bedauerlich, denn hätte er
inneren wie auch gegenüber der äußeren Natur ein- die These in Frage gestellt, dass die Integration des
schließlich der naturhaften Forderungen des Über- Selbst notwendigerweise gewaltsam von statten gehe,
Ichs (vgl. Freud 1999b, Kap. V). Das Ziel der Aufklä- hätte er vielleicht einen Ausweg aus der Dialektik der
rung bestand im Ausgang der Menschheit aus Furcht Aufklärung gefunden.
und Unreife und der Beförderung ihrer Entfaltung Habermas vertrat die Auffassung, dass sich Hork-
durch die Entwicklung der Vernunft und der Natur- heimer und Adorno durch ihren theoretischen Mo-
beherrschung. Doch so, wie ihn Horkheimer und nismus in diese Sackgasse manövriert hätten, indem
Adorno präsentieren, macht sich der gesamte Pro- sie versuchten, die geschichtliche und die individu-
7. Psychoanalyse 41

elle Entwicklung eindimensional in der Begrifflich- zu erfordern; andernfalls wäre sie sinnlos. Da Ha-
keit der instrumentellen Rationalität darzustellen bermas die Bewusstseinsphilosophie ablehnt, ist das
(vgl. TKH, Kap. IV; DM, Kap. V). Er setzte ihrem Mo- Ausmaß seines Cartesianismus nicht so leicht zu er-
nismus eine zweite Dimension, die Dimension der kennen. Seiner Ablehnung der prima philosophia
kommunikativen Rationalität, entgegen; mit diesem zum Trotz ist für Habermas – wie für Descartes – der
Schritt wandte er sich entschieden von Horkheimer radikale Skeptizismus die Nemesis, die bekämpft
und Adorno ab. Auch wenn Habermas’ Theorie der werden muss; ein nachmetaphysischer Philosoph
kommunikativen Rationalität verschiedene Ent- sollte wissen, dass dies unmöglich ist. Doch während
wicklungsstufen durchlaufen hat und während sei- für Descartes die Täuschung durch einen bösen Dä-
ner langen und außergewöhnlich produktiven Kar- mon die Form einer systematisch verzerrten Wahr-
riere abgemildert wurde, hat Habermas an seinen nehmung annimmt, manifestiert sie sich für Haber-
grundlegenden Intuitionen bezüglich der Kommu- mas in einer systematisch verzerrten Kommunika-
nikation mit bemerkenswerter Beharrlichkeit festge- tion. Und ebenso wie das Schreckgespenst einer
halten. Er hat wiederholt dargelegt, dass die Aporien systematischen und totalisierten Verzerrung Descar-
nicht allein der Frankfurter Schule, sondern auch tes veranlasst, im Bewusstsein nach einem archime-
der Gegenwartsphilosophie insgesamt nur vom dischen Punkt zu suchen, um diese Verzerrung zu
Standpunkt der kommunikativen Vernunft aus auf- überwinden, versucht Habermas einen solchen
gelöst werden können. Punkt in der idealen Sprechsituation aufzufinden,
Generell hatte Habermas das richtige Ziel vor Au- um seinen ›linguistischen Dämon‹ zu bezwingen.
gen, da er im Gegensatz zu Adorno gewillt war, eine Die Idee unverzerrter Kommunikation war die
positive Auffassung des Selbst zu skizzieren. Doch ›Keimzelle‹, aus der sich Habermas’ Abkehr vom
eben das Mittel, das er für seine Neuformulierung Feuerbachianischen Materialismus Freuds und seine
der Psychoanalyse verwendete, die Theorie der Hinwendung zu einem Kantischen Transzendenta-
Kommunikation nämlich, führte zu seiner Abwen- lismus herleiteten. Tatsächlich stand die Kantische
dung von der Psychoanalyse. Und indem er sich von Suche nach theoretischen und normativen Grundla-
Freud ab- und der Kognitionspsychologie von Piaget gen einer Kritischen Theorie, die – wenn auch ohne
und Kohlberg zuwandte, gab er das Mittel aus den Rekurs auf eine Letztbegründung – Habermas’ Den-
Händen, mit dem er dieses Desiderat in angemesse- ken zunehmend dominierte, in direktem Wider-
ner Weise hätte verfolgen können. spruch mit seinem erklärten Ziel, den Feuerbachia-
In Übereinstimmung mit seinem allgemeinen nischen Materialismus der frühen Frankfurter
Programm rekonstruierte Habermas die Psychoana- Schule zu bewahren. Und nirgendwo lässt sich die-
lyse in sprachtheoretischer Perspektive; er glaubte, ser Konflikt deutlicher ablesen als im Freud-Kapitel
die Psychoanalyse sei ein Beispiel einer sich bewäh- von Erkenntnis und Interesse.
renden Humanwissenschaft – wenn auch einer Wis- Was Habermas in seiner Diskussion klinischer
senschaft, die sich selbst nicht richtig verstand, weil Phänomene zugesteht, widerruft er in seiner sprach-
ihr eine tragfähige Theorie der Sprache fehlte. Er re- theoretischen Reformulierung der Metapsychologie.
interpretierte die psychoanalytische Theorie des fal- Habermas wollte – wie Paul Ricœur in Die Interpre-
schen Bewusstseins – mit der Träume, neurotische tation – eine abstrakte Epistemologie vermeiden.
Symptome, Fehlleistungen und kulturelle Illusionen Daher nimmt er eine transzendentale Analyse psy-
erklärt werden sollen – als eine ›Theorie systema- choanalytischer Phänomene vor, um deren wesentli-
tisch verzerrter Kommunikation‹ (für eine program- che Charakteristika zu bestimmen. In der analyti-
matische Darstellung vgl. Habermas 1970b). Zu die- schen Praxis ist das Phänomen des Widerstandes all-
sem Zwecke musste er zeigen, dass sich das Selbst gegenwärtig. Sowohl Analytiker als auch Analysand
durch Kommunikation formt, und er musste außer- sehen sich, wie Habermas bemerkt, einer Kraft ge-
dem zeigen, wie die Sprache dem Selbst den Zugang genüber, die sich ihnen in ihrem Bemühen um Ein-
zu sich selbst verstellen kann. sicht und Verständnis entgegenstellt. Er räumt zu-
Diese Herangehensweise brachte aber ein gravie- dem ein, dass der Widerstand nicht allein ein kogni-
rendes Problem mit sich, das für die weitere Ent- tives (oder sprachliches) Phänomen ist, und er sieht
wicklung von Habermas’ Werk von enormer Bedeu- daher ein, dass es zwecklos ist, die Patienten einfach
tung sein sollte. Die Idee einer systematisch verzerr- mit dem kognitiven Gehalt ihrer verdrängten Ge-
ten Kommunikation scheint schon aus Gründen der danken zu konfrontieren, ohne sich mit der Kraft
Logik die Idee einer unverzerrten Kommunikation dieser Verdrängung auseinandergesetzt und diese
42 II. Kontexte

durchgearbeitet zu haben. Dies hätte, wie Freud ein- gabe der Psychoanalyse, diesen Prozess durch eine
mal ironisch schreibt, »ebensoviel Einfluß auf die Regrammatisierung der zensierten Vorstellungen
nervösen Leidenssymptome wie die Verteilung von umzukehren und diese in das öffentliche Netz der
Menukarten zur Zeit einer Hungersnot auf den Hun- intersubjektiven Kommunikation (der Sekundär-
ger« (Freud 1999a, 123). prozesse) wieder einzubringen. Nach dieser Darstel-
Habermas räumt ein, dass die Tatsache des Wi- lung gibt es keine gewaltförmigen außersprachlichen
derstandes – und die Notwendigkeit, ihm entgegen- Phänomene, die die Übersetzung einer entsprach-
zutreten – es erforderlich macht, ›gewaltförmige‹ lichten Vorstellung in eine versprachlichte behin-
und damit ›naturwüchsige‹ Phänomene im Innern dern. Am nächsten kommt Habermas einem solchen
der menschlichen Psyche zu postulieren. Und er ge- Gedanken noch mit dem vom jungen Hegel erborg-
steht ein, dass ein rein hermeneutischer Ansatz nicht ten Begriff des ›Schicksalszusammenhanges‹. Den-
ausreicht, um diese Kräfte zu verstehen oder ihnen noch kann er die zwingende Macht dieses Zusam-
entgegenzutreten. Selbst wenn wir – worüber sich menhangs nie in zufriedenstellender Weise erläu-
streiten ließe – zugestehen, dass das Ziel der Psycho- tern, die – wie man intuitiv erfasst – mit einem
analyse letztlich ein hermeneutisches ist, muss die anderen Beispiel einer zwingenden Macht, nämlich
psychoanalytische Technik (die mehr ist als bloße dem ›zwanglosen Zwang des besseren Arguments‹
Interpretation) zum Einsatz kommen, um die objek- in Zusammenhang stehen muss.
tivierten Erkenntnisblockaden zu lösen und das Ver- Habermas’ Programm der Versprachlichung nö-
stehen zu ermöglichen. Die klinische Erfahrung for- tigt ihn, ein grundlegendes Postulat der Freud’schen
dert, wie Habermas bemerkt, dass sich die »Sprach- Psychoanalyse als »unbefriedigend« zu verwerfen:
analyse mit der psychologischen Erforschung kausaler die Existenz eines nichtsprachlichen Unbewussten
Zusammenhänge vereint« (EI, 266, Hervorh. i.O.). (EI, 295). Wenn es auch degrammatisiert ist, bleibt
Diese Überlegungen veranlassen ihn, Freud vom das Unbewusste immer noch sprachlich strukturiert,
Vorwurf des Szientismus partiell wieder freizuspre- insofern es regrammatisiert werden kann. Indem er
chen und zuzugestehen, dass sein szientistisches die Existenz eines nichtsprachlichen Unbewussten
Selbstverständnis »nicht ganz unbegründet« war (EI, zurückweist, reduziert Habermas die Alterität des
263). Ungefähr zur selben Zeit – und mit ähnlicher ›inneren Auslands‹ des Subjekts. Als sprachliches
theoretischer Motivation – stellte Paul Ricœur die unterscheidet sich das Unbewusste nicht grundsätz-
Behauptung auf, Freuds Objektivismus und sein lich vom Bewusstsein.
»Naturalismus« seien »wohlbegründet«, da die Psy- Die Zurückweisung eines vorsprachlichen Unbe-
che sich objektiviere, um sich vor sich selbst zu ver- wussten hat für Habermas eine unerwünschte theo-
bergen (vgl. Ricœur 1969, 444). retische Konsequenz. Trotz seiner vorgeblichen Ab-
Trotz dieser treffenden Darstellung der klini- lehnung des ›Universalitätsanspruchs der Herme-
schen Erfahrung gehen gewaltförmige Phänomene neutik‹ verschreibt er sich de facto einer Form des
in Habermas’ ›metapsychologische‹ Darstellung der sprachlichen Monismus (Habermas 1970a). Mit der
Repression nicht ein; die Verdrängung ist aber ge- Versprachlichung des Unbewussten sind wir ›immer
rade der Ursprung des Widerstandes. Stattdessen schon‹ in der Sphäre der Sprache, ohne dass äußere
bringt er eine rein hermeneutische Analyse vor. nichtsprachliche Phänomene auf diese einwirken
Seine These besagt, die Verdrängung sei ein inner- könnten. Gadamer, der kein Experte für Psychoana-
sprachlicher Prozess, den er als ›Exkommunikation‹ lyse war, erkannte dies und vertrat die Auffassung,
bezeichnet. Wenn Kinder spüren, dass ihre ›Bedürf- dass Habermas’ Zurückweisung eines nichtsprachli-
nisinterpretationen‹ (Wünsche) zu gefährlich sind, chen Unbewussten den ›Universalitätsanspruch der
um öffentlich ausgesprochen zu werden, ›degram- Hermeneutik‹ gerade bekräftige (Gadamer 1971,
matisieren‹ (verdrängen) sie die verbotenen Gedan- 81).
ken; d. h. sie entziehen diese der Logik der normal- Durch sein ganzes Werk hindurch hat Habermas
sprachlichen Kommunikation (den Sekundärpro- an der Auffassung festgehalten, dass das menschli-
zessen) und verbannen sie ins Unbewusste. Das che Subjekt ›von Kopf bis Fuß‹ sprachlich organisiert
Unbewusste wird so als der Bereich aufgefasst, der sei. Man hat den Eindruck, dass es Habermas für nö-
alle entsprachlichten Vorstellungen (des Primärpro- tig hält, diese These – einschließlich der sich daraus
zesses) umfasst. ergebenden Behauptung, das Selbst sei ›von Kopf bis
Wenn Verdrängung in Degrammatisierung be- Fuß‹ ein gesellschaftliches – zu vertreten, um der
steht, so Habermas’ Überlegung, dann ist es die Auf- Möglichkeit eines progressiven politischen Pro-
7. Psychoanalyse 43

gramms keinen Abbruch zu tun. Doch wenn die gerät nie mit seinem wirklichen Anderen in irgend-
Leugnung der prä- und antisozialen und damit der einem wesentlichen Sinne in Berührung. Schließlich
irrationalen Dimension der menschlichen Natur nö- ist es auch aufschlussreich, dass Habermas zwar for-
tig ist, um die politische Hoffnung aufrechtzuerhal- dert, die »innere Natur« müsse versprachlicht bzw.
ten, so muss diese Hoffnung von Anfang an recht »kommunikativ verflüssigt« werden (RHM, 88), je-
unsicher gewesen sein. doch niemals die Idee erwägt, das Ich zu ›instinktua-
Habermas Auseinandersetzung mit Foucaults lisieren‹ bzw. seine triebhaften Elemente anzuerken-
Theorie des Wahnsinns ist hier aufschlussreich. Er nen.
lehnt die These des französischen Denkers ab, wo-
nach die ›große Einschließung‹ des Wahnsinns im
Literatur
sechzehnten Jahrhundert den Gründungsakt der
modernen Rationalität darstelle, insofern dort die Adorno, Theodor W.: »Zum Verhältnis von Soziologie und
Vernunft ihr Anderes exkommuniziert habe. Haber- Psychologie«. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. von
Rolf Tiedemann. Bd. 8. Frankfurt a. M. 1972.
mas räumt ein, dass dies für eine eingeschränkte, szi- Castoriadis, Cornelius: Gesellschaft als imaginäre Institu-
entistisch-subjektzentrierte Form der Rationalität tion: Entwurf einer politischen Philosophie. Frankfurt
zutreffen mag. Doch der Deutsche Idealismus habe, a. M. 1984.
so Habermas, tatsächlich jenen Dialog zwischen der Derrida, Jacques: »Cogito und die Geschichte des Wahn-
Vernunft und ihrem abgespaltenen Anderen begon- sinns«. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt
a. M. 1972, 53–101.
nen, den Foucault fordert – ein Dialog, der ergiebi- Freud, Sigmund: Über ›wilde‹ Psychonalyse [1910]. Hg. von
gere, umfassendere und flexiblere synthetische Leis- Anna Freud et al. (Gesammelte Werke: chronologisch
tungen ermöglichen würde. Habermas behauptet geordnet. Bd. 8). Frankfurt a. M. 1999a.
weiter, dass die Denker des Deutschen Idealismus –: Das Ich und das Es [1923]. Hg. von Anna Freud et al.
dieses Programm zwar nicht einlösen konnten, da (Gesammelte Werke: chronologisch geordnet. Bd. 13).
Frankfurt a. M. 1999b.
sie dem Bezugssystem der prima philosophia verhaf- Gadamer, Hans-Georg: »Rhetorik, Hermeneutik und Ideo-
tet blieben, dass er jedoch mit seiner Theorie kom- logiekritik: Metakritische Erörterungen zu ›Wahrheit
munikativer Rationalität diesem Anspruch gerecht und Methode‹«. In: Karl-Otto Apel (Hg.): Hermeneutik
werde (DM, 281 f., Anm. 3; Whitebook 2005, 312– und Ideologiekritik. Frankfurt a. M. 1971, 57–82 (auch in:
347). Hans-Georg Gadamer: Gesammelte Werke. Bd. 2. Tübin-
gen 1986, 232–250).
Habermas macht es sich hier jedoch zu einfach Habermas, Jürgen: »Der Universalitätsanspruch der Her-
und vergibt sich damit die Chance, zu einem über- meneutik«. In: Rüdiger Bubner (Hg.): Hermeneutik und
zeugenderen Resultat zu gelangen. Der Grad der Al- Dialektik. Bd. 2. Tübingen 1970a, 73–103 (auch in: LSW
5
terität des Anderen bestimmt zwei Dinge: wie 1982, 331–366).
schwierig die Kommunikation mit dem Anderen –: »Toward a Theory of Communicative Competence«. In:
Hans Peter Dreitzel (Hg.): Recent Sociology No. 2: Pat-
sein wird, und wie viel Wachstum sich aus der Aus- terns of Communicative Behaviour. New York 1970b,
einandersetzung mit diesem ergeben kann. Auch 115–130 (auch in: Philosophy & Social Criticism. 4. Jg., 4
wenn eine Verminderung der Alterität den Dialog ver- (1977), 321–344).
einfacht, führt sie zugleich zu einer Verminderung des –: »Psychischer Thermidor und die Wiedergeburt der Re-
Wachstumspotentials. Und was die Psychoanalyse bellischen Subjektivität«. In: Ders.: Philosophisch-politi-
sche Profile. Erw. Ausgabe. Frankfurt a. M. 1981, 319–
und ihr Desiderat einer weniger gewalttätigen Syn-
335.
these des Selbst angeht, so reduziert die Leugnung Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Auf-
eines vorsprachlichen Unbewussten den Riss im klärung: Philosophische Fragmente [1947]. Frankfurt
Subjekt und das Ausmaß der integrativen Arbeit, der a. M. 1969.
sich das Ich gegenübersieht. Und im selben Maße Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft: Ein philo-
sophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M.
verringert sie auch das Wachstumspotential des
1965.
Ichs. Ricœur, Paul: Die Interpretation: Ein Versuch über Freud.
Was Derrida über den ›Dialog mit der Unver- Frankfurt a. M. 1969 (frz. 1965).
nunft‹ bei Foucault sagte, lässt sich auch über die Wellmer, Albrecht: »Wahrheit, Schein, Versöhnung. Ador-
Auseinandersetzung des Selbst mit seinem inneren nos ästhetische Rettung der Modernität«. In: Ludwig v.
Anderen bei Habermas sagen. Der gesamte Prozess Friedeburg/Jürgen Habermas (Hg.): Adorno-Konferenz
1983. Frankfurt a. M. 1983, 138–176.
ist dem »Logos im allgemeinen« immanent (Derrida –: »Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne«. In:
1972, 65). Ein Unbewusstes, das als sprachliches ver- Ders.: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Ver-
standen wird, ist das Pseudo-Andere des Logos, es nunftkritik nach Adorno. Frankfurt a. M. 1985, 48–114.
44 II. Kontexte

Whitebook, Joel: Perversion and Utopia: A Study in Psycho-


analysis and Critical Theory. Cambridge, Mass. 1995.
8. Nachmetaphysisches
–: »Against Interiority: Foucault’s Struggle With Psycho- Denken
analysis«. In: Gary Gutting (Hg.): The Cambridge Com-
panion to Foucault. New York 22005, 312–347.
Joel Whitebook (Übers. Nikolaus Gramm) Habermas’ Eintreten für ein – von ihm so benanntes
– ›nachmetaphysisches Denken‹ kann leicht miss-
verstanden werden. Es sollen damit keineswegs Un-
tersuchungen jener Art zurückgewiesen werden, wie
sie z. B. in letzter Zeit im Zuge eines Revivals der
›analytischen Metaphysik‹ angestellt werden; zu die-
ser Richtung zählen vor allem David Lewis und die
›australischen Metaphysiker‹. Vielmehr wendet sich
Habermas – in erster Linie wenigstens – gegen jene
Tradition metaphysischen Denkens, die in der
Hegel’schen Philosophie und im Deutschen Idealis-
mus ihren Höhepunkt erreichte, und zugleich wen-
det er sich gegen die verschiedenen – und für Haber-
mas letztlich immer noch ›metaphysischen‹ – Versu-
che, dieser Tradition zu entrinnen, wie sie in den
Schriften Nietzsches, Heideggers und Derridas zu
finden sind. Über den Vorwurf, dass auch diese Den-
ker noch Metaphysiker seien, lässt sich wahrschein-
lich weidlich streiten. Man sollte sich jedoch wieder
ins Gedächtnis rufen, dass Heidegger Nietzsche als
den letzten der großen Metaphysiker las, und dass
auch Derrida behauptete, Heidegger habe nicht hin-
länglich mit der ›Metaphysik der Präsenz‹ gebro-
chen. Habermas erteilt diesen Formen philosophi-
scher Reflexion eine Absage; sein Ruf nach einem
›nachmetaphysischen Denken‹ stellt eine andere
Formulierung für seinen Versuch dar, über die Sub-
jekt- bzw. Bewusstseinsphilosophie hinauszugelan-
gen, – und dies in entschlossenerer Weise zu tun, als
es bei diesen in Habermas’ Augen gescheiterten Ver-
suchen vieler neuerer kontinentaleuropäischer Phi-
losophen geschehen war. Daher steht diese Forde-
rung auch mit der Argumentation in Einklang, die
er zuvor in Der philosophische Diskurs der Moderne
formuliert hatte, wonach nämlich Nietzsche und
seine ›postmodernen‹ Nachfolger ihren eigenen In-
tentionen zum Trotz in die moderne Subjektphiloso-
phie verstrickt blieben: In ihrem Bemühen, die Defi-
zite der Subjektphilosophie zu überwinden, gaben
diese Denker entweder zu viel preis (indem sie etwa
die Errungenschaften der modernen Rationalität op-
ferten), oder sie sahen die Philosophie weiterhin als
eine privilegierte Form einer Untersuchung an, die
Einsichten zu Tage bringen könne, die sich grund-
sätzlich von den Einsichten der empirischen Wis-
senschaften unterscheiden. Oder sie taten beides zu-
gleich – dies wäre, kurz gesagt, Habermas’ sicherlich
kontroverse Interpretation von Heideggers Denken.
8. Nachmetaphysisches Denken 45

In Nachmetaphysisches Denken meldet Habermas net, darf man aber fragen, was Habermas am ›meta-
jedoch auch Einwände gegen eine Rückkehr zur Me- physischen Denken‹ so anstößig findet, und welche
taphysik an, wie sie sich in der nachkantischen Me- Chancen für einen radikalen Bruch mit diesem Den-
taphysik Dieter Henrichs erkennen lässt. Tatsächlich ken bestehen. Ferner muss wenigstens der Verdacht
lässt sich aus der lebenslangen Auseinandersetzung angesprochen werden, dass Habermas’ Charakteris-
dieser beiden Denker mit den Positionen des jeweils tik der Metaphysik (nun im pejorativen Sinne ge-
anderen in prägnanter und faszinierender Weise Ha- braucht) so umfassend angelegt ist, dass sie fast jede
bermas’ Reserve gegenüber der Weiterführung des philosophische Untersuchung einschließt. In ande-
metaphysischen Denkens ablesen. In einer ganzen ren Worten: Was schlägt er vor, um der Metaphysik
Reihe von Arbeiten hat Henrich immer wieder auf (in seinem Verständnis) zu entgehen, ohne die phi-
das unabdingbare Bedürfnis nach einer philosophi- losophische Reflexion insgesamt aufzugeben? Unter
schen Klärung der Struktur und der Aufgabe des ›metaphysischem Denken‹ versteht Habermas ganz
Selbstbewusstseins hinzuweisen versucht. In einem allgemein die Tradition der klassischen Metaphysik:
maßgeblichen Aufsatz zu Fichte stellte er die Be- zuerst bei Platon, dann in der mittelalterlichen Phi-
hauptung auf, dass ein infiniter Regress nur dann losophie, in der ›Subjektphilosophie‹ – als Antwort
vermieden werden könne, wenn eine (nicht-verge- auf das Erstarken der Naturwissenschaft als einer
genständlichende) Selbstbeziehung und Selbster- konkurrierenden Erkenntnisform entstanden –, in
kenntnis gegeben sei, die jeder (epistemischen) Be- der Kritik dieser Form von Metaphysik im kontinen-
ziehung zwischen Subjekt und Objekt vorausgehe taleuropäischen Denken des 20. Jahrhunderts und
(vgl. Henrich 1966). Für Habermas dagegen lässt schließlich in einigen jüngeren Versuchen, die ›Sub-
Henrichs Versuch, der Subjektphilosophie eine zen- jektphilosophie‹ fortzuführen (für die wiederum
trale und sogar grundlegende Rolle zuzuschreiben, Dieter Henrich steht). Diese Denkgebäude stimmen
die bedeutenden Errungenschaften der Philosophie, – insbesondere seit dem Zeitalter der ›Subjektphilo-
der Pragmatik und der Handlungstheorie außer sophie‹ – in der Ansicht überein, dass es eine Form
Acht, auf die sich seine eigene Forderung nach ei- der Forschung und des Wissens gebe, die der Philo-
nem Paradigmenwechsel stützt. Welche Einsichten sophie eigentümlich sei und durch die sich die Phi-
auch immer eine solche philosophische Untersu- losophie erstens deutlich von den Natur- und Gesell-
chung zu einer phänomenologischen Klärung des schaftswissenschaften unterscheide, aufgrund derer
Selbstbewusstseins beisteuern mag – es ist weder die Philosophie aber zweitens auch imstande sei,
wahrscheinlich noch wünschenswert, dass sie die ganz besondere und verbindliche Einsichten über
von Henrich gesetzten ambitionierten Ziele errei- den Sinn des Lebens und darüber, was die Welt ›im
chen wird (vgl. ND, 18–34). Andererseits hat Hen- Innersten zusammenhält‹, zu Tage zu fördern. Ha-
rich den Vorwurf erhoben, Habermas’ ›Paradigmen- bermas bestreitet mit seiner Forderung eines ›nach-
wechsel‹ – vom Selbstbewusstsein zum kommunika- metaphysischen Denkens‹, dass die heutige Philoso-
tiven Handeln – sei weniger radikal, als es scheine, phie diese Aufgabe noch in plausibler und schlüssi-
und dessen anfängliche Plausibilität rühre daher, ger Weise übernehmen könne. Wenn aber diese
dass unhintergehbare Fragen der traditionellen Me- Beschreibung der Metaphysik nicht so umfassend
taphysik einfach unter den Teppich gekehrt würden sein soll, dass sie potentiell jede philosophische For-
(vgl. Henrich 1982). Der Gedankenaustausch dieser schung einschließen könnte, muss sie präziser ge-
beiden Theoretiker berührt tatsächlich viele drän- fasst werden. Habermas behauptet nicht, dass es für
gende philosophische Fragen, etwa nach dem Ver- die Philosophie nichts mehr zu tun gebe – damit
hältnis zwischen Philosophie und Naturalismus, würde er tatsächlich die Funktionen leugnen, die er
nach dem Ort der Philosophie in einer modernen, der Philosophie zuweist, nämlich ›Hüter der Ver-
pluralistischen Welt und nach dem Verhältnis zwi- nunft‹ zu sein und ›als Platzhalter und Interpret‹ das
schen Philosophie und anderen Wissenschaften kulturelle Verstehen zu befördern (vgl. MKH, 9–28).
(einschließlich der Sozialwissenschaften). Dies legt Er stellt hier aber insbesondere in Frage, ob es eine
jedoch die Schlussfolgerung nahe, dass Habermas spezielle Erkenntnisform der Philosophie gebe – im
der Philosophie eine weit weniger ambitionierte und Sinne einer (stark) transzendentalen Untersuchung
viel bescheidenere Funktion zumisst als viele andere oder in einer neuen Form des Denkens wie etwa in
Philosophen. Heideggers ›Andenken‹ –, die besondere und ver-
Angesichts der Tatsache, dass Habermas eine bindliche Einsichten über die Welt oder den Sinn des
große Zahl von Denkern als Metaphysiker bezeich- Lebens biete. Nach Habermas dagegen muss die Phi-
46 II. Kontexte

losophie in einer Welt, die sich durch das ›Faktum schreiben versucht, schottet sie sich nicht vollkom-
des vernünftigen Pluralismus‹ (Rawls) und eine zu- men gegen die Einsichten anderer empirischer Wis-
nehmend prozedurale und nicht-substantielle Ratio- senschaften ab und berücksichtigt diese, wenn sie
nalität auszeichnet, diese großen – einstmals mit der ihre falliblen Behauptungen absichern möchte.
Religion geteilten – Ambitionen aufgeben. In dieser Zweitens versucht sie in ihrer Funktion als Interpret,
Hinsicht sind für ihn zwei Formen des metaphysi- zwischen unterschiedlichen Formen des Experten-
schen Denkens besonders paradigmatisch: Auch wissens einerseits und den banaleren Selbstverhält-
hier zunächst einmal die Tradition der Subjektphilo- nissen und sozialen Praktiken, aus denen die Le-
sophie bzw. der ›Reflexionsphilosophie‹, derzufolge benswelt des Alltags besteht, andererseits zu vermit-
das Erkenntnissubjekt durch eine besondere refle- teln. In keinem dieser beiden Fälle verfügt die
xive Wendung bzw. durch einen besonderen reflexi- Philosophie über eine unverwechselbare Methodo-
ven Blick ein Wissen erwirbt, das gleichsam ›tiefer logie, und sie kann auch keine besondere Quelle der
liegt‹ als die Grundlagen anderer Wissensformen Autorität für sich in Anspruch nehmen, die anderen
und diese sogar tatsächlich begründet. Und zweitens Disziplinen oder auch einem selbstreflexiven Staats-
die Form einer ›Fundamentalontologie‹, die von bürger nicht zur Verfügung stünden (vgl. dazu Ha-
Heidegger und seinen Nachfolgern vertreten wird bermas’ Aufsatz »Noch einmal: Zum Verhältnis von
und die im Gegensatz zu der – den empirischen Wis- Theorie und Praxis«, in: WR, 319–333). Wie andere
senschaften vorbehaltenen – Erkenntnis des ›Seien- Autoren gezeigt haben, ist diese doppelte Aufgaben-
den‹ eine besondere Art des Wissens über den ›Sinn stellung, die Habermas der Philosophie zuerkennt,
des Seins‹ hervorbringt. Habermas beanstandet ins- nicht ganz unproblematisch (vgl. Dews 1999, 1–28).
besondere die Art und Weise, nach der diese beiden Einerseits bleibt es im Zusammenhang der stärker
Formen der Metaphysik sich gegen jede Herausfor- eingegrenzten Aufgabenstellung hinsichtlich der re-
derung durch die empirischen Wissenschaften im konstruktiven Wissenschaften unklar, wie die Phi-
weitesten Sinne abschirmen. losophie es vermeiden kann, einfach von den jewei-
Diese Auslegung von Habermas’ Verständnis des ligen Wissenschaften absorbiert zu werden (man
metaphysischen Denkens wird durch seine skizzen- denke nur an Quines naturalisierte Epistemologie
hafte Darstellung eines Alternativmodells der Philo- oder an die Faszination, die derzeit von der ›Neuro-
sophie bestätigt; einerseits richtet er sie an den so philosophie‹ ausgeht). Andererseits bleibt es unklar,
genannten ›rekonstruktiven Wissenschaften‹ aus, wie es der Philosophie – in ihrer zweiten Rolle als
die das praktische Wissen kompetenter Sprecher ›Interpret‹ – gelingen könnte, einige jener ambitio-
und Akteure zu explizieren versuchen, und anderer- nierteren Thesen zu vermeiden, durch die sie sich
seits betont er die im umfassenderen Sinne interpre- früher auszeichnete. Das soll heißen: Wenn die Phi-
tierende oder hermeneutische Funktion der Philo- losophie z. B. überzeugende Thesen über die ideale
sophie als eines Interpreten der Kultur (vgl. MKH, bzw. ›richtige‹ Integration oder Balance konkurrie-
9–28). In beiden Fällen ist das von der Philosophie render naturwissenschaftlicher Erkenntnisansprü-
bereitgestellte Wissen fallibel, der Kritik durch die che, über ästhetische (oder ›welterschließende‹)
(Natur-)Wissenschaften ausgesetzt und stets von Einsichten oder über die Rechtfertigung morali-
vorgängigen gesellschaftlichen Praktiken und Kom- scher und rechtlicher Normen für eine bestimmte
petenzen abhängig. Erstens greift die Philosophie gesellschaftliche Lebenswelt aufstellen möchte, oder
als ein ›Hüter der Rationalität‹ Aspekte einer (jetzt wenn sie dazu beitragen möchte, die Einsichten ei-
weitgehend prozeduralen) Auffassung der Rationa- ner der Fachdisziplinen einer Lebenswelt zu vermit-
lität auf und arbeitet diese weiter aus; diese Rationa- teln, in der oft weit weniger differenzierte Ansichten
litätsauffassung bildet sich in verschiedenen Berei- zu diesen Fragen vorherrschen, dann muss sie si-
chen der Forschung (einschließlich der Sprachphi- cherlich mehr als nur kulturelle Interpretationen
losophie und der Sprachpragmatik, der Handlungs- anbieten. In diesem Sinne bleibt selbst für viele mit
theorie und der Moralpsychologie, der Rechtstheorie Habermas eigentlich sympathisierende Kritiker die
und der politischen Theorie) heraus. Jedoch ist die Frage unbeantwortet, ob die Philosophie – selbst in
Philosophie – im Gegensatz zu älteren Auffassun- ihrer Habermas’schen Gestalt – sich tatsächlich von
gen – keine rein apriorische Disziplin mehr: Selbst der privilegierten Position verabschieden kann, die
wenn sie weiterhin so etwas wie die ›Bedingungen die Metaphysik einst für sich selbst in Anspruch
der Möglichkeit‹ verschiedener menschlicher Kom- nahm, wenn ihr zugleich eine wichtige, wenn auch
petenzen und gesellschaftlicher Praktiken zu be- nicht ihr allein vorbehaltene Funktion erhalten blei-
9. Recht und Kant 47

ben soll: ihre eigene Zeit in Gedanken zu fassen und 9. Recht und Kant
zu explizieren.

Literatur Habermas’ Kant-Rezeption ist intensiv und findet


Dews, Peter (Hg.): Habermas: A Critical Reader. Oxford
sich in allen Teilbereichen seiner Philosophie. Sie
1999. wird hier hinsichtlich der Moralphilosophie, der
Henrich, Dieter: »Fichtes ursprüngliche Einsicht«. In: Rechts- und Demokratietheorie, der Theorie des
Ders.: Subjektivität und Metaphysik: Festschrift für Wolf- Völkerrechts sowie der Erkenntnistheorie darge-
gang Cramer. Frankfurt a. M. 1966. stellt.
–: Fluchtlinien: Philosophische Essays. Frankfurt a. M. 1982.
Kenneth Baynes (Übers. Nikolaus Gramm)
Moralphilosophie: Es ist Habermas’ erklärtes Pro-
gramm, Kants Moralphilosophie mit diskurstheore-
tischen Mitteln neu zu formulieren (ED, 9). Dies im-
pliziert eine Umstellung der am einzelnen Subjekt
orientierten Bewusstseinsphilosophie Kants auf eine
Theorie der Intersubjektivität. Entsprechend tritt in
Habermas’ Diskursethik an die Stelle des Kategori-
schen Imperativs, der jedem Einzelnen ein Prüfver-
fahren für Handlungsmaximen bereitstellt, das Ver-
fahren moralischer Argumentation: Ein praktischer
Diskurs kann nicht monologisch, sondern nur unter
mehreren Teilnehmern geführt werden, die – veran-
lasst durch einen lebensweltlichen Konflikt, in dem
bisher unreflektiert befolgte Handlungsmaximen
kontrovers geworden sind – ein gemeinsames Prüf-
verfahren hinsichtlich dieser Maximen anstrengen
(ED, 12). Obwohl Habermas Kants verschiedene Fas-
sungen des Kategorischen Imperativs bewusst ver-
nachlässigt, um die ihnen zugrunde liegende ge-
meinsame Idee zu reformulieren (MKH, 73), liegt es
nahe, zwei dieser Fassungen in zwei diskursethi-
schen Prinzipien wiederzuerkennen: Während Ha-
bermas’ »diskursethischer Grundsatz (D)«, demzu-
folge nur diejenigen Normen Geltung beanspruchen
dürfen, die die Zustimmung aller Betroffenen als
Teilnehmer eines praktischen Diskurses finden
(MKH, 76; ED, 12), sich als diskurstheoretische Über-
setzung von Kants monologischer Prüfung, »daß ich
auch wollen könne, meine Maxime solle ein allge-
meines Gesetz werden« (Kant GMS, 28) lesen lässt,
kann Habermas’ »Universalisierungsgrundsatz (U)«
als Argumentationsregel, die die Geltung von Nor-
men davon abhängig macht, dass »Ergebnisse und
Nebenfolgen, die sich aus einer allgemeinen Befol-
gung für die Befriedigung der Interessen eines jeden
ergeben, von allen zwanglos akzeptiert werden kön-
nen« (ED, 12, Hervorh. I.M.; vgl. MKH, 76), als Re-
formulierung jener Fassung des Kategorischen Im-
perativs verstanden werden, in der letztlich die for-
male Vermittlung materialer Zwecke angelegt ist:
Die Formulierung »Handle so, daß du die Mensch-
heit sowohl in deiner Person, als in der Person eines
48 II. Kontexte

jeden andern, jederzeit zugleich als Zweck, niemals die die Rezeption der Diskurstheorie dennoch bis
bloß als Mittel brauchest« (Kant GMS, 61), wird heute beeinträchtigen. Der Formalismuseinwand
nämlich von Kant dahingehend erläutert, dass die Hegels besagt, dass der Kategorische Imperativ auf
Anerkennung eines jeden Menschen als »Zweck an ein tautologisches Prüfverfahren hinauslaufe, inso-
sich selbst« erfordere, dass jedermann, »die Zwecke fern jede bestimmte Maxime mit der reinen Unbe-
anderer, soviel an ihm ist, zu befördern trachte[…]«, stimmtheit des abstrakten Generalisierungsprinzips
so dass er »zu des andern Glückseligkeit was bei- konveniere. Wie Habermas zeigt, ist dieser Einwand
trüge« (Kant GMS, 63, Hervorh. I. M.). deshalb hinfällig, weil das formale Prüfverfahren
Dieser Vergleich lässt die Frage einer Identität nicht logische oder semantische Konsistenz, son-
zwischen Kants Begriff der »Zwecke« eines jeden dern Verallgemeinerbarkeit des Willens in Bezug auf
und Habermas’ Begriff der »Interessen eines jeden« die Verallgemeinerung der Maxime zu einem Gesetz
offen, richtet sich aber gegen die These, dass sich fordert, wobei die zu prüfenden »Inhalte« der Maxi-
Kants Moralphilosophie durch einen »salto mortale« men realexistierende Standards des Verhaltens sind
in die Sphäre reiner Freiheit vom perspektivischen (ED, 21). Kategorischer Imperativ wie praktischer
Interessenausgleich der Habermas’schen Diskurs- Diskurs entnehmen diese Inhalte der »Lebenswelt«
ethik unterscheide (so Brandt 2002, 55 f.). Wenn (ebd.; MKH, 113). – Hegels »Primat der Sittlichkeit
auch einer anderen These des Habermas-Kritikers, vor der Moral« – ein Argument, das gegen Kants
derzufolge Habermas’ »diskurstheoretische Lesart« »Abstraktionen« (Maus 1992, 267 ff.) gerichtet ist –
des Kategorischen Imperativs (erste Fassung), dass unterliegt Habermas’ Kritik, dass Hegel eingefahrene
nämlich jedem einzelnen angesonnen werde, die und institutionalisierte Verhaltensweisen der »Le-
»Perspektive aller anderen einzunehmen, um zu benswelt« unmittelbar zu normativen erklärt und
prüfen, ob eine Norm aus der Sicht eines jeden von mit einer »Sittlichkeit« identifiziert, die auf dem re-
allen gewollt werden könne«, Kants Intention ver- flexiven Niveau kognitivistischer Moral nicht mehr
fehlt (ebd., 54, bezüglich Habermas’ EA, 48 f.), zuge- kritisiert werden kann (MKH, 117 f.). Hegels Argu-
stimmt werden kann, so doch aus Gründen, die der ment kann Habermas aber insofern einen Sinn abge-
»intelligiblen« Lesart des Kritikers entgegenstehen: winnen, als es dazu dient, unter anderem den An-
Die monologische Fassung Kants lässt auch eine In- wendungsbereich von Ethiken der Kantischen Tra-
terpretation zu, die mit Kants Konstruktionen der dition zu präzisieren. Diese erstrecken sich nur auf
Selbstüberlistung bornierter Egoisten kompatibel ist: die Sollgeltung von Handlungsnormen, nicht aber
Jeder Einzelne hat sich zu fragen, ob er wollen kann, auf die Präferenz von Werten (ebd., 55, 114).
dass die zu prüfende Maxime seines eigenen Han- Den Einwand der »Ohnmacht des bloßen Sol-
delns – als zur Allgemeinheit eines Gesetzes erho- lens« beantwortet Habermas nicht mit einer Zurück-
bene – auch gegen ihn selbst angewendet wird. Un- weisung, sondern mit dem Hinweis auf seine Modi-
bezweifelbar altruistisch und den moralischen Per- fikation von Kants Moralphilosophie. Kants Dualis-
spektivenwechsel fordernd ist dagegen gerade die mus zwischen apriorischer Idee und empirischer
komplementäre Fassung des Kategorischen Impera- Praxis wird so weitgehend abgeschwächt, dass eine
tivs, die die materiellen Zwecke überhaupt, und zwar spezifische Schwierigkeit dieser Moralphilosophie
eines jeden anderen, einbezieht (zur Reflexivität des aufgehoben wird: Hatte noch Kant Freiheit (als Be-
Verhältnisses von Moralprinzip und Glückseligkeit dingung der Möglichkeit moralischen Handelns)
bei Kant vgl. Maus 1992, 265, 267 ff.). nicht in ihrer Wirklichkeit, sondern nur in ihrer
Insgesamt ist die Übereinstimmung zwischen Möglichkeit dartun können, um schließlich auf die
Kants monologischer und Habermas’ diskurstheore- Auskunft des Faktums der (moralischen) Vernunft
tischer Moralphilosophie nach Habermas’ eigenem zu verfallen (Kant GMS, 84, 91 ff.), so rekurriert Ha-
Verständnis so groß, dass er »Hegels Einwände ge- bermas’ sprachphilosophische Fassung des Problems
gen Kant« auch auf die Diskursethik bezieht und auf die idealisierenden Selbstüberforderungen, die
ausführlich abarbeitet (ED, 9 ff.). Es handelt sich vor in die Alltagspraxis sprachlicher Verständigung im-
allem um die Einwände des sich in Tautologien ver- mer schon eingebaut sind (FG, 19). Kants Gegensatz
strickenden Formalismus des Kategorischen Impe- von Sein und Sollen wird somit bei Habermas in
rativs, des objektiv gegebenen »Primats der Sittlich- »der faktischen Kraft kontrafaktischer Unterstellun-
keit vor der Moral« und der »Ohnmacht des bloßen gen« (ED, 20) vermittelt, welch letztere jeder Spre-
Sollens«. In Reaktion auf diese Einwände gegen Kant cher vorzunehmen gezwungen ist, weil er sprach-
antwortet Habermas zugleich auf Missverständnisse, pragmatischen Voraussetzungen (reziproker Aner-
9. Recht und Kant 49

kennung aller beteiligten Sprecher) nicht entkommen ner Demokratie deshalb ›Republik‹ und kennzeich-
kann. Diese bleiben zugleich als normatives Krite- net diese durch eine strenge funktionale Gewalten-
rium bestehen: Auch wenn die faktische sprachliche teilung zwischen Legislative, Exekutive und
Koordination gesellschaftlichen Handelns nirgends Judikative, wobei er nur den Gesetzgeber mit der
eine »ideale« sein sollte, so bleibt doch in den mit- »Herrschergewalt (Souveränität)« auszeichnet, wäh-
laufenden »kontrafaktischen Unterstellungen« der rend Exekutive und Judikative bloß »zufolge dem
Stachel der Kritik gegen faktischen Missbrauch der Gesetz« bzw. »nach dem Gesetz« zu arbeiten haben
Sprache zu Zwecken der Repression erhalten. (MdS/RL § 45). Indem Kant gleichzeitig begründet,
dass die »gesetzgebende Gewalt [...] nur dem verei-
Rechts- und Demokratietheorie: Dass Habermas seine nigten Willen des Volkes zukommen« kann, ist ein
am vollständigsten ausgearbeitete Demokratietheo- Zusammenhang zwischen Volkssouveränität und
rie überhaupt als integralen Bestandteil seines rechts- Rechtsstaat etabliert, in dem rechtsstaatliche Gewal-
philosophischen Werks vorlegt (FG), bezeugt bereits tenteilung die Volkssouveränität nicht nur begrenzt,
eine größtmögliche Übereinstimmung mit Kant. sondern auch – und vor allem – Bedingung der Mög-
Während Habermas’ frühe Kant-Rezeption vor al- lichkeit von Volkssouveränität ist. Indem das »Volk«
lem am Prinzip der »Publizität« orientiert war (SÖ, (unmittelbar oder repräsentiert, Gemeinspruch,
117 ff.), und sich bis in späte Konzeptionen kriti- 152) nur aber alle gesetzgebende Gewalt innehat, ist
scher Öffentlichkeit, deliberativer Politik und struk- es zwar nicht zu einzelnen Regierungsakten und Ge-
turierter Zivilgesellschaft durchhält (z. B. FG, 349 ff.; richtsurteilen befugt, aber die Bindung der Einzel-
399 ff.), findet sich erst in Faktizität und Geltung der entscheidungen von Regierung und Justiz an die all-
wechselseitige Verweisungszusammenhang von (1) gemeinen Gesetze (diese Bindung ist bei Kant sogar
Demokratie und Recht einerseits und – im Gegen- streng subsumtionslogisch formuliert, MdS/RL § 45)
satz zu Habermas’ früheren Publikationen – (2) die bewirkt die Unterwerfung der Staatsapparate unter
Trennung von Recht und Moral andererseits im Hin- den Willen des Volkes: Das staatliche Gewaltmono-
blick auf Kant expliziert und in eine äußerst kom- pol darf nur gemäß der Direktiven der gesellschaftli-
plexe diskurstheoretische Fassung überführt, die zu- chen Basis eingesetzt werden.
gleich Habermas’ eigene Fassung des Diskursprin- Diese Form der Gewaltenteilung, die auf das ge-
zips modifiziert (FG, 138 f., 140). Auch Habermas’ naueste mit der von Locke und Rousseau begründe-
Begründung einer »logischen Genese von Rechten«, ten übereinstimmt und das Kennzeichen des seit
die die Konzeption der (3) »Gleichursprünglichkeit« dem 19. Jahrhundert entwickelten englischen und
von Freiheitsrechten und Volkssouveränität auf eine kontinentaleuropäischen Parlamentarismus ist, steht
sehr spezifische Weise entwickelt, gehört zu den re- im Gegensatz zur Struktur der amerikanischen Uni-
formulierten Theorieelementen Kants, die in die fol- onsverfassung, die die gesetzgebende Souveränität
gende kompakte Darstellung von Kants Prinzipien zwischen Legislative, Exekutive (per Veto-Recht des
einer demokratischen Verfassung aufgenommen Präsidenten) und Judikative (per inzidenter Nor-
sind. Sehr spezielle Konstruktionen Kants werden menkontrolle durch den Supreme Court) aufteilt
erst in die Erörterung ihrer Rezeption bei Habermas und so – basierend auf der vordemokratischen The-
eingeführt. – Nur als Vorbemerkung zu Kants De- orie Montesquieus – die Staatsgewalt nicht demo-
mokratietheorie sei auf eine verbreitete Fehlrezep- kratisiert, sondern »konstitutionalisiert«. Kants Be-
tion hingewiesen, die Kants Überlegungen zu und gründung der Privilegierung volkssouveräner Ge-
Anforderungen an »provisorisch« zu duldende ob- setzgebung bezieht sich auf die notwendige
rigkeitsstaatliche Systeme (Kant Gemeinspruch, Prozeduralisierung des Volkswillens im Gesetzge-
153 ff.; MdS/RL, 437 ff.) für Kants eigentliche Demo- bungsprozess, die sich mit der Struktur der Gesetze
kratietheorie hält – ein Missverständnis, das bei Ha- verbindet: Indem »ein jeder über alle und alle über
bermas nicht vorkommt. einen jeden ebendasselbe beschließen«, ist die Vor-
1. Die Verschränkung des radikalen Demokra- aussetzung dafür gegeben, dass ungerechte Gesetze
tieprinzips der Volkssouveränität mit dem der vermieden werden (MdS/RL § 46). Während Exeku-
Rechtsstaatlichkeit ist bei Kant bereits darin ausge- tive oder Judikative partikulare bzw. singuläre Ent-
drückt, dass er den Begriff der ›Demokratie‹ deshalb scheidungen über andere treffen, liegt in der dreifa-
vermeidet, weil dieser im 18. Jahrhundert die antike chen Allgemeinheit des demokratischen Gesetzes –
Demokratie bezeichnet, die noch keine Gewaltentei- hinsichtlich der Partizipation an seiner Entstehung,
lung kennt. Kant nennt seine starke Konzeption ei- sowie seiner Anwendung und seines Inhalts – ein
50 II. Kontexte

Prinzip, das zu Kants moralischem Prüfverfahren im den, sondern nur auf deren äußere Handlungen be-
Verhältnis der Analogie, aber nicht der Identität ziehen, und dass aus der großen Zahl ethischer Ver-
steht. Der monologische Generalisierungstest des pflichtungen immer nur wenige in die Sprache des
Kategorischen Imperativs (1. Fassung) bezieht sich Rechts übersetzt – das heißt auch: von Selbstzwang
nur auf die Allgemeinheit eines fiktiven Gesetzes, auf äußeren Zwang umgestellt – werden können
auf die Gesetzesform als solche (GMS, 28); das real (MdS/TL, 510), erklärt sich Kants vehementes Ver-
existierende demokratische Rechtsgesetz aber hat dikt gegen jede ethische Unterwanderung der
das faktische Prüfverfahren durch alle real Beteilig- Rechtsbindung politischer Macht. Ein solcher Vor-
ten, die die Gesetze zugleich über sich selbst verhän- gang bedeutete die Sprengung aller Grenzen, die
gen, zur Voraussetzung. Es ist diese Implikation der staatlichen Anforderungen an die Bürger durch die
Vermeidung von Willkür, die bei exekutivischen Struktur des Rechts gesetzt sind: Der staatliche An-
oder judikativen Entscheidungen durch den demo- spruch auf lediglich äußere legale Konformität der
kratischen Souverän nicht gegeben wäre. Gegen die Individuen würde z. B. in der Weise eines Gesin-
Willkür von Exekutive und Judikative wiederum nungsstrafrechts erweitert, die Reethisierung einzel-
richtet sich Kants weitere Anforderung an das Ge- ner Gesetze deren Regelungsbereiche ausdehnen
setz: die »mathematische Genauigkeit« seiner inhalt- und die Multiplikation der Gesetze durch ihre Er-
lichen Bestimmungen (MdS/RL § E). gänzung um staatlich sanktionierte ethische Ver-
Was gegenwärtig leicht als Pedanterie missver- pflichtungen die Aufhebung jeder bürgerlichen Frei-
standen wird, ist tatsächlich das Kriterium der Ver- heit bedeuten. Vergleicht man zum Beispiel eine ge-
wirklichung von Volkssouveränität: die Unterwer- setzestypische Fassung des Verleumdungstatbestands
fung der Staatsapparate unter einen gesetzgebenden mit der unbestimmt weiten ethischen Norm »Du
Willen des Volkes, dessen Präzision den anwenden- sollst nicht lügen«, so wird deutlich, dass die Umstel-
den Instanzen keine Entscheidungsspielräume ge- lung politischer Integration von Rechtsnormen auf
währt. Mit dieser Voraussetzung Kants ist der neur- ethische Normen jede staatliche Zwangsgewalt zu
algische Punkt bezeichnet, an dem sich die demo- offenem Terror entgrenzen würde (vgl. Maus 1992,
kratische Qualität auch heutiger sog. Demokratien 308 ff., 328). Auch das häufige Missverständnis von
bestimmen läst. Auch wenn Kants radikale Forde- Kants Forderung der »Einhelligkeit der Politik mit
rung subsumtionslogischer Rechtsanwendung sich der Moral« (ZeF, 244 ff.) verdankt sich lediglich
als nicht einlösbar erwies, so bemisst sich doch an Kants Sprachgebrauch, in dem Moral als Oberbegriff
dem Kriterium, ob gegenwärtige Entscheidungen zu Ethik und Recht fungiert. Kants Klarstellung ist
der Staatsapparate sich wenigstens innerhalb der überdeutlich:
Grenzen des Wortlauts der Gesetze halten, inwiefern »Mit der Moral im ersteren Sinne (als Ethik) ist die Politik
Rechtsstaat und Demokratie überhaupt noch exis- leicht einverstanden, um das Recht der Menschen ihren
tieren. Diese Frage muss im Hinblick auf die seit Oberen Preis zu geben: Aber mit der in der zweiten Bedeu-
dem 20. Jahrhundert entwickelten juristischen Inter- tung (als Rechtslehre) vor der sie ihre Knie beugen müßte,
pretationsmethoden und den entformalisierenden findet sie es ratsam sich gar nicht auf Vertrag einzulassen«
(ebd., 250).
Einbau unbestimmter Rechtsbegriffe in die Gesetze
selbst – Vorgänge, die beide die Inhaltsbestimmung 3. Bereits Kant entwickelt Freiheitsrechte und Volks-
der Gesetze in die Situation der Rechtsanwendung souveränität in engstem wechselseitigem Verwei-
verlagern – leider verneint werden. sungszusammenhang, obwohl er zwischen »Natur-
2. Auch in Kants Entgegensetzung von Recht und recht«, »das auf lauter Prinzipien a priori beruht«,
Ethik, soweit sie noch nicht die Begründungsebene und positivem Recht, das aus dem Willen des Ge-
(dazu unten), sondern die Bestimmung der jeweili- setzgebers hervorgeht, scharf unterscheidet. Als ein-
gen Funktionsweise betrifft, spielt das Kriterium der ziges »angeborenes Recht« (im Sprachgebrauch des
inhaltlichen Bestimmtheit des Rechts eine wichtige 18. Jahrhunderts: Menschenrecht) bezeichnet Kant
Rolle, da sich das Recht in dieser Hinsicht von ethi- nur die »Freiheit« – ein Prinzip, das bereits die
schen Normen grundlegend unterscheidet, deren »Gleichheit« des Freiheitsgebrauchs sowie die Rede-
Anwendung im Einzelfall durch »Spielräume« ge- freiheit (Niesen 2005) impliziert (MdS/RL, 345). Die
kennzeichnet ist (MdS/RL § E; MdS/TL, 520). Unter »angeborenen« Rechte finden sich als »unabtrennli-
den weiteren Voraussetzungen Kants, dass die An- che« Rechtsattribute der »Staatsbürger«, d. h. der zur
forderungen des Rechts – im Gegensatz zu denen Gesetzgebung vereinigten Mitglieder einer Gesell-
der Ethik – sich nicht auf die Motive der Handeln- schaft, in der Modifikation »Freiheit«, »Gleichheit«
9. Recht und Kant 51

und »Selbständigkeit« wieder (MdS/RL § 46). Da ei- dass kein überpositiv-rechtliches Argument jemals
nige Sekundärliteratur existiert, die das letztere At- von Seiten der Staatsapparate gegen die Individuen
tribut zum Leitfaden ihres Verständnisses von Kants geltend gemacht werden kann, sondern dass die Be-
gesamter Demokratietheorie macht, sei hierzu eine rufung auf überpositives Recht ausschließlich denen
Vorbemerkung erlaubt. Kants Prinzip der »Selbstän- zukommt, die nicht politische Funktionäre, sondern
digkeit« erklärt nur diejenigen Bürger zu stimmbe- ›nur‹ Menschen, bzw. Bürger sind. Letzteren ist es
rechtigten »Aktivbürgern«, denen die Qualifikation vorbehalten, ihre überpositiven Rechte in freier Rede
»selbständiger« Arbeit zukommt. Die in der Tat einzufordern und im Gesetzgebungsverfahren als
skandalöse Unterscheidung Kants ist jedoch eine Va- positive Rechte zu konkretisieren.
riante des – im 18. Jahrhundert ubiquitären, sogar In Habermas’ Konzeption eines Systems der
von dem »Radikaldemokraten« Rousseau (Verfas- Rechte in Faktizität und Geltung finden sich die er-
sungsentwurf für Korsika) vertretenen – Inklusions- örterten Theorieelemente Kants in so engem Zu-
Exklusionsprinzips, das nicht mit dem gegenläufi- sammenhang, dass eine getrennte Darstellung ihrer
gen Demokratieprinzip der Volkssouveränität ver- jeweiligen Rezeption inadäquat wäre. Sie erscheinen
wechselt werden darf, sondern zu diesem in bei Habermas bereits auf der Begründungsebene.
Beziehung gesetzt werden muss: Ironischerweise ist Was letztere betrifft, so geht Habermas – genau wie
nämlich ausgerechnet in den heutigen Demokratien, Kant (GMS, 85 ff., 99 ff.) – davon aus, dass moderne
in denen die Egalisierung des Wahlrechts weit fort- Philosophie nicht mehr die Existenz von objektiv
geschritten ist, das (in Verfassungen noch immer be- Gegebenem unterstellen kann und deshalb auf »zir-
schworene) Prinzip der Volkssouveränität gegen- kuläre« Begründungen angewiesen ist. Habermas’
standslos, insofern demokratische Wahlen zwar auf Explikation einer logischen Genese der Rechte in ei-
legislative Zielvorgaben einwirken, aber die Gesetze nem »Kreisprozess« (FG, 155) hat außerdem zur Vo-
durch die Entformalisierung des Rechts für die an- raussetzung, dass das Diskursprinzip (bei Habermas
wendenden Instanzen unverbindlich werden. Ange- bislang ein Moralprinzip) als gegenüber Recht und
sichts der heutigen Selbstprogrammierung der Moral »neutrales« sich auf Handlungsnormen über-
Staatsapparate existiert nur noch ein egalitäres Volk haupt bezieht und das Demokratieprinzip auf
von »Passivbürgern«. Rechtsnormen zugeschnitten ist (FG, 138, 154; 142).
Was nun das Verhältnis von Freiheitsrechten und Im zirkulären Prozess wird zugleich die Hierarchie
Volkssouveränität angeht, so bezeichnet Kant erstere zwischen Naturrecht und positiver Rechtsetzung
sowohl als »Prinzipien a priori«, auf die jeder rechtli- aufgehoben, so dass Freiheitsrechte und Volkssouve-
che Zustand sich gründet (Gemeinspruch 145; vgl. ränität als »gleichursprüngliche« begründet werden
MdS/RL, 345), als auch als Derivate der »obersten können (ebd., 155 ff.). Der »Kreisprozess« beginnt
Gewalt« des souveränen gesetzgebenden Volkes, (als ›logische‹ Genese) mit der Anwendung des Dis-
»von der alle Rechte der einzelnen [...] abgeleitet kursprinzips auf das Recht auf subjektive Hand-
werden müssen« (MdS/RL, 464, Hervorh. I. M.). In lungsfreiheiten (d. h. die Rechtsform als solche) und
dieser doppelten Bestimmung Kants, derzufolge die mündet in die Institutionalisierung demokratischer
Freiheitsrechte zugleich Voraussetzung und Ergeb- Rechtserzeugung, durch die »rückwirkend« die
nis der Ausübung von Volkssouveränität sind, ist der Rechte subjektiver Handlungsfreiheit ausgestaltet
Vorgang einer »Positivierung des Naturrechts« (so werden können (ebd.). Wie bei Kant treten also Frei-
Habermas in Bezug auf die Verfassungsgebung der heitsrechte als Voraussetzung und Ergebnis demo-
Französischen Revolution, vgl. TP, 89 ff.) impliziert, kratischer Gesetzgebung auf, wobei Habermas kon-
ohne dass der vorpositiv-positivrechtliche Doppel- statiert, dass diese Rechte als ermöglichende Bedin-
charakter der Freiheitsrechte in Frage gestellt würde. gungen der gesetzgebenden Souveränität diese nicht
Letzterer ist vielmehr bei Kant noch einmal sehr ge- einschränken können (ebd., 162). Habermas’ zirku-
nau auf die spezifischen Asymmetrien des Prinzips läre Begründung ist gegen Einwände, die ihr einer-
der Volkssouveränität bezogen: Der einen Asymme- seits entweder eine naturrechtsanaloge Rechte-Kon-
trie, der Unterwerfung aller Bürger unter das staatli- zeption oder umgekehrt das Fehlen eines Katalogs
che Gewaltmonopol (das Exekutive und Judikative normativ »richtiger« Grundrechte vorwerfen, oder
handhaben), wird die andere Asymmetrie entgegen- andererseits entweder die Freisetzung einer wildge-
gesetzt: die Unterwerfung der Staatsapparate unter wordenen Volkssouveränität oder deren Minimisie-
die gesetzgebende Souveränität des Volkes. Aus dem rung vorwerfen, gleichermaßen gefeit. Die im Kreis-
vorstaatlichen Charakter der Freiheitsrechte folgt, prozess zuerst eingeführten »Grundrechte« subjek-
52 II. Kontexte

tiver Handlungsfreiheit sind den nachfolgenden Kompatibilisierung privater »Willkür« bestimmen


»Grundrechten« politischer Autonomie deshalb und zugleich die Partizipation am demokratischen
nicht vorgeordnet, weil sie lediglich »Kategorien Rechtsetzungsprozess beinhalten (ZeF 204; MdS/RL
von Rechten« bezeichnen und sich als Rechte erst § 46), ohne dass sie letzterem vorgeordnet wären (so
»aus der politisch autonomen Ausgestaltung« je- aber Habermas: FG 131): Denn Freiheit – von Kant
weils ergeben (FG, 155 f.). Habermas’ minimalisti- als »rechtliche (mithin äußere)« von moralischer
sche Begründungsvoraussetzung vermeidet nicht Autonomie deutlich unterschieden (ZeF, 204 Anm.;
nur (material-)naturrechtliche, sondern auch ge- ebenso: MdS/RL § 46) – ist »die Befugnis, keinen äu-
rechtigkeitsexpertokratische Festlegungen, die den ßeren Gesetzen zu gehorchen, als zu denen ich meine
demokratischen Prozess enteignen könnten, und re- Beistimmung habe geben können« (ebd.). Kants
kurriert allein auf die Rechtsform als solche, d. h. Freiheitsrechte sind also Rechte privater und politi-
die »Sprache«, die in Verfahren der Konkretisierung scher Autonomie in einem; die private Handlungs-
der Rechte notwendigerweise gesprochen werden freiheit wird durch die Partizipation an der Gesetz-
muss. gebung abgesichert. Insofern sind bei Kant Frei-
Die Übereinstimmung mit Kant erscheint prima heitsrechte und Volkssouveränität (in Habermas’
facie auch auf der Begründungsebene als eine (fast) Sprachgebrauch:) ›vorverständigt‹, während Haber-
vollkommene, denn die demokratische Naturrechts- mas’ Rechte auf gleiche subjektive Handlungsfreihei-
theorie des 18. Jahrhunderts war ebenfalls nicht ten zu denen der politischen Autonomie in einem
»zweistufig«, sondern zirkulär angelegt. Ihre Ein- strukturellen Gegensatz stehen, dessen Vermittlung
trittstelle in den Zirkel war noch durch die »angebo- eine sehr viel komplexere diskurstheoretische Fas-
renen« Menschenrechte bezeichnet, aus denen Rous- sung erfordert. Bereits die Differenz zwischen Rech-
seau wie Kant die Notwendigkeit der demokrati- ten privater und politischer Autonomie ist bei Ha-
schen Struktur der Gesetzgebung begründeten und bermas diskurstheoretisch bestimmt: Erstere »ent-
letztere wiederum als Voraussetzung des Schutzes, binden« von den »Verpflichtungen kommunikativer
sowie der fortlaufenden Konkretisierung der Men- Freiheit«, zu intersubjektiv und reziprok erhobenen
schenrechte bestimmten (vgl. Maus 1995, 523 Anm. Geltungsansprüchen Stellung zu nehmen, während
71). Auch die »angeborenen« Menschenrechte wa- die letzteren »Berechtigungen« zum öffentlichen Ge-
ren nicht etwa »gegeben«, sondern verdankten sich brauch kommunikativer Freiheit garantieren (FG,
einer theoretischen Leistung: Nur im hypothetischen 152 f., 161, Hervorh. i.O.). Dieser Gegensatz ist noch
Konstrukt des Naturzustands, d. h. unter Abstrak- dadurch zur »Paradoxie« gesteigert, dass auch die
tion von allen realexistierenden politisch-gesell- letzteren (intersubjektiv bestimmten) Rechte in der
schaftlichen Zwangsveranstaltungen und Hierar- Rechtsform subjektiver Freiheit garantiert werden
chien konnten »Freiheit« und »Gleichheit« kon- müssen (ebd., 164 f.). Der Überbrückung dieses Wi-
trafaktisch begründet werden. – Einige Differenzen derspruchs zwischen der rechtlichen Institutionali-
sind jedoch im Unterschied zwischen subjektphilo- sierung strategischen und kommunikativen Han-
sophischer und diskurstheoretischer Perspektive be- delns dient Habermas’ Ausarbeitung von Diskurs-
gründet, andere ergeben sich erst aus einer sehr spe- formationen (ebd., 197 ff.), die die kommunikative
zifischen Kant-Lektüre, in der Habermas Kants Vor- Rationalität parlamentarischer Verfahren und letzt-
leistungen (vor allem hinsichtlich der Trennung von lich die »Legitimität des Rechts« (ebd., 134) begrün-
Recht und Moral) für die eigene diskurstheoretische den.
Reformulierung unterschätzt (Maus 1995, 539 ff.; Indessen bestreitet Habermas Kant nicht nur –
hier ebenso Brandt 2002, 57 f.). zurecht – eine diskurstheoretische Vermittlung zwi-
Habermas’ Freiheitsrechte, die zur Volkssouverä- schen Freiheitsrechten und Volkssouveränität, son-
nität ins Verhältnis der »Gleichursprünglichkeit« ge- dern auch – sehr zu Unrecht – die Leistung dieser
setzt werden, sind nicht diejenigen Kants: Kant hatte Vermittlung überhaupt, und zwar aufgrund von
die »angeborenen, zur Menschheit notwendig gehö- Kants fehlender (!) Trennung zwischen Recht und
renden und unveräußerlichen Rechte« der »Freiheit« Moral, die dazu führe, dem demokratischen Gesetz-
und »Gleichheit« von vornherein sowohl im Sinne geber moralisch gehaltvolle Normen überzuordnen
gleicher privater Handlungsfreiheit unter dem allge- (FG, 137, 153 f.). Nun ist es in der Kant-Literatur um-
meinen Gesetz (Gemeinspruch 145) als auch als stritten, ob Kant – was die Begründungsebene an-
Prinzipien verstanden, die die Struktur des demo- geht – das Prinzip des Rechts aus dem der Moral ab-
kratischen Gesetzes selbst als Allgemeinheit der leitet oder selbständig gewinnt. Die Tatsache jedoch,
9. Recht und Kant 53

dass Kant bereits in den »Einleitungen« und »Eintei- Eigentums überhaupt und dessen Abhängigkeit von
lungen« am Beginn der Metaphysik der Sitten auf gesetzlicher Konkretisierung bei Kant entsprechen
31 Seiten durchgängig die Trennung von Recht und in etwa die beiden Formulierungen der Eigentums-
Moral behandelt, wird durch eine terminologische garantie des Grundgesetzes: In der ersten wird das
Abweichung vom heutigen Sprachgebrauch verdun- »Eigentum [...] gewährleistet«; die zweite besagt:
kelt: Kant nennt nämlich alle »Gesetze der Freiheit«, »Inhalt [!] und Schranken werden durch die Gesetze
die überhaupt Gegenstand der praktischen Philo- bestimmt« (Art. 14 Abs. 1 GG) – ein Beispiel, in
sophie sind (im Unterschied zu Naturgesetzen) »mo- dem sich auf der Ebene des Verhältnisses zwischen
ralisch« und unterteilt sie in »juridisch[e] und verfassungsrechtlich konkretisiertem Grundrecht
»ethisch[e]« (MdS/RL, 318). Dass also Kant »Moral« und weiterer gesetzlicher Ausgestaltung Habermas’
als einen Oberbegriff von Recht und Ethik behan- »Kreisprozess« der Genese von Rechten wiederholt.
delt, muss beachtet werden, wenn Kant an anderer
Stelle von einem »moralischen Imperativ« spricht, Theorie des Völkerrechts: Mit Kants Völkerrechtsthe-
»aus welchem nachher das Vermögen, andere zu orie hat sich Habermas vorwiegend aus kritischer
verpflichten, d.i. der Begriff des Rechts, [deshalb] Distanz auseinandergesetzt. Aufgrund der Prämisse,
entwickelt werden kann«, weil der »moralische Im- dass die Globalisierung zahlreicher gesellschaftli-
perativ« überhaupt ein »pflichtgebietender Satz« ist cher Teilbereiche diese der nationalstaatlichen (und
(ebd., 347). Kants Begriff der »Moral« ist also gegen- damit jeglicher) Regulierung entzieht, entwickelt
über Recht und Ethik in gleicher Weise »neutral« Habermas Prinzipien einer Weltinnenpolitik, die
wie Habermas’ revidiertes Diskursprinzip. eine »Konstitutionalisierung des Völkerrechts« be-
Erst recht muss Habermas widersprochen wer- gründen. Dabei geht die politische Option des ›Welt-
den, wenn er nicht nur Kants »einzigem« »angebo- bürgers‹ Habermas in die philosophische Auseinan-
renem« Menschenrecht gleicher Freiheit, sondern dersetzung ein – allerdings nicht in der Weise jener
auch der Vielzahl konkretistischer Rechte des Na- strategischen Verwertung, die die Rezeption von
turzustands, die Kant unter dem Titel des »Privat- Kants Friedensphilosophie seit zwei Jahrhunderten
rechts« entwickelt (dazu Maus 1992, 148 ff.), den bestimmt (Eberl 2008): Während diese Kants Völ-
Charakter moralisch begründeten Rechts zuspricht, kerrechtstheorie (ZeF; MdS/RL §§ 53 ff.; Gemein-
das der demokratische Gesetzgeber nur noch zu po- spruch, 165 ff.) für ihre eigenen, jeweils kontextbe-
sitivieren habe (Habermas, FG 130 ff.), womit Kants dingten politischen Zielsetzungen unmittelbar re-
Prinzip der Volkssouveränität überhaupt hinfällig klamiert, macht Habermas seine Differenzen zu
wäre. Im Gegensatz zur »angeborenen« Freiheit ist Kant auch dann kenntlich, wenn seine eigene Kant-
bei Kant das »Mein und Dein« des Naturzustands Lektüre sich zu gegenwärtigen Rezeptionsfronten
nur »erworbenes« Recht und die Art der Erwerbung ins Verhältnis setzt. Was zunächst letztere angeht, so
(im Gegensatz zu Locke) als »erste Besitznahme« erschließt die dominante Lesart Kants Friedens-
qua schierer Bemächtigung eine so moralfreie, dass schrift als Legitimationsquelle für eine internatio-
ihr nur »provisorische« Geltung zugesprochen wird nale Politik, die – im Vorgriff auf ein Weltsystem –
(Kant MdS/RL, 373 ff.). Kein »Gebot«, bloß ein »Er- sich gegen die UN-Charta verselbständigt und die
laubnisgesetz« der Vernunft fordert (ebd., 329, 355; Durchsetzung gleicher Menschenrechte in allen Ge-
dazu grundlegend Brandt 1982, 233 ff.), dass die sellschaften dieser Welt unverzüglich und zwingend
Rechte des Naturzustands nur so lange anzuerken- verlangt. Entsprechend konzentriert sich die strate-
nen sind, bis die »öffentliche« demokratische Ge- gische Ausbeutung Kants vor allem auf die Anstren-
setzgebung des bürgerlichen Zustands sie als »per- gung, dem Text der Friedensschrift die Option für
emtorische« Rechte qualifiziert (Kant MdS/RL, einen »Weltstaat« und die Befürwortung von militä-
374 f., 431) – wobei »der Wille des Gesetzgebers [...] rischen Interventionen abzupressen. Habermas’ Re-
in Ansehung dessen, was das äußere Mein und Dein zeption geht einen anderen Weg. Aus dem »histori-
betrifft, [...] untadelig« ist (ebd., 435, Hervorh. i.O.). schen Abstand von 200 Jahren« erklärt Habermas
Lediglich die theoretischen Prämissen des »Privat- Kants Friedensschrift zunächst in wesentlichen Tei-
rechts« begründet Kant in einem »Rechtlichen Pos- len für obsolet, und zwar vor allem wegen ihrer Ab-
tulat« der praktischen Vernunft, dass überhaupt das sage an einen Weltstaat, wie Habermas zugleich zu-
»Äußere (Brauchbare) [...] das Seine von irgendje- treffend und pejorativ feststellte (EA, 196 ff.). Erst
mandem werden könne« (ebd., 354 ff., 361). Diesem später ließ sich Habermas von der hegemonialen
Verhältnis zwischen der Notwendigkeit rechtlichen angloamerikanischen Interpretation überzeugen
54 II. Kontexte

(GW, 124, Anm. 24), derzufolge die Friedensschrift sich bestehender Staat« auf friedliche, quasi privat-
letztendlich einen Weltstaat begründet – zu einem rechtliche Art durch einen anderen Staat »erwor-
Zeitpunkt, als Habermas diese Option bereits verab- ben« werden kann oder ein Staat sich in »Verfassung
schiedete und stattdessen für eine Weltverfassung und Regierung eines andern Staats gewalttätig ein-
ohne Staat eintrat. Aus dieser letzteren Perspektive mischen« darf. Die Begründung gilt für beide Fälle:
ergibt sich die spezifische Komplexität von Haber- Der Staat »ist« das Volk, bzw. er »ist eine Gesellschaft
mas’ späterer Kant-Rezeption hinsichtlich des eige- von Menschen«, die sich entsprechend der »Idee des
nen Projekts einer »Konstitutionalisierung des Völ- ursprünglichen Vertrags« zu einem Volk von Staats-
kerrechts« (GW, 113 ff.). bürgern zusammengeschlossen haben (ZeF, 197).
In der Friedensschrift selbst findet sich der aus Die privatrechtliche Erwerbung eines Staates lädiert
Kants innerstaatlichem Demokratiemodell bekannte nicht diesen als solchen, sondern nur den Staat in
Zusammenhang zwischen Freiheitsrechten und seiner Eigenschaft als »moralische Person« (in ge-
Volkssouveränität um das zusätzliche Element des genwärtigem Sprachgebrauch: als juristische Per-
Friedens erweitert – eine Konstellation, die die all- son), das heißt den Staat als Personenverband der
seitige Optimierung dieser Prinzipien voraussetzt. Bürger: diese letzteren werden in einer solchen
So bestimmt Kant die »Friedensstiftung« als »den Transaktion zu »Sachen« herabgewürdigt und (wie
ganzen Endzweck der Rechtslehre« (MdS/RL, 479) zum Beispiel seinerzeit beim Verkauf der Insel Kor-
und die fortschreitende »Republikanisierung«, das sika durch Genua an Frankreich) um ihre staatsbür-
heißt Demokratisierung aller Staaten als wichtigste gerliche Selbstbestimmung gebracht. Auch im Fall
Voraussetzung des Friedens – aber nicht als Mittel der »gewalttätigen Einmischung« (zwecks Änderung
zum (End-)Zweck, denn die demokratische Organi- einer schlechten Verfassung oder anlässlich der Be-
sation ist (entsprechend der sie prägenden Struktur drohung einer Verfassung durch inneren Separatis-
des Gesellschaftsvertrags) ein Zweck an sich selbst mus) liegt der »Skandal«, der die »Autonomie aller
(Gemeinspruch 143 f., vgl. Maus 1992, 43 ff., 54 f.). Staaten unsicher machen« würde, in der »Verletzung
Die Mittel zur Herbeiführung eines Weltfriedens der Rechte eines nur mit seiner inneren Krankheit
müssen darum auch diesem Zweck entsprechen. Die ringenden […] Volks« (ZeF, 199, Hervorh. I. M.).
Forderung des ersten Definitivartikels der Friedens- Dass also Staatssouveränität zwischenstaatliche An-
schrift: »Die bürgerliche Verfassung in jedem Staat erkennung deshalb (!) verdient, weil sie der Au-
soll republikanisch sein« (ZeF, 204 ff.), besteht zwar ßenaspekt innerstaatlicher Volkssouveränität ist,
hinsichtlich der friedensfördernden Struktur dieser kann diesen Formulierungen unmittelbar entnom-
Staatsorganisation, insofern in ihr die Staatsbürger, men werden. Diese normative Auszeichnung der
welche die Lasten eines Krieges zu tragen haben, Staatssouveränität durch Volkssouveränität ist eine
selbst über Krieg oder Frieden beschließen und des- Voraussetzung für Kants Ablehnung eines alle Staa-
halb [unter Abwesenheit moderner massenmedialer ten einschmelzenden Weltstaats. Die Begründung in
Beeinflussung] den Frieden vorziehen. Der Selbst- der »Idee« des ursprünglichen Vertrags (der bei Kant
zweck der Republik aber wird bereits in Kants detail- ein Gesellschaftsvertrag zwischen Freien und Glei-
lierter Erörterung ihrer einzelnen Verfassungsprin- chen ist und die Struktur demokratischer Gesetzge-
zipien kenntlich gemacht. bung bereits enthält) lässt freilich angesichts der real
Auch Kants Option für einen Völkerbund und ge- existierenden Binnenstrukturen der Staaten eine
gen den Weltstaat beruht wesentlich auf dieser Vor- schwerwiegende Frage offen, die nach der Erörte-
aussetzung. Die im zweiten Definitivartikel der Frie- rung des äußerst umstrittenen zweiten Definitivarti-
densschrift begründete Option ist bereits durch zwei kels (ZeF, 208 ff.) behandelt werden kann.
der Präliminarartikel vorbereitet, in denen Kant die Im Gegensatz zu einer Kant-Literatur, welche die
Vorbedingungen eines jeden Friedensschlusses in diesem Artikel enthaltene Option Kants gegen ei-
überhaupt angibt. Diese erläutern zugleich den Zu- nen Weltstaat und für das »negative Surrogat« des
sammenhang zwischen »Gesellschaftsvertrag« und Völkerbunds als (vorläufige) resignative Anpassung
demokratischer Organisation einerseits und die Be- an empirische Bedingungen völkerrechtlicher Praxis
ziehung zwischen dem innerstaatlichen und zwi- interpretiert, um daraus einen heimlichen Stufen-
schenstaatlichen Aspekt bürgerlicher Selbstbestim- plan für einen letztendlich doch zu erreichenden
mung (d. h. zwischen Volkssouveränität und Staats- Weltstaat zu gewinnen, wird hier die These vertre-
souveränität) andererseits. Die Prämilinarartikel 2 ten, dass Kants Gründe gegen einen Weltstaat von
und 5 (ZeF, 196 f., 199) schließen aus, dass ein »für ausschließlich normativer Qualität sind (zum Fol-
9. Recht und Kant 55

genden vgl. Maus 2006). Die umkämpfte Passage der gebung nicht organisiert und Gesetze nicht mehr
Friedensschrift lautet: implementiert werden können, so dass in einem Zu-
stand anarchischen Despotismus weder Freiheit
»Für Staaten, im Verhältnisse unter einander, kann es nach noch Frieden zu gewährleisten sind (Gemeinspruch,
der Vernunft keine andere Art geben, aus dem gesetzlosen
Zustande, der lauter Krieg enthält, herauszukommen, als 169, MdS/RL, 474). Umgekehrt bleibt im Völker-
daß sie, eben so wie einzelne Menschen, ihre wilde (gesetz- bund der innerstaatliche Zusammenhang von de-
lose) Freiheit aufgeben, sich zu öffentlichen Zwangsgeset- mokratischer Freiheit und Frieden erhalten, so dass
zen bequemen, und so einen (freilich immer wachsenden) in der globalen Föderation der Einzelstaaten Staats-
Völkerstaat [...], der zuletzt alle Völker der Erde befassen souveränität als Volkssouveränität anerkannt ist.
würde, bilden. Da sie dieses aber nach ihrer Idee vom Völ-
kerrecht durchaus nicht wollen, mithin, was in thesi richtig Die »Idee« des ursprünglichen Vertrags kann
ist, in hypothesi verwerfen, so kann an die Stelle der positi- Kant zufolge also nur in Einzelstaaten überhaupt re-
ven Idee einer Weltrepublik (wenn nicht alles verloren wer- alisiert, andererseits aber bloß in historischer Ent-
den soll) nur das negative Surrogat eines den Krieg abweh- wicklung asymptotisch erreicht werden. Insofern ist
renden, bestehenden, und sich immer ausbreitenden Bun- Staatssouveränität lediglich Bedingung der Möglich-
des« treten (ZeF, 212 f., Hervorh. I.M.).
keit von Volkssouveränität. Angesichts der Tatsache,
Kants zentrale Aussage, dass die Völker der Erde den dass die übergroße Mehrheit der Staaten von der
Weltstaat, der »in thesi richtig ist, in hypothesi ver- Verwirklichung demokratischer Freiheit noch weit
werfen«, ist nicht als Hinweis auf bloß faktische Ein- entfernt ist, und hinsichtlich der normativen Direk-
stellungen und im Sinne einer Preisgabe von »Theo- tive, dass selbst eine Demokratie nicht gegen den
rie« zugunsten empiriegeleiteter »Praxis« zu verste- Willen des Volkes eingeführt werden darf (MdS/RL
hen. Da Kant die kategorische Verpflichtung, auf 463), entwickelt Kant die völkerrechtliche Perspek-
einen ewigen Frieden hinzuwirken, allein daraus ab- tive des »Erlaubnisgesetzes« der Vernunft, unge-
leitet, dass die Unmöglichkeit der Verwirklichung rechte Verfassungen solange zu dulden, wie sie ohne
dieses Ziels nicht bewiesen werden kann, sind die Gefahr des Rückfalls in einen völlig rechts- und ver-
Urteile über die Mittel zu dieser Verwirklichung not- fassungslosen »Naturzustand« noch nicht verändert
wendig »hypothetisch« (Gemeinspruch, 167 ff., werden können (ZeF, 234 u. Anm., vgl. ebd., 201). Es
170 f.). Das Urteil der »Völker dieser Erde« wird so ist dieses Erlaubnisgesetz, das sowohl dem Frieden
»in hypothesi« vom Philosophen gerechtfertigt und als auch staatsbürgerlicher Selbstbestimmung dient
als Ergebnis eines Prüfverfahrens dargestellt, das und den Zeitbedarf berücksichtigt, den je autonome
Kant als das der »bestimmenden Urteilskraft« aus innergesellschaftliche Lernprozesse auf dem Weg zu
der theoretischen Philosophie in die Friedensphilo- einer freiheitsrechtlichen Demokratie beanspru-
sophie überträgt: In diesem Prüfverfahren fungieren chen.
Kants »politische[n] Grundsätze«, die die Abwägung Kants Entwurf eines »Weltbürgerrechts« (3. Defi-
zwischen beiden Friedensmodellen ermöglichen nitivartikel) hat in Habermas’ später Rezeption ei-
(MdS/RL, 474), analog zu transzendentalen Sche- nen so spezifischen Stellenwert, dass er erst in die-
mata, die in der theoretischen Philosophie die Sub- sem Kontext dargestellt wird.
sumtion eines Gegenstands unter einen reinen Ver- Für Habermas’ neue Interpretationsperspektive
standesbegriff (z. B. eines Tellers unter den Begriff (Maus 2007, 358 ff.) ist – wie erwähnt – Kants ver-
des Zirkels) steuern (KrV, 183 ff., 187 ff.): Bei diesem meintliche Weltstaatsoption von Belang, die jetzt
Verfahren erweist sich, dass von beiden an sich »ver- kritisiert wird. Habermas zeichnet so einerseits Kant
nünftigen« Friedensmodellen, dem Weltstaat und als Vordenker einer weltbürgerlichen Verfassung
dem Völkerbund, nur das letztere auch in der »hypo- aus, während er andererseits diese Verfassung durch
thetischen« Erwägung seiner Realisierung allen nor- Abstraktion von ihrem (Kantischen) weltstaatlichen
mativen Kriterien der Vernunftidee des Friedens Substrat gewinnt. Habermas’ spezifische Lesart einer
noch entsprechen kann, während der Weltstaat als Weltstaatsoption Kants bezieht sich auf das besagte
realisierter diese verletzen würde. Diese normativen »Weltbürgerrecht«, durch welches Kant das Völker-
Kriterien werden von Kant wiederum im Sinne des recht als ein Recht zwischen Staaten in ein Recht der
Kontinuums von Frieden, Freiheitsrechten und de- Individuen »als Mitglieder einer politisch verfassten
mokratischer Autonomie bestimmt, die den »Kirch- [!] Weltgesellschaft« transformiere (NR, 326), wobei
hofsfrieden« eines Weltstaats ausschließen. Kant sich Kant diese Weltverfassung, die dem individuel-
erläutert, dass in einem weltumspannenden Staat len Recht der »Weltbürger« korrespondiere, nicht
allein aufgrund seiner Größe demokratische Gesetz- ohne die Existenz einer »Weltrepublik«, also eines
56 II. Kontexte

Weltstaats, habe vorstellen können (ebd.). Dagegen Auch Habermas’ eigener Entwurf einer globalen
bestimmt Habermas’ Projekt einer »Konstitutionali- Verfassung enthält eine Annäherung an Kants
sierung des Völkerrechts« Kants »weltbürgerlichen Konzeption. Habermas’ »föderalistisch verfasste[s]
Zustand« »so abstrakt […], dass dieser nicht mit der Mehrebenensystem« (NR, 327) trägt nach eigener
Weltrepublik zusammenfällt und nicht als utopisch Einschätzung Züge eines Völkerbunds (ebd., 335).
abgetan werden kann« (ebd., 327). Diese Abstrak- Während an der Spitze einer reformierten Weltorga-
tion kommt indessen, wie ohnehin der Verzicht auf nisation lediglich Friedenssicherung und Menschen-
den Weltstaat, Kants eigener Intention mehr entge- rechtspolitik angesiedelt sind, ist die eigentliche
gen als beabsichtigt. Die einzige Passage, in der Kant »Weltinnenpolitik« kontinentalen Regimes, die aus
– im Unterschied zur durchgängigen Negation einer zusammengeschlossenen Nationalstaaten bestehen,
Weltrepublik – das Weltbürgerrecht in den Kontext vorbehalten (GW, 134 f.). Im Begriff einer »Verfas-
eines »allgemeinen Menschenstaats« rückt (Kant sung« freilich, zu der das Vertragswerk der UN-
ZeF, 203 Anm.) handelt, nur scheinbar paradox, ge- Charta transformiert werden soll, ist die der Weltor-
rade nicht von einem solchen Staat, sondern nur von ganisation zugeordnete Menschenrechtspolitik in ei-
den Menschen. Diese sind nicht etwa »Bürger eines ner Weise gegenüber demokratisch-rechtsstaatlichem
allgemeinen Menschenstaats«, sondern sind als sol- Prozedere isoliert, die sowohl Kants als auch Haber-
che nur »anzusehen« (Hervorh. I. M.). Es handelt mas’ innerstaatlichem Verfassungsbegriff diametral
sich um Rechte von Menschen, die je nach Rollen- widerspricht. Habermas rekurriert deshalb hinsicht-
perspektive jedes Einzelnen eine staatsbürgerliche, lich globaler Politik (der UNO) auf deren »Einbet-
völkerrechtliche oder weltbürgerliche Dimension tung« in die Weltöffentlichkeit (NR, 356), während
haben können. Kant spricht also nur von »Alle[r] er die Legitimität der Weltinnenpolitik an die Legiti-
rechtliche[r] Verfassung […], was die Personen [!] mationsressourcen der Nationalstaaten rückkoppelt
betrifft« (ZeF, 203 Anm.), und nicht von Verfassun- (GW, 139).
gen, die politische Gemeinwesen, gleich welcher
Größenordnung, organisieren. Auch das im dritten Erkenntnistheorie: Obgleich die Konsequenzen des
Definitivartikel erläuterte »Weltbürgerrecht« (ZeF, linguistic turn für die Erkenntnistheorie hier nicht
213 ff.) hält sich auf dieser Abstraktionsebene. Es ist erörtert werden können, so sei doch auf Habermas’
das Recht der »allgemeinen Hospitalität« bei grenz- eigene Positionierung in diesem Vorgang der »prag-
überschreitendem Verkehr und setzt also die Exis- matistischen Deflationierung des Kantischen Ansat-
tenz von Grenzen gerade voraus. Auch Kants Ziel- zes« hingewiesen (NR, 30). Kants Transzendental-
setzung einer Reziprozität des Verkehrs – vor allem philosophie, die sich ohnehin von jedem ontologis-
zwischen Vertretern »unseres Weltteils« und der von tisch-unmittelbaren Zugriff auf die Gegenstände der
ihnen unterdrückten und ausgeplünderten Teile der Erkenntnis verabschiedet und sich auf die Bedin-
übrigen Welt – durch »zuletzt öffentlich gesetz- gungen der Möglichkeit von Erkenntnis konzen-
lich[e]«Entwicklung im Sinne einer »weltbürgerli- triert, proklamiert eine »Revolution der Denkart«
chen Verfassung« (ZeF, 214) geht über die Perspek- (KrV, 22 ff.), derzufolge die Erkenntnis sich nicht
tive rechtlicher Verfassung »was die Personen be- mehr nach ihrem Gegenstand, sondern der Gegen-
trifft« (ZeF, 203 Anm.) nicht hinaus: Sie begründet stand sich nach der Beschaffenheit des Erkenntnis-
eine »Ergänzung des ungeschriebenen Codex, so- vermögens richtet (ebd., 25): Die bekannte Frage der
wohl des Staats- als Völkerrechts zum öffentlichen Transzendentalphilosophie »Wie sind synthetische
Menschenrechte [!] überhaupt« (ZeF, 216 f.). Kants Urteile a priori möglich?« (ebd., 59) wird dahinge-
»Weltbürgerrecht« wäre also (sogar als ›geschriebe- hend beantwortet, dass objektiv gültige Erkenntnis
nes‹) nicht etwa supranationales, sondern transna- nur aufgrund von Prinzipien gewonnen werden
tionales Recht. Auch wenn Habermas’ Einschätzung kann, die aller Erfahrung vorhergehen und diese erst
prinzipiell zutrifft, dass Kant sich eine Weltverfas- konstituieren. Die Subjekte können also nicht die
sung nicht ohne staatliches Substrat denken könnte, »Dinge an sich«, sondern nur die aus diffusen Wahr-
so besteht dieser Zusammenhang doch nur in der nehmungen mittels apriorischer Formen der An-
Negation: Er findet sich in Kants Ablehnung der schauung und apriorischer Verstandesbegriffe syn-
staatsbegründenden amerikanischen Unionsverfas- thetisierten Gegenstände der Erfahrung erkennen.
sung als Vorbild globaler Friedensstiftung (MdS/RL, Indem Kant die erkennbare Welt der Erscheinungen
475). Für letztere besteht Kant auf der vertraglichen auf Leistungen des Subjekts zurückführt, befreit er
Föderation souveräner Staaten. dieses nicht nur aus der Übermacht verdinglichter
9. Recht und Kant 57

Objektivität der Vormoderne, sondern – mit der bermas kritisiert (TKH I, 523), in einer bestimmten
Ausdifferenzierung einer Erkenntnistheorie – auch Hinsicht rückständig. Kants – kommunikativ un-
aus den Zumutungen inhaltlicher Wahrheitsansprü- vermittelte – Beziehung zwischen Subjekt und Ob-
che einer vorkritischen ›dogmatischen‹ Metaphysik. jekt, in der der zu erkennende Gegenstand über-
Der Erkenntnistheoretiker Kant ist freilich genötigt, haupt erst ›produziert‹ wird, entspricht einem ge-
als gestrenger Experte für den einzig richtigen Ge- sellschaftlichen Kontext, in dem die Bearbeitung
brauch des Erkenntnisvermögens aufzutreten – ein der äußeren Natur noch so dominant war, dass sie
Herrschaftsanspruch (so Habermas MKH, 10), den auch die philosophische Konzeption der Beziehung
die diskurstheoretische Fassung des Erkenntnispro- zwischen Begriff und Sache bestimmte. Die »Mühe
blems gleichsam demokratisiert. und Anstrengung des Begriffs« war – wie Adorno
Habermas’ Reformulierung der Erkenntnistheo- formulierte – »unmetaphorisch«. Dagegen ist Ha-
rie rekurriert nicht auf einzig richtige, aller Erfah- bermas’ theoretische Ausdifferenzierung von »Ar-
rung vorhergehende Prinzipien der Vernunft, son- beit und Interaktion« (TW, 9 ff.) eine Vorausset-
dern auf die in jeder intersubjektiven Verständigung zung für die komplexere Fassung der Erkenntnis-
über die Objektwelt immer schon mitlaufenden Ele- theorie. Sie entspricht heute einem gesellschaftlichen
mente des Diskurses, die in die pragmatischen Be- Kontext, in dem »Interaktion« so dominant gewor-
standteile der Rede eingebaut sind. In den wechsel- den ist, dass auch der direkte Objekt-Kontakt, den
seitigen reziproken Unterstellungen der Diskursteil- Kant in der »Sinnlichkeit« des Subjekts hergestellt
nehmer sowohl hinsichtlich der grammatischen sah, nur noch indirekt als kommunizierter existiert.
Bedingungen ihres Diskurses als auch der geteilten – Insgesamt lässt sich Habermas’ Kant-Rezeption
Sprachpraxis, die dazu nötigt, eine gemeinsame ob- auch als Transformation einer auf »Arbeit« rekur-
jektive Welt vorauszusetzen (NR, 34), wird »eine ›für rierenden Bewusstseinsphilosophie in eine Philo-
alle identische‹ Welt« begründet (ebd.). Im An- sophie der Kommunikationsgesellschaft beschrei-
schluss an Putnam optiert Habermas aufgrund der ben.
Prämisse, dass alles »real« ist, »was in wahren Aussa-
gen dargestellt werden kann«, für einen »internen Literatur
Realismus« (ebd., 35). Es fragt sich aber, ob nicht
Kants Dualismus zwischen der Welt der »Dinge an Brandt, Reinhard: »Das Erlaubnisgesetz, oder: Vernunft
und Geschichte in Kants Rechtslehre«. In: Ders. (Hg.):
sich« und der »Welt der Erscheinungen« in dieser Rechtsphilosophie der Aufklärung. Berlin/New York 1982,
Konzeption wiederkehrt, wenn Habermas (im An- 233–285.
schluss an Peirce) betont, dass die »›Welt‹, die wir als –: »Habermas und Kant«. In: Deutsche Zeitschrift für Philo-
das Ganze von Gegenständen« (an die wir ›stoßen‹ sophie 50. 1 (2002), 53–68.
können) unterstellen, nicht verwechselt werden darf Eberl, Oliver: Demokratie und Frieden. Kants Friedens-
schrift in den Kontroversen der Gegenwart. Baden-Baden
mit der »›Wirklichkeit‹, die aus allem besteht, was in
2008.
wahren Aussagen dargestellt werden kann« (ebd., Kant, Immanuel: Werkausgabe. 12 Bde. Hg. von Wilhelm
36, Hervorh. I. M.). Die Differenz zwischen beiden Weischedel. Frankfurt a. M. 1974–1977.
erkenntnistheoretischen Positionen scheint eher in –: Kritik der reinen Vernunft [1781]. Bd. III, IV (=KrV).
der besagten diskurstheoretischen ›Demokratisie- –: Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik [1783].
rung‹ zu liegen. Was hingegen den »internen Realis- Bd. V (=Prol.).
–: Grundlegung zur Metaphysik der Sitten [1785]. Bd. VII
mus« betrifft, so ist er sogar weniger realistisch als (=GMS).
der »transzendentale Idealismus« Kants. Während –: Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig
Kant die dem Subjekt zugänglichen »Erscheinun- sein, taugt aber nicht für die Praxis [1793]. Bd. XI (= Ge-
gen« auf die Vorstellungen zurückführt, die die un- meinspruch).
bekannten »Dinge an sich« aufgrund ihres Einflus- –: Zum ewigen Frieden [1795]. Bd. XI (=ZeF).
–: Die Metaphysik der Sitten [1797]. Bd. VIII (=MdS;
ses auf die Sinnlichkeit des Subjekts hervorrufen Rechtslehre = RL; Tugendlehre = TL).
(Prol., 152), verdankt sich die »interne« Realität der Maus, Ingeborg: Zur Aufklärung der Demokratietheorie.
Gegenstände, von denen die Diskurstheorie handelt, Rechts- und demokratietheoretische Überlegungen im An-
nur der sprachlichen Kommunikation zwischen den schluß an Kant. Frankfurt a. M. 1992.
Subjekten. –: »Freiheitsrechte und Volkssouveränität. Zu Jürgen Ha-
bermas’ Rekonstruktion des Systems der Rechte«. In:
Dennoch ist die Bewusstseinsphilosophie Kants, Rechtstheorie 35, 4 (1995) 507–562.
indem sie dem Paradigma eines sich an den Objek- –: »Kant’s Reasons against a Global State: Popular Sover-
ten abarbeitenden Subjekts verhaftet bleibt, wie Ha- eignty as a Principle of International Law«. In: Luigi Ca-
58 II. Kontexte

ranti (Hg.): Kant’s Perpetual Peace. New Interpretative Es-


says. Rom 2006, 35–54.
10. Kognitive Entwicklungs-
–: »Verfassung oder Vertrag. Zur Verrechtlichung globaler psychologie
Politik«. In: Peter Niesen/Benjamin Herborth (Hg.): An-
archie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas
und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt Der Behaviorismus versteht kognitives Lernen als
a. M. 2007, 350–382. Assoziationsbildung aufgrund wahrgenommener
Niesen, Peter: Kants Theorie der Redefreiheit. Baden-Baden Kontingenzen und normatives Lernen als Über-
2005. nahme erwünschter Verhaltensweisen aufgrund von
Ingeborg Maus
Bestrafung oder Belohnung (Konditionierung). In
psychoanalytischen Ansätzen geht es um den Auf-
bau generalisierter Motive im Kontext frühkindli-
cher Beziehungserfahrungen. Normkonformität gilt
als motiviert durch den Wunsch, Gewissensbisse zu
vermeiden (d. h. die Rache des – aus Kastrations-
furcht – verinnerlichten Über-Ich) oder als Korrelat
einer – durch Angst vor Liebesverlust bewirkten –
frühen Überformung der Bedürfnisstruktur. Beide
Theorietraditionen unterstellen einen funktionalis-
tischen Wahrheitsbegriff und einen konventionalis-
tischen Richtigkeitsbegriff und kennen allein instru-
mentalistische Motive. Im Gegensatz dazu sehen Pi-
aget und Kohlberg die Entwicklung kognitiver und
moralischer Urteilsfähigkeit durch ein intrinsisches
Interesse an Wahrheit und an der universellen Recht-
fertigbarkeit moralischer Normen vorangetrieben.

Piagets Theorie der kognitiven Entwicklung


Erkenntnis ist bei Piaget (1975) weder Kopie der
Wirklichkeit noch bloße Konstruktion. Sie ist viel-
mehr durch die je schon entwickelten Kompetenzen
des Subjekts mitbestimmt und auf eine zunehmend
angemessenere Erfassung der Wirklichkeit gerich-
tet.
Der Aufbau von Denkstrukturen folgt einer Ent-
wicklungslogik: Er vollzieht sich als universelle, ir-
reversible Abfolge von qualitativ unterschiedenen,
je ganzheitlich strukturierten und mit logischer
Notwendigkeit aufeinander aufbauenden Stadien,
von denen keines übersprungen werden kann. In
der Stufenabfolge setzen sich Entwicklungstrends in
Richtung zunehmender Generalisierung, Abstrak-
tion und Realitätsgerechtigkeit durch. Motor der
Entwicklung ist die aktive Auseinandersetzung des
Kindes mit seiner Umwelt, sofern es beim Erkennen
von Widersprüchen eine Integration auf höherem
Niveau erstrebt. Denken wird dabei als Verinnerli-
chung von Handlungserfahrungen konzeptuali-
siert.
Die kognitive Entwicklung beginnt mit dem sen-
sumotorischen Stadium (0–2 Jahre): Handlungs-
schemata werden aufgebaut und koordiniert, erste
10. Kognitive Entwicklungspsychologie 59

Vorstellungen von Kausalität und Raum erarbeitet. Aus mehreren Gründen sind höhere Stufen ›bes-
Im folgenden präoperationalen Stadium (2–7) be- ser‹: Sie integrieren zunehmend mehr moralisch re-
ginnt sich das symbolische Denken zu entfalten. levante Gesichtspunkte – positive und negative Kon-
Noch aber neigt das Kind zu animistischen, artifizia- sequenzen, Loyalitäten, Gesetzes- und Vertragstreue,
listischen und finalistischen Naturerklärungen und universelle Rechtfertigbarkeit. Sie berücksichtigen
ist unfähig, mehrere Dimensionen zugleich in Rech- zunehmend mehr Perspektiven – vom Ego über die
nung stellen oder Klasseninklusionen zu begreifen. Dyade und die Kleingruppe bis hin zur Systemper-
Diese Schwierigkeiten werden auf dem konkret-ope- spektive und den Bezug auf alle Vernunftwesen
rationalen Niveau (7–12) bewältigt. Auf formal-ope- überhaupt. Diese zunehmende Erweiterung der
rationalem Niveau (ab 12) wird das Denken reflexiv. Rollenübernahmefähigkeit macht den strukturellen
Der Heranwachsende kann nun mit Operationen Kern der Entwicklung der moralischen Urteilsfähig-
operieren, also nicht nur über konkrete Dinge, son- keit aus. Und faktisch präferieren Befragte höherstu-
dern auch über Gedanken nachdenken, Schlussfol- fige Argumente.
gerungen aus vorhandenen Daten ziehen und syste- In ihren Forschungen nutzen Piaget und Kohl-
matisch nach fehlenden Informationen suchen. Sein berg das hermeneutisch-rekonstruktive Interview.
hypothetisches Denkvermögen erschließt ihm das Die Probanden müssen ihre Lösungen der vorgeleg-
Konzept von Zufall – das faktisch Vorfindliche be- ten kognitiven Aufgaben oder moralischen Dilem-
greift er nun als bloß kontingent realisierten Aus- mata begründen und gegen die vom Interviewer er-
schnitt aus einem umfassenden Möglichkeitsraum. hobenen Einwände rechtfertigen. Die Frage nach
Begründungen ermöglicht die verstehende Rekon-
struktion der Sichtweise der Befragten. Der Umgang
Die Entwicklung moralischer Urteilsfähigkeit
mit Einsprüchen erlaubt, bloß oberflächlich aufge-
Piaget (1954) unterscheidet zwei Stadien der Moral- setzte Meinungen von stabil verankerten Überzeu-
entwicklung. Nach dem kindlich heteronomen Ver- gungen zu unterscheiden. Vor allem erlaubt er, die
ständnis sind Normen von den Autoritäten bestimmt Kompetenz auch im Falle einer durch Müdigkeit,
und Übertretungen zu bestrafen. Im autonomen Sta- Desinteresse etc. beeinträchtigten Performanz abzu-
dium gelten Normen aufgrund von Vereinbarungen schätzen. Dabei ist für die Einstufung nicht der In-
und werden aus vertraglich gestifteter Selbstver- halt der Antworten, sondern die Struktur ihrer Be-
pflichtung befolgt. Nach Kohlbergs (1984) erweiter- gründung entscheidend.
tem Modell entfaltet sich das moralische Bewusst-
sein in einer entwicklungslogischen Abfolge von 6 Grundannahmen der Piaget/Kohlberg-
Stufen, wobei – wie bei Piaget – das Verständnis der Theorietradition
Geltung von Normen und die Motive ihrer Befol-
gung einander entsprechen. Auf dem präkonventio- Menschenbild: Sowohl im Behaviorismus wie in psy-
nellen Niveau (bis 10–11 Jahre) glauben Kinder, choanalytischen Ansätzen ist das Kind passives Ob-
Normen gälten, weil sie von Autoritäten gesetzt und jekt, das (durch gezielte Erziehungsbemühungen
mit Sanktionen ausgestattet sind (Stufe 1) oder wech- oder faktische Beziehungserfahrungen) früh geprägt
selseitig vorteilhafte Austauschmöglichkeiten eröff- wird und sein Tun primär an äußeren oder inneren
nen (Stufe 2). Auf dem für die meisten Erwachsenen Sanktionen orientiert. Im kognitiven Ansatz hinge-
charakteristischen konventionellen Niveau gelten gen strebt der Mensch aktiv und (gemäß Riegels
Normen, weil sie faktisch in der eigenen Gruppe Konzept ›postformaler Stufen‹ oder Kohlbergs ›Stufe
(Stufe 3) oder Gesellschaft (Stufe 4) verbreitet sind 7‹) möglicherweise lebenslang danach, sein Erkennt-
und man befolgt sie, um soziale Akzeptanz zu errin- nis- und Urteilsvermögen zu verbessern.
gen oder Gewissensbisse zu vermeiden. Auf post-
konventionellem Niveau, das nur wenige Erwach- Entwicklungslogik: Konstitutiv für den Ansatz ist die
sene erreichen, wird Einsicht zum Bestimmungs- Idee, die Entfaltung der kognitiven und moralischen
grund von Moral. Normen gründen in vertraglichen Urteilsfähigkeit folge universell einer immanenten
Vereinbarungen (Stufe 5) oder in universellen Prin- Logik der Höherentwicklung. Dabei ist der Motor
zipien wie Gleichheit, Achtung vor der Würde der der Entwicklung das Erleben von Widersprüchen –
Person (Stufe 6) und werden aus Vertragstreue oder zwischen bislang aufgebauten Handlungsschemata
aufgrund einer freiwilligen Selbstbindung an die als und neuen Erfahrungen, zwischen Urteilen aus der
gültig erkannten Prinzipien befolgt. eigenen und aus fremden Perspektiven – und das
60 II. Kontexte

sachorientierte Bestreben, durch den Aus- und Um- Fragestellungen erweitert. Gegen das behavioristi-
bau der eigenen Denkstrukturen die erkannten Un- sche Reiz-Reaktionsmodell und die anpassungsori-
vereinbarkeiten aufzuheben und eine Integration auf entierten Grundannahmen der funktionalistischen
höherem Niveau zu erarbeiten. Rollentheorie betonte er mögliche Freiheitsgrade,
die dem handelnden Subjekt erlauben, sich zu der
Forschungslogik: Nach positivistischem Wissen- Repressivität, Rigidität und dem Internalisierungs-
schaftsverständnis sichern allein identische Fragen bedarf eines gegebenen Rollensystems mehr oder
und Antwortmöglichkeiten die Gleichheit von Sti- weniger autonom zu verhalten. Sein Konzept von
muli und Reaktionen. Faktisch bestimmt damit je- Ich-Identität und der erforderlichen Ichstärke for-
doch der Forscher die Bedeutung der Vorgaben, die mulierte er seinerzeit in der psychoanalytischen
er – fälschlicherweise – für objektiv gegeben hält. Im Sprache der Ich-Psychologie. In Starnberg inte-
Gegensatz dazu sucht das rekonstruktive Interview grierte er die in kognitivistischen Ansätzen theore-
die Sichtweise der Befragten zu erfassen. Im Aus- tisch erarbeitete und empirisch belegte Eigenstän-
tausch von Argumenten etablieren Forscher und digkeit einer intrinsisch an Wahrheit und Gerechtig-
Probanden ein egalitäres Verhältnis: Im Bemühen keit orientierten Entwicklungsdynamik.
um Verstehen wird der Befragte in seinem Anspruch
auf die Wahrheit oder Richtigkeit seines Urteils ernst Moral: Auch die Fokussierung auf Moral war beein-
genommen, auch wenn er irrt oder seine Erwägun- flusst von der Auseinandersetzung mit Forschungen
gen auf früheren Stufen noch egozentrisch verkürzt im kognitivistischen Bezugsrahmen. Der Nachweis,
sind. dass Subjekte mit der Entwicklung der moralischen
Urteilsfähigkeit lernen, sich von konventionell vor-
Inhaltsabstinenz: Mit ihrer Fokussierung auf die uni- gegebenen Normen zu distanzieren und Konflikte
verselle Entwicklung formaler Denk- und Urteils- aus der Perspektive eines zunehmend erweiterten
strukturen vernachlässigen Piaget und Kohlberg die Kreises potentieller Betroffener in zustimmungsfä-
Inhaltsdimension. Für kognitive Leistungen ist die higer Weise zu lösen, lieferte eine empirische Absi-
erhebliche Bedeutung von Prozessen differentiellen cherung der kommunikationstheoretischen Grund-
Inhaltslernens in neueren Forschungen (im Infor- annahme, Gesellschaft fundiere unhintergehbar
mationsverarbeitungsansatz, im Experten-Novizen- auch in begründbarem Einverständnis.
Paradigma, in der intuitiven Psychologie) detailliert
nachgewiesen. Auch für die moralische Urteilsbil- Entwicklungslogik: Die in der ontogenetischen Ent-
dung ist der Einfluss inhaltlich differierender Über- wicklung belegte stufenförmige Höherentwicklung
zeugungen in kulturvergleichenden oder soziohisto- rationaler Argumentation gewann eine zentrale
rischen Untersuchungen empirisch überzeugend be- theoriestrategische Bedeutung im Starnberger Insti-
legt. tut. Die einzelnen Projektgruppen übertrugen das
Konzept auf andere Dimensionen – auf die Entwick-
lung von Wissenschaften und Weltbildern, von
Habermas und der kognitivistische Ansatz
Demokratieverständnis und Rechtsbewusstsein. Ha-
Insbesondere in der Zeit seines Wirkens am Starn- bermas beschrieb die evolutionäre Abfolge von
berger MPI hat die kognitivistische Entwicklungs- Gesellschaftsformationen als entwicklungslogisch
psychologie für Habermas eine wichtige Rolle ge- rekonstruierbare Reihe von Lernschritten.
spielt. Aufgrund vorauslaufender basaler theorie-
strategischer Übereinstimmungen hat er sich von Wissenschaftstheoretische Basisüberzeugungen: Die
diesem Ansatz stark anregen lassen und dessen im entwicklungslogischen Ansatz und der herme-
empirische Befunde extensiv zur Stützung seiner neutisch-rekonstruktiven Vorgehensweise implizier-
eigenen Grundannahmen genutzt. Einige der Kon- ten Grundannahmen entsprechen der Dreiwelten-
kordanzen in inhaltlichen Interessen sowie in me- theorie des kommunikativen Handlungsbegriffs. In
thodischen und wissenschaftstheoretischen Über- diesem sind die objektive (als Ingesamt existieren-
zeugungen seien kurz benannt. der, künftig eintretender oder zu bewirkender Sach-
verhalte), die soziale (als Insgesamt geltender Nor-
Sozialisationstheorie: Schon in seinen Frankfurter men, Meinungen und Motive von Handelnden) und
Vorlesungen hatte Habermas seine gesamtgesell- die subjektive Welt (als Insgesamt persönlicher Er-
schaftlichen Analysen um sozialisationstheoretische lebnisse) integriert und das sprach-, handlungs- und
11. Systemtheorie 61

reflexionsfähige Subjekt gilt als befähigt, zu den in 11. Systemtheorie


diesen Welten erhobenen Geltungsansprüchen von
Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaftigkeit mit Grün-
den Stellung zu nehmen. Handlungen können nun Die Auseinandersetzung zwischen Habermas und
durch ein Einverständnis koordiniert werden, das in Luhmann geht auf das Ende der 1960er Jahre zurück,
kooperativen Interpretationsleistungen erarbeitet eine Zeit der extremen »ideologischen« Konfronta-
wird, und der Geltungsanspruch auf universelle tion innerhalb der europäischen Sozialwissenschaf-
Rechtfertigbarkeit moralischer Normen tritt neu ten und -philosophie, und nimmt ihre erste mar-
hinzu. kante Gestalt an in dem breit rezipierten Band Theo-
rie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie – Was
Inhaltsabstinenz: Etliche moderne Moralphiloso- leistet die Systemforschung? (Habermas/Luhmann
phen (u. a. Nussbaum, Gert, Rawls) suchen ein Mi- 1971), dem eine weitläufige Diskussion und zwei un-
nimalset inhaltlich definierter Normen aus den Be- mittelbar nachfolgende Supplement-Bände folgen.
dingungen der menschlichen Existenz oder der sozi- Mit den Jahren ist die Diskussion komplexer gewor-
alen Kooperation abzuleiten. Im Gegensatz dazu den: Habermas hat seine frühere Kritik in einigen
beschränkt sich Habermas – hierin den Struktura- Punkten gemildert bzw. relativiert.
listen ähnlich, die allein auf eine Analyse der forma- Interessanterweise hat Habermas von Anfang an
len Aspekte der Urteilsbegründungen abzielen – auf die sozialtheoretische bzw. -philosophische Bedeu-
die bloße Bestimmung des Verfahrens der Begrün- tung der Luhmann’schen Systemtheorie erkannt. In
dung gültiger Normen. Aus seiner Sicht sichern die diesem Sinne ist das folgende Zitat aufschlussreich:
Bedingungen des herrschaftsfreien Diskurses die
universelle Gültigkeit der konsentierten Normen. »Mit der auf Marx zurückgehenden kritischen Gesell-
schaftstheorie verbindet Luhmann also das Interesse an ge-
Inhalte seien in nachmetaphysischer Zeit nicht mehr
samtgesellschaftlicher Analyse, das dazu nötigt, eine Theo-
festlegbar. rie der gesellschaftlichen Entwicklung (wie im Historischen
Materialismus) und eine Theorie der Gesellschaftsstruktur
Literatur (wie in der Politischen Ökonomie) in Angriff zu nehmen.
Mit Marx verbindet Luhmann darüber hinaus, und das
Gibbs, John C.: Moral Development and Reality. Thousand trennt ihn endgültig von Parsons, eine der Geschichtsphi-
Oaks u. a. 2003. losophie entlehnte Konzeption der Einheit von Theorie
Hopf, Christel/Nunner-Winkler, Gertrud (Hg.): Frühe Bin- und Praxis sowie die zugehörige Idee der Selbstkonstitu-
dungen und moralische Entwicklung. Weinheim/Mün- tion der Gattung bzw. der ›Gesellschaft‹« (Habermas 1971,
chen 2007. 142 f.).
Inhelder, Bärbel/Piaget, Jean: The Growth of Logical Thin-
king from Childhood to Adolescence. London 1958.
Killen, Melanie/Smetana, Judith: Handbook of Moral Devel- Dies lief aber selbstverständlich nicht auf die Ein-
opment. Mahwah, NJ 2006. ordnung der Systemtheorie der Gesellschaft in die
Kohlberg, Lawrence: Essays on Moral Development. Bd. 1. Tradition der kritischen Gesellschaftstheorie hinaus.
The Philosophy of Moral Development. Bd. 2. The Psycho- Habermas bemerkte, »dass die Systemtheorie der
logy of Moral Development. San Francisco 1981/1984.
Gesellschaft mit einer kritischen Gesellschaftstheo-
Oerter, Rolf/Montada, Leo: Entwicklungspsychologie. Wein-
heim u. a. 2008. rie zwar die Ebene der Theoriebildung teilt, aber auf
Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde. Zürich dieser Ebene einer gegenläufigen Strategie folgt«
1954. (ebd., 143). Habermas sah in der Luhmann’schen
–: Das Erwachen der Intelligenz beim Kinde [1936]. Stutt- Systemtheorie eine Art wiederbelebter »sozialtech-
gart 1975. nologisch gerichtete[r] Analyse«, die an die Stelle
Turiel, Elliot: The Development of Social Knowledge. Cam-
bridge 1983. des Diskurses über praktische Fragen zu treten ver-
Gertrud Nunner-Winkler sucht (ebd., 144). Habermas’ damalige Auffassung
führte zu einer plakativen Behauptung, die der Sys-
temtheorie der Gesellschaft nur einen sehr engen
theoretisch-reflexiven Spielraum ließ:
»[D]iese Theorie stellt sozusagen die Hochform eines tech-
nokratischen Bewußtseins dar, das heute praktische Fragen
als technische von vornherein zu definieren und damit öf-
fentlicher und ungezwungener Diskussion zu entziehen ge-
stattet« (ebd., 145).
62 II. Kontexte

Dieser Satz mit Habermas’ darauf folgender kriti- Religion sehr ernst genommen (1982a; 1982b;
scher Analyse (im Zusammenhang mit dem Titel des 2000a), in denen symbolische und expressive Di-
Sammelbandes) stieß auf große Zustimmung und mensionen so relevant sind, dass eine Reduktion
diente in den 1970er und 1980er Jahren als ein ver- dieser Theorie auf ein einseitig auf der Zweckratio-
einfachtes Verständnis der Luhmann’schen System- nalität beruhendes Paradigma der Moderne am
theorie und hat das Bild dieser Theorie in Deutsch- Ende doch als fragwürdiger erscheint, als es anfangs
land und im Ausland geprägt: Luhmann wurde zur aussah.
theoretischen Avantgarde »technokratischer Herr- Im Zusammenhang mit dem Verständnis der
schaft«, Habermas zu deren wichtigstem Kritiker. Luhmann’schen Systemtheorie als der »Hochform
Diese etwas vereinfachte Frontstellung wurde jedoch eines technokratischen Bewußtseins« bzw. als eines
im Laufe der 1980er und 1990er Jahre immer stärker auf die »kognitiv-instrumentelle Einseitigkeit der
in Frage gestellt und auch unter den Anhängern der kulturellen und gesellschaftlichen Rationalisierung«
Habermas’schen Diskurstheorie als fragwürdig oder hinauslaufenden Theoriemodells betont Habermas
zumindest als beschränkt empfunden (vgl. Günther Anfang der 1980er Jahre die Verbindung von Luh-
1995; Brunkhorst 1997; 2001, insbes. 626; 2002, manns Systemtheorie mit dem dezisionistischen
122 ff.). Schon in Habermas’ soziologischem Haupt- Verfahrensparadigma, das auf Weber und Schmitt
werk, der Theorie des kommunikativen Handelns von zurückgeht. Habermas sieht eine enge Verwandt-
1981 spielt die Systemtheorie eine zentrale und kei- schaft zwischen Webers Konzeption der Legitimität
neswegs technokratische, sondern explanative und (aus dem Legalitätsglauben) (Weber 1985, insbes.
kritische Rolle. Sie nimmt jetzt tatsächlich den Platz 19 f., 124 und 822; 1968, 215 ff.), Schmitts dezisionis-
in der Gesellschaftstheorie ein, der in der älteren tische Auffassung der Legitimität (Schmitt 1993 a, b)
Frankfurter Schule der Marx’schen Theorie reser- und Luhmanns Konzept der »Legitimation durch
viert war. Sie verweist jetzt nicht mehr so sehr auf Verfahren« (Luhmann 1983). Sie würden alle die-
das, was sich durch strategische und instrumentelle selbe Antwort auf die Frage, wie »eine legale Herr-
Intervention ändern lässt, sondern auf das, was sich schaft, deren Legalität auf rein dezisionistisch gefass-
nur um den Preis der Komplexität und Produktivität tes Recht gestützt ist […], überhaupt legitimiert wer-
der modernen Gesellschaft ändern ließe und auf- den« kann, favorisieren: »Webers Antwort, die von
grund genau dieser Produktivität gleichzeitig zur Schmitt bis Luhmann Schule gemacht hat, lautet:
substantiellen Gefährdung des sozialen und kom- durch Verfahren« (TKH I, 358). Auch diese Kritik
munikativen Lebenszusammenhangs wird. von Habermas überzeugt nicht ganz. Zunächst muss
Trotzdem hat Habermas zunächst darauf bestan- man Weber gegen Schmitt – trotz der gemeinsamen
den, dass die Luhmann’sche »Systemrationalität«, so Skepsis ob der Rationalisierbarkeit praktischer Fra-
eine Formulierung von 1976, »die auf selbstgeregelte gen – in Schutz nehmen, da Weber Legitimität zwar
Systeme übertragene Zweckrationalität« (RHM, 261) mit Legalitätsglauben identifiziert, jedoch kaum
ist. Und noch 1988 sah er in Luhmanns Theorie die Verständnis für Schmitts Auffassung des Politischen
»ingeniöse Fortsetzung einer Tradition«, in der die und für einen Begriff der Legitimität ohne Legalität
»kognitiv-instrumentelle Einseitigkeit der kulturel- gezeigt hätte, so dass die »Legalität« in einen schar-
len und gesellschaftlichen Rationalisierung« Aus- fen »Gegensatz zur Legitimität« (Schmitt 1993a,
druck fände (Habermas 1988, 443). An diesen bei- 13 f.) tritt. Und im Gegensatz zu Schmitts dezisionis-
den Stellen und in den entsprechenden Beiträgen tischem Verfassungskonzept, nach dem das Recht
wird Luhmanns Systemtheorie auf ein Theoriemo- der Politik untergeordnet ist (Schmitt 1993b, insbes.
dell reduziert, demzufolge die moderne Gesellschaft 22), hat Luhmann die horizontale Differenzierung
als eine wesentlich und sogar ausschließlich zweck- von Recht und Politik als entscheidendes Merkmal
rational orientierte Gesellschaft zu verstehen sei. des modernen Verfassungsstaates hervorgehoben,
Diese Interpretation ist deshalb nicht richtig, weil so dass die Verfassung als strukturelle Kopplung von
nach Luhmann im Vollzug der Reduktion von Kom- diesen beiden sozialen Systemen gleichermaßen und
plexität Zweckmodelle erst »eingesetzt werden, wenn in wechselseitiger Durchdringung definiert wurde
die Probleme schon spezifischere Strukturen gewon- (Luhmann 1990a). Außerdem hat Luhmann bereits
nen haben, wenn also Komplexität schon weitge- in den 1960er Jahren von Webers Legitimitätsbegriff
hend absorbiert ist« (Luhmann 1973, 156; vgl. auch Abstand genommen und an Weber, der nicht sein
1983, 223; 1971, 294). Außerdem hat Luhmanns Sys- Lieblingsautor ist, kritisiert, dass er »das Bezugspro-
temtheorie Kommunikationsbereiche wie Liebe und blem der Legitimität allein in der Effektivität der
11. Systemtheorie 63

Herrschaft erblickt« habe (Luhmann 1965, 140), lichte Demokratie.« (FG, 599; ähnlich Habermas 1987, 16,
oder genauer: dass die Legitimität nach Weber »ein- wo statt der Ausdrücke ›Meinungsbildung‹ und ›moralisch‹
die Worte ›Urteilsbildung‹ und ›ethisch‹ verwendet wur-
fach die Folge des faktischen Glaubens an das Prinzip
den).
der Legitimierung sei« (ebd., 144). Nach Luhmann
impliziert die Legitimation durch Verfahren, anders Habermas’ Forderung nach rationaler Rechtferti-
als bei Weber und Schmitt, eher eine »Umstrukturie- gung des Rechts impliziert allerdings nicht die Kon-
rung von Erwartungen« (Luhmann 1983, insbes. fundierung von Moral und Recht. Sie besagt auch
33 ff., 119, 171, 199, 252) und sei als »unterstellter nicht, dass das Recht ausschließlich auf der Lebens-
Konsens« (Institutionalisierung) über die Verbind- welt beruht. Es wird als Vermittlungssphäre zwi-
lichkeit von Normen und Entscheidungen zu defi- schen System und Lebenswelt dargestellt. Dieses
nieren (ebd., 122; Luhmann 1987, 261; 1981, 133). Theoriemodell entfernt sich von Luhmanns Konzep-
Später hat Luhmann dann die Legitimität, ganz an- tion in zwei Gesichtspunkten. Einerseits definiert es
ders als Weber und Schmitt, als Kontingenzformel die systemische Dimension als Moment der politi-
des politischen Systems begriffen, was aus der inter- schen Instrumentalisierung des Rechts und damit
nen Perspektive bedeutet, dass »ohne legitimations- als der Idee von Autonomie völlig entgegengesetzt.
bedürftige Optionen keine Politik nötig wäre«, und Andererseits deutet es auf die moralische Begrün-
vom externen Gesichtspunkt, dass es »ohne ausdif- dung des Rechts hin, die nach dem systemischen Pa-
ferenziertes politisches System keine Probleme mit radigma gerade die Negation der Autonomie des
Legitimität« gäbe (2000b, 126). Rechtssystems bedeuten würde. Das heißt: Nach Ha-
In den 1990er Jahren ist Habermas nicht un- bermas hängt die Autonomie des Rechts – gegen-
erheblich von seiner früheren Kritik an Luhmann über der (administrativen) Macht und der Wirt-
abgerückt, hat sie neu justiert und ganz auf den Ge- schaft – unmittelbar an der Emergenz einer univer-
gensatz von systemischer und intersubjektiver (de- salistischen, postkonventionellen Moral in der
mokratischer) Autonomie bezogen. Habermas ver- modernen Gesellschaft. Bei Luhmann hingegen be-
knüpft zwar das Konzept des Rechtsstaates ebenfalls ruht die Systemautonomie des Rechts sowohl auf
mit der Vorstellung der Autonomie des Rechts. Aber dessen Immunisierung gegenüber den unmittelba-
in der Diskurstheorie wird die Autonomie moralisch ren Zwängen der politischen Macht und anderen
begründet und unterscheidet sich dadurch von der systemischen Medien bzw. Codes, als auch auf der
Autopoiesis des Rechts bei Luhmann (vgl. vor allem Neutralisierung des Rechts gegenüber einer sich auf
FG, 67–78 und 573–580). Das Recht wird dann nicht der Basis der binären Codierung Achtung/Missach-
als ein selbststeuerndes und -legitimierendes Funk- tung (in Bezug auf Personen) diffus und fragmenta-
tionssystem begriffen und bedarf deshalb verfah- risch in der Gesellschaft oder in deren »Lebenswelt«
rensrationaler Begründung. In dieser Hinsicht bringt reproduzierenden Moral (1990b). Laut Luhmann
Habermas bereits früher, indem er sich besonders »bleiben diskursive, vernünftige Formen der Klä-
mit Webers Denken auseinandersetzt, den folgen- rung von akzeptablen bzw. unakzeptablen Wertposi-
den Vorbehalt zum Ausdruck: tionen heute im Bereich bloßen Erlebens stecken.
Die zentrale Voraussetzung der praktischen Philoso-
»Die eigentümliche Leistung der Positivierung der Rechts-
ordnung besteht darin, Begründungsprobleme zu verlagern, phie, dass man im Argumentieren über das, was man
also die technische Handhabung des Rechts über weite Stre- heute Werte nennt, dem Handeln näher kommen
cken von Begründungsproblemen zu entlasten, aber nicht könne, lässt sich unter den heutigen Bedingungen
darin, die Begründungsproblematik zu beseitigen« (TKH I, einer sehr viel möglichkeitsreicheren Welt nicht
354; vgl. auch TKH II, 536). mehr halten« (1981, 389 Anm. 33). Bei Habermas
Später wird der Widerspruch zu Luhmanns Konzep- setzt prozedurale Legitimation die Kritisierbarkeit
tion der Positivität als Systemautonomie schärfer der juristischen Prinzipien und Regeln im Lichte ei-
formuliert: ner umfassenden Diskursrationalität voraus, bezieht
also juristische Fragen (der Konsistenz), pragmati-
»Autonomie erwirbt ein Rechtssystem nicht nur für sich al- sche Fragen (der Zielsetzung und der Bestimmung
leine. Autonom ist es nur in dem Maße, wie die für Gesetz- geeigneter Mittel für die Zielerreichung), ethisch-
gebung und Rechtssprechung institutionalisierten Verfah-
politische Fragen (der Werte) und moralische Fra-
ren eine unparteiliche Meinungs- und Willensbildung
garantieren und auf diesem Wege einer moralischen Ver- gen (der Gerechtigkeit) sowie Fragen des fairen
fahrensrationalität gleichermaßen in Recht und Politik Kompromisses mit ein (FG, 197 ff.). So kehrt sich
Eingang verschaffen. Kein autonomes Recht ohne verwirk- selbstverständlich der Vektor im Verhältnis zu Luh-
64 II. Kontexte

manns Konzeption der Systemautonomie um: Die losophie zurückgefallen sei. Habermas’ frühere Kri-
systemische Dimension schrumpft auf die politische tik, Luhmanns Systemtheorie der Gesellschaft ließe
und ökonomische Instrumentalität des Rechts zu- sich auf einen ingeniösen Ausdruck der »Hochform
sammen; die Autonomie des Rechts gegenüber den eines technokratischen Bewusstseins« reduzieren,
Medien Macht und Geld ergibt sich aus seiner dis- ließ sich so nicht mehr aufrechterhalten, und Luh-
kursiv-rationalen Begründung, mit anderen Worten: mann konnte 1997 über den Band Theorie der Ge-
aus seiner Verfahrensrationalität. Dabei ist der Be- sellschaft oder Sozialtechnologie – was leitet die Sys-
griff des Systems (im Unterschied zur Lebenswelt) temforschung? dann zu Recht und wohl in Überein-
ganz anders als bei Luhmann sehr eng definiert und stimmung mit Habermas behaupten:
bezieht sich nur auf die die Medien Geld und (admi-
nistrative) Macht reproduzierenden Gesellschafts- »Die Ironie dieses Titels lag darin, dass keiner der Autoren
sich für Sozialtechnologie stark machen wollte, aber Mei-
bereiche. nungsverschiedenheiten darüber bestanden, wie eine
Man muss auf Folgendes aufmerksam machen: Theorie der Gesellschaft auszusehen habe« (Luhmann
Wenn Habermas gelegentlich von »Institutionssyste- 1997, Bd. 1, 11).
men« im Hinblick z. B. auf das »Erziehungssystem«,
das Gesundheitswesen, die Religion und das Recht
spricht, geht es dabei nicht um System im Unter- Literatur
schied zur Lebenswelt, nicht also um Habermas’ (en-
Brunkhorst, Hauke: »Abschied von Alteuropa. Die Gefähr-
gen) Systembegriff, sondern um Institutionen, die dung der Moderne und der Gleichmut des Betrachters:
auf der Lebenswelt beruhen. Und das Recht selbst Niklas Luhmanns ›Gesellschaft der Gesellschaft‹«. In:
wird als »Transformator« zwischen System und Um- Die Zeit 13. Juni 1997, 50.
welt verstanden (FG, 77 f., 108 und 217), es hat »eine –: »Globale Solidarität. Inklusionsprobleme der modernen
Scharnierfunktion zwischen System und Lebens- Gesellschaft«. In: Lutz Wingert/Klaus Günther (Hg.):
Die Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öf-
welt« (ebd., 77). fentlichkeit: Festschrift für Jürgen Habermas. Frankfurt
Diese spätere Auseinersetzung über Funktion, a. M. 2001, 605–26.
Autonomie und Begründbarkeit des Rechts und des –: Solidarität: Von der Bürgerfreundschaft zur globalen
demokratischen Rechtsstaates hat ihren Höhepunkt Rechtsgenossenschaft. Frankfurt a. M. 2002.
in der Diskussion im Rahmen des Symposiums zu Günther, Klaus: »Vom Zeitkern des Rechts«. In: Rechtshis-
torisches Journal 14 (1995), 13–35.
Habermas’ Buch Faktizität und Geltung, das am 20. Habermas, Jürgen: »Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
und 21. September 1992 an der Benjamin N. Cardozo technologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luh-
School of Law der Yeshiva University in New York mann«. In: Habermas/Luhmann 1971, 142–290.
stattgefunden hat (Habermas et al. 1996). Bei dieser –: »Wie ist Legitimität durch Legalität möglich?«. In: Kriti-
Gelegenheit hat Luhmann sich den marxistischen sche Justiz 20 (1987), 1–16.
–: »Replik auf Beiträge zu einem Symposium der Benjamin
Schuh, den Habermas ihm schon mehrmals offeriert N. Cardozo School of Law«. In: Habermas et al. 1996,
hatte, angezogen und sich selbst mit gewisser Ironie 1559–1643.
(mit Hinweis auf FG, 66) stärker der auf Marx zu- – et al.: »Habermas on Law and Democracy: Critical Ex-
rückgehenden, kritischen (an faktischen Konflikten changes«. In: Cardozo Law Review, Bd. 17, Nr. 4–5,
orientierten) Gesellschaftstheorie zugeordnet als March 1996.
– /Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
Habermas, dessen Theorie an (idealem) Konsens technologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt
orientiert sei (Luhmann 1996, 899). Und in seiner a. M. 1971.
Replik hat Habermas seine frühere Kritik, dass Luh- Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.): Beiträge zu Jürgen Haber-
manns Systemtheorie »die Hochform eines techno- mas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt
kratischen Bewusstseins« darstelle, definitiv fallen a. M. 32002.
Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution: Ein Beitrag
gelassen und anerkannt, dass er aus »einer lange- zur politischen Soziologie. Berlin 1965.
währenden Diskussion« mit Luhmann »stets ge- –: »Systemtheoretische Argumentationen: Eine Entgeg-
lernt« habe, und keineswegs ironisch, aber mit ei- nung auf Jürgen Habermas«. In: Habermas/Luhmann
nem vergiftetem Lob betont, dass Luhmann – im 1971, 291–405.
Gegensatz zu dessen Selbsteinschätzung – »der –: Zweckbegriff und Systemrationalität: Über die Funktion
von Zwecken in sozialen Systemen. Frankfurt a. M. 1973.
wahre Philosoph« sei (1996, 1639). Damit meint Ha-
–: Ausdifferenzierung des Rechts. Frankfurt a. M. 1981.
bermas jedoch auch, dass zumindest der späte Luh- –: Liebe als Passion. Zur Codierung von Intimität. Frankfurt
mann in gewissem Sinne von der Wissenschaft auf a. M. 1982a.
die metaphysischen Prämissen der klassischen Phi- –: Funktion der Religion. Frankfurt a. M. 1982b.
12. Evolutionstheorie 65

–: Legitimation durch Verfahren [1969]. Frankfurt a. M.


1983.
12. Evolutionstheorie
–: Rechtssoziologie [1972]. Opladen 31987.
–: »Verfassung als evolutionäre Errungenschaft«. In:
Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 1990a, 176–220. Gesellschaftstheorie als Evolutionstheorie des Sozia-
–: Paradigm lost: Über die ethische Reflexion der Moral − len spielt eine zentrale Rolle in der Begründung ei-
Rede anläßlich der Verleihung des Hegel-Preises 1989, ner Theorie kommunikativen Handelns. Zwar hat
mit einer Laudatio von Robert Spaemann. Frankfurt die Evolutionstheorie seit Marx mit dem Problem zu
a. M. 1990b. kämpfen, dass der Beobachtungsstandpunkt immer
–: »Quod Omnes Tangit: Remarks on Jürgen Habermas’s
Legal Theory«. In: Habermas et al. 1996, 883–899. zugleich auch der jeweilige Endpunkt dieser Evolu-
–: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 2 Teilbde. Frankfurt tion ist und somit zu einer teleologischen Verengung
a. M. 1997. soziologischer Theoriebildung führt. Dieses Pro-
–: Die Religion der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2000a. blem bleibt virulent in den gesellschaftstheoretischen
–: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 2000b. Entwürfen seit Marx, soweit sie sich mit gesellschaft-
Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Das Interesse der Vernunft:
Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit »Er- lichen Entwicklungsprozessen beschäftigen. So bleibt
kenntnis und Interesse«. Frankfurt a. M. 2000. Durkheim an das Modell einer phasenspezifischen
Neves, Marcelo: Zwischen Themis und Leviathan: Eine Höherentwicklung ebenso gebunden wie Parsons
Schwierige Beziehung: Eine Rekonstruktion des demokra- oder Luhmann und Habermas. Dennoch ist die Evo-
tischen Rechtsstaats in Auseinandersetzung mit Luhmann lutionstheorie eine Theorie, die es erlaubt, jenseits
und Habermas. Baden-Baden 2000.
Schmitt, Carl: Legalität und Legitimität [1932]. Berlin der Besonderheiten historischer Entwicklungen von
5
1993a. räumlich und zeitlich spezifizierten Gesellschaften
–: Verfassungslehre [1928]. Berlin 81993b. (die deutsche Gesellschaft, die aztekische Gesell-
Weber, Max: »Die drei reinen Typen der legitimen Herr- schaft, die Papua-Gesellschaft) einen allgemeinen
schaft«. In: Ders.: Methodologische Schriften. Hg. von Jo- Gesellschaftsbegriff zu fundieren, der Gesellschaft
hannes Winckelmann. Frankfurt a. M. 1968, 215–228
(zuerst in: Preußische Jahrbücher, Bd. 187, 1922).
als Sozialität bestimmt, die sich in konkreten Gesell-
–: Wirtschaft und Gesellschaft: Grundriß der verstehenden schaftsformationen entfaltet: als ein soziales Band,
Soziologie [1922]. Hg. von Johannes Winckelmann. Tü- das Menschen aneinander bindet und deren Kompe-
bingen 51985. tenzen (konstruktive wie destruktive) in Prozessen
Marcelo Neves sprachlich vermittelter Kommunikation, so wie es
Habermas formuliert, zur Entfaltung bringt.
Beim Versuch, diesen Begriff von Gesellschaft
(bzw. Vergesellschaftung) theoretisch zu begründen,
stellen sich zwei Probleme. Das erste Problem ist das
der Homogenisierung historischer Formen von Ver-
gesellschaftung mit einem evolutionären Pfad gesell-
schaftlicher Entwicklung. Dies ist primär ein Pro-
blem der kausalen Erklärung gesellschaftlicher Ent-
wicklung, die mit vielen Varianten und damit mit
vielen Konstellationen zu rechnen hat, die in einer
Theorie der sozialen Evolution zu berücksichtigen
wären. Davon unabhängig ist ein zweites Problem,
nämlich das der Differenz von menschlicher und
nicht-menschlicher Vergesellschaftung. Letzteres ist
kein kausalanalytisches, sondern ein konstitutions-
theoretisches Problem.
Nun hat der Begriff der sozialen Evolution schon
immer den Skandal provoziert, menschliche Verge-
sellschaftung in die Nähe von biologischen Theorien
und ihren Annahmen über Mechanismen und da-
mit verbundene kausale Hypothesen zu rücken. So-
ziobiologische Ansätze legen Vorstellungen nahe, in
denen Sozialität ›in letzter Instanz‹ auf biologische
Annahmen gegründet wird. Nun sind solche An-
66 II. Kontexte

nahmen nicht prinzipiell empirisch haltlos. Denn Schwelle zu einem niedrigeren Zustand von Soziali-
soziale Evolution im Sinne einer Evolution sozialer tät (oder gar Nicht-Sozialität) markiert. Sie erlaubt
Beziehungen gibt es auch außerhalb menschlicher eine Entwicklung des Sozialen über das hinaus, was
Vergesellschaftung: Gerade das aber macht die The- die ›Natur‹ zu leisten vermag. Soziale Evolution im
orie sozialer Evolution zu einem analytischen Ge- Sinne von Vergesellschaftung wird dann zum Kö-
rüst, das es dieser Theorie erlaubt, die Brüche und nigsweg sozialer Evolution, die andere Pfade sozialer
Diskontinuitäten zu bestimmen, die die soziale Evo- Evolution hinter sich lässt. Sie ist notwendig Höher-
lution kommunikativer Beziehungen kennzeichnen entwicklung.
und besondere evolutionäre Pfade der Entwicklung Diese Annahme ist in die Theorie kommunikati-
des Sozialen eröffnen. Vergesellschaftung über ven Handelns insofern eingebaut, als dieser Hand-
sprachlich vermittelte Kommunikation ist in diesem lungsbegriff als jener Fall von Handeln expliziert
Sinne ein besonderer evolutionärer Pfad. Die para- wird, der andere Formen sozialen Handelns als
doxe Konsequenz wäre, dass Gesellschaftstheorie Schrumpffälle enthält. Dies erzeugt Kosten; denn
eine Theorie wäre, die einen besonderen Pfad sozia- der Objektbereich soziologischer Analyse wird auf
ler Evolution begrifflich zu fassen sucht. Eine Theo- das verengt, was auf den (evolutionär) ausgezeichne-
rie sozialer Evolution wäre dann jene Theorie, in der ten Handlungstyp beziehbar ist. Es kommen nur
sich eine Gesellschaftstheorie bzw. Theorie der Ver- mehr jene Formen des Sozialen ins Blickfeld, die auf
gesellschaftung verorten ließe. der kritischen Kapazität von Menschen beruhen: öf-
So lässt sich auch das Habermas’sche Projekt einer fentliche Diskurse, Intellektuelle, Wissenschaft, Bil-
Evolutionstheorie verstehen und mit konkurrieren- dung, auch teilweise Religion. Der Rest, Familie,
den Projekten im Hinblick auf die Bestimmung der Märkte, Wirtschaft, Arbeit, Beruf, fügen sich diesem
besonderen Elemente, die diesen Pfad möglich ma- Handlungsmodell nur bedingt und werden dann in
chen, vergleichen. In der Regel haben Soziologen, die ›Systemwelt‹ oder die (evolutionär noch nicht
die sich auf diese theoretischen Fragen eingelassen versprachlichte) ›Lebenswelt‹ verschoben.
haben, recht allgemeine und vage Annahmen prä- Diese Engführung der Bestimmung des Sozialen
sentiert, die die Besonderheit des Objektbereichs erzeugt aber auch eine theoretische Stärke; denn die
kommunikativ geregelter Sozialbeziehungen ausma- Theorie kann zeigen, dass Vergesellschaftung ohne
chen. Luhmann nennt etwa die Fähigkeit des Nein- den Rekurs auf den Modus sprachlich vermittelter
Sagen-Könnens, die die soziale Evolution von Ge- Verständigung nicht sinnvoll gedacht werden kann.
sellschaften bedingt. Marx hat den Arbeitsbegriff Diskurse haben Effekte, öffentliche Debatten sind
dazu benutzt, um diese Besonderheit zu bestimmen ein folgenreiches Medium von Vergesellschaftung.
und daran den besonderen evolutionären Pfad eines Habermas hat dies ja an zentraler Stelle mit der Idee
Vergesellschaftungsprozesses angehängt. der Versprachlichung des Sakralen behauptet. Sozi-
Habermas’ Theorie sozialer Evolution bestimmt – ale Evolution heißt, das Sprachliche im Sakralen zu
und das macht ihre Bedeutung aus – die Besonder- entbinden und in seiner rationalisierenden Wirk-
heit des sozialen Evolutionsprozesses, der Vergesell- samkeit freizusetzen. Das muss dann nicht notwen-
schaftung trägt, im Rahmen einer genuinen Theorie dig das Ende des Sakralen heißen. Im Gegenteil: es
sozialer Beziehungen, der Theorie kommunikativen kann auch reflexive Vergewisserung der im Sakralen
Handelns. Sozialität ist eingebaut – so die zentrale enthaltenen Spuren gegenseitiger Anerkennung
Annahme – in die formalen Bedingungen sprachlich durch kommunikatives Handeln sein. Die Evolution
vermittelter Verständigung. Die Theorie kommuni- des Sozialen hat damit in einer entscheidenden Hin-
kativen Handelns als eine Theorie der Konstruktion sicht auch mit der normativen Dimension kognitiver
des Sozialen in sprachlich vermittelter Verständi- Reflexivität zu tun.
gung kann so die Besonderheit sozialer Evolution als Dies ist eine Reinterpretation der Habermas’schen
eines Prozesses der Entbindung kommunikativer Evolutionstheorie insofern, als diese Formulierung
Vergesellschaftung bestimmen. Sprache wird zum gerade nicht voraussetzt, dass soziale Evolution als
Schlüssel für einen Typ von Relationierung von emergente, nur noch über sprachlich vermittelte
Menschen, in denen soziale Beziehungen emergie- Kommunikation laufende Stufe der allgemeinen
ren und evolvieren. Evolution beschrieben werden muss. Diese ›Stufen-
Diese Besonderheit wird – und das ist nicht un- idee‹, die die soziale Evolution kommunikativer
problematisch – mit der Annahme verbunden, dass Strukturen als Fortsetzung einer vorkommunikati-
kommunikativ geregelte Vergesellschaftung eine ven Welt sieht, ist nicht notwendig an das evoluti-
12. Evolutionstheorie 67

onstheoretische Programm gebunden. Denn es ist komplex als Schlüssel zu seinem universalgeschicht-
problemlos möglich, die über kommunikative Ver- lichen Erklärungsprogramm gesehen und diesen Ra-
ständigung laufende Evolution des Sozialen als einen tionalstrukturen eine zentrale Rolle im historischen
besonderen und parallel zu anderen Evolutionspro- Wandel von Gesellschaften zugeschrieben. Evolu-
zessen des Sozialen laufenden Evolutionsprozess zu tion erscheint als Rationalisierungsprozess, mit dem
sehen. Soziale Beziehungen emergieren nicht nur im der weltgeschichtliche Prozess in seiner internen
Medium sprachlicher Verständigung, sondern auch Wirksamkeit gefasst wird. Parsons hat diese klassi-
in vielen anderen Medien. Das Soziale lässt sich auf sche, von Weber explizierte okzidentale Denkfigur
vielfältige Art herstellen (wie etwa Latour und die generalisiert: die Antike wird zur Wiege der Ver-
Actor-Network Theory betonen). Insofern gibt es nunft (Eisenstadt hat das mit der Achsenzeitthese
kein herausgehobenes Soziales, das für die Erklä- noch einmal radikalisiert) und von dort ausgehend
rung der Evolution des Sozialen privilegiert werden eine Vorgeschichte wie eine sich verwirklichende
kann. Dieser Sonderstatus lässt sich auch nicht da- Geschichte des vergesellschafteten vernünftigen
mit retten, dass Mechanismen identifiziert werden, Menschen konstruiert. Diese Annahme wird in dem
die die Verzerrung und Repression des privilegierten Maße strittig, wie die historische Allgemeinheit die-
Sozialen zu erklären suchen. Das würde zur Selbst- ser Rationalstrukturen als okzidentales Vorurteil in
immunisierung der Evolutionstheorie führen. Was Frage gestellt wird.
eine kommunikationstheoretisch ansetzende Theo- Die Auseinandersetzung mit Luhmanns Evoluti-
rie der sozialen Evolution leisten kann, ist die beson- onstheorie endet in einer theoretischen Arbeitstei-
dere Dynamik von Vergesellschaftungsprozessen für lung. Auf der einen Seite die soziale Evolution der
soziale Evolution bestimmbar zu machen. Vernunft, die einen emphatischen Gesellschaftsbe-
Habermas hat diese Besonderheit in drei Ausein- griff ermöglicht, auf der anderen Seite eine soziale
andersetzungen zu bestimmen gesucht: in einem Evolution von Systemen, die das Soziale unter funk-
Bruch mit Marx, mit einer kritischen Weiterführung tionalen Selbstorganisationsgesichtspunkten erzeu-
von Parsons via Max Weber und schließlich mit ei- gen. Mit diesen zwei evolutionären Prozessen, in de-
ner vereinnahmenden Kritik an Luhmann. In der nen Sozialität hergestellt wird, ist eine Idee angelegt,
Auseinandersetzung mit Marx ist es vor allem der die in der jüngeren Debatte zunehmend Resonanz
Arbeitsbegriff, den Habermas zugunsten eines em- findet: dass die Evolution des Sozialen in parallelen
phatischen Begriffs des Sozialen als einer Beziehung und in immer wieder sich koppelnden Prozessen
der Verständigung einzugrenzen sucht. Die Strategie stattfindet. Der Gesellschaftsbegriff wird dabei oft
ist also die einer Eingrenzung des Sozialen auf ›ge- unscharf. Er bleibt klar, solange Gesellschaft jene
nuin Soziales‹, nämlich kommunikatives Handeln. Form des Sozialen meint, mit der wir uns der gegen-
Nur Handlungen, die den impliziten Ansprüchen seitigen sozialen Anerkennung versichern. Diese
gegenseitiger Anerkennung genügen, gelten als jene, Koexistenz zweier Theorien des Sozialen, die mit
die Vergesellschaftung tragen können. Der Arbeits- den Begriffen System versus Lebenswelt gefasst wer-
begriff jedoch trägt mit sich Formen von Sozialität, den, wird evolutionstheoretisch dann kontingent ge-
die genau dies nicht leisten. Insofern erzeugt und re- setzt: wenn Systeme in die Lebenswelt eindringen,
produziert der Arbeitsbegriff eine Illusion, die dann dann gibt es ein Problem. Wenn die Lebenswelt in
für die realen Folgen des Marx’schen Theoriepro- Systeme eindringt, dann vermutlich auch. Evoluti-
jekts verantwortlich gemacht werden. Allerdings onstheoretisch wäre das alles genauer zu klären.
wird mit dieser Reduktion des Sozialen auf ›inter- Problematisch in Habermas’ kommunikations-
subjektive Verständigung‹ Arbeit als eine Form von theoretischer Konzeption von sozialer Evolution
Sozialität ausgeklammert, die ebenso wie Verständi- bleibt der Status des starken Begriffs von Normativi-
gung Sozialität erzeugt. In dem Maße, wie Arbeit Be- tät. Dass Normativität ein Modus der Evolution des
ziehungen herstellt, findet auch soziale Evolution Sozialen ist, dies dürfte nach Habermas unbestritten
statt – allerdings nicht in der Weise, wie dies ein em- sein. Dass Normativität einen exklusiven Status in
phatischer Begriff kommunikativen Handelns er- der Evolution des Sozialen hat, legt den Verdacht auf
zwingt. einen Rückfall in (heimliche) Teleologie nahe, den
Im Anschluss an Weber und Parsons hat Haber- Rückfall auf die Idee, dass sich im Vergesellschaf-
mas die besondere Rolle kommunikativen Handelns tungsprozess die Vernunft verwirkliche. Dieser He-
in der Evolution des Sozialen als ›Rationalstruktu- gel’sche Rest in der Habermas’schen Evolutionstheo-
ren‹ bestimmt. Bereits Weber hat den Rationalitäts- rie lässt sich aber auflösen, wenn man den Platz der
68 II. Kontexte

sozialen Evolution der Vernunft (die durch Vernünf- In dieser Interpretation wird die Theorie sozialer
tigkeit konstituierte Sozialität) als eine unhintergeh- Evolution auch mit der Idee der Multiplizität histori-
bare Dimension der Evolution des Sozialen be- scher Entwicklungen (insbesondere der Modernisie-
stimmt, als den Stachel im Fleisch, der andere For- rung selbst) und der Frage nach den Besonderheiten
men des Sozialen unter Rechtfertigungsdruck setzt. der Moderne in Raum und Zeit (den multiplen Mo-
Problematisch bleibt schließlich der Status der dernen) kompatibel. Denn die Moderne (im
Evolutionstheorie in einer historisch-empirischen Habermas’schen Sinne eines ›Projekts‹) wäre dann
Perspektive. Hier geht es vor allem um das beson- eine besondere Form des Sozialen, die als eine uni-
dere Problem des Verhältnisses von Vergesellschaf- versalistische Kultur an manchen Orten und zu be-
tung und der Entwicklung historischer Gesellschaf- stimmten Zeiten emergiert (bzw. emergierte) und
ten. Denn soziale Evolution wird, wenn der Faktor damit jene Rationalstrukturen in die Welt brachte,
kommunikativer Vergesellschaftung hinzukommt, von denen bereits Weber so fasziniert war. Sie wäre
zu einem Prozess, in dem sich viele Optionen eröff- letztlich eine Theorie kultureller Evolution, die eine
nen. Bereits Marx hat vermutet, dass soziale Evolu- ideale Form kommunikativer Vergesellschaftung
tion gleichermaßen über Produktivkräfte, Produkti- hervorbringt, die dann in Kopplung mit anderen
onsverhältnisse, Staat und Ideologie stattfindet, und Formen des Sozialen sich realisieren, zu Ideologie
dass es ihre Interaktion ist, die die konkrete Ausge- verkommen oder zu Utopie sich einigeln kann. Das
staltung historischer Gesellschaftsformationen be- wäre dann Geschichte, und Gesellschaft bliebe dann
stimmt. Diese intuitive Idee legt nahe, soziale Evolu- ein Begriff jener Form eines idealen Zusammenle-
tion in drei (oder vier) Hinsichten zu bestimmen: als bens, das die kommunikationstheoretisch begrün-
Soziales, das aus den Produktivkräften resultiert, als dete Theorie der sozialen Evolution analytisch klarer
Soziales, das aus den Produktionsverhältnissen re- als Weber oder Parsons oder Luhmann hat sichtbar
sultiert, und als Soziales, das aus Staat und Ideologie machen können.
resultiert. Wie die Evolution des Sozialen dann statt-
findet, wäre eine Frage der Kombination oder Kopp- Literatur
lung dieser unterschiedlichen Konstruktionspro- Eder, Klaus: »Kulturelle Evolution und Epochenschwellen:
zesse des Sozialen. Es wäre aber nicht mehr möglich, Richtungsbestimmungen und Periodisierungen kultu-
einer Dimension in diesen historischen Prozessen reller Entwicklungen«. In: Friedrich Jaeger/Burkhard
eine Leit- und Orientierungsfunktion oder gar eine Liebsch (Hg.): Handbuch Kulturwissenschaften. Bd. 3.
teleologische Funktion zuzuweisen. Man mag die Grundlagen und Schlüsselbegriffe. Stuttgart 2004, 417–
430.
Evolution des Sozialen im Medium der Vernunft be-
Luhmann, Niklas: »Evolution und Geschichte«. In: Ge-
vorzugen und untersuchen, inwieweit in histori- schichte und Gesellschaft 2. Jg. (1976), 284–309.
schen Prozessen diese besondere, kommunikations- –: »Geschichte als Prozess und die Theorie soziokultureller
theoretisch begründete Evolution des Sozialen kau- Evolution«. In: Karl Georg Faber/Christian Meier (Hg.):
sale Effekte erzeugt, und auch beobachten, in Historische Prozesse. München 1978, 413–440.
welchen Konstellationen dieser Effekt stärker ist. –: »The direction of social evolution«. In: Hans Hafer-
kamp/Neil J. Smelser (Hg.): Social Change and Moder-
Doch ist das keine theoretische ›Gewähr‹ für den nity. Berkeley, CA 1992, 279–293.
kausalen Effekt. Deshalb erweist sich am Ende die –: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997.
kommunikationstheoretisch ansetzende Theorie so- Parsons, Talcott: Das System moderner Gesellschaften.
zialer Evolution als eine Teiltheorie, die es möglich Weinheim 1985.
macht, einen Faktor in den Kopplungen und Ent- Klaus Eder
kopplungen von kommunikationstheoretisch ge-
dachter Vergesellschaftung und historischer Ent-
wicklung, die Rolle der Evolution von Rationalstruk-
turen für die Evolution anderer sozialer Strukturen
(technische Strukturen, bürokratische Strukturen
usw.) analytisch sichtbar zu machen. Mit dieser Be-
scheidung wird diese Evolutionstheorie zugleich
leistungsfähiger als der Marxismus, kann sie doch
die reduktionistische Behandlung von Ideen und
Ideologien mit guten theoretischen Argumenten un-
terlaufen.
69

13. Macht-Diskurse Erwartungen, der Anerkennung all derjenigen also


ist, denen gegenüber sie als Codierung von Hand-
lungen zum Einsatz kommt. Sie ist aber zweitens
Die Thematisierung und Kritik von Macht, insbe- kein allgemeines symbolisches Medium, sondern hat
sondere von illegitimer, unterdrückerischer oder ge- diese Stellung in einem spezifischen gesellschaftli-
walttätig ausgeübter Macht steht im Zentrum vieler chen Teilsystem, nämlich demjenigen, das die Funk-
Formen kritischer Theorie (Honneth 1986). Haber- tion hat, die Ziele zu erkennen bzw. festzulegen und
mas’ Werk nimmt eine Sonderstellung ein, da in ihm zu implementieren, die bei aller Binnendifferenzie-
Macht bzw. deren Erzeugung und Funktion so be- rung die Gesellschaft zu einer Gesellschaft machen
stimmt wird, dass sich gesellschaftstheoretisch ihr und sie in ein Verhältnis zu anderen Gesellschaften
Sinn und ihre relative Notwendigkeit erweist und sie setzen. Da Macht dem Zweck dient, kollektive und
zudem so rekonstruierbar ist, dass sie Ausdruck von d. h. tendenziell für alle geltende Ziele realisieren zu
Freiheit ist. In der Folge dieser Bestimmung muss können, ist sie zur Erfüllung ihres symbolischen An-
sich auch die Kritik der Macht bzw. die Stellung die- spruchs auf Modi der Legitimierung verwiesen, über
ser Kritik in der Kritischen Theorie verändern. Ha- die gezeigt wird, dass es sich in der Tat um kollektive
bermas entwickelt sein Verständnis der Macht we- und nicht um partikulare Ziele handelt.
sentlich in Auseinandersetzung mit den Machttheo- Für Habermas eignet sich die so konzipierte
rien von Talcott Parsons und Hannah Arendt und Macht, wie das parallele ökonomische generalisierte
gebraucht sie, um Michel Foucaults Diskurs- und Medium Geld, um die Koordination sozialer Hand-
Machttheorie entgegenzutreten bzw. deren überzeu- lungen zu verstehen, wie sie sich in Systemen im Un-
gende Aspekte in seinen Ansatz zu integrieren (s. terschied zur lebensweltlichen, kommunikativen
Kap. IV.20). Koordination vollziehen (TKH II, 267–275). Im über
Macht gesteuerten System richten Akteure ihre
Parsons’ systemtheoretischer Machtbegriff: Im Zen- Handlungen erfolgsorientiert am Gewinn und dem
trum der politischen Soziologie von Parsons steht dadurch ermöglichten Gebrauch von Macht bzw. an
Macht als generalisiertes Medium der Auszeichnung den Sanktionen aus, die im Fall der Nicht-Befolgung
und Durchsetzung kollektiver Ziele (Parsons 1967). von Anordnungen »ermächtigter« Instanzen dro-
Macht ist erforderlich für das Bestehen kollektiv ver- hen. Das Bestehen eines solchen Systems macht es
bindlicher Handlungsbedingungen, und als Medium nachvollziehbar, wie es zur Reproduktion der Bedin-
ist sie zugleich Maßstab für singuläre Handlungen gungen kommt, die die Erwartbarkeit und Gewiss-
und deren Resultat oder Ziel. In dieser systemtheo- heit der allgemeinsten, für alle gleichermaßen ver-
retischen Konzeption ist Macht in zweifacher Weise bindlichen Strukturen und Regeln garantieren, d. h.
von Max Webers Definition derselben unterschie- deren Anwendung unabhängig von kontingenten
den, laut der Macht das Vermögen ist, einen anderen Motivationen bzw. kommunikativ erzielter Verstän-
zu Handeln gemäß dem eigenen Willen zu veranlas- digung macht. Damit ist aber noch nicht erklärt, wa-
sen (Weber 1980, 28): Sie ist erstens keine Ressource, rum es zur systemischen Steuerung qua Macht
über die Akteure unmittelbar verfügen, sondern po- kommt, denn der funktionale Sinn reicht nicht hin,
litisches Handeln zielt auf den Erwerb oder die Er- um die von Parsons diagnostizierte Anerkennungs-
zeugung von Macht ab, und erst die derart erwor- bedürftigkeit des symbolischen Mediums zu erfül-
bene bzw. erzeugte Macht kann dem Zweck dienen, len.
Einfluss auf Handelnde und deren Möglichkeiten zu Habermas weist Parsons’ Erklärung der Erfüllung
nehmen. Macht ist insofern ein Medium, als sie per zurück und hält fest, dass die Legitimierung der
se ein Verhältnis zwischen Akteuren bezeichnet und Macht nicht über direkte Verständigung derjenigen
nur qua Zugriff auf sie den Einfluss auf andere er- zu denken ist, die von ihr betroffen sind. Zwar ist
laubt. Sie kann sich aber selbst im Fall des Zugriffs Macht aufgrund der Unmöglichkeit rein funktiona-
nie (vollständig) als individuelle Ressource »materi- ler Legitimität an sprachliche Konsensbildung ge-
alisieren«, etwa als »Gewalt« eines Machthabers. Die bunden (TKH II, 406), aber die Notwendigkeit stän-
Bedingungen, die es dem Medium erlauben, die Ver- diger Aktualisierung des Konsenses hätte zur Folge,
hältnisse zwischen Akteuren zu bestimmen, bleiben dass das Komplexitätsniveau moderner Staaten und
demjenigen entzogen, der die Macht (vermeintlich) d. h. die darin liegende Einheit in der Ausdifferen-
inne hat. Macht ist ein symbolisches Medium, was zierung nicht erreichbar wären. Akteure müssen mit
bedeutet, dass sie abhängig von Zuschreibungen und Blick auf die Macht ausschließlich erfolgsorientiert
70 II. Kontexte

operieren (können), so dass die Konsensbildung in »gedeckt« sind. Das Recht ist also nicht bloßer An-
keinem unmittelbaren Verhältnis zu Handlungsmo- spruch, der mit Macht durchgesetzt werden muss,
tivationen stehen darf. Macht begegnet Akteuren als sondern weil es die Macht des Einvernehmens gibt,
zwangsbewehrter Anspruch jeweiliger »Machtha- kann Recht zur Erscheinung kommen und Geltung
ber«, dem sie sich nicht entziehen können, indem sie beanspruchen. Allerdings eignet sich diese Konzep-
die Legitimität des Verfügens über Macht bestreiten. tion kommunikativer Macht lediglich dazu, die Er-
Die Konsensbildung kann dementsprechend in Situ- zeugung von Macht, nicht aber ihre Funktionsweise
ationen staatlich-administrativen Wirkens nur indi- in staatlich-administrativen Instanzen und deren
rekt relevant und für das Verhalten von Akteuren Verhältnis zu den Einzelakteuren zu rekonstruieren.
ausschlaggebend sein. Macht kann nur über Organisationen auf Dauer ge-
stellt werden, die nicht die ständige Aktualisierung
Arendts kommunikative Konzeption von Macht: Um und Reaktualisierung ihrer gründenden Praxis be-
diese indirekte Relevanz der Konsensbildung zu ex- nötigen (TKH II, 404). Die Anerkennungsbedürftig-
plizieren, greift Habermas auf die Unterscheidung keit des symbolischen Mediums Macht ist daher
Arendts zwischen Macht und Gewalt zurück (PPP, nicht dadurch zu erfüllen, dass im durch dieses Me-
228–248). Arendt reartikuliert in ihren Schriften dium gesteuerten Handlungssystem selbst die Praxis
eine aristotelische Konzeption der Politik unter Be- der Machterzeugung perpetuiert wird.
dingungen der Moderne, dergemäß Politik strikt In Faktizität und Geltung wird daher das Recht als
von den Bereichen des Sozialen bzw. der Ökonomie Medium eingeführt, das kommunikative und admi-
zu trennen ist. Es muss zu einer reinen Konstitution nistrative Macht verbindet (FG, 187). Das Einver-
von Freiheit kommen, d. h. politischer Streit darf nehmen, das sich in der ungezwungenen und freien
kein Ausdruck gesellschaftlicher Klassenkämpfe Praxis einstellt, muss sich im Recht artikulieren, um
sein, denn in jenen bleiben die Akteure ihren kon- zu kommunikativer Macht zu werden, während
textuellen, sozio-ökonomischen Interessen verhaftet staatliche Akteure ihre Bindung an und Ermächti-
und kommen nicht dazu, ihr eigentlich menschli- gung durch das Recht erweisen müssen, um die Le-
ches, politisches Vermögen zum Neuanfang zu ge- gitimitätserwartung an ihre Aufforderungen und
brauchen. So die Freiheit konstituiert wird, können Maßnahmen zu erfüllen, also administrative Macht
Akteure sich zusammenschließen und im Einver- zu haben. Im Handlungssystem, in dem die staatli-
nehmen mit anderen handeln, woraus sich Macht chen Verwaltungen »Macht ausüben«, ist somit die
ergibt, die von allen gemeinsam ausgeht und sie den- Rechtmäßigkeit der Machtausübung hinreichender
noch transzendiert. Diese Macht besteht in der Beleg für die Anerkennungswürdigkeit. Auf diese
wechselseitigen Bindung der Akteure an das kollek- Weise ist der Begründungsbedarf der maßgeblichen
tive Projekt, und sie verleiht die – paradigmatisch in Instanzen in diesem System größer als im ökonomi-
Revolutionen zum Ausdruck kommende – Kraft, schen System, er hat jedoch klare Grenzen, so dass
Recht zu setzen und Institutionen zu gründen. Da nicht die prinzipielle Unendlichkeit der Verständi-
die Macht aber eng an der (fortgeführten) menschli- gung die Effizienz und Komplexität unterminiert.
chen Praxis und Konsenserzeugung hängt, kann sie
sich auch jederzeit wieder auflösen, und damit kann Foucault und die problematischen Effekte der Macht:
das Bestehen des Rechts und der Institutionen pre- Eine solche »Entproblematisierung« der Macht qua
kär werden (Arendt 1970, 44–48). Erklärung derselben als kommunikativ und unge-
Für Habermas lässt sich erst über diese Konzep- zwungen erzeugter und prinzipiell von dieser Er-
tion der Macht begreifen, was es heißt, dass Kon- zeugung abhängiger ist unterschiedlichen Kritiken
sensbildung für das Bestehen von Macht unverzicht- ausgesetzt. Eine erste Linie der Kritik wird von Ha-
bar ist. Denn mit Arendts Ausführungen wird er- bermas selbst antizipiert und beantwortet: Ihr zu-
sichtlich, dass die Einrichtungen, deren faktische folge ist die Unterscheidung zwischen Macht und
Wirksamkeit oft unter Rekurs auf einen Machtbe- Gewalt nicht deskriptiver, sondern normativer Na-
griff erklärt wird, der ihnen äußerlich ist und d. h. zu tur, so dass sich die Frage stellt, was gewährleistet,
ihnen hinzukommen muss, selbst Ausdruck grün- dass Macht in der Tat im rechtlich vermittelten Kon-
dender Macht sind (FG, 185). Zumindest einige nex von kommunikativer und administrativer
Rechtsprinzipien und -titel sowie Institutionen sind Macht besteht. Habermas sieht die Lösung dafür im
folglich nur so zu verstehen, dass sie durch kommu- Rechtsstaat, der qua Organisation die Bindung der
nikative Macht erzeugt und daher durch deren Kraft administrativen an die kommunikative Macht und
13. Macht-Diskurse 71

die Irrelevanz »sozialer Macht« garantieren soll (FG, interessante Weise revidiert und fortführt und damit
187). auch der Analyse der Frage, wie Sozial- oder Hu-
Eine zweite Linie der Kritik bestreitet fundamen- manwissenschaften als Sozialtechnologien einge-
taler, dass sich »kommunikative Macht« zur Entpro- setzt werden, eine neue Dimension gibt. Allerdings
blematisierung von Macht eignet, indem argumen- stellt die so angelegte Machttheorie als solche die
tiert wird, dass die Bedingungen der Verständigung Habermas’sche Transformation der Kritischen Theo-
bzw. des Erzeugens von Einvernehmen oder wahren rie nicht vor eine unüberwindliche Schwierigkeit,
Einsichten selbst problematische Asymmetrien bzw. denn Foucault gelingt es nicht, widerspruchsfrei den
Disziplinierungen involvieren. Der Zwang staatlich- Status der eigenen Theorie zu erklären. Macht kann
administrativer Einrichtungen ruht dieser Kritik nicht gleichzeitig notwendiger und problematischer
nach, selbst wenn er vollständig auf kommunikative Effekt jedes wahrheitsorientierten Diskurses sein,
Macht zurückführbar ist, auf Praktiken auf, die in und die Theorie, in der dies vertreten wird, selbst
der Kommunikation zwar produktiv Optionen her- Anspruch auf Wahrheit erheben (DM, 313–343).
vorbringen, aber in dieser Produktion auch Optio- Aber Foucaults Studien weisen für Habermas zu
nen nehmen. Zentraler Autor für diese Kritik ist Recht darauf hin, dass eine (teilweise) »Entproble-
Foucault, dessen Studien deshalb eine besondere He- matisierung« von Macht über die kommunikativen
rausforderung für Habermas sind, da sie eine zu sei- Erzeugungsbedingungen derselben aufmerksam
ner eigenen alternative Fortführung der Kritischen sein muss gegenüber Strategien in politischen Deli-
Theorie anbieten. berationen, die zum Ausschluss oder zur Stigmati-
Foucault teilt die Annahme, dass zumindest in sierung von Auffassungen und Beiträgen führen,
der Moderne Macht kommunikativ erzeugt und deren Irrelevanz oder Unzulässigkeit sich erst noch
letztlich auch derart erhalten werden muss. In seiner erweisen muss (NU, 126–131). Die zweistufige Kon-
Diskurstheorie hält er dabei aber fest, dass das We- zeption der Macht erlaubt gerade die Offenheit der
sentliche dieser Einsicht nicht ist, dass die Macht so Kommunikation für Kontingenz, weil sie im admi-
an die rationalisierende Kraft verständigungsorien- nistrativ-politischen Handlungssystem Kontingenz
tierter Kommunikation zurückgebunden wird, son- reduziert (Niederberger 2007, 199–213).
dern die Macht gerade deshalb besonders nachhaltig
ausgeübt werden kann, weil sie nur indirekt, näm- Literatur
lich über das kommunikative Verfahren, wirkt (Fou- Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 1970.
cault 1991, 10–17). In der Kommunikation zu be- Foucault, Michel: Die Ordnung des Diskurses [1974]. Frank-
stimmen, wie Verhältnisse zu gestalten sind bzw. was furt a. M. 1991.
kollektive Ziele sein sollten, setzt die Anwendung Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kri-
von Maßstäben und Prozeduren voraus, über die tischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1986.
Kelly, Michael (Hg.): Critique and Power. Recasting the Fou-
entschieden werden kann, was in der Kommunika-
cault/Habermas Debate. Cambridge, Mass. 1994.
tion zum Abgleich gebracht oder berücksichtigt wer- Niederberger, Andreas: Kontingenz und Vernunft. Grundla-
den muss. So betrachtet, dient die kommunikative gen einer Theorie kommunikativen Handelns im An-
Erzeugung der Macht dem Zweck, unter Bedingun- schluss an Habermas und Merleau-Ponty. Freiburg i. Br.
gen der Abwesenheit extern oder transzendent be- 2007.
Parsons, Talcott: »On the Concept of Political Power«. In:
gründeter Machtpositionen dennoch strukturierend
Ders.: Sociological Theory and Modern Society. New
und kontrollierend auf diejenigen einwirken zu kön- York/London 1967, 297–354.
nen, die der Macht unterworfen sind. Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft [1921]. Tübingen
Habermas deutet die Foucault’sche Theorie als 5
1980.
Versuch, Macht zum transzendentalen Begriff für Andreas Niederberger
die Betrachtung von Geschichte zu machen. Demzu-
folge ist die Integration und Koordination von Ge-
sellschaften nur darüber zu erklären, dass es zur
Kontrolle, Selektion und zum Ausschluss von Optio-
nen Handelnder gekommen ist – und in der Mo-
derne kann dies nur gewährleistet werden, wenn die
Handelnden sich qua Verständigung (vermeintlich)
selbst disziplinieren (DM, 300–303). Habermas ge-
steht zu, dass diese Theorie die Ideologiekritik auf
72 II. Kontexte

14. Juristische Diskurse verfassungsmäßige Antwort interpretiert, die den


demokratischen Gesetzgeber verpflichte, die Eigen-
tumsordnung sozialstaatlich umzugestalten (vgl.
Unter den die frühe Bundesrepublik beherrschen- Abendroth 1968). Es war das Bundesverfassungsge-
den rechtswissenschaftlichen Kontroversen war die richt, das in mehreren Entscheidungen das Adjektiv
über den ›sozialen Rechtsstaat‹ eine der prominen- ›sozial‹ in soziale Teilhaberechte ausmünzte, die
testen. Im Grundgesetz von 1949 fand sich in Arti- nach und nach der Bundesrepublik tatsächlich den
kel 28 Absatz 1 das knapp formulierte Gebot: »Die Charakter eines sozialen Rechtsstaates verliehen.
verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss Langsam setzte sich so die Einsicht durch, dass ohne
den Grundsätzen des republikanischen, demokrati- einen sozialen Ausgleich derjenigen Vorteile, die in
schen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses einer liberalen Eigentums- und Wirtschaftsordnung
Grundgesetzes entsprechen.« Artikel 20 Absatz 1 individuell erworben und rechtlich zugeordnet wer-
konstatierte in ähnlicher Weise, die Bundesrepublik den, weder die gleichen Grundrechte auf Freiheit
Deutschland sei ein »demokratischer und sozialer noch die gleichen politischen Teilnahmerechte an
Bundesstaat«. Über Bedeutung und Funktion des der demokratischen Meinungs- und Willensbildung
Adjektivs ›sozial‹ wurde nicht nur akademisch ge- für alle Staatsbürgerinnen und Staatsbürger den glei-
stritten; dahinter verbarg sich eine vor die Grün- chen Wert haben. Der prägende Einfluss dieses lang-
dung der Bundesrepublik zurückreichende und wierigen Prozesses auf Politik und Recht zeigt sich
diese mitbestimmende Auseinandersetzung über u. a. in Habermas’ Aufsatz »Naturrecht und Revolu-
die bestehende Wirtschaftsordnung und die ihr zu- tion« (TP, 89–127) und in der Theorie der Rechtspa-
grunde liegende Eigentumsverteilung. Es ging da- radigmen (FG, 468–537).
bei nicht nur um die staats- und verfassungsrechtli- Allerdings hat die langsame und prekäre Verwirk-
che Frage, ob die Rechts- und Verfassungsordnung lichung des sozialen Rechtsstaates ein neues Pro-
die vorgegebenen Eigentums- und die daraus resul- blem deutlich werden lassen: Nicht nur die Frage, ob
tierenden wirtschaftlichen Machtverhältnisse hin- der sozialstaatliche Kompromiss die Legitimations-
zunehmen und lediglich durch formale Spielregeln und Motivationsprobleme des Spätkapitalismus ab-
des Eigentums-, Vertrags- und Wettbewerbsrechts zumildern vermöge (vgl. dazu LS), sondern vor al-
zu ordnen habe – oder ob der Staat von Verfassungs lem auch die Frage nach dem Verhältnis einer pri-
wegen ermächtigt und verpflichtet sei, sie im Wege mär durch Rechtsprechung und Administration
gesetzlich begründeter Eingriffe zu verändern (z. B. etablierten Sozialstaatlichkeit zur Demokratie. Das
durch Umverteilungsmaßnahmen, sozialen Aus- Bundesverfassungsgericht hatte zudem mit einer In-
gleich oder Mitbestimmung im Unternehmen). terpretation der Grundrechte als objektiver Normen
Vielmehr spiegelte sich darin die in der Gründungs- eine verfassungsimmanente ebenso wie -transzen-
phase der Bundesrepublik fast alle politische Rich- dente Wertordnung errichtet, mit der sie den demo-
tungen bewegende Frage, ob und inwiefern das ka- kratischen Gesetzgeber sowohl aktivieren als auch
pitalistische Wirtschaftssystem und die private Ord- restringieren konnte (von der Zulässigkeit der inner-
nung der Eigentumsverhältnisse mitverantwortlich betrieblichen Mitbestimmung bis zum Verbot der
für den Zivilisationsbruch des Nationalsozialismus Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch).
und den Weltkrieg gewesen sei. Auch wenn diese Während sich die sukzessive Erweiterung der
Frage im Zeichen des beginnenden Wirtschafts- Grundrechte und die Ausdehnung von demokrati-
wunders und des Kalten Krieges mit scharfer Ab- schen Partizipationsrechten als Indizien eines post-
grenzung gegen Planwirtschaft und Eigentumskol- konventionellen Moralbewusstseins deuten ließen,
lektivierung in der DDR nicht mehr mit der glei- für das die Rechtsordnung insgesamt als rechtferti-
chen Vehemenz gestellt wurde, war der Streit über gungsbedürftig und kritisierbar erscheint (RHM,
Bedeutung und Funktion der Sozialstaatsklausel 260–267), machten die durch das ökonomische und
gleichsam ihr fernes Echo. das administrative System ausgelösten Schübe einer
Ernst Forsthoff hatte auf der Tagung der Staats- zunehmenden Verrechtlichung der Lebenswelt das
rechtslehrervereinigung 1954 diese Klausel zu einer demokratische Defizit deutlich (Kübler 1984; FG,
bloßen Direktive an die Verwaltung herabzustufen 522–547). Die Defizite der (sozialstaatlichen) Mate-
versucht (Forsthoff 1968). Wolfgang Abendroth rialisierung des (bürgerlich-liberalen) Formalrechts
hatte dagegen die liegengeblieben Frage noch einmal (Max Weber) konnten nach Rudolf Wiethölter nur
aufgenommen und die Sozialstaatsklausel als die durch eine Prozeduralisierung der Rechtskategorie
14. Juristische Diskurse 73

aufgefangen werden (Wiethölter 1989; dazu DNR, diskurs ergänzt werden (Günther 1988 u. 1989; kri-
51–64; FG, 516–537) tisch dazu Alexy 1995, 52–70; kritische Darstellung
Innerhalb der Rechtstheorie wurden diese Pro- der Diskurstheorie der juristischen Argumentation
bleme als Fragen der Rechtsanwendung und der ju- und Ergänzung der diskursiven Legitimität durch
ristischen Interpretation noch mit den Kategorien das Prinzip der formellen Gleichheit bei Lieber 2007,
der Hermeneutik diskutiert, ergänzt durch eine sozi- 235–304).
alwissenschaftlich ausgerichtete Theorie der gesell- Sowohl Alexys Bestimmung der juristischen Ar-
schaftlichen Folgen richterlicher Entscheidungen. gumentation als Sonderfall des rationalen prakti-
Mit Robert Alexys bahnbrechender, 1978 veröffent- schen Diskurses als auch die im Starnberger Institut
lichter Göttinger Dissertation (Alexy 1991) gewann unternommenen Versuche, die Rechtsentwicklung
die Methodologie der juristischen Begründung und auf die Entwicklungsstufen des moralischen Be-
Interpretation Anschluss an die internationale Dis- wusstseins zu einer reflexiven, universalistischen
kussion der analytischen Ethik und der Argumenta- und prozeduralen Moral zu beziehen (vgl. dazu das
tionstheorie. Zugleich lieferte sie einen wichtigen kritische Resümee bei Frankenberg/Rödel 1981,
Beitrag zu Habermas’ Theorie des rationalen Dis- 9–31), unterstellten zumindest implizit ein Unter-
kurses, indem Alexy Regeln und Formen des allge- ordnungsverhältnis des positiven Rechts zur post-
meinen praktischen Diskurses formulierte, erläu- konventionellen Moral. Dies widerstritt nicht nur
terte und begründete, mit denen sich die Art und der an sozialen Folgen orientierten Rechtswirklich-
Weise einer rationalen Rechtfertigung normativer keit des sozialen Rechtsstaats, sondern auch dem
Sätze explizit machen und klarer darstellen ließ (vgl. herrschenden positivistischen Selbstverständnis von
zur Rezeption u. a. Habermas ND, 97–104). Die ju- Rechtsprechung und Rechtswissenschaft. Auch in-
ristische Argumentation wurde von Alexy als Son- ternational war der Rechtspositivismus in seinen
derfall des allgemeinen praktischen Diskurses einge- Hans Kelsen beerbenden und präzisierenden Versio-
führt, in dem praktische Argumentationen unter der nen, vor allem durch H. L. A. Hart in Oxford und
einschränkenden Bedingung der Bindung an das seine Schüler (z. B. Joseph Raz u. Neil MacCormick)
geltende Recht sowie unter spezifischen Reglemen- zur dominierenden Selbstbeschreibung der Juristen
tierungen des Argumentationsverfahrens (z. B. in geworden, die allerdings mit einer Vielzahl von
Form von Prozessordnungen oder gesetzlich be- rechtsrealistischen Strömungen konkurrierte. Diese
stimmten Vorgaben) stattfinden, die es den Teilneh- wurden durch das von der Harvard Law School aus-
mern erlauben, strategisch eigene Interessen zu ver- gehende »Critical Legal Studies Movement« zu einer
folgen statt kooperativ um die Einlösbarkeit eines Theorie der unvermeidlichen immanenten Wider-
Geltungsanspruchs auf praktische Richtigkeit zu sprüche des Rechts in einer von ökonomischen Ge-
streiten. Diese besondere Stellung der juristischen gensätzen gekennzeichneten Gesellschaft zugespitzt,
Argumentation bestimmt ihre Struktur: Der juristi- die faktisch aufgrund der unausgesprochenen politi-
sche Syllogismus, die Rechtfertigung eines konkre- schen Orientierungen der Gerichte aufgelöst wür-
ten rechtlichen Gebots aus allgemeinen Rechtssät- den und die daher als solche explizit zu machen und
zen, deren Merkmale in Form allgemeiner Regeln kritisch zu thematisieren seien (z. B. David Trubek,
konkretisiert werden, folgt den Regeln des logischen Jerry Frug, Duncan Kennedy).
Schließens und rechtfertigt ein juristisches Argu- In dieser Konstellation attackierte Ronald Dwor-
ment intern. Die einzelnen Prämissen dieses Syllo- kin die rechtspositivistische Doktrin, dass die Gel-
gismus bedürfen zusätzlich einer externen Rechtfer- tung des Rechts von der Moral unabhängig sei. Seine
tigung, z. B. mit Hilfe der Auslegungsregeln eines Gegenposition fußt auf zwei Prämissen: Der positi-
Gesetzes, Regeln der Dogmatik, Anwendung von vistischen These, dass die normative Ordnung des
Präjudizien oder unter Berufung auf Prinzipien, die Rechts aus einem System von Regeln bestünde, die
ihrerseits wiederum durch einen allgemeinen prak- nur eine Alles-oder-Nichts-Entscheidung zuließen,
tischen Diskurs gerechtfertigt werden können (zu so dass der Richter in allen schwierigen Fällen, die
Ergänzungen und Präzisierungen vgl. Alexy 1995). sich nicht nach einer geltenden Regel des Rechts ent-
Da eine universalistische Begründung praktischer scheiden ließen, zur eigenmächtigen Rechtssetzung
Normen mangels Vorhersehbarkeit wechselnder qua politischer Entscheidung ermächtigt sei, setzt
Einzelfälle noch keine unparteiliche Anwendung ga- Dworkin die These entgegen, dass Richter auch in
rantiert, muss der praktische Diskurs der rationalen diesen Fällen nach normativ begründeten Maßstä-
Begründung von Normen um einen Anwendungs- ben entscheiden würden, und zwar unter Berufung
74 II. Kontexte

auf Prinzipien, deren Gewicht je nach Einzelfall un- gene Theorie der Unbestimmtheit des Rechts und
terschiedlich sei und von den anderen anwendbaren der Rationalität der Rechtsprechung (FG, 238–291).
Prinzipien sowie den politischen Zielsetzungen mit- Die herausragende Position der Rechtsprechung in
bestimmt werde. Der positivistischen These, dass die Dworkins Theorie provozierte u. a. eine Kontroverse
Geltung der Rechtsregeln nicht auf moralische Nor- über das Verhältnis von Demokratie und Justiz, vor
men zurückzuführen sei, sondern ausschließlich auf allem mit Blick auf das Verfassungsgericht und seine
ihre Herkunft aus dem System primärer und sekun- Kompetenz, Entscheidungen des demokratischen
därer Regeln, deren Geltung letztlich durch die Gesetzgebers zurückweisen zu können (FG, 292–
Grundnorm oder die Erkenntnisregel (rule of recog- 348; Dworkin/Habermas/Günther 1997).
nition) determiniert werde, setzt Dworkin die These
entgegen, dass Richter in schwierigen Fällen ihre Literatur
Entscheidungen durch Prinzipienargumente be- Abendroth, Wolfgang: »Zum Begriff des demokratischen
gründen würden, die sie nicht willkürlich wählen, und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundes-
sondern von einem moralischen Standpunkt aus republik Deutschland« [1954]. In: Ernst Forsthoff (Hg.):
rechtfertigen, von dem aus sie die bestmögliche ko- Rechtsstaatlichkeit und Sozialstaatlichkeit. Darmstadt
härente Interpretation aller normativen Elemente 1968, 114–144.
Alexy, Robert: Theorie der Grundrechte. Baden-Baden
der Rechtsordnung (Verfassung, Gesetze, Präjudi-
1985.
zien, Dogmatik, Gewohnheitsrecht) und der ihr zu- –: Theorie der juristischen Argumentation. Die Theorie des
grunde liegenden moralischen Prinzipien geben rationalen Diskurses als Theorie der juristischen Begrün-
können (Dworkin 1984, Kap. 2–4). Der Richter wird dung. Frankfurt a.M. 21991.
damit am Ideal eines Herkules gemessen (und misst –: Recht, Vernunft, Diskurs. Studien zur Rechtsphilosophie.
Frankfurt a. M. 1995.
sich selbst daran), der alle relevanten Gesichtspunkte
Dworkin, Ronald: Bürgerrechte ernstgenommen. Frankfurt
zu berücksichtigen vermöchte. Nur durch diese von a.M. 1984 (engl. 1978).
einem moralischen Anspruch hervorgerufenen –: A Matter of Principle. Oxford 1985.
rechtfertigenden Nötigung stechen subjektive –: Law’s Empire. Cambridge, Mass. 1986.
(Grund-)Rechte als Trümpfe die mit einer Rechts- – /Habermas, Jürgen/Günther, Klaus: »Regiert das Recht
norm verfolgten politischen Zielsetzungen aus die Politik?« In: Ulrich Boehm (Hg.): Philosophie heute.
Frankfurt a. M./New York 1997, 150–176.
(rights as trumps) (Dworkin 1984, 158 ff.); nur in- Forsthoff, Ernst: »Begriff und Wesen des sozialen Rechts-
folge der moralischen Verpflichtung zur bestmögli- staates«. In: Ernst Forsthoff (Hg.): Rechtsstaatlichkeit
chen Interpretation unterwerfen sich Richter und und Sozialstaatlichkeit. Darmstadt 1968, 165–200.
Richterinnen der regulativen Idee, nach der einzig Frankenberg, Günter/Rödel, Ulrich: Von der Volkssouverä-
richtigen Antwort auf einen schwierigen Fall zu su- nität zum Minderheitenschutz, Frankfurt a.M. 1981.
Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit. Frankfurt
chen (one right answer) (Dworkin 1984, 448 ff.; a. M. 1988.
Dworkin 1986, 119 ff.). Gegen den von rechtsrealis- –: »Ein normativer Begriff der Kohärenz für eine Theorie
tischer Seite erhobenen Vorwurf, das widersprüchli- der juristischen Argumentation«. In: Rechtstheorie 2
che Recht durch eine ›rosarote Brille‹ zu sehen, kon- (1989), 163–190.
tert Dworkin mit dem Argument, dass Widersprü- Kübler, Friedrich (Hg.): Verrechtlichung von Wirtschaft, Ar-
beit und sozialer Solidarität. Baden-Baden 1984.
che dadurch nicht verborgen würden – und dass Lieber, Tobias: Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit.
deren Entdeckung und Kritik nur unter dem An- Tübingen 2007.
spruch einer bestmöglichen Rechtfertigung möglich Wiethölter, Rudolf: »Proceduralization of the Category of
sei (Dworkin 1986, 271 ff.). Alexy hat Dworkins Un- Law«. In: Christian Joerges/David M. Trubek (Hg): Cri-
terscheidung zwischen Regeln und Prinzipien zu ei- tical Legal Thought: An American-German Debate. Ba-
den-Baden 1989, 501–510.
ner Theorie der Grundrechtsnorm als Optimie- Klaus Günther
rungsgebot fortentwickelt und der Abwägung von
kollidierenden Grundrechten damit eine rationale
Grundlage verschafft (Alexy 1985). Alexys Sonder-
fallthese der juristischen Argumentation, seine The-
orie der Abwägung kollidierender Grundrechtsnor-
men, die Theorie des Anwendungsdiskurses sowie
Dworkins Theorie der kohärenten Interpretation
und die Rechtskritik des »Critical Legal Studies Mo-
vement« sind die Bezugspunkte für Habermas’ ei-
75

15. Demokratie mer und Neumann auf der einen und insbesondere
Carl Schmitt (s. Kap. II.3) auf der anderen Seite. An-
dererseits macht dies die Bedeutung sichtbar, die
Habermas hat sich schon früh, wie ein Blick auf die dem Bezug auf die kritische Staatsrechtslehre in der
1958 entstandene Einleitung zu Student und Politik Bundesrepublik – und hier vor allem und immer
unter dem Titel »Zum Begriff der politischen Betei- wieder auf das Werk von Abendroth, aber auch Rid-
ligung« (KK, 9–60) dafür entschieden, die Program- der – in diesem Zusammenhang zukommt –, eine
matik seiner demokratietheoretischen Forschung Tradition, unter deren Eindruck Habermas schon in
ebenso wie ihre normativen Bezugspunkte und ih- den frühen 1950er Jahren als Student Ridders in
ren methodologischen Zuschnitt in enger Anleh- Frankfurt am Main gestanden und die sich insbe-
nung an die deutsche staatsrechtliche Diskussion zu sondere im Strukturwandel der Öffentlichkeit (1961)
entfalten. Diese Entscheidung verdankt sich, wie er schließlich materialisiert hat. Der gleichen Traditi-
auf den ersten Seiten der mehr als zwanzig Jahre spä- onslinie verdanken sich wohl auch die Intuitionen,
ter erschienenen Theorie des kommunikativen Han- die Ingeborg Maus mit ihren Arbeiten seit Anfang
delns (TKH I) noch einmal auf eine für das Selbstver- der 1970er Jahre aufgreift und die auf dem Weg einer
ständnis der Politikwissenschaft seinerzeit gewisse dadurch inspirierten radikaldemokratischen Aneig-
Weise bestätigt hat, vor allem rationalitätstheoreti- nung der Rechtstheorie Kants in Habermas’ rechts-
schen Gesichtspunkten, die für seine theoriestrategi- und demokratietheoretische Arbeiten seit Mitte der
sche Grundentscheidung, den Sinn demokratischer 1980er Jahre zurückfließen. In die damit verbundene
Beteiligung in ihrer begrifflichen Verzahnung mit Präzisierung eines deliberativen Modells demokrati-
einer bestimmten Konzeption von Recht (FG, 527 f.) scher Politik unter Bezug auf die Diskurstheorie des
zu erläutern, begrifflich und methodologisch von da Rechts und die Kommunikationstheorie der Gesell-
an maßgeblich geblieben sind. Vor diesem Hinter- schaft werden schließlich auch die Arbeiten Joshua
grund analysiert er die Möglichkeit politischer Be- Cohens auf zwar eher sparsame, aber paradigma-
teiligung und bestimmt er die Formen, in denen sie tisch hoch signifikante Weise einbezogen, weil sich
sich realisieren könnte, unter Bezug auf die Struk- an ihnen erneut die für Habermas seit dem »Struk-
turveränderungen, welche die Entwicklung des libe- turwandel« maßgebliche Frage der Verhältnisbe-
ralen zum sozialen Rechtsstaat (LS, 14 ff.; SÖ 1990, stimmung von Staat und Gesellschaft bzw. politi-
326 ff.) und schließlich zu einem auf die »Bewälti- scher Öffentlichkeit und dem System institutioneller
gung kollektiver Gefährdungslagen« überhaupt spe- Politik entzündet.
zialisierten »Sicherheitsstaat« (FG, 524 f.) kennzeich-
nen. Diese Art des Zugriffs verleiht noch seinen Rechtsstaat und Demokratie:
Überlegungen zu demokratischen Entwicklungs- Gedankliche Fluchtlinien
möglichkeiten in seinem vielfach so apostrophierten der Habermas’schen Demokratietheorie
demokratietheoretische Hauptwerk Faktizität und
Geltung (1992) und darüber hinaus seinen Formvor- Sein bis heute maßgebliches Verständnis von Demo-
stellungen zu einer »Weltinnenpolitik ohne Weltre- kratie als der Idee der Herrschaft des Volkes hat Ha-
gierung«, die er in wiederum enger Anlehnung an bermas schon früh in dem Aufsatz »Zum Begriff der
diesmal völkerrechtliche Entwicklungen skizziert politischen Beteiligung« von 1958 (KK, 11) im un-
hat, ihr spezifisches Profil. Thematisch in entschei- mittelbaren Anschluss an Franz Neumann auf die
dender Hinsicht strukturiert durch die Analyse der viel zitierte programmatische Formel gebracht, dass
Entwicklung des Verhältnisses von Staat und Gesell- Demokratie keine Staatsform wie irgendeine andere
schaft, die sich normativ zwischen den Eckpunkten sei:
der politischen Mobilisierung gesellschaftlicher
»[…] ihr Wesen besteht vielmehr darin, daß sie die weitrei-
Kräfte im Zeichen einer öffentlichen Meinungs- und chenden gesellschaftlichen Wandlungen vollstreckt, die die
Willensbildung einerseits und der Einsicht in die Freiheit der Menschen steigern und am Ende vielleicht
Notwendigkeit einer »gewissen Autonomie der poli- ganz herstellen können. Demokratie arbeitet an der Selbst-
tischen Sphäre« (KK, 54; vgl. auch LSW) bewegt, ist bestimmung der Menschheit, und erst wenn diese wirklich
ist, ist jene wahr. Politische Beteiligung wird dann mit
seine Demokratietheorie einerseits entscheidend ge-
Selbstbestimmung identisch sein«.
prägt durch die schon früh einsetzende Auseinan-
dersetzung mit der Weimarer Staatsrechtslehre und Darin liegt zweifellos der Anspruch auf Radikalität
damit Autoren wie insbesondere Heller, Kirchhei- begründet, der die Entfaltung seiner Reformper-
76 II. Kontexte

spektiven auch über die nationalstaatliche Ebene hi- Diese enge Verzahnung der Idee des Rechtsstaates
naus antreibt, auch wenn er sich bezüglich der im und der Diagnose seiner Entwicklung mit der Frage
Rückblick allzu optimistisch oder gar überschwäng- der Entwicklung demokratischer Selbstbestimmung
lich erscheinenden Überzeugung einer demokrati- lässt sich unter zwei Gesichtspunkten, die seinem
schen Ratifizierung gesellschaftlicher Entwicklungs- Zugriff auf die demokratietheoretische Problematik
prozesse inzwischen regelmäßig nicht nur deutlich ihre spezifischen Konturen verleihen, in ihren kon-
zurückhaltender gibt, sondern deren Grundlagen zeptionellen Konsequenzen besonders gut verfolgen:
unter Bezug vor allem auf die veränderten gesell- Zum einen an der Thematisierung der rechtsstaatli-
schaftstheoretischen Grundannahmen, wie sie im chen Entwicklung im Licht der Verschränkung von
Lichte der nunmehr systemtheoretisch informierten Legitimität und Legalität, und zum anderen an der
Unterscheidung von »System« und »Lebenswelt« in Bestimmung des Verhältnisses von Staat und Gesell-
der Theorie des kommunikativen Handelns von 1981 schaft. Unter dem erstgenannten Gesichtspunkt
vollzogen werden, revidiert. Charakteristisch aber markiert er nicht nur seinen Anschluss an die staats-
bleibt für seine demokratietheoretischen Einlassun- rechtliche Sozialstaatsdiskussion der 1950er und
gen, so unterschiedlich die Anlässe, denen sie sich frühen 1960er Jahre, sondern er legt damit jene Spur,
im Einzelnen verdanken, auch sein mögen, die be- auf der er einerseits im Strukturwandel der Öffent-
reits in diesem Aufsatz erkennbare und erstmals im lichkeit oder in dem Aufsatz über »Naturrecht und
Strukturwandel der Öffentlichkeit systematisch ent- Revolution« (TP) die Entwicklung des Rechtsstaates
faltete, strategisch-konzeptionelle Weichenstellung: rekonstruktiv zurückverfolgen und in die er ande-
Die im Vollzug des demokratischen Entwicklungs- rerseits die Perspektiven einer Bewältigung der »un-
prozesses notwendige institutionelle Phantasie wird zureichenden Institutionalisierung rechtsstaatlicher
nicht durch die mehr oder weniger starren Vorgaben Prinzipien« (FG, 527) konstruktiv eintragen kann:
einer in der parlamentarischen Beratung und Ge- Die dem zugrunde liegende Überzeugung ist jeden-
setzgebung zentrierten Formsprache zu sehr ge- falls, dass Legitimität durch Legalität nur möglich
bannt, sondern das prozeduralistische Medium ei- ist, soweit der »moralische Kern« (FG, 549) auch des
ner diskursiven Meinungs- und Willensbildung wird bürgerlichen Formalrechts bewahrt, die Allgemein-
genutzt, um den Anspruch der Demokratie jeweils heit des abstrakten Gesetzes prozedural hergestellt
institutionell flexibel in die Prozesse des Wandels ge- (FG, 552 und 596) und somit die konstitutive Span-
sellschaftlicher und staatlicher Strukturen einpassen nung zwischen den Momenten der »Unverfügbar-
zu können und – wie die in Faktizität und Geltung keit und der Instrumentalität des Rechts« (FG, 589)
dafür gefundene Formel lautet – zu »konkretisti- auch unter interventionsstaatlichen Bedingungen
sche« Vorstellungen und Modelle der Rechts- und und einer zunehmenden Exekutivlastigkeit politi-
Demokratieverwirklichung zu vermeiden (FG, 528). scher Prozesse aufrecht erhalten werden kann.
Dieser Zug freilich nötigt ihn dazu, das Prinzip Zum anderen ist der genaue Zuschnitt seiner de-
der reflexiven Institutionalisierung einer inklusiven mokratietheoretischen Vorstellungen in hohem
politischen Meinungs- und Willensbildung aus einer Maße durch die Bestimmung des Verhältnisses von
abstrakteren Perspektive her einzuführen und zu er- Staat und Gesellschaft und die darin eingelassenen
läutern. Die dafür schon im Strukturwandel der Öf- Erläuterungen zum Funktionswandel von Öffent-
fentlichkeit gefundene Problemformel lautet, die im lichkeit und den Formen der institutionellen Ver-
öffentlichen Vernunftgebrauch selber angelegten Be- schränkung von Meinungs- und Willensbildung in
dingungen zu identifizieren, die gegeben sein müs- Zivilgesellschaft und politischem System. Es ist zwar
sen, damit zwei fundamentale Elemente des rechts- unübersehbar, dass er sein Staatsverständnis begriff-
staatlichen Gesetzesbegriffs, sein Anspruch auf lich von jeglichen Anklängen eines affektiv gestimm-
Gleichheit verbürgende Allgemeinheit und auf seine ten Etatismus freihält, die ihn am Werk insbeson-
Richtigkeit, »d.i. Gerechtigkeit verbürgende Wahr- dere Carl Schmitts (s. Kap. II.3) immer schon provo-
heit« (SÖ 51971, 266) auch eingelöst werden können ziert haben, wenn er in programmatischer Absicht
– wie, mit anderen Worten, die »Verfügung über ver- notiert, »[…]daß die längst eingetretene Säkularisie-
schiedene Sorten von Gründen und die Art des Um- rung der geistigen Grundlagen staatlicher Gewalt
gangs mit ihnen« (FG, 528) so geregelt werden kann, […] an einem überfälligen Vollzugsdefizit [leidet],
dass die Staatsbürger/innen den Zugriff auf die in- das durch weitergehende Demokratisierung ausge-
haltliche Ausgestaltung von Gesetzgebung und Ver- glichen werden muß« (FG, 534). Aber andererseits
waltung nicht verlieren. kann auch unter normativen Gesichtspunkten ins-
15. Demokratie 77

besondere eine den Tendenzen der »Refeudalisie- wäre. An dieser demokratietheoretisch maßgebli-
rung« (SÖ 51971, 273) ausgesetzte, weitgehend über chen gedanklichen Konstellation, in der die Mög-
den Markt integrierte kapitialistische Gesellschaft lichkeit einer »[…] druckfreien, sich durch den
nur dann einen auch soziologisch plausiblen Bezugs- Staatsapparat selbstbestimmenden Gesellschaft«
punkt für Demokratieentwicklungen abgeben, wenn (ebd., 15) als utopisch zurückgewiesen wird, zeich-
sie in ihrem organisatorischen Aufbau den Forde- nen sich die vielfältigen Berührungspunkte und
rungen des Öffentlichkeitsprinzips zu genügen und Überschneidungen im Denken Habermas’ und Rid-
insofern die Allgemeinheit einer »staatsbezogenen« ders bereits deutlich ab – und zwar so, dass sich diese
(SÖ 51971, 249) Meinungs- und Willensbildung und Gemeinsamkeiten nicht nur auf diagnostische oder
damit die sie legitimierende Orientierung am Allge- analytische Fragen beziehen, sondern sich darüber
meinwohl (SÖ 51971, 236) zu verbürgen vermag. Vor hinaus auf konzeptionelle Weichenstellungen erstre-
diesem Hintergrund macht es sich Habermas immer cken, deren von Habermas in Faktizität und Geltung
wieder auch zur Aufgabe, den notwendigen demo- aktualisierte Programmatik Ridder pointiert so zu-
kratischen Strukturwandel auf die Veränderungen sammenfasst: »In der freiheitlichen Demokratie um-
einzustellen, die insbesondere im Bereich einer mit gibt die freie politische Gesellschaft die nach dem
Steuerungsaufgaben zunehmend belasteten Verwal- staatlichen Demokratiegebot zur Öffentlichkeit ih-
tung (FG, 530) auftauchen, und es ist deshalb der rer Tätigkeit verpflichteten Staatsorgane, um in ei-
»im Maße der wechselseitigen Durchdringung von nem permanenten Prozess der öffentlichen Mei-
Staat und Gesellschaft« eintretende Funktionsverlust nungs- und Willensbildung als freiheitsverbürgen-
institutionalisierter wie nicht institutionalisierter des Korrektiv staatlicher Machtausübung zu wirken«
Öffentlichkeiten und die diesen begleitende Stär- (Ridder 1960, 14; vgl. FG, 531, 626).
kung der Verwaltung einerseits wie der Parteien und In dieser demokratietheoretischen Programmatik
Verbände andererseits, der durch neue Formen der werden bei Ridder Impulse aus vor allem drei Rich-
demokratischen Beteiligung zu kompensieren ist tungen verarbeitet: Zum einen verdankt sie sich der
(SÖ 51971, 235). entschiedenen Abwehr eines »soziologischen Positi-
vismus« der nachkriegsdeutschen Staatsrechtslehre,
in dessen Zeichen etwa Ernst Forsthoff oder Werner
Helmut Ridder: Sozialstaat und Demokratie –
Weber versucht hatten, in der Entgegensetzung von
das »therapeutische« Selbstverständnis
Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit einen
des Grundgesetzes
die juristischen Normbestände übergreifenden Ver-
Habermas vermeidet es also, die Perspektiven zur fassungsbegriff zurückzugewinnen, der vor allem
Behebung des demokratischen Vollzugsdefizits mo- der »rastlosen« Suche der konservativen Staats-
derner Gesellschaften im Lichte eines »anarchisti- rechtslehre nach einer aus eigener Substanz wirken-
schen Entwurfs« zu erschließen, nach dem Gesell- den Staatlichkeit dienen sollte (Ridder 1975, 15).
schaft in der horizontalen Vernetzung von freiwilli- Demgegenüber insistiert Ridder darauf, dass es un-
gen, auf die Bereitschaft zur problemlösenden und ter Bedingungen des demokratischen Verfassungs-
handlungskoordinierenden Verständigung aller Be- staates nicht mehr Staat geben kann, als die geschrie-
teiligten zurückgreifenden Assoziationen aufgehen bene, normative Verfassung hergibt (ebd., 17). Zum
könnte (FG, 620). Die Gründe dafür sind zum einen anderen markiert er damit ein »therapeutisches«
funktionaler Natur, insofern er eine solche Vorstel- Verfassungsverständnis, das er an der Sozialstaats-
lung am bloßen Steuerungs- und Organisationsbe- diskussion der 1950er und 1960er Jahre entwickelt
darf moderner Gesellschaften auflaufen sieht (ebd., hat und mit dem er eine über die Sozialpflichtigkeit
620); sie sind aber auch normativer Natur, weil sie des Staates und die Außenbeziehungen der Grund-
den tief in der liberalen Tradition verankerten und rechtsträger hinausgreifende dritte Dimension des
grundrechtlich geschützten Raum einer privat-auto- Sozialstaatsgebots auszeichnet, in der die Idee einer
nomen, also »individual freiheitlichen« (Ridder freiheitlichen Demokratie mit der Forderung einer
1960, 25 f.) Gestaltung von Lebensführung zu weit sozialstaatlichen Einwirkung auf die demokratische
einengen könnte, und weil sie ohnehin nur um den Gleichheit verbürgende innere Struktur »gesell-
Preis einer organisationsrechtlichen Durchdringung schaftlicher Kollektivakteure« (Unternehmen, Ver-
der Gesellschaft im Ganzen, einer der Tendenz nach bände, Gewerkschaften, Parteien) verbunden wird
freiheitsgefährdenden und »totalitären Einsaugung (Ridder 1960, 11). Diese Forderung einer Staat und
des Staats durch die Gesellschaft« (ebd., 15) möglich Gesellschaft übergreifenden Deutung der normati-
78 II. Kontexte

ven Architektur des Grundgesetzes speist sich gesetzes hat also die entscheidenden Eckpunkte ei-
schließlich aus einer schon früh vorgenommenen, ner in die Entwicklung des Rechtsstaates eingelager-
besonderen Art der Verklammerung des grundge- ten demokratietheoretischen Programmatik so weit
setzlich geschützten Rechts auf freie Meinungsäuße- freigelegt, dass Habermas daran mühelos anschlie-
rung mit der Idee des öffentlichen Vernunftge- ßen konnte – ein Umstand, der sich nicht nur in den
brauchs, wonach die öffentliche Meinungsfreiheit zahlreichen direkten Bezügen auf die erwähnten
nicht mehr an Wahrheit oder Vernunft als sittlicher Schriften Ridders zur »Meinungsfreiheit« von 1954
Leitidee der klassischen Meinungsäußerungsfreiheit oder zur »Verfassungsrechtlichen Stellung der Ge-
gebunden ist, sondern auf »[…] den Schutz der werkschaften« von 1960 im Strukturwandel der Öf-
freien Bildung der öffentlichen Meinung, also auf fentlichkeit spiegelt, sondern auch dadurch erklärlich
den Schutz der einzelnen Aufbauelemente, der Ge- wird, dass Habermas schon als junger Student An-
nese […]« zielt (Ridder 1954, 265). fang der 1950er Jahre Vorlesungen bei Ridder wäh-
Diese Striche markieren die äußeren Konturen rend dessen Frankfurter Zeit gehört hat. Auch wenn
des spezifischen Bildes, das Ridder, unter systemati- nicht darüber spekuliert werden soll, wie weit dieser
scher Verschränkung mit dem Rechts- und Sozial- Einfluss tatsächlich reichte, so kann doch konstatiert
staatsgebot, vom Demokratieverständnis des Grund- werden, dass sich eine direkte Wirkungsbeziehung
gesetzes zeichnet, wobei er sich allerdings bezüglich für die späten 1950er und frühen 1960er Jahre nach-
der Frage nach einem sich daraus ergebenden kon- weisen lässt, während Ridder in Faktizität und Gel-
kreten Modell von Demokratie im Ganzen eher tung nur noch an einer Stelle (und auch dort recht
agnostisch verhält. Gerade weil er darauf insistiert, summarisch in einer Fußnote: FG, 302, Fn. 11) er-
dass das Grundgesetz das politische System nicht auf wähnt wird.
»eine der untereinander rivalisierenden Vorstellun-
gen von demokratischer Ordnung« festlegt (Ridder
Ingeborg Maus: Der Übergang vom materialen
1979, 11), sondern es sich nach seiner Auffassung
zum prozeduralen Vernunftrecht
darauf beschränkt, »[…] dem mehrheitlichen Volks-
willen nicht nur Bekundungs-, sondern auch Betäti- Allerdings kann Habermas den damit ausgelegten
gungsfreiheit mit rechtlicher Wirkung« (ebd., 10 f.) Faden nunmehr in Auseinandersetzung vor allem
einzuräumen, sieht er normative Schranken der De- mit den Arbeiten Ingeborg Maus’ wieder aufneh-
mokratieentwicklung in erster Linie dort, wo die men, deren Aufklärung der Demokratietheorie sich
prozeduralen Garantien einer das Zusammenspiel einerseits einer gedanklichen Konstellation ver-
politisch-institutioneller (staatlicher) und öffentli- dankt, die jener mit Blick auf Ridder nachgezeichne-
cher (gesellschaftlicher) Meinungs- und Willensbil- ten Konfiguration nicht unähnlich ist, die aber ande-
dung i.S. einer »unfreiheitlichen« Demokratie der rerseits viel entschiedener als Ridder Fragen der
unbegrenzten (plebiszitären) Mehrheitsherrschaft Rechtsstaats- und Verfassungstheorie wie der inter-
übersprungen zu werden drohen (Ridder 1960, 12). nen Verklammerung von Rechtsstaats- und Demo-
Jenseits dieser Schranke stellt die Verfassung ledig- kratieprinzip auf eine an dem Werk Kants geschulte,
lich die normativen Regelungen zur Verfügung, die grundbegriffliche Klärung zuführt.
es der demokratischen Willensbildung ermöglichen In der Intention mit Habermas und auch Ridder
sollen, in »therapeutischer« Weise auf die Bedingun- weitgehend übereinstimmend, geht es Maus in einer
gen der Ausübung öffentlicher Autonomie selbstre- in drei markanten Schritten – von der Analyse des
flexiv einzuwirken – freilich so, dass dieses demo- Zusammenhangs von Bürgerliche[r] Rechtstheorie
kratische Strukturgebot die Grenzen der Unterschei- und Faschismus (1976) über ihre Studien zur Rechts-
dung zwischen Staat und Gesellschaft überspringt, theorie und Politische Theorie im Industriekapitalis-
freiheitliche Demokratie also keine bloße Staats- mus (1986) bis hin zur Aufklärung der Demokratie-
formbestimmung bleiben kann, sondern in ihrem theorie (1992) – entfalteten Theorie des demokrati-
Begriff das Verhältnis von Staat und Gesellschaft so- schen Rechtsstaates im Kern um die Beantwortung
wie demokratie-relevante, gesellschaftliche Struktur- der Frage, »[…] wie unter Bedingungen der fortge-
elemente mit zu erfassen sind (ebd., 13). schrittenen Industriegesellschaft mit den sie kenn-
Die von Ridder mit Bezug auf die Weimarer zeichnenden Entwicklungen zum organisierten Ka-
Staatsrechtslehre und in Abgrenzung von Carl pitalismus des 20. Jahrhunderts und neuer trans-
Schmitt und seinen Schülern vorgenommene Ak- und supranationaler Regelungsebenen im 21.
zentuierung des demokratischen Gehalts des Grund- Jahrhundert demokratische Selbstbestimmung und
15. Demokratie 79

Freiheitssicherung der Individuen durch Rechts- Abendroth und Ridder) die Perspektive der Entfal-
staatlichkeit überhaupt noch möglich sind« (Niesen/ tung der Idee des Rechtsstaats an jenen industriege-
Eberl 2006, 12). Dabei dient ihr der Bezug auf die sellschaftlich induzierten gesellschaftlichen Struk-
prozeduralistisch ausgelegte, in der Aufklärung und turveränderungen aus, die es nahe legen, dass die
der Französischen Revolution wurzelnde Idee des Gleichheit und Freiheit sichernde Funktion der
»demokratischen Gesetzgebungspositivismus« als Grundrechte angesichts von Phänomenen ökonomi-
jene begriffliche Klammer, die es ermöglichen soll, scher, sozialer und administrativer Machtkonzentra-
der von Weimar ausgehenden Entwicklung der bür- tion nur gewahrt werden kann, wenn sie die Wir-
gerlichen Rechtstheorie, also der »deutschen Tradi- kung ihrer Prinzipien auch in Richtung auf die Ver-
tion der Verselbständigung substantialisierter fassung gesellschaftlicher Sektoren auszudehnen
Rechtsbegriffe gegen demokratische Willensbil- vermag (Maus 1976, 61 ff.).
dungsprozesse« (Maus 1986, 7) ebenso entgegenzu- Die dafür notwendigen grundbegrifflichen und
wirken wie einer »fundamentalistische[n] Rechts- konzeptionellen Weichenstellungen hat sie vor allem
kritik […], die jede Form der Verrechtlichung als im Rückgriff auf Kant (Maus 1992) in Hinblick auf
Zerstörung autonomer gesellschaftlicher Organisa- die Etablierung des prozeduralistischen Rechtspara-
tion und partizipatorischer Demokratie begreift« digmas vollzogen, dessen Kern sie – nicht anders als
(ebd., 7). Als Paten dieser die praktische Dimension Habermas – in der durchgängigen Kombination und
des Rechts unterlaufenden und den konstitutiven wechselseitigen Vermittlung rechtlich institutionali-
Zusammenhang zwischen der Herrschaft des Geset- sierter und nicht-institutionalisierter Volkssouverä-
zes einerseits und der Volkssouveränität wie der in- nität identifiziert. Gesucht ist mithin eine Form der
dividuellen Autonomie andererseits zerreißenden Vermittlung, die ihre Allgemeinheit selber nur noch
theoretischen Bewegung identifiziert sie immer wie- prozedural, und d. h. in der Garantie von Freiheit
der Carl Schmitt, in dessen Werk sich die von ihr ins und Gleichheit sichernden Verfahrensbedingungen
Zentrum gerückten Tendenzen zur Entformalisie- behaupten kann. Diese abstrakte Formulierung frei-
rung des Rechts und der dadurch ermöglichten rela- lich nimmt genaue Konturen erst im Lichte dreier
tiven Verselbständigung politischer Institutionen weiterer Unterscheidungen an, die ihren »[…] Ver-
gegenüber dem Recht (und mithin gegenüber den such, die wesentlichen Intentionen des Volkssouve-
normativen Anspruch auf demokratische Selbstge- ränitätsprinzips unter den heute gegebenen gesell-
setzgebung, vgl. Maus 1986, 278 und passim) para- schaftlichen Bedingungen zu rekonstruieren […]«
digmabildend zu einer Theorie der »konstitutiven (Maus 1992, 224) letztlich in eine instruktive Span-
Rechtsakte« (Maus 1976, 81 ff.) so verschürzen, dass nung zu Habermas Vorstellungen bringt: Zum einen
letztlich »[…] die Faszination für alles Nicht-Orga- nimmt sie die Differenz und Legitimität des Geset-
nisierte, Nicht-Institutionalisierte und noch nicht zes verbürgende Vermittlung von Naturrecht und
Etablierte, das Irreguläre schlechthin […] nur der positivem Recht zum Anlass, einen spezifischen Lö-
Hypostasierung einer geistigen Größe und Substanz sungsvorschlag für das Problem zu unterbreiten,
dient, an der sich dann vor allem der Anspruch »ei- »[…] wie die in der Souveränitätstheorie freigesetzte
ner zur gestaltenden Entscheidung freigesetzten Willkür des demokratischen Gesetzgebers mit den
Elite« (Maus 1986, 85) nähren kann. Dieser Entwick- normativen Vorgaben des Naturrechts zu kombinie-
lung der bürgerlichen Rechtsstaatstheorie, die sie in ren ist« (ebd., 161) – nämlich durch eine zeitliche
ihrem umfassend angelegten Aufsatz zur »Entwick- und normative Differenzierung von prozeduralen
lung und Funktionswandel der Theorie des bürgerli- und inhaltlichen Rechtsetzungsprozessen. Damit
chen Rechtsstaats« (ebd., 11–82) ausgehend von der verbindet sie aber zum zweiten – angeregt durch die
Konstitution der Rechtsstaats- als Demokratietheo- Unterscheidung von Selbstgesetzgebung und Selbst-
rie bei Kant bis in das rechtstheoretische Werk Luh- regierung – die Forderung, dass die »Normierung
manns hinein verfolgt, versucht sie entgegenzuwir- der Normsetzung« in der Zuständigkeit der legislati-
ken, indem sie vor allem im Rückgriff auf Kant die ven Zentrale (also des Parlaments) verbleiben muss
fälligen begrifflichen Konsequenzen aus der im und nicht in dezentrale Prozesse der inhaltlichen
Übergang des liberalen zum demokratischen und Rechtsetzung selber abgegeben werden kann (Maus
sozialen Rechtsstaat faktisch vollzogene Säkularisie- 1992, 225). Und schließlich ist im Rahmen eines der-
rung der geistigen Grundlagen rechtlicher und staat- artig reflexiv ausgelegten Verfahrens der Selbstge-
licher Gewalt zieht. Dabei richtet sie (unter Bezug setzgebung noch dafür Sorge zu tragen, dass der All-
auf Kirchheimer, Neumann, Heller und Habermas, gemeinheitsanspruch der zentralen, allgemeinen
80 II. Kontexte

Gesetzgebung nicht auf die falsche Sorte von Grün- Gestaltungs- und Steuerungsbedarf nicht allein und
den zurückgeführt wird – gegen diese Gefahr bringt nicht einmal primär gesellschaftlich vermittelt wer-
sie die Unterscheidung von Recht und Moral mit der den kann, weil das andererseits die kommunikative
Pointe in Stellung, dass rechtliche Entscheidungen Infrastruktur einer »im ganzen deliberativ gesteuer-
nicht im unmittelbaren Durchgriff auf moralische ten und insofern politisch konstituierten Gesell-
Prinzipien zu legitimieren sind, weil das lediglich schaft« (ebd., 369) schon deshalb zu überlasten
(wie sie im Blick auf die Praxis des Bundesverfas- droht, weil – wie er an dieser Stelle etwas unklar no-
sungsgerichts notiert) dem Dezisionismus der ent- tiert – »das demokratische Verfahren auf Einbet-
scheidenden Institution in die Hände spielt (ebd., tungskontexte, die es selber nicht regeln kann, ange-
171) und so die Grenzen des Rechts und »damit die wiesen ist« (ebd., 370). Damit, wie durch den Hin-
Grenzen staatlicher Regulierung aufhebt« (ebd., weis auf das Fehlen von Aussagen zum Verhältnis
309). von entscheidungsorientierter Beratung einerseits
und informellen Prozessen der Meinungsbildung
andererseits (ebd., 372), rückt Habermas denn auch
Joshua Cohen: Das Modell deliberativer Politik
noch einmal deutlich den Rahmen zurecht, inner-
Wenn Maus vor diesem Hintergrund in der Folge halb dessen sich Joshua Cohens Erläuterungen zum
auch allen Spekulationen bezüglich einer durch die Begriff deliberativer Politik (Cohen 1989) seiner
Staatensouveränität hindurch greifenden Konstituti- Meinung nach angemessen zur Geltung bringen las-
onalisierung des Völkerrechts mit dem Argument sen. Die anspruchsvollen Bedingungen einer diskur-
energisch entgegentritt, dass Staatensouveränität po- siven, entscheidungsbezogenen Beratung jedenfalls,
tentiell Volkssouveränität sei (Maus 2007, 366), dann auf die Cohens Idee demokratischer Legitimität zu-
zieht sie damit nicht nur den ebenso energischen geschnitten ist, sollen sich demgegenüber nur als Er-
Widerspruch Habermas’ auf sich (Habermas 2007, läuterung der Kernstruktur eines aus der Gesell-
442), sondern im Gegenlicht dieser Kontroverse tre- schaft ausdifferenzierten politischen Systems verste-
ten gleichsam retrospektiv noch einmal zwei ent- hen lassen. Mit dieser Qualifizierung freilich zieht
scheidende Züge der Demokratietheorie Habermas’ Habermas auch die konstruktive, institutionelle
in den Blick. Einerseits hält er eine deutliche Distanz Phantasie möglicherweise stimulierende normative
gegenüber allen Vorstellungen von Demokratie, die Heuristik ein, die Cohen dabei im Auge hat. Diese
diese in der gesellschaftlichen Selbstorganisation wird allerdings – obwohl in den Formulierungen des
und in einer horizontalen, basisdemokratischen Ver- zitierten Aufsatzes bereits angelegt – erst in der Folge
mittlung gesellschaftlicher Teileinheiten aufgehen in einer ganzen Reihe von Publikationen in zwei sys-
sieht (FG, 620). Demgegenüber setzt er primär auf tematischen Schritten einerseits im Rahmen einer
die rechtsstaatlich institutionalisierte und domesti- »Politik der Assoziation« (Cohen/Rogers 1995) und
zierte Meinungs- und Willensbildung im »parla- in Auszeichnung des Modells einer »direkt-delibera-
mentarischen Komplex« (ebd., 448), um dann das tiven Polyarchie« (Cohen/Sabel 1997) deutlicher
Zusammenspiel dieser Sphäre mit der nicht-instiuti- konturiert.
onalisierter Meinungsbildung in Öffentlichkeit und Dabei folgt Cohen in zwei entscheidenden Hin-
Zivilgesellschaft mit Hilfe eines prozeduralen Rechts sichten Impulsen, von denen sich auch Maus hatte
so auszugestalten, dass Legitimationsfilter in die leiten lassen und wonach die Aktualisierung der In-
Prozesse staatlich-administrativer Politik eingesetzt tentionen des Prinzips der Volkssouveränität vor al-
werden (ebd., 531). Andererseits rückt er die Per- lem in zwei Richtungen verfolgt werden soll: zum ei-
spektive einer epistemischen Bändigung, wenn nicht nen in Richtung auf Formen einer dezentralen
unbedingt gesellschaftlicher Macht, so doch staatli- Selbstgesetzgebung, die zum anderen in die vertikale
cher Gewalt mehr in den Vordergrund, was ihm Funktionsteilung eines sich über mehrere Ebenen
auch die Möglichkeit gibt, institutionell weniger ri- erstreckenden Prozesses der Willensbildung einge-
goros die Perspektive der Demokratisierung elasti- bunden ist. Während nun Cohen mit dem Modell ei-
scher auf die sich vollziehenden Struktur- und Orts- ner deliberativen Polyarchie an der Perspektive der
veränderungen der Politik einzustellen und »institu- Dezentralisierung ansetzt, sollen die Überlegungen
tionelle Phantasie« anzumahnen (ebd., 531). zu einer gerichteten Politik der Assoziation auf die
Beides verdankt sich wohl letztlich dem doppel- gesellschaftliche Verbreiterung der Bedingungen ei-
ten Argument, dass der durch die Komplexität ge- ner anspruchsvollen, diskursiven Willensbildung
sellschaftlicher Verhältnisse induzierte politische wie politische Gleichheit, distributive Fairness und
15. Demokratie 81

staatsbürgerliches Bewusstsein zielen (Cohen/Ro- Literatur


gers 1995, 34 ff.). In diesem Rahmen liegt die Bedeu- Cohen, Joshua: »Deliberation and Democratic Legitimacy«.
tung einer demokratischen Gruppenpolitik dann vor In: Alan Hamlin/Philip Pettit (Hg.): The Good Polity.
allem darin, dass politische Aufmerksamkeit anders Normative Analysis of the State. Oxford 1989, 17–34.
als im fluiden Medium einer vor allem massenme- –: »Deliberation and Democratic Legitimacy«. In: James
dial vermittelten Öffentlichkeit verdichtet, konzen- Bohman/William Rehg (Hg.): Deliberative Democracy.
Essays on Reason and Politics. Cambridge, Mass./Lon-
triert und zeitlich so stabilisiert werden kann, dass don 1997, 67–91.
sie die Sichtbarkeit und den Einfluss nicht oder un- –: »Can Egalitarianism Survive Internationalization?« In:
terrepräsentierter Gruppen erhöhen und dass sie Wolfgang Streeck (Hg.): Internationale Wirtschaft, natio-
schließlich als Schulen der Demokratie auch zur Bil- nale Demokratie. Herausforderungen für die Demokratie-
dung staatsbürgerlichen Bewusstseins beitragen theorie. Frankfurt a. M./New York 1998.
– /Rogers, Joel: Associations and Democracy. London/New
(ebd., 42 ff.). Der Kerngedanke besteht vor diesem York 1995.
normativen Hintergrund dann darin, dass sich diese – /Sabel, Charles: »Directly Deliberative Polyarchy«. In:
Effekte im Blick auf die gesellschaftliche Organisati- European Law Journal 3. Jg., 4 (1997), 313–342.
onswelt und auf die in sie eingelassenen vielfältigen Habermas, Jürgen: »Kommunikative Rationalität und
Asymmetrien nicht von alleine einstellen werden, grenzüberschreitende Politik: eine Replik«. In: Peter
Niesen/Benjamin Herborth (Hg.): Anarchie der kommu-
sondern nach einer bewussten Politik der Assozia- nikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der
tionsbildung verlangen, die sich auf die vier Dimen- internationalen Politik. Frankfurt a. M. 2007, 406–459.
sionen der Förderung und Unterstützung von As- Maus, Ingeborg: Bürgerliche Rechtstheorie und Faschismus.
soziationen, der Strukturierung ihrer internen Zur sozialen Funktion und aktuellen Wirkung der Theorie
Willensbildungsprozesse, auf ihre konstitutionelle Carl Schmitts. München 1976.
–: Rechtstheorie und politische Theorie im Industriekapita-
Einpassung in die Strukturen des politischen Sys-
lismus. München 1986.
tems im engeren Sinne sowie auf Fragen ihrer hori- –: Zur Aufklärung der Demokratietheorie. Frankfurt a. M.
zontalen Vernetzung beziehen (ebd., 48 ff.). 1992.
Nun mag es eine offene Frage sein, in welchem –: »Verfassung oder Vertrag. Zur Verrechtlichung globaler
Ausmaß eine solche egalitäre Politik der Gruppen- Politik«. In: Peter Niesen/Benjamin Herborth (Hg.): An-
archie der kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas
bildung auf unterschiedlichen Ebenen des politi-
und die Theorie der internationalen Politik. Frankfurt
schen Prozesses tatsächlich die Versprechungen ein- a. M. 2007, 350–382.
zulösen vermag, die Cohen und Rogers damit im Niesen, Peter/Eberl, Oliver: »Demokratischer Positivismus:
Hinblick auf Fragen des Agenda-Setting, der Politik- Habermas/Maus«. In: Sonja Buckel/Ralph Christensen/
formulierung und -implementation verbinden (ebd., Andreas Fischer-Lescano (Hg.): Neue Theorien des
55 ff.). Ebenso offen muss aber letztlich die Antwort Rechts. Stuttgart 2006, 3–28.
Ridder, Helmut: »Meinungsfreiheit«. In: Franz L. Neu-
auf die Frage bleiben, warum Habermas weitgehend mann/Hans Carl Nipperdey/Ulrich Scheuner (Hg.): Die
darauf verzichtet hat, die Ausarbeitung seines Mo- Grundrechte. Handbuch der Theorie und Praxis der
dells deliberativer Politik wenigstens ein Stück wei- Grundrechte. Bd. 2. Berlin 1954, 243–290.
ter auch in die damit vorgezeichnete Richtung vor- –: Zur verfassungsrechtlichen Stellung der Gewerkschaften.
anzutreiben, zumal es seinen Bedenken gegenüber Stuttgart 1960.
–: »Ex oblivione malum. Randnoten zum deutschen Parti-
einer ungerechtfertigten Aufspreizung deliberativer sanprogreß«. In: Heinz Maus (Hg.): Gesellschaft, Recht
Politik zu einer die »gesellschaftliche Totalität prä- und Politik: Wolfgang Abendroth zum 60. Geburtstag.
genden Struktur« (FG, 370) durchaus entgegenzu- Neuwied/Berlin 1968, 305–332.
kommen scheint. Vielleicht aber weist das auch auf –: Die soziale Ordnung des Grundgesetzes. Leitfaden zu den
einen seiner Ausgangspunkte in den Rechtsstaats- Grundrechten einer demokratischen Verfassung. Opladen
1975.
diskursen der 1950er und 1960er Jahre und damit –: »Der Demokratiebegriff des Grundgesetzes«. In: Ders.
auf den Umstand hin, dass sich eine der fundamen- (Hg.): Zur Ideologie der »streitbaren Demokratie« (Argu-
talen Weichenstellungen der Habermas’schen De- ment Studienheft 32). Berlin 1979, 10–20.
mokratietheorie dem Impuls einer gleichmäßigen Rainer Schmalz-Bruns
Sicherung der Ansprüche öffentlicher wie privater
Autonomie verdankt – ein Impuls, der auf die auch
normative Substanz gesellschaftlicher Differenzie-
rungsprozesse verweist, die sich wie eine Schranke
vor alle Versuche legen, im Namen der Demokratie
eine Verstaatlichung der Gesellschaft zu betreiben.
82 II. Kontexte

16. Moral-Diskurse zung mit Hegels Kantkritik, die der Habermas’schen


Unterscheidung von Moral und Ethik ihre grund-
sätzliche Gestalt gibt. Dann wird die Unterscheidung
in entwicklungspsychologischen und soziologischen
Die Unterscheidung im Allgemeinen
Perspektiven erläutert (Mead, Durkheim, Kohlberg)
Jürgen Habermas entwickelt seine Diskursethik seit und in einem umfassenden rationalitätstheoreti-
ihren ersten Entwürfen in kritischer Auseinander- schen Entwurf präzisiert. Schließlich werden die Un-
setzung mit Hegels Kantkritik (DE, 112 ff.; ED, 9 ff.). terschiede der eigenen Konzeption gegenüber Kriti-
Dabei teilt er mit Kant und Hegel die Auffassung, ken und zeitgenössischen Unterscheidungen des
dass sich die Moral unter Bedingungen der Moderne Moralischen vom Ethischen kritisch verdeutlicht
nicht mehr wie insbesondere bei Aristoteles und und die gesamte Konzeption einer metaethischen
Thomas von Aquin in einem umfassenden Sinne als Revision unterworfen. Ob die Probleme der Bear-
moralische Auszeichnung eines vorbildhaften und beitung der Bioethik nun auch eine Revidierung in
gebotenen, gelingenden guten und glücklichen Le- der Sache erfordern, scheint offen.
bens (eudaimonia, summum bonum) auffassen lässt.
So wie Kant Fragen der Glückseligkeit, die je indivi- Hegels Kantkritik und die Exposition
duell unterschiedliche Antworten ermöglichen, von der Unterscheidung von Moral und Ethik
Fragen nach dem unbedingten und moralisch Gu-
ten, denen nur allgemeingültige Antworten genü- Die Trennung zwischen moralischen und ethischen
gen, trennt, so trennt Habermas nun mit einer be- Diskursen überprüft Habermas darauf hin, ob sie
grifflich neu bestimmten Terminologie »moralische »Hegels Einwände(n) gegen Kant« standhalten (ED,
Fragen« von »ethischen Fragen«. Moralisch nennt er 9 ff.). Hegel hatte gegen den »abstrakten Universalis-
Diskurse, in denen aus einer unparteilichen Perspek- mus der Gerechtigkeit«, den er auch in Kants Auto-
tive gefragt wird, »was gleichermaßen gut für alle nomieethik verwirklicht sah, und gegen den »kon-
ist« und was in diesem Sinne unbedingte Pflicht ist, kreten Partikularismus des Allgemeinwohls«, wie er
ethisch Diskurse, in denen nach den klugen Rat- von Aristoteles und Thomas vertreten wird, sein
schlägen des »für mich oder für uns Guten« gefragt Konzept der vermittelnden und fundierenden Sitt-
wird. »Ethik« ist hier nicht mehr nur (wie im Aus- lichkeit gesetzt. Von ihr aus opponiert Hegel insbe-
druck »Diskursethik«) die Bezeichnung für die sondere gegen den leeren Formalismus, den abstrak-
»Wissenschaft der Moral«, sondern wird darüber hi- ten Universalismus, gegen die »Ohnmacht des Sol-
naus in einer neuen, spezifischen Bedeutung als lens« und den Gesinnungsterror der Kantischen
Lehre von dem evaluativ ausgezeichneten guten Le- Ethik. Habermas versucht, unter Beibehaltung der
ben einer (individuellen oder kollektiven) Lebens- kantianischen Trennung von Moral und Ethik die
form verstanden. Inhaltlich beschränken sich nun vermittelnden Funktionen der Sittlichkeit ohne ihre
moralische Diskurse auf Fragen der zwischen- fundierende Substantialisierung in den Begriffen der
menschlichen Gerechtigkeit und Solidarität, wäh- Diskursethik zu reformulieren.
rend ethische Diskurse Fragen des guten Lebens an- Gegen Hegels Formalismusvorwurf zeigt er, dass
gesichts des Wertepluralismus in der Moderne im der formale Charakter des Universalisierungsgrund-
Kontext je besonderer und damit partikularer Le- satzes der Moral weder leer noch tautologisch ist,
bensformen behandeln. Die Unterscheidung wird, sondern durchaus, wie auch bei Kant, den jeweils
darin folgt Habermas Kant, durch den unbedingten vorgefundenen moralischen Gehalt von Maximen
und universellen Begründungsanspruch moralischer oder Handlungsnormen nur überprüft, nicht gene-
Pflichten hervorgerufen, sie lässt aber, darin unter- riert. Wichtiger freilich ist der weitere Einwand, den
scheidet sich Habermas von Kant, andere (als von Hegel gegen den Formalismus der Achtungsmoral
Kant mit seinen Begriff des »höchsten Guts« vertre- wendet. Wie bei Kant führt im Falle der Diskursethik
tene) Konzeptualisierungen des Unterschieds und die Überprüfung der in der Alltagswelt vorgefunde-
des Zusammenhangs zwischen Moral und Ethik zu nen Maximen zu einer Abstraktion, d. h. gerade zu
(s. Kap. II.9). der Trennung von universalisierbaren, moralischen
Wie auch sonst in seinem Werk entwickelt Haber- Normen von Wertaussagen, die nur einen ethischen,
mas seine eigene Konzeption in andauernden Aus- auf ein jeweils gutes Leben bezogenen Sinn haben.
einandersetzungen mit klassischen und gegenwärti- Hegel sah darin einen Verlust von Konkretheit und
gen Autoren. Zunächst ist es die Auseinanderset- Inhaltlichkeit und somit ein Indiz für die Beliebig-
16. Moral-Diskurse 83

keit und Irrelevanz dieser abstrakten Moral. Haber- ven Urteilskraft, mit dem Einwand zu begegnen,
mas wendet nun ein, dass die diskursethisch geprüf- dass es durchaus Topoi einer allgemeinen »unpartei-
ten universellen und formalen Normen einen mora- lichen Applikation« von Normen gebe, so dass auch
lischen Gehalt haben, der die vermittelnde Funktion in Anwendungsfragen moralische und ethische Ar-
von Hegels Sittlichkeit durchaus, wenn auch »schwä- gumentationen unterschieden werden können. Spä-
cher«, aufnimmt. Weil der Einzelne sich nur in inter- ter verweist Habermas auf das einschlägige Buch von
subjektiven Anerkennungsbeziehungen individuali- Klaus Günther (1988).
siert (ND, 187 ff.), ist die Integrität des Einzelnen nur Wichtiger für das Verständnis der Unterschei-
mit dem »lebensnotwendigen Geflecht reziproker dung Moral/Ethik ist nun Hegels Vorwurf einer
Anerkennungsverhältnisse« zugleich zu schützen. Ohnmacht des Sollens, denn eine universalistische
Die im Diskurs überprüften universellen Normen Moral, die sich von Bestimmungen des guten Lebens
schützen daher nicht nur die gleiche Berücksichti- abtrennt, muss folgenlos bleiben, wenn ihr eine aus-
gung der Interessen aller und die gleichen Freiheiten reichende Motivation fehlt.
der Individuen, also Forderungen der Gerechtigkeit Die antiken Tugendethiken, Moralkonzeptionen
und der Solidarität, sie schützen auch die intersub- in der Nachfolge von Hume und auch Hegels Sitt-
jektiven Anerkennungsverhältnisse, denen der Ein- lichkeitskonzept beginnen gleichsam mit dem Moti-
zelne erst seine Individuierung verdankt, und damit vationsproblem und ordnen entsprechend Rechtfer-
»das soziale Band […], das jeden mit jedem objektiv tigungsgründe den Beweggründen zum moralischen
verknüpft« (ED, 18). In dieser Hinsicht geht die Dis- Handeln unter. Habermas bietet nun drei Lösungs-
kursethik über Kant hinaus und rekonstruiert im wege des Motivationsproblems einer universellen
Bereich der Moral diejenigen »strukturellen Aspekte Moral an, die alle versuchen, die motivierende Kraft
des guten Lebens, die sich unter allgemeinen Ge- gelebter Sittlichkeit in jeweils bestimmten Hinsich-
sichtspunkten kommunikativer Vergesellschaftung ten zu beerben, ohne die Trennung von Moral und
überhaupt von der konkreten Totalität jeweils be- Ethik aufzugeben.
sonderer Lebensformen abheben lassen« (ED, 20). a) Kant beharrte auf der Autonomie der Vernunft
Habermas führt als Beispiel die Menschenrechte an und konstruierte in der moralischen Triebfeder der
(ED, 22). Diese Antwort Habermas’ auf Hegels ima- Achtung ein durch die Vernunft selbst gewirktes,
ginierten Einwand ist auch in der Folge von großer motivierendes Gefühl. Habermas misstraut diesem
Bedeutung, legt er doch die Frage nahe, wie denn Idealismus der Kantischen Vernunft: die im Diskurs
diese implizite Verbindung einer universellen Ge- gewonnen moralischen Einsichten »bewirken nicht
rechtigkeitskonzeption mit Wertungen eines guten schon autonomes Handeln« (ED, 114), aber sie moti-
Lebens gedacht werden kann. Habermas stellt sich vieren in einem schwachen Sinne. Diese »schwach
auch selbst diese Frage: »ob es überhaupt möglich motivierende Kraft guter Gründe« zeigt sich nach
ist, Begriffe wie universelle Gerechtigkeit […] unab- Habermas in den moralischen Gefühlen und insbe-
hängig von der Vision eines guten Lebens […] zu for- sondere in den affektiven Regungen eines »schlech-
mulieren« (ebd.), und nimmt damit einen wichtigen ten Gewissens«, wenn wir gegen bessere Einsicht ge-
Einwand vorweg, der von seinen Kritikern häufig er- handelt haben (ED, 135 f.; Wellmer 1986). Würde
hoben werden wird (s. u.). Vorläufig soll genügen, man diesen Gedanken weiter verfolgen, so zeigt sich
dass die Moralprinzipien sich nur »negatorisch auf daran freilich, dass es nicht unparteiliche und ratio-
das beschädigte Leben beziehen, statt affirmativ aufs nale Gründe sind, die diesen affektiv-motivationalen
gute« (ebd.). Effekt haben, sondern dass damit vorausgesetzt ist,
Auf Hegels Einwand eines abstrakten Universalis- dass das Individuum sich mit diesen unparteilichen
mus kann die Diskursethik antworten, dass sie we- Gründen als seinen eigenen identifiziert hat, also sie
der konkrete und partikulare Lebensformen miss- in seine Konzeption des guten Lebens integriert hat
achtet oder unterdrückt, noch die Folgen von Hand- (EA, 47; Korsgaard 1996).
lungen nicht berücksichtigt. Allerdings zwingt b) Habermas weist darauf selbst mit folgendem
Hegels kritischer Einwand dazu, dass die Diskurs- Einwand hin: »Einsicht schließt Willensschwäche
ethik stärker als Kant zwischen Rechtfertigungsfra- nicht aus. Ohne Rückendeckung durch entgegen-
gen und Anwendungsproblemen unterscheidet (ED, kommende Sozialisationsprozesse und Identitäten«
24 f.). Habermas versucht hier, der auch später erho- (ED, 135, kursive Hervorh. G. L.) bleibt das morali-
benen Kritik, bei Anwendungsfragen universeller sche Urteil in seinen motivierenden Folgen kontin-
Normen bedürfe es einer jeweils konkreten situati- gent und muß daher nun extern unterstützt werden.
84 II. Kontexte

Von »entgegenkommenden« Lebensformen spricht 119–226) hervorzurufen. Habermas hatte in seiner


Habermas zum ersten Mal 1961 im Kontext seiner Mead- und Durkheim-Interpretation in der Theorie
Auseinandersetzung mit den geschichtsphilosophi- des kommunikativen Handels (1981) sich der
schen Fortschrittsannahmen der schottischen Mo- »Grundannahmen einer kommunikativen Ethik« in
ralphilosophie: »Die Soziologie der Schotten konnte soziologischer und evolutionstheoretischer Weise
sich im Zusammenspiel mit einer ihr ohnehin ›ent- versichert und die Differenzierung zwischen den
gegenkommenden‹ politischen Öffentlichkeit auf formalen Rechtfertigungen moralischer Normen
Orientierung individuellen Handelns, auf eine im durch den »universe of discourse« (TKH II, 144 f.)
engeren Sinne praktische Beförderung des geschicht- und den »klinischen Fragen« einer Bewertung der
lichen Prozesses beschränken« (TP, 48 f.) Wie bei Lebensgeschichte eines Individuums oder der Le-
den »Schotten« verteilen sich seitdem bei Habermas bensform eines Kollektivs (TKH II, 165 ff.) als sozio-
die geschichtsphilosophischen Fortschrittsannah- kulturelle Rationalisierungen gedeutet. In den How-
men auf die gesellschaftlichen Evolutionen einerseits ison-Lectures (Berkely 1988, veröffentlicht als ED)
und die »entgegenkommenden« moralisch-politi- ordnet Habermas die Unterscheidung in eine umfas-
schen Öffentlichkeiten anderseits. Dass die formalen sende Konzeption praktischer Vernunft ein. Die
und prozeduralen Diskurse auf entgegenkommende »Aspekte […] des Guten und des Gerechten« wer-
Lebensformen angewiesen sind, um Wirkungen zu den nun um den der »Zweckmäßigkeit« ergänzt und
zeigen, wird von Habermas auch in anderen Kontex- als Kennzeichen einer nachmetaphysischen prakti-
ten betont, und immer steckt darin auch eine un- schen Vernunft ausgewiesen. In dieser Fassung ist
eingestandene schwache geschichtsphilosophische sie provokant genug geworden, um nun ausführliche
Hoffnung (Lohmann 1998). Kritik, affirmative und kritische Adaptionen und Er-
c) Da sowohl die »schwache Kraft« wie das »Ent- widerungen (ED, 119–226) zu provozieren. Ohne
gegenkommen« zu unsicher sind, bedarf die Moral dass ich die einzelnen Aspekte der Auseinanderset-
der Ergänzung durch Recht. »Die Gültigkeit morali- zungen mit Zeitgenossen hier im Einzelnen wieder-
scher Gebote ist an die Bedingung geknüpft, daß geben kann, weise ich auf die Autoren dieser und der
diese als Grundlage einer allgemeinen Praxis generell späteren Zwiesprachen gemäß den jeweiligen The-
befolgt werden« (ED, 136). Zunächst in Auseinan- men hin, die strittig waren.
dersetzung mit T. McCarthy (1991; ED, 200 ff.), dann
nach Faktizität und Geltung differenzierter (FG, Erläuterungen, Präzisierungen, Kritik
135 ff.; EA, 51, 296 ff.), sichert fortan das Recht, dass
es rational ist, dem moralischen Urteil auch zu fol- Habermas erläutert den Sinn ethischer Fragen nach
gen und sorgt für zusätzliche, freilich externe Moti- dem guten Leben (vgl. Steinfath 1998) im Anschluss
vationen. an Ch. Taylors Konzept »starker Wertungen« (Taylor
Auf Hegels letzten Einwand eines Tugendterrors 1985) und bestimmt die »klinischen Fragen des gu-
der Moral antwortet Habermas mit seiner zurück- ten Lebens« so, dass nun in »ethisch-existentiellen
haltenden Geschichtsphilosophie, die schwächer Diskursen« eine für Nahestehende »intersubjektiv
noch als Kant in pragmatischer Absicht jede »objek- nachvollziehbare« Selbstverständigung »auf das vor-
tive Teleologie« (ED, 29) der Geschichte ablehnt, gängige Telos einer bewussten Lebensführung ange-
eher negativistisch und im Benjamin’schen Sinne die wiesen« bleibt (ED, 112). Dieser Ansatz wird von Ch.
vergangenen Leiden »aufhebt«, ansonsten aber aus Taylor (1997) und R. Forst (2001) fortgeführt; letzte-
der Perspektive der Moraltheorie »auf eigene sub- rer zeigt, dass der »Raum ethischer Rechtfertigung
stantielle Beiträge verzichte(t)« (ED, 30). dreidimensional ist, d. h. dass hier subjektive, inter-
subjektive und objektive Evaluationshinsichten zu-
sammenkommen« (Forst 2001, 349 ff.). Gleichwohl
Rationalisierungen und Aspekte
bleibt es auch nach Forst bei einer »Priorität der sub-
der praktischen Vernunft
jektiven Perspektive«, was als eine »Privatisierung
Diese an Kant und Hegel anknüpfende Exposition des Guten« von S. Benhabib (1991) und A. Mac-
der Unterscheidung von moralischen und ethischen Intyre (1994) kritisiert worden ist (dazu Forst 2001).
Diskursen ist daher nicht so trennscharf und simpel Habermas kann den Vorwurf der Privatisierung si-
zu verstehen, wie sie manchmal aufgefasst wurde. Sie cherlich abwehren, da Fragen des guten Lebens nach
ist aber provokant genug gewesen, um nun ausführ- dem für mich oder für uns Guten seines Erachtens
liche Kritik, Diskussionen und Erwiderungen (ED, im Rahmen je partikularer Lebensformen, also auch
16. Moral-Diskurse 85

gemeinschaftlich, geklärt werden können. Aber es ist Von dieser Bestimmung des moralischen Stand-
dieser Partikularismus, der für die Bestimmung des punktes rückt Habermas nicht mehr ab; sie ist der
Ethischen konstitutiv bleibt und von dem Habermas Garant dafür, dass das moralisch Gesollte den kogni-
das moralisch Richtige abgrenzt (Wingert 1993, tiven und universellen Anspruch, den es notwendi-
131 ff.). gerweise erhebt, auch einlösen kann. Habermas ver-
In moralischen Diskursen ist nämlich eine »Dis- teidigt diese wahrheitsanaloge Auffassung des mora-
tanzierung von jenen Lebenskontexten, mit denen lisch Richtigen nun in ausführlicher Weise gegen
die eigenen Identität unauflöslich verflochten ist« zeitgenössische Positionen der Moralphilosophie
(ED, 113) gefordert, weil der von Habermas vertei- (WR), auf die ich im Einzelnen nicht eingehen kann.
digte kognitive Sinn moralischer Normen (WR, Aber immer geht es ihm darum, den universellen
271 ff.) einen Standpunkt der Unparteilichkeit ver- und unbedingten Anspruch des moralisch Richtigen
langt, der »die Subjektivität der je eignen Teilneh- zu verteidigen, und damit den kantianischen Vor-
merperspektive« »sprengt« (ED, 113). Allerdings ist rang des Gerechten vor dem Guten.
ein angemessener Standpunkt der moralischen Un- Der Vorrang des Gerechten vor dem Guten wird
parteilichkeit nicht, wie Habermas gegen Th. Nagel auch in der politischen Ethik, in der Debatte um
behauptet, der »externe[] Standpunkt« eines Beob- Kommunitarismus vs. Liberalismus diskutiert. In
achters (ED, 153 f.; Nagel 1986), und auch nicht Tu- dieser Diskussion weiß sich Habermas mit vielen in
gendhats letztlich egozentrische Deutung »daß ein der kantianischen Tradition Stehenden einig (Rawls
Unbeteiligter die Übel und Güter abwägt, die jeweils 1979; Dworkin 1984; Nagel 1986; Apel 1988) und
für eine ›beliebige‹ Person auf dem Spiel stehen« (EA, von hier aus kritisiert er die Gegenpositionen, die ei-
58, 33 ff.; Tugendhat 1993, 287 ff.). Schon eher sieht nen Vorrang des Guten vor dem Gerechten behaup-
Habermas Parallelen in J. Rawls komplizierten kon- ten (z. B. MacIntyre 1985; Sandel 1982; Walzer 1983;
struktivistischen Verfahren eines Ȇberlegungs- Nussbaum 1986; Spaemann 1989; Ch. Taylor 1989;
gleichgewichtes« (ED, 125 ff.), da dort zumindest im eine vermittelnde Position dazu bei Seel 1993). Ins-
Ansatz die Idee aufgegriffen worden ist, die ihm für besondere in den ausführlichen Diskussionen zu
seine diskursethische Deutung der Unparteilichkeit Rawls politischem Liberalismus (ED, 204 ff.; EA, 65
entscheidend ist: ein Verfahren zwischen Beteilig- –127; Rawls 1997) wird aber klar, dass Habermas
ten. Habermas kritisiert an Rawls den kontraktualis- zwar den prozeduralen und konstruktivistischen
tischen Effekt, »daß man sich mit der Rolle einer Ansatz und die Hauptthese eines Vorrangs des Ge-
vertragsschließenden Partei im Urzustand […] nur rechten vor dem Guten teilt, aber der Art und Weise,
zweckrationale Entscheidungen zuzumuten« muss, wie er begründet wird, nicht zustimmen kann. Di-
mithin nicht aus »moralischer Einsicht« handelt (ED, stanzierende Kritik verdient insbesondere Rawls
56). Deshalb stimmt Habermas Th. Scanlons Rawls- Theorem eines »overlapping consensus«, weil er
Kritik zu, nach dem »Prinzipien und Regeln nur damit moderne, »vernünftige Weltdeutungen« ge-
dann allgemeine Zustimmung (finden), wenn alle genüber anderen vormodernen als überlegen aus-
überzeugt sein dürfen, daß jeder aus seiner Perspek- zeichnet, ohne dafür noch »wenigstens intuitiv auf
tive sein begründetes Einverständnis geben könnte« kontextübergreifende Rationalitätsunterstellungen«
(ED, 58; Scanlon 1982). Die Bestätigung für diesen (ED, 208) zurückgreifen zu können. In diesen Ausei-
Ansatz sieht er in L. Kohlbergs Bestimmung des nandersetzungen ist es immer wieder die unnach-
»moral point of view« auf der postkonventionellen giebig verteidigte Eigenständigkeit des abstrakten
Stufe 6 der Urteilsbildung (Kohlberg u. a. 1986, moralischen Diskurses, der ihn jeden Versuch, den
220 f.). Kohlberg greift auf Meads Begriff einer idea- moralischen Universalismus aus einer ethischen Per-
len Rollenübernahme zurück, um seine Idee einer spektive zu begründen, abwehren lässt. Das gilt auch
Universalisierung durch ideale wechselseitige Per- für Ch. Taylors Versuch, den moralischen Universa-
spektivenwechsel zu entwickeln. Auch wenn Haber- lismus im Rahmen einer modernen Güterethik zur
mas dann Kohlbergs Versuch, universelle Gerechtig- Geltung zu bringen (Taylor 1989; ED, 176 ff.), für
keit mit Benevolenz zu integrieren, kritisiert (ED, MacIntyres antirelativistische Theorie dichter Über-
63 ff.), so bestimmt er doch (wie K.-O. Apel) die setzungen (MacIntyre 1988; ED, 209 ff.) und für R.
»diskursethische Alternative« der Unparteilichkeit Rortys kontextualistischen Pragmatismus (WR,
als Verfahren der alle einbeziehenden wechselseiti- 230 ff.). Abwehrend steht Habermas auch Versuchen
gen Urteilsbildung (ED, 60 f.; WR, 302 ff.; Lohmann gegenüber, den kognitiven Anspruch der universel-
2001). len Moral realistisch zu interpretieren (WR, 7 ff.,
86 II. Kontexte

307 ff.) und ebenso wenig glaubt er, dass man den einer formalen Bestimmung eines gemeinschaftli-
Unterschied zwischen Werten und Normen durch chen guten Lebens sucht, die den Bedingungen der
ein »dichtes ethisches Vokabular« im Sinne morali- universalen Moral genügt. Nun wird die frühe Rede
scher Tatsachen unterlaufen kann (Putnam 2001; vom »sozialen Band« (ED, 18; s.o) als »Gat-
WR, 287 ff.). tungsethik«, in die die Moral »eingebettet« werden
muss (LE, 70 ff.), wieder aufgenommen. Die mora-
lisch relevante »Unverfügbarkeit der biologischen
Allgemeine Ethik des guten Lebens?
Grundlagen personaler Identität« (LE, 51) wird aus
Verhält sich Habermas in diesen Diskussionen weit- »einer intersubjektiv geteilten Wir-Perspektive« be-
gehend defensiv und verteidigt nur die ursprüngli- urteilt, »aus der alle gemeinsam zu verallgemeine-
che Differenz zwischen moralischen und ethischen rungsfähigen Wertorientierungen gelangen können«
Diskursen, so scheint sich in seinen Auseinanderset- (LE, 97). Weil damit »eine Bewertung der Moral im
zungen mit den Herausforderungen der modernen Ganzen« ansteht, ist dies für Habermas »nicht selbst
Biowissenschaften nun eine Änderung im Verständ- ein moralisches, sondern ein ethisches, ein gat-
nis des ethischen Diskurses anzudeuten. Schon Tu- tungsethisches Urteil« (LE, 124; Lohmann 2004). Die
gendhat hatte versucht, ein den Begründungsanfor- Gattungsethik macht explizit, was die Kommunika-
derungen der kantianischen Moral standhaltendes tionstheorie im alltäglichen Handeln unterstellt: dass
formales Konzept des guten Lebens zu entwickeln wir nicht anders können, solange wir uns als moralfä-
(Tugendhat 1984). Und auch Habermas hatte ja von hige Personen verstehen, auch ein für alle Menschen
allgemeinen »strukturellen Aspekten des guten Le- unserer Gattung evaluatives und konstitutives Ver-
bens« (ED, 20; s.o.) gesprochen. Zwar betont er ge- hältnis zu den intersubjektiven Bedingungen der
gen M. Seel, dass ein »formaler Begriff des Guten« Moral einzunehmen.
entweder paternalistisch oder aber tautologisch
werde (Seel 1995; EA, 42 f.), aber er nimmt Motive Literatur
von Tugendhat und Seel auf, wenn er anführt, dass Apel, Karl-Otto: Diskurs und Verantwortung. Das Problem
»das Gute im Gerechten [daran] erinnert […], daß des Übergangs zur postkonventionellen Moral. Frankfurt
das moralische Bewußtsein auf ein bestimmtes a. M. 1988.
Selbstverständnis moralischer Personen angewiesen Benhabib, Seyla: »Modelle des öffentlichen Raums: Han-
nah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Haber-
ist: diese wissen sich der moralischen Gemeinschaft mas«. In: Soziale Welt 42, 1991, 15–34.
zugehörig« (EA, 43). Dieses implizite Ethische wird Dworkin, Ronald: Bürgerrechte ernstgenommen. Frankfurt
nun in der Auseinandersetzung mit den Herausfor- a. M. 1984.
derungen der Bioethik und der drohenden »libera- Forst, Rainer: »Ethik und Moral«. In: Lutz Wingert/Klaus
len Eugenik« in zwei Hinsichten präzisiert. Einmal Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die
Vernunft der Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 2001, 344–
nimmt er die Kierkegaard’sche Rede einer verant-
371.
wortlichen Selbstübernahme der eigenen Biographie Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit. Frankfurt
aus seinen früheren Schriften wieder auf (TKH II, a. M. 1988.
151; ED, 112), und zeigt nun in einer erstaunlichen Kohlberg, Lawrence/Boyd, Dwight R./Levine, Charles:
Interpretation, dass Kierkegaard eine nachmetaphy- »Die Wiederkehr der sechsten Stufe: Gerechtigkeit,
Wohlwollen und der Standpunkt der Moral«. In: Wolf-
sische und negativistische Konzeption des nicht ver-
gang Edelstein/Gertrud Nunner-Winkler (Hg.): Zur Be-
fehlten Lebens mit seinem formalen Begriff des stimmung der Moral. Frankfurt a. M. 1986, 205–240.
»Selbstseinkönnens« gelungen ist (LE, 17 ff.). Der Korsgaard, Christine M.: The Sources of Normativity. Cam-
»verantwortliche Redakteur« seiner eigenen Lebens- bridge 1996.
geschichte ist nur im Modus des Scheiterns seines Lohmann, Georg: »Kritische Gesellschaftstheorie ohne Ge-
Selbstseinkönnens, nicht in Bezug auf seine konkre- schichtsphilosophie? Zu Jürgen Habermas’ verabschie-
deter und uneingestandener Geschichtsphilosophie«. In:
ten Inhalte bestimmt, also mit der unbedingten Au- Frank Welz/Uwe Weisenbacher (Hg.): Soziologie und
tonomieunterstellung des moralischen Diskurses Geschichte. Zur Bedeutung der Geschichte für die soziolo-
kompatibel. Und er ist zugleich auch abhängig von gische Theorie. Opladen 1998, 197–217.
einem ihm unverfügbaren Anderen: Für Kierke- –: »Unparteilichkeit in der Moral«. In: Lutz Wingert/Klaus
gaard ist das die absolute Macht Gottes, für Haber- Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und die
Vernunft der Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 2001, 434–
mas die »transsubjektive« »Macht der Intersubjekti- 458.
vität« (LE, 26). Damit ist auch der Übergang zu der –: »Unantastbare Menschenwürde und unverfügbare
zweiten Hinsicht gelegt, in der Habermas nun nach menschliche Natur«. In: Emil Angehrn/Bernard Baert-
17. Völkerrechtsverfassung 87

schi (Hg.): Menschenwürde. La dignité de l’être humain.


Jahrbuch der schweizerischen philosophischen Gesell-
17. Völkerrechtsverfassung
schaft. Basel 2004, 55–75.
MacIntyre, Alasdair: After Virtue. London 1985.
–: Whose Justice? Which Rationality? Notre Dame, Ind. Seit Mitte der 1990er Jahre hat Habermas ein Projekt
1988. für eine zukünftige Weltordnung formuliert, das die
–: »Die Privatisierung des Guten«. In: Axel Honneth (Hg.): ›weitere Konstitutionalisierung des Völkerrechts‹
Pathologien des Sozialen. Frankfurt a. M. 1994, 163–183. einschließt. Auch wenn dieses Projekt der kanti-
McCarthy, Thomas: »Practital Discourse: On the Relation schen Konzeption des Weltbürgertums sehr nahe
of Morality to Politics«. In: Ders.: Ideals and Illusions. On
Reconstruction and Deconstruction in Contemporary Cri- steht, möchte Habermas zeigen, dass sich ein globa-
tical Theory. Cambridge, Mass. 1991, 181–199. les Rechtssystem mit starkem bindendem Recht in
Nagel, Thomas: The View from Nowhere. Oxford 1986. Verbindung mit einer politisch konstituierten Welt-
Nussbaum, Martha: The Fragility of Goodness. London gesellschaft – die weder ein Weltstaat noch ein loser
1986. Staatenbund ist – konzeptuell vorstellen lässt. Das
Putnam, Hilary: »Werte und Normen«. In: Lutz Wingert/
Klaus Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und mehrstufige kosmopolitisch-globale politische Sys-
die Vernunft der Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 2001, tem, das er vorschlägt, würde sich nicht allein aus
280–313. den Individuen (den Weltbürgern) zusammenset-
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. zen, sondern auch aus Staaten, die dennoch nicht zu
1979. bloßen Bestandteilen eines alles überwölbenden hie-
–: »Erwiderung auf Habermas«. In: Philosophische Gesell-
schaft Bad Homburg/Hinsch, Wilfried (Hg.): Zur Idee rarchischen Superstaates degradiert würden. Das
des politischen Liberalismus. Frankfurt a. M. 1997, 196– Projekt besteht darin, globale, regionale und natio-
262. nale Macht an das Recht zu binden, um die friedli-
Sandel, Michael: Liberalism and the Limits of Justice. Cam- che Regelung von Streitigkeiten zu ermöglichen, und
bridge 1982. zugleich die Freiheit des Individuums durch die
Scanlon, Thomas M.: »Contractualism and Utlitarianism«.
In: Bernard Williams/Amartya Sen (Hg.): Utilitarianism
Menschenrechte abzusichern.
and Beyond. Cambridge 1982. Damit versucht Habermas ebenso wie andere be-
Seel, Martin: »Das Gute und das Richtige«. In: Christoph deutende Kritiker des institutionalisierten Kosmo-
Menke/Martin Seel (Hg.): Zur Verteidigung der Vernunft politismus (John Rawls, Thomas Nagel oder Michael
gegen ihre Liebhaber und Verächter. Frankfurt a. M. 1993, Walzer), die die Weltrepublik als das falsche Modell
219–240.
–: Versuch über die Form des Glücks. Frankfurt a. M. 1995.
ansehen, eine ›realistische Utopie‹ für das globale
Spaemann, Robert: Glück und Wohlwollen. Versuch über politische System einer Weltrepublik zu entwickeln.
Ethik. Stuttgart 1989. Im Gegensatz zu Rawls insistiert er darauf, dass die
Steinfath, Holmer (Hg.): Was ist ein gutes Leben? Frankfurt supranationale politische Organisation dieser Ge-
a. M. 1998. sellschaft sämtliche Staaten zu Mitgliedern haben
Taylor, Charles: »Leading a Life«. In: Ruth Chang (Hg.): In-
muss und sich nicht etwa auf die Vereinigung der li-
commensurability, Incomparability and Practical Rea-
sons. Cambridge, Mass. 1997, 170–183. beralen und ›achtbaren‹ Gesellschaften beschränken
–: Human Agency and Language. Philosophical Papers. darf. Im Gegensatz zu Nagel, der die Systeme der dis-
Cambridge 1985. tributiven und prozeduralen Gerechtigkeit auf den
–: Sources of the Self. The Making of Modern Identity. Cam- Nationalstaat beschränkt, stellt Habermas fest, dass
bridge 1989.
transnationale Formen des Regierens, die den Inter-
Tugendhat, Ernst: »Antike und moderne Ethik«. In: Ders.:
Probleme der Ethik. Stuttgart 1984, 33–56. ventionsstaat (regulatory state) bereits ersetzen, das
–: Vorlesungen über Ethik. Frankfurt a. M. 1993. erforderliche Maß an Zwangsgewalt und Einfluss auf
Walzer, Michael: Spheres of Justice. A Defence of Pluralism das Leben der Menschen ausüben, um auch Unge-
and Equality. London 1983. rechtigkeiten zu begehen; daher lassen sie sich als
Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog. Frankfurt a. M. 1986. Referenzpunkt für eine ›Weltinnenpolitik‹ heranzie-
Williams, Bernard: Ethics and the Limits of Philosophy. Lon-
don 1985. hen. Im Gegensatz zu Walzer verwirft Habermas die
–: Moral Luck. Cambridge 1981. unvermittelte Moralisierung einer globalen, auf
Wingert, Lutz: Gemeinsinn und Moral. Frankfurt a. M. Rechten gegründeten Politik, die mit dem Wieder-
1993. aufleben des Diskurses vom ›gerechten Krieg‹ ein-
Georg Lohmann hergeht. Für Habermas ist das Völkerrecht wesent-
lich, doch es sollte in ein Weltbürgerrecht transfor-
miert werden, das sowohl für die Staaten als auch für
die ›Weltbürger‹ verbindlich ist. Ein ›weltbürgerli-
88 II. Kontexte

cher Zustand‹, der nicht die Errichtung eines Welt- des bürgerlicher Freiheit, der zunächst im Verfas-
staats beinhaltet, erfordert die weitere Konstitutio- sungsstaat geschaffen wurde, ist für Kant ebenso wie
nalisierung des Völkerrechts. für Habermas ein Gebot der praktischen Vernunft.
Habermas stellt fest, dass der Begriff eines bin- Er erinnert uns daran, dass Kant jede Rechtsordnung
denden Rechtssystems und einer bindenden Verfas- auf das ursprüngliche Recht gründete, das jeder Per-
sung auf post-nationale, nicht-staatliche Ordnungen son qua menschlichem Wesen zusteht: »Jeder Ein-
angewandt werden kann. Doch unter dem Einfluss zelne hat ein Recht auf gleiche Freiheiten nach allge-
von Hauke Brunkhorst, Bardo Fassbender und Klaus meinen Gesetzen« (EA, 210). Diese ›Begründung‹
Günther verbindet er den kantischen Begriff eines der Menschenrechte in einem moralischen Recht
›weltbürgerlichen Zustands‹ mit einer kelsenianisch- stellt jedoch nicht die Notwendigkeit einer Rechts-
monistischen Konzeption einer globalen Verfassung. ordnung in Abrede, die die fundamentalen Men-
Die Spannungen und Ambiguitäten im Innern die- schenrechte überhaupt erst formuliert. Ein weltbür-
ses Projekts lassen sich auf diesen unglückseligen gerlicher Zustand schließt die Schaffung solcher ver-
konzeptuellen Rahmen zurückführen. rechtlichter Beziehungen ein, die die Verfassung
einer Gemeinschaft von Staaten und Individuen re-
Der ›weltbürgerliche Zustand‹: Mit der Wiederbele- geln.
bung des kosmopolitischen Diskurses und des Pro- Der kantische Universalismus stipuliert, dass alle
jekts der Konstitutionalisierung antwortet Haber- Menschen Rechte haben und dass alle modernen
mas auf die Diagnose, dass das internationale Staa- Rechtsordnungen von ›essentiell individualistischer‹
tensystems in der Krise, der hergebrachte Diskurs Art sein müssen. »Die Pointe des Weltbürgerrechts
und das Metaprinzip der nationalen Souveränität ir- besteht vielmehr darin, daß es über die Köpfe der
relevant und die Konzeptionen multilateraler Insti- kollektiven Völkerrechtssubjekte hinweg auf die Stel-
tutionen als rein vertraglicher Organisationen in lung der individuellen Rechtssubjekte durchgreift
wachsendem Maße anachronistisch seien. Dieses und für diese eine nicht-mediatisierte Mitgliedschaft
Projekt ist auch als eine Alternative zu den beiden in der Assoziation freier und gleicher Weltbürger be-
besorgniserregendsten Projekten der Gegenwart zu gründet« (EA, 210 f.; nach Kant hätte eine weltbür-
verstehen: Zu einer von den USA dominierten neo- gerliche Rechtsordnung Vorrangstellung und unmit-
imperialen Weltordnung einerseits, die die Men- telbare Auswirkungen, denn sie würde die Indivi-
schenrechte und die Sicherheitsbedürfnisse ins Feld duen zu Trägern einklagbarer subjektiver Rechte
führt, um die Politik auf Kosten der bestehenden Re- machen). Habermas wird zu diesem ›nicht-mediati-
striktionen des Völkerrechts zu remoralisieren; und siert‹ dann ein ›nicht-exklusiv‹ hinzufügen – denn
zu dem Wiederaufleben einer reinen Machtpolitik Staaten sind ebenfalls Mitglieder des globalen politi-
(bzw. einer Politik des Machtgleichgewichts) neuer schen Systems. Die moralische Rechtfertigung des
Großmächte andererseits, die gerne ihre Muskeln weltbürgerlichen Zustandes ist monistisch, obgleich
spielen lassen und die gerne zu den ›Großräumen‹ die Zugehörigkeit zu der politisch konstituierten
des einundzwanzigsten Jahrhunderts würden – wo- Weltgesellschaft dualistisch angelegt ist (kollektiv
bei sie sich von multilateralen Organisationen oder und individuell) und – strukturell gesehen – meh-
dem Völkerrecht keine Restriktionen auferlegen las- rere Ebenen umfasst: die supranationale, die trans-
sen möchten, wie der jüngste ›Vorstoß‹ Russlands nationale und die nationale Ebene.
nach Georgien gezeigt hat. Doch hinter Habermas’ Projekt der Konstitutio-
Kant ist der Ausgangspunkt von Habermas’ theo- nalisierung steckt noch eine andere Triebkraft: die
retischen Reflexionen und verleiht seinen Bemü- Notwendigkeit nämlich, den Argumenten der
hungen Schubkraft, einen ›dritten konzeptuellen Schmittianer zu begegnen, die die Idee eines auf den
Weg‹ aufzufinden, der die ›weltbürgerliche Absicht‹ Menschenrechten basierenden Kosmopolitismus,
an die Bedingungen der Gegenwart anpasst. Dem- den Diskurs des ›gerechten Krieges‹ und die Herab-
nach ist ein weltbürgerlicher Zustand ein rechtlicher stufung der nationalstaatlichen Souveränität auf ein
(und moralischer) Zustand, in dem das Recht als ein Bündel bedingter Prärogative mit einer unvermittel-
Rahmen dient, in welchem sich Frieden und Freiheit ten und gefährlichen Moralisierung des Völkerrechts
verbinden lassen. Es gibt eine ›begriffliche Verknüp- und der internationalen Politik gleichsetzen, die die
fung‹ zwischen einer die Freiheit garantierenden Einheit der Staaten, rechtlich pazifizierte innerstaat-
und einer den Frieden sichernden Rechtsordnung, liche Verfassungsordnungen und eine ›realistische‹
und die kosmopolitische Ausdehnung eines Zustan- Außenpolitik zu unterminieren drohe. Habermas’
17. Völkerrechtsverfassung 89

Antwort lautet folgendermaßen: Wenn die Men- Weltbürgerrecht bestimmten globalen politischen
schenrechte auch ausschließlich vom Standpunkt ei- System einzuräumen. Nur innerhalb von Staaten
ner universalen (d. h. kosmopolitischen) Moral her können wir volle Kongruenz zwischen Autoren und
begründet werden können, haben sie dennoch Adressaten des Rechts erreichen, denn nur inner-
Rechtscharakter. Fundamentale Individualrechte halb von Staaten gibt es administrative Mechanis-
sind konkrete rechtliche Ansprüche und gehören so men, die die egalitäre Inklusion der Bürger in den le-
strukturell zu einer positiven, mit Zwangsgewalt ver- gislativen Prozess mit Zwangsmitteln sicherstellen
sehenen freiheitssichernden Rechtsordnung, die ein- können, wodurch wiederum die Unparteilichkeit bei
klagbare individuelle Rechtsansprüche begründet. der Institutionalisierung ihrer egalitären Freiheits-
Gegenwärtig haben internationale Menschenrechte rechte garantiert wird (EA, 167).
im Völkerrecht nur einen schwachen Status und har- Obwohl in der Moderne die Schaffung von Staa-
ren – trotz wesentlicher Verbesserungen – immer ten und die Konstitutionalisierung oft miteinander
noch der Institutionalisierung im Rahmenwerk ei- einhergingen, unterscheidet Habermas begrifflich
ner kosmopolitischen Ordnung, die erst jetzt all- zwischen ›Verfassung‹ und ›Staat‹, wobei er die Auf-
mählich Gestalt annimmt. Wenn wir den Schritt von fassung vertritt, dass der Nationalstaat nicht die ein-
einem Völkerrecht der Staaten zu einem kosmopoli- zige Form einer politischen Ordnung ist, die sich für
tischen Recht der Individuen vollziehen, kann der eine Konstitutionalisierung anbietet (EA, 155 f.)
Vorwurf einer Moralisierung der Politik abgewehrt Seine Argumentation hat zwei Aspekte: Erstens
werden. Fundamentale Menschenrechte müssten auf muss die Konstitutionalisierung des Völkerrechts
globaler Ebene rechtlich garantiert werden, und die nicht unbedingt denselben Weg nehmen wie jene des
Konsequenzen von Menschenrechtsverletzungen modernen Staates. Und zweitens muss die Verfas-
müssten präzise benannt werden. Dies ist ein Teil sung des globalen politischen Systems nicht unbe-
der Aufgabe, die sich bei einer ›weiteren Konstitutio- dingt dieselbe Form annehmen. Es stellt sich dem-
nalisierung‹ des Völkerrechts stellt. nach die Frage, welcher Verfassungsbegriff den
nicht-staatlichen globalen Ordnungen, die sich aus
Verfassung und Konstitutionalisierung auf überstaat- Individuen und aus Staaten zusammensetzen, ange-
licher Ebene: Habermas versucht so, die weltbürgerli- messen ist.
che Moral nicht an einen Weltstaat, sondern an ei- Der gerade angesprochene normativ anspruchs-
nen weltbürgerlichen Rechtszustand zu binden; die- volle Begriff der Verfassung stellt den Endpunkt des
ser Zustand wäre einer dualistischen Weltgesellschaft Konstitutionalisierungsprozesses des modernen
adäquat, die Staaten und Individuen umfasst und in Staates dar; er ist ein Ideal, das der spezifischen Art
einem ›mehrstufigen‹ global-politischen System or- der umfassenden Herrschaft, Machtkontrolle und
ganisiert ist. Offensichtlich teilt er Kants Ansicht, Rechtssprechung des modernen Staates adäquat ist.
dass ein Weltstaat zum Despotismus führen würde, Er lässt sich jedoch – nach Habermas’ Ansicht –
und vermutlich möchte er auch die Gewalt vermei- nicht auf die post-nationale globale Ordnung an-
den, die zur Errichtung eines Weltstaates erforder- wenden. Es wäre verfehlt, die Konstitutionalisierung
lich wäre. Angesichts der Tatsache, dass die Staaten des Völkerrechts als eine Fortsetzung des Entwick-
immer noch die Zwangsmittel unter ihrer Kontrolle lungsprozesses des Verfassungsstaates auf globaler
haben und sich an ihre (wenn auch verringerte) Sou- Ebene zu verstehen. Diese Konstitutionalisierung
veränität klammern, wäre unter den gegenwärtigen bedeutet auf internationaler Ebene den Übergang
Umständen der Weg zu einem Weltstaat ein imperi- von einer nicht-hierarchischen Assoziation kollekti-
alistischer, und das Ergebnis wahrscheinlich ein Im- ver Akteure (der Staaten), die in eine auf dem Prin-
perium. zip von Souveränität und Gleichheit gegründete
Welcher Verfassungsbegriff ist dieser Aufgabe an- Rechtsgemeinschaft (der internationalen Gemein-
gemessen? Warum soll man den Staaten eine solche schaft) eingebunden sind, zu den supra- und trans-
Schlüsselrolle im globalen politischen System zu- nationalen Organisationen einer kosmopolitischen
kommen lassen? Mit gesundem Realismus stellt Ha- Ordnung, die einer dualistisch strukturierten inter-
bermas fest, dass die Staaten in absehbarer Zukunft nationalen Gemeinschaft von Staaten und Indivi-
weiterhin die wichtigsten – oder sogar die einzigen – duen Regeln geben. Angesichts ihres nicht-staatli-
Akteure des globalen politischen Systems sein wer- chen Charakters – supranationale Organisationen
den. Doch es gibt auch normative Gründe dafür, verfügen nicht über ein Gewaltmonopol, es fehlt ih-
dem Staat eine Schlüsselrolle in einem durch das nen der durch Steuern finanzierte administrative
90 II. Kontexte

und militärische Apparat des modernen Staates, und angemessen erscheinen. Eine supranationale Verfas-
sie sind auf bestimmte Funktionen beschränkte Ge- sung würde das Wechselspiel kollektiver Akteure un-
bilde und keine umfassenden Herrschaftsstrukturen ter der Zielvorgabe regeln, deren Macht durch wech-
– muss man nicht darauf insistieren, dass ihre Kon- selseitige Restriktionen zu begrenzen; diese würden
stitutionalisierung jenem anspruchsvollen Typus der die vertraglich geregelte Machtausübung in Bahnen
republikanischen Verfassung zu entsprechen hat, lenken, die mit den Menschenrechten im Einklang
den sowohl Kant als auch Rousseau vor Augen hat- stehen, und sie würden die Aufgabe der Rechtsent-
ten und auf dem auch Habermas’ Verfassungsmodell wicklung und -anwendung Gerichtshöfen überlas-
beruht. sen, ohne jedoch direkt demokratischen Vorgaben
Einem Hinweis von Hauke Brunkhorst und oder Kontrollen zu unterliegen.
Christoph Möllers folgend, legt Habermas stattdes- Dieses Verfassungsmodell soll angeblich der
sen nahe, dass der Weg zur Konstitutionalisierung mehrstufigen Struktur einer politisch verfassten glo-
einer politisch organisierten Weltgesellschaft eher balen Gemeinschaft adäquat sein. Doch trotz der
dem Weg jener vormodernen, durch einen Stände- oberflächlichen Analogie wird das ständestaatliche
staat gekennzeichneten Rechtsordnungen ähneln Modell dem modernen Verfassungsdiskurs nicht ge-
könne, wie sie in der liberalen Version der Konstitu- recht, da ihm zufolge die autonomen Mächte nicht
tionalisierung – z. B. in der englischen Tradition der dem Recht unterworfen werden können. Dieses Mo-
rule of law oder der deutschen Tradition des Rechts- dell begnügte sich stattdessen mit einem Arrange-
staats – neu ausgestaltet wurden. Die verfassungs- ment von Verhandlungen zwischen autonomen
mäßige Begrenzung der Herrschaft durch die Auf- Mächten, in dem die stärkere Partei stets zu gewin-
teilung der Regierungsvollmachten und die Garantie nen drohte, und in dem die ungerechtfertigten Pri-
von kollektiven Rechten – so die vormoderne For- vilegien (›Rechte‹ bzw. Vorrechte) jedes Standes
mel – wurde im englischen Liberalismus und im aufgrund der bestehenden Machtkonstellation auf-
deutschen Konstitutionalismus gemäß der individu- rechterhalten werden. Der Ständestaat war eine
alistischen Begrifflichkeit des modernen Rechts und ›Ordnung‹, die ohne einen Staat im modernen Sinne
der Menschenrechte und auf Grundlage einer funk- auskam, und es gab dort auch nichts, was einer mo-
tionalen Gewaltenteilung (zwischen Legislative, Exe- dernen Verfassung gleichgekommen wäre – weder
kutive und Judikative) neu interpretiert. Demzufolge im formalen noch im materialen Sinne. Es wird nicht
schließt die ›liberale‹ Variante der Konstitutionali- klar, auf welche Weise die Verhandlungsrunden der
sierung die Trennung und rechtliche Regelung der Eliten in diesem Kontext der politischen Herrschaft
bestehenden Machtbeziehungen ein – im Gegensatz Grenzen setzen könnten.
zum revolutionär-republikanischen Konstitutiona- Ein liberaler Konstitutionalismus im Habermas-
lismus, der die etablierten Mächte umstürzt, eine schen Sinne dagegen schloss die Entwicklung des
neue, auf dem rationalen Willen der vereinten Bür- Verfassungsdenkens und eine moderne Auffassung
gerschaft beruhende politische Autorität begründet subjektiver Individualrechte ein. Doch der liberale
und jegliche Restbestände staatlicher Macht jenseits Konstitutionalismus ist – trotz ihrer internen Gewal-
des unantastbaren Rechts abschafft. Der erste Weg tenteilung – auf starke Staaten angewiesen. Tatsäch-
ist der supranationalen Ebene adäquat, nicht aber lich ist die liberale Variante des Konstitutionalismus
der zweite. unausgesprochenermaßen etatistisch angelegt, denn
Zwischen dem Ständestaat und den konstitutio- sie setzt einen starken third-party enforcer (d. h. ein
nellen Charten solcher internationaler Organisatio- Machtzentrum jenseits der Stände) voraus, mit des-
nen wie der UN und der EU scheint eine große Ähn- sen Hilfe der Übergang von Standesprivilegien zu
lichkeit zu bestehen: Sowohl die UN als auch die EU Individualrechten, die unparteiische Gewährung
setzen sich aus autonomen politischen Gebilden zu- gleicher Freiheiten und die ›Gleichschaltung‹ der au-
sammen und balancieren deren Machtbefugnisse tonomen Machtbasen der Stände zu einer verein-
aus, und sie bekräftigen fundamentale Privilegien heitlichten egalitären, souveränen und individualis-
der Mitgliedsstaaten (rechtliche Bedeutung, Inter- tischen Ordnung des Rechts und der Politik bewäl-
ventionsverbot, kulturelle Integrität usw.). Wenn die tigt werden kann. Daher kann keines dieser beiden
doppelte Referenz auf kollektive und individuelle Ordnungsmodelle und auch keine Kombination von
Akteure bei der weiteren Konstitutionalisierung des ihnen ein adäquates Modell für eine globale, mit ei-
Völkerrechts explizit werden sollte, dann könnte die ner nicht-staatlichen politischen Ordnung ver-
Analogie mit dem liberalen Konstitutionalismus als knüpfte Verfassung abgeben, die die Macht durch
17. Völkerrechtsverfassung 91

Verrechtlichung und Gewaltenteilung bezähmt. Es schen Nationalstaaten erprobt und getestet wurden.
stellt sich folgendes Problem: Wenn die Großmächte In dieser Hinsicht ist die Konstitutionalisierung des
wie in den kontraktuell-strategischen Arrangements Völkerrechts von abgeleiteter Art, da sie von den ›Er-
des Ständestaats die ›Herren und Meister‹ dieser rungenschaften‹ jener Staaten abhängig ist. Da die
Verfassung bleiben, dann hat man keinen weltbür- Staaten weiterhin die Hauptakteure und letztlich
gerlichen Zustand und keine weltbürgerliche Verfas- auch die Schiedsrichter sind (da nur sie über militä-
sung im Habermas’schen Sinne begründet. Doch rische Macht verfügen), können sie eine indirekte
wenn mittels des liberalen Modells ein Übergang Legitimation für die liberale Verfassung des globalen
von einem kontraktuellen, auf die Staaten bezoge- politischen Systems beisteuern, auch wenn sie diese
nen Völkerrecht zu einem konstitutionellen weltbür- Arena nicht mit anderen Entitäten teilen müssen.
gerlichen Recht der Individuen bewerkstelligt wer- Zweitens legt Habermas dar, dass die supranationale
den soll, rücken die Frage nach der Durchsetzbarkeit Ebene des globalen politischen Systems keinen Staat,
dieses Überganges und ebenso die Frage nach der sondern ›nur‹ eine funktional auf die Friedenssiche-
Legitimation der im Zentrum geballten Zwangs- rung und den Schutz der Menschenrechte begrenzte
macht in den Vordergrund. Es hilft hier nicht weiter, Organisation darstellen würde und daher nicht
auf die doppelte Bezugnahme – auf kollektive und denselben Legitimationsanforderungen ausgesetzt
auf individuelle Akteure – zu insistieren, die eine wäre wie die alle Bereiche umfassenden rechtlichen
›fundamentale begriffliche Unterscheidung‹ zwi- Zwangsordnungen der Staaten. Glücklicherweise
schen der ›gänzlich individualistischen‹ Rechtsord- sind die eindeutig negativen Pflichten einer univer-
nung einer föderalen Weltrepublik und der politisch salistischen Gerechtigkeitsmoral – die Pflicht, keine
konstituierten Weltgesellschaft bezeichnet. Denn Angriffskriege zu führen und die fundamentalen
nach dem liberalen Modell würde es keine autono- Menschenrechte nicht zu verletzen – bereits in aller
men (Einzel-)Staaten im (Welt-)Staat geben. Es Welt gleichermaßen geteilte kulturelle Dispositionen
bleibt unklar, in welchem Maße eine ›Gleichschal- und bestimmen daher unsere gegenwärtige globale
tung‹ autonomer souveräner Staaten erfolgen sollte, politische Kultur. Der Rückhalt einer hilfreichen und
und zugunsten welcher Art von globaler Macht dies wachsamen globalen bürgerlichen Öffentlichkeit
geschehen sollte. würde ebenfalls dazu beitragen. Demnach verfügt
Habermas selbst hat die beunruhigende Frage die globale politische Verfassungsordnung weder
aufgeworfen, wie es sich verhindern lasse, dass eine über dieselbe Form der Legitimität, noch stellt sie
›liberale‹ Verfassung auf überstaatlicher Ebene ledig- dieselben Solidaritätsanforderungen wie der demo-
lich als rechtliche Fassade einer hegemonialen Ord- kratische Nationalstaat.
nung diene. Seine Beunruhigung rührte daher, dass
er von seinem eigenen (republikanischen) Idealbe- Das institutionelle Modell: Damit kommen wir zu
griff einer Verfassung abgewichen war, der sich auf den Diskussionen über das institutionelle Modell
die Gleichwertigkeit von Menschenrechten, Volks- des globalen politischen Systems. Habermas denkt
souveränität und demokratischer Legitimität stützt. an eine dreiteilige Struktur, die sich aus einer globa-
Das liberale Modell der Konstitutionalisierung lässt len, einer transnationalen und einer nationalen
die direkte Verbindung zwischen dem Rechtsstaat Ebene zusammensetzt; letztere wäre die Bezugs-
und der demokratischen Legitimität zerbrechen und größe für eine ›liberale‹ Konstitutionalisierung. Auf
löst die Kongruenz zwischen Autoren und Adressa- der supranationalen Ebene würde das politische Sys-
ten des Rechts auf. tem in Form einer ›adäquat reformierten‹ Weltorga-
Habermas beantwortet diese Fragen in mehreren nisation gestaltet, die auf einer universalen, alle Staa-
Schritten. Zunächst insistiert er darauf, dass die Bah- ten und Individuen (als ›Weltbürger‹) umfassenden
nen der demokratischen Legitimation zwischen su- Mitgliedschaft aufbaut, deren Aufgaben sich aber
pranationalen Verfassungen und dem demokrati- auf die Friedenssicherung und die Beförderung
schen Verfassungsstaat nicht zerschnitten werden der Menschenrechte in ›effektiver, nicht-selektiver‹
dürfen. Auf inhaltlicher Ebene stellt er fest, dass der Weise beschränken. Auf der transnationalen Ebene
normative Gehalt von Grundrechten, Rechtsprinzi- wird das angeblich politischere Problem, eine ›Welt-
pien und Strafprozessordnungen, die in den Charten innenpolitik‹ zu entwerfen, die sich mit ökonomi-
der supranationalen Organisationen ausgearbeitet schen Fragen befasst, an regionale Strukturen nach
wurden, sich aus Lernprozessen ergab, die in Verfas- dem Modell der EU und/oder an die Großmächte
sungen des republikanischen Typus in demokrati- des einundzwanzigsten Jahrhunderts wie den USA,
92 II. Kontexte

China, Russland, Indien u. a. verwiesen. Politische sozioökonomischen Bedingungen zu garantieren,


Pluralität und internationale Beziehungen würden die zur Verwirklichung der Menschenrechtsziele der
auf dieser Ebene weiter bestehen, obgleich es ausge- Charta erforderlich sind, und den Geltungsbereich
schlossen wäre, zu Kriegen und Menschenrechtsver- der fundamentalen Menschenrechte in den Begrif-
letzungen Zuflucht zu nehmen. Auf der nationalen fen distributiver Gerechtigkeit zu formulieren.
Ebene würden die Staaten fortbestehen und ihr Ge- Andere Kritiker – wie etwa Schmalz-Bruns – fra-
waltmonopol beibehalten; sie würden auf dieses zu- gen sich, ob es möglich ist, den kantisch-kosmopoli-
rückgreifen, um die Menschenrechte und politische tischen Ausgangspunkt mit dem Beharren auf der
Entscheidungen der anderen Ebenen durchzusetzen, Beibehaltung jener Formen der Verbundenheit, der
während sie für die supranationale Ebene die äußerst Solidarität und der legitimitätserzeugenden demo-
wichtige Ressource indirekter Legitimität beisteuern kratischen Partizipation in Einklang zu bringen, die
würden. Doch sie wären nicht mehr souverän. nur auf nationalstaatlicher Ebene erreicht worden
Dies scheint eine nüchterne, realistische Utopie sind. Auch wenn es denkbar ist, dass sich auch auf
zu sein. Wenn sie jedoch in den Begriffen der Schaf- regionaler Ebene Solidaritätsgefühle und ein ›Ver-
fung eines weltbürgerlichen Zustandes formuliert fassungspatriotismus‹ entwickeln könnten, wären
wird, erscheint sie unklar und hat daher eine ganze diese vis-à-vis umfassenderer weltbürgerlicher Ver-
Reihe von Kritiken auf sich gezogen. Scheuerman pflichtungen immer noch sehr partikularer Art. Die
und Walker machen darauf aufmerksam, dass weit- doppelte (individuell-kollektive) Mitgliedschaft im
reichende Meinungsverschiedenheiten darüber, wel- globalen politischen System setzt die Bürger wider-
che Menschenrechte verbindliches, auf globaler sprüchlichen Imperativen aus. Es bleibt unklar, wie
Ebene durchsetzbares Recht werden sollen, die die Perspektive einer national oder regional definier-
These vom nicht-politischen Charakter der Men- ten Staatsbürgerschaft mit jener des Weltbürgers in
schenrechte und von den geringeren Legitimitätsan- Einklang gebracht werden soll – insbesondere dann,
forderungen der supranationale Ebene als wenig wenn erstere legitimerweise darauf ausgerichtet ist
überzeugend erscheinen lassen. Selbst wenn es einen und mit der Erwartung gegenüber den Regierungen
allgemeinen Konsens über die Funktion dieser verbunden ist, anstelle der universalen Standards
Rechte geben sollte – im globalen politischen System globaler Gerechtigkeit (der weltbürgerlichen Moral),
als geltendes Recht gesetzte Menschenrechte definie- an denen der Weltbürger sich orientieren sollte, das
ren die Toleranzschwelle, bei deren Überschreitung nationale oder regionale Eigeninteresse zu verfol-
jegliche Form gewaltsamer Intervention als ange- gen.
messen gilt –, so bleibt doch die hochgradig umstrit-
tene Frage, welche Rechte diesen Rang erhalten sol- Das revidierte Modell: Habermas hat in jüngster Zeit
len. seinem Modell eine stärker kosmopolitische Aus-
Verfechter eines ambitionierteren Verständnisses richtung gegeben, um diesen Einwänden zu begeg-
des Kosmopolitismus wie Cristina Lafont stellen die nen. Er erklärt offen, einem kelsenianischen rechtli-
Zuschreibungen in Frage, mit denen den einzelnen chen Monismus verpflichtet zu sein, womit er der
Elementen des Systems spezifischen Kompetenzen globalen politischen Verfassung den Vorrang vor
zugewiesen werden. Ihre Kritik zielt darauf ab, dass den einzelstaatlichen Rechtsordnungen der Mit-
sozioökonomische Fragen (die ›Weltinnenpolitik‹) gliedsstaaten einräumt, die jetzt als untergeordnete
der Logik regionaler Kompromisse unterworfen Teile eines einheitlichen, hierarchisch strukturierten
werden und dass damit die Fragen globaler ökono- Systems konstruiert werden. Das politische Analo-
mischer Ungerechtigkeit ausgeblendet werden, so gon zu diesem System besteht in einer Weltorganisa-
dass legitime Ansprüche distributiver Gerechtigkeit tion, die nicht allein die Einheit des globalen Rechts-
blockiert werden. Nach Lafont machen es die kos- systems repräsentiert, sondern auch die internatio-
mopolitischen Prinzipien erforderlich, dass die Ver- nale Gemeinschaft der Staaten und Bürger in ihrer
handlungen der regionalen Mächte vor dem Hinter- reformierten Zentralinstanz verkörpert: in einer re-
grund eines globalen Systems geführt werden, das präsentativ aufgebauten gesetzgebenden General-
dafür sorgt, dass diese Kompromisse nicht ökono- versammlung. Diese hat zwei Aufgaben: Die Formu-
mische Ungerechtigkeiten gegenüber anderen Indi- lierung adäquater Gerechtigkeitsstandards, die den
viduen verursachen. Angesichts der engen Verbin- transnationalen Verhandlungssystemen als Leitli-
dung zwischen Gerechtigkeit und Menschenrechten nien dienen, und eine neue Form der Gesetzgebung,
ist die globale politische Institution gefordert, jene die sich mit den Menschenrechten und der Regelung
17. Völkerrechtsverfassung 93

von Konflikten auf supranationaler Ebene beschäf- wenn nötig, als die Organe der internationalen Ge-
tigt, wobei man sich auf die Interpretation der Ver- meinschaft fungieren, und die rechtliche Gültigkeit
fassungs-Charta beschränkt. einzelstaatlicher Verfassungen würde sich dann ein-
Die Verschiebung in der Konzeption der Verfas- deutig aus den hierarchisch höher stehenden Quel-
sung und des Konstitutionalismus, die mit diesen len der monistischen Rechtsordnung – d. h. aus der
Revisionen einhergeht, verdient eine nähere Be- Verfassung der Weltorganisation – ableiten lassen.
trachtung. Habermas scheint sich eine Variante der Damit werden die Ungereimtheiten des Konstitu-
republikanischen Konzeption zu eigen gemacht zu tionalisierungsmodells in einer Weise aufgelöst, die
haben, denn er legt uns jetzt dar, dass die Verrechtli- ihm größere interne Konsistenz verschafft und es
chung der Weltpolitik eine Frage der Begründung stärker kosmopolitisch ausrichtet, die es aber auch
ist, die zwei Kategorien von Gründer-Subjekten um- weniger realistisch erscheinen lässt. Es ist jetzt sogar
fasst: Staaten mit einer Verfassung und individuelle noch schwieriger, den Konstitutionalisierungspro-
Weltbürger. Weil die Entscheidungskompetenzen zess und sein Ergebnis von der Errichtung einer de-
der globalen Regierungsinstitutionen zum Teil tief zentralisierten Weltrepublik zu unterscheiden. Doch
in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Mitglieds- alle Einsichten und Argumente, die Habermas gegen
staaten eingreifen würden, lassen sich diese nicht ein solches Modell vorbringt, sind weiterhin gültig.
einfach durch einen Vertrag legitimieren. Daraus er- Wir finden uns daher mit einer Konzeption der Kon-
gibt sich die Notwendigkeit, eine verfassungsge- stitutionalisierung wieder, die nur mit Mühe auf-
bende Versammlung einzuberufen, um eine Charta rechtzuerhalten ist.
zu entwerfen, die zu einer weltbürgerlichen Verfas-
sung werden könnte: Diese könnte zu Beginn die Literatur
Form eines internationalen Vertrags haben, doch
dieser müsste durch Referenden ratifiziert und im Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft
zur globalen Rechtsgenossenschaft. Frankfurt a. M. 2000.
Namen der Bürger der Welt in Kraft gesetzt werden Fassbender, Bardo: »The United Nations Charter as Consti-
– ein Echo auf die Formel des europäischen Verfas- tution of the International Community«. In: Columbia
sungsvertrages. Das Ergebnis dieses verfassungsge- Journal of Transnational Law Bd. 36 (1998), 529–619.
benden Prozesses wäre eine monistisch verfasste po- Günther, Klaus: »Rechtspluralismus und universaler Code
litische Organisation, deren Rechtsordnung in einer der Legalität: Globalisierung als rechtstheoretisches
Problem«. In: Lutz Wingert/Klaus Günther (Hg.): Die
hierarchischen Beziehung zu den Verfassungen der Öffentlichkeit der Vernunft und die Vernunft der Öffent-
Mitgliedsstaaten steht. Tatsächlich müsste die politi- lichkeit: Eine Festschrift für Jürgen Habermas. Frankfurt
sche Verfassung der Mitgliedsstaaten mit den Ver- a. M. 2001.
fassungsprinzipien der Weltorganisation in Einklang Habermas, Jürgen: »Kommunikative Rationalität und
stehen. grenzüberschreitende Politik: eine Replik«. In: Peter
Niesen/Benjamin Herborth (Hg.): Anarchie der kommu-
Habermas insistiert weiterhin darauf, dass jene nikativen Freiheit: Jürgen Habermas und die Theorie der
Subjekte (Staaten), die bereits über die legitimen Ge- internationalen Politik. Frankfurt a. M. 2007.
waltmittel verfügen, zu den Hauptakteuren des Kon- –: »The Constitutionalization of International Law and the
stitutionalisierungsprozesses gehören müssen. Er Legitimation Problems of a Constitution for World Soci-
warnt auch davor, dass die Errichtung einer ›monis- ety«. In: Constellations 14, 4 (November 2008), 444–455.
Lafont, Cristina: »Alternative Visions of a New Global Or-
tisch verfassten politischen Ordnung‹ nicht dazu
der: What Should Cosmopolitans Hope For?« In: Ethics
führen dürfe, dass die Welt der Staaten durch die Au- and Global Politics Bd. 1, 1–2 (2008), 41–60.
torität einer Weltrepublik ›mediatisiert‹ würde, die Nagel, Thomas: »The Problem of Global Justice«. In: Philo-
den in den Nationalstaaten akkumulierten ›Vertrau- sophy and Public Affairs 33, 2 (2005), 113–147.
ensfundus‹ – die versammelte Loyalität der Bürger Rawls, John: Das Recht der Völker. Berlin/New York 2002.
Scheuerman, William: »Global Governance without Global
oder den speziellen nationalen Charakter der Staa-
Government? Habermas on Postnational Democracy«.
ten und Lebensformen – missachten würde. Ande- In: Political Theory 36, 1 (2008), 133–151.
rerseits darf dieser aber auch die Effektivität und die Schmalz-Bruns, Rainer: »An den Grenzen der Entstaatli-
verbindliche Umsetzung supra- und transnationaler chung. Bemerkungen zu Jürgen Habermas’ Modell einer
Entscheidungen nicht behindern. Dennoch bemerkt ›Weltinnenpolitik ohne Weltregierung‹«. In: Peter Nie-
Habermas abschließend, dass sich die Bedeutung sen/Benjamin Herborth (Hg.): Anarchie der kommuni-
kativen Freiheit: Jürgen Habermas und die Theorie der in-
von ›Souveränität‹ bereits auf die von Hans Kelsen ternationalen Politik. Frankfurt a. M. 2007.
antizipierte monistisch-kosmopolitische Auffassung Walker, Neil: »Making a World of Difference? Habermas,
hin verschoben hat. Demnach würden die Staaten, Cosmopolitanism and the Constitutionalization of In-
94 II. Kontexte

ternational Law«. (European University Institute Wor-


king Paper LAW No. 2005/17.) Im Internet unter: http://
18. Europäische Verfassung
cadmus.iue.it/dspace/bitstream/1814/3762/1/WPLAW
No.200517Walker.pdf.
Walzer, Michael: Gibt es den gerechten Krieg? Stuttgart Überall und in vielen Sprachen ist seit langen Jahren
1982. davon die Rede: Europa müsse sich darüber klar
Jean L. Cohen (Übers. Nikolaus Gramm) werden, in welcher Verfassung es sich befinde; ob
sein Recht schon als Rechtsverfassung begreifbar sei;
ob diese demokratisch sein könne und dies auch
werden solle; was Demokratie im europäischen Ver-
bund bedeute, und wie es um die Chancen bestellt
sei, in einen solchen Zustand einzutreten. Bei der
Konstitutionalisierung Europas geht es um beides:
eine Analytik, in der die Faktizität von Europäisie-
rungsprozessen erfassbar wird, und um eine norma-
tive Konzeption, die Maßstäbe bereitstellt und insti-
tutionelle Voraussetzungen dafür benennt, ob die
sich im Europäisierungsprozess herausbildenden
Konfigurationen »Anerkennung verdienen«. Die
analytischen-empirischen Fragen sind leer, die nor-
mativ-institutionellen sind blind, solange sie bezie-
hungslos nebeneinander stehen. Um eben diese Ver-
schränkung geht es im Begriff der Konstitutionali-
sierung: Der Begriff verweist auf Gestalt und
Gestaltung Europas. Er hält fest, was die Verfassung
des demokratischen Nationalstaats erreicht oder ver-
sprochen hat. Aber er will gleichzeitig dem Umstand
gerecht werden, dass die Integration Europas als ein
Projekt auf den Weg gebracht wurde, dessen Rah-
menbedingungen sich ständig ändern, das für die
Bestimmung seiner finalité nicht auf Blaupausen zu-
rückgreifen kann, das deshalb seine Konstitutionali-
sierung als Prozess begreifen muss.
Jürgen Habermas hat in diesem Prozess seit 1991
immer wieder transnationale und transdisziplinäre
Orientierungspunkte gesetzt. Seine Interventionen
sind von zwei Motiven bestimmt: Zum einen von ei-
nem geradezu leidenschaftlichen Engagement für
Europa, zum anderen von der Sorge um die Errun-
genschaften des demokratischen Verfassungsstaates.
Dies wird im gesamten Spektrum der Europa-Stu-
dien wahrgenommen, auch und vor allem in der
Politik- und Rechtswissenschaft, die dieses Feld
dominieren; gleichzeitig bleibt die Wirkung seiner
Beiträge im wissenschaftlichen Normalbetrieb ei-
gentümlich begrenzt. Dies hängt mit ihrer doppelten
Zielsetzung zusammen. Im Rahmen seiner Arbeiten
zur Diskurstheorie des Rechts hat Habermas den in-
neren Zusammenhang von Rechtsstaat und Demo-
kratie eindringlich herausgestellt, der einer sich szi-
entifischen Standards verschreibenden, kausalanaly-
tisch und empirisch orientiertem Politikwissenschaft
ebenso verschlossen bleiben muss wie einer Juris-
18. Europäische Verfassung 95

prudenz, die sich auf die kunstgerechte Auslegung mensetzen, die Rechtshistoriker und Rechtsverglei-
autoritativ beglaubigter Texte und die Entfaltung be- cher zutage fördern (Keiser 2005).
grifflich konsistenter Dogmatiken zurückzieht (EA). Habermas passt nicht in dieses Bild. Die Interven-
Wer sich in diesem Schisma verfängt, kann den kri- tionen, in denen er die historische Bedeutung der Ei-
tisch-konstruktiven Gehalt seiner Beiträge zu Eu- nigung Europas beschworen hat, betreffen die Kon-
ropa nicht wahrnehmen. Dieser Gehalt erschließt stitutionalisierung Europas an empfindlichen Stel-
sich, wenn man die Fragestellungen und Kriterien, len. Die jüngste findet sich in der »Steinmeier-Rede«
die Habermas aus dem Fundus seiner Diskurstheo- vom 7. November 2007. Die im Rücken der geschäf-
rie des Rechts schöpft, mit den vorherrschenden tigen Politik »schwelenden Konflikte über die Zu-
Denkmustern des europäischen Konstitutionalismus kunft Europas« bezögen ihre Sprengkraft aus »Inter-
konfrontiert. An drei Themenbereichen lassen diese essengegensätzen, die sich […] aus den divergenten
Kontraste sich gut nachzeichnen: erstens am Um- Entwicklungspfaden der Nationalstaaten und den
gang mit der Geschichte; zweitens am europäischen kontrastreichen Erinnerungen der Nationen erge-
Sozialmodell; drittens an dem Übergang zu »neuen ben« (AE, 101). Erreicht hat die europäische Öffent-
Formen des Regierens«. Dieses Themenspektrum lichkeit zuvor der Aufruf nach dem amerikanischen
betrifft schließlich neuralgische Punkte des europäi- Einmarsch in den Irak am 31. Mai 2003 (GW, 43–
schen Konstitutionalismus. 52): Dort wird auch zur Sprache gebracht, welche
Lasten die Europäer verbinden.
Umgang mit Geschichte: Der demokratische Verfas- Aber wie soll die Debatte um die Konstitutionali-
sungsstaat ist nicht vom Himmel gefallen. Seine Ge- sierung Europas mit dieser(n) Geschichte(n) umge-
schichte ist wichtig, weil sich an ihr entscheidet, wo- hen? Was hätte »Der Konvent über die Zukunft der
mit wir zu rechnen haben, welche Möglichkeiten uns Europäischen Union« in der Kürze der Zeit, die ihm
offen stehen, welchen Aufgaben wir uns stellen müs- für die Arbeit an seinem Mandat blieb, leisten kön-
sen. Dies hat Habermas am deutschen Beispiel ge- nen? Der Konvent hat die Vergangenheit Europas
zeigt (z. B. in FG, 109 ff., 541 ff.). Entsprechende Re- nicht beschwiegen, sondern beschönt. Das Selbst-
konstruktionen des Projekts der Einigung Europas bildnis, das er in der Präambel seines Entwurfs eines
und seiner Verfassung gibt es nicht. Gewiss fehlt in Verfassungsvertrages gezeichnet hat, beschwört vor
keinem Textbuch und in keiner Sonntagsrede die Er- allem die kulturelle Größe Europas. Von den getöte-
innerung an die Katastrophen und Verfehlungen der ten Juden, an die Habermas und Derrida erinnern,
Vergangenheit, der deutschen zumal. Die oft zitierte war nicht die Rede, auch dann wieder nicht, als die
Diagnose Weilers (1994), es sei zuerst um die Siche- dem Konvent folgende Regierungskonferenz auf
rung des Friedens, die Überwindung von Diskrimi- eine Initiative Polens hin – und ohne dass hierüber
nierungen, die Mehrung des Wohlstands gegangen, »verhandelt« worden wäre – die »schmerzlichen Er-
trifft noble und triviale Motivlagen. Sie beschweigt fahrungen« des »nunmehr geeinten Europa« in die
die Erblast des Holocaust, durch die sich heute Euro- Präambel aufnahm. Selbst dieser Einschub fiel dann
pas Identität negativ definiert, ebenso wie die Kon- freilich dem konsequenten Bemühen der Regierun-
fliktlagen Nachkriegseuropas, die Bedeutung der gen zum Opfer, den am 13.12.2007 in Lissabon un-
Entkolonialisierung für die Umorientierung der Sie- terzeichneten »Vertrag über die Arbeitsweise der
germächte, die strategischen Kalküle aller Beteilig- Union« von jeglicher Verfassungs-Symbolik freizu-
ten. Mit der Osterweiterung haben sich das Spek- halten.
trum der historischen Prägungen nochmals erwei- Ließe sich ein anderer Umgang Europas mit sei-
tert und die Divergenzen sozio-ökonomischer ner Vergangenheit denken? Könnte Europa womög-
Interessenlagen vertieft. Es ist einfach irreführend, lich aus Prozessen der Aufarbeitung seiner Vergan-
wenn man im Europarecht den Integrationsprozess genheit(en) eine Legitimität gewinnen, die ihm der
als eine ständig voranschreitende, Hindernisse im- Einsatz für den so umfänglichen »Vertrag über eine
mer wieder glückhaft überwindende Abfolge von in- Verfassung für Europa« und die diplomatischen Be-
stitutionellen Ereignissen darstellt, die nach dem Zu- mühen zu dessen Rettung, nicht bescheren werden?
sammenbruch der Sowjetherrschaft und der Ost- Derartiges sollen Deutsche nicht insinuieren. Ha-
erweiterung der Union in der Verfassung ihre bermas schreibt zu Deutschland – freilich so, dass
Vollendung finden sollten. Erst recht ist die Vorstel- ein Weiterdenken sich eigentlich aufdrängt (z. B. ZÜ,
lung unzulänglich, Europa könne sein Recht aus den 47).
Bausteinen gemeinsamer Rechtstraditionen zusam-
96 II. Kontexte

Europäisches Sozialmodell: Präambeln sind verfas- keit nirgendwo »abgeleitet« oder einfach »durchge-
sungspolitisch aufschlussreich, auch wenn ihre prak- setzt« werden kann, sondern ihre Legitimität aus de-
tische Relevanz schwer zu ermessen ist. Anders ver- mokratischen politischen Prozessen gewinnen muss,
hält es sich mit Bestimmungen, die sich auf die Ord- die ihrerseits rechtlicher Gewährleistungen bedür-
nung der Wirtschaft und des Sozialen beziehen. Es fen. Diese Einsicht hat Habermas zu seiner Prozedu-
ist bezeichnend, dass die erste große verfassungspo- ralisierung der Rechtskategorie geführt. Sie erscheint
litische Kontroverse, die in der frühen Bundesrepu- grundsätzlich mit einem Konstituionalisierungsbe-
blik ausgetragen wurde und deren Nachwehen bis griff kompatibel zu sein und diesen sogar zu fordern,
heute zu spüren sind, eben dieses Verhältnis betraf. der sich nicht auf parlamentarische Rechtssetzungs-
Die Positionen, die Ernst Forsthoff und Wolfgang verfahren fixiert, sondern mit einer positiven
Abendroth auf der Staatsrechtslehrer-Tagung des »Recht-Fertigung« in vielen weiteren Foren und Ver-
Jahres 1954 bezogen, wirken bis heute nach. Die So- fahren rechnet, deren Anerkennung er freilich an die
zialstaatlichkeit gehöre nicht auf die gleiche verfas- normative Qualität solcher Rechtsproduktionspro-
sungsrechtliche Ebene wie die Rechtsstaatlichkeit. zesse binden muss.
Sie sei Sache der Verwaltung und der Besteuerung, Die europäische Ebene blieb von diesen Ausein-
so hatte Forsthoff, der Schüler Carl Schmitts, argu- andersetzungen lange unberührt. Dabei hatte gerade
mentiert. Die Sozialstaatlichkeit sei nach dem die deutsche Rechtswissenschaft auf die Spannungen
Grundgesetz ein Rechtsprinzip geworden, dessen zwischen dem nationalstaatlichen Demokratiegebot
Ausgestaltung dem Gesetzgeber obliege, so hatte und dem europäischen Integrationsprojekt sensibel
Abendroth im Anschluss an Hermann Heller repli- reagiert. Freilich ließ sie sich von dem Bemühen lei-
ziert. Die Debatte hatte einen von den streitenden ten, das europäische Regieren gegen demokratische
Staatsrechtlehrern nicht weiter beachteten Beobach- Anforderungen zu immunisieren. Repräsentativ war
ter, der zunächst über das Modell der »sozialen für das öffentliche Recht der Versuch von Hans Peter
Marktwirtschaft« in der Bundesrepublik ungemein Ipsen (1972), die Gemeinschaften als bloß techno-
einflussreich und dann in Europa zum lachenden kratische Aufgaben erledigende »Zweckverbände
Dritten werden sollte. Auch dieser »Dritte Weg« war funktionaler Integration« zu qualifizieren. Der im
in der Weimar Republik geebnet worden, nämlich Privat- und Wirtschaftsrecht herrschende Ordolibe-
durch eine Gruppe von Ökonomen und Juristen, die ralismus begriff demgegenüber Europa als eine
sich vom Laisser-faire Liberalismus ebenso scharf Chance, sein im nationalen Recht nicht durchsetz-
abgrenzten wie von allen Versuchen, die Wirtschaft bares Projekt einer unpolitischen Wirtschaftsverfas-
politisch zu gestalten und zu steuern. Die Ordnung sung mit supranationaler Geltungskraft auszustatten
der Wirtschaft wurde vielmehr zur Aufgabe eines (Mestmäcker 2003). Dies waren in mancher Hin-
starken Staates erklärt, der mit Hilfe zwingender sicht deutsche Sonderwege. Aber mit dem rechts-
Rechtsvorschriften eine dem Wirtschaftsgeschehen dogmatischen Gebäude, das der Europäische Ge-
immanente ordo zur Geltung bringen sollte (Manow richtshof seit 1961 zur »constitutional charter« aus-
2001). »Wirtschaftsordnung und Staatsverfassung« baute, kamen beide gut zurecht: insbesondere also
erschienen miteinander verschränkt. Beide beding- mit der »Direktwirkung« der wirtschaftlichen
ten sich gegenseitig, befreiten sich dabei nicht nur Grundfreiheiten, dem Vorrang europäischen Rechts
von deren Anerkennung durch die Politik, sondern und der Prärogative des Europäischen Gerichtshofs
setzen dieser rechtliche Vorgaben. bei dessen Auslegung.
Habermas hielt es mit Heller und Abendroth. Der Umstand, dass die Verträge von Rom die In-
Seine Stellungnahmen (insbes. in SÖ 1990, 242 ff.) stitutionalisierung Europas als ein Projekt der Wirt-
wurden von den Zeitgenossen der 68er als Orientie- schaftsintegration auf den Weg gebracht und dabei
rungshilfe im Streit um die Reform der Bundesrepu- von den Arbeits- und Sozialverfassungen der Mit-
blik intensiv genutzt. Der Weg von hier bis zu Entfal- gliedstaaten abgekoppelt hatten, hat lange nicht
tung der Diskurstheorie des Rechts in Faktizität und wirklich irritiert. Die deutschen Anätze waren hier-
Geltung war lang, aber, zumindest was das Sozial- auf konzeptionell eingestellt. Die »Integration durch
staatsprinzip angeht, eigentlich gradlinig. In dieser Recht« durch den Europäischen Gerichtshof er-
Theorie ist gleichzeitig die von Hermann Heller be- schien politisch indifferent und praktisch-politisch
gründete Tradition der Sozialstaatlichkeit bewahrt. waren im »goldenen Zeitalter« des Nationalstaats si-
Schon Heller war klar, was Abendroth später aus- gnifikante Gefährdungen der Sozialstaatlichkeit zu-
führte, dass nämlich eine sozialstaatliche Gerechtig- nächst nicht erkennbar. Erst im Gefolge der Vertie-
18. Europäische Verfassung 97

fung der Integration sollte sich dies grundlegend än- Charta« und den »sanften Methoden für die Koordi-
dern. Bemühungen um die »soziale Dimension« nierung« der Arbeits(markt)- und Sozialpolitik. Mit
Europas haben vor allem im Vertrag von Maastricht all dem verfügt aber Europa keineswegs über die Vo-
(1992) Gehör gefunden. Es kam dort zur Auswei- raussetzungen zur Ausgestaltung einer sozialen De-
tung der Kompetenzen im Arbeits- und Arbeitsför- mokratie. Damit setzt sich nun auf europäischer
derungsrecht durch das sogenannte Sozialprotokoll Ebene, vom herrschenden Konstitutionalismus un-
mit dem »Abkommen über die Sozialpolitik«. bemerkt und im Rücken der Bürger Europas, post-
Die Diskurstheorie des Rechts, die Habermas in hum Forsthoff gegen Heller durch. Insoweit haben
Faktizität und Geltung vorlegte, hat das Recht des de- die französischen Wähler bei ihrem Votum gegen
mokratisch verfassten Staates zum Gegenstand. Aus den Verfassungsvertrag nicht geirrt.
ihr lässt sich nicht ableiten, »wie Europa verfasst sein
soll«. Aber sie enthält eben auch Anforderungen an Übergang zu »neuen Formen des Regierens«: Schlech-
die Legitimität politischer Herrschaft, die nicht ein- te Erfolgsaussichten wären allein kein zwingender
fach im Namen Europas suspendiert werden dürfen. Grund, von der Erprobung »neuer Formen des Re-
So lese ich Habermas’ Plädoyer für eine europäische gierens« abzulassen. Verfassungspolitisch begegnen
Verfassung im Allgemeinen und für eine Bewahrung diese neuen Methoden und insbesondere die »offene
des »europäischen Sozialmodells« im Besonderen. Methode der Koordinierung« aber grundsätzlichen
Der Zusammenhang von Demokratie und Recht- Bedenken, da sie, ohne die Rettung der Sozialstaat-
staatlichkeit umfasst das Postulat des Aufbaus von lichkeit Europas versprechen zu können, die Recht-
politischen Handlungsmöglichkeiten, in denen Bür- staatlichkeit europäischen Regierens gefährden.
ger Europas in Fragen der sozialen Gerechtigkeit Nun gibt es aber ebenso für die Abkehr von der
nicht entmündigt werden. In die Auseinanderset- konventionellen »Gemeinschaftsmethode« zuguns-
zungen um die Anschlussfrage, wie es um die Chan- ten »neuer Formen des Regierens« unabweisbare
cen einer Verwirklichung dieses Postulats unter den Gründe. Bezeichnenderweise haben sich in der stark
Bedingungen offener Märkte in Europa und im An- »vergemeinschafteten« Landwirtschaftspolitik sehr
gesicht von Globalisierungsprozessen bestellt sei, hat früh Handlungsformen für koordinierte Aktivitäten
Habermas sich vielfach eingelassen: herausgebildet. Mit der den Ausbau des Binnen-
marktes begleitenden Expansion seiner regulativen
»In dem Maße, wie die Europäer die unerwünschten sozia-
len Folgen wachsender distributiver Ungleichheiten balan- Politiken in den Bereichen des Arbeits-, Umwelt-
cieren und auf eine gewisse Reregulierung der Weltwirt- und Verbraucherschutzes hat sich der Bedarf nach
schaft hinwirken wollen, müssen sie auch ein Interesse an einer kontinuierlich tätigen »politischen Verwal-
der Gestaltungsmacht haben, die eine politisch handlungs- tung« dramatisch gesteigert. Das in der Agrarpolitik
fähige Europäische Union im Kreise der global player ge- entstandene Ausschusswesen kam in vielen Feldern
winnen würde«,
der regulativen Politik als »Komitologie« zu neuen
heißt es z. B. in dem Plädoyer für eine europäische Blüten. Zahlreiche, rechtlich schwache und dennoch
Verfassung (ZÜ, 112). Solche Aussagen treffen sich handlungsstarke »Europäische Agenturen« traten an
mit dem wachsenden Interesse an der europäischen ihre Seite. Die zunächst für die Sozialpolitik erdachte
Sozial- und Arbeitspolitik nicht wirklich. Anders als »offenen Koordinierungsmethode« wurde in immer
Habermas behandelt der europäische Konstitutiona- neue Sektoren übertragen. In der Sache handelt es
lismus die sozialpolitischen Implikationen der Inte- sich um ein Regieren, das sich rechtlich nur noch
gration pragmatisch als eine praktisch-politische schwer bändigen lässt. Diese Schwierigkeit stellt sich
Frage. Die Überwindung des in der Konstruktion sowohl in Bezug auf die Verstetigung der Koopera-
Europas angelegten sozialen Defizits wird deshalb tion nationaler und europäischer Akteure in den
nicht als konstitutive Voraussetzung für eine Demo- neuen »governance arrangements« als auch in Bezug
kratisierung der Union begriffen. Stattdessen be- auf den Einfluss von Experten aller Art, ohne die
grüßt man, was pragmatisch wenigstens als inkre- nirgendwo auszukommen ist.
menteller Fortschritt erscheint. Das gilt insbeson- Wenn und weil es sich um irreversible Entwick-
dere für die einschlägigen Elemente im Entwurf des lungen in Politikfeldern von wesentlicher Bedeutung
Verfassungsvertrages des Konvents, die sich weitge- handelt, sollte die Problematik ihrer rechtlichen Bin-
hend im Vertrag von Lissabon wiederfinden: das Be- dung auf der Agenda des europäischen Konstitutio-
kenntnis zu einer »in hohem Maße wettbewerbsfähi- nalismus hohe Priorität genießen. Die konstitutio-
gen sozialen Marktwirtschaft«, zur »sozialen Rechte- nelle Kernfrage ist, ob man in den »neuen Formen
98 II. Kontexte

des Regierens« einen neuen »demokratischen Expe- kung) müsse dem Sinn der Grundfreiheiten Rech-
rimentalismus« sehen darf, in dem die Rechtskate- nung tragen.
gorie sich in Kommunikationen auflösen soll (so vor Der verfassungspolitische Gehalt dieser Aussagen
allem Sabel/Zeitlin 2008), oder ob das Recht auf die mag in ihrer technisch-juristische Diktion nicht
Ablösung der traditionellen Steuerungsformen kon- ohne Weiteres erkennbar sein. In der Sache ist er
struktiv durch Prozeduralisierungen reagieren kann dramatisch: Der Europäische Gerichtshof erhebt
(Joerges 2008). In der Praxis der europäischen Poli- sich zur pouvoir constituant der Union. Er radikali-
tik setzt sich inzwischen ein institutionelles Design siert das ordoliberale Theorem von der Wirtschafts-
durch, das die Entscheidungsprozeduren zwar ge- verfassung dadurch, dass er die in der Theorie der
nau strukturiert, dabei aber vornehmlich Experten- sozialen Marktwirtschaft »interdependenten« Wirt-
kreise zu Wort kommen lässt und sich gegen regio- schafts- und Sozialordnungen nicht nur entkoppelt,
nale Differenzen und zivilgesellschaftliche Öffent- sondern die eine durch die andere ersetzt. Dies ist
lichkeiten abschottet. Dies gilt insbesondere für die ein Unterfangen, dem sich das Bundesverfassungs-
neuen Agenturen. Aber auch die europäische Komi- gericht in seinen beiden wirtschaftsverfassungs-
tologie sperrt sich gegen Forderungen nach einer rechtlichen Leitentscheidungen widersetzt hat – ein
»Konstitutionalisierung«, die den Ergebnissen der Weg, den der europäische Gesetzgeber nicht gehen
Ausschussverfahren bloß den Status von grundsätz- kann.
lich reversiblen Regelungsvorschlägen zugestehen Ist eine solche Kritik an der Aufkündigung der
wollen. Mehr als eine »Zuarbeit« (ZÜ, 128) darf ihr Sozialstaatlichkeit eine aussichtlose Don Quichotte-
ein demokratischer Konstitutionalismus jedoch rie? Darf man erwarten, dass eine Verteidigung der
nicht zugestehen. nationalstaatlichen Zuständigkeiten des alten Eu-
ropa nachholende sozialstaatliche Entwicklungen im
Neuralgische Punkte des Konstitutionalismus: Die So- neuen Europa begünstigen würde? Und hat nicht ei-
zialstaats-Problematik hat sich als ein Stolperstein gentlich Jürgen Habermas recht mit seiner Kritik an
der Konstitutionalisierung Europas erwiesen. In den den sozialdemokratischen Versuchen, »die Risiken
aktuellen Vertragsrevisionen wird sie stiefmütterlich der wirtschaftlichen Globalisierung für den Arbeits-
behandelt; die politische Praxis und Politikwissen- markt und die sozialen Sicherungssysteme im Rah-
schaftler versprechen sanfte Alternativen; die Bürger men des Nationalstaats aufzufangen«? Und »wäre
des alten Europas bekunden, wo sie direkt gefragt dieses Ziel nicht besser dadurch zu erreichen, dass
werden, ihren Unwillen: In dieser verfassungspoliti- die entsprechenden Politiken innerhalb des großen
schen Sackgasse hat nun der Europäische Gerichts- europäischen Wirtschaftsraums, mindestens aber
hof die Initiative ergriffen. In einer Serie von Urtei- innerhalb der Eurozone aufeinander abgestimmt
len, in denen sich immer um Konflikte zwischen würden?« (AE, 126). Die Unsicherheiten, mit denen
neu-europäischen Marktzutrittsinteressen und alt- es all diese Fragen zu tun haben, sind nicht über-
europäischen Sozialschutzbelangen ging, hat er eu- windbar. Sicher ist indessen, dass Argumentationen,
ropäisches Primar- und Sekundärrecht gegen natio- wie der Europäische Gerichtshof sie vorgelegt hat,
nales Arbeitsverfassungsrecht und das grundrecht- nicht tragfähig sind. Wahrscheinlich ist überdies,
lich verbürgte Streikrecht zur Geltung gebracht. Die wie der europaweite Protest der Gewerkschaften ge-
rechtlichen Einzelheiten dieses Fallrechts sind gen die neue Rechtsprechung zeigt, dass diese Judi-
durchaus kompliziert (dazu Joerges/Rödl 2008), die kative seine Autorität untergraben wird.
Grundsätze, nach denen der Europäische Gerichts- Die Diskurstheorie des Rechts ist infolge der skiz-
hof judiziert, aber sehr einfach: (1) Der Grundsatz zierten neuen Entwicklungen in eine Oppositions-
des Vorrangs des Primärrechts erfasse auch dem Pri- rolle gedrängt worden: Sozialstaatlichkeit gilt ihr als
märrecht widerstreitendes nationales Arbeitsverfas- konstitutives Element der Demokratie; Demokratie
sungsrecht. (2) Die Direktwirkung der Freiheits- ohne Rechtsstaatlichkeit ist für sie nicht denkbar;
rechte bedeute, dass nicht nur die Mitgliedstaaten, eine Institutionalisierung wirtschaftlicher Freiheiten
sondern auch die Gewerkschaften sie zu berücksich- und ökonomischer Rationalität ist kein Demokratie-
tigen haben. (3) Trotz der enumerativen Begrenzung ersatz. Warum plädiert Habermas, der dies alles sehr
europäischer Kompetenzen setzte das rudimentäre wohl weiß, so entschieden für eine europäische Ver-
europäische Sozialmodell sich gegen nationales fassung? Bereits in dem Essay von 1991 findet sich
Recht durch. (4) Die Abgrenzung der Reichweite des eine Antwort, die Habermas später näher erläutert
europäischen Sekundärrechts (seiner Vorrangwir- hat (ZÜ, 86 ff.): Verfassungsstaatliche Demokratien
19. Gerechtigkeit und Rawls 99

können die Einbeziehung der von ihrer Politik Be- 19. Gerechtigkeit und Rawls
troffenen in die innerstaatlichen Prozesse der Ent-
scheidungsbildung immer weniger gewährleisten.
Die Idee die Selbstgesetzgebung, nach der die Adres- Für Nietzsche und Sloterdijk ist Gerechtigkeit die
saten der Gesetze sich zugleich als deren Autoren Feindin der Freiheit. Bei aller Differenz liegt diesen
sollen verstehen können (ZÜ, 86), erfordert die »Ein- Positionen eine Vorstellung von Freiheit zugrunde,
beziehung des Anderen«. Sein Plädoyer für eine eu- bei der Gerechtigkeitsforderungen als Beschneidung
ropäische Verfassung ist normativ zwingend. Die der Selbstschöpfung und eines möglichst unbegrenz-
Aussichten für einen Konstitutionalisierungsprozess ten Handlungsspielraumes erscheinen. Für Jürgen
mit glücklichem Ausgang sind derzeit leider nicht Habermas hingegen kann Freiheit überhaupt nur
gut. mit Hilfe von Gerechtigkeit erklärt werden. Ohne
gerechte Verfahren, in denen wir als Autoren die
Literatur Reichweite und Grenze der Freiheit aller festlegen,
Abendroth, Wolfgang: »Begriff und Wesen des sozialen
kann es nur die willkürliche Freiheit Einzelner, nicht
Rechtsstaates, Diskussionsbeitrag«. In: Veröffentlichun- aber die Freiheit aller geben.
gen der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer 12 Diese moralische Grundintuition entfaltet er in
(1954), 85–91. seiner Konzeption der Verfahrensgerechtigkeit, die
Forsthoff, Ernst: »Begriff und Wesen des sozialen Recht- nicht in einem Einzelwerk gebündelt ist, sondern
staates«. In: Veröffentlichungen der Vereinigung der Deut-
sich als normatives Leitmotiv durch seine Moralthe-
schen Staatsrechtslehrer 12 (1954), 8–35.
Ipsen, Hans Peter: Europarecht. Tübingen 1972. orie, Rechtsphilosophie und seine Studien zur politi-
Joerges, Christian: »Integration durch Entrechtlichung?« schen Theorie zieht. Es lassen sich zwei Bereiche un-
In: Gunnar Folke Schuppert/Michael Zürn (Hg.): Gover- terscheiden, die gleichwohl eng miteinander verbun-
nance in einer sich wandelnden Welt. Politische Viertel- den sind: Die ›moralische Gerechtigkeit‹ wird im
jahresschrift, Sonderheft 41 (2008), 213–237.
Anschluss an in kantischer Tradition stehende Mo-
– /Rödl, Florian: »Von der Entformalisierung europäi-
scher Politik und dem Formalismus europäischer Recht- raltheorien entfaltet, und die ›politische Gerechtig-
sprechung im Umgang mit dem »sozialen Defizit« des keit‹ nimmt vor allem in seiner Rechtsphilosophie
Integrationsprojekts«. In: Kritische Justiz 41, 3 (2008), Konturen an. In diesem Zusammenhang stellt sich
149–165. auch die Frage nach der Gerechtigkeit auf transnati-
Judt, Tony: Geschichte Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. onaler Ebene, die in den politisch-theoretischen
München/Wien 2006.
Keiser, Thorsten: »Europeanization as a (Challenge to Le- Schriften zur Konstitutionalisierung des Völker-
gal History«. In: German Law Journal 6, 2 (2005), (http:// rechts aufgegriffen wird.
www.germanlawjournal.com).
Manow, Philip: »Ordoliberalismus als ökonomische Ord- Moralische Gerechtigkeit: Mit dem Erscheinen von
nungstheologie«. In: Leviathan 29, 2 (2001), 179–198. Diskursethik – Notizen zu einem Begründungspro-
Mestmäcker, Ernst-Joachim: Wirtschaft und Verfassung in
der Europäischen Union. Beiträge zu Recht, Theorie und gramm (in MKH, 53–126) beginnt Habermas im
Politik der europäischen Integration. Baden-Baden 2003. Rahmen seiner Moraltheorie systematisch einen Be-
Sabel, Charles F./Zeitlin, Jonathan: »Learning from Diffe- griff der Gerechtigkeit zu entwickeln. Mit anderen
rence: The New Architecture of Experimentalist Gover- kantischen Gerechtigkeitstheorien geht Habermas
nance in the European Union«. In: European Law Jour- von dem Grundsatz aus, dass die praktische Ver-
nal 14, 3 (2008), 271–327.
Weiler, Joseph H.H.: »Fin-de-siècle Europe«. In: Renaud nunft ihre Prinzipien aus sich selbst heraus gewin-
Dehousse (Hg.): Europe After Maastricht: An Ever Closer nen kann. Der ›moralische Standpunkt‹, von dem
Union? München 1994, 203–216. aus moralische Handlungskonflikte unparteilich be-
Christian Joerges urteilt werden können, ist dann nicht der einer letzt-
begründeten Moral, des moralischen Realismus, des
Naturrechts oder des ›Philosophenkönigs‹. Vielmehr
wird die Unparteilichkeit durch Regeln und Verfah-
ren gewährleistet, die gerechte, d. h. verfahrens-
ethisch begründete Prinzipien hervorbringen.
Bereits bei Kant ist diese prozedurale Interpreta-
tion der Gerechtigkeit im Kategorischen Imperativ
angelegt - wenn man ihn nicht bloß als Handlungs-
maxime, sondern auch als Begründungsprinzip ver-
100 II. Kontexte

steht, welches besagt, dass gültige Handlungsmaxi- praktischen Vernunft verliert auf diese Weise ihren
men der allgemeinen Gesetzgebung dienen können monologischen Charakter, da es nicht ausreicht, aus
(Kant 1968, Bd. VII; siehe auch II.9). Der prozedu- Sicht irgendeines Anderen, die dann doch bloß
rale Charakter der Gerechtigkeit drückt sich in zwei meine auf die anderen projizierte Sicht ist, zu prüfen,
Aspekten aus: in der Forderung nach Autonomie, was als allgemein zustimmungsfähig erscheint. Bei
d.h. der Freiheit des Einzelnen, nach ›selbstgegebe- Scanlon muss jeder aus seiner Perspektive beurtei-
nen Gesetzen‹ zu handeln, und in der Erwartung ei- len, welche Handlungsweisen als allgemeine Praxis
ner allgemeinen Konsensfähigkeit der entsprechen- von niemandem im Kreis der Betroffenen aus guten
den Handlungsweisen. Diese moralischen Grundan- Gründen zurückgewiesen werden können. Das ver-
nahmen werden von den zeitgenössischen kantischen langt jedem Einzelnen ein begründetes Einverständ-
Gerechtigkeitstheorien, mit denen Habermas sich nis ab. Statt einer Gerechtigkeitsperspektive, die den
auseinandersetzt, noch stärker verfahrensethisch ak- Parteien übergestülpt wird, müssen sich die Beteilig-
zentuiert – wenn auch auf unterschiedliche Weise ten wenigstens virtuell eine intersubjektive Einigung
(ED, 54). vorstellen, die sie als gerecht ansehen (ED, 57).
John Rawls, der zweifellos eine der einflussreichs- Scanlon wie auch Habermas greifen nicht zufällig
ten Gerechtigkeitstheorien des 20. Jahrhunderts vor- auf George Herbert Meads Theorie des Symboli-
gelegt hat, bedient sich zur Begründung der Gerech- schen Interaktionismus zurück. Die Vorstellung,
tigkeitsprinzipien der Vertragstheorie (Rawls 1972). dass ein Interaktionsteilnehmer die Perspektive des
Die privatrechtlich am rationalen Eigeninteresse ori- anderen übernimmt, wird nicht als Ergänzung, son-
entierten Vertragsparteien entscheiden bekannter- dern explizit als Alternative zum Vertragsmodell
weise unter den Bedingungen des ›Urzustandes‹: Sie entwickelt (MKH; ED, 58; TKH II, 141 f.). Auch Law-
genießen gleiche Wahlfreiheit und orientieren sich rence Kohlberg, der für die Begründung von ›ge-
an ihrem rationalen Eigeninteresse. Durch den soge- rechten Prinzipien‹ und die entwicklungspsycholo-
nannten ›Schleier des Nichtwissens‹ (der die betei- gische Grundlage von moralischem Handeln in Ha-
ligten Parteien in Unkenntnis ihres jeweiligen zu- bermas’ Theorie von großer Bedeutung ist, erläutert
künftigen gesellschaftlichen Status belässt) sind die den moralischen Gesichtspunkt mithilfe des Begriffs
Vertragsparteien gezwungen, sich nacheinander die der idealen Rollenübernahme (Kohlberg 1981). Aus-
Sichtweisen aller Beteiligten anzueignen, da sie nach gehend von einer überschaubaren Perspektivüber-
dem ›Lüften des Schleiers‹ in einer gesellschaftlich nahme zwischen Alter und Ego, bei der sich beide
nachteiligen Situation sein könnten. Auf diese Weise im Falle eines moralischen Konfliktes reziprok in die
ist durch die Rahmenbedingungen auch der ratio- Erwartungen, Interessen, Wertorientierungen des
nale Egoist gezwungen, einen moralischen Stand- anderen einfühlen, muss die Prüfung der Universali-
punkt einzunehmen. Für Habermas bleibt dennoch sierbarkeit auf eine Gruppe und letztlich auf die uni-
bei Rawls ein Moment des Voluntarismus, da den verselle Austauschbarkeit aller Perspektiven erwei-
auf »den Verstand von Privatrechtssubjekten« zuge- tert werden. Die Gefahr einer ›emotivistischen Ver-
schnittenen Vertragspartnern die über eine bloße einseitigung‹, bei der ein intuitives Verständnis für
Kalkulation eigener Interessen hinausreichende die Lage der Einzelnen eine größere Rolle spielt als
»Einsicht« in die Richtigkeit ihrer Entscheidungen die intersubjektive Anerkennung ihrer Argumente,
fehlt (ED, 56). Diese moralisch-praktische Erkennt- durch die die Beteiligten zur Einsicht in die Richtig-
nis bleibt – in einem Anflug von Restplatonismus – keit ihres Handelns und zu Einstellungsänderungen
dem Theoretiker überlassen (Habermas 1996, 179). gelangen können, ist für Habermas unausweichlich.
Dieses Problem hat der amerikanische Philosoph Die »diskursethische Alternative« (ED, 69) basiert
Thomas Scanlon, so Habermas, durch eine entschei- denn auch auf der Rechtfertigung von Normen. Diese
dende Revision des kantischen Vertragsmodells we- sind dann gerecht, wenn sie das Ergebnis eines ›re-
sentlich überzeugender gelöst. An die Stelle des kan- flexiven‹ Diskurses sind, d.h. eines Diskurses, in dem
tischen Sittengesetzes, das jeder durch die praktische auch die Verfahren selbst, die zu gerechten Prinzi-
Vernunft einsehen kann, tritt der Wunsch der Ein- pen führen, auf die Bedingungen der Argumenta-
zelnen, die eigene Praxis gegenüber allen möglicher- tion, die alle Beteiligten zur idealen Rollenüber-
weise davon Betroffenen überzeugend zu rechtferti- nahme anhält, überprüft werden (ED, 632).
gen. Das geschieht auf Basis von »Gründen, die man Anfang der 1980er Jahre kritisierte Carol Gilligan
vernünftigerweise nicht zurückweisen kann« (Scan- Kohlbergs Annahme, dass sich moralisches Urteilen
lon 1982, 110; 1998). Die Rawls’sche Deutung der über sechs Entwicklungsstufen hin zu einer zuneh-
19. Gerechtigkeit und Rawls 101

menden Universalisierung begründen lässt (Gilligan sophie und in seinen Arbeiten zur politischen Theo-
1982). Gilligan warf Kohlberg vor, durch eine einsei- rie aufgegriffen wird (FG, 375 f., 380 ff.; EA, 247 ff.).
tige Fragestellung die Gerechtigkeitsurteile allein auf
›vernunftbasierte‹ Einschätzungen zu beziehen und Politische Gerechtigkeit: In der Rechtsphilosophie än-
anderes Wissen, alternative Umgangsweisen mit mo- dert die Verfahrensgerechtigkeit ihr Erscheinungs-
ralischen Konflikten und damit die Sorge (care) für- bild, ohne ihren normativen Kern zu verlieren. Ging
einander, die auf die Einzigartigkeit von Personen es in Habermas’ Moraltheorie um die moralische
und die Nahbeziehungen zwischen Menschen ab- Rechtfertigung der Verfahren zur Bestimmung von
zielt, vollkommen auszublenden. Kohlberg sah sich gerechten Prinzipien, so werden in der Rechtsphilo-
veranlasst, auf diese Einwände zu reagieren und ver- sophie im Prozess der politischen Rechtfertigung
suchte, Gerechtigkeit (justice) und das Wohl des Prinzipien zur Begründung der politischen Grund-
Nächsten (benevolence) zusammenzuführen (Kohl- struktur einer Rechtsgemeinschaft entwickelt (zur
berg et al. 1986) – ein Anliegen, an dem er letztlich Differenzierung von Moral, Recht und Politik vgl.
scheiterte, da für ihn die Integrität des Einzelnen nur Forst 1994). Im moralischen Kontext wird das Ver-
auf den ersten Blick den Gerechtigkeitsfragen unver- fahren beschrieben, mit dem die hypothetische Ge-
söhnlich gegenübersteht und die ›Fürsorge‹ letztlich meinschaft aller Menschen sich auf moralische und
nur einen Aspekt der ›Gerechtigkeit‹ darstellt (s. prozedurale Prinzipien einigt, die ihr Zusammenle-
auch Kap. II.10). ben regeln. Ausgehend von den moralisch gerecht-
Habermas nimmt Gilligans Vorschlag, die ethi- fertigten Prinzipien wird das gerechte Verfahren
sche Perspektive auf das Wohl des Nächsten zu be- dann im Kontext einer politischen Rechtsgemein-
rücksichtigen, zum Anlass, Solidarität als die andere schaft der Bürger verankert, mit dem Ziel, sich auf
Seite der Gerechtigkeit einzuführen (ED, 70 ff.). Jede gerechte politische Institutionen zu verständigen.
deontologische Gerechtigkeitstheorie müsse zwei Dazu gehören Verfassungsrechte und Menschen-
Aufgaben erfüllen: die Gleichbehandlung sowie den rechte ebenso wie Regeln, die die soziale Gerechtig-
gleichmäßigen Respekt vor der Würde des Einzelnen keit oder die Anerkennung kultureller Lebensfor-
fordern und die intersubjektiven Beziehungen rezi- men betreffen.
proker Anerkennung schützen. Seyla Benhabib, die Die Begründung eines Systems von Rechten hat
Gilligans Kritik ebenfalls aufgreift, bringt diese Dop- Habermas in gleich weitem Abstand von liberalen
pelseitigkeit der diskurstheoretischen Gerechtigkeit Theorien, die einen Vorrang der klassischen Frei-
auf den Punkt, indem sie zwei Standpunkte vor- heitsrechte vertreten, wie von republikanischen Theo-
schlägt, die mit der Unterscheidung Gerechtigkeit/ rien vorgenommen, die den politischen Teilnahme-
Solidarität korrespondieren: den Standpunkt des rechten Priorität einräumen. Für Habermas’ Idee
›verallgemeinerten Anderen‹, der uns dazu bewegt, ›politischer‹ Gerechtigkeit ist die u. a. in Diskussion
jedes Individuum als Wesen mit gleichen Rechten mit Klaus Günther und Ingeborg Maus entwickelte
und Pflichten anzuerkennen, und den des ›konkre- Annahme entscheidend, dass das Verhältnis von
ten Anderen‹, der uns veranlasst, den anderen mit subjektiven Freiheitsrechten und Volkssouveränität,
seiner ganzen Individualität, bestimmten Geschichte von Recht und Politik, komplementär ist. Die demo-
und affektiv-emotionalen Konstitution zu sehen kratische Genese und nicht ein apriorisches Rechts-
(Benhabib 1995, 182 ff., vgl. auch Wingert 1993, der prinzip, dem das Gesetz entsprechen muss, sichert
zwischen ›gerechtem‹ und ›solidarischem‹ Respekt die Gerechtigkeit der Verfassungsrechte und der Ge-
unterscheidet). Erst wenn beide Standpunkte einge- setze (Maus 1992). Die subjektive Freiheit wiederum
nommen und aufeinander bezogen werden, könne erlaubt, aus dem kommunikativen Handeln ›auszu-
nach Benhabib eine »epistemologische Blindheit« steigen‹ und sich in eine Privatheit zurückzuziehen,
(ebd., 182) gegenüber Fragen des guten Lebens und die von der Last gegenseitig zugemuteter kommuni-
damit Ungerechtigkeit vermieden werden (vgl. auch kativer Freiheit befreit (Günther 1992; s. Kap. II.14).
III.11). Damit bezieht sich das Diskursmodell der Hier wird auch der Zusammenhang zwischen
Gerechtigkeit weiterhin auf das Prinzip der rezipro- ›moralischer‹ und ›politischer Gerechtigkeit‹ deut-
ken und allgemeinen Rechtfertigung von Normen lich. Erstere geht letzterer logisch voraus (Forst 1999,
gegenüber allen Betroffenen und unterläuft dennoch 151): Die im moralischen Kontext begründeten
die starre Grenze zwischen Gerechtigkeit und dem Prinzipien ›regieren‹ die Verfahren zur Rechtsset-
guten Leben, wie sie etwa bei Rawls besteht – ein zung; im Rechtssetzungsverfahren verbindet sich ein
Vorschlag, der von Habermas in seiner Rechtsphilo- Netz von pragmatischen, moralischen und juridi-
102 II. Kontexte

schen Diskursen mit Verhandlungen, die auf ver- Während John Rawls’ Vorschlag für innerstaatliche
schiedenen Wegen miteinander in Verbindung tre- soziale Gerechtigkeit (›Differenzprinzip«) auf inter-
ten und die zu einer begründeten Übereinkunft füh- nationaler Ebene auf eine »Pflicht, den Völkern zu
ren. Im Begründungsdiskurs selbst trumpfen helfen«, reduziert wird, wenn diese bereit sind, sich
letztlich die moralischen Argumente (Habermas zu »wohlgeordneten« Gesellschaften zu entwickeln
1996a, 1612): Gerechte Verfahren bringen verallge- (Rawls 2002, 41), zieht sich Thomas Nagel auf den
meinerbare und damit auch gerechte Ergebnisse her- Standpunkt zurück, dass es keine Gerechtigkeit zwi-
vor. schen Staaten oder deren Bürgern geben kann, so-
Das Verhältnis zwischen Gerechtigkeit und Poli- lange es keinen transnationalen Souverän gibt, der
tik ist auch Gegenstand der Diskussion zwischen die Pflichtbefolgung durch legitimes zwingendes
Rawls und Habermas, die 1995 im Journal of Philoso- Recht erwirken kann (Nagel 2005). Auf der univer-
phy erschien (dt. 1996). Motiviert durch die Wahr- salistischen Seite des Theoriespektrums argumen-
nehmung einer kulturellen und weltanschaulichen tiert Peter Singer für eine universelle »positive Hilfs-
Pluralität, unterstreicht Rawls seit den »Dewey Lec- pflicht«. Wie es moralisch falsch ist, ein ertrinkendes
tures« (Rawls 1998) den politischen Charakter sei- Kind nicht zu retten, auf das wir zufällig beim Spa-
ner Gerechtigkeitstheorie. Die vertragstheoretisch ziergang stoßen, machen wir uns schuldig, wenn wir
begründete Gerechtigkeitstheorie wird daraufhin nicht regelmäßig spenden (Singer 2007).
geprüft, ob sie in einer pluralen Gesellschaft auf Ak- Aus Habermas’ Projekt einer »Weltinnenpolitik«
zeptanz stoßen kann. Dies geschieht in einer öffent- ergibt sich eine doppeldeutige Auffassung supranati-
lichen Diskussion, in der sich zeigen muss, dass die onaler Gerechtigkeit. Auf der einen Seite fußt es auf
›Gerechtigkeit als Fairness‹ einen »übergreifenden einem minimalistischen ›realistischen« Ansatz, wo-
Konsens« herstellen kann (Rawls 1998, §3). Rawls nach die Weltinnenpolitik der Aufrechterhaltung
stellt sich in diesem Fall nicht virtuelle, sondern ganz des Friedens höchste Priorität vor allen anderen Zie-
reale Bürger vor, die tatsächlich über die Stabilität len einräumt; die Gerechtigkeitskonzeption be-
der Theorie zu entscheiden haben – mit offenem schränkt sich hierbei auf die Vermeidung von Krie-
Ausgang (ebd., 65). Dennoch zeigt sich für Haber- gen und die Garantie der Menschenrechte auf Frei-
mas darin ein falsches Verständnis einer ›politi- heit (GW, 140–143). Andererseits basiert sein Projekt
schen‹ Gerechtigkeitstheorie: Die Bürger können auf einem eher ehrgeizigen ›utopischen« Ansatz, der
sich nicht von der Gerechtigkeitstheorie überzeu- eine globale Regierungsorganisation vorschlägt, die
gen, bevor sie in einen Konsens einwilligen, sondern die Weltinnenpolitik nach Prinzipien globaler Ge-
der Wert der bestehenden Theorie wird bereits vor- rechtigkeit lenken soll; diese Gerechtigkeitsprinzi-
ausgesetzt (Habermas 1996, 183). Es fehlt offensicht- pien sollen von einer Weltorganisation und ihrer
lich eine Verbindung zwischen der Gültigkeit der Charta repräsentiert werden (Habermas 2007, 450).
Theorie und einer Überprüfung derselben unter den Dabei wird eine Trennlinie zwischen den klar defi-
Bedingungen der Pluralität. Damit verschenkt Rawls nierten Aufgaben gezogen, die die Gerechtigkeit auf
die Möglichkeit, Gerechtigkeit an politische Freiheit supranationaler Ebene übernehmen soll (in erster
zu binden. Anders als die älteren (substantiellen) Be- Linie, den Frieden zu bewahren), einerseits und al-
griffe der Gerechtigkeit, die auf dem guten Leben len anderen transnationalen Aufgaben ›politischer
oder dem Gemeinwohl aufruhen, ist mit den moder- Art‹ andererseits (der Gestaltung von ökonomi-
nen Rechtssystemen die Vorstellung erwachsen, dass schen Regelwerken und von Umweltschutzstan-
Gerechtigkeit und Freiheit aufeinander bezogen dards, der Förderung der Künste und der Aufstel-
sind: In der demokratischen Realisierung individu- lung von sozialpolitischen Standards; s. auch Kap.
eller Freiheit zeigt sich eine gerechte politische Ord- II.17, III.17).
nung – und, so ließe sich ergänzen, die Solidarität In einer ersten Lesart, die den minimalistischen
der Rechtsgenossen (Brunkhorst 2002). Ansatz untermauert, stellen die negativen Pflichten
einer universalistischen Moral der Gerechtigkeit –
Globale Gerechtigkeit: Globale Probleme wie welt- »die Pflicht zur Unterlassung von Angriffskriegen
weite Armut und die Exklusion ganzer Bevölke- und von Menschheitsverbrechen« – die Grundlage
rungsteile von Arbeit, Bildung und einer funktionie- für die Rechtsprechung der internationalen Gerichte
renden Gerichtsbarkeit haben die Frage aufgewor- und die politischen Entscheidungen der UN dar
fen, ob Gerechtigkeit als normativer Maßstab auch (GW, 142). Hier bleibt für Armutsbekämpfung auf
jenseits des Nationalstaates Gültigkeit haben sollte. supranationaler Ebene kein Raum; dies scheint ein
19. Gerechtigkeit und Rawls 103

Teil der transnationalen Agenda zu sein, die Gegen- Caney, Simon: Justice beyond Borders: A Global Political
stand von politischen Verhandlungen ist. Theory. Oxford 2005.
Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit. Politische Philoso-
Habermas ließe sich aber auch auf eine andere,
phie jenseits von Liberalismus und Kommunitarismus.
normativ ehrgeizigere Weise lesen: Demnach gäben Frankfurt a. M. 1994.
die Vereinten Nationen den normativen Rahmen für –: Die Rechtfertigung der Gerechtigkeit. Rawls’ Politischer
die Weltpolitik im Allgemeinen vor – einschließlich Liberalismus und Habermas’ Diskurstheorie in der Dis-
der politischen Prozesse auf transnationaler Ebene. kussion. In: Hauke Brunkhorst/Peter Niesen (Hg.): Das
Die Aufgaben werden zwischen diesen beiden Ebe- Recht der Republik. Frankfurt a.M. 1999, 105–169.
Gilligan, Carol: Die andere Stimme. München 1982.
nen nach Maßgabe funktioneller Anforderungen, Günther, Klaus: »Die Freiheit der Stellungnahme als politi-
die von Wirtschaftsorganisationen wie der WTO sches Grundrecht – eine Skizze«. In: Peter Koller/Csaba
und ebenso von UN-Organisationen wie der WHO Varga/Ota Weinberger (Hg.): Theoretische Grundlagen
erfüllt werden müssen, aufgeteilt, sind aber nicht der Rechtspolitik. Beiheft zum Archiv für Rechts- und So-
von vorneherein festgelegt (NR, 335). Eine themati- zialphilosophie H. 54 (1992), 59–72.
Habermas, Jürgen: »Versöhnung durch öffentlichen Ver-
sche Aufgabenteilung zwischen Moral und Politik, nunftgebrauch«. In: Philosophische Gesellschaft Bad
die dem diskursiven Verfahren vorausläge, wäre mit Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee des politi-
dem Anspruch der Verfahrensgerechtigkeit auch un- schen Liberalismus. Frankfurt a.M. 1996, 169–195 (urspr.
vereinbar. in: Journal of Philosophy Bd. XCII, 1995).
Aus Sicht einiger Theoretiker spricht viel für diese –: »Replik auf Beiträge zu einem Symposion der Benjamin
N. Cardozo School of Law«. In: Cardozo Law Review:
zweite Lesart. Dafür werden mindestens drei Argu- Habermas on Law and Democracy: Critical Exchanges
mente angeführt: Erstens sehen wir – konsequen- Part II, Bd. 17, Nr. 4–5 (1996a), 1559–1645.
zialistisch betrachtet –, dass jedes Jahr mehr Men- –: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende
schen an vermeidbaren, durch Armut verursachten Politik: eine Replik«. In: Peter Niesen/Benjamin Her-
Krankheiten und an anderen Formen des Mangels borth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jür-
gen Habermas und die Theorie der internationalen Po-
sterben, als bei Kriegen getötet werden. Dies ist litik. Frankfurt a. M. 2007, 406–460.
Grund genug, um diese Frage auf die supranationale Kant, Immanuel: Grundlegung der Metaphysik der Sitten
Bühne zu heben (Pogge 2002; Kreide 2007). Zwei- [1786]. In: Werkausgabe. Bd. VII. Hg. von Wilhelm
tens ist die Armut auf der Welt nicht von den Betrof- Weischedel. Frankfurt a. M. 1991.
fenen selbst verschuldet, sondern es ist davon auszu- Kohlberg, Lawrence: Essays on Moral Development: Vol.1.
The Philosophy of Moral Development. Vol. 2. The Psy-
gehen, dass einige Akteure von den weltweiten öko- chology of Moral Development. San Francisco 1981.
nomischen, finanziellen und politischen Regeln in – /Boyd, Dwight R./Levine, Charles: »Die Wiederkehr der
einer Weise profitieren, die andere in eine desperate sechsten Stufe«. In: Wolfgang Edelstein/Gertrud Nun-
Situation zwingen (O’Neill 2000; Caney 2005). Und ner-Winkler (Hg.): Bestimmung der Moral. Frankfurt
schließlich müsste die Beantwortung der Frage, was a. M. 1986, 205–240.
Kreide, Regina: »Neglected Injustice: Poverty as a Violation
in den Bereich der Gerechtigkeitstheorie gehört und
of Social Autonomy«. In: Thomas Pogge (Hg.): Freedom
was politischen Verhandlungen mit ungewissem from Poverty. Who Owes What to the Very Poor. Oxford
Ausgang überlassen bleibt, »der internen Logik des 2007, 155–183.
Moraldiskurses folgen« (Lafont 2009). Gerechtig- Lafont, Cristina: »Alternative Visions of a New Global Or-
keitsfragen seien nämlich nicht ›politisch‹ in dem der: What Should Cosmopolitans Hope for?«. In: Soziale
Sinn, dass sie durch Kompromisse beantwortet wer- Welt 2009, 231–350.
Maus, Ingeborg: Zur Aufklärung der Demokratietheorie.
den könnten. Frankfurt a. M. 1992.
Die Bestimmung des Verhältnisses zwischen Ge- Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus
rechtigkeit, Freiheit und Politik jenseits des Natio- der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a.M. 1968
nalstaates hat im Zuge der Krise der Globalisierung (engl. 1934).
an besonderer Brisanz gewonnen und gerade erst Nagel, Thomas: »The Problem of Global Justice«. In: Phi-
losophy & Public Affairs 33, 2 (2005), 113–147.
begonnen. O’Neill, Onora: »Transnational Economic Justice«. In:
Dies.: Bounds of Justice. Cambridge 2000, 115–142.
Literatur Pogge, Thomas: World Poverty and Human Rights: Cosmo-
politan Responsibilities and Reforms. Cambridge 2002.
Benhabib, Seyla: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a.M.
im Spannungsfeld von Feminismus, Kommunitarismus 1972 (engl. 1971).
und Postmoderne. Frankfurt a. M. 1995 (engl. 1992). –: Politischer Liberalismus. Frankfurt a. M. 1988 (engl.
Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft 1993).
zur globalen Rechtsgenossenschaft. Frankfurt a. M. 2002. –: Erwiderung auf Habermas. In: Philosophische Gesell-
104 II. Kontexte

schaft Bad Homburg/Wilfried Hinsch (Hg.): Zur Idee


des politischen Liberalismus. Frankfurt a. M. 1996, 196–
20. Dekonstruktivistische
265 (urspr. in: Journal of Philosophy Bd. XCII, 1995). Diskurse
–: Das Recht der Völker. Berlin 2002 (engl. 1999).
Scanlon, Thomas: »Contractualism and Utilitarianism«. In:
Bernard Williams/Amartya Sen (Hg.): Utilitarianism 1. Der Kontext von Habermas’ Auseinandersetzung
and Beyond. Cambridge, Mass. 1982. mit Derrida liegt in der Debatte um das Verhältnis
–: What We Owe to Each Other. Cambridge, Mass. 1998. von Moderne und Postmoderne (s. hierzu Kap. II.21;
Singer, Peter: »Hunger, Wohlstand und Moral«. In: Barbara III.8; III.12). In seiner Adornopreis-Rede (1980)
Bleisch/Peter Schaber (Hg.): Weltarmut und Ethik.
Paderborn 2007, 37–52 (engl. »Famine, Affluence, and hatte Habermas das unvollendete Projekt der Mo-
Morality«. In: Philosophy & Public Affairs 1,3 (1972), derne verteidigt und unter dessen Gegnern neben
229–243). Alt- und Neokonservativen eine Gruppe von »Jung-
Wingert, Lutz: Gemeinsinn und Moral. Gründzüge einer konservativen« ausgemacht, zu denen er Foucault
intersubjektivistischen Moralkonzeption. Frankfurt a. M. und Derrida zählte (MUP, 1980). In Der philosophi-
1993.
Regina Kreide sche Diskurs der Moderne (DM, 1985) legt Habermas
in zwei Kapiteln zu Derrida ausführlicher dar, was
ihn zu dieser Einschätzung bewogen hatte und er-
läutert, inwiefern Derridas Philosophie eine Form
radikalisierter Vernunftkritik darstellt, die in seinen
Augen eine unzulängliche Antwort auf die Entzwei-
ungen der Moderne enthält. Diese Darstellung wie
die sich daran anschließende breitere Debatte in
Deutschland, Frankreich und den USA war durch
polemische Intensität und politische Schärfe geprägt
und hatte weitreichende Wirkungen für institutio-
nelle und theoriepolitische Konfliktlinien. In der
Folge eines zufälligen Zusammentreffens in Evans-
ton und eines Austauschs in Frankfurt im Jahre 2000
wurden die wechselseitigen Bezugnahmen der bei-
den Protagonisten offener, was sich auch in einer ge-
meinsamen Publikation (Habermas/Derrida 2006)
und einem gemeinsamen Aufruf (vgl. Thomassen
2006, 270 ff.) niederschlug. Die philosophischen Dif-
ferenzen scheinen aber trotz der anderen Tonlage in
keiner Weise ausgeräumt.
Es ist von verschiedenen Seiten mit Gründen be-
zweifelt worden, ob Habermas in seiner Darstellung
in Der philosophische Diskurs der Moderne die
Derrida’schen Schriften zutreffend rekonstruiert
und kulturell wie politisch angemessen verortet hat.
Statt aber die möglichen Probleme von Habermas’
Darstellung und der jeweiligen kritischen Entgeg-
nungen hier Punkt für Punkt nachzuzeichnen,
scheint es erhellender, in gewissem Abstand zur De-
batte die allgemeineren und systematischen Dimen-
sionen zu benennen, in denen Habermas’ und Der-
ridas Position einander herausfordern.

2. Universalpragmatik und ultra-transzendentale


Analyse der ›Schrift‹: Derridas Analyse der Form
sprachlichen Bedeutens, die er in kritischer Ausein-
andersetzung mit der Phänomenologie Husserls,
dem Strukturalismus Saussures und der Sprechakt-
20. Dekonstruktivistische Diskurse 105

theorie Austins entfaltet hat, stellt methodisch wie Diese Konzeption ist zwar nicht, wie manches
inhaltlich eine Herausforderung für eine Universal- Mal kritisch eingewandt wurde, zwingend damit un-
pragmatik des Habermas’schen Typs dar. Die Wende vereinbar, dass es in der alltäglichen Lebenswelt und
von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie, die in verselbständigten Systemen der Moderne zur
Habermas als entscheidende methodische Voraus- Ausbildung stabiler Bedeutungen und Ordnungen
setzung für eine Antwort auf die Aporien im moder- kommt (sie impliziert lediglich, dass eine nicht na-
nen Selbstverständnis betrachtet, ist bei Derrida, wie türliche Stabilisierung und Verdeckung der struktu-
Habermas selbst festhält (DM, 193), vollzogen. Nicht rellen Instabilität dazu erforderlich ist); sie zielt aber
das transzendentale Subjekt, sondern das als in jedem Fall darauf, den Status der Idealisierungen
»Schrift« im verallgemeinerten Sinne verstandene in Frage zu stellen, die Habermas durch die in kom-
Bedeutungsgeschehen ist die für die Analyse ent- munikativen Akten implizierten Geltungsansprüche
scheidende Instanz. Die Bestimmung dieses Bedeu- (der Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und
tungsgeschehens unterscheidet sich im Weiteren normativen Richtigkeit) artikuliert. Das Bedeu-
dann gewiss sehr deutlich von derjenigen, die Ha- tungsgeschehen erscheint in Derridas Beschreibung
bermas vorgeschlagen hat. In methodischer Hinsicht so verfasst, dass die in ihm implizierten Ansprüche
ist aber zunächst bemerkenswert, dass sich die Ana- auf eine Weise prekär und uneinholbar sind, dass
lyseformen auf einem abstrakten Niveau näher kom- mehr als ein einfaches fallibilistisches Bewusstsein
men, als Habermas selbst es nahelegt, wenn er der erforderlich scheint. Das hat zu dem Verdacht ge-
Dekonstruktion den Versuch zuschreibt, Vernunft- führt, die Dekonstruktion Derrida’schen Typs sei der
kritik in den Bereich der Rhetorik zu versetzen, und von ihr kritisierten Metaphysik noch so sehr verhaf-
ihr attestiert, stilkritisch statt analytisch zu verfahren tet, dass sie allenfalls in einen komplementären
(DM, 223 ff.). So wie Habermas’ Universalpragmatik Skeptizismus führen könne. Aus der dekonstrukti-
als eine Fortentwicklung transzendentaler Analyse ven Perspektive erscheint umgekehrt fraglich, ob
auftritt (VE, 379 ff.), so haben sich Derridas Untersu- nicht Habermas – so sehr er sich auch von Apel ab-
chungen zunächst als ›ultra-transzendentale‹ Ana- heben mag – einer metaphysischen Konzeption der
lyse präsentiert: Bei beiden Autoren wird der Begriff Kommunikation verhaftet und darin auf Ideen im
des transzendentalen Subjekts zugunsten der Ana- kantischen Sinne auf problematische Weise angewie-
lyse der strukturellen Voraussetzungen eines sozia- sen bleibt.
len Geschehens preisgegeben und den analysierten Die grundsätzlichen Spannungen in der Auffas-
Voraussetzungen kommt dabei ein ›quasi-transzen- sung kommunikativer Praktiken, die zwischen Der-
dentaler‹ Status in dem Sinne zu, dass diese nicht un- rida und Habermas bestehen, hängen zusammen
abhängig von empirischen Untersuchungen er- mit unterschiedlichen Auffassungen über (1) die
schlossen werden können. Rolle des Subjekts und die Form intersubjektiver Re-
Derrida arbeitet jedoch im Zuge seiner quasi- lationen, (2) den Status des Ästhetischen und (3) die
oder ultra-transzendentalen Analyse nicht jene Gel- Auffassungen der ›emanzipativen‹ Potentiale kom-
tungsansprüche heraus, die Habermas zufolge mit je- munikativer Praktiken.
der Kommunikation notwendig erhoben werden
und deren Einlösbarkeit unterstellt wird. Er hebt viel- 2.1 Subjektivität, Intersubjektivität, Alterität: Zwi-
mehr auf grundlegende Strukturmerkmale sinnhaf- schen Habermas und Derrida bestehen bedeutende
ter Akte ab, die paradoxe Wirkungen entfalten und Differenzen in der Frage, auf welche Weise das sub-
die Einlösbarkeit der universalpragmatisch formu- jektphilosophische Paradigma der Philosophie zu
lierten Geltungsansprüche gerade in Frage stellen. überschreiten ist und mit welchem Verständnis von
Die betreffenden Strukturmerkmale (etwa: die Diffe- Sozialität dies einhergehen muss. Habermas ver-
rentialität und Iterabilität sinnhafter Akte) stellen dächtigt Derrida, dem subjektphilosophischen Para-
mit einer bekannten Formulierung Derridas zugleich digma einerseits noch zu sehr verhaftet zu sein (da
›Bedingungen der Möglichkeit‹ der Bedeutung wie er die Ursprungsphilosophie nur ein weiteres Mal
›Bedingungen der Unmöglichkeit‹ ihrer strikten radikalisiert habe), sowie andererseits zugleich über
Reinheit dar (vgl. Derrida 1999, 82; 2001, 43). Die er- das Ziel hinausgeschossen zu sein, insofern er sich
möglichten Bedeutungsakte erscheinen mithin als ganz einem als ›subjektlos‹ verstandenen Bedeu-
wesentlich prekär und instabil, und die Analysen tungsgeschehen überlassen habe (DM, 210 f.; ND,
Derridas erhalten einen aporetischen oder »hetero- 244 ff.). Aus einer Derrida’schen Perspektive liegt im
logischen« Charakter (vgl. hierzu Gasché 1986). Gegenzug die Vermutung nahe, dass die intersubjek-
106 II. Kontexte

tive Vorstellung des Sozialen bei Habermas von dem terarisierte Philosophie und eine als Metaphysikkri-
Modell einer idealen Kommunikationsgemeinschaft tik begriffene Literaturkritik ihre jeweils spezifi-
beherrscht bleibt, das eine bloße Variante der sub- schen kognitiven Potentiale verlieren. Richard Rorty
jektphilosophisch informierten Idee der Selbsttrans- hat Derridas Projekt in Habermas zunächst ähnli-
parenz darstellt und in letzter Konsequenz das Ende cher Weise als eine neue ›Form des Schreibens‹ auf-
der Kommunikation impliziere (Wellmer 2007, gefasst, wenngleich er die Wirkungen dieser ›phi-
190 f.). losophischen Literatur‹ nicht wie Habermas für
An diesen jeweils etwas schematischen wechsel- gefährlich hielt, sondern vielmehr eine Komplemen-
seitigen Verdachtsmomenten zeichnet sich eine Dif- tarität annahm zwischen dem philosophischen Pro-
ferenz im Verständnis der Struktur und der Teleolo- jekt von Habermas, das Probleme unserer öffentli-
gie des Sozialen ab. Während für Habermas das Te- chen liberalen Sphäre zu lösen helfe, und Derridas
los der Kommunikation Verständigung und mehr Schreibvorhaben, das als das Angebot eines privaten
noch: Einverständnis ist, und das Modell sozialer Ironikers unsere Vokabulare und Sichtweisen erwei-
Relation ein symmetrisches ist, charakterisiert Der- tern mag (exemplarisch Rorty 1995).
rida das Soziale strukturell durch dissymmetrische Derrida selbst hat sich deutlich dagegen verwahrt,
Beziehungen und versteht die Erfahrung von Sozia- dass er auf die Einebnung des Gattungsunterschie-
lität als geprägt durch ein Bezogensein und Betrof- des gezielt oder das Vorhaben einer argumentativen
fensein von einem Anderen, der nicht gänzlich Philosophie habe hinter sich lassen wollen (Derrida
durchsichtig werden kann und sich als Anderer in 1988; 1998; 1999; 2001). Stattdessen habe er viel-
bestimmtem Sinne notwendig entzieht. Wenn es für mehr versucht, die Form dessen, was als philosophi-
Derrida so etwas wie ein ›Telos‹ sozialer Beziehung sche Argumentation zählen kann, kritisch zu befra-
geben mag, dann ist es nicht einfach die Herstellung gen, und aufzuweisen, inwiefern die Grenze von Phi-
von wechselseitigem Einverständnis, sondern eine losophie und Literatur auf besondere Weise
Form der Bezugnahme, die zugleich die Andersheit, problematisch sei. Offen bleibt dabei die Frage nach
Intransparenz, Nicht-Symmetrie des Anderen als dem womöglich privilegierten Status ästhetischer
solche anerkennt (Critchley 2000). Womöglich war Praktiken für die Erschließung dekonstruktiver Fi-
es auch dieses Festhalten an Asymmetrie und In- guren. Wenn Derrida von dem besonderen Formali-
transparenz als irreduziblen Strukturmerkmalen des sierungspotential der Literatur spricht, und wenn er
Sozialen, das Habermas zu der Diagnose führte, hervorhebt, dass literarische Praktiken eine eigene
Derrida nehme in der Charakterisierung des Bedeu- Problematisierung der reduzierten philosophischen
tungsgeschehens am Ende »nur eine Mystifizierung Konzeptionen der Struktur des Bedeutens, der
handgreiflicher gesellschaftlicher Pathologien« (DM, Selbst- und Fremdbeziehung, der ethischen Ver-
214) vor. Diesem Verdacht steht jedoch der Befund pflichtung und des Politischen erlauben, dann stellt
entgegen, dass die gemeinte Asymmetrie und In- sich die Frage, ob die Dekonstruierbarkeit philoso-
transparenz in Derridas späteren Schriften nicht an- phischer Konzeptionen und sprachlicher Praktiken
hand von verdeckt pathologischen Beziehungsfor- in einem wesentlichen Sinne von ihrer Literarisier-
men aufgewiesen werden, sondern vielmehr anhand barkeit oder Ästhetisierbarkeit abhängt. Nicht zu-
von im klassischen Sinne ethischen Relationen wie letzt dieser Umstand hat insbesondere in der deut-
Freundschaft, Gastfreundschaft oder Vergebung, die schen Diskussion zu der Frage nach systematischen
dieser Asymmetrie auf besondere Weise Rechnung Berührungspunkten von Derrida und Adorno ge-
tragen sollen. führt. Unabhängig davon, ob man so weit gehen
muss, das Literarische oder Ästhetische nach Der-
2.2 Der Status des Ästhetischen: Vor dem Hinter- rida als eine »Instanz exklusiver Erkenntnis« (Menke
grund der methodischen Verfahrensweise dekon- 1991, 289) zu bestimmen, scheint Derrida in jedem
struktiver Texte als einer bestimmten Form der Lek- Fall nahezulegen, dass der Literatur oder dem Ästhe-
türe der philosophischen Tradition und angesichts tischen ein besonderes Potential in der Wiederho-
der besonderen Aufmerksamkeit, die Derrida litera- lung, Ausstellung und Infragestellung anderer dis-
rischen Texten gewidmet hat, hat Habermas den kursiver Praktiken zukommt. Die Normen und Gel-
Verdacht geäußert, die Dekonstruktion ziele auf eine tungsansprüche etablierter Diskurse werden in
Einebnung des Gattungsunterschieds von Philoso- dieser Perspektive im Medium der Literatur auf eine
phie und Literatur (DM, 219 ff.; ND, 242 ff.). Er hat besondere Weise exponiert und einer eigenen Form
diese Einebnung dahingehend kritisiert, dass eine li- der ›Kritik‹ ausgesetzt, die nicht die kritische Prü-
20. Dekonstruktivistische Diskurse 107

fung dieser Geltungsansprüche in einem philosophi- offenere Weise orientieren. Auch wenn Habermas
schen Metadiskurs meint und zu diesem in eigen- selbst den Status der Idealisierungen in seiner Theo-
tümlicher Spannung steht. rie zunehmend bescheidener bestimmt und sich von
der Vorstellung eines erreichbaren Endzustands ei-
2.3 Emanzipative Potentiale: Simon Critchley hat in ner idealen Sprechsituation explizit distanziert hat,
seiner Einleitung zu einem Austausch von Derrida so verbleibt dennoch der Eindruck, dass die in sei-
und Habermas im Jahr 2000 daran erinnert, dass nen Bestimmungen leitenden Ideen einen anderen
sich Derrida in Gesetzeskraft (1991) auf eine – für Status besitzen und auf andere Weise wirken, als jene
viele gewiss überraschend ungebrochene – Weise orientierenden Größen, die Derrida als zugleich un-
positiv auf das »klassische emanzipatorische Ideal« bedingt und auf besondere Weise »un-möglich« ge-
bezogen hat. Er wirft vor diesem Hintergrund die kennzeichnet hat. In diesem Sinne scheint die ge-
Frage auf, ob sich Derrida und Habermas in ihrer naue – aporetische oder nicht-aporetische – Natur
emanzipatorischen, auf die Demokratie verpflichte- der strukturellen Bedingungen der Kommunikation
ten und mit der ›Idee‹ der Gerechtigkeit verknüpf- und die korrelative Differenz der diese Praktiken
ten Orientierung nicht näher stehen, als es zunächst orientierenden ›Ideen‹ ein Punkt ebenso tiefer wie
den Anschein haben mag. An den von Critchley auf- nachhaltiger Differenz zwischen Habermas und
gewiesenen Stellen zeigt sich in der Tat, dass auch Derrida zu sein, deren Form und Folgen noch ge-
mit Blick auf die ›emanzipatorische‹ Dimension nauer zu bestimmen bleiben.
kommunikativer Praktiken die Positionen von Der-
rida und Habermas füreinander eine produktive He-
Literatur
rausforderung darstellen. In diesem Sinne ist Derri-
das Konzeption der Gerechtigkeit als Ausgangs- Critchley, Simon: »Remarks on Derrida and Habermas«.
punkt für die Kritik oder Ergänzung Habermas’scher In: Constellations 7, (2000), 455–465.
Derrida, Jacques: Mémoires pour Paul de Man. Paris 1988.
Gerechtigkeitskonzeptionen aufgegriffen worden –: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der Autorität«.
(Honneth 1994; Menke 2004). Eine Diskussion von Frankfurt a. M. 1991 (engl. u. frz. 1990).
Derridas Überlegungen zur kommenden Demokra- –: »Gibt es eine philosophische Sprache«. In: Ders.: Auslas-
tie und der Problematik der ›Auto-Immunität‹ im sungspunkte. Gespräche. Wien 1998, 229–240.
Verhältnis zu Habermas’ elaboriertem Konzept deli- –: »Bemerkungen zu Dekonstruktion und Pragmatismus«.
In: Chantal Mouffe (Hg.): Dekonstruktion und Pragma-
berativer Demokratie ist ein zweiter vielverspre- tismus. Wien 1999, 77–88.
chender Gegenstand weiterer Debatten (Critchley –: Limited Inc. Wien 2001 (engl. 1988; frz. 1990).
2000; Derrida 2003). Im Zuge dieser Fragestellun- –: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a. M.
gen, in denen sich Derridas Dekonstruktion wo- 2003 (frz. 2003).
möglich auf anderen Feldern erneut als Anregung – /Wetzel, Michael: »Erwiderungen« und »Antwort an
Apel«. In: Zeitmitschrift 3 (1987), 76–85.
und Anstoß für die kritische Gesellschaftstheorie
Gasché, Rodolphe: The Tain of the Mirror. Derrida and the
erweisen könnte, wird man allerdings eine unterlie- Philosophy of Reflection. Cambridge, Mass. 1986.
gende Frage, die schon das Verhältnis von Univer- Habermas, Jürgen/Derrida, Jacques: Philosophie in Zeiten
salpragmatik und Dekonstruktion betroffen hatte, des Terrors. Hamburg 2006 (engl. 2003).
abermals aufwerfen müssen: Welche Natur haben Honneth, Axel: »Das Andere der Gerechtigkeit. Habermas
und die ethische Herausforderung der Postmoderne«.
die orientierenden ›Ideen‹ in beiden Fällen, und auf
In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 42 (1994), 195–
strukturellen Merkmalen welcher Art gründen un- 220.
sere Praktiken? Derrida hat auch in seinen späteren Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische
Schriften nicht aufgehört, die Infrastrukturen, die Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a. M.
unsere Praktiken fundieren sollen und ethische He- 1991.
rausforderungen implizieren, anders als Habermas –: Spiegelungen der Gleichheit. Politische Philosophie nach
Adorno und Derrida. Frankfurt a. M. 2004.
wesentlich aporetisch zu bestimmen. Und er hat den Passerin d’Entrèves, Maurizio/Benhabib, Seyla (Hg.): Ha-
größten Wert darauf gelegt, dass Figuren wie die der bermas and the Unfinished Project of Modernity. Critical
Gerechtigkeit, die Critchley mit einem Haber- Essays on »The Philosophical Discourse of Modernity«.
mas’schen Ausdruck »kontext-transzendierende Cambridge, UK 1996.
Idealisierungen« nennt, nicht als Ideal, regulative Rorty, Richard: »Habermas, Derrida, and the Functions of
Philosophy«. In: Revue International de Philosophie 4
Idee, Telos oder Horizont (Derrida 1991, 52 f.; 2003, (1995), 437–59.
183) verstanden werden können, sondern unsere Thomassen, Lasse (Hg.): The Derrida-Habermas Reader.
Praktiken auf eine andere, zugleich dringlichere und Edinburgh 2006 (dieser Band enthält zentrale Beiträge
108 II. Kontexte

der Debatte sowie eine Bibliographie mit weiterer Litera-


tur zur Konstellation Habermas-Derrida).
21. Poststrukturalismus
Wellmer, Albrecht: »Der Streit um die Wahrheit. Pragma-
tismus ohne regulative Ideen«. In: Ders.: Wie Worte Sinn
machen. Aufsätze zur Sprachphilosophie. Frankfurt a. M. Habermas’ kritische Auseinandersetzung mit post-
2007, 180–207. modernen Positionen und Theorien erregte in den
–: Zur Dialektik von Moderne und Postmoderne. Vernunft- 1980er und 1990er Jahren große Aufmerksamkeit.
kritik nach Adorno. Frankfurt a. M. 1985. Sie führte aber auch dazu, dass sich heute eine neue
Thomas Khurana Generation kritischer Theoretiker dazu aufgefordert
fühlt, Habermas’ strikte Entgegensetzung einer auf-
klärerischen Moderne und einer gegenaufkläreri-
schen Postmoderne auf den Prüfstand zu stellen. Die
Kritik, die Habermas an postmodernen Theorien
übt, geht Hand in Hand mit seiner entschiedenen
Verteidigung des normativen Gehalts der Moderne.
Am eindringlichsten sind diese beiden Aspekte in
seinen 1985 erschienenen Vorlesungen Der philoso-
phische Diskurs der Moderne (DM) formuliert. Wenn
man gelegentlich auch Zweifel an der Interpretation
einzelner Denker in diesem Buch hegen mag, ist des-
sen Grundthese doch nach wie vor zwingend. Ha-
bermas zufolge bleiben sowohl der philosophische
Diskurs der Moderne als auch seine Gegendiskurse
im Sumpf einer höchst problematischen Subjektphi-
losophie stecken, die es jedoch zu überwinden gilt,
wenn man das normative Potential der Moderne
verwirklichen will. Habermas’ Theorie des kommu-
nikativen Handelns bricht aus der Subjektphiloso-
phie aus und lässt uns so erkennen, wie sich das Ver-
sprechen einer aufgeklärten Moderne trotz der ver-
breiteten pathologischen Folgen kapitalistischer
Modernisierung erfüllen ließe. Warum nun ist Ha-
bermas so sehr darum bemüht, eine doppelte Bilanz
der charakteristischen Gewinne und Verluste der
Moderne ins Feld zu führen, um die Postmoderne in
ihre Schranken zu weisen? Zu Recht konstatiert er
den wachsenden Einfluss, den postmoderne Theo-
retiker seit Mitte der 1980er Jahre auf die Sozial- und
Politikwissenschaften ausüben, ein Trend, der sich
seitdem ungemindert fortgesetzt hat. Aus zwei
Gründen zeigt sich Habermas besorgt über diesen
Trend. Erstens befürchtet er, dass der Postmodernis-
mus wie schon die positivistischen Sozialwissen-
schaften, die er früher in seiner Laufbahn kritisiert
hatte, zu einem Wertskeptizismus führt, der die nor-
mative Gesellschaftskritik untergraben muss (vgl.
DE). Zweitens stellt sich ihm die Postmoderne
schlichtweg als verschleierte Gegenmoderne dar und
damit als eine neue Form von Konservatismus, die
sich als radikale Sozialkritik drapiert (vgl. MUP).
Der Terminus ›postmodern‹ kann sich auf ein
verwirrendes Spektrum an Denkern und Denkstilen
beziehen; am besten gebraucht man ihn vielleicht,
21. Poststrukturalismus 109

wie Habermas das tut, zur Bezeichnung einer breiten eine Gesellschaftsordnung überhaupt möglich ist,
intellektuellen Strömung. Die folgenden Ausführun- nachdem diese Möglichkeit zumindest einige
gen konzentrieren sich auf Habermas’ kritische Aus- nichtstrategische Interaktionsformen voraussetzt.
einandersetzung mit zwei Autoren, die dieser brei- Genauso wenig kann sie das Wechselverhältnis von
ten Strömung zuzurechnen sind: Michel Foucault Individuum und Gesellschaft erklären, da sie Indivi-
und Jacques Derrida. Foucault wird im Folgenden duen als durch disziplinierende Machtverhältnisse
als Hauptvertreter des Poststrukturalismus verstan- mechanisch gestanzte Einzelfälle versteht und nicht
den (wenngleich selbst dieses Etikett nicht unproble- als autonome Produkte eines Prozesses der Indivi-
matisch ist), während Derrida als wichtigster Expo- duation durch Vergesellschaftung.
nent der von ihm selbst so genannten Dekonstruk- Hinter diesen Einwänden gegen Foucault steht
tion behandelt wird. Die Konzentration auf diese der Vorwurf, dass dieser, wie vor ihm Nietzsche und
beiden Theoretiker ist nicht etwa darin begründet, Heidegger, nicht eine bestimmte, sondern eine totale
dass man sie als Repräsentanten der Gesamtheit des- oder abstrakte Negation des Projekts der Aufklärung
sen, was als ›postmodern‹ bezeichnet wird, betrach- betreibe. Habermas’ kritische Lektüre gilt Foucaults
ten könnte. Dieser Fokus ist vielmehr aus folgendem frühem und mittlerem Werk bis einschließlich des
doppelten Grund gerechtfertigt: Zum einen galt Ha- 1976 im Original und 1977 auf Deutsch veröffent-
bermas’ substantiellste kritische Beschäftigung mit lichten ersten Bands von Sexualität und Wahrheit.
der Postmoderne diesen beiden Autoren; zum ande- Foucaults späte Arbeiten über die ethischen Prakti-
ren haben sich diese Auseinandersetzungen als pro- ken des Selbst in Der Gebrauch der Lüste und Die
duktivste und inspirierendste Ausgangspunkte für Sorge um sich (Bd. 2 und 3 von Sexualität und Wahr-
die anschließenden Bemühungen kritischer Theore- heit) sowie seine späten Aufsätze über Kant und das
tiker erwiesen, Habermas’ Verhältnis zu seinen Projekt der Aufklärung, die zum Großteil erst nach
›postmodernen‹ Gesprächspartnern neu zu durch- Niederschrift der Vorlesungen erschienen, auf de-
denken. nen Der philosophische Diskurs der Moderne basiert,
Der Kern der Habermas’schen Kritik an Foucault werden dort nicht behandelt. Als Habermas auf ei-
findet sich in den beiden Vorlesungen, die dem fran- nige dieser Texte reagiert, sieht er Foucaults Be-
zösischen Kollegen im Philosophischen Diskurs der kenntnis zu einem bestimmten Verständnis der Kan-
Moderne gewidmet sind. Nachdem Habermas Fou- tischen Aufklärung als starken Widerspruch zu des-
caults Denkweg von dessen früher archäologischer sen früheren Arbeiten. In Habermas’ Augen war es
Phase bis zu den Genealogien von Macht-/Wissens- zudem der produktive, jedoch letztlich unauflösliche
beziehungen der mittleren Schaffensperiode nach- Widerspruch zwischen Foucaults Machtanalytik und
gezeichnet hat, bringt er drei zentrale Einwände ge- seiner Demaskierung des Willens zur Wahrheit, der
gen den späten Foucault vor, deren zweiter wiede- »Foucault, in diesem letzten seiner Texte, wiederum
rum in drei Teile untergliedert ist. Erstens kritisiert in den Bannkreis des philosophischen Diskurses der
Habermas Foucaults zweideutigen Machtbegriff, der Moderne, den er doch sprengen wollte, eingeholt
als empirische und transzendentale Kategorie zu- hat« (NU, 131).
gleich fungiert und in einen paradoxen kritischen Es ist jedoch möglich, gegen Habermas auch den
Positivismus mündet. Zweitens wirft Habermas der frühen und mittleren Foucault als einen Theoretiker
Foucault’schen Genealogie dreierlei Reduktionen zu lesen, der das Kantische Projekt der Aufklärung
vor: Sie reduziere Bedeutung auf Macht und verstri- von innen heraus transformieren will, indem er die
cke sich so in Präsentismus; sie reduziere Wahrheit historisch und gesellschaftlich besonderen, mithin
und Werte auf Macht und lande so unweigerlich im kontingenten Bedingungen der Möglichkeit von
Relativismus; und sie reduziere Normativität auf Subjektivität und Handlungsfähigkeit der späten
Macht und habe so am Ende nur einen problemati- westlichen Moderne erforscht (Allen 2008). So stellt
schen Kryptonormativismus anzubieten. Drittens Foucault selbst im Übrigen sein philosophisches
hat es die Foucault’sche Genealogie für Habermas Œuvre in Essays wie »Was ist Aufklärung?« dar.
»mit einem Gegenstandsbereich zu tun, aus dem die Diese Lesart erschwert Habermas’ Interpretation
Machttheorie alle Züge von kommunikativen, in le- von Foucault als einem antimodernen Jungkonser-
bensweltliche Kontexte eingelassenen Handlungen vativen, der aufbricht, um das Projekt der Aufklä-
getilgt hat« (DM, 336). Sie kann folglich nur mit ei- rung abstrakt zu negieren, nur um ungewollt wieder
ner in zweierlei Hinsicht unsoziologischen Analyse in dessen Bannkreis zu geraten, erheblich. Auch lässt
der Macht aufwarten: Sie kann nicht erklären, wie sich Habermas’ Darstellung der genealogischen Ana-
110 II. Kontexte

lyse des Subjekts als mechanisch gestanzter Einzel- umkehrt. Diese Operation macht rhetorischen Er-
fall bezweifeln (Allen 2008). Tatsächlich ist es beson- folg statt logischer Folgerichtigkeit zum Bewertungs-
ders wichtig, diese Interpretation in Frage zu stellen, kriterium der Vernunftkritik, so dass der Vorwurf
wenn man an Foucaults späte Arbeiten über die eines performativen Widerspruchs ins Leere zielt.
Praktiken des Selbst denkt, die ein Maß an Autono- Dieser Einwand steht in Zusammenhang mit dem,
mie und bewusster Selbsttransformation vorausset- was Habermas für Derridas allgemeine Stoßrichtung
zen, das unmöglich wäre, wenn Habermas mit sei- hält, nämlich den Gattungsunterschied zwischen
ner Interpretation von Foucaults mittlerer Schaffens- Philosophie und Literatur aufzulösen. Habermas
periode Recht hätte. Das vollständigere Bild von weist sowohl die Umkehrung des Primats der Logik
Foucaults Analyse des Selbst, das seine späten Schrif- vor der Rhetorik als auch die Einebnung des Gat-
ten erlauben, zeigt uns ein Selbst, das sich in Prakti- tungsunterschieds zwischen Philosophie und Litera-
ken der Selbstformung und Selbstdisziplinierung er- tur zurück. Im Gegenzug macht er sich für eine Ar-
geht, die freilich nicht außerhalb von Machtbezie- beitsteilung von Philosophie und Literaturkritik
hungen stattfinden. Wenngleich Foucault selbst stark, die anerkennt:
keine wirklich befriedigende Erklärung anzubieten »In ihren rhetorischen Leistungen sind Literaturkritik und
hatte, wie sich seine späten Arbeiten über selbstkon- Philosophie mit der Literatur – und insofern auch mitein-
stitutive ethische Praktiken mit seiner früheren Ge- ander – verschwistert. Aber darin erschöpft sich ihre Ver-
nealogie des normalisierten und disziplinierten Sub- wandtschaft. Denn die rhetorischen Mittel werden in bei-
jekts vereinbaren lassen, wirft die Existenz ersterer den Unternehmungen der Disziplin einer jeweils anderen
Argumentationsform untergeordnet« (DM, 245 f.).
doch Zweifel an Habermas’ Darstellung letzterer auf.
Auch ist es möglich, die Frage des normativen Stand- Derridas Tilgung des Unterschieds zwischen Litera-
punkts der Foucault’schen Kritik zu überdenken, in- tur und Philosophie steht für Habermas darüber
dem man eine implizite Norm der Freiheit in seinen hinaus in Zusammenhang mit der Einebnung des
Schriften freilegt (vgl. Oksala 2005). Habermas’ Vor- Unterschieds zwischen kommunikativem Sprachge-
wurf, Foucault reduziere Normativität auf Machtbe- brauch und fiktiver Rede. Fiktionen haben welter-
ziehungen, wird damit fragwürdig. Jede dieser Neu- schließende Kraft; sie leben von der spielerischen,
interpretationen erlaubt es, die allgemein akzeptierte poetischen Schöpfung neuer Welten durch sprachli-
Lesart der Foucault-Habermas-Debatte, der zufolge che Innovationen. Obwohl Habermas einräumt, dass
beide diametral entgegengesetzte Konzeptionen kri- derartige poetische Elemente auch in der alltäglichen
tischer Theorie vertreten, zu bestreiten (vgl. Hoy/ sprachlichen Kommunikation anzutreffen sind,
McCarthy 1994). Auf der Grundlage solcher Neuin- überwiegen sie dort jedoch nicht. Vielmehr ist die
terpretationen haben einige kritische Theoretiker in Sprache in den Kontexten alltäglicher Kommunika-
jüngster Zeit begonnen, Ansätze zu entwickeln, die tion durch die illokutionär bindende Kraft von Äu-
gleichermaßen von Habermas wie von Foucault in- ßerungen geprägt, die dazu dienen, soziale Interak-
spiriert sind (vgl. Allen 2008; Biebricher 2005; Saar tionen zu koordinieren. Für Habermas ist die poe-
2007). tische, welterschließende Funktion nicht die einzige
Habermas’ Einwände gegen Jacques Derridas De- und auch nicht die primäre Funktion von Sprache.
konstruktion kreisen wie seine Ablehnung der Sie für vorrangig zu erklären, wie es sowohl Derrida
Foucault’schen Genealogie um den Vorwurf einer als auch Heidegger täten, hieße zu ignorieren, wie
totalisierenden oder abstrakten Negation der aufklä- wir Sprache gebrauchen, um Probleme zu lösen und
rerischen Rationalität. Tatsächlich ist die Dekon- unsere Interaktionen zu koordinieren, indem wir ein
struktion für Habermas Derridas Antwort auf ein gemeinsames Verständnis von Sachverhalten in der
Problem, das sich eine totalisierende Selbstkritik der objektiven, intersubjektiven oder subjektiven Welt
Vernunft einhandelt. Weil diese Kritik nicht anders erzielen. Habermas zufolge läuft dies darauf hinaus,
kann, als sich der Werkzeuge der Vernunft zu bedie- das der sprachlichen Kommunikation innewoh-
nen, setzt sie sich dem Vorwurf des performativen nende rationale Potential zu leugnen. Folglich lässt
Widerspruchs aus; mit anderen Worten lässt sich die seiner Meinung nach Derridas Versuch, dem perfor-
totalisierende Vernunftkritik nur mithilfe genau je- mativen Widerspruch der totalisierenden Vernunft-
ner rationalen Mittel betreiben, die sie inhaltlich ab- kritik zu entgehen, indem er einen Vorrang der Rhe-
lehnt. In Habermas’ Augen versucht Derrida diesem torik vor der Logik und der Welterschließung vor der
Problem zu entgehen, indem er den gewohnten phi- Kommunikation behauptet, am Ende »die Klinge der
losophischen Vorrang der Logik vor der Rhetorik Vernunftkritik selber stumpf werden« (DM, 246).
21. Postmoderne und Poststrukturalismus 111

Getreu dem Muster seiner Kritik an Foucault baut in ihrem gemeinsam gezeichneten Aufruf zu euro-
auch Habermas’ Kritik an Derrida darauf auf, diesen päischer Solidarität angesichts des Irakkrieges deut-
als einen antimodernen, gegenaufklärerischen, anti- lich (Habermas/Derrida 2004).
kantischen Denker darzustellen, der die Vernunft Wenn sich Habermas, Foucault und Derrida glei-
zugunsten ihres rhetorischen und poetischen Ande- chermaßen auf produktive Weise so verstehen las-
ren verwirft. Doch wie Foucault lässt sich auch Der- sen, dass sie, wenn auch auf unterschiedlichen We-
rida als ein Philosoph verstehen, der die kritische gen, das Kantische Projekt der Aufklärung von in-
Philosophie Kants bewusst von innen heraus trans- nen heraus transformieren, dann stellen sich ihre
formiert und sich folglich in die Tradition der auf- Differenzen weniger als Kampf verschanzter philo-
klärerischen Moderne stellt, statt diese zu verwerfen. sophischer Lager denn als Familienstreitigkeit dar.
Nach dieser Lesart lautet Derridas Ziel nicht, Unter- Dieser Streit wird sich nur beilegen lassen, wenn wir
schiede zwischen Rhetorik und Logik oder Literatur nicht länger von dem Bild gefangen sind, das Haber-
und Philosophie einzuebnen. In den Worten von mas als modernen, aufklärerischen und fortschrittli-
Christopher Norris besteht es vielmehr darin, »be- chen Helden, Foucault und Derrida hingegen als an-
stimmte Kantische Antinomien […] bis an den timoderne, gegenaufklärerische jungkonservative
Punkt zu treiben, an dem sie nach einer vom Main- Schurken zeigt. Wo dieses Bild seine Macht verliert,
stream der philosophischen Tradition ungeahnten uns in Beschlag zu nehmen, werden produktive neue
Form von Analyse verlangen« (Norris in Passerin Visionen einer zugleich dekonstruktiv und rekon-
d’Entrèves/Benhabib 1997, 101), wobei insbeson- struktiv verfahrenden kritischen Theorie zum Vor-
dere Antinomien gemeint sind, die die Möglichkeit schein kommen.
sprachlicher Bedeutung und Repräsentation betref-
fen. Ein solches Verständnis zeichnet ein komple- Literatur
xeres Bild von Derrida als Habermas’ Porträt eines
Allen, Amy: The Politics of Our Selves: Power, Autonomy
antimodernen Jungkonservativen. Zusätzlich er- and Gender in Contemporary Critical Theory. New York
schwert wird Habermas’ Kritik durch den Umstand, 2008.
dass sie sich ausschließlich auf Derridas frühe Werk- Biebricher, Thomas: Selbstkritik der Moderne. Habermas
phase bis einschließlich seiner Auseinandersetzung und Foucault im Vergleich. Frankfurt a. M. 2005.
mit dem analytischen Sprachphilosophen John Borradori, Giovanna: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei
Gespräche: Jacques Derrida, Jürgen Habermas. Berlin/
Searle konzentriert, wie sie in dem Band Limited Inc. Wien 2004 (engl. 2003).
(2001) dokumentiert ist. Insofern konnte sie die ex- Derrida, Jacques: Gesetzeskraft. Der »mystische Grund der
plizite Hinwendung zu ethischen und politischen Autorität«. Frankfurt a. M. 1991 (engl. 1990).
Fragen, die Derrida seit den 1990er Jahren beschäf- –: »Die Gabe des Todes« [frz. 1992]. In: Anselm Haver-
tigten, noch nicht berücksichtigen. Dies ist bedauer- kamp (Hg.): Gewalt und Gerechtigkeit. Derrida – Benja-
min. Frankfurt a. M. 1994.
lich, insofern sich in diesen ethischen und politi-
–: Limited Inc. Wien 2001 (frz. 1990).
schen Arbeiten erheblich mehr Gemeinsamkeiten –: Schurken. Zwei Essays über die Vernunft. Frankfurt a. M.
zwischen Derrida und Habermas abzeichnen, als 2003 (frz. 2003).
Der philosophische Diskurs der Moderne vermuten Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des
lässt. In seinen explizit ethischen und politischen Gefängnisses. Frankfurt a. M. 1976 (frz. 1975).
–: Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum
Schriften stützt sich Derrida auf Emmanuel Lévinas,
Wissen. Frankfurt a. M. 1977 (frz. 1976).
um unsere unendliche ethische Verantwortung ge- –: Sexualität und Wahrheit. Zweiter Band: Der Gebrauch
genüber dem Anderen herauszuarbeiten (Derrida der Lüste. Frankfurt a. M. 1986 (frz. 1984).
1994); er arbeitet auf eine zukünftige Gerechtigkeit –: Sexualität und Wahrheit. Dritter Band: Die Sorge um
hin, die gleichermaßen unmöglich wie notwendig ist sich. Frankfurt a. M. 1986 (frz. 1984).
(Derrida 1991); und er begrüßt das Erbe einer inhä- –: »Was ist Aufklärung?« [engl. 1984]. In: Eva Erdmann/
Rainer Forst/Axel Honneth (Hg.): Ethos der Moderne.
rent offenen, anfechtbaren und selbstkritischen Foucaults Kritik der Aufklärung. Frankfurt a. M./New
Form von Demokratie (Derrida 2003). All diese Ent- York 1990.
wicklungen bedeuten eine Annäherung Derridas an Habermas, Jürgen/Derrida, Jacques: »Der 15. Februar oder:
Habermas’ zentrale Anliegen, die im Rahmen kriti- Was die Europäer verbindet«. In: GW 2004.
scher Theoriebildung genauer zu bedenken sich loh- Hoy, David/McCarthy, Thomas: Critical Theory. London
1994.
nen würde. Dass beide Philosophen sich wenn nicht Oksala, Johanna: Foucault on Freedom. Cambridge 2005.
dem Buchstaben, so doch dem Geist der kantischen Passerin d’Entrèves, Maurizio/Benhabib, Seyla (Hg.): Ha-
philosophischen Tradition verpflichtet fühlen, wird bermas and the Unfinished Project of Modernity: Critical
112 II. Kontexte

Essays on »The Philosophical Discourse of Modernity«.


Cambridge 1997.
22. Feministische Diskurse
Saar, Martin: Genealogie als Kritik. Geschichte und Theorie
des Subjekts nach Nietzsche und Foucault. Frankfurt a. M.
2007. Die feministische Theorie ist eine kritische Theorie.
Amy Allen (Übers. Michael Adrian) Sie strebt danach, Frauen aus Verhältnissen zu be-
freien, in denen sie entrechtet, unterdrückt und be-
nachteiligt werden. Zu diesem Zweck beschreibt und
kritisiert sie diese Zustände und schlägt emanzipato-
rische Alternativen vor. In jüngster Zeit haben Femi-
nistinnen im Werk von Jürgen Habermas nach Res-
sourcen für eine feministische Theorie Ausschau ge-
halten. Manche unter ihnen bemerken Habermas’
persönliches Eintreten für Gerechtigkeit gegenüber
Frauen (Fraser 1994, 18; Fleming 1997, 7; Johnson
2006, 156). Doch viele von ihnen sind der Ansicht,
dass in seinem Werk der Gender-Thematik (d. h. der
gesellschaftlich konstruierten Geschlechteridentität)
insgesamt zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt
wird, und sie stellen fest, dass dort keine entwickel-
ten Theorien gender-bedingter Unterdrückung und
gender-orientierter Gerechtigkeit zu finden sind. Es
wird diskutiert, ob seine Diskurstheorie der Demo-
kratie, der Moral und des Rechts dennoch dazu die-
nen könne, jene Zustände zu beleuchten, in denen
Frauen entrechtet, unterdrückt und benachteiligt
werden, und um zur Reflexion über emanzipatori-
sche Alternativen anzuleiten. Die feministische Lite-
ratur zu diesen Fragen ist sehr umfangreich. Auf-
grund seines beschränkten Umfanges können in die-
sem Beitrag nur die wichtigsten Probleme und einige
zentrale Texte angeführt werden.
Die feministischen Erwiderungen auf die Theorie
des Kommunikativen Handelns beschäftigen sich vor-
nehmlich damit, dass dort die gender-bedingte Un-
terdrückung in der Lebenswelt nicht beleuchtet wird.
Obschon die Theorie des Kommunikativen Handelns
den gesellschaftlich integrierten Charakter der Fami-
lie hervorhebt, schenkt sie der Tatsache kaum Auf-
merksamkeit, dass die Familie im Spätkapitalismus
durch Normen integriert wird, die repressive Gen-
der-Rollen vorschreiben; diese Rollenbilder setzen
sich bis in den öffentlichen Bereich, die Ökonomie
und den Staat hinein fort. Und während die Theorie
des Kommunikativen Handelns die Bedrohung einer
Kolonialisierung des Familienlebens durch das Sys-
tem hervorhebt, untersucht sie nicht, in welchem
Ausmaß Familien gemeinhin Orte eines gender-spe-
zifischen ökonomischen Austauschs »von Diensten,
Arbeit, Bargeld und Sex – und häufig Schauplätze
[der gender-spezifischen Ausbeutung], des Zwangs
und der Gewalt« sind (Fraser 1994, 183; vgl. Allen
2007, 99; Benhabib 1986, 252; Cohen 1995, 71).
22. Feministische Diskurse 113

Einige Feministinnen führen dieses Unvermögen, sierung, als eine defensive Reaktion gegen die Kolo-
den Gender-spezifischen repressiven Charakter der nialisierung der Lebenswelt, die darauf abzielt,
Lebenswelt hervorzuheben, auf das Machtverständ- partikulare Identitäten und Normen sowie alterna-
nis der Theorie des Kommunikativen Handelns zu- tive Werte zu bewahren (Allen 2007, 158; Benhabib
rück und behaupten, dass »Habermas über keine an- 1986, 252; Cohen 1995, 60 ff.). Manche Theoretike-
dere Theorie der in der modernen Lebenswelt wirk- rinnen behaupten, diese Einschätzung der Frauen-
samen Macht verfügt als denn jene von den bewegung stehe mit Habermas’ anfänglichem Ver-
Übergriffen des Systems« (Coole 1996, 240). Man- ständnis öffentlicher Deliberation in Strukturwandel
che stellen die These auf, dass Gender als eine eigene der Öffentlichkeit im Einklang. Während die Frauen-
Form der Macht verstanden werden sollte, die in der bewegung versucht, gesellschaftliche Ungleichheiten
Lebenswelt wirksam ist und weitreichenden Einfluss und deren Auswirkungen auf die öffentliche Delibe-
auf die Systeme besitzt (Allen 2007; Cohen 1995, 70; ration in der Öffentlichkeit zu thematisieren, macht
Fraser 1994, 184 f.). Sobald Gender als eine Form der die öffentliche Deliberation in Strukturwandel es er-
Macht erkannt ist, bleibt die Kolonialisierung durch forderlich, gesellschaftliche Ungleichheiten auszu-
das System weiterhin ein Thema: Sie kann repressive klammern. Während die Frauenbewegung versucht,
Gender-Normen verstärken (Fraser 1994, 204 f.) und die besonderen Bedürfnisse und Belange der Frauen
der Zivilgesellschaft jene Ressourcen entziehen, die öffentlich zu thematisieren, muss sich die öffentliche
für den Abbau dieser Repression erforderlich wären Deliberation in Strukturwandel auf verallgemeiner-
(Cohen 1995, 72). Dennoch kann die Verrechtli- bare Interessen fokussieren. Während die Frauenbe-
chung des Familienlebens emanzipatorische Wir- wegung versucht, Fragen öffentlich zu thematisie-
kungen zeitigen – man denke nur an den Schutz der ren, die herkömmlicherweise als privat angesehen
Rechte der Frauen in der Familie und an die materi- werden – die häusliche Arbeitsteilung, sexuelle Ge-
elle Unterstützung durch den Wohlfahrtsstaat (Fle- walt, die Gender-Identität – reproduziert der Struk-
ming 1997, 86). Daher ist aus feministischer Sicht turwandel eine traditionelle Unterscheidung von Öf-
die Entkolonialisierung der Lebenswelt bei weitem fentlichem und Privatem. Während die Frauenbewe-
keine adäquate Antwort auf die gender-spezifische gung ihre eigenen vielfältigen Gegenöffentlichkeiten
Unterdrückung (Fraser 1994, 205 ff.). Erforderlich entwickelt, ist die Öffentlichkeit in Strukturwandel
sind dagegen eine umfassendere Darstellung der eine einzige homogene solche. Und während die
Macht, eine differenziertere Darstellung der Ver- Frauenbewegung bestrebt ist, die Identitäten, Kör-
rechtlichung und eine Darstellung dessen, wie gen- per und rhetorischen Stile der Frauen in die Öffent-
der-spezifische repressive Normen der Lebenswelt lichkeiten einzubringen, akzeptiert der Strukturwan-
unterminiert werden können. del ganz unkritisch das Modell der europäisch-nord-
Auch wenn sie einräumen müssen, dass der Gen- amerikanischen Öffentlichkeit und ihre männliche
der-Problematik in der Theorie des Kommunikativen politische Subjektivität (Fraser 2001, 107–150; Dean
Handelns nur allzu geringe Aufmerksamkeit ge- 1996; Landes 1995, 98; Young 1990, 96–121).
schenkt wurde, heben einige Feministinnen Haber- Tatsächlich behaupten einige feministische Histo-
mas’ These hervor, dass die Moderne eine fortschrei- rikerinnen, die Moderne habe die Kategorie ›Gen-
tende Modernisierung der Lebenswelt verspreche der‹ keineswegs liquidiert, sondern habe gerade je-
(Benhabib 1995, 92; Cohen 1995, 58; Johnson 2006, nes Verständnis der Gender-Differenz als einer Hier-
155). Die Frauenbewegung stellt eine Form demo- archie aufgebracht, gegen das wir heute ankämpfen
kratischer Praxis dar: Sie weitet die Zugangsmög- (Coole 1996, 242; vgl. auch Klinger 2000). Dieser
lichkeiten zu diskursiven Ressourcen aus, sie thema- Auffassung zufolge sind Männer für das Engagement
tisiert und kritisiert öffentlich repressive lebenswelt- in einer öffentlichen Sphäre geeignet, in dem die
liche Normen und sie bringt neben neuen, Forderung nach Freiheit und Gleichheit der Bürger
nichtpatriarchalen Normen zugleich auch die Verei- eingelöst wird, während Frauen von Natur aus einen
nigungen hervor, die zur Durchsetzung solcher Nor- privaten Bereich der Abhängigkeit, der Intimität und
men in den Systemen nötig sind; daher »kulminiert der Familie bewohnen (Maihofer 1990, 354). Daher
in der zeitgenössischen Frauenbewegung die Logik können Frauen in den öffentlichen Bereich nicht als
der Moderne« (Benhabib 1995, 126). Frauen einbezogen werden, sondern nur in dem
Sicherlich beschreibt die Theorie des Kommunika- Maße, in dem sie sich einem Standard männlicher
tiven Handelns die Frauenbewegung zu großen Tei- politischer Subjektivität anpassen. Die Alternative –
len als einen Ausdruck des Scheiterns der Moderni- das Bestreben, dort als Frauen einbezogen zu wer-
114 II. Kontexte

den – läuft Gefahr, ein hierarchisierendes Verständ- nigt sei (Dean 1996). Wenn die Macht des Gender
nis der Gender-Differenz zu verfestigen. Um dieses von Anfang an gegeben ist – da das Gendering dem
»Dilemma der Differenz« (Minow 1990) zu umge- Diskurs vorausgeht –, dürfen wir nicht erwarten,
hen, weisen einige Feministinnen darauf hin, dass dass der öffentliche Diskurs als ›Gegenmittel‹ gegen
ein grundlegend anderes Verständnis des Bürgersta- das Gender wirkt (Allen 2000, 56). Eine wirklich
tus und der Demokratie notwendig sei (Landes 1995, emanzipatorische feministische Politik wird auch
307). Wenn dieses Verständnis das Dilemma der eine Politik des Selbst umfassen; diese leitet sich aus
Differenz umschiffen soll, muss es eine nicht-hierar- einer umfassenden Darstellung der Macht her, die
chische Gender-Differenz zulassen (Maihofer 1990, erklärt, wie Gender erworben wird und wie es funk-
352). tioniert (Allen 2007, 19).
Manche Theoretikerinnen lassen sich in ihren Be- Habermas widmet dem Dilemma der Differenz in
mühungen um eine begriffliche Neufassung des Bür- Faktizität und Geltung große Aufmerksamkeit (FG,
gerstatus von der Habermas’schen Diskursethik in- 513). Er beschreibt es als ein Versagen der Demokra-
spirieren (Benhabib 1995, 16; Fraser 1994, 281; Fra- tie und versteht die Bemühungen der Frauenbewe-
ser 2001, 128; Young 1990, 34). Praktische Diskurse gung um eine Lösung als »eine praktische Aneig-
beziehen alle von einer Norm möglicherweise Be- nung der kritischen Normativität, die in der libera-
troffenen ein, und sie »öffnen einem die Augen für len Demokratie schlummert« (Johnson 2006, 156).
die ›Differenz‹, d. h. für die Besonderheit und die Nach Habermas’ Auffassung wird sich das Dilemma
unhintergehbare Andersheit des alter ego« (Haber- der Differenz immer dann ergeben, wenn die von ei-
mas 1990, 112). Manche Autorinnen stellen die ner Norm Betroffenen nicht in sinnvoller Weise an
These auf, dass der praktische Diskurs es ermögli- der öffentlichen Deliberation teilnehmen können,
che, die Differenz, die gesellschaftliche Ungleichheit »weil nur die Betroffenen selbst die jeweils ›relevan-
und die zur Unterminierung maskuliner Standards ten Hinsichten‹ von Gleichheit und Ungleichheit
erforderliche Macht zu thematisieren. Tatsächlich klären können« (FG, 506). Demokratische Partizipa-
geht – so das Argument – die Unterscheidung von tion schützt vor einer Verrechtlichung, die repressive
Öffentlichem und Privatem dem Diskurs nicht vor- und benachteiligende Identitätskonstruktionen be-
aus, sondern wird erst in seinem Verlauf ermittelt kräftigt und durchsetzt, und sie fördert die persönli-
(Benhabib 1995, 126 f.). che und politische Autonomie der Frauen (Cohen
Manche Autorinnen weisen aber Habermas’ Be- 1995, 74; vgl. auch Benhabib 1995, 129 f.). In Faktizi-
hauptung zurück, dass das Ziel des Diskurses im tät und Geltung wird anerkannt, dass die Unterschei-
Konsens über das Gemeinwohl liegen solle; denn ih- dung von Öffentlichem und Privatem im Diskurs zu
rer Auffassung nach trägt eine solche Zielsetzung ermitteln ist; Habermas erklärt dazu, dass »die Gren-
dazu bei, die Differenzen zu verschleiern. Das Ziel zen der privaten Autonomie so [zu] ziehen [sind],
sollte vielmehr darin bestehen, die Differenz selbst daß diese die Privatleute für ihre Rolle als Staatsbür-
zu thematisieren und den Dialog in Gang zu halten ger hinreichend qualifiziert« (FG, 503). Nach Fakti-
(Benhabib 1995, 52). Eine auf die Thematisierung zität und Geltung umfasst die öffentliche Delibera-
der Differenz ausgerichtete Öffentlichkeit lässt sich tion die Aktivitäten diverser Öffentlichkeiten wie
am besten als eine »heterogene« (Young 1990, 116 ff.) etwa der feministischen und alternativen Öffentlich-
und plurale begreifen; sie umfasst eine Vielfalt von keiten (FG, 373, 452), die sich mit der Klärung von
Öffentlichkeiten und »Gegenöffentlichkeiten« (Fra- Bedürfnissen, Identitäten und Machtverhältnissen
ser 2001, 129 ff.). Einige Autorinnen vertreten die befassen (Johnson 2006, 156).
Auffassung, dass die öffentliche Deliberation nicht Faktizität und Geltung enthält aber keine detail-
die rationale Argumentation privilegieren dürfe, lierte Beschreibung, wie die gender-spezifische Ex-
sondern auch andere – von der Frauenbewegung ge- klusion in der öffentlichen Deliberation derzeit ab-
nutzte – Formen des Diskurses zulassen müsse, wie läuft. Es werden hier weder spezielle gender-bezo-
z. B. das Geschichtenerzählen und rhetorische, ex- gene repressive Normen kritisiert, noch werden
pressive und »verkörperte Aspekte des Sprechens« emanzipatorische Alternativen aufgezeigt (FG, 515).
(Young 1990, 118; vgl. auch Lara 1998; vgl. Benhabib In einer habermasianischen Sicht sind dies allein die
1996, 83; Johnson 2006, 160 ff.). Aufgaben eines stets unabgeschlossenen und falli-
Andere Theoretikerinnen halten dagegen, dass blen öffentlichen Diskurses sowie eines advokatori-
selbst eine solche begrifflich neugefasste öffentliche schen Diskurses in der Art jenes Diskurses, den die
Deliberation nicht von jeder Form der Macht gerei- Feministinnen beisteuern. Doch insofern die Dis-
22. Feministische Diskurse 115

kurstheorie nahelegt, dass die gesellschaftliche Ord- Fraser, Nancy: Widerspenstige Praktiken: Macht, Diskurs,
nung nur dann zu legitimieren ist, wenn ihre Adres- Geschlecht. Frankfurt a. M. 1994 (engl. 1989).
–: Die halbierte Gerechtigkeit: Schlüsselbegriffe des postin-
saten zugleich ihre Autoren sind, behaupten einige
dustriellen Sozialstaats. Frankfurt a. M. 2001 (engl.
Theoretikerinnen, die Diskurstheorie stelle eine nor- 1997).
mative Grundlage für eine feministische Politik be- Habermas, Jürgen/Nielsen, Torben Hviid: »Jürgen Haber-
reit, die sich der Inklusion der Frauen und der fort- mas: Morality, Society and Ethics. An Interview with
schreitenden Demokratisierung der Gesellschaft Torben Hviid Nielsen«. In: Acta Sociologica 33, 2 (1990),
widmet. (Viele Autorinnen sind der Ansicht, dass fe- 93–114.
Johnson, Pauline: Habermas: Rescuing the Public Sphere.
ministische Politik einer normativen Grundlegung New York 2006.
bedürfe, vgl. Allen 2000, 59; Benhabib 1995, 16; Klinger, Claudia: »Feministische Philosophie als Dekon-
Klinger 1998, 245; Pauer-Studer 1993, 43; zur Kritik struktion und Kritische Theorie«. In: Gudrun-Axeli
daran vgl. Butler 1993). Während also Habermas’ Knapp (Hg.): Kurskorrekturen: Feminismus zwischen
Diskurstheorie nicht genau erklären dürfte, wie die Kritischer Theorie und Postmoderne. Frankfurt a. M.
1998, 242–256.
Exklusion tatsächlich funktioniert oder welche Nor- –: »Die Ordnung der Geschlechter und die Ambivalenz der
men legitim sind und welche nicht, kann sie jedoch Moderne«. In: Sybille Becker et al. (Hg.): Das Geschlecht
erklären, warum die Exklusion der Frauen unzuläs- der Zukunft: Frauenemanzipation und Geschlechterviel-
sig ist, und sie motiviert bei der Suche nach Inklusi- falt. Stuttgart 2000, 29–63.
onsstrategien. Landes, Joan: »The Public and the Private Sphere: A Femi-
nist Reconstruction«. In: Johanna Meehan (Hg.): Femi-
nists Read Habermas: Gendering the Subject of Discourse.
Literatur New York 1995.
Lara, María Pía: Moral Textures: Feminist Narratives in the
Allen, Amy: »Reconstruction or Deconstruction: A Reply Public Sphere. Berkeley 1998.
to Johanna Meehan«. In: Philosophy and Social Criticism Maihofer, Andrea: »Gleichheit nur für Gleiche?« In: Ute
26, 3 (2000), 53–60. Gerhard et al. (Hg.): Differenz und Gleichheit: Menschen-
–: The Politics of Our Selves: Power, Autonomy and Gender rechte haben (k)ein Geschlecht. Frankfurt a. M. 1990.
in Contemporary Critical Theory. New York 2007. Minow, Martha: Making all the Difference: Inclusion, Exclu-
Benhabib, Seyla: Critique, Norm, and Utopia: A Study of the sion and the American Law. Ithaca, NY 1990.
Foundations of Critical Theory. New York 1986 (eine ge- Pauer-Studer, Herlinde: »Moraltheorie und Geschlechter-
kürzte und überarbeitete Fassung in dt. Übers. unter differenz: Feministische Ethik im Kontext aktueller Fra-
dem Titel Kritik, Norm und Utopie: die normativen gestellungen«. In: Herta Nagl-Docekal/Dies. (Hg.): Jen-
Grundlagen der Kritischen Theorie. Frankfurt a. M. seits der Geschlechtermoral: Beiträge zur feministischen
1992). Ethik. Frankfurt a. M. 1993, 33–68.
–: Selbst im Kontext: kommunikative Ethik im Spannungs- Young, Iris Marion: Justice and the Politics of Difference.
feld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmo- Princeton 1990.
derne. Frankfurt a. M. 1995 (engl. 1992). Amy R. Baehr (Übers. Nikolaus Gramm)
–: »Toward a Deliberative Model of Democratic Legiti-
macy«. In: Dies. et al. (Hg.): Democracy and Difference:
Contesting the Boundaries of the Political. Princeton
1996.
Butler, Judith: »Kontingente Grundlagen: Der Feminismus
und die Frage der Postmoderne«. In: Seyla Benhabib et
al. (Hg.): Der Streit um Differenz: Feminismus und Post-
moderne in der Gegenwart. Frankfurt a. M. 1993.
Cohen, Jean: »Critical Social Theory and Feminist Cri-
tiques: The Debate with Jürgen Habermas«. In: Johanna
Meehan (Hg.): Feminists Read Habermas: Gendering the
Subject of Discourse. New York 1995.
Coole, Diana: »Habermas and the Question of Alterity«. In:
Maurizio Passerin d’Entrèves/Seyla Benhabib (Hg.): Ha-
bermas and the Unfinished Project of Modernity: Critical
Essays on the Philosophical Discourse of Modernity. Cam-
bridge 1996, 221–244.
Dean, Jodi: »Civil Society: Beyond the Public Sphere«. In:
David M. Rasmussen (Hg.): The Handbook of Critical
Theory. Oxford 1996.
Fleming, Marie: Emancipation and Illusion: Rationality and
Gender in Habermas’s Theory of Modernity. University
Park, PA 1997.
116 II. Kontexte

23. Neopragmatismus ›zu detranszendentalisieren‹ (den Ausdruck ›prag-


matisch‹ übernahm Peirce von Kant). Für Rorty je-
doch beginnt der Pragmatismus mit William James
Seit über fünfzig Jahren lässt sich Habermas von den und John Dewey, die beide Kant und die kantiani-
klassischen amerikanischen Pragmatisten, insbeson- schen Elemente in Peirces Philosophie verwerfen.
dere von Charles S. Peirce, John Dewey und George Für Rortys pragmatistischen Kollegen Hilary Put-
Herbert Mead, inspirieren und grundlegend beein- nam hingegen ist Kant der große Held. Putnam ver-
flussen. Er hat viele der wichtigsten Anliegen dieser sucht zu zeigen, dass der pragmatistische Beitrag
Denker aufgenommen, rekonstruiert und in sein ei- zum Verständnis von Forschung, Überzeugungen
genes umfassendes philosophisches Programm ein- und Wissen in Variationen Kantischer Themen be-
gebaut: eine radikale Kritik des Cartesianismus und steht. In dieser Hinsicht sind sich Putnam und Ha-
der Bewusstseinsphilosophie; den Vorrang sozialer bermas sehr nahe. Wir können die Hauptmerkmale
Praktiken und sozialen Handelns für das Verständ- von Habermas’ kantischem Pragmatismus umrei-
nis des alltäglichen Lebens (der Lebenswelt); einen ßen, indem wir uns anschauen, was er an Rorty, Put-
kompromisslosen Fallibilismus sowohl auf der Ebene nam und Brandom gutheißt und was er ablehnt.
des Weltwissens als auch auf der Ebene moralischer
Argumentation; die Ausarbeitung einer intersubjek- Richard Rorty: Am schärfsten grenzt sich Habermas
tiv-dialogischen Konzeption von Handeln und Rati- von Rortys neopragmatischem Kontextualismus ab.
onalität; und schließlich ein Engagement für eine ra- Zwar sympathisiert er mit Rortys Kritik am erkennt-
dikale Demokratie, die auf Teilhabe, Gleichheit und nistheoretischen Fundamentalismus und seinem Be-
wechselseitiger Kompromissbereitschaft von Staats- harren darauf, dass die linguistische Wende die phi-
bürgern beruht. Darüber hinaus weiß er sich mit den losophischen Problemstellungen transformiert hat:
klassischen Pragmatisten in seiner naturalistischen Wir können begriffliches Wissen keinesfalls unab-
Grundhaltung einig. Menschliche Lebewesen verfü- hängig davon verstehen, wie Begriffe sprachlich
gen über eine biologische Ausstattung und eine kul- funktionieren. Habermas ist ebenfalls mit Rortys
turelle Lebensform, die beide natürlichen Ursprungs Kritik an erkenntnistheoretischen und semantischen
und zumindest prinzipiell evolutionstheoretisch er- Formen des ›Repräsentationalismus‹ einverstanden,
klärbar sind. Dies ist ein Naturalismus, der die evo- insofern diese Wissen und Sprache als einen ›Spiegel
lutionäre Entwicklung berücksichtigt und menschli- der Natur‹ behandeln. Gegen Rortys Kontextualis-
che Lernprozesse als nahtlose Fortführung früherer mus allerdings bezieht Habermas vehement Stellung.
evolutionärer Lernprozesse versteht. Habermas Rorty, glaubt er, kann dem performativen Wider-
nennt ihn einen ›schwachen Naturalismus‹, doch spruch eines sich selbst widerlegenden Relativismus
wäre ›robuster Naturalismus‹ vielleicht die treffen- nicht entgehen. Habermas wendet sich gegen Rortys
dere Bezeichnung für eine Position, die sich den ver- Versuch, die Ideen von einer kontextunabhängigen
schiedenen Spielarten des reduktionistischen Natura- unbedingten Wahrheitsgeltung, von Objektivität,
lismus widersetzt. In den vergangenen Jahrzehnten universellen Geltungsansprüchen sowie der Rolle
hat Habermas lebhafte Debatten mit Richard Rorty, der Argumentation in Auseinandersetzungen über
Hilary Putnam und Robert Brandom geführt, Philo- moralische Normen beiseite zu wischen oder zu tri-
sophen, die ihrem eigenen Verständnis nach in der vialisieren. Im Gegenzug verteidigt er universelle
Tradition des Pragmatismus stehen. Heute charakte- Geltungsansprüche in kommunikativen Interaktio-
risiert Habermas sich selbst als einen ›Kantischen nen als unvermeidlich. Obwohl Habermas danach
Pragmatisten‹, eine Position, die er im Meinungs- strebt, Kant auf pragmatische Weise zu detranszen-
austausch mit Rorty, Putnam und Brandom revidiert dentalisieren, verteidigt er doch, was für ihn das
und weiterentwickelt hat. Herzstück des transzendentalen Projekts bildet – die
Seit ihren Anfangstagen war die pragmatistische Suche nach den präsumtiv universellen unvermeid-
Bewegung streitbar und in zahlreiche Diskussionen lichen Bedingungen, die in unseren kommunikati-
verwickelt. Die Unstimmigkeiten, die zwischen zeit- ven Interaktionen erfüllt sein müssen. Man kann
genössischen Pragmatisten herrschen, sind nicht eine entscheidende Differenz zwischen Habermas
weniger gravierend und zugespitzt als die der klassi- und Rorty auch daran festmachen, wie radikal ver-
schen amerikanischen Ahnherren dieser Tradition. schieden beide auf ›realistische Intuitionen‹ reagie-
Peirce begann seine philosophische Laufbahn mit ren. Habermas versucht diese Intuitionen mit dem
dem Versuch, Kant – mit Habermas gesprochen – Nachweis zu rechtfertigen, dass wir die Existenz ei-
23. Neopragmatismus 117

ner objektiven, von uns unabhängigen Welt – einer schen Einsicht zu vereinbaren ist, daß uns ein direk-
Welt, die für alle menschlichen Lebewesen dieselbe ter, sprachlich unvermittelter Zugriff auf die ›nackte‹
ist und die einschränkt, was wir wissen können – vo- Realität versagt ist« (WR, 8). Zur Beantwortung die-
raussetzen müssen. Rorty hingegen empfiehlt, derlei ser Frage entwickelt Habermas eine pragmatische
›realistische Intuitionen‹ einfach abzuschütteln. Wir Wahrheitstheorie, die Wahrheit als ›rechtfertigungs-
haben ›die Welt verloren‹, lässt er uns wissen, und transzendenten Begriff‹ ausweist. ›Wahrheit‹ bezieht
ein ›Jenseits dessen‹, verschiedene Vokabulare – ver- sich auf Bedingungen, die in der Wirklichkeit selbst
schiedene Beschreibungen und Neubeschreibungen gegeben sein müssen. Diese revidierte Wahrheits-
– gegeneinander auszuspielen, ist uns nicht erreich- theorie bedeutet eine Rückwendung zum klassischen
bar. Die einzigen Einschränkungen, denen wir dabei pragmatistischen Kontext der alltäglichen lebens-
unterlägen, seien solche, die sich aus der Konversa- weltlichen Handlungen und Praktiken.
tion mit unseren Mitmenschen ergeben. Was die Der Pragmatismus macht uns bewusst, dass wir
Ebene der Rechtfertigung betrifft, könnten wir uns in unseren alltäglichen Praktiken Wahrheitsansprü-
allein auf die Standards und Kriterien berufen, die che grundsätzlich nicht in der Schwebe lassen
die jeweilige Peer group akzeptiert. In diesem Sinne können. Unsere alltäglichen Routinen und Kommu-
ist Rechtfertigung für Rorty ein ›soziologisches‹ Ge- nikationen funktionieren auf der Grundlage von
schäft. Er gesteht einen ›warnenden‹ Gebrauch des Verhaltensgewissheiten, die für uns Selbstverständ-
Ausdrucks ›wahr‹ zu, meint damit aber nicht mehr lichkeiten sind. Wenn diese Verhaltensgewissheiten
als den Ausdruck unserer Bereitschaft, unsere An- jedoch enttäuscht werden oder wir auf Widerstände
sichten an veränderte Umstände anzupassen. Dieser stoßen, werden unsere praktischen Gewissheiten
warnende Gebrauch von ›wahr‹ erinnert uns daran, problematisch. Was wir für selbstverständlich hiel-
dass es noch unseren besten Rechtfertigungen miss- ten, können wir nicht mehr ›naiv‹ gelten lassen. Wir
lingen kann, die Adressaten zu überzeugen, an die gehen vom Handeln zum Diskurs über. Bei diesem
wir uns wenden. Für Rorty kann sich also die Situa- Übergang wird das, was ursprünglich als praktische
tion einstellen, dass wir uns neue Rechtfertigungen Gewissheit galt, nunmehr zum Problem; wir müssen
für ein neues Publikum ausdenken müssen. Dies sei überprüfen, ob es wahr ist, indem wir Gründe an-
in der Vergangenheit oft genug der Fall gewesen, führen – indem wir argumentieren. Wahrheit lässt
und es gebe keinen Grund zu glauben, dass sich da- sich weder allein mit Bezug auf die praktischen Ge-
ran in Zukunft etwas ändern sollte. wissheiten unseres alltäglichen Handelns noch allein
Obwohl Habermas Rorty scharf kritisiert hat, bot mit Bezug auf die argumentativen Prozeduren des
ihm der lebhafte Austausch mit dem amerikanischen Diskurses erklären: Habermas’ pragmatische Wahr-
Kollegen doch auch Anlass, seine eigene pragmati- heitskonzeption ist ›janusgesichtig‹, wobei die eine
sche Wahrheitstheorie zu überdenken und zu revi- Seite dem lebensweltlichen Handeln, bei dem wir auf
dieren. Habermas räumt heute ein, dass eine episte- praktische Gewissheiten vertrauen, und die andere
mische diskurstheoretische Wahrheitstheorie nicht dem Diskurs, in dem die Argumentation Vorrang
hinreicht, um den Charakter der ›unbedingten Wahr- genießt, zugewandt ist. Diese Konzeption erlaubt
heitsgeltung‹ zu erklären. Man kann die Bedeutung uns, die formalpragmatische Annahme verständlich
von Wahrheit nicht aus jener ausschließlich epistemi- zu machen, dass es eine objektive, von uns unabhän-
schen Perspektive beschreiben, aus der wir die for- gige Welt gibt, über die wir wahre Behauptungen
malpragmatischen idealen Bedingungen spezifizie- aufstellen können. Der in der Lebenswelt des Han-
ren, unter denen wir Behauptungen mit Wahrheits- delns implizierte nichtepistemische Wahrheitsbe-
anspruch rechtfertigen. Einmal abgesehen von der griff bietet einen rechtfertigungstranszendenten Be-
Schwierigkeit, was genau unter ›idealen Bedingun- zugspunkt für diskursiv thematisierte Wahrheitsan-
gen‹ zu verstehen ist, kann sich auch eine unter ›ide- sprüche. Das Ziel derartiger Rechtfertigungen
alen Bedingungen‹ entstandene Rechtfertigung als besteht darin, eine Wahrheit zu entdecken, die über
falsch herausstellen. Und Wahrheit ist für Habermas alle Rechtfertigungen hinausgeht. Sobald unsere
eine ›unverlierbare Eigenschaft‹ von Aussagen. Im naiv akzeptierten Überzeugungen darüber, was wahr
Unterschied zur Rechtfertigung ist Wahrheit unbe- ist, problematisiert werden, treten wir in einen argu-
dingt. Die Frage, die Habermas zu beantworten ver- mentativen Diskurs ein, um sie zu rechtfertigen.
sucht, lautet somit, »wie die Annahme einer von Wahrheit ist unbedingt, doch unsere Behauptungen
unseren Beschreibungen unabhängigen, für alle Be- darüber, was wahr ist, sind prinzipiell immer be-
obachter identischen Welt mit der sprachphilosophi- dingt und fallibel. Habermas’ neue pragmatische
118 II. Kontexte

Wahrheitstheorie stellt eine Verbindung zwischen Wissen über diese Normen ist selbstverständlich fal-
der Lebenswelt alltäglicher Handlungen mit ihren libel und von Lernprozessen abhängig, die sich mit
praktischen Gewissheiten und dem Diskurs her, in der Zeit entfalten. Die Behauptung jedoch, dass es
dem man sich auf gute Gründe berufen und argu- solche verpflichtenden unbedingten moralischen
mentieren muss. Normen gibt, ist grundlegend für Habermas. ›Ethik‹,
wie Habermas den Begriff gebraucht, ist partikula-
Hilary Putnam: In der Frage des erkenntnistheoreti- ristisch und kontextabhängig. Die Ethik bezieht sich
schen Realismus stimmt Habermas grundsätzlich auf jene Werte und Vorstellungen vom guten Leben,
mit Hilary Putnam überein. Er stützt sich auf Put- die ein zentrales Element meiner persönlichen Auf-
nams Analysen des ›internen Realismus‹ und der fassungen bzw. der Auffassungen der Gruppen sind,
Referenz, um seine eigene Version eines pragmati- mit denen ich mich identifiziere. Die Ethik orientiert
schen Realismus zu erläutern. Auch mit Putnams sich stets an der ersten Person Singular oder Plural –
Kritik an Rortys Kontextualismus ist Habermas ein- an meiner oder unserer ethischen Orientierung. Es
verstanden. Wenn es darum geht, den Realismus ge- gibt eine Vielzahl von Vorstellungen vom ›guten Le-
gen Rorty zu verteidigen, sind Putnam und Haber- ben‹, doch nur eine universelle Moral. Der Wert ei-
mas Verbündete. Putnams interner Realismus lehrt ner moralischen Norm kann allein durch alle in ih-
uns, wie wir die Annahme, dass eine von unseren rer Rolle als Teilnehmer eines praktischen morali-
Beschreibungen unabhängige Welt existiert, mit der schen Diskurses Betroffenen gerechtfertigt werden.
durch die linguistische Wende gewonnenen Ein- Im Unterschied zu theoretischen Urteilen, die unter
sicht, keinen sprachlich unvermittelten Zugang zu Berufung auf eine objektive, von uns unabhängige
einer ›nackten‹ Realität zu haben, versöhnen kön- Welt gerechtfertigt werden, können praktische mo-
nen. Putnams epistemologischer Realismus zeigt ralische Urteile nur dadurch gerechtfertigt werden,
uns, wie wir Rortys Kontextualismus vermeiden und dass die Teilnehmer eines praktischen Diskurses ih-
›transzendieren‹ können. Aus all diesen Gründen nen zustimmen. Kurz gesagt: Habermas möchte ei-
betrachtet Habermas Putnam als einen Bundesge- nen epistemologischen Realismus mit einem morali-
nossen in Sachen Kantischer Pragmatismus. Doch schen Konstruktivismus kombinieren. Moralischen
herrscht erhebliche Uneinigkeit zwischen beiden Realismus lehnt er ab.
Philosophen, was die Unterscheidung zwischen Putnam bestreitet dieses ganze für Habermas so
theoretischer und praktischer Vernunft, Ethik und entscheidende Ensemble von Unterscheidungen. Er
Moral, Werten und Normen angeht. Für Habermas, glaubt nicht an einen klaren Unterschied zwischen
der sich hier Kant anschließt, besteht ein starker Un- Moral und Ethik; Werte und Tatsachen sind in sei-
terschied zwischen theoretischer und praktischer nen Augen in allen Bereichen miteinander verwo-
Vernunft. Die theoretische Vernunft hat es vor- ben; und er meint, dass wir auf die gleiche Weise von
nehmlich mit Wahrheit zu tun, während es bei der moralischen Wahrheiten und moralischer Objekti-
praktischen (moralischen) Vernunft in erster Linie vität sprechen können, wie wir über Wahrheit und
um Richtigkeit geht. In seiner Theorie des kommuni- Objektivität in der wissenschaftlichen Forschung
kativen Handelns unterscheidet Habermas drei Ar- sprechen. Folglich lehnt er eine strikte Trennung
ten von Geltungsansprüchen – Wahrheit, Richtigkeit zwischen theoretischer und praktischer Vernunft ab.
und Wahrhaftigkeit. Diese unterschiedlichen Gel- Wo also Habermas (im Geiste Kants) eine Reihe kla-
tungsansprüche dürften wir nicht verwechseln, die rer Unterscheidungen vornimmt, vermag Putnam
Unterschiede zwischen ihnen nicht verwischen. Die (im Geiste Deweys) nur graduelle Unterschiede zu
Art von Geltung, um die es uns zu tun ist, wenn wir erkennen. Für Habermas wäre Putnam ein konse-
die objektive Welt erkennen wollen (Wahrheit), ist quenterer Kantischer Pragmatist, wenn er Kants de-
nicht dieselbe wie die Geltung, die wir zu erlangen ontologische Einsichten über Moral durchgängig
hoffen, wenn wir universelle moralische Normen zu würdigen und die Gefahr erkennen würde, die in der
rechtfertigen versuchen (Richtigkeit). In seiner ›Ontologisierung‹ unseres moralischen Wissens
Diskursethik, die man vielleicht besser als Diskurs- liegt. Wohl gesteht Habermas zu, dass es sinnvoll ist,
theorie der Moral bezeichnen sollte, unterscheidet auch im Zusammenhang moralischer Diskurse von
Habermas scharf zwischen Moral und Ethik. Die ›Wahrheit‹ und ›Objektivität‹ zu sprechen, doch
Moral oder genauer, der praktische moralische Dis- müssten wir begreifen, dass ›Wahrheit‹ und ›Objek-
kurs, hat es mit universellen moralischen Normen tivität‹ in theoretischen und praktisch-moralischen
zu tun, die verbindliche Kraft für uns haben. Unser Diskursen sehr unterschiedliche Rollen spielen. Wir
23. Neopragmatismus 119

müssten der Versuchung widerstehen, moralisches und handlungsfähiger Subjekte ihren Ausdruck fin-
Wissen zu ›ontologisieren‹. Habermas sieht eine den, überzeugend zu beschreiben. Folglich leistet
grundsätzliche Spannung in Putnams Version des Brandom in seinen Augen einen bedeutenden Bei-
Pragmatismus und seinem ›Verwischen‹ des Unter- trag dazu, einen starken Pragmatismus zu formulie-
schieds zwischen Normen und Werten – eine Span- ren und zu verteidigen – einen Pragmatismus, der
nung, die aus der Art und Weise herrührt, wie Put- auf innovative Weise eine normative Formalpragma-
nam den epistemologischen Realismus mit einer tik mit einer inferentiellen Semantik verbindet. Was
aristotelisch-deweyschen Auffassung von Ethik und Habermas jedoch beunruhigt, ist Brandoms Neohe-
eudaimonia – dem menschlichen Wohlergehen – gelianismus. »Am Ende kann Brandom freilich er-
verbinden möchte. Um ein konsequenterer Kanti- kenntnisrealistischen Intuitionen nur um den Preis
scher Pragmatist zu sein, sollte sich Putnam Haber- eines Begriffsrealismus gerecht werden, der die
mas zufolge stärker auf einen anderen Pragmatisten, Schwelle zwischen intersubjektiv geteilter Lebens-
George Herbert Mead, als auf Aristoteles und Dewey welt und objektiver Welt einebnet. Diese Anglei-
stützen. Mead entwickelte eine pragmatische, kan- chung der Objektivität der Erfahrung an die Inter-
tisch-konstruktivistische Analyse des moralischen subjektivität der Verständigung erinnert an einen
Standpunkts, indem er zeigte, wie wir uns durch berühmten Argumentationszug von Hegel« (WR,
wechselseitige Perspektivenübernahme einer inklu- 15). Habermas’ Kantischer Pragmatismus soll gleich-
sive Wir-Perspektive annähern können. sam eine via media zwischen Rortys pragmatischem
Um einschätzen zu können, warum sich Haber- Kontextualismus und Brandoms pragmatischem
mas gegen die Spielarten des moralischen Realismus Neohegelianismus bilden.
wendet und sich nachdrücklich für eine Form des Obwohl Habermas die Raffinesse, Stringenz und
moralischen Konstruktivismus stark macht, müssen Reichweite von Brandoms pragmatischem Neohege-
wir eine umfassendere Perspektive einnehmen. Ha- lianismus bewundert, bereiten ihm drei miteinander
bermas hat sich stets mit dem von Kant eingeläute- zusammenhängende Aspekte Unbehagen. Erstens
ten Projekt der Moderne identifiziert. Kant verdan- glaubt Habermas trotz Brandoms Versuch, ›realisti-
ken wir die Einsicht, dass es keine höhere moralische schen‹ Intuitionen gerecht zu werden und eine ad-
Autorität gibt als unsere eigene praktische Vernunft. äquate Analyse von Wahrheit und Objektivität vor-
Eine angemessene Darstellung der Rolle der prakti- zulegen, nicht, dass ein Begriffsrealismus der unbe-
schen Vernunft erlaubt es uns, den universellen und dingten Wahrheitsgeltung in vollem Umfang gerecht
verpflichtenden Charakter moralischer Normen zu werden kann. Brandom geht diese Fragen aus der
begründen. Die kommunikative Wende in der Phi- Perspektive unserer begrifflichen normativen sozia-
losophie unterstreicht, dass die praktische morali- len Praktiken an. Die Idee einer objektiven Welt ist
sche Vernunft dialogisch und nicht monologisch ist in seinen Augen schlechthin Bestandteil dieser Prak-
– dass moralische Normen nur von den Teilnehmern tiken. Habermas bestreitet diese Behauptung nicht,
eines praktischen Diskurses gerechtfertigt werden betrachtet sie aber nicht als hinreichend für eine an-
können. Aus der Rechtfertigung moralischer Nor- gemessene Erklärung des starken (ontologischen)
men heraus zeichnet sich als Aufgabe ab, was getan Sinns, in dem wir eine von uns unabhängige objek-
werden müsste, um sich einer Gesellschaft anzunä- tive Welt voraussetzen. Dieselbe Überlegung, die
hern, in der diese Normen konkret verwirklicht wä- Habermas dazu führte, sein eigenes ursprünglich
ren. Eine konstruktivistische Orientierung ist erfor- epistemisches Verständnis von Wahrheit und Objek-
derlich, um die normative Grundlage für eine kriti- tivität zu kritisieren, motiviert auch seine Kritik an
sche Gesellschaftstheorie zu schaffen. Brandom. Eine pragmatische Theorie von Wahrheit
und Objektivität kann sich nicht auf die epistemi-
Robert Brandom: Habermas hegt tiefe Sympathien schen (begrifflichen) Aspekte von Wahrheit be-
für Robert B. Brandoms beherzten Versuch, unsere schränken; sie muss auch an die nichtepistemischen
realistischen Intuitionen ernst zu nehmen und ein (ontologischen) Aspekte von Wahrheit und Objekti-
Verständnis von Wahrheit und Objektivität zu ent- vität angebunden werden.
wickeln, das gegen die Vorwürfe des Kontextualis- Zweitens glaubt Habermas, dass Brandom von
mus und des Relativismus gefeit ist. Brandoms Ex- derselben Prämisse ausgeht wie die meisten analyti-
pressive Vernunft rühmt er als einen Meilenstein der schen Philosophen und die Proposition oder Aus-
theoretischen Philosophie, dem es gelinge, die Prak- sage für den paradigmatischen Fall der Sprachana-
tiken, in denen die Vernunft und Autonomie sprach- lyse hält. Damit, so Habermas, wird der Zweck des
120 II. Kontexte

kommunikativen Handelns verfehlt. Wenn sich die Pragmatismus. Habermas’ Kantianismus ist dabei
darstellenden und die kommunikativen Funktionen vom historischen Kant weit entfernt, doch macht er
der Sprache auch gegenseitig voraussetzen, so sind das zu seiner Sache, was ihm als die zentrale Ein-
sie doch verschieden und gleichursprünglich. Haber- sicht von Kants transzendentalem Projekt gilt –
mas behauptet, Brandom habe eine ›objektivistische‹ nämlich die formalpragmatischen Voraussetzungen
Vorstellung von Kommunikation, die die Perspek- von Sprache und Handeln zu rekonstruieren. Er ver-
tive des Beobachters als einer dritten Person in den wirft Kants transzendentalen Idealismus zugunsten
Vordergrund stellt. Damit verzerre Brandom die eines Pragmatismus, der unsere realistischen Intui-
Perspektive der zweiten Person, die wesentlich dafür tionen auf postmetaphysische Weise voll und ganz
ist zu verstehen, wie Teilnehmer einander im Rah- einlösen kann. Indem er eine pragmatische Wahr-
men kommunikativen Handelns begegnen. heitstheorie entwickelt, kehrt er an den Ausgangs-
Drittens kritisiert er Brandom – in einer Weise, punkt der klassischen amerikanischen Pragmatisten
die an seine Auseinandersetzung mit Putnam erin- zurück – die Welt des alltäglichen Handelns mit ih-
nert – dafür, auf einen Monismus zuzusteuern, der ren praktischen Gewissheiten. Wahrheit ist ein ja-
den Unterschied zwischen Tatsachen und Normen nusgesichtiger Begriff, der Handeln und Diskurs
einebnet. Wenngleich Brandoms philosophische miteinander in Beziehung setzt. Darüber hinaus
Motive sich von denen Putnams unterscheiden, so vertritt Habermas, dass wir die Kantische Einsicht
verwischt nichtsdestotrotz auch er die wichtige kan- hinsichtlich verbindlicher moralischer Normen be-
tische Trennlinie zwischen theoretischer und prakti- wahren und in eine Theorie der Kommunikation in-
scher Vernunft. Normen lassen sich aus der Perspek- tegrieren können, die verlangt, dass solche Normen
tive eines Beobachters (der Perspektive der dritten nur durch die diskursiven Praktiken aller von ihnen
Person) als ›Tatsachen‹ beschreiben, rechtfertigen betroffenen Teilnehmer gerechtfertigt werden kön-
aber lassen sie sich nur aus der Teilnehmerperspek- nen. Habermas verbindet einen pragmatischen epis-
tive (der Perspektive der zweiten Person). temologischen Realismus mit einem moralischen
Konstruktivismus. Er führt das Kantische Thema
Habermas’ Kantischer Pragmatismus: Wir können der Aufrechterhaltung des Unterschieds zwischen
die Besonderheit von Habermas’ Kantischem Prag- theoretischer und praktischer Vernunft (und Philo-
matismus nun besser einschätzen. Wie Rorty, Put- sophie) durch. Folglich widersteht er Rortys, Put-
nam und Brandom behauptet auch Habermas, dass nams und Brandoms Versuchen, die Grenze zwi-
der Pragmatismus durch die linguistische Wende schen theoretischer und praktischer Vernunft zu
transformiert wurde. Die linguistische Wende er- verwischen oder einzuebnen – sei es im Namen des
möglicht es uns, den Aporien des ›Mentalismus‹ zu ›Kontextualismus‹ (Rorty), des ›moralischen Realis-
entgehen, die von Descartes bis ans Ende des 19. mus‹ (Putnam) oder des ›Begriffsrealismus‹ (Bran-
Jahrhunderts weite Teile der Philosophie dominier- dom).
ten. In dieser Hinsicht hat die linguistische Wende Betrachtet man die Entwicklung von Habermas’
einen fortschrittlichen Paradigmenwechsel eingelei- Denken im Laufe der vergangenen fünfzig Jahre mit
tet. Doch wirft sie ihre eigenen Probleme auf. Wenn etwas Abstand, dann lässt es sich als Entwicklung ei-
wir einräumen, dass unser Weltwissen immer durch ner immer durchdachteren kritischen kantisch-
Sprache vermittelt ist und wir nie in direktem kog- pragmatistischen Perspektive verstehen – einer Per-
nitiven Kontakt mit einer ›nackten‹ Realität stehen, spektive, die viele der besten Einsichten der klassi-
wie lässt sich dann eine Form von Sprachidealismus schen amerikanischen Pragmatisten und ihrer
oder Kontextualismus vermeiden, der unseren rea- Nachfolger einbezieht. In bestem pragmatischem
listischen Intuitionen nicht gerecht würde – unserer Geist hat Habermas gleichermaßen von diesen Den-
Auffassung, dass eine von uns unabhängige Welt kern gelernt und sie kritisiert, um seine eigene un-
existiert, über die wir wahre Behauptungen aufstel- verkennbar pragmatistische Philosophie zu entfal-
len können? Wie sollen wir darüber hinaus den Fall- ten.
stricken des Sprachrelativismus entgehen, der unse-
rem Verständnis, dass es bindende, jeden lokalen
Kontext transzendierende universelle moralische Literatur
Normen gibt, nicht gerecht werden kann? Für Ha- Brandom, Robert B.: Expressive Vernunft. Begründung, Re-
bermas liegt die Antwort auf diese Frage in der Aus- präsentation und diskursive Festlegung. Frankfurt a. M.
buchstabierung und Verteidigung des Kantischen 2000 (engl. 1994).
24. Jüdische Philosophie 121

–: Begründen und Begreifen. Eine Einführung in den Infe-


rentialismus. Frankfurt a. M. 2001 (engl. 2000).
24. Jüdische Philosophie
Putnam, Hilary: Realism with a Human Face. Hg. von James
Conant. Cambridge, Mass. 1990.
–: Words and Life. Hg. von James Conant. Cambridge, Die Auseinandersetzung mit jüdischer Philosophie
Mass. 1994. und jüdischen Philosophen hat im Werk von Jürgen
Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur. Eine Kritik der Philo- Habermas von Anfang an eine bedeutende Rolle ge-
sophie. Frankfurt a. M. 1981 (engl. 1979). spielt. Publizierte er schon 1961 einen Aufsatz unter
–: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Frankfurt a. M. 1989 dem Titel »Der deutsche Idealismus der jüdischen
(engl. 1989).
Richard J. Bernstein (Übers. Michael Adrian) Philosophen«, so folgten zwei Arbeiten zu Hannah
Arendt, die schließlich um weitere Studien zu Walter
Benjamin und Gershom Scholem ergänzt wurden.
Als existenzielles Motiv für dieses Interesse kann die
von ihm übernommene Verantwortung für die deut-
schen Verbrechen unter dem Nationalsozialismus
gelten, als systematische Fragestellung sein Interesse
an der Geschichtsphilosophie des Deutschen Idea-
lismus. Der auf der Basis seiner Dissertation entstan-
dene, 1963 erstmals publizierte Aufsatz »Dialekti-
scher Materialismus im Übergang zum Materialis-
mus – Geschichtsphilosophische Folgerungen aus
Schellings Idee einer Contraction Gottes« nimmt auf
die Tradition der spätmittelalterlichen jüdischen
Mystik Bezug. Habermas glaubte schon früh, dass
der deutsche Idealismus der jüdischen Philosophen
das »Ferment einer kritischen Utopie« (PPP, 64) her-
vorgebracht, eine Intention, die ihren Ausdruck im
letzten Aphorismus von Adornos Minima Moralia
gefunden habe. »Philosophie, wie sie im Angesicht
der Verzweiflung einzig noch zu verantworten ist,
wäre der Versuch, alle Dinge so zu betrachten, wie
sie vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstell-
ten« (ebd.).
Endlich spielt – Jahrzehnte später – die Philoso-
phie Jacques Derridas in den 1985 erschienenen
zwölf Vorlesungen über den philosophischen Dis-
kurs der Moderne eine zentrale Rolle, insofern Der-
rida hier als die radikalste Ausprägung des ›postmo-
dernen‹ Denkens, der ›Dekonstruktion‹ gilt, der Ha-
bermas hier letztlich ein nur von jüdisch-ethischen
Traditionen gemildertes Ursprungsdenken in der
Spur Heideggers vorhält (DM, 194–195). Ein Hin-
weis auf die jüdische Ethik steht am Anfang von Ha-
bermas’ Interessen an jüdischer Philosophie.

Hermann Cohen (1842–1818): Das Programm einer


Synthese von Kantianismus und Judentum wurde
von Hermann Cohen, auf den sich Habermas we-
sentlich in seiner Arbeit »Der deutsche Idealismus
der jüdischen Philosophen« bezieht, in seinem 1918
posthum erschienenen Hauptwerk »Die Religion der
Vernunft aus den Quellen des Judentums« vollendet.
Indem Cohen in einer durch Kants kritisches Den-
122 II. Kontexte

ken geprägten Ethik der Mitmenschlichkeit (Brum- stehenden, alleine dem immerwährenden Jetzt sei-
lik 2001, 11–28) eine neue Lektüre der propheti- nes liturgischen Jahres und seinem blutmäßigen
schen Schriften vornimmt, entfaltet er sowohl eine Fortzeugen verpflichteten Volkes. Das Judentum be-
Theorie sozialer Gerechtigkeit als auch internationa- findet sich nach dieser Auffassung bereits dort, wo-
ler Rechtlichkeit. In den Schriften der Hebräischen hin die dem eigenen Anspruch nach bereits erlöste
Bibel findet Cohen beispielhafte Formen der Volks- Christenheit in ihrem grundsätzlich historischen
genossenschaft, der Gastfreundschaft, der Fremden- Weltverhältnis strebt. Gleichwohl ist Rosenzweigs
gesetzgebung und des Bundes Gottes mit allen Men- Theorie des Judentums als eines Volks jenseits aller
schen und entwickelt auf dieser Basis schon früh Geschichte, ganz ohne Krieg, das ohne eigene Pro-
eine Philosophie der Intersubjektivität (Brumlik fansprache und ohne eigene Heimat nur sich selbst
2002). Cohen – und das hat die Forschung lange genügend um sein liturgisches Jahr und die eigene
übersehen –war noch vor den gemeinhin als Inter- Fortpflanzung kreist, durch die Realgeschichte des
subjektivitätsdenker bekannten Philosophen der 20. Jahrhunderts widerlegt worden. Das hat der späte
Sprache Rosenzweig und Buber ein Theoretiker der Rosenzweig mindestens geahnt, als er sich zwei Jahre
Intersubjektivität und damit der erste neukantiani- vor seinem Tod in einem Briefwechsel mit dem Zio-
sche Philosoph, der weniger auf Basis der Sprache nismus auseinandergesetzt hat, dem er nicht nur zu-
als vielmehr durch eine in den biblischen Schriften schrieb, ganz von selbst zu einer Wiederherstellung
material entfalteten universalistischen Ethik zu einer des
Philosophie der Intersubjektivität gelangt. Es ist die »[…] echten prophetischen Verhältnisses zum eigenen Ge-
spezifische, am Leiden und Mitleiden geschulte, um meinwesen gedrängt zu werden, sondern auch eine objek-
ihre Verwiesenheit auf andere belehrte Vernunft, die tive Rolle bei der Verwirklichung des jüdischen Gedankens
dazu getrieben wird, Verantwortlichkeiten anzuer- zu spielen: So wie die Sozialdemokratie auch wenn nicht
›religiössozialistisch‹, ja sogar wenn ›atheistisch‹, für die
kennen, die die eigenen Belange und Interessen Verwirklichung des Gottesreichs durch die Kirche wichti-
übersteigen. Die Religion der Vernunft aus den Quel- ger ist als die Kirchlichen, sogar die wenigen Wirklich-
len des Judentums erweitert und erfüllt die formale kirchlichen, und erst recht wichtiger als die ungeheuere
philosophische Ethik Kants, indem sie diese, selbst Masse der Halb- und Ganzdifferenten, so der Zionismus
noch am Modell einer theoretischen Wissenschaft für die Synagoge« (Rosenzweig 1973, 227).
untereinander zusammenhängender Urteile orien- Habermas’ Interesse an den jüdischen Wurzeln von
tiert, auf ihre materialen Gehalte hin auslegt. Damit Kerngedanken des deutschen Idealismus, die er im
übernimmt nach Cohen die Religion im intersubjek- Werk Schellings identifizierte, richtete seinen Blick
tiven, sozialen Leben jene Funktion, die Maximen auf die Arbeiten von Gershom Scholem, Walter Ben-
im einzelnen Individuum erfüllen: die der Motiva- jamin und Ernst Bloch.
tion zum Handeln. Wurzel dieser Motivation ist das
Mitleid: Gershom Scholem (1897–1982):Wesentliche Impulse
Das Mitleid muss der Passivität der Reaktion entkleidet nicht nur für Habermas’ frühe Geschichtsphiloso-
werden, es muss als volle ganze Aktivität zur Anerkennung phie, seine darauf folgenden Überlegungen zu Aner-
gebracht werden. [...] Reaktion aber, als Wechselwirkung, kennung und Versöhnung, sondern auch für seine
steuert auf ein Ziel hin. Dieses Ziel ist die Gemeinschaft, in späten Arbeiten zur Religion verdankt Habermas
der der Mitmensch entsteht« (Cohen 2008, 187). dem lebenslangen Freund Walter Benjamins,
Franz Rosenzweig (1886–1929): Cohens geistiger Gershom Scholem. Scholems einzigartige philologi-
Schüler und Antipode Franz Rosenzweig gehört zu sche Leistung, die bis zu ihm von der Wissenschaft
der um die Zeit des Ersten Weltkriegs entstehenden des Judentums bzw. einer historisch-kritisch vorge-
Schule der Existenzphilosophie, die an die Stelle der henden Erforschung traditioneller jüdischer Schrif-
Reflexion über das einsame Bewusstsein und seine ten systematisch übergangene mystische Literatur
Leistungen das Nachdenken über den Menschen als der hoch- und spätmittelalterlichen »Kabbala« zu er-
sprachlich konstituiertes, intersubjektives, aber doch schließen, wurde für Habermas zum Anlass, die sei-
auch und vor allem sterbliches Wesen setzte. Auf Ba- ner Meinung nach über die Kabbala in den Pietis-
sis seiner vorzüglichen Kenntnisse der Geschichts- mus und über diesen in die Philosophie gelangten
philosophie des Deutschen Idealismus, zumal He- Elemente des Deutschen Idealismus neu zu bewer-
gels und Schellings, entfaltet Rosenzweig im Stern ten. Die lurianische Kabbala versteht die Schöpfung
der Erlösung von 1917 eine Theorie des Judentums, als Rückzug Gottes in sich selbst (Scholem 1970), ein
als eines jenseits von Land, Geschichte und Sprache Motiv, das sich mit Scholem auch als ein Exil Gottes
24. Jüdische Philosophie 123

in sich selbst verstehen lässt. Damit ist der Weltpro- gische Fragen der Historiographie hinein: »Die Ein-
zess von Anfang an und für immer als Heimkehr- fühlung in den Sieger«, so formulierte Walter Benja-
oder Heimbringungsprozess verstanden, ein Pro- min 1940, »[…] kommt demnach den jeweils Herr-
zess, der von der Bereitschaft der Menschen abhängt, schenden allemal zugute […]« (Benjamin 1980,
die im Exil verlorenen Funken Gottes heimzuführen 696). Benjamins vielfach missverstandene Lehre von
und somit die von Anfang an zerbrochene Schöp- der historischen Zeit richtet sich jedoch keineswegs
fung zu heilen – »Tikkun olam«. Damit gewinnt das gegen jede Idee allmählicher Verbesserung der Ver-
messianische Denken eine überraschende Wendung: hältnisse, sondern nur wider eine Sicht der Ge-
Nicht mehr ist es Aufgabe Gottes, die Menschheit zu schichte, die die »Zeit« lediglich als gleichsam leere
erretten, sondern umgekehrt Aufgabe der Mensch- Form des Geschehens ansieht. Dieser formalen Be-
heit, Gott und mit ihm seine Schöpfung zu retten trachtung setzt er eine existenzielle Theorie der Zei-
(Scholem 1967, 267 f.). Diese Form der Mystik, vor- tigung und der erfüllten Zeitpunkte entgegen, eine
gezeichnet in der lurianischen Kabbala erlaubt eine Theorie lebendiger Zeit, die in einem generationen-
der Existenz und der Profanität angemessene Lesart übergreifenden Kontinuum steht.
der theologischen Tradition. Dort, wo Scholem seine Worum es Benjamin letztlich ging, und was er
Rolle als Philologe verlässt und – wie in den »Zehn in seinen pädagogischen und geschichtsphiloso-
unhistorischen Sätzen« (Scholem 1970) – den ge- phischen Schriften lediglich entfaltete, hat er 1922,
schichtsphilosophisch und erkenntnistheoretisch in dem Essay über Goethes Wahlverwandtschaften
ausweisbaren, systematischen Gehalt der mystischen dargelegt. Diese Schrift endet mit folgenden Worten:
Tradition zu entfalten versucht, entsteht eine Per- »Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die
spektive, die verständlich macht, was es heißen kann, Hoffnung gegeben« (Benjamin 1980, 201). In den
in der Moderne die Substanz des Humanen retten zu Geschichtsphilosophischen Thesen kulminierte diese
können: Nämlich die wesentlichen Gehalte ihrer allem Pessimismus entgegengesetzte Zukunftszu-
religiösen, »[…] über das bloß Humane hinauswei- wendung in einer Lehre von der messianischen Jetzt-
senden Überlieferung in die Bezirke der Profanität zeit:
einzubringen« (PPP, 390). Es waren eben diese der »Den Juden wurde die Zukunft aber darum doch nicht zur
Mystik und dem biblischen Messianismus entstam- homogenen und leeren Zeit. Denn in ihr war jede Sekunde
menden Motive, die Habermas systematisch an den die kleine Pforte, durch die der Messias treten konnte«
Arbeiten Walter Benjamins und Ernst Blochs inter- (Benjamin 1980, 704).
essierten. An dieser Konzeption kritisiert Habermas gleich-
wohl mit Scholem, dass Benjamin sich nicht dazu
Walter Benjamin (1892–1940): Walter Benjamin, den »[…] verstehen wollte, die messianische Theorie der
Hannah Arendt als den seltsamsten Marxisten be- Erfahrung für den historischen Materialismus
zeichnet hatte, den diese an Seltsamkeiten nicht dienstbar zu machen« (PPP, 364).
arme Bewegung hervorgebracht habe (Arendt 1971,
18) verfasste im Exil 1940, die Thesen »Über den Be- Ernst Bloch (1885–1977): Diesen Versuch unter-
griff der Geschichte« (Benjamin 1980, 693 f.), in de- nahm Ernst Bloch, den Habermas als »marxistischen
nen er theologische Intuitionen, marxistische Ein- Schelling« bezeichnete und den er im Erbe der jüdi-
sichten und die bestürzende Wahrnehmung des apo- schen Mystik sieht: »Das jüdische Organ im Marxis-
kalyptischen Niedergangs der Moderne zu einer mus macht nämlich für bestimmte, einst von Kab-
negativen Geschichtsphilosophie zusammenschie- bala und Mystik gehütete Perspektiven empfänglich«
ßen lässt, die als Ausweg nur noch eine messianische (PPP, 148).
Revolution der Unterdrückten um der Toten willen Tatsächlich geriet das Judentum Bloch in drei auf
offen lässt. Damit geht es Benjamin um eine Auswei- den ersten Blick auseinanderstrebenden Diskursen
tung des moralischen Universums in der Zeit und zum Inbegriff einer halbierten Hoffnung, die erst
um eine relative Abwertung der Gegenwart und ih- durch das, was er für den »Christusglauben« hielt, zu
res allmählichen Fortschritts zugunsten einer erfüll- einer wirklichen Hoffnung geworden sei. Die drei
ten Vergangenheit und Zukunft unter dem Rubrum Diskurse gelten zum einen der unabgegoltenen Vor-
einer »Hoffnung um der Hoffnungslosen« (Benja- geschichte von Blochs eigener häretischer Christolo-
min 1980, 201) willen. Die hier angelegte Lehre his- gie, zum zweiten dem völkischen und rassistischen
torischen Unrechts und »anamnetischer Solidarität« Antisemitismus sowie der politischen Utopie des Zi-
(Peukert 1980) hat Konsequenzen bis in methodolo- onismus (Bloch 1976, 708 f.). Allen drei Diskursen
124 II. Kontexte

eignet ein gemeinsames Motiv: Indem das Judentum »[Es] ist erstaunlich, wie völlig hier die Konsequenzen Ih-
als vorläufige Hülle des richtigen, erfüllten Lebens res »Atheismus« (an den ich freilich je weniger glaube, je
vollkommener er sich expliziert: denn mit jeder Explika-
erscheint, gerät es zum Paradigma des gegenwärti-
tion steigt seine metaphysische Gewalt) solchen aus mei-
gen Alltags, dem der eine oder andere Vorschein der nen theologischen Intentionen begegnen, die Ihnen so un-
Hoffnung zu entnehmen ist. Ernst Blochs Blick auf behaglich sein mögen wie sie wollen, aber deren Konse-
das Judentum ist – von Motiven des Deutschen Idea- quenzen jedenfalls eben in nichts von Ihren sich
lismus gespeist – christlich: Indem das Judentum zur unterscheiden – könnte ich doch das Motiv der Rettung des
Chiffre einer andauernden Gegenwart wird, erweist Hoffnungslosen als Zentralversuch aller meiner Versuche
einsetzen, ohne daß mir ein mehr zu sagen bliebe« (Gum-
sich sein geschichts-, doch nicht sein lebensphiloso- nior/Ringguth 1973, 84 f.).
phischer Ansatz – als christlich und zwar nicht nur
im übertragenen Sinne. Jesus – so Bloch im »Geist Geschichtsphilosophie und Ästhetik, Dialektik der
der Utopie« – sei die Seelenwanderung Gottes gewe- Aufklärung und Negative Dialektik leben aus dem
sen, Ausdruck eines Gottes, den die menschlichen Spannungsverhältnis eines restaurativ – utopischen
Seelen gesetzt hätten, Gott und sein Sohn schießen Messianismus und einer negativistischen Kritik alles
zum Inbegriff eines mystischen Atheismus zusam- Bestehenden um der rettenden Wahrheit willen, die,
men: um überhaupt, den geschichtlichen Verfallsprozess
»Die Subjekte sind das einzige, das in allem äußeren und aufhalten zu können, der Verhüllung – und das heißt
oberen Dunkel nicht ausgelöscht werden kann, und daß dem Bilderverbot – anheimfallen muss. In der Dia-
der Heiland lebt und wieder kommen will, dies ist nach wie lektik der Aufklärung (Adorno/Horkheimer 1969),
vor unangreifbar verbürgt« (Bloch 1973, 203–204).
zumal in den Abschnitten über die »Elemente des
Für Bloch standen am Anfang nicht Himmel und Antisemitismus«, versuchen sich Horkheimer und
Erde, sondern nach kabbalistischer Lehre der Adorno an einer geschichtsphilosophischen Deu-
Mensch, in und durch den hindurch sich ein erneu- tung des Verhältnisses von Judentum und Christen-
ernder, befreiter Kosmos vollzieht, der am Ende eine tum, bei dem die Askese des jüdischen Gottesgedan-
Differenz von Gott und Mensch nicht mehr kennt. kens gegenüber den regressiven Zügen eines ver-
In Blochs theurgischer Philosophie steht Gott nicht menschlichten Gottes verteidigt wird: Im Gedanken
am Anfang, sondern am Ende. Doch dieser Gott, der einer versöhnenden Erinnerung, die noch in ihrer
am Ende steht, ist kein anderer, als eine zu sich selbst rituellen Form den Einspruch wider die listige Un-
gekommene Menschheit. Indem Bloch eine prozes- terwerfung der Natur artikuliert, ersteht der schon
suale Theologie postuliert und Gott – wie viele Mys- von Rosenzweig postulierte Einbruch des Ewigen ins
tiker vor ihm – im Menschen werden lässt und darü- Zeitliche als Essenz des jüdischen Glaubens wieder
ber hinaus unter Berufung auf jene biblischen Ver- auf. Als Unterpfand des hier postulierten Eingeden-
heißungen, die einen neuen Himmel und eine neue kens fungiert das Bilderverbot, das am Gedanken
Erde versprechen, den befreienden Gott Israels, der der Erlösung gerade deshalb festhalten kann, weil es
zugleich als der Schöpfer der ganzen Welt bekannt strikt verbietet, sich die Erlösung vorzustellen oder
wird, ablehnt, um ihn in Kontrast zu einem erst an- auszumalen. Nur dort, wo durch die Askese des Bil-
kommenden, künftigen Gott zu setzen, ist er von derverbots der Gedanke der Erlösung nicht an die
Grundüberzeugungen des rabbinischen Judentums Gegenwart oder eine nur als Verlängerung der Ge-
ebenso weit entfernt wie von Spekulationen des mys- genwart gedachte Zukunft verraten wird, besteht
tisch – kabbalistischen Judentums, dessen Gott bei auch die Möglichkeit eines rettenden Eingedenkens
allen Spekulationen gerade kein anderer als der an die Opfer der Geschichte. Nur so erhält der Ge-
Schöpfer war. danke einer »Rettung des Hoffnungslosen« seinen
Sinn. So können die Autoren der Dialektik der Auf-
Theodor W. Adorno (1903 –1969): Theologisches klärung das Bilderverbot als Prinzip der Negativität
Denken war Adorno aus seinen Studien zu Kierke- erläutern, als »[…] das Verbot, das Falsche als Gott
gaard ebenso vertraut wie aus seiner Zusammenar- anzurufen, das Endliche als das Unendliche, die Lüge
beit mit Paul Tillich bzw. seiner Bekanntschaft mit als Wahrheit. Das Unterpfand der Rettung liegt in
Walter Benjamin und dessen Werk. Gleichwohl las- der Abwendung von allem Glauben, der sich ihr un-
sen sich explizit theologische Motive nicht vor 1935 terschiebt, die Erkenntnis in der Denunziation des
datieren, als Adorno auf eine kritische Einwendung Wahns. Gerettet wird das Recht des Bildes in der
Horkheimers gegen Henri Bergson und dessen Ver- treuen Durchführung seines Verbots« (Adorno/
drängung des Todes brieflich reagierte. Horkheimer 1969, 30).
24. Jüdische Philosophie 125

Im berühmten, von Habermas schon früh be- totalitarismuskritischen Arbeiten geführt haben, er-
nannten letzten Aphorismus der Minima Moralia wähnt Habermas allenfalls peripher (PPP, 234 f.).
findet sich die wohl prägnanteste Formulierung ei- Gleichwohl: Stets um den Gehalt jüdischer Tradi-
nes gleichsam konjunktivischen Messianismus: tion bemüht, den sie auch an überraschender Stelle
fand (Arendt 1976), setzt sich Arendt ihr Leben lang
»Philosophie, wie sie im Angesicht der Verzweiflung einzig neben ihren systematisch philosophischen Studien
noch zu verantworten ist, wäre der Versuch, alle Dinge so
mit dem Schicksal des jüdischen Volkes auseinander.
zu betrachten, wie sie vom Standpunkt der Erlösung aus
sich darstellten. Erkenntnis hat kein Licht, als das von der Für Hannah Arendt ist klar, dass sie politisch immer
Erlösung her auf die Welt scheint: alles andere erschöpft nur im Namen der Juden sprechen könne (Pilling
sich in der Nachkonstruktion und bleibt ein Stück Technik. 1996, 91 f.). In dreien ihrer Hauptwerke, von der
Perspektiven müssten hergestellt werden, in denen die Welt 1933 entstandenen assimilationskritischen Studie
ähnlich sich versetzt, verfremdet, ihre Risse und Schründe
über Rahel Varnhagen (Arendt 1981a) über das 1951
offenbart, wie sie einmal als bedürftig und entstellt im Mes-
sianischen Lichte daliegen wird« (Adorno 1951, 480). publizierte Totalitarismus-Buch (Arendt 1986) bis
zu der hochkontroversen, 1963 als englischsprachi-
Diese Zeilen sind von der Gewissheit durchdrungen, ges Buch erschienenen Artikelserie Eichmann in Je-
dass schon die Kraft der Unterscheidung zwischen rusalem (Arendt 1981b), geht sie dieser Thematik
gut und böse selbst einzig der Vorstellung einer an- nach und entfaltet auf ihrer Basis eine politische
deren, besseren Welt entspringt – eine Vorstellung, Existenzphilosophie des Menschen im 20. Jahrhun-
von der indes ungewiss bleiben muss, ob sie jemals dert. Dass Hannah Arendt bei alledem das Grund-
Wirklichkeit werden kann. Diese Kraft zur Unter- problem jüdischer Existenz in der Moderne mit den
scheidung und das, worauf sie verweist, bezeichnet theoretischen Mitteln eines Denkens angeht, das der
Adorno als »Transzendenz«, sie hinterlässt einen klassischen Antike und der deutschen Existenzphi-
Schein, der letztlich auf den Willen der Menschen losophie ungleich stärker verpflichtet ist als der
zurückgeht, es nicht bei der Trostlosigkeit einer un- Überlieferung des Judentums, erweist sich weniger
heilvollen Immanenz zu belassen. Somatische Lei- als Ausdruck einer historischen Ironie denn jener
densfähigkeit sowie die Fähigkeit, sich erlittenen paradoxen Situation, in der sich alle Juden befanden,
Unrechts zu erinnern, wird hier als jene Instanz ent- die seit der Emanzipation der Auffassung waren, das
faltet, die traditionell von der Theologie verwaltet Judentum auf die Höhe ihrer Zeit bringen zu sollen.
wurde. Der Aufruf der somatischen Leidensfähigkeit Arendts Kritik an Assimilationismus, jüdischem
vollzieht in einem die Synthese eines zu Ende ge- Chauvinismus und der Flucht des jüdischen Bil-
dachten sensualistischen Materialismus mit einer dungsbürgertums ins Menschheitliche korrespon-
auf dem Eingedenken beruhenden Erkenntnis: diert in Elemente und Ursprünge der Hinweis, dass
erst der »westeuropäische Zionismus« die objektive
»Bewußtsein könnte gar nicht über das Grau verzweifeln, Realität der Judenfrage nicht mehr verleugnet habe
hegte es nicht den Begriff von einer verschiedenen Farbe,
und es zudem der »postassimilatorische Zionismus«
deren versprengte Spur im negativen Ganzen nicht fehlt.
Stets stammt sie aus dem Vergangenen, Hoffnung aus ih- gewesen sei, der mit seinem Einfluss auf die jüdische
rem Widerspiel, dem, was hinab mußte oder verurteilt ist. Intelligenz das deutsch-österreichische Ausnahme-
Eine solche Deutung wäre, so schrieb Adorno, zu dem judentum vor den schlimmsten Auswüchsen des
letzten Satz von Benjamins Text über die Wahlverwandt- Antisemitismus der dreißiger Jahre bewahrt habe«
schaften, ›Nur um der Hoffnungslosen willen ist uns die (Arendt 1986, 160). Gleichwohl unterzieht sie den
Hoffnung gegeben‹, wohl angemessen« (Adorno 1966,
368 f.). staatsbildenden Zionismus spätestens seit 1941 einer
harschen Kritik (Arendt 1976, 127 f.) und hält ihm
Hannah Arendt (1906–1975): Als jüdische Denkerin vor, mit dem Imperialismus paktieren zu müssen. Es
hat Arendt, die mit ihrer Unterscheidung von Arbei- zeigt sich, dass beides, die Fremdheit und Machtlo-
ten, Herstellen und Handeln für Habermas’ Kritik sigkeit und die exemplarische Opferrolle unter tota-
am orthodoxen Marxismus zumal in »Erkenntnis ler Herrschaft, die Arendt einerseits an den assimi-
und Interesse« eine zentrale Rolle spielte, auf den lierten Juden kritisiert, dass aber die Hybris und
ersten Blick keine herausragende Bedeutung gespielt Selbstüberschätzung, die sie andererseits dem staats-
– was auch damit zusammenhängen könnte, dass gründenden Zionismus vorhielt, letzten Endes Aus-
Arendt sich selbst in diesem Sinn nicht als jüdische druck eines individuellen Zwiespalts, eines ungelös-
Denkerin verstanden haben mag. Die spezifisch jü- ten existenziellen Rätsels sind, das den Motor von
dische Erfahrung, die Arendt zu ihren macht- und Arendts Lebenswerk bildet.
126 II. Kontexte

Jacques Derrida (1930–2004): Eine vom neukantia- noch als freilich übergroße Spur. Die 1996 erschie-
nischen Idealismus ebenso wie von einer materialen nene Aufsatzsammlung zur politischen Philosophie
Geschichtsphilosophie abweichende, ihm zunächst führt – ohne dass Lévinas in einem einzigen der dort
gänzlich fremde Lesart jüdischen Denkens begegnet versammelten Aufsätze genannt oder erörtert würde
Habermas im Werk des mit bedeutendsten Denkers – den Titel Einbeziehung des Anderen.
der Dekonstruktion, Jacques Derridas. Habermas
hat früh gesehen, dass Derridas Kritik des Phono- Literatur
zentrismus und der damit verbundenen Metaphysik
Adorno, Theodor W.: Minima Moralia. Reflexionen aus
der Präsenz auf einer jüdischen Tradition vom Vor- dem beschädigten Leben. Frankfurt a. M. 1951.
rang der Schrift gegenüber dem nur sprechsprach- –: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. 1966.
lich artikulierten Geist basiert, ihm aber gleichwohl – /Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Frankfurt
vorgehalten, letzten Endes einem Ursprungsdenken a. M. 1969.
Heidegger’schen Typs verfallen zu sein, einer Spur, Arendt, Hannah: »Walter Benjamin«. In: Dies.: Brecht Ben-
jamin: Zwei Essays. München 1971, 7–62.
vor deren politisch fataler Wirkung Derrida deshalb –: Die verborgene Tradition. Frankfurt a. M. 1976.
bewahrt werde, weil er auch von der Erinnerung des –: »Der Zionismus aus heutiger Sicht«. In: Arendt 1976,
Messianismus der jüdischen Mystik geprägt sei (DM, 127 –168.
194 f.). Tatsächlich hat sich Jacques Derrida in sei- –: Rahel Varnhagen. München 1981a.
nem nur schwer überschaubaren, vielfältigen und –: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des
Bösen. München 1981b (engl. 1963).
ausdifferenzierten Werk erst spät mit der eigenen jü- –: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München
dischen Existenz auseinandergesetzt. Gleichwohl 1986.
publiziert er bereits 1967 Arbeiten zu Edmond Jabès Benjamin, Walter: »Goethes Wahlverwandtschaften«. In:
und Emmanuel Lévinas. Zwar orientiert er sich beim Ders.: Gesammelte Schriften. Band I,1. Frankfurt a. M.
Schriftsatz von Glas am Schriftsatz von Seiten des 1980, 125–201.
–: »Über den Begriff der Geschichte«. In: Ders.: Gesam-
Talmud, um sich schließlich 1990 mit dem Beitrag melte Schriften. Band I,2. Frankfurt a. M. 1980, 693–704.
Interpretations at War. Kant, der Jude, der Deutsche Bernstein, Richard, J.: Hannah Arendt and the Jewish Ques-
intensiv mit Cohen und Rosenzweig auseinanderzu- tion. Cambridge 1996.
setzen. 1991 äußert sich Derrida in dem gemeinsam Bloch, Ernst: Geist der Utopie. Frankfurt a. M. 1973.
mit Geoffrey Bennington verfassten Porträt Jacques –: Das Prinzip Hoffnung (1–3). Frankfurt a. M.1976.
Brumlik, Micha: Vernunft und Offenbarung. Berlin 2001.
Derrida intensiv zur eigenen jüdischen Existenz. –: »Theologie und Messianismus im Denken Adornos«. In:
Dem folgt eine gründliche Auseinandersetzung mit Ders. 2001, 87–114.
Benjamin in der 2005 auf Deutsch erschienenen –: Vom theologischen Sinn des Bilderverbots. In: Ders. 2001,
Schrift »Gesetzeskraft«, während Derrida in dem 115–146.
erstmals 2003 auf Französisch, 2007 auf Deutsch er- –: »Der Mensch als Mitmensch. Intersubjektivität bei Her-
mann Cohen«. In: Deuser/Moxter 2002, 69–83
schienenen Sammelband Judéités. Questions pour
–: »Verborgene Tradition und messianisches Licht. Arendt,
Jacques Derrida einen Aufsatz unter dem Titel Adorno und das Judentum«. In: Dirk Auer u. a. (Hg.):
»Abraham, l’autre« veröffentlicht, in dem er in küh- Arendt und Adorno. Frankfurt a. M. 2003, 74–96.
nen Überlegungen über eine Messianität ohne Mes- –: »Ernst Bloch«. In: Andreas B. Kilcher/Otfried Fraisse
sianismus im Sinne einer »democratie à venir« in (Hg.): Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. Stuttgart/
Weimar 2003, 363–367.
Verbindung mit einem traditionell jüdischen Got-
Cixous, Helene: Portrait of Jacques Derrida as a Young Je-
tesbegriff, in dem Gott auch als »der Ort« gilt, reflek- wish Saint. New York 2004.
tiert. In eben diesem, 2003 erschienenen Sammel- Cohen, Hermann: Religion der Vernunft aus den Quellen
band räumt Habermas denn auch in einem Beitrag des Judentums. Eine jüdische Religionsphilosophie. Mit ei-
unter dem Titel »Comment répondre à la question ner Einführung von Ulrich Oelschläger. Wiesbaden 2008.
éthique?« ein, dass Derridas Denken bei aller Nähe Cohen, Joseph/Zagury-Orly, Raphael (Hg.): Judéités. Ques-
tions pour Jacques Derrida. Paris 2003.
zu Heidegger denn doch eher theologisch als vorso- Derrida, Jacques: »Edmond Jabes und die Frage nach dem
kratisch, eher jüdisch als griechisch geprägt ist. Es ist Buch«. In: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt
letztlich der Bezug auf das Werk von Lévinas, der, a. M. 1972, 102–120.
wie Habermas nun erkennt, Derrida von Heidegger –: Glas. Paris 1974.
trennt. Das führt ihn zu der abschließenden Frage, –: Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974.
–: »Gewalt und Metaphysik. Essay über das Denken von
ob auch jenseits eine genauere, normative Bestim- Emmanuel Levinas«. In: Derrida 1972, 121–235.
mung dieser Ethik möglich ist. Das Werk von Lévi- –: Jacques Derrida. Ein Porträt von Geoffrey Bennington
nas selbst erscheint im Werk von Habermas nur und Jacques Derrida. Frankfurt a. M. 1994.
25. Monotheismus 127

–: »Interpretation at War. Kant, der Jude, der Deutsche«.


In: Elisabeth Weber/Georg C. Tholen: Das Vergessen(e).
25. Monotheismus
Wien. 1998, 71–139.
–: »Abraham, l’autre«. In: Cohen/Zagury-Orly 2003, 11–
42. Kontext und Motivation: Seit seiner Dissertation
Deuser, Hermann/Moxter, Michael (Hg.): Rationalität der über Schelling und in gelegentlichen, von großem
Religion und Kritik der Kultur: Hermann Cohen und Feingefühl gekennzeichneten Arbeiten über die reli-
Ernst Cassirer. Würzburg 2002. giösen Motive bei Benjamin, Horkheimer, Scholem
Gumnior, Helmut/Ringguth, Rudolf: Max Horkheimer. u. a. hat Habermas sich lange und intensiv mit der
Reinbek 1973
Habermas, Jürgen: »Comment répondre à la question Religion und dem Monotheismus beschäftigt. In sei-
éthique?« In: Cohen/Zagury-Orly 2003. ner Theorie des kommunikativen Handelns (1981)
Handelman, Susan A.: The Slayers of Moses. The Emergence betrachtet er die Religion hauptsächlich unter der
of Rabbinic Interpretation in Modern Literary Theory. Maßgabe der ›Solidarität‹, wobei er die Möglichkeit
New York 1982. offen ließ, dass der »sakrale Bereich« (TKH II, 140)
Peukert, Helmut: Wissenschaftstheorie, Handlungstheorie,
Theologie. Frankfurt a. M. 1980. durch eine säkulare Moral und Kultur ersetzt wer-
Pilling, Iris: Denken und Handeln als Jüdin. Hannah Arendts den könne.
politische Theorie vor 1950. Frankfurt a. M. 1996. Doch in den Jahren zwischen der Veröffentli-
Rosenzweig, Franz: Die Schrift. Aufsätze, Übertragungen chung seiner Aufsatzsammlung Nachmetaphysisches
und Briefe. Königstein 1976. Denken (1988) und seiner jüngsten Arbeiten in Zwi-
–: Der Stern der Erlösung. Frankfurt a. M. 1993.
Schäfer, Peter/Smith, Gary (Hg.): Gershom Scholem. Zwi- schen Naturalismus und Religion (2005) hat er immer
schen den Disziplinen. Frankfurt a. M. 1995. nachdrücklicher darauf hingewiesen, dass die religi-
Schmied-Kowarzik, Wolfdietrich (Hg.): Franz Rosenzweigs öse Sprache durchaus etwas zum Ausdruck bringen
»neues Denken«. Band I: Selbstbegrenzendes Denken – in kann, das sich – fürs erste wenigstens – der »Aus-
philosophos. Band II: Erfahrene Offenbarung – in theolo- druckskraft einer philosophischen Sprache« entzieht
gos. Freiburg i.Br./München 2006.
Scholem, Gershom: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströ-
(ND, 60). Infolgedessen fordert er, sofern dies wei-
mungen. Frankfurt a. M. 1967. terhin der Fall ist, eine ›postsäkulare Gesellschaft‹, in
–: »Schöpfung aus Nichts und Selbstverschränkung Got- der religiöse Bürger ihre ›Wahrheit‹ mit dem Plura-
tes«. In: Ders.: Über einige Grundbegriffe des Judentums. lismus der Glaubensüberzeugungen in der moder-
Frankfurt a. M. 1970, 53–89. nen Gesellschaft in Einklang bringen, während die
–: »Zehn unhistorische Sätze über Kabbala«. In: Ders.: Ju-
daica 3. Frankfurt a. M. 1973, 264–271.
säkularen Bürger aus den Einsichten der religiösen
–: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias. Frankfurt a. M. Erfahrung lernen sollen; somit lassen sich Religiöse
1992. und Säkulare auf einen komplementär-kooperativen
Smith, Gary (Hg.): Hannah Arendt revisited: »Eichmann in Prozess der Wahrheitsfindung ein.
Jerusalem und die Folgen«. Frankfurt a. M. 2000. Habermas hat darauf hingewiesen, dass er unter
Valentin, Joachim: Atheismus in der Spur Gottes. Theologie
›Säkularisierung‹ nicht etwa die Verdrängung und
nach Jacques Derrida. Mainz 1997.
–: »Jacques Derrida«. In: Andreas B. Kilcher/Otfried damit das Verschwinden der Religion versteht, son-
Fraisse (Hg.): Metzler Lexikon jüdischer Philosophen. dern vielmehr den Verlust ihrer politischen und
Stuttgart/Weimar 2003, 453–456. rechtlichen Machtposition und die daraus folgende
Micha Brumlik Privatisierung der religiösen Praxis sowie die Aus-
richtung der seelsorgerischen Bemühungen auf das
individuelle Schicksal (Habermas 2008). Dennoch
räumt er ein, dass dem anhaltenden weltgeschichtli-
chen Säkularisierungsprozess zum Trotz die Reli-
gion überraschenderweise nicht zu verschwinden
scheint (Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 393); ganz
im Gegenteil ist die religiöse Praxis selbst in Europa
wieder auf dem Vormarsch und nimmt zugleich
neue Formen an. Habermas weigert sich, diese Be-
harrlichkeit und das Wiederaufleben des religiösen
Glaubens als ein bloß irrationales Phänomen abzu-
tun; vielmehr mahnt er, dass der religiöse Glauben
etwas Ernstzunehmendes aussagt; der religiöse
Glaube – v. a. gewisse Formen des Monotheismus
128 II. Kontexte

und insbesondere des Christentums – ist mögli- oder in den Bereich der Moral fällt; Kant insistiert
cherweise ein Ausdruck der Vernunft, und daher darauf, dass der Inhalt des Sittengesetzes von allen
legt Habermas Nachdruck auf den ›kognitiven Ge- Mutmaßungen über Gott oder die religiöse ›Offen-
halt‹ – den Wahrheitsgehalt – des religiösen Glau- barung‹ gänzlich unabhängig ist (vgl. Habermas’
bens. Aufsatz »Die Grenze zwischen Glauben und Wissen.
Zudem befindet sich die normative Vernunft in Zur Wirkungsgeschichte und aktuellen Bedeutung
der Krise, seit sie sich einem sturzflutartigen Ratio- von Kants Religionsphilosophie«, in: NR, 220).
nalismus gegenübersieht, den Habermas als die ›Ent- Ebenso stellt Habermas die Behauptung auf, dass die
gleisung der Moderne‹ bezeichnet und der die Öko- Grundprinzipien der Moral auf unhintergehbaren
nomie eben jener normativen Vernunft mit sich zu Voraussetzungen der kommunikativen Vernunft be-
reißen droht (Habermas in Langthaler/Nagl-Doce- ruhen, die sich nicht aus je individuellen bzw. kul-
kal 2007, 371); angesichts dieses Rationalismus wen- turabhängigen ›ethischen‹ Vorstellungen des ›Gu-
det er sich dem religiösen Glauben und der religiö- ten‹ oder aus metaphysischen Begriffen wie dem
sen Erfahrung zu, um der resultierenden »Entropie Gottesbegriff herleiten lassen.
der knappen Ressource Sinn« (GUW, 29) entgegen- 2. Obgleich Kant dogmatischen Glaubenssätzen –
zutreten. Die Wurzeln der normativen Vernunft in z. B. über die Auferstehung oder die Menschwerdung
der Lebenswelt werden durch die zunehmende Vor- – wenig Raum ließ (ebd., 221), versuchte er doch, ei-
herrschaft der Ideologie des globalen Marktes und nige Dogmen der positiven Religion gleichsam in
durch neue Entwicklungen in den Naturwissen- die Sprache der Vernunft zu ›übersetzen‹; so kann
schaften – insbesondere auf dem Gebiet der Bioge- z. B. die Lehre von der ›Gnade‹ als ein Gebot verstan-
netik – bedroht; dort wird die ›glückliche Fügung‹ den werden, sich zu moralischem Handeln zu ver-
der Natur immer stärker durch eine bizarre, an den pflichten. Kants Projekt, im religiösen Glauben ei-
›Konsumenten‹ orientierte Kontrolle der geneti- nen rationalen Kern zu erkennen, »die wesentlichen
schen Ausstattung der Menschen verdrängt. Und praktischen Gehalte der christlichen Religion so zu
auch die Neurowissenschaften stellen die Möglich- begreifen, daß sie vor dem Forum der Vernunft Be-
keit des freien Willens in Frage und bedrohen damit stand haben können« (TK, 128), nimmt Habermas’
gerade die Idee der politischen Deliberation und Idee einer ›rettenden Übersetzung‹ des ›kognitiven
Entscheidung. Gehalts‹ des Monotheismus in eine säkulare Sprache
Habermas wendet sich dem religiösen Glauben vorweg.
zu, um die Triebfedern einer säkularen normativen Habermas weist jedoch Kants Versuch zurück,
Vernunft zu erneuern. Denn der Monotheismus einen rationalen Beweis für eschatologische und
könnte ›semantische Potentiale‹ enthalten, von de- heilsgeschichtliche Lehrsätze des Christentums auf-
nen die säkulare Vernunft lernen kann und die den zufinden. Kant hatte die These vertreten, dass die
Bürgern – Gläubigen und Ungläubigen – würdige Grundsätze der Vernunft einen ›Vernunftglauben‹
und verlockende Ideale für das Leben und die Ge- rechtfertigten, da moralische Akteure sich für die
meinschaft im liberal-demokratischen Staat bieten Konsequenzen ihres kollektiven Handelns verant-
kann. wortlich zeigen müssen und tatsächlich moralisch
verpflichtet sind, »im Verein mit anderen« zu han-
Glauben und Wissen: Kant ist die Inspirationsquelle deln, um eine Welt zu schaffen, in der moralische
für Habermas’ dialektisches Projekt einer Grenzzie- Ideale mit dem höchsten Gut (dem Glück) verein-
hung zwischen religiösem Glauben und Wissen in bart werden können. Das Gesetz der unbeabsichtig-
Kombination mit einer rationalen ›Aneignung‹ des ten Handlungsfolgen vereitelt die praktische Ver-
religiösen Gehalts; er findet bei Kant das »unver- wirklichung einer solchen Welt, doch nach dem
gleichliche[] Vorbild für philosophische Versuche Prinzip, wonach ein ›Sollen‹ ein ›Können‹ impliziert,
der vernünftigen Aneignung religiöser Gehalte« ist es nur rational, an ein Wesen zu glauben, das aus
(Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 378; in diesem Zu- den krummen Wegen der Menschheitsgeschichte in
sammenhang zählen, neben anderem, die Kritik der diese ersehnte Welt hinüberleiten kann (Langthaler/
Urteilskraft und Die Religion innerhalb der Grenzen Nagl-Docekal 2007, 224, 376). Habermas hält an der
bloßer Vernunft zu den wichtigsten Werken Kants). Auffassung fest, dass die Idee eines ›Vernunftglau-
Habermas bemerkt insbesondere: bens‹ die adäquate Grenzziehung zwischen Vernunft
1. Kant trennt das, was wir wissen können, deut- und Glauben verletzt. Die praktische Vernunft kann
lich von dem, was eine Glaubensangelegenheit ist uns ermutigen und dem Defätismus hinsichtlich der
25. Monotheismus 129

Folgen unseres moralischen Handelns entgegentre- nem befreienden oder erlösenden Eins-Sein mit dem
ten, aber sie kann uns nicht mit Erlösungsverspre- Sein oder als einer Kontemplation des Seins: Das
chungen trösten (ebd., 395). ›Sein‹ ist nicht mit dem ›Guten‹ identisch. Man be-
Die exegetischen Bedenken, die manche Theolo- achte, dass Religionen normalerweise ›metaphysi-
gen gegen Habermas’ Kantlektüre vorbrachten, zie- sche‹ Weltanschauungen beinhalten.
len letztlich auf wichtige Fragen von philosophischer Stattdessen tritt die Epistemologie für einen ›Fal-
und religiöser Bedeutung. Christian Danz (ebd., libilismus‹ hinsichtlich aller Erkenntnisansprüche
9 ff.) fürchtet, dass sich mit Habermas’ Grenzzie- ein: Alle diese Ansprüche müssen sich einer perma-
hungsthese die Religion nicht unversehrt bewahren nenten Überprüfung und sogar einer möglichen Wi-
lässt – sie repräsentiere genau jene Art einer Trans- derlegung stellen. Dies ist kein Skeptizismus, die
formation der Religion in Philosophie, die man bei Möglichkeit des Wissens hic et nunc wird nicht ge-
Kant findet, bei der die Philosophie sich erdreistet, leugnet, doch die Möglichkeit eines absoluten Wis-
sich alles Vernünftige in der Religion ohne Rest an- sens wird verworfen. Wahrheit ist der Grenzwert ei-
zueignen (so in Habermas’ Aufsatz »Kommunikati- ner ›Transzendenz von innen‹ kontinuierlicher dis-
ves Handeln und detranszendentalisierte Vernunft«, kursiver Praktiken, – sie ist ein Horizont, der in einer
in: NR, 31). Für Langthaler stellen die eschatologi- niemals erreichten endgültigen Übereinkunft der
schen und heilsgeschichtlichen Elemente der Reli- Forschenden besteht, die als regulative Norm für die
gion eine rational begründete Hoffnung dar; er weist in der Realität angewandten Forschungspraktiken
Habermas’ Anschuldigung zurück, wonach Kant dient. Habermas bezeichnet diese geistige Haltung
seine eigene Grenzziehung zwischen Glauben und als »nachmetaphysisches Denken«.
Wissen missachtet habe. Nagl-Docekal behauptet Aufgrund dieser seiner ›fallibilistischen‹ Haltung
dagegen, dass gemäß der kantischen Theorie die kann Habermas behaupten, es sei a priori möglich,
Vernunft für sich allein Einsichten hervorbringen dass der ›kognitive Gehalt‹ der Weltreligionen »noch
kann, die – laut Habermas – von Kant zu Recht als nicht abgegolten« ist (»Vorpolitische Grundlagen des
wesensmäßig religiöse angesehen werden. So be- demokratischen Rechtsstaats«, in: NR, 149, Hervorh.
hauptet sie z. B., dass der Begriff eines »ethischen bei Habermas). Die Philosophie kann das ›Dickicht
Gemeinwesens« der Vernunft auch ohne die Hilfe der Lebenswelt‹ weder durchdringen noch umfas-
religiöser Metaphern vom »Gottesreich« oder der sen, und sie kann schon gar nicht die Grundlage da-
»Gottesherrschaft« zu Gebote stehe (Langthaler/ für legen; sie kann sich mit der »in der kommunika-
Nagl-Docekal 2007, 379). Habermas dagegen streitet tiven Alltagspraxis selbst operierende[n] Vernunft«
ab, dass diese religiöse Idee der eigentlichen kanti- (ND, 59) befassen: in den Quellen ästhetischer Er-
schen moralischen Idee eines ›Reichs der Zwecke‹ fahrung, in der reichhaltigen Komplexität des mora-
oder der politischen Idee einer republikanischen lischen Lebens ebenso wie in den Höhen transzen-
Staatsordnung äquivalent sei. Und Habermas be- dentaler Offenbarung (NR, 252). Die Philosophie
hauptet – was vielleicht noch wichtiger ist –, dass kann jene Gehalte des religiösen Glaubens und der
Nagl-Docekal der Philosophie die Rolle zuweist, den religiösen Erfahrung zu Tage fördern und beleuch-
religiösen Gemeinschaften vorzuschreiben, wie sie ten, die den Standards der ›begründenden Rede‹ und
sich in der modernen pluralistischen Gesellschaft zu der rationalen Argumentation (wie sie z. B. in WR
verhalten hätten. dargestellt werden) gerecht werden; von diesen Stan-
dards ausgehend, können jene Gehalte als wahre
Nachmetaphysisches Denken: Eine der Moderne an- Glaubensüberzeugungen gerechtfertigt werden. Es
gemessene Epistemologie ist ›anti-metaphysisch‹, sie ist sinnvoll, die Religion zu durchforschen, da sie
verwirft Vorstellungen von einer unwiderlegbaren über ›differenzierte Ausdrucksmöglichkeiten und
Begründung epistemischer und moralischer An- Sensibilitäten‹ verfügt: für das, was einem Leben
sprüche ebenso wie Appelle an die Intuition, die Sinn verleiht oder es misslingen lässt, für menschli-
Wahrheiten über das ›Wesen‹ der Welt betreffen, che Ideale oder menschliche Niedertracht, für sozi-
oder wie ›essentialistische‹ oder ›teleologische‹ Be- ale Pathologien oder für Nuancen moralischer Er-
stimmungen der menschlichen ›Natur‹. Die Wahr- fahrung (Habermas/Ratzinger 2005, 31; TK, 131).
heit ist nicht der Gegenstand eines ›Blicks von nir- Die Ereignisse des 11. September 2001 erinnern uns
gendwo‹, existiert nicht außerhalb der Diskurse und daran, wie sehr die säkulare Sprache auf solche Be-
Debatten der Menschen. Diese Epistemologie ver- deutungsdifferenzen wie etwa jene zwischen »böse«
wirft auch die Vorstellung von der Wahrheit als ei- und »schlecht« angewiesen ist, ohne ihnen aber
130 II. Kontexte

wirklich gerecht werden zu können (Langthaler/ keinen Gott gäbe? Philip Clayton vertritt die Auffas-
Nagl-Docekal 2007, 389). sung, Habermas’ Position solle vielmehr ein »me-
thodischer Agnostizismus« sein, und er beschuldigt
Radikaler Naturalismus: Habermas vertritt die An- ihn, den religiösen Diskurs a priori abzulehnen, »be-
sicht, dass Glaubensüberzeugungen, die nicht mit vor sich die Fachleute für Naturwissenschaft und
der Naturwissenschaft zu vereinbaren sind, nicht zu Metaphysik überhaupt nur an den Verhandlungs-
rechtfertigen sind; er behauptet aber zugleich, dass tisch setzen konnten«; schließlich könnte es sich auf
die Naturwissenschaft nicht die einzige Quelle gülti- längere Sicht herausstellen, dass der Theismus die
gen Wissens ist. Demnach ist es sinnlos, religiöse plausiblere Sichtweise sei (Clayton 2005, 21). Maeve
Glaubenssätze abzulehnen, weil sie nicht in ein na- Cooke behauptet im selben Sinne, dass der – recht
turwissenschaftliches Weltbild passen oder mit Mo- verstandene – Fallibilismus es zulassen muss, dass
dellen naturwissenschaftlich-experimentellen Den- eine nicht-religiöse Person sich rational von der
kens nicht übereinstimmen. Ein ›radikaler Natura- Wahrheit religiöser Glaubenssätze überzeugen lässt
lismus‹ (vgl. »Religion in der Öffentlichkeit«, in: NR, (Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 359); sie vertritt die
147) bedroht aber auch die säkulare normative Ver- These, dass das ›nachmetaphysische Denken‹ nicht
nunft. Wenn der menschliche Geist ausschließlich in unbedingt anti-metaphysisch sein müsse, sondern
der extensionalistischen Begrifflichkeit von Physik, vielmehr auf jeden Fall ›anti-autoritär‹ und anti-dog-
Neurowissenschaften und Evolutionstheorie ver- matisch sei.
standen wird, wird die menschliche Existenz »ent-
sozialisiert« und »entpersonalisiert« (GUW, 16 f.). So Natürliche Theologie: Die ›Natürliche Theologie‹ be-
wird gelegentlich zu Unrecht angenommen, die Neu- trachtet religiöse Behauptungen als rational be-
rowissenschaften stellten die Existenz eines ›freien gründbare Hypothesen. Habermas’ ›methodischer
Willens‹ in Frage (vgl. NR, 147 f.; Libet 2004; Singer Atheismus‹ weist dagegen die Möglichkeit zurück,
2004a; Singer 2004b); wenn dies wahr wäre, würde den Theismus rational zu begründen. Die ›Natürli-
damit aber zugleich die Basis für moralische, juristi- che Theologie‹ beinhaltet, so Habermas, eine Art
sche und andere evaluative Urteile unterminiert. Kategorienfehler, da die Existenz eines Wesens, in
dessen Liebe die menschliche Existenz begründet
Methodischer Atheismus: Obschon die Philosophie sei, nicht zu beweisen ist. In seiner Antwort auf Ra-
die religiöse Offenbarung nicht einfach ablehnen berger spricht er von einer Konfusion der Sprach-
sollte, kann sie die Offenbarung, ihre ›Sicherheiten‹ spiele im Wittgenstein’schen Sinne (Habermas in
und ihren Trost, auch nicht einfach übernehmen. Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 404). Der Fehler er-
Die Offenbarung ist für die Philosophie eine ›kogni- gibt sich aus der Vermengung der Aussagenlogik mit
tiv unannehmbare Zumutung‹, und der Versuch, der Logik moralischer Gebote, oder, um es handfes-
sich eine ›religiöse Philosophie‹ zurechtzuschmie- ter auszudrücken: der ›Gott der Philosophen‹ ist
den, ist ihr ein Anathema (vgl. NR, 257). Dagegen nicht der ›Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs‹; der
kann sie durchaus jene Gehalte der Religion entzif- Glauben an die objektive Existenz eines ›Schöpfer-
fern, »die sich in einen vom Sperrklinkeneffekt der gottes‹ ist etwas anderes als der Glauben an einen
Offenbarungswahrheiten entriegelten Diskurs über- ›Erlösergott‹, der mit seinen Geschöpfen einen Bund
setzen lassen« (ebd., 255). abschließt (vgl. Habermas’ Aufsatz über Johann Bap-
Die der säkularen Philosophie und Vernunft an- tist Metz, in SESA). Dennoch scheint es – ohne Ha-
gemessene Haltung besteht in einem ›methodischen bermas zu nahe treten zu wollen –, dass mit der An-
Atheismus‹, der sich auf den Theismus oder den erkennung der objektiven Existenz eines allmächti-
Atheismus nicht als metaphysische Positionen, son- gen, allwissenden Wesens mit bewundernswerten
dern nur als bestenfalls fallibilistische Thesen fest- Fähigkeiten schon ein großer Schritt auf dem Wege
legt, für die sich Gründe anführen lassen und die zur Anerkennung der Rationalität des Theismus ge-
sich im Verlauf der Überlegungen als mehr oder we- tan ist (für aktuelle Arbeiten über die ›Natürliche
niger plausibel erweisen können. Theologie‹ vgl. Alston 2006; Plantinga 2000; Wolters-
Es ist nicht für jedermann offensichtlich, warum torff 1975; den Physiker John Polkinghorne 2000).
der Fallibilismus die Haltung des etsi deus non dare-
tur (›als ob es Gott nicht gäbe‹) impliziert. Fallibilis- Habermas vs. Kardinal Ratzinger: Die Begegnung
ten müssen nicht so arbeiten, als ob es keine Atome zwischen Habermas und dem damaligen Kardinal
gäbe – warum sollen sie dann so arbeiten, als ob es Ratzinger (jetzt Papst Benedikt XVI.) rief sensati-
25. Monotheismus 131

onsheischende Schlagzeilen hervor; in manchen von notheistischen Religionen am besten artikuliert wor-
ihnen wurde Habermas’ ›Aufkündigung‹ des Atheis- den sind; die Aufgabe der Philosophie besteht darin,
mus beschrien, in anderen seine ›Hinwendung‹ zum den profanen Sinn der religiösen Sprache herauszu-
Christentum willkommen geheißen. Tatsächlich wa- arbeiten (vgl. ZÜ). Dazu ist es erforderlich, den rati-
ren Habermas und Ratzinger sich weitgehend einig, onalen Gehalt des religiösen Glaubens in das ›Uni-
dass die normative Vernunft durch die Ideologie des versum begründender Rede‹ zu ›übersetzen‹, d. h. in
globalen Marktes und durch umstrittene Anwen- säkulare Begriffe und Argumente, die für jedermann
dungen der Biogenetik bedroht sei; sie waren sich rational zwingend sind; denn in der Philosophie
über die szientistischen Perversionen der aufgeklär- ›zählen‹ – wie in der Politik – ›nur rationale
ten Vernunft einig; sie waren beide der Ansicht, dass Gründe‹.
ein Dialog zwischen den Religionen wünschenswert Die Kontroverse über eine ›liberale Eugenik‹ (vgl.
sei (vgl. Habermas’ Rezeption der Metz’schen The- LE; GUW, 29) mag die Logik dieses Übersetzungs-
matik der ›polyzentrischen Weltkirche‹ in SESA). All prozesses veranschaulichen. Wenn Eltern Embryo-
diese Freundlichkeiten gaben Thomas Assheuer zu nen ganz nach Laune oder nach ihren egoistischen
folgender Bemerkung Anlass: »Bei solchen Zuge- Idealen (und nicht etwa, um Krankheiten zu vermei-
ständnissen war es schwer auszumachen, worüber den) ›züchten‹ und selektieren, geht die bislang
die Kontrahenten überhaupt noch zu streiten ge- grundlegende Unterscheidung zwischen dem, was
dachten« (Assheuer 2004). Im nachhinein bemerkte man durch Manipulationen beeinflussen kann, und
Habermas, in diesem Dialog habe es eine zögernde dem, was als ›unverfügbar‹ gilt, verloren; die Auto-
Übereinstimmung darüber gegeben, dass die mo- nomie des Kindes ist ernstlich beeinträchtigt, da an-
derne Vernunft nachmetaphysisches Denken ist: dere an seiner Stelle entschieden haben, wie es zu
»Auch Joseph Ratzinger meint, dass die philosophi- sein hat. Autonomie ist heute für das ›ethische
sche Grundlage des Christentums durch das ›Ende Selbstverständnis unserer Gattung‹ entscheidend,
der Metaphysik‹ problematisch geworden ist« aber es gibt kein Argument, das beweisen würde,
(Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 394), während Rat- dass wir logischerweise in diesem Sinne fortfahren
zinger seine Freude darüber zum Ausdruck gebracht müssen – so wie es auch keine logisch zwingende
haben soll, dass Habermas – »jener Philosoph, der in Antwort auf die Frage »Warum moralisch handeln?«
der deutschsprachigen Welt als der konsequenteste gibt. Doch wir sprechen weiterhin auf die Einstel-
Säkularist gilt« – zugesteht, dass die säkulare Welt ei- lungen und ›archaischen Emotionen‹ an, die sich aus
ner Weisheit Aufmerksamkeit schenken muss, die der heutigen Form unseres Selbstverständnisses her-
sich in der religiösen Tradition finden lässt (Díaz leiten – z. B. auf den Ekel bei der Vorstellung gene-
Sánchez 2007). tisch manipulierter ›Schimären‹ –, und Habermas
Ratzinger dagegen kehrt tatsächlich das ›Axiom hält es für sehr wichtig, diese Reaktionen überzeu-
der Aufklärung‹ um in ein veluti si Deus daretur (›als gend zu artikulieren und gegen das von ihm befürch-
ob es Gott gäbe‹): »Da wird niemand in seiner Frei- tete gedankenloses Abgleiten in ein konsumenten-
heit beeinträchtigt, aber unser aller Dinge finden ei- orientiertes genetisches Manipulieren ins Feld zu
nen Anhalt und ein Maß, deren wir dringend bedür- führen; denn dieses würde implizit auch unsere Fä-
fen« (Pera/Ratzinger 2005, 82). Ratzinger macht ge- higkeit untergraben, uns als die Urheber unserer ei-
nau jene ›essentialistische‹ Metaphysik stark, die genen Lebensgeschichten zu betrachten.
Habermas ablehnt, wenn er z. B. anlässlich der Men- Der Nachklang des religiösen Bildes von Schöpfer
schenrechte sagt, »dass der Mensch als Mensch, ein- und Geschöpf mag dazu dienen, jene Einstellungen
fach durch seine Zugehörigkeit zur Spezies Mensch, zu ›retten‹ und zu artikulieren, die gegenüber dem
Subjekt von Rechten ist, dass sein Sein selbst Werte instrumentellen Rationalismus ins Hintertreffen ge-
und Normen in sich trägt, die zu finden, aber nicht raten sind. In diesem Bild wird die Freiheit des Ge-
zu erfinden sind« (Habermas/Ratzinger 2005, 51). schöpfs geschützt, denn nicht allein erfordert Gottes
Das Treffen von Habermas und Ratzinger lässt sich Liebe die freie Erwiderung seitens des Geschöpfs,
wohl eher als eine Übung in Entspannungspolitik sondern Gottes Schöpferstatus hebt auch die uner-
beschreiben, und weniger als eine wirkliche Annä- lässliche Gleichheit aller geschaffenen Personen her-
herung. vor. So dürfen die Launen des einen nicht das geneti-
sche Schicksal des anderen bestimmen. Das bibli-
Rettende Übersetzung: Habermas nimmt an, dass es sche Bild unserer ›Gottesebenbildlichkeit‹ übt selbst
Erkenntnisse gibt, die bislang im Glauben der mo- auf ›religiös unmusikalische‹ Menschen eine Anzie-
132 II. Kontexte

hungskraft aus. Habermas‹ ›Übersetzungspro- Díaz Sánchez, Juan Manuel: »Joseph Ratzinger y Galli Della
gramm‹ wurde von den Theologen mit einigem Un- Loggia« [spanische Transkription]. Im Internet unter:
http://leonxiii.upsam.net/mag_pontificio/pdf/2007-03-
behagen aufgenommen. Raberger z. B. empört sich
06-ratzinger_galli_della_loggia_debate.pdf.
über die Vorstellung, die religiöse Sprache sei nur Habermas, Jürgen: »A ›post-secular‹ society – what does
vorläufig gültig, solange die »kognitiv überlegene, that mean?« (Vortrag vom 28.6.2008). Im Internet unter:
philosophisch-epistemische Sprache« sie nicht ein- http://www.resetdoc.org/EN/Habermas-Istanbul.php.
geholt hat (Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 249). – /Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung: Über
Man sollte darauf hinweisen, dass Habermas’ An- Vernunft und Religion. Freiburg i.Br. 2005.
– /Reder, Michael (Hg.): »Ein Bewußtsein von dem, was
sicht nach die religiöse Sprache gänzlich unfähig ist, fehlt«: Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Frankfurt
jene Fragen zu klären, die von genetischen Manipu- a. M. 2008.
lationen aufgeworfen werden, da der religiöse Dis- Harris, Sam: Brief an ein christliches Land: eine Abrechnung
kurs auf die ›Sicherheiten‹ der jeweiligen religiösen mit dem religiösen Fundamentalismus. München 2008.
Gemeinschaften beschränkt bleibt. Tatsächlich über- Hitchens, Christopher: Der Herr ist kein Hirte: Wie Religion
die Welt vergiftet. München 2009.
zeugen die Argumente, die Habermas selbst in sei- Kant, Immanuel: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm
nem Buch über ›liberale Eugenik‹ vorbringt, ganz Weischedel. Darmstadt 1983.
ohne jeden Bezug auf die Religion. Somit spielt die Langthaler, Rudolf/Nagl-Docekal, Herta (Hg.): Glauben
Artikulationskraft der religiösen Sprache keine un- und Wissen: Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien
mittelbare Rolle bei der Begründung politischer Ent- 2007.
Libet, Benjamin: »Haben wir einen freien Willen?« In:
scheidungen; sie bietet lediglich ›dichtere‹ Beschrei- Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und Willensfrei-
bungen moralischer und ethischer Erfahrungen. So heit: zur Deutung der neuesten Experimente. Frankfurt
bliebe es den säkularen Individuen wohl vollkom- a. M. 2004.
men unbenommen, anderswo (z. B. in Literatur und Pera, Marcello/Ratzinger, Joseph: Ohne Wurzeln: der Rela-
Film) nach nuancierten Ausdrucksformen unserer tivismus und die Krise der europäischen Kultur. Augsburg
2005 (darin Joseph Ratzingers Rede in Subiaco vom
Menschlichkeit zu suchen – insbesondere dann, 1.4.2005).
wenn sie vor anderen, ihnen unsympathischen As- Plantinga, Alvin: Warranted Christian Belief. New York
pekten des Monotheismus auf der Hut sind. 2000.
Polkinghorne, John: An Gott glauben im Zeitalter der Na-
Literatur turwissenschaften: die Theologie eines Physikers. Gü-
tersloh 2000.
Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik. Frankfurt a. M. Singer, Wolf: »Keiner kann anders, als er ist. Verschaltun-
1966. gen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu
Alston, William P.: Gott wahrnehmen: die Erkenntnistheo- reden«. In: Christian Geyer (Hg.): Hirnforschung und
rie religiöser Erfahrung. Frankfurt a. M. 2006 (engl. Willensfreiheit: zur Deutung der neuesten Experimente.
1991). Frankfurt a. M. 2004a.
Assheuer, Thomas: »Auf dem Gipfel der Freundlichkeiten«. –: »Selbsterfahrung und neurobiologische Fremdbeschrei-
In: Die Zeit 22.1.2004. Im Internet unter: http://www. bung«. In: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 2
zeit.de/2004/05/Ratzinger_2fHaberm. (2004b) (auch in: Hans-Rainer Duncker (Hg.): Beiträge
Clayton, Philip: »The Contemporary Science-and-Religion zu einer aktuellen Anthropologie. Stuttgart 2006).
Discussion«. In: Michael G. Parker/Thomas M. Schmidt Wolterstorff, Nicholas: »God Everlasting«. In: Clifton Orle-
(Hg.): Scientific Explanation and Religious Belief: Science beke/Lewis Smedes (Hg.): God and the Good: Essays in
and Religion in Philosophical and Public Discourse. Tü- Honor of Henry Stob. Grand Rapids 1975.
bingen 2005. Felmon Davis (Übers. Nikolaus Gramm)
Dawkins, Richard: Der Gotteswahn. Berlin 2008.
133

III. Texte

1. Schelling, Marx und ist Habermas’ Verfahrensweise derjenigen Blochs,


die – anders als Adorno – die Keime des Wahren im
Geschichtsphilosophie Falschen aufspürt und das Utopische gegen seinen
Das Absolute und die Geschichte: realen Ausdruck ins Recht setzt. Einen »philosophi-
Von der Zwiespältigkeit in Schellings schen Überschuß« der Schelling’schen Philosophie
Denken (1954) gegenüber derjenigen seines Tübinger und Jenaer
Freundes Hegel macht auch Bloch geltend, dessen
Als gegen Mitte der 1950er Jahre eine neue Aufmerk- Gedanken zu Schelling Habermas damals natürlich
samkeit für Schellings gerade auch mittlere und eher ahnen als kennen konnte (ausgenommen Sub-
späte Philosophie einsetzte, war Jürgen Habermas jekt-Objekt von 1949 [zitiert im Schelling-Aufsatz
der jüngste und der erste, der eine Deutung aus ihrer von TP, 222 f., 226, Anm. 137]; Bloch 2000, 63 ff.;
»Zwiespältigkeit« begründete. Karl Jaspers folgte 1962; 1972; 1985; Bloch 1972, 292 ff.). Habermas
ihm ein Jahr später mit einem Buch über Schellings geht in der Dissertation so weit, Schelling darin über
Größe und Verhängnis, das die Zweideutigkeit des Hegel zu stellen, dass sein Denken noch im Schei-
Heidegger’schen Denkens in dem Schelling’schen tern tiefer in den ›historischen Materialismus‹ hin-
vorgebildet fand: »den Übergang von Größe in Ge- ein führe, als Hegels ›dialektischer Idealismus‹ das je
bärde, von Wahrheit in Absurdität, von heller Mit- vermocht habe. Hegel habe sich trotz seines tiefen
teilung in Magie« (Jaspers 1955, 7; zu diesem Buch historischen Sinns nicht »an der geschichtlichen
PPP, 93–98). Und Georg Lukács ließ fast gleichzeitig Existenz des Menschen orientiert«, wie Schelling es
den »Weg des Irrationalismus«, der zu Hitler geführt getan habe (AG, 7). Darum dürfe gesagt werden (das
habe, in Schellings, des jugendlichen Revolutionärs klingt noch ziemlich heideggerianisierend), »daß bei
und greisen Reaktionärs, Werk entspringen (Lukács Schelling das Verständnis für die Geschichtlichkeit
1954; unter Einbezug von Heideggers Metaphysik- verglichen mit Hegel wesentlicher ist« (ebd., 12).
Vorlesung von 1941 vgl. Köhler 1999). 1955 sah Wal- Kein Wunder, dass Habermas Bloch wenig später
ter Schulz in Schellings Spätphilosophie den deut- als einen ›marxistischen Schelling‹ (und ein Stück
schen Idealismus nicht aufgegeben oder überwun- weit sich mit ihm) identifiziert hat (1960, in PPP, 6.
den, sondern ›vollendet‹; und wie vor ihm Habermas Text). Freilich, veröffentlicht hat Habermas seine mit
richtete er den Blick von Schellings ›existenzphiloso- 425 Seiten durchaus umfangreiche Dissertation nie.
phischer Wende‹ vor auf das Werk Kierkegaards, Der in Theorie und Praxis (zuerst 1963) abgedruckte
Marxens und Heideggers. Auch Schulz arbeitet am Aufsatz »Dialektischer Materialismus im Übergang
Zwiespalt der Schelling’schen Philosophie zwischen zum Materialismus – Geschichtsphilosophische Fol-
Vollendung der Metaphysik, retrograden Tendenzen gerungen aus Schellings Idee einer Contraction Got-
und erstaunlichen Vorblicken in die postmetaphysi- tes« (ebd., 172–227) muss so als das öffentliche Ver-
sche Moderne, die ohne Schelling so nicht denkbar mächtnis der Doktorarbeit gelten. Aber hier tritt der
gewesen wäre. Autor Habermas aus der dämmerigen akademischen
Was Habermas’ unter der Betreuung von Erich Vorhalle heraus ins Offene und zeichnet kühne Per-
Rothacker und Oskar Becker entstandene und 1954 spektiven einer marxistischen Geschichtsphiloso-
von der Philosophischen Fakultät der Universität phie, die viel von Schellings Weltaltern lernen
Bonn mit »opus egregium« bewertete Dissertation könne.
am deutlichsten von Lukács’ Unternehmen unter- Freilich, in ihm, diesem späteren und sehr selekti-
scheidet, ist die Absicht, den im Zwiespalt verwirr- ven Resümee, liegt der Akzent deutlich auf der Inter-
ten Tendenzen der Schelling’schen Spätphilosophie pretation des ersten Weltalter-Entwurfs (von 1811),
den Ausweg aus dem Fliegenglas zu zeigen. Eine sol- den Schellings Biograph Xavier Tilliette (2004, 269)
che Kritik ist eher »rettend« im Sinne Benjamins als von der Forschung seit Habermas »zu sehr aufge-
»bewußtmachend« (vgl. Habermas 1972). Ähnlicher bauscht« nennt. Der Theorie und Praxis-Aufsatz iso-
noch – weil ohne Theologoumena auskommend – liert einen Abschnitt, der sachlich ein Stück des drit-
134 III. Texte

ten Teils von Habermas’ Dissertation gebildet hatte, ven auf Kierkegaards und im Positiven auf Marxens
freilich wird auch das Scheitern der Spätphilosophie Weiterbildung bezogen (AG §§ 3 und 5).
(in der Diss. Teil I.2) ausführlich behandelt. Das Ab- Das Motiv für diese breite Berücksichtigung des
solute und die Geschichte: Von der Zwiespältigkeit in nachhegelschen Kontextes ist deutlich: Am Anfang
Schellings Denken selbst setzt nicht nur diesen Ak- und am Ende jener Bewegung, die als der dialekti-
zent, sondern gibt vorab eine umfassende und kennt- sche Materialismus registriert ist, stand und steht
nisreiche Deutung von Schellings Gesamtwerk in Hegel. Kein Denken war – neben dem Marx’schen –
seiner Entwicklung. vergleichbar erfolgreich für das Selbstverständnis
Die Arbeit ist dreigeteilt. Der erste Teil (»Freiheit nicht nur des Materialismus, sondern der Moderne
und Wirklichkeit«) ist selbst zweigliedrig, zunächst überhaupt. Aber in der Zwischenzeit – und sie hat
abhebend auf die zeitgenössische, auch die spätidea- gut ein Jahrhundert gewährt und erhebliche Trans-
listische Hegelkritik (1827–50), die wesentlich – formationen im institutionellen Gefüge unserer ge-
wenn auch über dunkle Kanäle – durch Schellings danklichen und gesellschaftlichen Wirklichkeit her-
fast nur mündlich vorgetragene Spätphilosophie an- vorgebracht – gab der Weltgeist – über Hegels eige-
geregt worden war; sodann einen umfassenden Blick nes Vermächtnis sich hinwegsetzend – die Parole
werfend auf diese Spätphilosophie selbst unter dem einer Überwindung des Idealismus aus. Von ihr her
Gesichtspunkt ›des Absoluten und der Geschichte‹. war es, dass auch Hegels Werk aufs neue studiert
Der zweite Teil (»Das Absolute und das Endliche«), wurde (z. B. vom jungen und vom reifen Marx – und
untergliedert in einen natur- und einen identitäts- von der Studentenbewegung der 1960er und 1970er
philosophischen Part, vollzieht die Anfänge von Jahre bis hinein in die Heidelberger Seminare) – aber
Schellings Philosophie bis ins reife »Identitätssys- das war eben eine Lektüre, die den Index einer kriti-
tem« der Aphorismen nach (1795–1806); und der schen Distanzierung trug und die – wenn überhaupt
dritte und ausführlichste Teil wendet sich der Weltal- – nur an solche Traditionen anknüpfen mochte, die
ter-Spekulation der Jahre 1809 bis 1821 zu – mit dem – wenn schon häretisch sich verhaltend zum Idealis-
erwähnten Akzent auf dem ersten Entwurf von 1811. mus Hegels – den Standard seines Argumentierens
Er ist in sich vierfach untergliedert: »I. Von der abso- nicht unterboten. Nun lag die einzige in der Stunde
luten Identität zum geschichtlichen Leben«, »II. Null der materialistischen Idealismuskritik zuhan-
Analytik des menschlichen Geistes«, »III. Die zeitli- dene Philosophie, in der eine Kritik an Hegels idea-
che Verfassung des endlichen und des absoluten listischer Dialektik von wirklich grundstürzender
Geistes« und »IV. Die Weltalterspekulation und ihr Tragweite formuliert war, eben vor in Schellings –
Scheitern«. – Die ganze Arbeit besteht aus 34 durch- weitgehend unpubliziertem – Spätwerk, also in stu-
gezählten Paragraphen. dentischen Nachschriften seiner Erlangener, Mün-
Im heutigen Rückblick fällt dreierlei an Haber- chener und Berliner Kollegs, von denen man weiß,
mas’ Zugriff auf: Er untergliedert Schellings Philoso- dass sie – unter der Hand und zum Kummer ihres
phie in drei Epochen, in denen die eine und selbe Autors – zu hohen Preisen und bis nach Frankreich
Frage nach dem Verhältnis des Absoluten zur wirkli- und Russland hinein gehandelt wurden, wo sie selbst
chen, zumal zur geschichtlichen Welt je verschieden Revolutionäre mächtig aufwühlten (Prosper Enfan-
gestellt wird, aber in keiner eine widerspruchsfreie tin, Pierre Leroux, Michail Bakunin u. a. [Belege in
Antwort erfährt (wobei der erste Weltalter-Entwurf Frank/Kurz 1975, 431/3–466; Schelling 1993, 14 ff.,
von 1811 am meisten wagt und am eindrucksvolls- 554 ff.; Müller 1963 u. 1993]). Dass der prima facie
ten scheitert). unpolitische Schelling gerade in diesen Kreisen auf
Sodann wird Schellings späte Philosophie in den so lebhaftes Interesse stieß, haben besonders Hein-
Kontext des Zerfalls und der Weiterverarbeitung der rich Heine und Moses Heß zu würdigen versucht, je-
Hegel’schen Philosophie gestellt: vor den Hinter- ner durch den Hinweis auf die »soziale Wichtigkeit
grund des »revolutionären Bruchs«, den Löwith der erwähnten Philosophie« (Heine 1997, 3, 628),
zehn Jahre später im Denken des 19. Jahrhunderts dieser durch die kühne Behauptung, die »französi-
diagnostizieren wird (Löwith 1964; dazu PPP, sche Sozialphilosophie« der St.-Simonisten sei wahr-
116 ff.). Dabei wird das Potential von Schellings exis- haft analog, »ja wesentlich identisch« mit Schellings
tentialistischem Einspruch gegen Hegels Panlogis- Naturphilosophie, die, wie er sagt, »der neuen Reli-
mus – ein Jahr vor Walter Schulz’ klassischer Arbeit gion St. Simons wie der Restaurazion des alten Glau-
über Die Vollendung des deutschen Idealismus in der bens, [allererst] eine spekulative Basis« geliefert habe
Spätphilosophie Schellings (Schulz 1955) – im Negati- (Heß 1961, 200 f. und 288).
1. Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie 135

Schließlich bezieht Habermas mit großer Auf- nisch-spätidealistischen Hegel-Kritik und -Trans-
merksamkeit und ohne Häme die neuplatonisch- formation bis hin zu dem ungleichen Paar Kierke-
mystische Tradition Böhmes und der ›Schwabenvä- gaard und Marx. Ihm folgt – als zweiter Block des
ter‹, besonders Oetingers, mit in sein Bild ein. An ersten Teils – ein Überblick über das Wesentliche der
Böhme wird gerühmt »[…] der beharrliche Eifer, »Spätphilosophie« selbst, die Habermas, wie üblich,
mit dem er an der Endlichkeit der Dinge, der Positi- 1827, mit Schellings Berufung nach München und
vität des Bösen und der Entscheidungsfreiheit des dem Vortrag der Münchener Einleitung in die posi-
Menschen festhält« (AG, 2), an Oetinger, dass er die tive Philosophie beginnen lässt. Diese Einleitung ist
Dynamik und Produktivität (»Selbstbewegung«) der anfangs unter dem Titel System der Weltalter vorge-
Natur gegen die mechanistisch-atomistische Be- tragen und in einer Nachschrift (von Ernst von
trachtungsweise der modernen Naturwissenschaften Lasaulx) erst 1990 publiziert worden (Schelling
verteidigt (ebd., 30 ff., 136 ff.). Die in diesen Traditi- 1990). Sie lag dem Zyklus von Schellings Münchener
onszusammenhang gehörige jüdisch-kabbalistische und ab 1841 Berliner Vorlesungen zugrunde. Eine
Tradition mit Isaak Luria im Mittelpunkt strahlt in fortgeschrittene und viel ausführlichere Version die-
Habermas’ Frühwerk im Glanz einer fast blochi- ser Vorlesung aus dem akademischen Jahr 1832/33
schen Utopie (dazu PPP, 154 ff.). hat Horst Fuhrmans in einer Nachschriftenkompila-
Ich werde zunächst eine Charakterisierung der tion unter dem Titel Grundlegung der positiven Phi-
Dissertation insgesamt geben und dabei auf die Ak- losophie 1972 veröffentlicht (Schelling 1972). Auf
zente achten, die sie im Vergleich zu anderer Schel- Kenntnisse dieser wichtigen Editionen konnte Ha-
ling-Forschung eigentümlich setzt. Besonderen bermas noch nicht zurückgreifen. Er war auf die
Raum verdient die Darstellung des fruchtbaren (nicht immer richtig datierten oder in die richtige
Augenblicks, auf den Habermas die Wirkung des Ordnung gebrachten) Auszüge angewiesen, die
späten Schellings datiert. Anschließend werde ich Schellings Sohn Karl Friedrich August in bester Ab-
insbesondere den geschichtsphilosophischen Kon- sicht, aber mit viel falschen Gefälligkeiten gegen des
sequenzen nachgehen, die Habermas in dem Schel- Vaters letzten Willen und keineswegs auf der Höhe
ling-Aufsatz aus Theorie und Praxis isoliert und die philologischer Standards, geschweige heutiger Ein-
sein frühes Denken schon unterwegs zeigen zu einer sichten in den Gang des späten Schelling’schen Den-
in Auseinandersetzung mit Marx gewonnenen eige- kens, 1856 bis1861 bei Cotta veröffentlicht hatte (aus
nen Position innerhalb der Kritischen Theorie. Der dieser Ausgabe zitiere ich, wie Habermas, Schelling
in der Dissertation begonnene Dialog setzt sich ste- [1856–1861]; unersetzliche, auch durch brauchbare
tig fort bis in Erkenntnis und Interesse und Zur Re- Nachschriften nicht zu kompensierende Originale
konstruktion des Historischen Materialismus. gingen bei der Bombardierung Münchens 1944 für
immer verloren; die beste Übersicht über den Auf-
bau der späten Schelling’schen Vorlesungen liefert
Der späte Schelling in seiner Zeit
Horst Fuhrmans in der Einleitung zu Schelling
Habermas ist der erste Autor (und vollends der ein- 1972).
zige innerhalb der Kritischen Theorie), der Schel- Als sein ergebenster Schüler, der inzwischen zum
lings Werk aus den Schicksalen der Verarbeitung – Bayernkönig gekrönte Maximilian II., 1854 in Schel-
und das heißt wesentlich: der Kritik – von Hegels lings Bad Ragazer Grabstein meißeln ließ: »Dem ers-
Werk aufzuschließen unternimmt. Das geschieht in ten Denker Deutschlands«, traf er mit dieser Ein-
der ersten Hälfte des ersten Teils seiner Dissertation. schätzung mitnichten die allgemeine Überzeugung.
Es zeigt sich: Dieses Spätwerk markiert den Beginn »Er hatte sich überlebt«, war der allgemeine Tenor
des »revolutionären Bruchs«, den Löwith im 19. (zum Folgenden vgl. Frank in Schelling 1993, 11 ff.).
Jahrhundert diagnostiziert (Löwith 1964; vgl. Ha- Die Alt-Hegelianer, die Hegels Berliner Geistesburg
bermas in PPP, 116 ff.). Nicht an christologischen fest in ihrem Besitz glaubten, höhnten 1841, als der
oder im weitesten Sinne ideengeschichtlichen Zu- eben an die Regierung gelangte Preußenkönig Fried-
sammenhängen ist der junge Doktorand interessiert rich Wilhelm IV. Schelling an die dortige Universität
(wie das für den ersten großen Erschließer von berufen ließ, hoffend (das sind des Königs eigene
Schellings mittlerem und spätem Werk, Horst Fuhr- Worte), Schelling werde »die Drachensaat des He-
mans, galt). Habermas’ Interesse ist geschichtsphilo- gelschen Pantheismus« ausreuten und »der gesetzli-
sophisch, ja politisch. So beginnt der erste Teil der chen Auflösung häuslicher Zucht« wehren (vgl. Max
Dissertation mit einem Aufriss der junghegelia- Lenz in ebd., 477 ff.): Vor bereits 30 Jahren sei Schel-
136 III. Texte

ling durch Hegel »fürstlich zu Grabe getragen wor- wird nicht geradezu verdammt. Ihm wird vorgewor-
den«. Seither habe die gebildete Welt von ihm kein fen, abtrünnig geworden zu sein von seinem roman-
Werk mehr von Belang zu lesen bekommen. Schel- tischen Jugendgedanken, der die Naturgeschichte
ling ruhe »[…] wie im Grabe der Vergessenheit; alle der des Geistes hatte vorangehen lassen. Das war,
wahrhaft lebendigen Philosophen hatten sich dem was Marx »das Gute von unserm Gegner« nennt (in
die Herrschaft innehabenden Hegel zugewandt«. Schelling 1993, 568).
Deutlicher war die Hegel’sche Linke. Den früheren Zwiespältig im Wortsinne – die eine und die an-
»Lichtmenschen« Schelling sah Heine schon 1827 – dere Seite Schellings wohl sehend – sind auch die
zu Unrecht (Frank 1992, 361–395) – in die Schlingen Urteile anderer Zeitgenossen und Hörer: Das Haupt
der Münchener katholischen Kongregation (um der Hegel’schen Linken, Arnold Ruge, findet Schel-
Görres, Döllinger und Baader) verstrickt; »wie ein ling, bei allen Bedenken gegen seinen Anti-Hegelia-
armseliges Mönchlein« sei er geisterhaft herumge- nismus, nach einem Gespräch in Karlsbad »politisch
schwankt, habe mystisches Zeug geschwatzt und im- und religiös freisinnig« (in ebd., 499 f.). Er verhan-
merfort auf den größeren Hegel geschmäht, »der ihn delt mit ihm um das Recht zur Publikation seiner
supplantiert« (Heine 1997, 3, 633, 433 f.). Friedrich Münchener Vorlesungen und liebäugelt mit Schel-
Engels, der Schellings Kolleg von 1841/42 über Phi- lings Gedanken, die Wirklichkeit dürfe nicht – He-
losophie der Offenbarung hörte und mit Artikeln und gelisch – für vernünftig erklärt, sondern müsse
Streitschriften begleitete, warnt Schelling davor, das durch vernünftiges Handeln allererst in diesen Zu-
Erbe Hegels zu schänden, und ruft die Getreuen zur stand versetzt werden. »In der Logik liegt nicht Welt-
»großen Entscheidung, der Völkerschlacht« gegen veränderndes«, hatte Schelling schon in München
Schelling auf (Engels 1842, in Marx/Engels 1956–90, gelehrt (Schelling 1856–1861, I/10, 153). In der Tat,
1. Erg.band, 221). Kaum minder emphatisch hatte er mit dem Letzten der logischen oder rationalen, der
zu Beginn der Schelling’schen Vorlesungen im Tele- Hegel’schen Philosophie – der ›Idee‹ oder dem ›ab-
graph für Deutschland geschrieben: »Wenn ihr jetzt soluten Geist‹ – sei im Wortsinne »nichts anzufan-
hier in Berlin irgendeinen Menschen, der auch nur gen« (ebd., II/1, 565). Die Vernunftwissenschaft
eine Ahnung von der Macht des Geistes über die führe zwar wirklich über sich selbst hinaus und
Welt hat, nach dem Kampfplatze fraget, an dem um treibe zur Umkehr; diese selbst könne aber doch
die Herrschaft über die öffentliche Meinung nicht vom Denken ausgehen. Dazu bedürfe es viel-
Deutschlands in Politik und Religion, also über mehr eines praktischen Antriebs; »im Denken aber
Deutschland selbst gestritten wird, so wird er euch ist nichts Praktisches, der Begriff ist nur contempla-
antworten, dieser Kampfplatz sei in der Universität, tiv, und hat es nur mit der Nothwendigkeit zu thun,
und zwar das Auditorium Nr. 6, wo Schelling seine während es sich hier um etwas außer der Nothwen-
Vorlesungen [...] hält« (in Schelling 1993, 535). Karl digkeit Liegendes, um etwas Gewolltes und Beab-
Marx bittet Ludwig Feuerbach um die Abfassung ei- sichtetes handelt« (ebd., II/1, 565; vgl. TP, 212)
ner kritischen »Charakteristik Schellings«: Schelling »Wirkliche Dialektik ist allein im Reich der Freiheit;
sei »38tes Bundesmitglied« (Anspielung auf Schel- sie allein vermag alle Rätsel zu lösen« (Schelling 1993,
lings politisch wenig einflussreiche Berufung in den 168).
Staatsrat), die ganze deutsche Polizei samt der Zen- Der Pariser ›romantische Sozialist‹ Pierre Leroux
surbehörde »stehe zu seiner Disposition«. »Ein An- begrüßt Schelling emphatisch, ja übersetzt den Be-
griff auf Schelling [sei] also indirekt ein Angriff auf ginn seiner Berliner Vorlesungen ins Französische.
unsere gesamte und namentlich auf die preußische Der religiösen Wende Schellings, in der andere die
Politik« (in ebd., 567 f.). Verleugnung seiner Jugendphilosophie vollzogen se-
Warum wendet sich Marx gerade an Feuerbach, hen, gewinnt er tiefen Sinn ab: Ein Denken, das kein
den »Kommunisten«, dessen Naturalismus Marx Höheres über sich anerkenne, sei – wie Hegels Bei-
übernimmt? »Sie sind«, erklärt er sich, »gerade dazu spiel lehre – früher oder später gezwungen, Frieden
der Mann, weil sie der umgekehrte Schelling sind. zu machen mit den bestehenden Verhältnissen.
Der [...] aufrichtige Jugendgedanke Schellings [...], Michail Bakunin, Schellings Berliner Schüler, dem
der bei ihm ein phantastischer Jugendtraum geblie- Meister persönlich bekannt, erwartet Schellings Vor-
ben ist, er ist Ihnen zur Wahrheit, zur Wirklichkeit, lesungen ›mit unvorstellbarer Ungeduld‹: »Im Laufe
zu männlichem Ernst geworden«. Das Urteil ist des Sommers habe ich viel von ihm gelesen und fand
zwiespältig (und Feuerbach spürte das wohl, schließ- darin eine so unermeßliche Tiefe des Lebens, des
lich schreckte er vor der Aufgabe zurück): Schelling schöpferischen Denkens, daß ich davon überzeugt
1. Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie 137

bin, daß er uns auch jetzt viel Tiefsinniges offenba- seiner Theorie nicht verständlich machen können.
ren wird« (in Schelling 1993, 539). Wahrscheinlich So habe geschehen können, dass er noch den norma-
gefiel dem späteren Anarchisten Schellings gnaden- tiven Einspruch gegen die Verdinglichung menschli-
lose Polemik gegen den Staat als eine ›Geißel Got- cher Arbeit mit der »Felsenmelodie« der Hegel’schen
tes‹, einen ›Fluch‹, der auf der Menschheit laste, als Dialektik unterlegt (Marx/Engels 1956–90, 1. Erg.
etwas, das es gelte ›aufzuheben‹ (Schelling 1856– bd., 8 f.). Reflexion wird nach dem naturalistischen
1861, II/1, 534 ff.; zu Bakunin und Schelling vgl. Schema der ›Selbsterzeugung der Gattung‹ begrif-
Frank 2007, Text 12). Aber auch Schellings Über- fen; und ›Naturalismus‹ meint: was nicht nur ins
windung der lediglich begriffsbasierten Hegel’schen Spektrum der empirischen Naturwissenschaften
durch »wirkliche, blutige Widersprüche« stößt auf fällt, sondern darin auch aufgeht. So konnte es dazu
Bakunins lebhafte Zustimmung (Bakunin 1935, 68; kommen, dass die Dialektik als naturwissenschaftli-
in Schelling 1993, 38, 79). Ganz ähnlich auf diejenige ches Grundgesetz verstanden wurde und Marx de
Søren Kierkegaards, eines weiteren Hörers (und Mit- facto dem »Positivismus« Vorschub leistete (EI, 58 f.,
schreibers) von Schellings Kolleg (in ebd., 391–467): 87 f.). Die in der Folge durch Engels, Kautsky und
Zunächst – auch er – begeistert von Schellings Auf- Lenin noch entschiedener naturalisierte Dialektik
brechen des Hegel’schen Begriffspanzers (»als er das werde nicht, wie bei Schelling (und Kierkegaard),
Wort ›Wirklichkeit‹ nannte, vom Verhältnis der Phi- auf eine freie Tat des Subjekts, sondern auf einen an-
losophie zur Wirklichkeit, da hüpfte die Frucht des onymen »realdialektischen Prozeß« gegründet (AG,
Gedankens in mir vor Freude wie in Elisabeth«), ist 80 f.). Freilich, die eigentliche Pointe von Haberma-
er bald verwirrt, enttäuscht, endlich angewidert sens Marx-Aneignung muss den Augenblick seiner
(»Schelling salbadert grenzenlos« [in ebd., 530 ff.]). Weltalter-Interpretation abwarten. Sie wird ein kryp-
Viel davon referiert Habermas im ersten Ab- tomaterialistisches, stark aus mystischen Quellen ge-
schnitt des I. Teils seiner Diss. Ein sympathetischer speistes normatives Motiv freilegen, das vor Haber-
Akzent liegt zweifellos auf Marx, der dem mas kein Schelling-Interpret dort vermutet hatte.
Feuerbach’schen Naturalismus eine Handlungsper- So viel lässt sich schon hier sagen: Habermas ist
spektive eingebildet und ihn in die geschichtliche sensibel für die Wendung, die Schelling seit der Frei-
Welt zurückgeholt habe (AG, 79 ff.). Habermas bringt heitsschrift dem Gedanken des freien Handelns ge-
schon hier einen Gesichtspunkt ins Spiel, den der geben hat (AG, 239 ff.; vgl. den Vergleich der Frei-
1957 verfasste »Literaturbericht zur philosophischen heitsauffassungen von Fichte, Schelling und Hegel
Diskussion um Marx und den Marxismus« (TP, 387– im § 28, 303 ff.). Klassisch (bei Spinoza, Leibniz, aber
463) sowie die Marx-Kapitel in Erkenntnis und Inter- auch beim Schelling des Identitätssystems [z. B.
esse (EI, 14–87) und der Aufsatz »Zur Rekonstruk- Schelling 1856–1861, I/6, 538 f., § 302; I/7, 384])
tion des historischen Materialismus« (RHM, 144– heißt ›frei‹ ein (prinzipiell unveränderliches) Wesen,
199) differenziert ausführen werden. Durch seine das seine Natur ungehindert von fremdem Zwang
bedingungslose Anlehnung an den ehernen Gang entfalten kann. Aber natürlich ist dies die Freiheit
der Hegel’schen Dialektik habe nämlich Marx die des Spinoza’schen Steins, der sich freut, aus der ge-
emanzipatorische Tat selbst noch begrifflich bevor- öffneten Hand, den Gesetzen seines Wesens entspre-
mundet (›gegängelt‹) bzw. ins Korsett einer unent- chend, zur Erde zu fallen. In der Freiheitsschrift
rinnbaren »Nötigung« gepresst. Unter anderem da- taucht aber erstmals die Wendung auf, »das Wesen
rum haben sich »Hegel und Marx, darin eines Sin- des Menschen [sei] wesentlich seine eigne That«
nes«, eines »Rückfalls hinter die Reflexionsstufe der (Schelling 1856–1861, I/7, 385). Demnach ist das
Kantischen Kritik« schuldig gemacht, die objektive Wesen nicht Handlung determinierend, sondern
Verhältnisse an Konstitutionsbedingungen und die geht allererst aus einem Handeln hervor. Es ist Re-
Reflexion auf das Wie ihrer Realisierung zurück- sultat eines »reale[n] Selbstsetzen[s]«, eines »Ur-
band. Marx habe, was Fichte noch ›Tathandlung‹ und Grundwollen[s], das sich selbst zu etwas macht,
nannte, auf Arbeit als instrumentelles Tun reduziert; und der Grund und die Basis aller Wesenheit ist«
und dieses werde noch als Fortsetzung zwar, aber als (ebd.). In diesem Verhältnis herrscht keine dialekti-
»wirklicher Teil der Naturgeschichte« verstanden. sche Nötigung (wie in der Hegel zugeschriebenen
Obwohl er sein Unternehmen noch auf den kanti- Formel, Freiheit sei Einsicht in den notwendigen
schen Namen der Kritik tauft, habe Marx die Mög- Gang des Allgemeinen [Hegel 1969–1971, 7, 294,
lichkeit einer Ideologiekritik, die er doch vehement § 145; 10, 303, § 484; vgl. Hegel 1952, 428, 436; AG,
betreibt, aus den ontologischen Basis-Annahmen 310 f.), sondern das Wesen, das in der tradierten For-
138 III. Texte

mel seine Folgebestimmungen ex anankes festlegt, natürlich vor allem Hegels) ewigkeitsversessene frü-
ist selbst das Ziel eines Entwurfs. Nicht in grenzen- here Metaphysik – ineins mit der Metaphysik seit
lose Allgemeinheit ist nach Schelling die Freiheit Platon und besonders der Inthronisierung der Sub-
aufgelöst: Sie ist das Signum unserer Endlichkeit jektphilosophie durch und seit Descartes –, die er
(AG, 313 ff.). Nicht einmal eine platonische Urwahl nun ›negative Philosophie‹ nennt. Sie ist negativ, weil
des eigenen Charakters, der dann alle Folgehandlun- sie vom einzigen Thema der Metaphysik, dem ›Sei-
gen determiniert, nimmt Schelling an: »Wir fordern enden als Seienden‹, nur sagt, was es nicht ist: näm-
von dem Menschen allerdings auch, daß er seinen lich Geist. Deutlicher noch: Die Metaphysik – zuletzt
Charakter überwinde« (Schelling 1946, 93 f.; AG, in der Hegel’schen Varietät – leidet an einem »un-
315). Schelling kann das darum denken, weil er das endlichen Mangel an Seyn« (Schelling 1856–1861,
Wesen – was eine Sache oder was ein Charakter ist, II/2, 49; Schelling 1972, 439), hat sie doch das wirkli-
seine quidditas – in eine uneinholbare Abhängigkeit, che Sein auf das reduziert, was es nicht ist: auf Geist,
ja in eine zeitstiftende Verspätung gegenüber seiner auf ein an ihm selbst nicht Seiendes: ein platonisches
Existenz (Dassheit, quodditas) versetzt, so dass – wie mä ón. ›Positiv‹ ist dagegen die Philosophie, die das
Habermas gelegentlich suggeriert (z. B. AG, 243) – »reine Daß – [den] actus purus« (Schelling 1856–
auf Schellings Philosophie der Tat ganz eigentlich 1861, II/1, 586) der Existenz – im Sinne Kants – als
Sartres Formel vom Vorrang der Existenz vor der Es- ›absolute Position‹, als begriffsfreie Setzung respek-
senz (dem Wesen) passt (z. B. Sartre 1991, 385). Im tiert (KrV A 1781, 598 f.), die allem Bewusstsein vor-
Selbstbewusstsein geht die Existenz der Essenz vo- ausgeht, es trägt und von ihm nur im Nachhinein (a
ran, sagt Schelling (Schelling 1993, 110). Das Wesen posteriori) gewusst werden kann. So hat das Be-
ist selbst nur als das ›Überseiende‹; als diejenige Be- wusstsein – das sich dem opaken Sein gegenüber als
stimmung, die sich über das blinde Sein frei hinweg- ein relativ nicht Seiendes verhält, im Sein seinen Re-
gesetzt hat; als das gewesene oder »überholte Sein«. algrund, so wie umgekehrt das Bewusstsein dem Sein
Das Subjekt steht – sein Wesen entwerfend – aus sich zum Erscheinen verhilft (Bewusstsein ist des Seins
heraus, es ek-sistiert (das ist Schellings Etymologie Idealgrund). Ein System, das diesem den Idealismus
ebd., 167); es lässt das blinde Sein als »ein Überwun- radikal überwindenden Gedanken gewachsen wäre,
denes«, »Vergangenes […] hinter sich« (169 f.). dürfte sich mit Recht ein »Existentialsystem« nennen
Durch freies Tun ist der Schelling’sche – anders als – ein Titel, auf den Schellings Konkurrent Hegel nur
der in Hegels Dialektik verstrickte Marx’sche – Agent ungerechtfertigt Anspruch erhoben habe, als er seine
»von der unverbrüchlichen […] Į’ ȞȐγκη des Seins Logik vom Sein, aber nur vom Sein als elementars-
befreit« (164). »[D]er Mensch muß von seinem Sein tem Begriff eines rationalen Systems, habe ihren
sich losreißen, um ein freies Sein anzufangen. […] Ausgang nehmen lassen (Schelling 1993, 125).
Sich von sich selbst zu befreien, ist die Aufgabe aller Man muss es betonen: Schelling greift damit nur
Bildung. Die Menschen […], welche nicht von sich Kants These übers Sein auf, die er als einziger Den-
selbst wegkommen, bleiben unvermögend« (170; zur ker der klassischen deutschen Philosophie verstan-
»zeitlichen Verfassung« des Geistes vgl. Habermas den und ernstgenommen hat. Denken – in das Hegel
AG, III. Abschnitt des dritten Teils: 319 ff.). ›Sein‹ aufheben möchte – ist bloßes Entwerfen von
Möglichkeiten (›Potenzen‹, dynámeis); aus ihnen
kann zirkelfrei kein Wirkliches entspringen: Ein pla-
Das Scheitern der Spätphilosophie
tonisches mä ón könnte nimmermehr Grund eines
Der zweite Abschnitt des ersten Teils fragt nach »dem Existierenden sein – es sei denn, es existierte selbst
Absoluten und der Geschichte in Schellings Spätphi- bereits; dann aber muss dem Begründen das Existie-
losophie (1827–54)«. Deutlich ist Habermas von ren zuvorgekommen sein. »Denn nicht«, sagt Schel-
dem durch Husserl, Heidegger und Sartre ins Zen- ling, »weil es ein Denken gibt, gibt es ein Seyn, son-
trum der Metaphysik-Kritik gerückte Zeitthema ge- dern weil es ein Seyn gibt, gibt es ein Denken«
packt, das damals und fast gleichzeitig mit dem lin- (Schelling 1856–1861, II/3, 161, Anm. 1). Feuerbach
guistic turn als mächtigste Waffe gegen ein Philoso- macht daraus: »Das Denken ist aus dem Sein, aber
phieren aus wirklichkeitsverneinenden Hinterwelten das Sein nicht aus dem Denken« (Feuerbach 1970,
in Einsatz kam. Diese Hinwendung zur Endlichkeit 258, Nr. 4). »Wollen wir irgend etwas außer dem
scheint nun von keinem Denker der ›Sattelzeit‹ so Denken Seyendes, so müssen wir von einem Seyn
eindrucksvoll eingeleitet worden zu sein wie vom ausgehen, das absolut unabhängig von allem Den-
späten Schelling. Er selbst revidiert damit seine (und ken, das allem Denken zuvorkommend ist. Von die-
1. Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie 139

sem Seyn hat die Hegel’sche Philosophie nichts, für voll treffe: »[Anders als dieser] hat Schelling zu kei-
diesen Begriff hat sie keine Stelle« (Schelling 1856– ner Zeit den Anspruch des Begriffs aufgegeben, zu
1861, II/3, 164). Marxens berühmter (freilich gesell- keiner Zeit hat er wie Kierkegaard das Wissen durch
schaftlich-ökonomisch gewendeter) Satz, nicht be- den Glauben begrenzt« (AG, 115).
stimme das Bewusstsein das Sein, sondern dieses das
Bewusstsein (Marx 1971, 15), hat hier ihre Wurzel.
Natur- und Identitätsphilosophie
Noch in Lenins Philosophische Hefte verirren sich
Schelling-Zitate wie dieses: »Die Begriffe als solche Sie ist das Thema des Zweitens Teils von Das Abso-
existiren [...] nirgends als im Bewußtseyn, sind also lute und die Geschichte, auf die Natur- (1794–1800)
objektiv genommen nach der Natur, nicht vor der- und die Identitätsphilosophie (1801–1806) je einen
selben« (Schelling 1856–1861, I/10, 140; Planty- Abschnitt verteilend. Auch hier zeigt sich Habermas
Bonjour 1974, 61 f.). sensibel für Schellings Kampf um den Vorrang der
Freilich, Habermas findet Schellings eindrucks- Naturalität vor dem Geist, der ja im Rahmen des ide-
volle Grenzziehung zwischen einer reinrationalen alistischen Diskurses schwer zu behaupten war und
und einer positiven Philosophie »zweideutig« (AG, Schellings ganz eigenen Beitrag zur klassischen deut-
§ 9). Einerseits strebe sie danach, die geschichtliche schen Philosophie ausmacht: seinen »aufrichtigen
Wirklichkeit definitiv aus dem Sicherheitsgürtel der Jugendgedanken«. Im »absoluten Identitätssystem«
ewigkeitsfixierten Metaphysik zu lösen und das Han- (Schelling 1856–1861, I/4, 113) sei dieser Vorrang
deln auf eine Freiheit zu stützen, die ihr Wesen nicht zwar zugunsten der Identifikation beider eingeeb-
exekutiert, sondern erschafft. Andererseits stelle sie net. Aber selbst die Identitätsphilosophie lässt kei-
eine »Verlegenheitslösung« dar, sei sie doch »auf den nen Zweifel, dass die ›absolute Identität‹ von Natur
Trümmern der Weltalter errichtet« und habe »deren und Geist den beiden Relaten und ihrer Beziehung
eigentliches Anliegen [...] liquidiert« (AG, 10). Aus vorausliegt, von ihnen ontologisch und epistemolo-
der Einsicht in die Irreduzibilität des Positiven (der gisch »unabhängig«, nicht auf sie zu reduzieren sei
Wirklichkeit) auf negative (oder Denk-)Verhältnisse (ebd., 117, § 6; 16, Zusatz 1 zu § 15; vgl. I/6, 147,
habe sie keine radikalen, nämlich postmetaphysi- 163 f.). Und schon hier ist sie als Positivität – kan-
schen und posttheologischen Konsequenzen gezo- tisch als »unbedingtes Gesetztseyn« – gefasst (I/4,
gen. Den »Fehlschluß« des ontologischen Gottesbe- 117, Anm. 1).
weises, den Kant Jahrzehnte früher durch seine Für den Vorrang der Natur (AG, 160, 164) – das,
These über das Sein gestürzt hatte, bediene der alte was Schelling des Geistes »transcendentale Vergan-
Schelling am Schnürchen (ebd., 118; vgl. TP, 209 f.). genheit« nennt (Schelling 1856–1861, I/1, 380 ff., I/4,
Am Ende haben Theologie und wiederhergestellte 84 f. und I/10, 93 f.) – findet Habermas, in Absetzung
Metaphysik den Sieg behauptet und die endlichkeits- gegen die Heidegger’sche ›Befindlichkeit‹ – den tref-
emanzipierenden Tendenzen des ersten Weltalter- fenden Ausdruck »Getragenheit« (AG, 163 ff.). Die-
Entwurfs rückgängig gemacht. Denn einmal – nur ser Gedanke mache »Schellings ›Realismus‹« aus
ein einziges Mal (1811) – hatte Schelling – in der (ebd., 160). In Fichtes Philosophie der Tat sei die Zu-
kabbalistischen Tradition des Isaak Luria – erwogen, kunft des Entwurfs die vorrangige Zeitdimension,
Gott durch eine Kontraktion auf seine erste Potenz für Schelling sei jeder zukunftsöffnende Entwurf
aus der Welt sich zurückziehen zu lassen und dieser selbst schon ›entworfen‹ (ebd.), er habe ein natura-
vollständige Autonomie zu geben. Im Spätwerk aber les, aber auch ein menschheitsgeschichtliches Fun-
werde unter bloßer Beschneidung ihres Geltungsan- dament. Diesen Gedanken wende Schelling auch so-
spruchs die Vernunft in die verlorenen Rechte voll- zialphilosophisch; denn das einsam reflektierende
endeter »Erkenntnis des Wesenszusammenhangs al- Subjekt erfährt sein Selbstwissen und seine ›Aner-
les Existierenden« wiedereingesetzt (TP 1971, 207). kennung‹ erst aus dem Reflex, den ihm seine Inter-
»[D]er Ansatz der positiven Philosophie hätte ei- subjekte zusenden (ebd., 161 f.). Wenn irgendwo, so
gentlich durch eine Preisgabe der negativen ratifi- sieht man in der Zustimmung zu diesem Gedanken,
ziert werden müssen« (ebd., 211 f.). Denn von Schel- der ja der Hegel’schen Anerkennungstheorie um
ling sei die »existentialistische« Überwindung des viele Jahre vorarbeitet, ein antizipatorisches Motiv
Idealismus vorbereitet worden – freilich sei sie ihrer von Habermas’ eigenem Denken, das weit auf den
eigenen Konsequenz nicht treu geblieben. Immerhin Mead-Artikel im Nachmetaphysischen Denken vor-
dürfe man ihr den Vorwurf nicht machen, der Kier- blickt – von der Lanze zu schweigen, die Schelling
kegaards Abbrechen mit der Vernunftphilosophie 1800 für eine auf allgemeine wechselseitige Aner-
140 III. Texte

kennung gegründete universelle Rechtsordnung und Den Übergang schafft eine unversehene Dialek-
den »Völkerbund« bricht. Freilich ist Habermas’ Zu- tik, die Habermas glänzend analysiert: Je heftiger
stimmung gebrochen, weil er Schelling selbst in sei- Schelling die am Leitfaden der Kausalität/Zeit sich
ner Geschichtsphilosophie zu sehr auf den »unge- entwickelnde Welt der Erscheinungen vom Absolu-
schichtlichen Grund der geschichtlichen Seinsweise« ten selbst fernhält, desto genauer muss er sie besich-
(ebd., 164) bauen sieht. (Interessanterweise wird die- tigen, desto stärker tritt sie ex negativo in den Fo-
ser Vorwurf in Erkenntnis und Interesse an Marx wei- kus seiner phänomenologischen Aufmerksamkeit.
tergereicht, der Kants überzeitliche transzendentale Schon die wiederkehrende Formel, mit der er das
Synthesis unter den Namen ›Arbeit‹ und ›Produkti- Gesetz der Endlichkeit angibt, bereitet ab 1804
onsverhältnisse‹ – stehend für den sozio-institutio- (Würzburger System), noch stärker in den Aphoris-
nellen Rahmen, in dem sich die Produktivkräfte je- men zur Naturphilosophie von 1806, der Emanzipa-
weils entfalten – zwar radikal historisiert, aber doch tion des Zeit-Themas in den Weltaltern den Weg
als eine Art Fortsetzung der Naturgeschichte behan- (Frank 1992, 322 ff.). Die Formel lautet (charakteris-
delt habe [EI, 54 ff.].) tisch), endlich/zeitlich sei, was kein unabhängiges
Auch Schellings durch Oetingers antimechanizis- (absolutes) Sein oder was sein Sein nicht in sich,
tische Lebensphilosophie vermittelte (AG, 122–138) sondern in (der Relation zu) einem anderen habe,
Emphase auf der Produktivität der Natur, die über das selbst wieder des Seins entbehrt und in einem
ihrem Produkt nicht zu vergessen sei (140 f., 154 f.), Dritten suchen muss, und so fort ad infinitum (Schel-
darf auf Habermas’ lebhafte Zustimmung rechnen, ling 1856–1861, I/6, 195 f.; vgl. I/4, 130 f., 343 f., 397).
zumal auch hier die sozialphilosophische – die Das ist die Formel, mit der Schelling sowohl die Zeit
Marx’sche – Anwendung nicht fehlt, wenigstens als wie die Kausalität als Konstituentien der Endlichkeit
Motiv sich ahnen lässt. Noch eine andere Entwick- einführt. Auf der anderen Seite fehlt diese Rücksicht
lungslinie des Habermas’schen Denken lässt sich auf das Endliche in den Basis-Formeln seines »abso-
hier im Keim entdecken: das mit Zur Rekonstruktion luten Identitätssystems« völlig (Schelling 1856–1861,
des Historischen Materialismus und Moralbewußt- I/4, 113). »Nichts«, sagt Schelling mit einer wieder-
sein und kommunikatives Handeln durchschlagende kehrenden Wendung, »ist an sich betrachtet end-
Interesse an Piagets (und seines Schülers Kohlberg) lich« (z. B. ebd., 119, § 14, passim; AG, 183). Er ver-
kognitiver Entwicklungspsychologie. Durch Piaget gisst, hinzuzufügen, dass sich nichts an sich betrach-
findet Habermas den für ihn immer schon wichtigen ten lässt. Die Rede von einem »Endlichen an und für
Gedanken, dass die Vernunft Produkt einer selbst sich« (Schelling 1856–1861, I/4, 381; AG, 187 ff.)
produktiven Naturgeschichte ist, in die spekulativ greift dann kompensatorisch Raum ab 1802, um in
abgespeckte Sprache der Evolutionstheorie übersetzt Philosophie und Religion (1804) aufdringlich zu wer-
(ohne dass dabei sein spekulatives Moment ganz ver- den. Schelling erwägt nun den Gedanken eines »Ab-
loren geht oder Vernunft eliminativistisch auf natu- falls« des Endlichen vom Absoluten. Diesen Akt der
rale Prozesse reduziert würde; noch in seiner jünge- Be- oder Absonderung des Endlichen vom All fasst
ren Auseinandersetzung mit der Hirnforschung ist er charakteristisch in der Kategorie der Sünde, und
dieser Gedanke präsent [NR]). zwar nirgends knapper und bündiger als im Würz-
Die Identitätsphilosophie erfährt gegenüber der burger System:
Dynamik der naturphilosophischen Phase das ab-
»Der Grund der Endlichkeit liegt nach unserer Ansicht
wertende Attribut der ›Statik‹ (ebd., 177). Habermas’ einzig in einem nicht-in-Gott-Seyn der Dinge als besonde-
Motiv für diese Missbilligung haben wir schon be- rer, welches, da sie doch ihrem Wesen nach oder an sich nur
sichtigt: In der kristallinen Starre des Identitätssys- in Gott sind, auch als ein Abfall – eine defectio – von Gott
tems sei die frühere Dialektik (die der Sache nach er- oder dem All ausgedrückt werden kann. Die Freiheit in ih-
rer Lossagung von der Nothwendigkeit, d. h. die Besonder-
halten bleibe) eingefroren; Schelling ist aber seit
heit im eignen vom All abgetrennten Leben, ist nichts und
1802 (Fernere Darstellungen, Bruno), erst recht seit kann nur Bilder ihrer eignen Nichtigkeit anschauen, Das
Philosophie und Religion (1804) ebenso krampfhaft an den Dingen, was unmittelbar durch die Idee des All
wie vergeblich bemüht, den Absprung aus der dün- selbst als das Nichts, als eine Nichtigkeit an ihnen, gesetzt
nen Luft des Absoluten in die Geschichte, ins »Reich ist, als Realität zu ergreifen, dieses ist die Sünde. Unser Sin-
der Freiheit« (Schelling 1993, 168) zu finden. Das nenleben ist nichts anderes als der fortwährende Ausdruck
unseres nicht-in-Gott-Seyns der Besonderheit nach [...] /
gelingt ihm – wie wir sahen – erst mit einer Neudeu- Das ursprünglich Böse liegt also gerade darin, dass der
tung der Freiheit als nicht Wesen exekutierend, son- Mensch etwas für sich seyn will [...]« (Schelling 1856–1861,
dern Wesen erschaffend. I/6, 552, 561).
1. Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie 141

Absolutheit und Relativität sind einander schroff sich darum das Absolute durch ein ›anderes Absolu-
opponiert; denn ›absolut‹ heißt dasjenige, »quod est tes‹ (Schelling 1856–1861, I/4, 31 ff.), das den Keim
omnibus relationibus absolutum«. Nun ist nichts als des ›Abfalls‹ in sich trägt, sobald es sich nämlich aus
das Absolute, und außer dem Absoluten ist nichts. dem Schoß der absoluten Einheit losreißt und im
Also muss das Absolute auch noch das, was es selbst Idealismus des absoluten Ichs den Gipfel seiner Ver-
nicht ist, seine Relativität, in sich inkorporieren. So blendung ersteigt (ebd., 38 ff.). In der Freiheitsschrift
entsteht die (von Hegel aufgegriffene und weiter ent- (1809) ist es ein dunkler ›Ungrund‹ oder ›Urgrund‹,
wickelte) Formel von der Identität ihrer selbst mit ein ›Wille‹ – früher die der ›ideellen‹ vorausgehende
der Differenz. Ist dieser Gegensatz nur begrifflich, ›reelle Tätigkeit‹ –, der bzw. die dem Bewusstsein im
so bleibt er virtuell (potentiâ). Erst wenn sich ein Wortsinne ein reales Fundament legen. Alles Be-
Moment actualiter gegen das andere abgrenzt, ent- wusstsein ruhe auf ihm oder sei ein zweites, nach-
steht wirkliche Trennung – und mir ihr eine Zeit; trägliches Moment, in der Basis aber stecke der Keim
aber die (als aktuelle zerstörte) Einheit besteht als eines Abfalls. Auch vom ›Sein‹, das das ›Seiende‹
wesentliche fort (vgl. AG, § 15, 180 ff.; 323 ff.). So ist fundiere, ist in der Weltalter-Phase die Rede: Und
die Grundformel der Zeit, dass sie eine Trennung wieder tritt die Idee hinzu, dass ein Sich-Einklam-
besonderer Art ist, nämlich eine Trennung, die wie- mern (»Contraction«) Gottes oder – umgekehrt –
dervereinigt (Sartre 1943, 177), oder – in Schellings ein Sich-Losreißen des verblendet seinen Sündenfall
Worten – ein ständiges »Zurückrufen des unendli- betreibenden Ich Ursache einer Katastrophe sei.
chen Begriffs aus der unendlichen Flucht« (Schel- Aber in allen diesen Versuchen gelingt es Schelling
ling 1856–1861, I/4, 119). »Zeitlich ist nämlich alles, nie, das vom Idealen wirklich unabhängige »Real-
dessen Wirklichkeit [= Aktualität] von dem Wesen prinzip« zu finden, das – schreibt Feuerbach gehäs-
übertroffen wird, oder in dessen Wesen mehr ent- sig –»der Schurke in Berlin sucht und nicht findet,
halten ist, als es der Wirklichkeit nach fassen kann« weil er kein Herz im Leibe hat« (an Chr. Kapp, 18. 2.
(ebd., I/2, 364). 1842, in Feuerbach 1964, XIII, 132).
Wenn Habermas der Identitätsphilosophie vor-
wirft, sie leiste nicht, was sie vorgibt (AG, 187), so ist Die Weltalter-Phase:
er zu stark fixiert auf ihre Not mit der Erklärung der »Geschichtsphilosophische Folgerungen aus
Eigenständigkeit des Endlichen, besonders der Schellings Idee einer Contraction Gottes«
menschlichen Realität. Im Namen der relationslosen
Identität werde eine »Entwirklichung« betrieben Einmal ist Schelling wenigstens ansatzweise die
(AG, 198, § 17). Dabei sieht er nicht, dass sich die Emanzipation der Geschichte vom Absoluten ge-
Endlichkeit auf andere Weise ins Zentrum des glückt: im ersten Entwurf zu den Weltaltern 1811.
Schelling’schen Denkens drängt: durch das Entglei- Vorstufen sieht Habermas – wie wir sahen – in der
ten ihres Prinzips, durchs Transzendent-Werden des neuen Freiheitskonzeption der Freiheitsschrift (1809)
Absoluten. Dieter Henrich hat in einer Heidelberger und der Stuttgarter Privatvorlesungen (1810); aber
Vorlesung einmal vorgeschlagen, die drei Systemge- schon in den Aphorismen, der Einleitung zu ihnen
stalten des deutschen Idealismus als Variationen des und besonders in der neuen Einleitung zur Weltseele
einen Keimgedankens zu verstehen, es sei ein Unbe- (alle Schriften von 1806) liest er Spuren Böhmes, die
dingtes im Ich zu denken. Schelling habe die Formel sich nun fest in Schellings Denken einprägen (AG,
so akzentuiert: Das Unbedingte im Ich müsse als ein § 18). Die Neuorientierung mache den »Chorismos
solches gedacht werden. von ewiger und erscheinender Natur hinfällig«, be-
In der Konsequenz dieser Liebe zum Unbeding- trieben werde eine »Verendlichung qua Verzeitli-
ten wird Schelling endlich auch der Gedanke des chung« der Potenzen. Damit werde die »Kehre« vor-
»Identitätssystems« selbst suspekt. Zwar schließt er bereitet, die Schelling – öffentlich sichtbar – mit der
in großartig (Spinoza-inspirierter) Vision den Geist Freiheitsschrift (1809) dem Publikum präsentiert.
und die Natur in einer Einheit zusammen, die noch Die real existierende Materie selbst übernehme –
heutige Leib-Seele-Theorien inspirieren kann. Doch wenigstens ansatzweise – die Eigenschaften des Ab-
fürchtet er, die Natur könne in dieser »Nacht der soluten, als physische Schwere Vielheit in der Ein-
Identität« (Schelling 1856–1861, I/2, 403), in dieser heit, als physisches Licht Einheit in der Vielheit und
Umklammerung durch den Geist als ein unabhängig zugleich das »unsichtbare Band« beider zu sein (AG,
Bestehendes untergehen. In der Wende-Schrift Phi- 208, 213, 218; Schelling 1856–1861, I/7, 224). Frei-
losophie und Religion (1804; AG, 198 ff.) redupliziert lich sei dies eine Tendenz, die mit Schellings Ewig-
142 III. Texte

keitsfixierung in eine »schillernden« Rivalität trete bloss Äusserliches, sie ist ein seines letzten Bewusstseins
(AG, 217 ff.). beraubtes Ganzes; sie ist ein Į’ κȑijαλον, ein seines Hauptes
Entbehrendes« (Schelling 1972, 471).
In diesem Zusammenhang ist einer merkwürdi-
gen Konversion der Schelling’schen Prinzipien zu Schelling beschwört eine »Wiedererhöhung« oder
gedenken, die Habermas hellsichtig – von der For- »Wiedererhebung« der degradierten Natur, eine
schung noch heute selten bemerkt (vgl. Frank 1992, »geistige Palingenesie oder Wiederauferstehung des
218 f., 251 ff.) – schon im Kontext seiner Auseinan- Materiellen« (Schelling 1856–1861, I/8, 463; II/2,
dersetzung mit der Naturphilosophie beobachtet 578; Schelling 1946 I, 32 f.; Schelling 1856–1861, I/2,
hatte. Immer hatte Schelling dem Bewusstsein eine 578). Keine Frage: Marx’ Utopie einer »Resurrektion
bewusstlose, eine darum zu Recht so genannte ›re- der [gefallenen] Natur, de[s] durchgeführte[n] Natu-
elle, ins Unendliche gehende Tätigkeit‹ vorausgehen ralismus des Menschen und de[s] durchgeführte[n]
lassen, die durch eine ›unbegrenzbare limitative, ide- Humanismus der Natur«, hat hier ihren Ursprung
elle Tätigkeit‹ eingeschränkt und für das Bewusst- (Marx/Engels 1956–90, 2, 101; vgl. auch 99; TP, 215;
sein kommensurabel gemacht wird. Seit 1809/10 EI, 45) – freilich haben beide ihre gemeinsame
setzt Schelling die attraktive oder kontraktive Tätig- Quelle in Mystik und Kabbala.
keit – die Schwere – als die reelle voran und lässt ihr Bleibt zu fragen, woher ein vom Absoluten Deri-
die expansive, ausbreitsame – das Licht oder die viertes die »Selbständigkeit« zur freien Tat des Ab-
Liebe – als die ideelle entgegenarbeiten (AG, 155, falls gewinnen könne. Die erste Antwort: Weil das
168–70, 249 ff.). Es bleibt indes dabei, dass das reelle Endliche aus »eine[r] von Gott unabhängige[n]
Prinzip »die Basis« des Entfaltungsprozesses bilde: Wurzel« stammt (AG, 251). Die zweite: Weil es ein
dasjenige, was – ins Physische gewendet – immer Grund-Folge-Verhältnis gibt, das die Symmetrie bei-
noch ›Schwere‹ heißt. Aber diese basale Tätigkeit der wahrt: die Zeugung (ebd., 231/2 ff.). Früher –
wartet nun nicht auf die Reflexion (Brechung) durch z. B. 1806 – hatte Schelling von einer »Selbstoffenba-
die entgegenstrebende Limitation, sondern ist selbst rung Gottes« gesprochen. Kraft ihrer ist der Reflex –
durch Verschlossenheit, Kontraktivität, Absonde- das Andere Gottes, dasjenige, in dem sich Gott
rung ausgezeichnet und bedarf der Verführung offenbart – dem Offenbarenden gleich und ebenbür-
durch die Liebe (die ideelle, ausbreitsame, expan- tig. Denn »Gott kann sich nur offenbar werden in
sive) Tätigkeit, um sich zu öffnen. Schelling nennt dem, was ihm ähnlich ist, in freien, aus sich selbst
sie auch »Egoität« oder »Selbstheit« – und nun ge- handelnden Wesen« (Schelling 1856–1861, I/7, 347).
schieht eine zweite Konversion: Fichtes Ichheit, die (Darf man in diesem Zusammenhang auf Habermas’
der frühe Schelling, trotz ihrer narzisstischen Krän- Paulskirchenrede nach dem 11. Sept. vorausblicken?
kung durch Hintanstellung hinter die Natur, immer Dort wird die »Gottesebenbildlichkeit des Men-
noch als den Zielpunkt des Naturprozesses ausge- schengeschöpfs« als eine intrinsische Wahrheit der
zeichnet hatte (der Naturprozess – heißt es 1796 – Religion mit weit ausgreifenden sozialintegrativen
sei nichts als »die Geschichte des Selbstbewußtseyns« Konsequenzen erwogen [GUW, 47 im Kontext], die
[Schelling 1856–61, I/1, 380–83]), – diese Ichheit er- als eine vielleicht rational einholbare, aber als solche
scheint nun als eine in Gott noch von Gott unabhän- zunächst doch transzendente Quelle fortwährender
gige Potenz (AG, 249 ff.). Als von Gott unabhängige Inspiration Würdigung verdiene – ähnlich dem
ist sie der Tendenz nach abtrünnig, ja böse; sie sinnt Lessing’schen »Richtungsstoß« [Lessing 1967, 557,
auf den Abfall von Gott – und reißt damit die ganze § 63], den die menschliche Vernunft durch Gottes
Natur mit sich in den Sündenfall: »Offenbarung« erfährt [ebd., 558, §§ 70 f.] und auf
dessen Gehalt sie »von selbst nimmermehr gekom-
»Dieses ganze Verhältnis des Menschen zu der Natur, dass men wäre« [ebd., 560, § 77]. Lessing deutet auf ein
sie ihm nämlich eine völlig äussere geworden ist, lässt sich Problem, mit dem sich nach den Frühromantikern
offenbar nicht anders erkennen [erklären?], als dass man
annimmt, dass der Mensch aus der ihm zugedachten Stel- besonders auch Schelling auseinander gesetzt hat:
lung des allgemeinen Bewusstseins sein besonderes indivi- »[D]ie sich selbst überlassene Vernunft« – so schreibt
duelles Bewusstsein vorgezogen habe. Er sollte eigentlich er, den sechsten Paragraphen der Erziehung des Men-
die Stellung des allgemeinen Subjekts annehmen und be- schengeschlechts zitierend [ebd., 545], in der Philoso-
haupten. Eben jenes, dass der Mensch nicht mehr als dieses phie der Mythologie – vermöchte »ohne jenes Lei-
Subjekt erscheint, dass ihm die Natur fremd ist, ist ein Be-
weis, dass der Mensch aus der ihm zugedachten Stellung tende, jenes numen«, ihre eigene »Beglaubigung«
des allgemeinen Subjekts gewichen ist und ein individuel- nicht zu leisten: Als ein System von Mitteln unfähig,
les Sein vorgezogen hat. Seitdem ist allerdings die Natur ein die letzten Zwecke des Prozesses immanent zu recht-
1. Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie 143

fertigen, müsste sie sich – »sich selbst überlassen« – übergeschichtlichen, der ohnmächtig die Fahne der
»in das völlig Sinnlose verlieren« [Schelling 1856– Identitätsphilosophie hochhält (AG, 372 f., 391). Das
1861, II/I, 239; 56; 83 f.; vgl. II/2, 241 ff.; 187; dazu: Schicksal der Natur liegt fortan in der Hand des
Frank 2008, Text 1]. Es wäre spannend zu wissen, Sohns. In einer Nachlassnotiz, auf die Habermas an-
was Habermas dazu sagen würde.) spielt, geht Schelling so weit, die Ewigkeit als eine
Wieder zeigt sich der Zwiespalt in Schellings Phi- Projektion aus der Endlichkeit zu denken.
losophie. Sie kann die Emanzipation der natürlich-
geschichtlichen Welt vom Absoluten nicht denken, »Der Ewigkeit tritt also die Zeit als ein selbständiges Princi-
pium entgegen; wollen wir genau reden, so müssen wir sa-
ohne sie mit dem Stigma der Bosheit, der Schuld zu gen,/ dass die Ewigkeit von sich selbst nicht ist, daß sie nur
versehen. Der Gebrauch der Freiheit – verstanden durch die Zeit ist; daß also die Zeit der Wirklichkeit nach
als Willkürfreiheit – ist ihr Missbrauch (AG, 273 f.). vor der Ewigkeit, daß in diesem Sinn, nicht wie insgemein
Das Tableau lässt sich nun in wenigen Strichen gedacht wird, die Zeit von der Ewigkeit gesetzt, sondern
vollenden, auch wenn Habermas die verschlungenen umgekehrt die Ewigkeit das Kind der Zeit ist« (Schelling
1946, III, 229 f.).
und oft gegenläufigen Pfade liebevoll und im Detail
vermisst, durch die sich Schellings Gedanke quält. Schelling hat schon im II. Weltalter-Entwurf gegen-
Zunächst wird die handgreiflichste Konsequenz von zusteuern versucht: Da das Band der Kräfte unauf-
Schellings Abstieg ins Endliche vorgeführt: seine er- löslich sei, weil es im Wesen des Absoluten gründe,
staunlich ausgeführte und moderne Lehre von der sei es auch im Sohne nicht aufgelöst. Damit wird
Zeit (dritter Teil, III. Abschnitt [AG, 319 ff.]). Haber- aber nur die spekulative Notbremse gezogen, um ei-
mas hat ihr Gewicht als erster erkannt und ihre nen Prozess zu verleugnen, ohne den sich das Abso-
Struktur – zwei Jahre vor Wolfgang Wieland (Wie- lute selbst nicht denken lässt (AG, 373). Gottes Abso-
land 1956) – liebevoll analysiert. Was die nur frag- lutheit wird gerettet, aber unter Verzicht auf seine
mentarisch ausgeführte Gestalt der Weltalter selbst Geschichtlichkeit (ebd., 380; vgl. TP, 202 ff.).
betrifft, so ist ihm am wichtigsten ein Gedanke, dem
er wenig später einen eigenen Aufsatz gewidmet hat: Marx mit Schelling
Gott beendet das spielende Ringen der Kräfte, den
»rotatorischen Umtrieb« (AG, 359 ff.) von Egoität In »Dialektischer Idealismus im Übergang zum
und Liebe, verneinender Zusammenziehung und Materialismus« kommt Habermas noch einmal zu-
ausbreitendem Bejahen, durch einen Entschluss. rück auf das Thema seiner Doktorarbeit. Diesmal
Hier folgt Schelling der mystischen Sophia-Tradi- will er nicht Schellings Scheitern analysieren, son-
tion, über die Habermas in beiden Texten – in der dern herausarbeiten, was daran so aufregend ist für
Dissertation und im Aufsatz – mit erstaunlicher ein Denken, das sich zunehmend an Marxens Ge-
Kenntnis verfügt. Die Dissertation orientiert sich schichtsphilosophie orientiert. Dieser zweite Blick
mehr an Böhmes Vorbild, während der Aufsatz die auf Schellings Weltalter ist rettend: blochisch-uto-
kabbalistische Tradition – in ihrem Zentrum Isaak pisch.
Luria – in den Vordergrund stellt. In der Entschei- Gewiss, »Schelling ist kein politischer Denker«
dung verzichtet nun die zeugende Natur, die jetzt (TP, 172). Dennoch hat er im Lauf seines Lebens drei
erstmals »Gott-Vater« heißt, auf die Aufrechterhal- Entwürfe zu einer Theorie der politischen Ordnung
tung der Indifferenz und erlaubt der Liebe die Be- vorgelegt (ebd., 174 ff.; Frank/Kurz 1975, 32 ff.; Hol-
freiung von der Fessel der Egoität; doch erfolgt diese lerbach in ebd., 307–325). Dem ersten gemäß (etwa
Entscheidung durch Gottes ekstatische Selbstentäu- im Ältesten Systemprogramm) ist der Staat als me-
ßerung. Aus freien Stücken unterwirft er sich dem chanische Rechtsordnung (»eine Maschine«) der
Geist der Liebe. Er kann das nur tun durch eine Kon- Idee der Freiheit zuwider, »also soll er aufhören«
traktion auf die erste Potenz, wodurch die Loslö- (ebd., 110): ein Gedanke, in dem Wolfgang Wieland
sung, die Zeugung einer unabhängigen Natur mit die Marx’sche Utopie vom Absterben des Staats vor-
dem Menschen als letztem Evolut möglich wird. Ha- gebildet sieht (Wieland in ebd., 261 ff.). Nach dem
bermas resümiert den Scheinerfolg dieser Lösung zweiten (vorgetragen in der Neuen Deduktion des
wie folgt: Die Einheit Gottes zerbricht in einen ge- Naturrechts und im System des transcendentalen Ide-
schichtlichen Aspekt, der in Analogie zum frei han- alismus) muss »das Heiligste« des Menschen, das
delnden Menschen gedacht ist, der mit der Entschei- Recht, vor dem anarchischen Konflikt der interagie-
dung seine Gottheit abgetan hat und sich »von der renden/agonalen Individualfreiheiten geschützt wer-
Geschichte verschlingen« lässt (TP, 202), und einen den durch eine der Natur nachgebildete Ordnung –
144 III. Texte

eine »zweite Natur« (Schelling 1856–1861, I/3, 583): ihren Fugen gebrachte Ewigkeit – nicht ist die Ewig-
die bürgerliche Rechtsordnung im Geiste Rousseaus, keit die Verneinung aller Zeit« (Schlegel 1958 ff., X,
der Französischen Revolution und Kants. In der 550); und Schelling warnt vor der schlecht-idealisti-
identitätsphilosophischen Phase (präsent am Schluss schen Vorstellung, »als gäbe es einen von aller Bei-
der 10. der Vorlesungen über die Methode des akade- mischung der Zeitbegriffe völlig reinen Begriff von
mischen Studiums und am Schluss des Würzburger Ewigkeit« (Schelling 1856–1861, I/8, 259 f.). Es sei
Systems) wird ein ›organischer‹ – nicht-mechanisti- die »Erfahrung der Korruption unserer Welt«, die
scher – Ausgleich der Interessen des Individuellen Schelling mit der kabbalistischen Tradition habe
und des Allgemeinen erwogen, wie er auch aus He- sympathisieren lassen.
gels Rechtsphilosophie bekannt ist. Doch setzt sich Aber zunächst muss ein »wirklicher Anfang« des
schließlich – seit den Stuttgarter Privatvorlesungen – Prozesses aufgezeigt werden, und Schelling identifi-
das erste Modell, die anarchistische Staatskritik, ziert ihn in der Kraft der Kontraktion: »Alle Entwi-
durch, die in konservativ-monarchistischer Bre- ckelung setzt Einwickelung voraus. [...] In der Anzie-
chung die spätesten Äußerungen beherrscht, in ei- hung liegt der Anfang« (Schelling 1946 I, 23). Das ist
ner überaus harschen Sprache sich entlädt und ein ›methodisch materialistischer‹ Ansatz: Er macht
Schellings anarchistischen Schüler Bakunin angeregt das Naturale, das Niedere zur notwendigen Basis des
haben mag (Frank 2007, Text 12; vgl. Habermas’ Zi- Höheren, wenn auch nur dem Sein, nicht der Würde
tat von Schellings späten Äußerungen über den Staat nach: »Die Priorität steht im umgekehrten Verhält-
TP, 213). nis mit der Superiorität« (TP, 189, Schelling 1946 I,
Am apartesten – und am weitesten abstehend von 25 f.)
den Entwürfen seiner idealistischen Weggefährten – Das Weitere kennen wir aus der Dissertation. Den
ist das Motiv der Negierung des Staats. Habermas Anfang der Zeit macht Gott, indem er – mythisch
sieht es tief verbunden mit dem des »absoluten, des gesprochen – die Virtualität der Abfolge, wie sie im
wirklichen Anfangs«: der Initialzündung zu einem ereignislosen Umtrieb der Kräfte gedacht ist, durch
Prozess, den Hegel nicht denken und nur polemisch Rückzug auf die erste Potenz beendet und so die Ge-
desavouieren kann (Hegel 1952, 26). »Was am Ende genwart von der Vergangenheit abtrennt, auf die er
wahr ist«, schreibt Schelling ein Jahr vor Erscheinen sich zurückzieht. Der Naturprozess setzt ein, auf sei-
der Phänomenologie des Geistes, »das muß auch nem Gipfel die Menschwerdung – und hier ist die
gleich zu Anfang wahr gewesen seyn« (Schelling kritische Schwelle der Theogonie erreicht. Der
1856–61 I/7, 73). Das ergebnislose Kreisen des Mensch kann ›stillhalten‹ in der Ordnung der Kräfte,
(Hegel’schen) Begriffs in sich selbst schildert er in oder er kann sie durch eigene Tat zerbrechen, er
den Weltaltern in Tönen salomonischer Verzweif- kann das göttliche Band (den platonischen δεσμȩȢ
lung (TP, 182) als das eitle Ringen der Kräfte, den ro- des Timaeus-Kommentars von 1794) zerreißen. Das
tatorischen Umtrieb – und nun führt Habermas eine Band ist in Gott ›wesentlich‹ und unauflöslich, nicht
neue Variante der Sophia-Tradition ein, von deren so im Menschen. Zerreißt er es durch eine erneute
Erbe »auch der junge Marx selbst und die spekulati- Kontraktion, so verkehrt er die Ordnung der Dinge,
ven Köpfe der Marx’schen Tradition (Benjamin, er korrumpiert und unterwirft sie und sich der Na-
Bloch, Marcuse, Adorno) sich angezogen fühlen« turalität, die ihrer Überwindung durchs Idealprinzip
(EI, 45): die jüdische Mystik des Sohar im Allgemei- nur die Basis legen sollte, als seiner nunmehrigen
nen und die spätere des Isaak Luria im Besonderen Herrin. Nicht länger ist der Prozess auf Liebe gerich-
(TP, 184 f.). Sie wurde für Schelling relevant durch tet; die Liebe steht unter der Botmäßigkeit des mate-
»drei Topoi«: die Vorstellung eines (Gott selbst ent- riellen Zeitalters, des ›Zorns‹, des ›Bösen‹ (TP, 192 f.).
zogenen) naturalen Grundes in Gott; die Idee der Der Mensch hat durch den Abfall einen »Fluch« über
Egoität, kraft derer Gott sich auf diese seine erste Po- die Natur gebracht; durch seine Tat ist sie ›dem gött-
tenz ›kontrahieren‹ kann (»Zimzum«); den Gedan- lichen Selbst entfremdet‹ – auch sonst findet sich in
ken, der Urmensch (Adam Kadmon) sei aus der diesem Zusammenhang häufig bei Schelling der
göttlichen Ordnung ›abgefallen‹ und habe die Schöp- Ausdruck ›Entfremdung‹ (Schelling 1856–1861, I/2,
fung mit sich gerissen. Vor dem gestürzten Men- 212; Schelling 1993, 206). Dieses materielle Zeitalter
schen dehnt sich der historische Prozess, der »unab- beschreibt Marx, den Habermas in Erkenntnis und
geschlossen in jedem Augenblick Vergangenheit und Interesse ebenfalls nicht als metaphysischen, sondern
Zukunft zumal entspringen läßt« (TP, 207); denn die als methodischen (oder erkenntnistheoretischen)
Zeit, sagt Friedrich Schlegel, ist nichts als eine »aus Materialisten vorstellt, als dasjenige, in dem die ›We-
1. Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie 145

senskräfte‹ des Menschen, die ideeller Natur sind, unter vorgegebenen, von ihm nicht gewählten Um-
von der Materialität niedergehalten, aber nicht auf- ständen (Marx 1967, 15; 1971, 15). Das würde Schel-
gehoben werden (Frank 1992, 319 ff.). In Schelling- ling unterschreiben, bis hinein in die Konsequenz
scher Sprache ist nicht die Materie das Worumwillen des methodischen Materialismus. Der späte Schel-
des Geschichtsprozesses (»das Seynsollende«). Sie ist ling begründet die Krise einer rein-rationalen Philo-
nicht »dignitate prius«, sie behauptet ihren Primat sophie nicht nur mit der Unvordenklichkeit der
nur der Wirklichkeit nach. Statt ein höheres Leben Existenz, sondern auch mit der rationalen Unabseh-
zu beginnen, ist die Menschheit der Macht der Natur barkeit des Handelns (Schelling 1856–1861, I/10,
verfallen und nun allein auf die materielle Repro- 153; II/1, 565; TP, 212 ff.). Und er fügt hinzu, dass
duktion ihres nackten Daseins gerichtet (»auf die Er- reine Theorie/Kontemplation den Handlungszwang
haltung der äußeren Grundlage des Lebens« [Schel- nicht aufheben kann. Hegels absolutes Wissen ist
ling 1856–1861, I/7, 460 462 u.: Sie bietet »das Bild nur Ende, mit und von ihm aus »ist nichts anzufan-
der zum Physischen, ja sogar zum Kampf um ihre gen«:
Existenz herabgesunkenen Menschheit«]). Nur mit »Das Aufgeben des Handelns läßt sich nicht durchsetzen;
den Kräften des Äußeren kann sie hoffen, in the long es muß gehandelt werden. Sobald aber das thätige Leben
run das Äußere wieder unter ihre Gewalt zu bringen wieder eintritt, die Wirklichkeit ihr Recht wieder geltend
(ebd., 373). Die gesellschaftliche Arbeit, durch die macht, reicht auch der ideelle (passive) Gott nicht mehr,
die Menschheit ihren Stoffwechsel mit der Natur und die vorige Verzweiflung kehrt zurück« (Schelling
1856–1861, II/1, 559 f.).
vermittelt, war gedacht als Mittel eines höheren
Zwecks (des Reichs der Freiheit, wie es bei Schelling Der Handlung aber ist das Ziel vorgegeben durch
und Marx heißt); in der entfremdeten Welt ist sie Gott, der seinen Existenzanspruch an eine regulative
dieser Zweck selbst geworden. Idee abgibt, die dem Handeln vorschwebt und die
Freilich: Bei Marx wie bei Schelling führt nicht vorläufig als ›Reich der Freiheit‹ bestimmt ist. Zu-
begriffliche Notwendigkeit zu diesem letzten Zweck: nächst ist der herbe Druck des Staates, des Gesetzes
Mit dem Rückzug aus der Welt hat Gott seine Errei- zu überwinden, den Schelling wie Marx als eine ›fal-
chung an die freie Tat des Menschen delegiert; er hat sche Einheit‹, als ›eine fremde, bloß tatsächliche Ge-
ihm das Ziel gezeigt, es aber nicht ›nezessitiert‹ (TP, walt‹, etwas »dem menschlichen Willen gleichsam
194 f.). Auch erfährt der Mensch in der Auseinan- Eingewebtes und Eingestochenes« (Schelling 1856–
dersetzung mit der Natur nicht nur eine Art 1861, II/1, 534 ff.) beschreibt, – als eine ›äußere Ein-
Hegel’scher Selbstbegegnung seines Geistes, er be- heit‹, in der die Wesenskräfte des Menschen unter
gegnet den Spuren einer älteren Geschichte, deren den Druck des naturalen Grundes geraten sind.
Wirklichkeit ihm zur Hälfte unverfüglich bleibt. Die Auch für Marx ist der Staat »Herrschaft der totge-
Erlösung der gefallenen Natur – bei Hegel eine Be- schlagenen Materie über den Menschen« (zit. TP,
griffswahrheit – kann misslingen. Betrachten wir 215), von der er freizukommen strebt. Für Schelling
unsere natürliche Umwelt (Marxens ›objektive Na- wie für Marx ist die Korruption nicht der Natur
tur‹) und die globalisierte soziale Wirklichkeit (Mar- anzulasten, sondern dem Menschen. Beide sehen die
xens ›subjektive Natur‹), mahnt uns alles zu dieser natürliche Ordnung durch eine Form des Egoismus
pessimistischen Interpretation (Schelling 1972, desorganisiert. Beide sehen die Herrschaft des ›ma-
470 ff.; Marx 1939, 30, 389 [passim]). Indem er diese teriellen Zeitalters‹ nicht als metaphysische Notwen-
Deutung übernimmt, widerspricht Habermas der digkeit, sondern als Folge einer geschichtlichen Tat.
Hegel’schen, die auch bei Marx in der entfremdeten »Von der gleichen Idee einer Überwindung des Ma-
Lesart des ›dialektischen Materialismus‹ durch- terialismus, die darin besteht, eine fälschlich zum
schlägt, wonach begrifflicher Zwang oder kausale Seienden selbst erhobene Materie wieder zur Basis
Nötigung die »falsche Einheit« des Geistes bzw. das des Seienden herabzusetzen, läßt auch Marx sich lei-
Reich der Freiheit hervorbrächten. »In Schellings ten« (TP, 217). Beide orientieren sich an der Aussicht
Logik, hätte er eine geschrieben, bliebe das dritte auf eine Wiederaufrichtung (Resurrektion) der ge-
Buch dem zweiten, der Begriff dem Wesen unterge- fallenen Natur, der wiedererlangten Wesenseinheit
ordnet« (TP, 195). des Menschen mit der Natur. Freilich, der eine ent-
Habermas sieht die geschichtliche Welt auf wirft eine Theogonie, der andere stützt seine Hand-
menschliches Handeln gegründet. Dabei kann er lungsempfehlung auf ökonomische Analyse (ebd.,
sich auf Marx und auf Schelling berufen. Jenem zu- 215 f.); der eine widerrät bei aller Sympathie für den
folge macht der Mensch seine Geschichte selbst, aber »inneren« Willen zur Überwindung des Staates die
146 III. Texte

Revolution als ein Verbrechen (Schelling 1856–1861, tätig mit Natur im Sinn haben, dieser nicht auch
II/1, 547 ff.), der andere setzt auf sie, weil unter der dann noch fremd und äußerlich bleiben würde,
Herrschaft des Realprinzips nur das Äußere auf das wenn eine kritisch angeleitete Praxis den rationell
zum Äußerlichen Entartete einwirken kann (TP, geregelten Lebensprozeß zur Basis einer emanzipier-
218). Darum kann Marx Schellings vage Rede von ten Gesellschaft – eben zu ›Materie‹ im Sinne der
der Zurückdrängung der Materie in die bloße Basis Schellingschen Weltalterphilosophie – gemacht ha-
eines höheren Lebens in diesen Worten konkretisie- ben sollte« (ebd.).
ren: Das Reich der Notwendigkeit kann dem der
Freiheit erst weichen, wenn
Literatur
»[…] der vergesellschaftete Mensch, die assoziierten Pro- Bakunin, Michail A.: Sobranie socinenij i pisem. 1828–1876.
duzenten, ihren Stoffwechsel mit der Natur rationell regeln, Pod redakciej is primecanijami Ju. M. Steklova, T. 1–4,
unter ihre gemeinschaftliche Kontrolle bringen, statt von Moskva: Izdatel’stvo vsesojuznogo obscestva politka-
ihm als von einer blinden Macht beherrscht zu werden. torz’an i ssyl’no-poselencev. Bd. 3. 1935.
[…] Aber es bleibt dies immer ein Reich der Notwendig- Bloch, Ernst: Subjekt-Objekt. Erläuterungen zu Hegel
keit. Jenseits desselben beginnt die menschliche Kraftent- [1949]. Frankfurt a. M. 1962, 379–408.
wicklung, die sich als Selbstzweck gilt, das wahre Reich der –: »Das Materialismusproblem, seine Geschichte und Sub-
Freiheit das aber nur auf jenem Reich der Notwendigkeit als stanz« [1972]. In: Ders.: Gesamtausgabe. Bd. 7. Frank-
seiner Basis aufblühn kann« (Marx/Engels 1956–1990, 25, furt a. M. 1959–1978.
873 f.). –: Leipziger Vorlesungen zur Geschichte der Philosophie
1950–1956. Hg. von Ruth Römer und Burghart Schmidt.
Noch einen Triumph der Schelling’schen Hegel-Kri- Frankfurt a. M. 1985.
tik kann Habermas an die Marx’sche weiterreichen –: Logos der Materie. Eine Logik im Werden. Frankfurt a. M.
(TP, 219 ff.). Für Hegel hat die Arbeit, in welcher der 2000.
Mensch sich entäußert, einen durchaus positiven Feuerbach, Ludwig: Ausgewählte Briefe von und an L. F.
Stuttgart-Bad Cannstatt 1964.
Sinn; und auch dies, dass durch eine »List der Ver- –: Gesammelte Werke, Bd. 10 (= Kleinere Schriften III,
nunft« (Hegel 1969–1971, 6, 452 f.) seine subjektiven 1847–1950). Berlin 1970.
Zwecke am Ende nur Mittel einer autonom sich Frank, Manfred: Eine Einführung in Schellings Philosophie.
durchsetzenden teleologischen Dialektik sind, sieht Frankfurt a. M. 1985.
Hegel ganz positiv. Die mit der Entäußerung ver- –: Der unendliche Mangel an Sein. Schellings Hegelkritik
und die Anfänge der Marxschen Dialektik 2 [1975]. Mün-
bundene Gefahr der Entfremdung hat er nicht gese- chen 21992.
hen (Frank 1992, 313 ff.); wohl aber hat dieser Ge- –: Auswege aus dem Deutschen Idealismus. Frankfurt a. M.
danke und mit ihm der Argwohn gegen eine feti- 2007.
schisierte Realdialektik bei Schelling ein Fundament. –: Mythendämmerung. Richard Wagner im frühromanti-
Marx hat Hegels Logik vorgeworfen, als »Geld des schen Kontext. München 2008.
– /Kurz, Gerhard (Hg.): Materialien zu Schellings philoso-
Geistes«, als der »abstrakt sich erfassende entfrem- phischen Anfängen. Frankfurt a. M. 1975.
dete Geist der Welt« (Marx/Engels 1956–1990, 40, Habermas, Jürgen: »Bewußtmachende oder rettende Kritik
571) die Dialektik des Kapitals auf den Begriff ge- – die Aktualität Walter Benjamins«. In: Siegfried Unseld
bracht zu haben, aber unkritisch. Statt die Unterord- (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt a. M.
nung der menschlichen Wesenskräfte unter ihre re- 1972, 173–223.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geis-
elle Basis zu kritisieren, ontologisiert Hegel sie tes, Bd. 6. Hg. von Johannes Hoffmeister. Hamburg
(Frank 1992, 337 im Kontext). Zur Kritik an Hegels 1952.
Logifizierung der Entfremdung könnte auch der –: Werke in zwanzig Bänden. Theorie-Werkausgabe. Frank-
Protest gegen die Totalisierung der Dialektik und furt a. M. 1969–1971.
mit ihr die an der Ontologisierung des materiellen Heine, Heinrich: Sämtliche Schriften. Hg. von Klaus Brieg-
leb. München 1997.
Weltalters gehören: »Materialismus ist kein ontolo-
Heß, Moses: Philosophische und sozialistische Schriften
gisches Prinzip, sondern die historische Indikation 1837–1850. Eine Auswahl. Hg. von Auguste Cornu und
einer gesellschaftlichen Verfassung, unter der es der Wolfgang Mönke. Berlin 1961.
Menschheit bisher nicht gelungen ist, die praktisch Jaspers, Karl: Schelling. Größe und Verhängnis. München
erfahrene Gewalt des Äußeren über das Innere auf- 1955 (Neuauflage: 1986).
Kant, Immanuel: Kant’s gesammelte Schriften. Königlich
zuheben« (TP, 223). Freilich endet Habermas’ Auf-
Preußischen Akademie der Wissenschaften. Berlin (Hg.)
satz mit einem Seufzer, der Marxens Sorgen um die (später:) von der Deutschen Akademie der Wissenschaf-
Emanzipation der arbeitenden Menschen überleben ten zu Berlin, Berlin und Leipzig (später: Berlin): Berlin
könnte, nämlich, »ob das, was die Menschen zweck- 1900 bzw. 1911 ff. (unabgeschlossen).
1. Schelling, Marx und Geschichtsphilosophie 147

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gart-Bad Cannstatt 1974.
148 III. Texte

2. Theorie der Öffentlichkeit Begriffes gleichermaßen würdigen zu können, ist es


erforderlich, den Prozess seiner theoretischen Ent-
Strukturwandel der Öffentlichkeit wicklung zu rekonstruieren. Zu den entscheidenden
(1961) Momenten dieses Entwicklungsganges zählen: (1)
Habermas’ anfängliche Darstellung der Kategorie
›Öffentlichkeit‹ (public sphere) ist unter den Schlüs- der ›Öffentlichkeit‹ in Strukturwandel der Öffentlich-
selbegriffen im Werk von Jürgen Habermas der ein- keit, seiner Habilitationsschrift von 1961; (2) Oskar
flussreichste. Im Gegensatz zu solchen hauptsächlich Negts und Alexander Kluges Replik, ihr gemeinsam
von Spezialisten diskutierten Begriffen wie ›kommu- verfasster Band Öffentlichkeit und Erfahrung von
nikatives Handeln‹, ›Diskursethik‹ oder ›Koloniali- 1972; (3) die kritischen Erwiderungen englischspra-
sierung der Lebenswelt‹ steht dieser Begriff im Zen- chiger Theoretiker und Historiker in dem Sammel-
trum von Arbeiten verschiedenster Disziplinen – band Habermas and the Public Sphere von 1992 (Cal-
von der Geschichts- und Rechtswissenschaft, der houn 1992); (4) Habermas’ Revisionen dieses Begrif-
Politologie und der Soziologie angefangen bis hin zu fes im vorgenannten Band und in seiner Studie
den Literaturwissenschaften, der Philosophie, den Faktizität und Geltung sowie (5) neuere Arbeiten
Gender Studies und den Medienwissenschaften. Da über ›transnationale Öffentlichkeiten‹. Wir werden
er eine zentrale Institution der modernen Gesell- diese Etappen der Reihe nach in Augenschein neh-
schaft bezeichnet, für die es zuvor im Englischen men.
keinen eigenen Namen gab, hat Habermas’ Öffent-
lichkeitsbegriff einen ähnlichen Rang wie eine na- Die Kategorisierung der Öffentlichkeit
turwissenschaftliche Entdeckung. Dieser Ausdruck
wird in den Human- und Gesellschaftswissenschaf- Strukturwandel der Öffentlichkeit ist Habermas’ am
ten selbst von jenen, die Habermas’ Ansichten im stärksten historisch ausgerichtetes Buch. Dies dürfte
allgemeinen nicht teilen, weithin verwendet und auch seine anhaltende Popularität erklären. Gemäß
taucht heute nicht allein in wissenschaftlichen Dis- dem Untertitel Untersuchungen zu einer Kategorie
kursen, sondern auch in den allgemeineren, außer- der bürgerlichen Gesellschaft präsentiert es die Theo-
akademischen Debatten – wie sollte es anders sein? rie der Öffentlichkeit größtenteils in einer histori-
– der ›Öffentlichkeit‹ auf. schen Darstellung. Tatsächlich wird diese Kategorie
Nach Habermas’ Sprachgebrauch bezeichnet ›Öf- unter zwei analytisch getrennten, doch stark mitein-
fentlichkeit‹ eine Diskursarena in modernen Gesell- ander verwobenen Aspekten dargestellt: die eine ist
schaften, in der ›Privatleute‹ über Fragen von allge- historisch-empirisch, die andere kritisch-normativ.
meinem Interesse diskutieren. Sie ist sowohl vom Unter historischem Aspekt zeichnet Habermas
Staat als auch vom Markt zu unterscheiden und situ- Aufstieg und Fall der Öffentlichkeit aus der Perspek-
iert sich vielmehr in der ›Lebenswelt‹; diese Arena ist tive eines noch unvollendeten Demokratisierungs-
idealerweise der Ort freier, uneingeschränkter und prozesses nach. Er verortet die Entstehung ihrer mo-
rationaler Kommunikation. Als ein Instrument zur dernen Gestalt im Europa und Nordamerika des
Entlarvung der Herrschaft soll die ›Öffentlichkeit‹ späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Im Gegen-
ein Medium bereitstellen, mit dem das Handeln satz zu dem früheren, feudalen Typ einer ›repräsen-
staatlicher Würdenträger und die Tätigkeit privater tativen Öffentlichkeit‹, in der die Herrschenden ihre
Instanzen kritisch überprüft werden kann, wobei Macht und ihren Reichtum für alle sichtbar zur
erstere in die Verantwortung genommen und ermu- Schau stellten, setzten sich die neuen ›bürgerlichen‹
tigt werden, letztere in Schranken zu halten. Wenn Öffentlichkeiten aus Privatleuten zusammen, die
auch das Ideal der Öffentlichkeit wenig Ähnlichkeit sich in Salons und Kaffeehäusern versammelten, um
mit den real existierenden Arenen einer manipulier- Angelegenheiten von ›allgemeinem Interesse‹ und
ten Pseudo-Öffentlichkeit oder Publicity aufweist, insbesondere die Organisation der gerade erst priva-
bietet es einen normativen Maßstab, von dem aus tisierten Ökonomie des Marktes zu diskutieren.
sich diese kritisieren lässt. So stellt dieser Begriff – Durch den neuentstandenen Zeitungsjournalismus
allgemein gesprochen – eine Folie für die Evaluation verbreitet, schufen ihre Debatten ein Gegengewicht
der Legitimität und Effektivität dessen bereit, was in zu den absolutistischen Staaten, die sie mittels dieser
modernen Gesellschaften als ›öffentliche Meinung‹ Publizität zur Rechenschaft zu ziehen versuchten.
gilt. Zunächst wurde unter dieser Verantwortung ge-
Um die Bedeutung und die Nützlichkeit dieses genüber der Öffentlichkeit die Notwendigkeit ver-
2. Theorie der Öffentlichkeit 149

standen, Informationen über die Tätigkeit des Staa- gleichheiten und den Ausschluss reiner Privatinter-
tes bekannt zu geben, um eine kritische Überprü- essen werde eine derartige Debatte gewährleisten,
fung zu ermöglichen und der ›öffentlichen Meinung‹ dass sich allein der ›zwanglose Zwang‹ des besseren
Gelegenheit zur Reaktion zu geben. Später bedeutete Arguments durchsetzen könne. Da sie somit an die
dies, das im Diskurs ermittelte ›allgemeine Interesse‹ Normen der Inklusion, der Restriktionsfreiheit und
der ›bürgerlichen Gesellschaft‹ mittels der gesetzlich der Rationalität gebunden ist, ist die Öffentlichkeit
garantierten Rechte der freien Meinungsäußerung, nicht allein eine historische Institution, sondern sie
der Presse- und Versammlungsfreiheit und schließ- stellt auch ein kontrafaktisches Ideal dar, das die De-
lich auch mittels der parlamentarischen Institutio- mokratiedefizite der bestehenden Gesellschaften zu
nen einer repräsentativen Regierung an den Staat zu entlarven hilft.
übermitteln. In dieser ›bürgerlichen‹ Gestalt setzte Generell postuliert Strukturwandel der Öffentlich-
die Öffentlichkeit eine relativ strikte Trennung der keit einen scharfen Kontrast zwischen der defor-
›Gesellschaft‹ vom Staat voraus. Doch diese Voraus- mierten Pseudo-Öffentlichkeit der Gegenwartsge-
setzung, die den Ausschluss der ›privaten Interessen‹ sellschaft und einem normativen Ideal, dessen eman-
gewährleisten sollte, wurde hinfällig, als sich die ar- zipatorisches Versprechen Habermas einzulösen
beitenden Klassen den Zugang zur Öffentlichkeit er- hofft. Doch sein Buch bietet wenig konkrete Anre-
stritten und die ›soziale Frage‹ ins Blickfeld geriet. gungen, wie eine ›nachbürgerliche‹ Form der Öf-
Als sich die Gesellschaft durch den Klassenkampf fentlichkeit für die heutigen Gesellschaften aussehen
polarisierte, zersplitterte ›die‹ Öffentlichkeit zu einer könnte. Von Anfang an rief dieses Werk daher – trotz
großen Zahl konkurrierender Interessengruppen. aller Bewunderung – bei vielen Lesern ein gewisses
Demonstrationen auf den Straßen und im Hinter- Unbehagen hervor.
zimmer ausgehandelte Kompromisse traten an die
Stelle einer an Vernunftgründen orientierten öffent- Replik von Oskar Negt und Alexander Kluge
lichen Debatte über das Gemeinwohl. Schließlich
verflochten sich Gesellschaft und Staat mit dem Auf- Die früheste nachhaltige Erwiderung stellt Negts
kommen der ›wohlfahrtsstaatlichen Massendemo- und Kluges Band Öffentlichkeit und Erfahrung von
kratie‹ im 20. Jahrhundert immer stärker. Öffent- 1972 dar, der sowohl die historischen als auch die
lichkeit im Sinne einer kritischen Betrachtung des normativen Voraussetzungen von Strukturwandel
Staates wurde von den Public Relations, von massen- der Öffentlichkeit in Frage stellt. Entsprechend ihrem
medial inszenierten Verlautbarungen und von der Untertitel Zur Organisationsanalyse bürgerlicher und
industrialisierten ›Herstellung‹ und Manipulation proletarischer Öffentlichkeit meldet diese Interven-
der öffentlichen Meinung verdrängt. Anfang der tion Widerspruch gegen Habermas’ Gleichsetzung
1960er Jahre zieht Habermas daraus den Schluss, die einer modernen demokratischen Öffentlichkeit mit
Öffentlichkeit sei ›refeudalisiert‹ worden. ihrer bürgerlichen Variante an. In Antizipation von
Unter historischen Gesichtspunkten beschreibt Argumenten, die später im englischsprachigen
Habermas den Werdegang der Öffentlichkeit dem- Raum vorgebracht werden sollten, beanspruchen die
nach als eine Verfallsgeschichte. Unter normativen beiden Autoren, eine andere, nicht-bürgerliche Form
Gesichtspunkten betont er dagegen die kritische der Öffentlichkeit zum Vorschein zu bringen. Dort,
Wirkung und das emanzipatorische Ideal dieses Be- wo Habermas nur die Trümmer einer verfallenden
griffs. Öffentlichkeit wird hier mit einem höchst an- bürgerlichen Öffentlichkeit sieht, spähen sie die halb
spruchsvollen – rationalen, inklusiven und restrikti- verborgenen Konturen einer ›proletarischen Öffent-
onsfreien – Kommunikationstypus in Zusammen- lichkeit‹ aus, die die Organisation und die Erfahrung
hang gebracht. Prinzipiell jedermann offenstehend, der gesellschaftlichen Produktion widerspiegelt. Für
sollen die modernen Öffentlichkeiten der Privatleute Negt und Kluge lässt sich demnach die Geschichte
eine öffentliche Meinung im starken Sinne eines ra- der Öffentlichkeit nur als eine Dialektik zweier kon-
tional abgesicherten Konsensus über das Gemein- kurrierender Öffentlichkeiten begreifen, die über
wohl hervorbringen. Eine solche Meinung verdient ganz ungleiche Machtmittel verfügen und sich doch
das Beiwort ›öffentlich‹ nur dann, wenn sie den un- gegenseitig erst begründen. Gleichermaßen nehmen
behinderten Austausch von Argumenten in einem die Autoren zumindest eine der später vorgebrach-
kommunikativen Prozess überstanden hat, an dem ten Kritiken an der normativen Dimension der
alle potentiell Betroffenen gleichberechtigt teilneh- Habermas’schen Konzeption vorweg. Indem sie die
men können. Durch die Ausblendung der Statusun- ihrer Auffassung nach übertriebene Betonung des
150 III. Texte

rationalen Argumentierens bei Habermas zurück- geschlechtsspezifischen Charakters der bürgerlichen


weisen, begreifen sie die Öffentlichkeit als einen Öffentlichkeit erkannt. Daher habe es sein Buch ver-
›Horizont‹, in dem eine ›gesellschaftliche Erfahrung‹ säumt, die Möglichkeit zu erwägen, dass die bürger-
organisiert wird. In einer nach Klassen stratifizierten liche Öffentlichkeit wesensmäßig – und nicht allein
Gesellschaft könne die Öffentlichkeit zudem für die kontingentermaßen – exklusiv angelegt sei; in die-
Arbeiter nur dann nützlich sein, wenn ihr Erfah- sem Falle würde die vollständige Einbeziehung der
rungshorizont den ›proletarischen Lebenszusam- Arbeiter und der Frauen nicht einfach nur eine Aus-
menhang‹ widerspiegele. Der Kampf um die Öffent- dehnung, sondern eine tiefgreifende Transformation
lichkeit ist demnach weniger eine Frage rationaler der Öffentlichkeit erforderlich machen (zur Debatte
Argumente als ein Wettstreit der Erfahrungsformen: über ›kontingente‹ vs. ›konstitutive‹ Exklusion vgl.
der Affektstrukturen, der Wahrnehmungsformen, Landes 1988; Baker 1992; weitere Erörterungen zur
der Werteinstellungen (zu späteren Debatten über Gender-Abhängigkeit der Öffentlichkeit vgl. Gole
die affektiven Dimensionen der Öffentlichkeit vgl. 1997; Rendall 1999; Fraser 1992b). Weiterhin rekla-
Young 1987 und Nash/Bell 2007). Im Gegensatz zu mieren die Historiker auch, dass in Strukturwandel
Habermas schlagen Negt und Kluge einen Weg vor, der Öffentlichkeit nicht das volle historische Spek-
wie das emanzipatorische Versprechen der Öffent- trum der modernen europäischen und amerikani-
lichkeit einzulösen sei: nämlich durch einen kultu- schen Öffentlichkeiten dargestellt worden sei. Allzu
rell radikalen und ästhetisch transformativen Klas- unkritisch gegenüber dem Anspruch der bürgerli-
senkampf. chen Öffentlichkeit, die Öffentlichkeit schlechthin
zu sein, habe Habermas die Gegenöffentlichkeiten
der Frauen und der Arbeiter übersehen, in denen
Kritische englischsprachige Erwiderungen
sich robustere und streitbarere Formen der öffentli-
Obschon sie über lange Zeit außerhalb Deutschlands chen Partizipation abzeichneten (analoge Argu-
kaum bekannt waren (die englische Übersetzung mente zum Verhältnis von Rasse und Öffentlichkeit
von Öffentlichkeit und Erfahrung erschien erst 1993), vgl. Brooks-Higginbotham 1993; Black Public Sphere
fanden die Argumente von Negt und Kluge zwei Collective 1995). Indem sie revidierte Historiogra-
Jahrzehnte später in der englischsprachigen Rezep- phien des öffentlichen Lebens vorschlagen, untersu-
tion von Strukturwandel der Öffentlichkeit ein gewis- chen manche dieser Autoren das Verhältnis der
ses Echo. Nach der verspäteten Publikation der eng- Habermas’schen Konzeption zu Gramscis Begriff
lischen Übersetzung von Habermas’ Studie im Jahr der Hegemonie, während andere sich fragen, ob Ha-
1989 wurde dieses Werk Gegenstand des richtungs- bermas nicht die vergleichsweise ›entkörperlichten‹
weisenden, von Craig Calhoun herausgegebenen Formen öffentlicher Präsenz bevorzuge (zur Frage
Sammelbandes Habermas and the Public Sphere der Hegemonie vgl. Eley 1992; zum Komplex Ver-
(Calhoun 1992); dieser Band basierte auf einer Kon- körperung vs. Entkörperlichung Warner 1992;
ferenz der University of North Carolina im Septem- Young 1987).
ber 1989, an der Habermas selbst teilgenommen Die Diskussionen der Historiker finden auch in
hatte. Er versammelt Beiträge von Historikern, Phi- den politisch-theoretischen Argumenten anderer
losophen und Literatur- und Medienwissenschaft- Autoren von Calhouns Sammelband ihr Echo. Seyla
lern (darunter auch die Autorin); hier werden eben- Benhabib kritisiert substantialistische Öffentlich-
falls Einwände gegen Habermas’ Form der Ge- keitskonzeptionen, die eine vorgegebene, essentialis-
schichtsschreibung und seine normative Konzeption tische Definition davon voraussetzten, welche Berei-
der Öffentlichkeit vorgebracht. che als per se öffentlich und welche als per se privat
Unter historiographischen Gesichtspunkten wen- zu gelten hätten. Sie erkennt bei Habermas aber ei-
den Autoren wie Geoff Eley, Mary Ryan und Michael nen Ansatz zu einer besseren, prozeduralistischen
Warner ein, dass Habermas die bürgerliche Öffent- Alternative und schlägt vor, ›Öffentlichkeit‹ aus-
lichkeit idealisiert habe (Eley 1992; Ryan 1990; Ryan schließlich in einer prozeduralen Begrifflichkeit zu
1992; Warner 1992; vgl. auch Warner 1990 und fassen: als eine spezielle kommunikative Haltung,
2002). Strukturwandel der Öffentlichkeit sei allzu die sich – je nach den gegebenen Umständen – hin-
sehr von Habermas’ eigenem Anspruch geprägt, ei- sichtlich einer jeden Fragestellung einnehmen lasse
nen universalen Zugang zur Öffentlichkeit zu er- (Benhabib 1992). Mein eigener Beitrag untersucht
möglichen, und habe daher ihrer Meinung nach einige konstitutive Voraussetzungen, die der ›libera-
nicht die gesamten Implikationen des klassen- und len Konzeption der bürgerlichen Öffentlichkeit‹ zu-
2. Theorie der Öffentlichkeit 151

grunde liegen, und befindet diese für unzulänglich. lichkeiten gebe. Habermas geht hier nicht mehr von
Ich verwerfe die Hypothese, dass Dialogpartner in einer einzigen Öffentlichkeit aus, sondern beschreibt
einer Öffentlichkeit ihre asymmetrischen Machtpo- ein dezentralisiertes Netzwerk verschiedener sich
sitionen ausblenden und sich beraten könnten, ›als überlappender Kommunikationsräume. Weiterhin
ob‹ sie gleichberechtigt wären, obwohl sie es de facto versucht er mit diesem Band den Kritiken der poli-
nicht sind; ich verteidige daher die Entstehung von tisch-philosophischen Theoretiker hinsichtlich der
›nachgeordneten Gegenöffentlichkeiten‹ in stratifi- Legitimität und Effektivität zu begegnen. Indem er
zierten Gesellschaften. Durch die Unterscheidung das ›wechselseitige Implikationsverhältnis privater
der ›schwachen Öffentlichkeiten‹ der Zivilgesell- und öffentlicher Autonomie‹ betont, hebt er die
schaft, die die öffentliche Meinung gestalten, aber Rolle emanzipatorischer sozialer Bewegungen – wie
kein bindendes Recht hervorbringen, von den ›star- etwa der zweiten Frauenbewegung – für die Stär-
ken Öffentlichkeiten‹ im Innern des Staatsapparates, kung der Demokratie durch die Förderung rechtli-
deren Beratungen zu hoheitlichen Entscheidungen cher Gleichheit hervor, und vice versa (FG, 507–
führen, trete ich auch für institutionelle Arrange- 510). Durch die Anerkennung der wechselseitigen
ments ein, die die strikte Trennung von Gesellschaft Abhängigkeit von gesellschaftlicher Position und
und Staat hinter sich lassen und dadurch die Verant- politischem Mitspracherecht nimmt er sich hier der
wortlichkeit des Staates gegenüber der Gesellschaft zuvor vernachlässigten Aspekte der Legitimitätsde-
befördern könnten (Fraser 1992a). fizite der öffentlichen Meinung in demokratischen
Im Nachhinein hat es den Anschein, dass die eng- Staaten an.
lischsprachigen Kritiker Einwände von zweierlei Art Außerdem steht in Faktizität und Geltung das
gegen die in Strukturwandel der Öffentlichkeit vorge- Problem der Effizienz im Mittelpunkt. Durch die
tragene Auffassung der Öffentlichkeit vorgebracht theoretische Darstellung des Rechts als des angemes-
haben. Einerseits deuten sie an, dass Habermas die senen Werkzeuges für die Übersetzung ›kommuni-
Auswirkungen jener struktureller Ungleichheiten kativer‹ in administrative Macht unterscheidet Ha-
unterschätzt habe, durch die – nominell der Öffent- bermas einen ›offiziellen‹ demokratischen Macht-
lichkeit angehörende – Menschen der Möglichkeit kreislauf, in dem die schwachen Öffentlichkeiten die
beraubt werden, als vollwertige Partner, von gleich starken Öffentlichkeiten beeinflussen, die wiederum
zu gleich, an der öffentlichen Diskussion teilzuneh- die administrativen Staatsapparate kontrollieren,
men. Andererseits weisen sie darauf hin, dass Ha- von einem ›inoffiziellen‹ undemokratischen Kreis-
bermas den gesamten Bereich jener strukturellen lauf, in dem private gesellschaftliche Kräfte und fest
Kräfte außer Acht gelassen habe, die den Fluss der verwurzelte bürokratische Interessen den Gesetzge-
öffentlichen Meinung von der Gesellschaft hin zum ber unter Kontrolle halten und die öffentliche Mei-
Staat blockieren und dieser dadurch die politischen nung manipulieren. Indem er anerkennt, dass der
›Muskeln‹ rauben. In beiderlei Hinsicht unzufrie- inoffizielle Kreislauf normalerweise die Oberhand
den, stellen die Kritiker die Darstellung der Legiti- hat, kann Habermas hier eine vollständigere Darstel-
mität und Effizienz der öffentlichen Meinung in lung der Wirkungsdefizite der öffentlichen Meinung
Strukturwandel der Öffentlichkeit in Frage. Damit er- in demokratischen Staaten vorlegen (FG, 435–439).
gibt sich ihrer Meinung nach die Notwendigkeit, den Doch nicht alle Leser waren mit diesem Ergebnis
habermasianischen Öffentlichkeitsbegriff zu revi- wirklich zufrieden. Nach William E. Scheuermans
dieren. (Habermas kam in seiner Erwiderung [Ha- (1999) Auffassung etwa schwankt Habermas zwi-
bermas 1992] manchen dieser Einwände entgegen.) schen zwei antithetisch-unvereinbaren Haltungen
hin und her: einerseits eine ›realistisch‹-resignierte,
Revisionen objektiv konservative Sichtweise, die die besorgnis-
erregenden Legitimitäts- und Wirkungsdefizite der
Doch an genau dieser Revision arbeitete Habermas öffentlichen Meinung in den real existierenden de-
bereits selbst. In Faktizität und Geltung (1989) prä- mokratischen Staaten akzeptiert – andererseits eine
sentierte er – unter anderem – eine von Grund auf radikal-demokratische Haltung, die weiterhin da-
revidierte Darstellung der Öffentlichkeit. Durch de- rum kämpft, diese Defizite zu beheben. Scheuerman
ren Neuverortung im Kontext einer ›Diskurstheorie war – wie auch andere Rezensenten – darüber beun-
des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats‹ ruhigt, dass Faktizität und Geltung gegenüber dem
scheint dieser Band auf den Einwand der Historiker emanzipatorischen Engagement von Strukturwandel
zu reagieren, dass es eine Vielzahl moderner Öffent- der Öffentlichkeit einen Rückschritt bedeuten könne.
152 III. Texte

Neue Arbeiten Frauen, die Terms of Trade, die Arbeitslosigkeit oder


den ›Krieg gegen den Terrorismus‹ geht – heutige
An einer weiteren Front erhoben sich mittlerweile Kampagnen zur Mobilisierung der öffentlichen Mei-
Kontroversen ganz anderer Art. In ihren Reflexio- nung machen selten an den Grenzen der Territorial-
nen über die neu aufkommende ›Globalisierung‹ staaten Halt. In vielen Fällen bilden die Beteiligten
schrieben Medien- und Kulturwissenschaften in den keinen demos und formen sich nicht zu einem poli-
1990er Jahren immer häufiger über ›transnationale tisch-bürgerlichen Ganzen. Auch sind ihre Verlaut-
Öffentlichkeiten‹, ›Diaspora-Öffentlichkeiten‹, ›isla- barungen oft nicht an einen ›westfälischen‹ (d. h. na-
mistische Öffentlichkeiten‹, wenn nicht gar über tionalen und territorialen) Staat gerichtet, und sie
eine im Entstehen begriffene ›globale Öffentlichkeit‹ werden auch nicht von den nationalen Medien wei-
(dazu z. B. Bowen 2004; Guidry et al. 2000; Mules tergeleitet. Häufig sind auch die behandelten The-
1998; Olesen 2005; Stichweh 2003; Tololyan 1996; men ihrem Wesen nach transterritorial und können
Volkmer 2003; Werbner 2004). Indem sie die Exis- weder im Innern eines solchen Staates verortet noch
tenz von Diskursarenen dokumentieren, die über die von diesem gelöst werden. In solchen Fällen respek-
Grenzen von Nationen und Staaten hinausgehen, tieren die heutigen Formationen der öffentlichen
können ihre Arbeiten einen bislang unbeachteten Meinung nur selten die Vorgaben der ›westfälischen‹
Zug der habermasianischen Konzeption ans Licht Struktur. Daher schienen Voraussetzungen, die sich
bringen. Von Strukturwandel der Öffentlichkeit an- früher in der Öffentlichkeitstheorie von selbst ver-
gefangen bis hin zu Faktizität und Geltung hat die standen, jetzt einer kritischen Revision zu bedürfen.
Theorie der Öffentlichkeit die Öffentlichkeiten still- Die Entkoppelung der Öffentlichkeiten von den
schweigend mit eingegrenzten politischen Gemein- Staaten wirft Probleme von zweierlei Art auf. Die
schaften in Beziehung gesetzt. Von einer ›westfäli- erste Schwierigkeit ergab sich, wenn transnationale
schen‹ politischen Imagination geformt, hat die The- administrative Mächte die kommunikative Macht
orie implizit den ›Adressaten‹ der öffentlichen der transnationalen Zivilgesellschaft überflügeln
Meinung mit einem souveränen Territorialstaat und sich somit ein Defizit demokratischer Legitimi-
gleichgesetzt, der imstande ist, eine nationale Öko- tät ergibt. Nach Habermas’ Ansicht ist dies heute in
nomie in allgemeinen Interesse einer nationalen der Europäischen Union der Fall, insofern es keine
Bürgerschaft zu steuern. Infolgedessen wird die Aus- europäische Öffentlichkeit gibt, die die administrati-
bildung einer öffentlichen Meinung stillschweigend ven und legislativen Gewalten der EU zur Rechen-
als ein Prozess vorgestellt, der sich in einer National- schaft ziehen könnte. Auf globaler Ebene scheint da-
sprache mittels nationaler Medien und mit der Un- gegen genau das Gegenteil zu gelten. Dort stehen
terstützung einer nationalen Kommunikationsinfra- den bestehenden transnationalen Öffentlichkeiten
struktur vollzieht. Somit hatte das Ideal der Öffent- keine vergleichbaren administrativen und legislati-
lichkeit also einen Bezugspunkt abgegeben, von dem ven öffentlichen Körperschaften gegenüber, woraus
aus die Demokratiedefizite der eingegrenzten Terri- sich das zweite Problem ergibt: ein Defizit politi-
torialstaaten beschrieben und kritisiert werden scher Effizienz. Habermas erörterte ein dramati-
konnten. Habermas war keineswegs der einzige, der sches Beispiel eines derartigen Defizits, nämlich die
diesen ›westfälischen‹ Rahmen voraussetzte. Die weltweiten Anti-Kriegs-Demonstrationen vom 15.
meisten Kritiken seiner Theorie – so auch die oben Februar 2003, die eine enorme Masse der transnatio-
besprochenen – waren selbst zutiefst von diesen nalen öffentlichen Meinung gegen die drohende US-
›westfälischen‹ Voraussetzungen durchdrungen. Invasion im Irak mobilisierte. Obwohl diese Mei-
Auch für diese Kritiker stellte der Öffentlichkeitsbe- nungsäußerung an Kraft und Deutlichkeit nichts zu
griff einen Teil eines deliberativ-demokratischen wünschen übrigließ, fehlte ihr ein Adressat, der im-
Ideals für territorial begrenzte Gemeinwesen dar stande gewesen wäre, George W. Bush in die Schran-
(eine ausführlichere Darstellung findet sich in Fraser ken zu verweisen, und so blieb diese Öffentlichkeit
2007; vgl. auch die Erwiderungen auf meinen Auf- in gewissem Sinne machtlos.
satz in demselben Heft der Zeitschrift Theory, Cul- In den letzten Jahren haben diese beiden Pro-
ture & Society). bleme zu einer großen Zahl neuer wissenschaftlicher
Seit Mitte der 1990er Jahre scheint dieser ›westfä- Arbeiten über die Transnationalisierung der Öffent-
lische‹ Rahmen der Theorie der Öffentlichkeit je- lichkeit angeregt. Wieder einmal haben sich die His-
doch nicht mehr plausibel. Ganz gleich, ob es um die toriker ins Getümmel gestürzt und debattieren nun
globale Erwärmung, die Immigration, die Rechte der darüber, ob eine transnationale Öffentlichkeit ein
2. Theorie der Öffentlichkeit 153

Novum darstellt oder nicht. Jene Forscher, die diese schaffen (Bohman 1998; Bohman 1997; Brunkhorst
Frage bejahen, bringen dieses Phänomen mit der 2002; Abizadeh 2005; Held 2007; Held 1995; Fraser
Globalisierung des späten 20. Jahrhunderts in Zu- 1992a; Nash/Bell 2007; eine feministische Perspek-
sammenhang. Sie behaupten, dass das moderne zwi- tive vgl. auch Lara 2003).
schenstaatliche System zuvor den Großteil der poli- Weitere Debatten beschäftigen sich mit den Me-
tischen Diskussion in staatszentrierte Diskursarenen dien und der Infrastruktur der öffentlichen Kom-
kanalisierte; sie sind der Ansicht, der ›westfälische‹ munikation in der heutigen Zeit. Ein Problem be-
Rahmen sei der theoretischen Darstellung der Öf- steht in den Auswirkungen von Veränderungen der
fentlichkeiten bis in die allerjüngste Zeit hinein ad- Eigentumsstrukturen und der politischen Ökono-
äquat gewesen (vgl. die Beiträge im Sonderheft der mie der Medien (McChesney 1999; McChesney
Zeitschrift Theory, Culture & Society [2007]; vgl. 2001). Ein anderes ergibt sich in Kontexten, in denen
auch Held et al. 1999; Ferguson/Jones 2002; Sassen die möglicherweise von einer bestimmten Angele-
2008). Das gegnerische Lager – jene Forscher also, genheit Betroffenen nicht dieselbe Sprache sprechen
die obige Frage verneinen –, insistieren dagegen dar- (Adrey 2005; Alexander 2003; König 1999; Patten
auf, dass die Öffentlichkeit zumindest seit der Ent- 2001; Phillipson 2002; Payrow Shabani 2004; Van
stehung des zwischenstaatlichen Systems im 17. Parijs 2000; Wilkinson 2004). Noch ein weiteres Pro-
Jahrhundert transnational war. Sie berufen sich auf blem entsteht, wenn die potentiellen Gesprächspart-
aufklärerische Visionen einer internationalen ›Ge- ner nicht über eine gemeinsame Kultur oder Ge-
lehrtenrepublik‹ und auf nationenübergreifende Be- schichte verfügen (Calhoun 2002; Husband 1996;
wegungen wie den Kampf gegen die Sklaverei oder James 1999). Schließlich stellen sich gewichtige Fra-
den Sozialismus, von den Weltreligionen und dem gen, welche Auswirkungen der relative Rückgang
modernen Imperialismus ganz zu schweigen; dieses der Printmedien, der neue Aufschwung der Visuali-
Lager verficht die Auffassung, der ›westfälische‹ tät, das Aufkommen des Internets und die Entste-
Rahmen sei immer schon ideologisch gewesen und hung von Kommunikationstechnologien haben wer-
habe den wesensmäßig grenzübergreifenden Cha- den, die nahezu zeitgleiche Kommunikation über
rakter der Öffentlichkeiten nur verschleiert (vgl. die riesige Entfernungen hinweg ermöglichen (Berdal
Essays in Boli/Thomas 1999). 2004; Papacharissi 2002; Cammaerts/van Auden-
Inzwischen denken auch politische Philosophen hove 2005; Dahlgren 2005).
über die Implikationen einer transnationalen Öf- Keine dieser Diskussionen wird wohl in nächster
fentlichkeit nach. Eine Diskussion beschäftigt sich Zeit vollkommen abgeschlossen werden können. So
mit dem Schicksal der Demokratie in einer Ära, in geht man kein Risiko ein, wenn man voraussagt, dass
der die Öffentlichkeiten es nicht mit den Staaten auf- die Debatten über Theorie und Geschichte der Öf-
nehmen können. Habermas hat dieses Problem in fentlichkeit weiterhin zunehmen werden. Der ein-
seinen Essays über die ›postnationale Konstellation‹ flussreichste aller habermasianischen Begriffe
und den ›gespaltenen Westen‹ angesprochen (PN; scheint dazu ausersehen zu sein, noch für lange Zeit
GW; vgl. auch Lupel 2004). Als er feststellen musste, der Gegenstand lebhafter Auseinandersetzungen zu
dass die zur Unterstützung globaler Solidarität erfor- bleiben. Genau dies sollte er übrigens in einer Epo-
derliche globale Öffentlichkeit fehlte, hatte er vorge- che auch sein, in der die öffentliche Kommunikation
schlagen, dass Anstrengungen zur Beförderung eine ›strukturelle Transformation‹ durchmacht, die
postnationaler Demokratie für absehbare Zeit am mindestens so folgenschwer und tiefgehend ist wie
besten auf das regionale Niveau fokussiert werden jene, die Jürgen Habermas 1962 erstmals beschrieb.
sollten. Andere Theoretiker haben die Transnationa-
lisation der öffentlichen Kommunikation beschwo- Literatur
ren, um die Möglichkeit einer umfassenderen ›kos-
Abizadeh, Arash: »Does Collective Identity Presuppose an
mopolitischen‹ Demokratie zu gewährleisten. Dieses Other? On the Alleged Incoherence of Global Solidar-
Lager teilt sich wiederum in zwei Fraktionen: die ei- ity«. In: American Political Science Review 90 (2005), 45–
nen – wie James Bohman und Hauke Brunkhorst – 60.
delegieren die Hauptlast der Demokratisierung an Adrey, Jean-Bernard: »Minority Language Rights Before
die transnationale Öffentlichkeit selbst, die anderen and After the 2004 EU Enlargement: The Copenhagen
Criteria in the Baltic States«. In: Journal of Multilingual
– wie David Held und wie ich selbst – insistieren & Multicultural Development 26, 5 (2005), 453–468.
gleichermaßen auf der Notwendigkeit, neue trans- Alexander, Neville: »Language Policy, Symbolic Power and
nationale administrative und legislative Gewalten zu the Democratic Responsibility of the Post-Apartheid
154 III. Texte

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Tololyan, Khachig: »Rethinking Diaspora(s): Stateless zu machen – als Ding wahrzunehmen oder als Ding
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als falsch. Es handelt sich um eine Art der Verken-
Volkmer, Ingrid: »The Global Network Society and the nung, die zugleich kognitiv und moralisch und/oder
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Warner, Michael: The Letters of the Republic: Publication zufolge die verdinglichten Phänomene tatsächlich
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einen dinghaften Charakter annehmen, etwa wenn
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Society 20, 3 (2004), 217–229. Kern der Verdinglichungsdiagnose darstellen, än-
Young, Iris Marion: »Impartiality and the Civic Public: dert sich die Rolle des Begriffs im Werk von Haber-
Some Implications of Feminist Critiques of Moral and
Political Theory«. In: Seyla Benhabib/Drucilla Cornell mas grundlegend, wobei der Bezug zu kapitalisti-
(Hg.): Feminism as Critique. Minneapolis 1987. schen Formen der Vergesellschaftung zwar erhalten
Nancy Fraser (Übers. Nikolaus Gramm) bleibt, aber gelockert wird.
Unter Bezugnahme auf unterschiedliche Theo-
rietraditionen (s. u. »Quellen und Einflüsse«) spielt
für Habermas der Begriff dabei insbesondere in fünf
Zusammenhängen eine Rolle (s. u. »Themen und
Thesen«): Zunächst in den kulturkritischen Früh-
schriften (1), in der Diskussion um die ideologische
Dimension von Technik und Wissenschaft (2) sowie
im Kontext des Positivismusstreits und der Kritik
am naturalistischen Erkenntnisideal (3), dann im
Rahmen seiner Diagnose sozialer Pathologien, die
156 III. Texte

vom Motiv der »Kolonialisierung der Lebenswelt« Quellen und Einflüsse


durch systemische Imperative geleitet ist (4), und
schließlich mit Bezug auf die ethisch relevanten Auch wenn für Habermas’ Diskussion des Zusam-
Rückwirkungen der modernen Gentechnik auf das menhangs von Technik und Verdinglichung die
Selbstverständnis der Betroffenen (5). Überlegungen von Marx, Max Weber und Georg
Der Zusammenhang von Technik, instrumentel- Lukács von besonderer Bedeutung sind, finden sich
ler bzw. funktionalistischer Vernunft und Verdingli- vielfältige weitere Quellen und Einflüsse, die hier
chung ist dabei in allen fünf Zusammenhängen zen- nur knapp angedeutet werden können. Im Hinter-
tral. grund steht dabei zum einen die an Aristoteles an-
Unter »Technik« lässt sich zunächst der Einsatz schließende Unterscheidung von Praxis und Tech-
praktisch wirksamer Mittel – Werkzeuge, Geräte, nik (téchnē) (vgl. insb. TP) sowie die in der Ausein-
Maschinen – zur Erreichung eines bestimmten andersetzung mit Hegel entwickelte Differenzierung
Zwecks verstehen, aber auch die methodisch kon- von Arbeit und Interaktion (vgl. insb. TW, 9 ff.). Von
trollierten und auf Optimierung zielenden Verfah- unmittelbarer Relevanz für Habermas’ Verständnis
ren (Technologien), die diesen Einsatz regulieren – von Verdinglichung sind Marx’ Analysen der Ver-
etwa die Arbeitsabläufe in einer Fabrik – sowie die dinglichung der Arbeitskraft und des Fetischcharak-
dafür notwendigen Formen des Wissens bzw. der ters der Ware unter kapitalistischen Bedingungen.
Expertise (vgl. TP, 337). Schon der letzte Punkt weist Sie laufen zusammen in der Diagnose sozialstruktu-
auf die Verschränkung von Technik und Wissen- reller Indifferenz: Die Strukturen der sozialen Welt
schaft hin. – insbesondere die Produktionsverhältnisse – er-
In der Kritischen Theorie wird Technik vor allem scheinen als unabhängig von und erweisen sich als
im Rahmen der Frage nach den gesellschaftlichen gleichgültig gegenüber dem Wollen und den norma-
Voraussetzungen und Auswirkungen des techni- tiven Ansprüchen der betroffenen Akteure (vgl.
schen und wissenschaftlichen Fortschritts sowie der Lohmann 1991, 214 f., 243). Explizit von »Verdingli-
Ausbreitung von Formen funktionalistischer – also chung« spricht Marx freilich nur an wenigen Stellen,
auf technische Kontrolle zielender – Vernunft zum insbesondere im Zusammenhang mit der »Mystifi-
Thema. Der Zusammenhang zwischen Technik und kation der kapitalistischen Produktionsweise«, die
Verdinglichung stellt sich dabei zunächst wie folgt sich in der »Verdinglichung der gesellschaftlichen
dar: Während eigentlich zu erwarten wäre, dass der Verhältnisse« ausdrückt: »die verzauberte, verkehrte
wissenschaftlich-technische Fortschritt den Gestal- und auf den Kopf gestellte Welt, wo Monsieur le Ca-
tungsspielraum der Menschen vergrößert und eine pital und Madame la Terre als soziale Charaktere
vernünftigere Organisation der gesellschaftlichen und zugleich unmittelbar als bloße Dinge ihren Spuk
Verhältnisse ermöglicht, verhält es sich faktisch treiben« (MEW, Bd. 25, 838; vgl. ebd., 887). Grundle-
scheinbar gerade umgekehrt: Technisierung und gend ist für Marx dabei der Bezug zum Warenfeti-
Verwissenschaftlichung entwickeln eine Eigendyna- schismus, in dem »das gesellschaftliche Verhältnis
mik (schon vom frühen Habermas unter dem der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ih-
Schlagwort »Sachzwang« verhandelt), die sich der nen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von
Kontrolle der Betroffenen zunehmend entzieht und Gegenständen« erscheint (MEW, Bd. 23, 86). Unter
deren Rückwirkungen auf die lebensweltlichen Zu- diesen Bedingungen erscheint als Sache, was eigent-
sammenhänge als Freiheitsverlust und als Entfrem- lich »ein durch Sachen vermitteltes gesellschaftliches
dung erfahren werden. Antidemokratische Tenden- Verhältnis zwischen Personen« ist (ebd., 793; vgl.
zen der Technokratie gehen hier Hand in Hand mit MEW, Bd. 13, 22). Die Menschen sind mit Verhält-
der Eindimensionalität einer Herrschaft der instru- nissen konfrontiert, »unter deren Kontrolle sie ste-
mentellen Vernunft. Genau dieser systematische Zu- hen, statt sie zu kontrollieren« (MEW, Bd. 23, 89).
sammenhang zwischen den für kapitalistische Ge- Verdinglichung ist hier ein zugleich (inter-)subjekti-
sellschaften charakteristischen Formen des wissen- ves wie objektives Phänomen, Kategorienfehler und
schaftlich-technischen Fortschritts und strukturell Tendenz der Wirklichkeit in einem.
defizitären Formen der gesellschaftlichen Rationali- Für die Entwicklung des so genannten westlichen
tät und den entsprechenden sozialen Pathologien ist Marxismus und auch von Habermas’ Denken kommt
mit dem Komplex »Technik und Verdinglichung« der Integration von Grundgedanken Webers ent-
angesprochen. scheidende Bedeutung zu. Prozesse der Rationalisie-
rung, also der Ausbreitung berechnender und auf
3. Technik und Verdinglichung 157

Effizienz zielender Einstellungen in allen Lebensbe- der praktischen Einstellung des Vergegenständli-
reichen, sowie die Ausdifferenzierung und Autono- chens, Feststellens, Berechnens und Beherrschens
misierung der Wertsphären (insbesondere von Mo- sowie der Verkehrung von Mitteln in Zwecke und
ral, Recht, Wirtschaft und Wissenschaft) führen We- der Verselbständigung der Technik eine Rolle (vgl.
ber zufolge zu jener Form der Entzauberung, die von etwa Heidegger 1978). Auch Arnold Gehlens These
den Subjekten zugleich als Freiheits- und Sinnver- von der Notwendigkeit von Verstärkungs-, Ergän-
lust erfahren wird. Das »stahlharte Gehäuse« der zungs- und Entlastungstechniken angesichts der or-
modernen Bürokratie und des modernen Kapitalis- ganischen Unterausstattung und Instinktschwäche
mus, aus dem »der Geist entwichen« ist und das den des Menschen und von der Herausbildung einer
Menschen als fremde Macht entgegentritt, ist die »Superstruktur«, in der sich Wissenschaft, Technik
spezifisch okzidentale Gestalt der Verdinglichung und Industrie wechselseitig verschränken und der
(Weber 1988, 203 f.; vgl. TKH I, 461 ff.; Dahms 1998). Kontrolle der Individuen entziehen (vgl. etwa Geh-
Diese Charakterisierung wird auf auch für Haber- len 2007), wird von Habermas aufgegriffen und wei-
mas prägende Weise von Lukács (1970) aufgegriffen, terentwickelt (vgl. etwa TP, Kap. 9).
der im Anschluss an Marx’ Analyse des Warenfeti- Für Habermas’ Fortführung des Projekts der Kri-
schismus Verdinglichung bestimmt als die Anglei- tischen Theorie ist die Auseinandersetzung mit Max
chung sozialer Beziehungen zwischen Menschen an Horkheimers und Theodor W. Adornos Dialektik
Beziehungen zwischen Dingen, die als zweite Natur, der Aufklärung zentral. In ihr wird die Diagnose der
als nicht durch individuelles oder kollektives Han- Verdinglichung nicht nur unter dem Titel »Kulturin-
deln beeinflussbare fremde Macht erscheinen. Abs- dustrie« auf den Bereich der restlos kommodifizier-
trakte Allgemeinheit und Kalkulierbarkeit durchzie- ten Kultur ausgeweitet, sondern zur Analyse der ver-
hen mit der Verselbständigung des Tauschwertes die walteten Welt verallgemeinert. Die Autoren konsta-
gesamte Struktur der kapitalistischen Gesellschaft – tieren ein weitgehendes Zusammenfallen von
und überformen damit auch die alltäglichen Lebens- Vernunft und instrumenteller Vernunft und erbli-
verhältnisse (vgl. TKH I, 474 ff.). Die durch die mo- cken in der technischen Rationalität die vorherr-
derne Technik forcierte Atomisierung und waren- schende Form der Verdinglichung, in der sich Pro-
förmige Standardisierung des Arbeitsprozesses zesse der Naturbeherrschung, der Herrschaft des
verunmöglichen den Subjekten jegliche Individuali- Menschen über sich selbst und der Herrschaft der
tät und Selbsterfahrung als Handelnde und führen Menschen übereinander zusammenschließen. An-
damit zu einem entfremdeten, weil objektivierenden gesichts dieser totalisierenden Diagnose kann sich
Selbst- und Weltverhältnis. Positivismus und Empi- die Hoffnung nicht mehr auf eine soziale Emanzipa-
rismus wirken als Erkenntnisformen selbst verding- tionsbewegung, sondern allein auf den »Geist« be-
lichend, indem sie mit ihrer Rede von ›Tatsachen‹ ziehen, dessen »wahres Anliegen [...] die Negation
die Geschichtlichkeit und Veränderbarkeit der sozi- der Verdinglichung« ist und an dem festzuhalten die
alen Wirklichkeit und der Auffassungen von ›Natur‹ Kritische Theorie sich in Abgrenzung vom Positivis-
verdecken. Angesichts der Totalität von Lukács’ Ver- mus verpflichtet sieht (Horkheimer/Adorno 1988,
dinglichungsdiagnose stellt sich allerdings die Frage 11).
nach dem Standpunkt, von dem aus diese Diagnose Den direkten Ansatzpunkt für Habermas’ Diskus-
erfolgt, und nach den Maßstäben, die seine Kritik sion der Verdinglichungsproblematik stellt indes
anleiten (vgl. Lohmann 1983; Dannemann 1987). Herbert Marcuses Analyse dar. Marcuse zufolge ist
Die Diagnose sozialer Pathologien, der Zerrissenheit nicht erst ihre einseitige Verwendung, sondern
in den Dimensionen des Selbstbezugs, des gesell- schon die Technik selbst »methodische, wissen-
schaftlichen Zusammenlebens und des Naturver- schaftliche, berechnete und berechnende Herr-
hältnisses scheint des normativen Vorgriffs auf Mus- schaft« (Marcuse 2004a, 97). Um Entfremdung und
ter unverzerrter, eben nichtverdinglichter Vergesell- Verdinglichung zu überwinden, müsse die Logik des
schaftung zu bedürfen. technischen Fortschritts unterbrochen und ein poli-
Besonders in Habermas’ frühen kulturkritischen tischer Emanzipationsprozess in Gang gesetzt wer-
Schriften (1970) ist zudem der Einfluss Heideggers den. In Marcuses Perspektive verbindet sich der wis-
unverkennbar. Dabei spielt insbesondere dessen senschaftlich-technische Fortschritt, der eigentlich
Diagnose einer unangemessenen Privilegierung der die umfassende Befriedigung materieller Bedürf-
»Vorhandenheit« vor der ontologisch wie lebens- nisse und den Abbau überflüssiger Repression er-
weltlich primären »Zuhandenheit« und seine Kritik möglicht, mit neuartigen Herrschaftstechniken, auf
158 III. Texte

denen dieser Fortschritt zugleich beruht und die für die nicht demselben Modus des »Fortschritts« folgt
die Subjekte aufgrund der Eindimensionalität der und »gerade nicht in einer fortschreitenden Organi-
ihnen auferlegten Denk- und Erfahrungsschemata sation«, sondern in solchen »Anordnungen [läge],
gar nicht mehr als Formen der Unterdrückung greif- die gewisse Bereiche aus der Organisation ausgren-
bar sind (vgl. Marcuse 2004b; vgl. Feenberg 2002, zen« (ebd., 17). Die Pointe ist hier, dass Habermas,
Kap. 3). orientiert an den Ergebnissen der zeitgenössischen
Arbeitssoziologie, noch davon ausgeht, dass sich die
Grenzen einer lediglich technischen und ökonomi-
Themen und Thesen
schen Rationalisierung im Bereich von Wirtschaft
1. Kritik des Pauperismus: Der Zusammenhang von und Produktion selbst (und durchaus auch als Gren-
Technik und Verdinglichung bzw. Entfremdung be- zen der Effektivität) zeigen.
schäftigt Habermas schon in seinen frühen und Nun gibt es Pauperismus, Habermas’ früher Dia-
heute kaum mehr gelesenen kulturkritischen Schrif- gnose zufolge, nicht nur in der Produktion, sondern
ten. So bezeichnet er in seinem Aufsatz »Die Dialek- auch im Bereich der Konsumtion, von dem man
tik der Rationalisierung« von 1954 als »Pauperis- denken könnte, dass er für die Mangelerfahrung in
mus« die mit der »Maschinenkultur« einhergehen- der Arbeitswelt entschädige. Unter ausdrücklichem
den durchgreifenden Veränderungen der alltäglichen Bezug auf Heidegger beklagt Habermas in dieser Di-
Lebensverhältnisse, die Symptome einer nicht pri- mension den Verlust des Bezugs zu den Dingen:
mär materiellen Verarmung sowohl der Arbeitswelt »Dinge verlieren sich und wir verlieren die Dinge,
als auch der Sphäre von Freizeit und Konsum sind wo sie zu beliebig ›bestellbarem Bestand‹ degenerie-
(Habermas 1970, 8). »Unsere Welt ist vom Takt der ren« (ebd., 24). Das in den fortgeschrittensten
Maschinen erfüllt« (ebd., 9), so Habermas’ kritische Industriegesellschaften feststellbare gehobene Kon-
Diagnose. Ganz im Sinne des klassischen Verdingli- sumniveau verstärke dabei nur das Problem der qua-
chungsmotivs sieht er hier Verselbständigungspro- litativen Verarmung der Erfahrung. Einem Kompen-
zesse, eine Ablösung der Handlungseffekte von den sationsmechanismus unterliegend seien nämlich die
Intentionen der Handelnden am Werke: »Die Ma- Konsummöglichkeiten »Retuschen, die ihrem We-
schine löst sich, je perfekter sie wird, mehr und mehr sen nach bestimmten Mängeln zugehören« (ebd.,
aus der Hand, von der sie und auf die hin sie kon- 17). Herstellung und Konsum von Massenprodukten
struiert wurde, sie verselbständigt sich und errichtet erweisen sich gleichermaßen als sich wechselseitig
sichtbare wie unsichtbare Wände zwischen Mensch verstärkende Gestalten des Pauperismus (ebd., 25).
und Ding« (ebd.). So vertritt Habermas zwar die Heißt das Programm gegen diese Situation nun
These, dass Technik sich nicht einfach als neutrales »Mäßigung des Konsumtempos« (ebd., 28), so wird
Medium verstehen lässt, das die mit ihr verfolgten fraglich, ob sich hiermit das immanent ansetzende
Ziele nicht affiziert. Im Unterschied allerdings zu Projekt, »in Produktion und Konsumtion den kriti-
Generationen kulturkritischer Denker vor ihm in- schen Punkt ausfindig zu machen, wo der technische
sistiert er schon hier darauf, dass »Maschinenstür- Fortschritt unrationell wird« (ebd., 30), erfüllen
merei, welcher Art und Herkunft auch immer, die lässt.
Technik verkennt« (ebd., 24). Obwohl skeptisch ge- Für den Zusammenhang von Technik und Ver-
genüber übergroßem Optimismus, ist Habermas’ dinglichung im Habermas’schen Werk sind diese
kritische Diagnose der verdinglichenden Folgen frühen – vom Autor selbst nicht in die folgenden
technologischer Fortentwicklung konsequenter- Aufsatzbände aufgenommenen – Arbeiten nicht nur
weise geleitet von der Frage, ob es möglich sei, »den deshalb aufschlussreich, weil sich in ihnen der Ein-
technischen Fortschritt vom Pauperismus gleichsam fluss der Heidegger’schen Technik- und Moderne-
zu desinfizieren« (ebd., 9). Seine vorsichtige Lösung kritik auf den jungen Habermas sowie seine Nähe
nimmt einige Motive des späteren Werkes bereits zur Philosophischen Anthropologie zeigt. Entschei-
vorweg: Bezogen auf die Produktion (und konkret dend ist vielmehr, wie er schon hier, einige der Phä-
den modernen Industriebetrieb und die entfremdet- nomenbeschreibungen teilend, versucht, ihren la-
pauperisierte Arbeit in diesem) legt Habermas eine mentierend kulturpessimistischen Konsequenzen zu
Unterscheidung verschiedener Weisen der Rationa- entkommen. Stehen im Zentrum seiner späteren
lisierung nahe, indem er die technische und ökono- Überlegungen die Bemühungen, die totalisierenden
mische der »sozialen Rationalisierung« als einer ten- Konsequenzen der (durch Lukács vermittelten) mar-
denziell gegenläufigen Bewegung gegenüberstellt, xistischen Verdinglichungsdiagnose zu überwinden,
3. Technik und Verdinglichung 159

so ist es andererseits kein Zufall, dass seine schon in – Technik als solche, sondern nur der mit ihrer ge-
der Auseinandersetzung mit dem Marxismus ste- genwärtigen Gestalt einhergehende Universalitäts-
henden Überlegungen zu »Technik und Wissen- anspruch – also die Reduktion von Praxis auf Tech-
schaft als ›Ideologie‹« Marcuse (seinerseits ein nik und von Vernunft auf instrumentelle Vernunft –
»Heidegger-Marxist«) zugeeignet sind. das Problem (vgl. auch TP, 346 ff.).
Habermas weist in einem ersten Schritt darauf
2. Technik – Wissenschaft – Ideologie: Vor dieser Aus- hin, dass für Marcuse aufgrund seiner totalisieren-
einandersetzung mit Marcuse rückt in TP die Kritik den Diagnose Rationalität als Maßstab der Kritik
der an den neuzeitlichen Szientismus anschließen- ausfällt, wohingegen es doch nur eine »spezifisch be-
den Tendenzen einer Verwissenschaftlichung der schränkte« Rationalität (TW, 52) ist, die sich in den
Politik, die demokratische Selbstbestimmung letzt- inkriminierten Verhältnissen zum Ausdruck bringt.
lich durch technokratische Verwaltung ersetzt, in In einem zweiten Schritt wendet er sich gegen Mar-
den Mittelpunkt. Habermas wendet sich in diesen cuses Forderung einer »ganz anderen Technik« und
Arbeiten primär gegen die vereinfachende Auffas- einer »neuen Wissenschaft«, da Technik und Wis-
sung, dass man praktische Fragen, insofern sie sich senschaft in einem internen Zusammenhang mit
nicht als technische rationalisieren lassen, nur dezi- zweckrationalem Handeln stehen und nicht substi-
sionistisch entscheiden könne (TP, Kap. 8). Vor die- tuierbar sind (ebd., 56 f.). Stattdessen müsse man auf
sem Hintergrund unternimmt er erste Schritte zu ei- einer grundlegenden handlungstheoretischen Ebene
ner Analyse der »praktischen Folgen des wissen- »symbolisch vermittelte Interaktion im Unterschied
schaftlich-technischen Fortschritts«, die er von der zum zweckrationalen Handeln« (ebd., 57) begreifen.
optimistischen liberalen Deutung der Technik als Dies erfordert eine Neuinterpretation von Webers
vom Menschen kontrollierbare Entlastung ebenso Rationalisierungsthese entlang der grundlegenden
abzugrenzen bestrebt ist wie von ihrer kulturkri- Unterscheidung von Arbeit und Interaktion, von
tisch-konservativen Verdammung und ihrer techno- zweckrationalem und kommunikativem Handeln,
kratischen Überhöhung (TP, Kap. 9; zu dieser Werk- wobei sich erstere nach technischen Regeln und letz-
phase vgl. auch McCarthy 1989, Kap. 1). tere nach geltenden Normen richtet (ebd., 62). An
Zeitgleich mit dem Versuch einer wissenschafts- dieser Stelle führt Habermas erstmals die für seine
theoretischen Verortung der Kritischen Theorie im weitere Theorieentwicklung grundlegende Unter-
Rahmen der Auseinandersetzung mit Positivismus scheidung zwischen System und Lebenswelt ein: In
und Psychoanalyse in EI erscheint 1968 Habermas’ Systemen überwiegt das zweckrationale Handeln, so
berühmtester Aufsatz zum Thema: »Technik und dass sich Rationalisierung als Steigerung der Effekti-
Wissenschaft als ›Ideologie‹«. Darin setzt er sich mit vität und technischen Verfügungsgewalt darstellt,
Marcuses zentraler These, dass »die befreiende Kraft während in der Lebenswelt die symbolisch vermit-
der Technologie« selbst zu einer »Fessel der Befrei- telte Interaktion grundlegend ist und Rationalisie-
ung« wird und zur »Instrumentalisierung des Men- rung die Ausdehnung herrschaftsfreier Kommuni-
schen« führt (Marcuse 2004b, 174) ebenso ausein- kation bezeichnet (ebd., 64). Die kapitalistische Pro-
ander wie mit der ihr zugrunde liegenden Annahme duktionsweise behandelt Habermas als Motor einer
einer »Doppelfunktion des wissenschaftlich-techni- permanenten Ausdehnung der Sub-Systeme zweck-
schen Fortschritts (als Produktivkraft und Ideolo- rationalen Handelns (ebd., 68). Damit geht eine neu-
gie)« (TW, 60). Schon die Anführungszeichen im artige Form der Legitimation einher, die einerseits
Titel weisen freilich darauf hin, dass Habermas kei- wissenschaftlichen Charakter beansprucht, anderer-
neswegs bruchlos an Marcuses marxistisch inspi- seits Ideologie ist, da sie ihren politischen Anspruch
rierte Analyse anknüpfen zu können meint (s. Kap. leugnet (ebd., 72). Vor diesem Hintergrund unter-
IV.11). scheidet Habermas zwei Entwicklungstendenzen:
Im Anschluss an Webers Theorem der »Rationali- »1. ein Anwachsen der interventionistischen Staats-
sierung« diagnostiziert Habermas zunächst die tätigkeit, welche die Stabilität des Systems sichern
Durchsetzung zweckrationalen Handelns in ver- muß, und 2. eine wachsende Interdependenz von
schiedenen gesellschaftlichen Bereichen: Technik Forschung und Technik, die die Wissenschaft zur
und Wissenschaft durchdringen die Gesellschaft ersten Produktivkraft macht« (ebd., 74). Der Staat
und unterwerfen diese einem fundamentalen Wan- kann aufgrund dieser Entwicklungen nicht mehr als
del (TW, 48). Für ihn ist aber nicht die – für die bloßes Überbauphänomen behandelt werden (ebd.,
materielle Reproduktion der Gattung unverzichtbare 75) – Politik und Ökonomie, Staat und bürgerliche
160 III. Texte

Gesellschaft verschränken sich ebenso unauflöslich ben Zeit, dass Demokratie unvereinbar ist mit dem
wie Technik, Wissenschaft und Administration. Das »naturwüchsigen«, also nicht der Reflexion und rati-
macht eine Ergänzung der klassischen »Leistungs- onalen Kontrolle unterworfenen Charakter des tech-
ideologie« durch »kompensierende Staatstätigkeit« nischen Fortschritts und seiner Rückwirkungen auf
nötig, die der wohlfahrtsstaatlichen Sicherung der die Lebenspraxis (ebd., 117 f.). Das technokratische
Massenloyalität dienen soll, Politik damit aber auf Modell unterstellt »einen immanenten Zwang des
die »Lösung technischer Fragen« zu reduzieren technischen Fortschritts, der diesen Schein der Ver-
droht (ebd., 76 f.). selbständigung nur der Naturwüchsigkeit der in ihm
Auf dieser theoretischen Grundlage wendet sich wirksamen gesellschaftlichen Interessen verdankt«
Habermas der »Verwissenschaftlichung der Tech- und setzt »ein Kontinuum der Rationalität in der Be-
nik« (ebd., 79), der Ausbreitung der Orientierung handlung technischer und praktischer Fragen vor-
auf technisch verwertbares Wissen auch in der Poli- aus, das es nicht geben kann« (ebd., 123). Hingegen
tik und der entsprechenden Debatte um Technokra- ist die »Integration von technischem Wissen und
tie zu. Wie in Theorie und Praxis argumentiert er hermeneutischer Selbstverständigung« (ebd., 137)
auch hier gegen die Reduktion von der ursprünglich allein in herrschaftsfreien Diskursen zu leisten. Ge-
als Praxis verstandenen Politik auf eine Sozialtech- lingt dies nicht, droht sich im »Spätkapitalismus«
nik, die ohne öffentliche Diskurse auskommt. Die eine »Symptomatik der Verdinglichung« zu entfal-
»Technokratie-These«, wie sie etwa von Schelsky ten, die neben einer objektiven, die Systemintegra-
(1979) vertreten wird, diskutiert Habermas anhand tion betreffenden auch eine soziokulturelle und mo-
der Verweise auf Sachzwänge, der Herrschaft von tivationale, den Legitimationsglauben der Menschen
Experten, des Abbaus demokratischer Mitbestim- betreffende Krise umfasst (TKH II, 522; vgl. LS; s.
mung, der Dominanz von Verwaltung und Exeku- Kap. III.6; IV.31).
tive sowie der Verdrängung von kommunikativem
durch zweckrationales Handeln, die ihn von einer 3. Kritik des Positivismus: Entsprechend des doppel-
umfassenden »Selbstverdinglichung der Menschen« ten Verständnisses der Kritischen Theorie als Kritik
sprechen lässt (TW, 82). Allerdings sollte das tech- der Gesellschaft und als Kritik der Wissenschaft (vgl.
nokratische Bewusstsein nicht einfach als Ideologie TKH II, 549 f.), als »Kritik an der Verdinglichung und
im klassischen Sinn behandelt werden, da es nicht Funktionalisierung von Verkehrs- und Lebensformen
mehr nur Ideologie ist. Die »verdinglichten Modelle sowie am objektivistischen Selbstverständnis von
der Wissenschaften« werden von den Akteuren in Wissenschaft und Technik« (ND, 41) kritisiert Ha-
ihr Selbstverständnis integriert – ihr »ideologischer bermas auch die von ihm dem Positivismus zuge-
Kern« ist »die Eliminierung des Unterschieds von schlagenen Denkformen als Ausdruck der Techno-
Praxis und Technik« (ebd., 91). Damit aber wird das kratie in der Theorie, die durch die Verdrängung des
Gattungsinteresse an kommunikativen Formen der Zusammenhangs von wissenschaftlicher Erkenntnis
Vergesellschaftung und Individuierung verletzt und praktischem Interesse gekennzeichnet sind. Da-
(ebd., 89, 91; vgl. auch EI). Um diese Entwicklungen gegen identifiziert er drei fundamentale, in den Me-
kritisieren zu können, ist, so Habermas, eine Unter- dien der Vergesellschaftung (Arbeit, Sprache, Herr-
scheidung von »zwei Begriffen von Rationalisie- schaft) fundierte Erkenntnisinteressen, die sich in
rung« nötig (TW, 98), je nachdem, ob sie sich auf die drei Typen wissenschaftlicher Erkenntnis spiegeln:
Ebene der Systeme oder jene der Lebenswelt bezie- das technische Erkenntnisinteresse in den empi-
hen. Anders als für Weber geht für Habermas Ratio- risch-analytischen Wissenschaften (die prognosti-
nalisierung nicht in der Umstellung auf Zweckratio- sches Wissen zur Verfügung stellen, das auf techni-
nalität auf. Der Kapitalismus lässt sich demnach sche Verwertbarkeit und die Verfügung über verge-
nicht als umfassende, sondern nur als selektive Rati- genständlichte Prozesse zielt); das praktische
onalisierung verstehen. Abschließend plädiert Ha- Erkenntnisinteresse in den historisch-hermeneuti-
bermas dafür, gegen die Verschleierung der Unter- schen Wissenschaften (die auf dem Weg der Inter-
scheidung zwischen technischen und praktischen pretation die Möglichkeiten der Verständigung zu
Fragen, wieder die allein in öffentlichen Diskursen erweitern bestrebt sind); und das emanzipatorische
zu klärende Frage zu stellen, »wie wir leben möch- Erkenntnisinteresse in den kritischen Wissenschaf-
ten« (ebd., 100). ten (die durch die Initiierung und Begleitung von
Auf der Grundlage dieser Überlegungen argu- Prozessen der Selbstreflexion auf die Emanzipation
mentiert Habermas in weiteren Beiträgen aus dersel- von naturwüchsigem Zwang gerichtet sind) (vgl.
3. Technik und Verdinglichung 161

TW, 155–157; EI; McCarthy 1989, Kap. 2; s. Kap. II.7; welt selbst. Habermas plädiert jedoch für eine diffe-
III.4; IV.5). renzierte Sichtweise, die der Tatsache Rechnung
Der Kritik am Positivismus als einseitiger Gene- trägt, dass
ralisierung eines partikularen Wissensmodells und »nicht die Entkoppelung der [für die materielle Reproduk-
als Manifestation der Verdinglichung entspricht auf tion von Gesellschaften ab einem gewissen Komplexitäts-
der anderen Seite die Kritik der das Phänomen der niveau unverzichtbaren] mediengesteuerten Subsysteme,
Verdinglichung schlicht ausblendenden Hermeneu- und ihrer Organisationsformen, von der Lebenswelt [...] zu
tik, denn »eine objektiv sinnverstehende Theorie einseitiger Rationalisierung oder Verdinglichung der kom-
munikativen Alltagspraxis [führt], sondern erst das Ein-
muß auch von jenem Moment der Verdinglichung dringen von Formen ökonomischer und administrativer
Rechenschaft geben, das die objektivierenden Ver- Rationalität in Handlungsbereiche, die sich der Umstellung
fahren ausschließlich im Auge haben« – erst so auf die Medien Geld und Macht widersetzen, weil sie auf
kommen diejenigen »Bedingungen systematisch kulturelle Überlieferung, soziale Integration und Erziehung
verzerrter Kommunikation« in den Blick, die für spezialisiert sind und auf Verständigung als Mechanismus
der Handlungskoordinierung angewiesen bleiben« (TKH
eine Kritische Theorie nach der kommunikativen II, 488).
Wende den primären Bezugspunkt ausmachen
(LSW, 359). Auf Dauer steht mit diesen Prozessen der Verdingli-
chung erstens der Fortbestand der Systeme selbst in
4. System und Lebenswelt: Vollzogen wird diese Frage, deren Funktionieren auf eine intakte Lebens-
Wende von Habermas in der Theorie des kommuni- welt angewiesen ist. Zweitens werden die Akteure
kativen Handelns. In ihr wendet er sich von der Frage einseitig auf den Gebrauch ihrer instrumentellen
der Technik im engeren Sinne ab und verfolgt auf Vernunft festgelegt:
systematischere Weise das Programm einer Ablö-
sung der totalisierenden Verdinglichungskritik. Die »An die Stelle des ›falschen‹ tritt heute das fragmentierte
Bewußtsein, das der Aufklärung über den Mechanismus
entscheidende theoretische Weichenstellung dazu der Verdinglichung vorbeugt. Erst damit sind die Bedin-
stellt die Unterscheidung von System und Lebens- gungen einer Kolonialisierung der Lebenswelt erfüllt: die
welt sowie die These von der Kolonialisierung der Imperative der verselbständigten Subsysteme dringen, so-
Lebenswelt dar. bald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet sind, von
In der TKH tritt das »verdinglichte und fragmen- außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren in eine Stam-
mesgesellschaft – ein und erzwingen die Assimilation«
tierte Alltagsbewusstsein« an die Stelle der Ideologie (ebd., 522; vgl. ebd., 293; s. Kap. IV.12).
und des falschen Bewusstseins, und das Problem der
Verdinglichung wird als das Problem systemisch in- Die systemisch induzierten Pathologien betreffen
duzierter Pathologien der Lebenswelt reformuliert die drei wesentlichen Bereiche der Lebenswelt: kul-
(vgl. Bohman 1986). Die Grundlage für diese Neu- turelle Reproduktion, soziale Integration und indivi-
bestimmung stellt Habermas’ zweistufige Gesell- duelle Sozialisation (TKH II, 209). Verrechtlichung,
schaftskonzeption dar, der zufolge die soziale Ord- Monetarisierung und Bürokratisierung der All-
nung zugleich als Lebenswelt und als System be- tagspraxis führen zur Verdinglichung kommunikati-
trachtet werden muss (s. Kap. III.10 sowie Celikates/ ver Beziehungen (ebd., 480), die wiederum einen
Pollmann 2006). Unter Verdinglichung versteht Ha- doppelten Effekt hat:
bermas hier nicht mehr den Effekt einer entfremde- »Die Lebenswelt wird an verrechtlichte, formal organisierte
ten Arbeitsorganisation, sondern die von übergriffi- Handlungsbereiche assimiliert und gleichzeitig vom Zu-
gen Systemen ausgehende »pathologische Verfor- fluß einer ungebrochenen kulturellen Überlieferung abge-
mung von kommunikativen Infrastrukturen der schnitten. So verbinden sich in den Deformationen der All-
Lebenswelt« (TKH II, 549; vgl. TKH I, 445, 474 ff.; s. tagspraxis die Erstarrungs- mit den Verödungssympto-
men« (ebd., 483).
Kap. IV.31). Die Einseitigkeit der als Verdinglichung
auftretenden Rationalisierung besteht dabei in einer Diese beiden Teildiagnosen werden von Habermas
bloß kognitiv-instrumentellen Rationalität, die für in dem an Lukács angelehnten Begriff der »Verstän-
die grundlegendere kommunikative Rationalität kei- digungsform« zusammengeführt (ebd., 278 ff.). Lu-
nen Raum lässt und damit die Welt- und Selbstbe- kács versteht unter dem Prinzip der »Verdingli-
züge der Akteure »präjudiziert« (TKH I, 475; daher chung« eine durch die Imperative der kapitalisti-
der Untertitel des zweiten Bandes: »Zur Kritik der schen Produktion erzwungene Denk- bzw. »Gegen-
funktionalistischen Vernunft«). Verdinglicht wird ständlichkeitsform«, die sich den Beziehungen der
hier nicht nur das Bewusstsein, sondern die Lebens- Menschen zu sich, zu anderen und zur äußeren Na-
162 III. Texte

tur aufprägt. Analog spricht Habermas von einer verständnis »als verantwortlich handelnde Wesen«
vorherrschenden Verständigungsform, die das Re- (LE, 28) zu affizieren. Es droht eine Art der Verfü-
sultat eines Kompromisses »zwischen den allgemei- gung über Personen, die der über Sachen ähnelt und
nen Strukturen verständigungsorientierten Han- damit wegen der unaufhebbaren Asymmetrie zwi-
delns und den innerhalb einer gegebenen Lebens- schen Manipulierendem und Manipuliertem auch
welt thematisch nicht verfügbaren Reproduktions- Herrschaft und Freiheitsverlust bedeutet. Mit der
zwängen« ist (ebd., 279). verdinglichenden und kommodifizierenden »Quali-
Genau an der Grenze zwischen System und Le- tätskontrolle« von Embryos geht nach Habermas
benswelt, dort, wo die fragilen Kompromisse stets eine Veränderung der »kulturellen Wahrnehmung
wieder zu zerbrechen drohen, findet sich Habermas von vorgeburtlichem menschlichem Leben« (ebd.,
zufolge deshalb auch der primäre Einsatzort der Ge- 41) einher. Durch die Unterwerfung unter ein Kos-
sellschaftskritik sowie sozialer und politischer ten-Nutzen-Kalkül schleift sich eine verdinglichende
Emanzipationsbewegungen. Es stellt sich allerdings Perspektive ein, eine »Technisierung der menschli-
die Frage, ob Habermas mit der Übernahme der sys- chen Natur, die ein verändertes gattungsethisches
temtheoretischen Beschreibung nicht die systemi- Selbstverständnis provoziert« (ebd., 76). Damit stellt
sche Verdinglichung sozialer Verhältnisse akzeptiert, sich die Frage, »ob die Technisierung der Menschen-
die aus einer institutionentheoretischen Perspektive natur das gattungsethische Selbstverständnis in der
bereits als pathologische Abkopplung der Institutio- Weise verändert, daß wir uns nicht länger als ethisch
nen von ihrem lebensweltlichen Kontext – von ihrer freie und moralisch gleiche, an Normen und Grün-
Verankerung in der und ihrer Ausrichtung auf die den orientierte Lebewesen verstehen können« (ebd.,
Lebenswelt – erscheinen muss (vgl. McCarthy 1989, 74).
580 ff.). In dieser Hinsicht geht die Konzeption der
Verdinglichung, die Habermas in seinen frühen kul- Rezeption und Kontroversen
turkritischen Schriften angedeutet und in seiner
Auseinandersetzung mit der Ambivalenz des wis- Habermas’ Analyse des Zusammenhangs von Tech-
senschaftlich-technischen Fortschritts entwickelt nik und Verdinglichung ist vielfach aufgegriffen und
hat, weiter als das auf die Verteidigung funktional kritisiert worden, auch wenn sie spätestens seit den
notwendiger lebensweltlicher Ressourcen reduzierte frühen 1980er Jahren zugunsten der Unterscheidung
Verständnis der TKH. zwischen System und Lebenswelt in den Hinter-
grund gedrängt worden ist. Die trotz aller sozialthe-
5. Verdinglichung und menschliche Natur: In seinen oretischen Differenzierung und Einbettung kritische
aktuellen Überlegungen zur Gentechnik als einer Ausrichtung seiner Auseinandersetzung mit der
der neuesten Manifestationen technisch-wissen- Verschränkung von technischer bzw. funktionalisti-
schaftlichen Fortschritts scheint Habermas nun scher Rationalität und Verdinglichung hat ihm von
jedoch auf seine frühen zeitdiagnostischen Überle- Seiten der Systemtheorie, die er zunächst als Gestalt
gungen und in mancherlei Hinsicht auch auf den der Sozialtechnik kritisiert hatte, bevor er sie in seine
Ansatzpunkt einer Philosophischen Anthropologie zweistufige Gesellschaftstheorie integrierte, Kritik
zurückverwiesen zu werden. Das Problem der eingebracht. So wendet Luhmann gegen einen seines
menschlichen (Selbst-)Verdinglichung, die Gefahr Erachtens zu engen Begriff der Technik ein: Aus der
der Instrumentalisierung und der Objektivierung »Kontrastierung von Technik und Humanität [...]
der anderen, aber auch des eigenen verkörperlichten folgt eine Technikaversion, eine Charakterisierung
Selbst durch die Konsequenzen technischen Fort- von Technik als notwendiges Übel«, die nicht nur
schritts stellt sich ihm zufolge im Falle der durch die der Vermischung von Natur und Technik nicht ge-
Gentechnologie ermöglichten Manipulation des recht zu werden vermag, sondern darüber hinaus
menschlichen Genoms in ganz grundlegender auch verkennt, dass Technik im Wesentlichen »funk-
Weise. Mit der hier aufscheinenden (wenn auch tionierende Simplifikation« bzw. »gelingende Re-
noch längst nicht verwirklichbaren) Möglichkeit ge- duktion von Komplexität« bedeutet (Luhmann 1997,
planter und zielgerichteter Intervention in die gene- Bd. 1, 521, 524 f.). Andere sind hingegen gerade der
tische Ausstattung des Menschen scheint sich ein Auffassung, dass Habermas mit seinem Zugeständ-
»neuer Typus von Eingriffen« abzuzeichnen, eine nis der wesentlichen Neutralität von Technik das
Manipulation der vorher unverfügbar kontingenten kritische Potential einer an Marcuse orientierten Po-
Natur des Menschen, die in der Lage ist, unser Selbst- sition verspielt (vgl. Feenberg 1999; 2002). Die viel-
3. Technik und Verdinglichung 163

fach geäußerte Kritik am selbst reifizierenden Cha- ches gilt für die sozialphilosophische Auseinander-
rakter der System-Lebenswelt-Unterscheidung (vgl. setzung mit der grundlegenden Ambivalenz der
McCarthy 1989, 580 ff.; Honneth 2000, Kap. 9; Fra- Technik zwischen Emanzipation und Verdingli-
ser 1994, Kap. 6) impliziert auch eine Kritik an der chung (vgl. Feenberg 2002).
Einseitigkeit der Verdinglichungsdiagnose: Als ver- Die Analyse des Zusammenhangs von Technik
dinglichend lässt sich in diesem Theorierahmen al- und Verdinglichung stellt ein Musterbeispiel jener
lein der dysfunktionale Übergriff systemischer Pro- Grundoperation der Gesellschaftskritik dar, die
zesse auf lebensweltliche Zusammenhänge, nicht scheinbar naturwüchsige und vom sozialen Handeln
aber die systemische Struktur von Arbeitswelt und der Akteure unabhängige gesellschaftliche Verhält-
Ökonomie selbst verstehen. Dementsprechend droht nisse als historisch und damit veränderbar aufweist,
auch aus dem Blick zu geraten, was Habermas Ende zugleich aber auf die strukturellen, nicht einfach
der 1960er Jahre noch stärker betonte, nämlich dass durch individuelles Handeln oder einen Bewusst-
nur die demokratische Kontrolle der staatlichen und seinswandel behebbaren Ursachen der damit einher-
ökonomischen Systeme den verdinglichenden Ten- gehenden Pathologien deutet. Eine Kritische Theo-
denzen des wissenschaftlich-technischen Fort- rie, für die der Analyse und Kritik der Verdingli-
schritts entgegenzusteuern vermag. chung auch weiterhin die Bedeutung zukommt, die
Einen anderen Weg schlägt die anerkennungstheo- sie vor allem in Habermas’ früher und mittlerer
retische Reformulierung der Verdinglichungskritik Schaffensperiode hatte, ist damit nicht nur auf die
durch Axel Honneth (2005) ein, in der Verdingli- Verbindung von philosophischer Reflexion und em-
chung im Unterschied zur von Marx und Lukács ge- pirischer Sozialforschung verpflichtet, sondern wird
prägten Argumentationslinie des frühen und mittle- zudem kaum um substantielle ethische, anthropolo-
ren Habermas nicht primär auf für den Kapitalismus gische und rationalitätstheoretische Überlegungen
spezifische Formen der Vergesellschaftung und Ra- herumkommen, denen in Habermas’ Werk auch
tionalität zurückgeführt wird, sondern auf vor allem heute wieder eine verstärkte Bedeutung zukommt.
aus moralischen Gründen bedenkliche Praktiken Im Begriff der Verdinglichung verdichtet sich dabei
der Entmenschlichung anderer Personen, die Aus- die Erfahrung, dass bestimmte soziale Pathologien
druck einer Verleugnung vorgängiger Anerkennung Freiheits- und Sinnverlust, Entmächtigung und In-
sind. Die ursprüngliche Hauptdimension des Be- differenz in einem sind. Wie Habermas in seinem
griffs – die Verdinglichung der gesellschaftlichen gesamten Werk betont, stellen uns die damit einher-
Verhältnisse und ihr Zusammenhang mit der Tech- gehenden ethischen und politischen Probleme vor
nik – rückt damit in den Hintergrund. Sie ist heute, die Frage, wie wir uns selbst verstehen und wie wir
unter veränderten Bedingungen, erst wieder neu zu leben wollen.
artikulieren, wie Habermas selbst im Zusammen-
hang der bioethischen Debatte andeutet.
Die Frage des Umgangs mit den Folgen des tech- Literatur
nisch-wissenschaftlichen Fortschritts stellt sich ge- Berger, Peter/Pullberg, Stanley: »Reification and the Socio-
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biopolitischer Manipulationen, die deterministi- Biebricher, Thomas: Selbstkritik der Moderne. Foucault und
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rer Perspektive vgl. Bewes 2002). Diese Diagnose Celikates, Robin/Pollmann, Arnd: »Baustellen der Ver-
und Kritik bleibt in ihren beiden grundlegenden Di- nunft. 25 Jahre Theorie des kommunikativen Handelns«.
mensionen – der Instrumentalisierung und Versach- In: WestEnd 3. Jg., 2 (2006), 97–113.
Dahms, Harry: »Beyond the Carousel of Reification. Criti-
lichung von Personen einerseits, der Naturalisierung cal Social Theory after Lukács, Adorno, and Habermas«.
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rerseits – freilich noch weitgehend Desiderat. Glei- 3–62.
164 III. Texte

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165

4. Erkenntniskritik als Der Positivismusstreit


Gesellschaftstheorie Die philosophische Situation in den 1960er Jahren
Erkenntnis und Interesse (1968) zeichnete sich nach Habermas’ Auffassung dadurch
aus, dass die Erkenntnistheorie als kritische Refle-
In seiner langen und produktiven Laufbahn ist Jür- xion des Erkenntnisvermögens im Kantischen Sinne
gen Habermas einem vorrangigen Interesse an einer durch ein positivistisches Verständnis der Natur-
kritischen Theorie von Gesellschaft und Politik treu und Gesellschaftswissenschaften verdrängt worden
geblieben. Für Habermas wie für andere Vertreter war; in den hermeneutisch aufgefassten Geisteswis-
der Kritischen Theorie der Frankfurter Schule setzt senschaften dominierte der Historizismus: eine kon-
gesellschaftlich-politische Kritik eine interdiszipli- templative Herangehensweise an das Geschichtsstu-
näre Gesellschaftsanalyse voraus und beruht daher dium, die die Rolle des Forscherstandpunktes für das
auf einer Beschäftigung mit den Gesellschafts- und Verständnis der Vergangenheit leugnete. Ich beginne
Kulturwissenschaften. In den 1960er Jahren wurde mit der Kritik des Positivismus, die Habermas im
diese für Habermas zu einem Gegenstand methodo- Kontext des Positivismusstreits entwickelte; dieser
logischer und epistemologischer Reflexion – und da- wurde durch einen höflich gedämpften Gedanken-
mit zu einem erkenntniskritischen Problem: Die kri- austausch ausgelöst, den Karl Popper und Theodor
tische Sozialtheorie musste sich als eine respektable W. Adorno 1961 über die ›Logik der Sozialwissen-
und eigenständige Form des Wissens etablieren, und schaften‹ führten (vgl. Adorno et al. 1969). Interes-
zwar zu weiten Teilen durch eine methodologische santerweise erhoben beide Denker Anspruch auf
Kritik der damals vorherrschenden positivistischen eine ›kritische‹ Methode. Poppers Kritischer Ratio-
Wissenschaftstheorie und der historizistischen Her- nalismus beschränkte die Kritik jedoch auf die Über-
meneutik. prüfung wissenschaftlicher Hypothesen angesichts
Umgekehrt konnte die Erkenntniskritik nur in empirischer Tests, während Adornos dialektische
der Gestalt einer Gesellschaftstheorie einen Beitrag Gesellschaftswissenschaft darauf abzielte, ihr Objekt
zur Kritischen Theorie leisten und damit dem Ziel – die Gesellschaft – zu kritisieren, insofern die beste-
gesellschaftlicher Emanzipation dienen. Doch dieser henden gesellschaftlichen Verhältnisse oft reale Wi-
gedankliche Rahmen erwies sich bald als inadäquat. dersprüche hinter einem ideologischen Schleier ver-
Anfang der 1970er Jahre hatte Habermas die linguis- bargen. Daher konnte eine dialektische Sozialwis-
tisch-pragmatische Wende vollzogen; von da an wird senschaft, die ihrem Gegenstand gerecht werden
er die Gesellschaftskritik auf dem Weg einer Kritik wollte, nicht einfach durch den Vergleich mit der ge-
des kommunikativen Handelns, und die Erkenntnis- sellschaftlichen Faktizität überprüft werden. Haber-
kritik auf dem Wege einer Theorie der Argumenta- mas kommentierte in einigen späteren Aufsätzen
tion betreiben. (1963; 1964) diesen Gedankenaustausch und stellte
Zwei der drei Monographien, die Habermas in den Gegensatz zwischen Popper und Adorno poin-
den 1960er Jahren publizierte, beschäftigten sich un- tiert heraus.
mittelbar mit erkenntnistheoretischen Fragen: Zur Popper versteht – wie die meisten Wissenschafts-
Logik der Sozialwissenschaften sowie Erkenntnis und theoretiker vor Kuhn – die Rationalität wissenschaft-
Interesse; die dritte Monographie war Strukturwan- licher Forschung im Sinne der ›hypothetisch-deduk-
del der Öffentlichkeit, seine Habilitationsschrift von tiven Methode‹, derzufolge man gesetzesförmige
1962. Man beachte, dass Zur Logik der Sozialwissen- Hypothesen überprüft, indem man logisch dedu-
schaften, eine Bestandsaufnahme der Sozialwissen- ziert, welche beobachtbaren Konsequenzen unter
schaften, zuerst in der Philosophische[n] Rundschau, kontrollierten Experimentalbedingungen zu erwar-
Bd. 14, Beiheft 5 (1967) erschien, dann in Buchform ten sind, falls die Hypothese wahr sein sollte; wenn
veröffentlicht wurde (LSW, 1970) und später um eine sich diese Konsequenzen nicht beobachten lassen,
Reihe thematisch verwandter Aufsätze ergänzt ist die Hypothese falsifiziert und ihre Revision gefor-
wurde (LSW, 51982). Für eine ausführliche Bibliogra- dert. Habermas akzeptiert diese Sicht der Überprü-
phie von Habermas’ Werk bis 1979 vgl. McCarthy fung von Hypothesen im Wesentlichen für die Na-
1980; Müller-Doohm 2000 enthält eine Auswahlbi- turwissenschaften und für einige Formen gesell-
bliographie von Habermas’ Arbeiten bis 1999. schaftswissenschaftlicher Forschung, die er aufgrund
ihrer starken Abhängigkeit von logisch-mathemati-
schen Analysen und empirischen Tests als ›empi-
166 III. Texte

risch-analytisch‹ bezeichnet. Doch er glaubt, dass Wissenschaften außer Acht: das Faktum nämlich,
Popper in mindestens zwei Punkten nicht weit ge- dass ihr Streben nach Erkenntnis von einem allem
nug geht; beide haben mit der Pragmatik wissen- anderen vorausgehenden Prozess kritischer Diskus-
schaftlicher Forschung zu tun. sion abhängt, bei dem die Mitglieder der Wissen-
Erstens lässt Popper ebenso wie die Wissenschaft- schaftsgemeinschaft zu einem gegenseitigen Ver-
ler selbst außer Acht, dass die empirisch-analyti- ständnis gelangen, indem sie Meinungsverschieden-
schen Wissenschaften in einem »technischen Er- heiten über das Vokabular und die Standards des
kenntnisinteresse«, und das heißt: in einem Experimentierens ausräumen (LSW 51982, 46, 58 ff.).
»praktische[n] Erkenntnisinteresse an der Verfü- Da Popper nicht auf diese pragmatischen Bedin-
gung über gegenständliche Prozesse« verwurzelt gungen wissenschaftlicher Forschung reflektiert, geht
sind (LSW 61982, 42 f.). Habermas verknüpft dieses er naiverweise davon aus, dass wissenschaftliche Aus-
Interesse mit der »gesellschaftliche[n] Arbeit«, den sagen fähig seien, eine vom Bewusstsein unabhän-
materiellen Prozessen, mittels derer die Menschen gige Welt darzustellen. Habermas nennt diese naiv-
kooperativ ihre Existenz durch die technologische repräsentationalistische Sicht »objektivistischen
Naturbeherrschung sichern (ebd., 38). Der Begriff Schein« und erkennt bei Popper ein »tiefsitzendes
des ›Interesses‹ bezieht sich hier nicht auf die Moti- positivistisches Vorurteil« (ebd., 47, 50). Trotz seiner
vation der Wissenschaftler, sondern auf eine Tiefen- Kritik des Logischen Positivismus teilt Popper mit
struktur empirisch-analytischer Forschung, wonach den Positivisten die Weigerung, die subjektiven Be-
kontrolliertes Experimentieren eine konstitutive Be- dingungen des Wissens zu reflektieren. In dieser
dingung der Erkenntnis geworden ist: die Wissen- Hinsicht stellt der Positivismus einen entscheiden-
schaftler können ihren Drang, die Natur zu erfor- den Bruch mit der Reflexionsphilosophie bei Kant
schen, nur durch die Beherrschung der äußeren Welt und im Deutschen Idealismus dar (TW, 146 ff.). In-
stillen – sei es im Labor oder in der Feldforschung. folgedessen fällt der Positivismus dem Objektivismus
Folglich erkennen wir die äußere Welt, indem wir sie und der damit einhergehenden naiven »Abbildtheo-
erfolgreich bearbeiten und in ihre Prozesse eingrei- rie der Wahrheit« anheim (EI, 90 f.). (Zweifelsohne
fen; diese Form der Beschäftigung ist sowohl für die sind in diesem weiteren Sinne auch die klassisch-
gesellschaftliche Arbeit als auch für die empirisch- griechische und die mittelalterliche Auffassung der
analytische Forschung charakteristisch. Daher ist Erkenntnis als der Repräsentation einer unabhängi-
das technische Erkenntnisinteresse auf erfolgreiches gen kosmischen Ordnung durch Objektivismus ge-
›feedback-kontrolliertes‹ instrumentelles Handeln kennzeichnet. Doch im Gegensatz zum modernen
ausgerichtet (s. Kap. IV.5). Positivismus operierte die klassische Auffassung mit
Zweitens wird Popper dem kommunikativen As- einem Begriff des Seins, der den Kosmos als eine un-
pekt der Forschung nicht gerecht. Er ist sich dessen mittelbar moralische Ordnung auswies: Fakten muss-
bewusst, dass ›Basissätze‹, d. h. Aussagen über expe- ten noch nicht von Werten geschieden werden; vgl.
rimentelle Beobachtungen, genau genommen nicht dazu TW, 146 ff.) Habermas erkennt die vollentwi-
problemlos bzw. deduktiv von Sinneswahrnehmun- ckelt positivistische Form des Objektivismus in Ernst
gen ableitbar sind; er behauptet daher, dass die wis- Machs Elementenlehre. Um seine Wissenschaftsthe-
senschaftliche Gemeinschaft sich einfach aufgrund orie von der traditionellen metaphysischen Unter-
wiederholbarer Beobachtungen dafür entscheidet, scheidung zwischen Erscheinung und Wesen zu be-
solche Sätze anzunehmen; ihnen wird dadurch der freien, nahm Mach zu einer »Ontologie des Tatsäch-
Status von Konventionen für die weitere Forschung lichen« Zuflucht; dieser zufolge »gibt [es] nur
zugesprochen. Poppers Darstellung aufgreifend, legt Tatsachen. Tatsachen im emphatischen Sinne sind
Habermas dar, dass die wissenschaftliche Forschung die zu Aufbauelementen der Körperwelt und des Be-
von einem Vorverständnis bzw. einem Konsensus wusstseins hypostasierten Empfindungen« (EI, 109).
über Hintergrundannahmen abhängig ist, der nicht Trotz aller weiteren Entwicklungen des Positivismus
nur die Basissätze selbst, sondern auch das deskrip- operieren die Erben Machs weiterhin mit einem
tive Vokabular und seinen Gebrauch, die Mess- und »An-Sich von gesetzmäßig strukturierten Tatsachen«
Prüfmethoden sowie die Standards der Angemes- (EI, 91) und unterstellen, das Ziel der Wissenschaft
senheit einschließt. Doch indem Popper dieses Vor- sei es einfach, eine bewusstseinsunabhängige Welt
verständnis einfach als eine ›irrationale‹ Entschei- der Tatsachen zu beschreiben; dabei vergessen sie je-
dung auffasst, lässt er die hermeneutischen und ar- doch, dass das menschliche Subjekt Erkenntnis vor
gumentativen Aspekte der empirisch-analytischen dem Hintergrund kognitiver Interessen konstituiert.
4. Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie 167

Durch den Hinweis auf die hermeneutischen und (LSW 51982, 46). Er dachte dabei nicht einfach an
dialogischen Aspekte der Forschung untergräbt Ha- philosophische Reflexion im allgemeinen Sinne,
bermas das positivistische Wissenschaftsverständnis sondern vielmehr an jene Art der Reflexion, die im
und erschließt dadurch das Feld der hermeneuti- Deutschen Idealismus ihren höchsten Ausdruck
schen Wissenschaften: interpretierende Soziologie, fand (vgl. Swindal 1999; Roberts 1992; Kortian
Geschichtsschreibung usf. Er unterscheidet diese 1979). Kant hatte als erster die Epistemologie der
von normativ-analytischen Gesellschaftswissen- Aufklärung auf die Ebene einer transzendentalen
schaften (z. B. den Wirtschaftswissenschaften, die Reflexion gehoben, in der das Subjekt die Bedingun-
sich stark auf mathematische Modelle stützen) und gen der Möglichkeit der Erkenntnis und des Han-
von empirisch-analytischen Ansätzen (z. B. in der delns erfasst. Als eine Kritik der Grenzen der Er-
Verhaltenspsychologie). In seiner Bestandsaufnahme kenntnis nimmt es sich die transzendentale Refle-
der Sozialwissenschaften aus dem Jahr 1967 (LSW xion vor, den Grund der Objektivität in den
5
1982, 89 ff.) stellt Habermas fest, dass Hans-Georg synthetischen Leistungen des Erkenntnissubjekts
Gadamers Hermeneutik in ihrem Methodenbe- aufzufinden, wobei die Synthesis dasjenige ist, »was
wusstsein die beiden konkurrierenden Ansätze einer eigentlich die Elemente zu Erkenntnissen sammelt,
interpretierenden Wissenschaft, die Soziolinguistik und zu einem gewissen Inhalte vereinigt« (Kant 1980
(Wittgenstein, Winch) und die Phänomenologie [1781/87], A77 f./B103 f.). Vermöge der apriorischen
(z. B. Schütz) übertrifft. Gadamer erfasst nämlich Formen der Anschauung und der Kategorien des
den hermeneutischen Charakter aller symbolisch Verstandes begründet diese Synthesis die allgemeine
vermittelten Interaktion, die stets in einer histori- Gültigkeit empirischer Urteile, die die Mannigfaltig-
schen Tradition verankert und für vielfältige Bedeu- keit partikularer Vorstellungen unter allgemeinen
tungshorizonte offen ist. Dagegen unterschätzt er je- Begriffen zusammenfassen.
doch das kritische Potential hermeneutischer Refle- In den ersten drei Kapiteln von Erkenntnis und In-
xion gegenüber den überlieferten Traditionen, die teresse zeichnet Habermas die stufenweise Depoten-
stets von Erkenntnissen, aber zugleich auch von zierung der Reflexion von Hegel bis zu Marx nach.
Herrschaftsansprüchen durchtränkt sind (vgl. LSW Die epistemologische Reflexion ist – als Erkenntnis-
5
1982, 271 ff.; Habermas 1971a; Habermas 1971b). kritik – bei Kant von starken Ambitionen getragen;
Habermas strebt also eine Gesellschaftstheorie dieser behauptete, sie könne die Grenzen möglichen
an, die strenge empirische Überprüfbarkeit, herme- Wissens abstecken, die Objektivität der Naturwis-
neutische Sensibilität und Gesellschaftskritik mitei- senschaften legitimieren und die dogmatische Meta-
nander verbindet (vgl. Geuss 1983). Der Weg zu ei- physik (d. h. spätscholastische und frühneuzeitliche
ner solchen Theorie verläuft seiner Ansicht nach Formen des Objektivismus) kritisieren. Hegel radi-
über eine Erkenntniskritik, über eine Form der Refle- kalisierte die Kantische Erkenntniskritik, indem er
xion, die die »kritische Auflösung des Objektivis- diese gegen sich selbst wandte: Die Kritik kann nur
mus, […] des objektivistischen Selbstverständnisses dann ihren Anfang nehmen, wenn sie durch einen
der Wissenschaften« einschließt (EI, 261). Umge- Willkürakt voraussetzt, dass ihr eigener Erkenntnis-
kehrt muss eine adäquate Erkenntnistheorie die Form anspruch unproblematisch sei. Um diesem Zirkel zu
einer Gesellschaftstheorie annehmen. Diese Aufgabe entrinnen, formte Hegel die Epistemologie zur Phä-
greift Habermas, von Anregungen Karl-Otto Apels nomenologie um: ein Nachvollzug der Geschichte
ausgehend, in Erkenntnis und Interesse auf: ein syste- der aufeinander folgenden Stadien der Reflexion, die
matischer Versuch, die Reflexionsdynamik durch im Standpunkt des absoluten Wissens gipfeln; in die-
eine Klärung jener erkenntnisleitenden Interessen zu- sem weiß der Geist sich als mit seinen Objekten
rückzugewinnen, die der Positivismus außer Acht identisch. Doch Habermas zeigt auf, dass phänome-
gelassen hatte (vgl. Apel 1968; TW; Habermas 2000, nologische Reflexion keinen Anspruch auf absolutes
18). Wissen untermauern kann; Hegel konnte das Abso-
lute nur deshalb erreichen, weil seine Phänomenolo-
gie es von Anfang an insgeheim in einer Identitäts-
Erkenntnis und Interesse I: Eine
philosophie voraussetzte, derzufolge die Natur und
Verfallsgeschichte
andere Erkenntnisgegenstände nichts anderes als
In seiner frühen Kritik des positivistischen Objekti- veräußerlichter Geist sind. Nach dieser Sichtweise
vismus schlug Habermas einen »altmodischen Weg« konnten die Natur- und Humanwissenschaften nur
ein: er vertraute auf die »Kraft der Selbstreflexion« als begrenzte Momente auf dem Wege zu der eigent-
168 III. Texte

lichen Wissenschaft des Geistes in Erscheinung tre- versteht er die »Produktionsweise« als etwas, das so-
ten. Der reale Fortschritt der Naturwissenschaften wohl die Basis als auch den Überbau, sowohl die
ließ bald die Nichtigkeit der Hegel’schen Prätentio- Produktivkräfte als auch ihren institutionellen Rah-
nen offenkundig werden, und »[d]arauf baut der Po- men umfasst. Doch Habermas betrachtet diesen
sitivismus« (EI, 35). Schritt als eine »terminologische Ausflucht«, die die
In Marx’ kritischer Theorie erkennt Habermas Unzulänglichkeiten des Produktionsparadigmas
eine auf fatale Weise verschenkte Gelegenheit, sich maskieren soll; dieses verdeckt den diskursiven Cha-
dem Positivismus entgegenzustellen: »Ihm hätte al- rakter der Reflexion (EI, 74, Anm. 70). Die Reflexion
lein Marx den Sieg streitig machen können« (ebd.). lässt sich dagegen weit angemessener in Marx’ dia-
Da Marx Hegels Identitätsphilosophie verwarf, lektischer Analyse des – als »Reflexionsprozeß im
konnte er den Unterschied zwischen Natur und Geist großen« (EI, 83) verstandenen – Klassenkampfes
ernst nehmen. Die Natur wird nicht als ein lediglich auffinden. Eine derartige Reflexion bleibt mit der
externalisiertes Postulat des absoluten Geistes zum Produktion verknüpft, insofern der technische Fort-
Verschwinden gebracht; vielmehr setzt die mensch- schritt die Arbeitsanforderungen als unverhältnis-
liche Intelligenz – als Ergebnis einer natürlichen Ent- mäßig und ausbeuterisch entlarvt und dadurch ein
wicklung – die Natur voraus. Anstelle einer Phäno- revolutionäres Bewusstsein in der Arbeiterklasse
menologie des Geistes bietet Marx eine Geschichte wach werden lässt. Dennoch sind der Klassenkampf
der menschlichen Gattung, die sich mit einer – mit und seine Beilegung auf der Ebene der Interaktion
ihr nicht identischen – Natur herumschlägt, sie nach und nicht auf der Ebene der Arbeit zu verorten.
und nach verstehen lernt und sie verändert. Infolge- Marx dagegen beschrieb den gesamten Prozess der
dessen kann Marx, anders als Hegel, die Naturwis- Überwindung von Entfremdung in der Begrifflich-
senschaften ernst nehmen. keit der Produktion und setzte seine kritische Theo-
Betrachten wir Marx’ Denken als eine Reflexions- rie mit einer Naturwissenschaft gleich, wodurch er
philosophie, die die selbstbewusste Aneignung der sowohl die Unterschiede zwischen Arbeit und Inter-
Objekte durch das Subjekt analysiert, so vollzieht er aktion als auch die Unterschiede zwischen empiri-
in seiner Methodik eine materialistische Wende. schen und kritisch-reflexiven Formen des Wissens
Während für Hegel die Reflexion im absoluten Wis- verwischte.
sen des Philosophen – der Erkenntnis, dass die Na-
tur lediglich veräußerlichter Geist ist – ihren Ab-
Erkenntnis und Interesse II: Technische
schluss fand, umfasst nach Marx die Reflexion einen
und praktische Interessen
wirklichen materiellen Prozess, in dem die Men-
schen ihre Entfremdung von der Natur nicht allein Da die Reflexionsphilosophie in der Tradition des
im Denken, sondern auch im Arbeitsprozess über- Deutschen Idealismus in einer Sackgasse angelangt
winden. Arbeit beinhaltet einen materiellen Aneig- ist, hält Habermas andernorts nach Verbündeten für
nungsprozess – oder, kantisch gesprochen, eine den Kampf gegen den Objektivismus Ausschau und
»Synthesis« –, in welchem die Menschen die Kräfte stößt dabei auf den Pragmatismus von Charles S.
ihrer Gattung durch ihr wachsendes wissenschaftli- Peirce und die Hermeneutik Wilhelm Diltheys (EI,
ches Verständnis der Natur und deren technologi- Kap. 5–8). Bei Peirce findet Habermas eine Darstel-
sche Beherrschung entfalten. Doch Arbeit hat auch lung der empirisch-analytischen Wissenschaften, die
eine gesellschaftliche und eine geschichtliche Di- in den beiden oben erwähnten Punkten über Popper
mension: Die menschliche Gattung kann sich die hinausgeht. Erstens begnügt sich Peirces Logik der
Natur in der Arbeit nur dann aneignen, wenn sie Forschung nicht mit der formalen Analyse der Über-
jene Formen gesellschaftlicher Entfremdung über- prüfung von Hypothesen, sondern verortet die wis-
windet, die die Subjekte voneinander trennen (Ar- senschaftliche Erkenntnis im Kontext eines perma-
beiter vs. Kapitalisten) und sie von ihren eigenen le- nenten Prozesses von Interpretation, Diskussion und
bendigen Kräften (die als die fremden Kräfte des Ka- Revision im Innern der Forschergemeinschaft. Die-
pitals abgespalten werden) abschneiden. ser gedankliche Rahmen ermöglicht es Peirce, eine
Doch genau an diesem Punkt zeichnet sich die Alternative zu einem objektivistischen Begriff der
Problematik von Marx’ Denken ab. Durch den als Wahrheit als der Übereinstimmung mit einer be-
umfassende Kategorie verwendeten Begriff der Ar- wusstseinsunabhängigen Realität zu entwickeln. Als
beit oder der Produktion verpflichtet sich Marx auf der ultimative Gegenstand des Wissenschaftsprozes-
ein Vokabular instrumentellen Handelns. Sicherlich ses ist die ›Wahrheit‹ der Inhalt »ein[es] zwanglose[n]
4. Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie 169

und dauerhafte[n] Konsensus«, zu dem die Wissen- funktioniert dies? Es ist möglich, das Singuläre und
schaftler gelangen würden, falls sie die Möglichkeit Einzigartige zu verstehen, da die normale Sprache
hätten, ihre Forschung zum Abschluss zu bringen. reflexiv, selbst-interpretierend und dialogisch struk-
›Realität‹ als der »Inbegriff der Sachverhalte, über turiert ist. In der Alltagskommunikation stehen da-
die wir ultimative Auffassungen gewinnen können« her den Individuen drei elementare Quellen (oder
(EI, 121) hat einen Status ähnlich demjenigen eines ›Formen‹) des Verstehens zur Verfügung: Was jeder
transzendentalen Korrelats der Forschung, obgleich einzelne sagt, wie die Individuen sich verhalten und
hier kein transzendentales Bewusstsein im Kanti- welche nicht-verbalen Ausdrucksakte dies begleiten.
schen Sinne beschworen wird. Jede dieser Ausdrucksdimensionen stellt einen Kon-
Zweitens verknüpft Peirces Darstellung des wis- text und eine Gegenprobe für die Interpretation der
senschaftlichen Fortschritts die Wissenschaft mit anderen beiden Dimensionen bereit. Im gegenseiti-
dem technischen Erkenntnisinteresse, das der Posi- gen Verstehen bewegen wir uns solange in einem
tivismus außer Acht lässt. Habermas stellt hier eine sich selbst korrigierenden ›hermeneutischen Zirkel‹,
Verbindung zwischen Peirces pragmatischer Dar- bis die verschiedenen expressiven Ressourcen sich
stellung des Glaubens und seiner Analyse des sinnvoll zu einem Ganzen fügen. Als ein ähnlich zir-
Schlussfolgerns her. Vom Standpunkt menschlichen kuläres Vorgehen lassen sich die Bemühungen von
Handelns aus betrachtet, »definieren [wahre Über- Wissenschaftlern beschreiben, die einen Text zu ver-
zeugungen] den Bereich des künftigen Verhaltens, stehen versuchen, indem sie Anhaltspunkte im Text
das der Handelnde unter Kontrolle hat« (EI, 154). und ihnen vorliegende historische Berichte zu einer
Die moderne Wissenschaft als die erfolgreichste Me- kohärenten Interpretation des gesamten Textes in
thode der ›Festigung von Überzeugungen‹ stützt seinem Kontext zusammenfügen.
sich auf Formen des Schlussfolgerns, die empirische Die hermeneutischen Wissenschaften tragen also
Begriffe mit konditionalen Vorhersagen beobacht- in die Formen alltäglicher Interaktion eine methodi-
barer Ereignisse verknüpfen. Der Sinn der Geltung sche Disziplin hinein und gleichen in dieser Hinsicht
einer Aussage oder des bestimmten Gehaltes eines den empirisch-analytischen Wissenschaften, die das
Begriffs »bemißt sich […] an möglicher technischer alltägliche instrumentelle Handeln zu einer experi-
Verfügung über den Zusammenhang empirischer mentellen Methode verfeinern. Und ebenso wie das
Größen« (EI, 155 f.). Daher ist die Erkenntnis nach menschliche Überleben von erfolgreichen Eingriffen
Peirces Auffassung immanent mit dem menschli- in die Natur abhängig ist, ist auch das »Überleben
chen Interesse an der Naturbeherrschung verknüpft. vergesellschafteter Individuen« an ein verlässliches
Diltheys Überlegungen setzen beim Gemein- gegenseitiges Verstehen gebunden (EI, 219). Folglich
schafts-Aspekt der Wissenschaften an. Insofern die wird der Gegenstand empirisch-analytischer Wis-
Naturwissenschaften von kommunikativen Prozes- senschaften durch ein technisches Erkenntnisinter-
sen abhängig sind, schließen sie hermeneutische esse konstituiert, und gleichermaßen wird der Ge-
Kompetenzen ein, auf die sich die Mitglieder der genstand der Kulturwissenschaften durch ein »prak-
Forschungsgemeinschaft stützen, die sie aber in ih- tisches Erkenntnisinteresse« – im engeren, auf die
rer Forschungspraxis normalerweise nicht themati- menschliche Interaktion bezogenen Sinne von ›prak-
sieren. Dilthey erkennt, dass die Geisteswissenschaf- tisch‹ – konstituiert (s. Kap. IV.5).
ten sich von den Naturwissenschaften gerade da- Es zeigt sich allerdings auch, dass weder Peirce
durch unterscheiden, dass sie solche Kompetenzen noch Dilthey die Bedeutsamkeit ihrer Analysen in
zu ihrem Gegenstandsbereich machen. Genauer ge- vollem Maße erkannt haben. Peirce hielt sich nicht
sagt, stützen sich die Geisteswissenschaften als ›her- konsequent an das System seiner Forschungslogik,
meneutische Wissenschaften‹ auf den Gebrauch der sondern importierte ontologische Elemente, die ihn
normalen Sprache in alltäglichen Verständigungs- in die Richtung des Objektivismus führten. Dilthey
prozessen. Im Gegensatz zu den empirisch-analy- betrachtete die Beziehung der Kulturwissenschaften
tischen Wissenschaften, die von besonderen Tat- zum Alltagsleben als eine Bedrohung ihres wissen-
sachen zu allgemeinen Gesetzen aufzusteigen schaftlichen Charakters, was seine letztlich objekti-
versuchen, versuchen die hermeneutischen Wissen- vistische Sicht wissenschaftlicher Erkenntnis offen-
schaften allgemeine Kategorien zu verwenden, um kundig werden ließ: Diltheys Historizismus zufolge
Singuläres und Einzigartiges zu verstehen: die ge- muss der interpretierende Wissenschaftler sich von
schichtliche Vergangenheit, andere Kulturen, eine jeder subjektiven Beeinflussbarkeit frei machen, um
Lebensgeschichte, Texte und dergleichen mehr. Wie den anderen zu verstehen. Tatsächlich kann aber der
170 III. Texte

Interpretator (oder die Interpretatorin) es gar nicht meneutischer Interpretation ein, doch im Gegensatz
vermeiden, seine (oder ihre) Voreingenommenhei- zu den Kulturwissenschaften bemüht sie sich da-
ten in den Verstehensprozess einzubringen. Folglich rum, »nicht nur den Sinn eines möglicherweise ent-
muss die Interpretation auch einen Reflexionspro- stellten Textes [des Verhaltens und der Rede des Pa-
zess einschließen, der sowohl den Akteur (oder die tienten], sondern den Sinn der Textentstellung selber«
Akteurin) als auch den Gegenstand der Interpreta- (EI, 271) zu deuten. In der Begrifflichkeit des kom-
tion umfasst. munikativen Handelns betrachtet, enthält die Rede
des Patienten Elemente, die sich vom öffentlich zu-
gänglichen Sinn abgespalten haben und in eine pri-
Erkenntnis und Interesse III: Die Reflexion
vate, weder dem Patienten noch dem Analytiker un-
als die Einheit von Erkenntnis und Interesse
mittelbar verständliche Semantik abgestürzt sind.
Der bei Dilthey und Peirce fortbestehende Objekti- Die analytische Situation umfasst somit einen ko-
vismus lässt ihr Unvermögen offenkundig werden, operativen Erinnerungsprozess, in dem das private
ihre Analysen ganz und gar als einen Anstoß zur Symbolsystem des Patienten entschlüsselt wird und
Selbstreflexion der Wissenschaften zu begreifen. In dem Patienten (oder der Patientin) ein verlorener
seinen Kapiteln über diese beiden Denker versucht Teil seiner (oder ihrer) Lebensgeschichte wiederge-
Habermas, diese Selbstreflexion in Form einer kriti- geben wird. Diese Wiederherstellung kann nicht
schen philosophischen Analyse konsequenter zu be- einfach dadurch erfolgen, dass der Analytiker dem
treiben; diese Analyse begreift das Objekt wissen- Patienten Informationen zukommen lässt; sie ist
schaftlicher Erkenntnis in eins mit dem Erkenntnis- vielmehr wesentlich selbstreflexiv, da sie darauf an-
subjekt, das nicht als ein transzendentales Ich oder gewiesen ist, dass der Patient sich für die Selbster-
als absoluter Geist, sondern als eine Forscherge- kenntnis interessiert und bereit ist, Verantwortung
meinschaft verstanden wird, deren Methoden der für seine Krankheit zu übernehmen, so dass »sich
kognitive Ausdruck grundlegender, auf Arbeit und das Ich des Patienten in seinem durch die Krankheit
Interaktion bezogener Interessen sind, von denen repräsentierten Anderen als in seinem ihm entfrem-
das Überleben und die kulturelle Selbstentfaltung deten Selbst wiedererkennt und mit ihm identifi-
der Menschheit abhängig sind. Habermas insistiert ziert« (EI, 288).
darauf, dass diese Interessen der Vernunft nicht he- In seinen stärker theoretisch orientierten Arbei-
teronom sind: Die Vernunft wohnt vielmehr den Er- ten hielt Freud selbst nicht konsequent an der kom-
kenntnisinteressen inne. In der Reflexion auf solche munikativen, hermeneutischen Dynamik fest, die
Interessen erfasst man also die Einheit von Erkennt- die analytische Situation auszeichnet. Habermas be-
nis (Vernunft) und Interesse, wodurch man sich von zieht sich, um eine schlüssigere Darstellung zu ent-
der objektivistischen Illusion befreit, Erkenntnis sei wickeln, auf Arbeiten von Alfred Lorenzer (1970a;
die interesselose Kontemplation einer vom Bewusst- 1970b); dabei soll die Freud’sche Psychologie als eine
sein unabhängigen Welt. Als eine Erkenntnisform, selbstreflexive Form wissenschaftlicher Erkenntnis
die uns von falschem Bewusstsein befreit, verwirk- rekonstruiert werden, die sich auf ein Set ›metapsy-
licht die philosophische Selbstreflexion das ›emanzi- chologischer‹ Kategorien stützt. Ebenso wie die Hy-
patorische Erkenntnisinteresse‹. In den letzten vier pothesen der empirisch-analytischen Wissenschaf-
Kapiteln von Erkenntnis und Interesse entwickelt Ha- ten haben auch diese Kategorien einen allgemeinen
bermas den Begriff der Selbstreflexion; er beginnt Charakter und sind einer Art der Bestätigung (oder
mit Kants problematischem Versuch, die theoreti- Falsifikation) ausgesetzt. Da sie auf metatheoreti-
sche Erkenntnis mit dem praktischen Interesse zu schem Niveau angesiedelt sind, können sie jedoch
verknüpfen, und mit Fichtes – wenn auch in ein ide- nicht durch direkte Konfrontation mit Experimen-
alistisches System eingebetteter – Vollendung dieses talbeobachtungen überprüft – bestätigt oder falsifi-
Kunststücks. ziert – werden. Vielmehr bilden die metapsychologi-
Habermas’ kritische Gesellschaftstheorie soll je- schen Kategorien – das Ich, das Es, das Über-Ich, die
doch über eine rein philosophische Kritik hinausge- Abwehrmechanismen usf. – den gedanklichen Rah-
hen. Auf der Suche nach einem geeigneten Modell men für eine ›allgemeine Interpretation‹, eine narra-
beschäftigt er sich zuerst mit der Freud’schen Psy- tive Struktur, die die individuelle psychische Ent-
chologie als dem einzigen Modell einer Wissen- wicklung als einen konfliktreichen kommunikativen
schaft, in das eine methodische Selbstreflexion ein- Prozess antizipiert. Im Gegensatz zu Interpretatio-
bezogen ist. Die Psychoanalyse schließt eine Art her- nen in den Kulturwissenschaften werden die Ele-
4. Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie 171

mente einer allgemeinen Interpretation nicht durch den, aber sie sind deswegen keine bloßen Phantas-
die Pendelbewegung zwischen Teil und Ganzem men, da der technische Fortschritt sie eines Tages für
korrigiert. Sie leiten vielmehr die »Interpretations- alle zugänglich machen könnte. So ermöglicht
vorschläge« des Analytikers in der psychoanalyti- Freuds Modell eine Form der Ideologiekritik, die der
schen Situation, und sie werden »verifiziert«, indem Marx’schen ähnelt: eine Kritik nämlich, die jene Ra-
»der Patient sie annimmt und mit ihrer Hilfe seine tionalisierungen institutionalisierter Repression aufs
eigene Geschichte erzählt«; dadurch werden die all- Korn nimmt, die im Lichte neuer technischer Mög-
gemeinen Theorien mit einem ganz bestimmten Ge- lichkeiten überflüssig geworden sind. Da die unteren
halt gefüllt (EI, 318). Jedoch bleibt angesichts der Klassen zu größerem Verzicht genötigt sind, werden
Möglichkeiten der Selbsttäuschung diese Verifika- sie als erste »die utopischen Gehalte kritisch gegen
tion – auf kurze Sicht – uneindeutig: »[N]ur der die bestehende Kultur wenden« (EI, 340; zur Ideolo-
Kontext des Bildungsprozesses im ganzen hat bestä- giekritik vgl. Geuss 1983). Freuds Modell hat jedoch
tigende oder falsifizierende Kraft« (EI, 328). gegenüber Marx’ Modell einen Vorteil: Im Gegen-
Im Schlusskapitel von Erkenntnis und Interesse satz zu diesem erkennt Freud in der Ideologie eine
versucht Habermas, die Defizite der Marx’schen Form entstellter Kommunikation. Zudem impliziert
Theorie dadurch auszugleichen, dass er das psycho- sein Modell eine nüchternere Sicht der Ideologiekri-
analytische Modell kritischer Wissenschaft auf die tik, als eines Prozesses von Versuch und Irrtum, des-
Ebene der kritischen Gesellschaftstheorie überträgt sen Erfolg nicht durch eine Geschichtsphilosophie
(vgl. Marcuse 1965). Tatsächlich war sich Freud garantiert wird.
selbst durchaus bewusst, dass seine Individualpsy- Habermas’ Bemerkungen über ein freudianisches
chologie auf umfassendere Fragestellungen der Ge- Modell kritischer Sozialwissenschaft bleiben besten-
sellschaftstheorie verwies: Die ›Normalität‹ des Indi- falls skizzenhaft. Drei Gedankengänge stechen aber
viduums wird an den konventionellen Standards der hervor. Erstens ist es sein Hauptansinnen, die Idee
bestehenden gesellschaftlichen Institutionen gemes- einer solchen kritischen Theorie als einer selbstrefle-
sen, die ihrerseits im Vergleich mit anderen Kultu- xiven methodischen Wissenschaft aufzuzeigen, die
ren als pathologisch erscheinen können. Solche sich sowohl von den Natur- als auch von den Kultur-
Überlegungen gaben den Anstoß zu Freuds Theorie wissenschaften unterscheidet und die dadurch die
der Zivilisation. Habermas bemerkt, dass Freuds epistemologische Begründung der Gesellschaftskri-
theoretische Darstellung sich mit der Marx’schen da- tik vor positivistischen und historizistischen Miss-
rin trifft, dass beide Autoren Arbeit und Interaktion verständnissen bewahrt. Zweitens beruht die Gesell-
als zwei Dimensionen der menschlichen Entwick- schaftskritik als eine Form der Selbstreflexion auf
lung unterscheiden. Im Gegensatz zu Marx verleiht einem erkenntnisleitenden emanzipatorischen Inte-
jedoch Freud der Arbeitsorganisation in seinen Er- resse. Sowohl im psychoanalytischen Prozess als
läuterungen nicht den Vorrang. Er bettet den Ar- auch in der Ideologiekritik zeigt das Verlangen, pa-
beitsprozess vielmehr in institutionalisierte Formen thologische Zustände zu überwinden, dass »jenes
der Interaktion ein, die in der Familiendynamik ih- mit dem Leidensdruck gesetzte Interesse auch im ge-
ren Ursprung haben und auf die generelle Unterdrü- sellschaftlichen System unmittelbar ein Interesse an
ckung instinkthafter Impulse angelegt sind. Diese Aufklärung [ist] – und Reflexion […] die einzig
Repression wird nicht nur durch verpflichtende ge- mögliche Bewegung [ist], in der es sich durchsetzt«
sellschaftliche Normen, sondern auch durch tra- (EI, 350). Drittens bezieht sich das emanzipatorische
dierte Rationalisierungen der Autorität und ver- Interesse ebenso wie das technische und das prakti-
schiedene psychische Mechanismen – wie z. B. durch sche Interesse auf ein »Interesse der Selbsterhal-
Ersatzbefriedigungen zur Umleitung instinkthafter tung«, das sich nicht auf natürliche Bedürfnisse re-
Bedürfnisse – vorangetrieben. duzieren lässt, da es sich nur im Zusammenhang mit
Der Schlüssel zur Gesellschaftskritik liegt in jenen kulturellen Ausdrucksformen verstehen lässt,
Freuds Unterscheidung zwischen Wahnideen, die die es zu den »Ideen des guten Lebens« in Beziehung
reine Phantasien sind, und Illusionen: religiösen Be- setzen (ebd.). Habermas beschließt daher Erkenntnis
richten, gesellschaftlichen Ideen und Werten, der und Interesse mit einer Kritik an Nietzsche, der ge-
Kunst usf. Illusionen sind ein Zufluchtsort utopi- nau diese Reduktion vorzunehmen versuchte.
scher Elemente, die nicht wahnhaft sein müssen.
Ideale des Glücks z. B. können in einer Gesellschaft
einer bestimmten Epoche kaum verwirklicht wer-
172 III. Texte

Nachspiel: Entgegnungen und Revisionen und Argumentation miteinander verknüpfte, tat Ha-
bermas einen entscheidenden Schritt hin zu einer
Habermas’ Erkenntnis und Interesse wurde mit zahl- sprachphilosophischen Methode.
reichen kritischen Kommentaren bedacht. (Für eine Andere Kritiker wiesen darauf hin, dass Haber-
Auswahl wichtiger Aufsätze vgl. Apel at al. 1971; mas das positivistische Vorurteil übernommen habe,
Lobkowicz et al. 1972; Dallmayr 1974; hilfreiche wonach die Physik das Paradigma empirischer For-
Übersichtsdarstellungen bei Dallmayr 1972; McCar- schung sei. Die wissenschaftliche Erkenntnis in ei-
thy 1980, 69 ff. und auch in Habermas TP 41971, nem technischen Herrschaftsinteresse begründet zu
9–47; weitere Literaturhinweise im Nachwort zur sehen, mag für Chemie und Physik plausibel erschei-
9. Aufl. von EI [1988].) Die wichtigsten Kritiken am nen – aber reicht diese Erklärung für die biologi-
Begriff der Erkenntniskritik betreffen (1) Habermas’ schen Wissenschaften (z. B. die Primatologie) aus,
Verständnis naturwissenschaftlicher Erkenntnis; die sich mit Tierarten beschäftigen, die zu zielgerich-
(2) den ›quasi-transzendentalen‹ Status der Erkennt- tetem Handeln und zur Kommunikation fähig sind
nisinteressen; (3) Unklarheiten und Probleme, die (Keat 1981, 87 ff.)? Keat warf noch eine weitere Frage
sich namentlich auf das emanzipatorische Interesse hinsichtlich der erkenntniskonstituierenden Interes-
beziehen und (4) Habermas’ Tendenz, von der sen auf (ebd., 78 ff.): Wenn Erkenntnisinteressen die
Menschheit als einem sich selbst konstituierenden Forschungsgegenstände konstituieren, wie kann
Makrosubjekt zu sprechen. Habermas’ Antworten dann Habermas eine Hermeneutik der Natur als
auf diese Einwände lassen ihn den Weg zur Sprach- nicht-kognitiv ausschließen (wie er es in seiner Mar-
philosophie einschlagen. Ich werde mich mit jedem cuse-Kritik tut; vgl. TW)? Aus seiner Kritik an Mar-
von ihnen einzeln befassen. cuse scheint die Vermutung zu sprechen, Habermas
1. Einige Formulierungen in Erkenntnis und Inter- nehme einen unabhängigen Zugang zu bestimmten
esse (z. B. 155 f., 241) verknüpften den Sinn der Gel- Gegenstandsbereichen für sich in Anspruch, der
tung wissenschaftlicher Aussagen mit dem tech- dann als Standpunkt diene, seine Erkenntniskritik
nisch-instrumentellen Erfolg. Damit schien sich Ha- jenseits der interessegeleiteten Gegenstandskonsti-
bermas auf eine instrumentalistische Deutung der tution zu verorten. Keats Fragen weisen auf tieferlie-
Naturwissenschaften festzulegen: auf die antirealis- gende Schwierigkeiten in den transzendentalen As-
tische Sichtweise, wonach wissenschaftliche Theo- pekten der Habermas’schen Analyse hin, die wir im
rien und Aussagen die Natur nicht als solche darstel- Folgenden aufgreifen.
len, sondern vielmehr Werkzeuge bereitstellen, Na- 2. Habermas’ Begriff der Erkenntnisinteressen ist
turereignisse vorherzusagen und zu beherrschen. in einem vagen Niemandsland zwischen Naturalis-
(vgl. Albert 1971, 56; Ballestrem/McCarthy 1972, mus und Idealismus angesiedelt. Es dürfte daher
53 f.; Hesse 1980). In seiner Antwort insistierte Ha- nicht überraschen, dass er von beiden Seiten unter
bermas (1973, 406 f.) darauf, dass sein »Transzen- Beschuss geriet (vgl. Dallmayr 1972, 213 ff.). Einige
dentalpragmatismus« den instrumentellen Erfolg Kritiker attackierten seine Position als allzu spekula-
nicht zu einer hinreichenden Wahrheitsbedingung tiv und ›theologisch‹ (Albert [1969] 1971, 54 ff.). An-
wissenschaftlicher Aussagen mache. Er stützte sich dere bezichtigten ihn des Naturalismus: Durch den
auf Apels Peirce-Lektüre, um seine Position weiter Versuch, das Kantische transzendentale Subjekt auf
zu verdeutlichen, und zog dazu eine in Erkenntnis die – von historisch invarianten, tiefverwurzelten In-
und Interesse nicht erwähnte Unterscheidung he- teressen abhängige – menschliche Gattung zu über-
ran: jene nämlich zwischen den Konstitutionsbedin- tragen, habe Habermas eine »objektivistische Natur-
gungen der Erfahrungsgegenstände – oder der ontologie« eingeführt und so die Natur – im Wider-
objektiven ›Sinnkonstitution‹ – einerseits und den spruch zur historischen Ausrichtung der Kritischen
Geltungsbedingungen der Aussagen, d. h. den Erfül- Theorie – »verabsolutier[t]« (Theunissen 1969, 13,
lungsbedingungen für Wahrheitsansprüche anderer- 23). Dieser Einwand verweist auf ein tiefgreifendes
seits. Während die ›Objektivität‹ unserer Erfahrung Problem von Habermas’ Konstruktion: Habermas
von Dingen und Ereignissen durch unsere Fähigkeit versteht die Erkenntnisinteressen als für die Erfah-
konstituiert wird, wirksam in die Natur einzugrei- rungsgegenstände – einschließlich der Natur – kons-
fen, ist ›Wahrheit‹ etwas, das wir für Sätze durch as- titutiv und zugleich als ein Resultat der naturhaften
sertorische Akte in Anspruch nehmen und das wir Vorgeschichte der Gattung und damit als ein Feld
in Diskursen durch eine argumentative Beweisfüh- empirischer Forschung (z. B. in der Evolutionsbiolo-
rung begründen (ebd., 382 ff.). Indem er Wahrheit gie oder der Anthropologie). Mindestens zwei Be-
4. Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie 173

griffe sind hier doppeldeutig. Erstens wird die Natur Rekonstruktion der Bedingungen möglicher Objek-
als Objekt konstituiert und ist zugleich die Grund- tivität von Erfahrungen »angetroffen« werden; diese
lage von Fähigkeiten, durch die sich die Gattung kon- Bedingungen liegen elementaren Problemstellungen
stituiert (vgl. McCarthy 1980, 131 ff.). Zweitens ha- zugrunde, die jedes Gesellschaftssystem lösen muss.
ben die Erkenntnisinteressen eine natürliche Basis Die ›rekonstruierende Wissenschaft‹ ist daher die
und erscheinen daher als Objekte der Empirie, die den erkenntnisleitenden Interessen adäquate Form
möglicherweise einer Kritik unterzogen werden kön- der Forschung.
nen – doch als apriorische transzendentale Struktu- Mit diesen Schritten begann Habermas, den nor-
ren stellen sie gerade die Grundlage einer solchen mativen Ballast seiner Kritischen Theorie vom Be-
Kritik dar (Bubner [1969] 1971, 185 ff.; vgl. TW, griff der Erkenntnisinteressen auf jene Idealisierun-
160). gen zu verschieben, die den rationalen Diskurs und
Habermas’ Antwort auf dieses Problemknäuel den Konsens regeln. Sicherlich sind Idealisierungen
umfasste etliche innovative Schachzüge. Erstens er- des Diskurses schon immer im Spiel gewesen, inso-
läuterte er, dass Behauptungen über die natürliche fern alles Forschen auf Prozessen wechselseitiger, auf
Evolution der Erkenntnisinteressen nicht den streng einen rationalen Konsens abzielender Verständigung
empirischen Status von Aussagen der empirisch- beruht. Daher sind die technischen und praktischen
analytischen Wissenschaften besitzen, sondern viel- Interessen, wenn sie vollständig verwirklicht werden
mehr auf der Reflexionsebene angesiedelt sind (TP sollen, von dem emanzipatorischen Interesse an der
4
1971, 27 f.). Diese Erwiderung legt nahe, dass solche Schaffung herrschaftsfreier Kommunikationsbedin-
Behauptungen einen Teil einer allgemeinen kriti- gungen abhängig; erst unter diesen Bedingungen
schen Theorie der soziokulturellen Entwicklung aus- wird ein rationaler Konsensus möglich. Habermas’
machen – einer Theorie, die schließlich die Gestalt neue Unterscheidung zwischen Objektivität und
eines Entwicklungsmodells der sozialen Evolution Wahrheit geht jedoch mit einer weit schärferen Un-
annahm (in RHM). Zweitens versuchte Habermas in terscheidung zwischen Diskurs und »Lebenspraxis«
seiner Replik auf Theunissen, sowohl an den Kon- – d. h. kommunikativem Handeln – einher (vgl. TP
4
tingenzen der Geschichte als auch an invarianten 1971, 23 ff.; Habermas 1973, 385 f.). Im Diskurs ist
transzendentalen Strukturen festzuhalten. Doch an- der Handlungsdruck des Alltags zugunsten der Be-
statt sich auf tiefverwurzelte Interessen als anthropo- urteilung von Wahrheitsansprüchen (oder von An-
logische Konstanten zu berufen, griff er auf die Idee sprüchen auf normative Geltung) ausgeblendet; der
der Wahrheit und seine Beziehung zum Diskurs zu- einzig zulässige ›Zwang‹ ist hier derjenige des besse-
rück. Die Menschengattung kann sich »in ihrer so- ren Arguments. Mit der Unterscheidung zwischen
ziokulturellen Lebensform nur über die höchst un- Diskurs und Handlung lockert Habermas die enge
natürliche Idee der Wahrheit im Sinne der kon- Verbindung zwischen Erkenntnis und Interessen in
trafaktisch immer schon unterstellten Möglichkeit beträchtlichem Maße. Auch wenn er in den frühen
universaler Verständigung reproduzieren« (Haber- 1970er Jahren noch von Erkenntnisinteressen
mas 1973, 416). Als kontrafaktische transzendieren spricht, haben sie de facto ihre ursprüngliche Bedeu-
die Ideen von Wahrheit und zwanglosem Konsens tung verloren, Theorie und Praxis durch die »Ver-
die Kontingenzen der Geschichte; dennoch haben schränkung« der Erkenntnisformen mit den grund-
sie reale (geschichtliche) Auswirkungen auf mensch- legenden Interessen des menschlichen Lebens zu
liche Lebensformen (vgl. VE). verbinden (EI, 261). Seit dem linguistic turn liegt die
In einer Erwiderung auf Bubner unterschied Ha- transzendentale Basis der Gesellschaftskritik nicht
bermas (1973, 402 ff.) eingeschränkte Partikularin- mehr in den Erkenntnisinteressen beschlossen, son-
teressen, »verallgemeinerungsfähige« Interessen und dern in den Idealisierungen, die die Teilnehmer ei-
erkenntnisleitende Interessen. Verallgemeinerungs- nes Diskurses voraussetzen müssen.
fähige Interessen werden nicht einfach als empiri- 3. Habermas’ Begriff eines emanzipatorischen In-
sche Fakten vorgefunden und nicht rein dezisionis- teresses erwies sich als besonders problematisch. Von
tisch gesetzt, sondern in gewissem Maße durch kon- der Frage nach seinem Status abgesehen (nach Ha-
sensuelle Prozesse rationaler Willensbildung in bermas [1973, 400 f.] ist dies ein abgeleiteter Status),
praktischen Diskursen gebildet. Solche Interessen bezogen sich die beiden für die Erkenntniskritik zen-
sind daher Gegenstände moralisch-praktischer Er- tralen Fragestellungen auf die Verknüpfung dieses
kenntnis. Erkenntnisleitende Interessen sind dage- Interesses mit der Selbstreflexion und mit einem psy-
gen universelle Interessen, die bei einer rationalen choanalytischen Modell der Gesellschaftskritik.
174 III. Texte

Mehrere Kritiker wiesen auf eine Problematik selbst gegenüber den Zielgruppen in Anspruch
hin, die Habermas nicht leugnen konnte (McCarthy nimmt. Das Problem ist für Habermas schwierig zu
1980, 111 ff.; Habermas 1973, 411 ff.), dass nämlich lösen, insofern er jene marxistische Geschichtsphi-
der Versuch, den Historischen Materialismus in ei- losophie verworfen hatte, die die kommunistische
nen (weitgehend neukantianischen) transzendenta- Partei mit einer ganz besonderen Form der Kompe-
len Rahmen zu überführen, zwei verschiedene Re- tenz ausgestattet hatte. Als Antwort darauf fasste er
flexionsformen vermischte: die philosophische Re- das Verhältnis von Theorie und Praxis neu als das
flexion auf die invarianten Strukturen der objektiven Verhältnis von Diskurs und Handeln. Er unterschei-
Erkenntnis einerseits und die kritische Analyse von det namentlich drei Phasen oder ›Funktionen‹ der
Formen verzerrter Kommunikation in der Psycho- Verbindung von Theorie und Praxis (Habermas TP
4
analyse und in der Ideologiekritik andererseits. 1971, 37 ff.): die Entwicklung kritischer Theorien in
Während erstere universelle Tiefenstrukturen wissenschaftlichen Diskursen, die Aufklärung von
menschlichen Handelns und menschlicher Erfah- Gruppen, die den repressiven Wirkungen der Herr-
rung zu artikulieren versucht, zielt letztere auf For- schaft ausgesetzt sind oder über diese beunruhigt
men falschen Bewusstseins, von denen bestimmte sind, und die Wahl von Strategien und Taktiken für
Personen und Gesellschaften mit ihren jeweils ein- einen wirklichen politischen Kampf. Dieses Problem
zigartigen Lebensgeschichten und kulturellen Tradi- verlor aber mit der Zeit an Bedeutung, sobald Ha-
tionen betroffen sind. Angesichts der oben genann- bermas sich von einem freudianisch-marxistischen,
ten Neuausrichtung seiner Theorie hatte Habermas auf Ideologiekritik ausgerichteten Modell gelöst
eine Lösung für diese Äquivokation parat, indem er hatte (Habermas 2000, 14 f.).
nämlich die philosophische Reflexion als ›rationale 4. Das vierte Problem zeigte sich erst einige Zeit
Rekonstruktion‹ von der ›Kritik‹ unterschied. Er später: In der Blütezeit des neomarxistischen Theo-
konnte die eine aber auch zur anderen in Beziehung retisierens konnte es noch unbeanstandet durchge-
setzen: Da die Kritik sich auf Formen verzerrter hen, von der Menschengattung als einem Makrosub-
Kommunikation bezieht, ist sie auf die rekonstrukti- jekt zu reden. Außerdem ließ die Tatsache, dass
ven Wissenschaften angewiesen, die jene Ideale der Habermas die Reflexionsphilosophie zum Ausgangs-
Kommunikation herausarbeiten, mittels derer die punkt nahm, diese Redeweise als vernünftig erschei-
Kritiker die Verzerrungen im falschen Bewusstsein nen: In der philosophischen Tradition wurde ›Refle-
aufzeigen können. xion‹ im Sinne der Selbsterkenntnis typischerweise
Das andere große Problem betraf die Frage, ob als die Leistung eines menschlichen (oder göttli-
Freuds Modell für die Ideologiekritik angemessen chen) Subjekts angesehen. Sobald aber der Begriff
sei (vgl. Gadamer 1971; Giegel 1971). Sowohl in der der Reflexion klarer gefasst und letztlich durch zwei
Psychoanalyse als auch in der Ideologiekritik sind verschiedene Formen kommunikativer Beziehungen
die Bedingungen für einen Dialog zwischen Glei- (theoretischer Diskurs in der rekonstruierenden
chen außer Kraft gesetzt, da der ›aufgeklärte‹ Psy- Wissenschaft, ›therapeutische‹ Interventionen in der
choanalytiker/Kritiker und der ›unaufgeklärte‹ Pati- Kritik) ersetzt wird, und sobald der normative Ak-
ent/Unterdrücker in einer asymmetrischen Bezie- zent sich von den Erkenntnisinteressen zum Diskurs
hung zueinander stehen. Situationen, die nach verlagert, erweist sich ein Gattungssubjekt der Auf-
Ideologiekritik schreien, weisen jedoch normaler- klärung als nutzloses Relikt (vgl. Habermas 2000,
weise nicht jene Charakteristika einer psychoanaly- 13). Zudem kann die Idee eines Makrosubjekts der
tischen Beziehung auf (Freiwilligkeit, professioneller Gattungskonstitution dem Pluralismus der Kultu-
›Code‹ etc.), die zu ihrer Wirksamkeit beitragen und ren, der Vielfalt gesellschaftlicher Lebensformen
sie vor den Gefahren der Manipulation bewahren. und ihren unterschiedlichen Entwicklungspfaden
Zum einen sträuben sich Gruppen, die von ihrer nicht gerecht werden. Von nun an ist ein stärker in-
herrschenden Stellung profitieren, gewöhnlich ge- tersubjektiv ausgerichtetes Modell gefordert.
gen die Kritik, und zum anderen stellt sich die Frage:
Was hindert den Kritiker daran, unter dem Deck- Postskriptum: Erkenntniskritik nach
mantel eines universellen Interesses Partikularinter-
der linguistisch-pragmatischen Wende
essen zu befördern?
In einer heutigen Begrifflichkeit gesprochen, be- Durch seine Hinwendung zur Sprachphilosophie
treffen diese Fragen das Expertenwissen, d. h., die verlagerte Habermas den Schwerpunkt seiner kriti-
Kompetenz, die der Gesellschaftskritiker für sich schen Theorie von epistemologischen und metho-
4. Erkenntniskritik als Gesellschaftstheorie 175

dologischen Fragen auf die Substanz der Gesell- Literatur


schaftstheorie. Namentlich griff er soziologische Adorno, Theodor W. et al.: Der Positivismusstreit in der
Handlungstheorien auf, die sich mit Fragen der deutschen Soziologie. Neuwied/Berlin 1969.
gesellschaftlichen Ordnung und der kulturellen Evo- Albert, Hans: »Kritische Rationalität und politische Theo-
lution befassten (VE; RHM; s. Kap. III.10). Nach logie« [1969]. In: Ders.: Ein Plädoyer für kritischen Ratio-
nalismus. München 1971, 45–75.
diesem neuen gedanklichen Rahmen beruht die ge- Apel, Karl-Otto: »Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekri-
sellschaftliche Ordnung letztlich auf Formen kom- tik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisan-
munikativen Handelns, durch die die Akteure ihre thropologischer Sicht« [1968]. In: Apel et al. 1971, 7–44.
Handlungen auf Grundlage wechselseitig akzeptier- – et al.: Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a. M.
ter Geltungsansprüche koordinieren; diese Gel- 1971.
Ballestrem, Karl Graf/McCarthy, Thomas A.: »Thesen zur
tungsansprüche sind von Natur aus kritischen Ein-
Begründung einer kritischen Theorie der Gesellschaft«.
wänden ausgesetzt und müssen in argumentativen In: Zeitschrift für allgemeine Wissenschaftstheorie 3. Jg., 1
Diskursen begründet werden. Folglich nimmt die (1972), 49–62.
Erkenntniskritik jetzt die Form einer Argumentati- Bubner, Rüdiger: »Was ist kritische Theorie?« [1969]. In:
onstheorie an, deren kritischer Einsatz eine Analyse Apel et al. 1971, 160–209.
Dallmayr, Winfried R.: »Critical Theory Criticized: Ha-
kollektiver Lernprozesse voraussetzt (VE; Owen
bermas’s Knowledge and Human Interests and Its After-
2002; Rehg 2009, Kap. 4–6). math«. In: Lobkowicz et al. 1972, 211–29.
Im Rückblick lässt sich erkennen, dass Habermas – (Hg.): Materialien zu Habermas’ »Erkenntnis und Inter-
einige der kritischen Einwände gegen Erkenntnis esse«. Frankfurt a. M. 1974.
und Interesse durch seine Redeweise von den Er- Gadamer, Hans-Georg: »Replik«. In: Apel et al. 1971, 283–
317.
kenntnisinteressen als den ›Konstitutionsbedingun-
Geuss, Raymond: Die Idee einer Kritischen Theorie. König-
gen‹ der Erkenntnis heraufbeschworen hatte; diese stein, Ts. 1983 (engl. 1981).
Ausdrucksweise suggeriert ein allzu stark transzen- Giegel, Hans-Joachim: »Reflexion und Emanzipation«. In:
dentalisiertes Denkmodell (vgl. Power 2000). Seit er Apel et al. 1971, 244–282.
sich von der Reflexionsphilosophie abgewandt hat, Habermas, Jürgen: »Zu Gadamers ›Wahrheit und Me-
kann Habermas seine Position jetzt als eine thode‹« [1971a]. In: Apel et al. 1971, 45–56.
–: »Der Universalitätsanspruch der Hermeneutik« [1971b].
»schwach« transzendentale beschreiben; dies be- In: Apel et al. 1971, 120–159.
deutet, dass seine rekonstruktiven Analysen nicht –: »Nachwort«. In: Ders.: Erkenntnis und Interesse [EI].
auf einer konstitutiven transzendentalen Logik, son- Frankfurt a. M. 21973, 367–417.
dern auf einer falliblen hermeneutischen Erklärung –: »Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und
intersubjektiv geteilter Kompetenzen und normati- Interesse«. In: Müller-Doohm 2000, 12–20.
Hesse, Mary: »Habermas’s Consensus Theory of Truth«. In:
ver Voraussetzungen beruhen, die es den Akteuren Dies.: Revolutions and Reconstructions in the Philosophy
ermöglichen, sich auf vertraute Diskurs- und For- of Science. Bloomington 1980, 206–231.
schungspraktiken einzulassen – denn nur mit Hilfe Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft [1781/1787].
solcher Praktiken können wir etwas über die Welt Frankfurt a. M. 41980.
lernen und uns ein Bild von ihr machen. Diese Me- Keat, Russell: The Politics of Social Theory. Habermas,
Freud, and the Critique of Positivism. Chicago 1981.
thode ermöglicht einen »schwachen Naturalismus«, Kortian, Garbis: Métacritique. Paris 1979.
gerade weil die pragmatischen Voraussetzungen des Lobkowicz, Nikolaus et al.: »Review Symposium on Haber-
Lernens – im Gegensatz zu Kants intelligiblem Sub- mas«. In: Philosophy of the Social Sciences Bd. 2, Nr. 1
jekt – innerweltlich in den Alltagspraktiken der (1972), 193–270.
Kommunikation und des Handelns aufgefunden Lorenzer, Alfred: Kritik des psychoanalytischen Symbolbe-
griffs. Frankfurt a. M. 1970a.
werden (WR, 7–55; s. auch Kap. III.5). Obwohl seine –: Sprachzerstörung und Rekonstruktion: Vorarbeiten zu
Thesen sehr ambitioniert erscheinen und umstrit- einer Metatheorie der Psychoanalyse. Frankfurt a. M.
ten bleiben, lässt Habermas’ neuer denkerischer An- 1970b.
satz einen vielversprechenden Mittelweg zwischen Marcuse, Herbert: Triebstruktur und Gesellschaft. Ein philo-
Realismus und Idealismus, zwischen Objektivismus sophischer Beitrag zu Sigmund Freud. Frankfurt a. M.
1965 (engl. Eros und Civilization, 1956).
und Relativismus erkennen, der in Erkenntnis und
McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse:
Interesse offensichtlich noch so schwer zu fassen Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1980
war. (engl. 1978).
Müller-Doohm, Stefan (Hg.): Das Interesse der Vernunft.
Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit »Er-
kenntnis und Interesse«. Frankfurt a. M. 2000.
176 III. Texte

Owen, David S.: Between Reason and History. Habermas


and the Idea of Progress. Albany 2002.
5. Kommunikative Vernunft
Power, Michael: »Habermas und das Problem der transzen- »Vorbereitende Bemerkungen
dentalen Argumentation«. In: Müller-Doohm 2000, zu einer Theorie des kommunikativen
242–273 (engl. 1993).
Rehg, William: Cogent Science in Context. The Science Wars, Handelns« (1971)
Argumentation Theory, and Habermas. Cambridge,
Mass. 2009. Habermas unterzieht seinen Versuch der Grundle-
Roberts, Julian: The Logic of Reflection. German Philosophy gung einer kritischen Gesellschaftstheorie in den
in the Twentieth Century. New Haven 1992.
Swindal, James: Reflection Revisited. Jürgen Habermas’s Dis- 1970er Jahren einem linguistic turn, wodurch die
cursive Theory of Truth. New York 1999. sprachliche Kommunikation für dieses Vorhaben in
Theunissen, Michael: Gesellschaft und Geschichte. Zur Kri- den Mittelpunkt rückt. Obwohl auch schon in eini-
tik der kritischen Theorie. Berlin 1969. gen früheren Schriften Habermas’ der 1960er Jahre
William Rehg (Übers. Nikolaus Gramm) ein Interesse an sprachanalytischen Fragen erkenn-
bar ist (so z. B. in LSW), nimmt die angesprochene
methodologische Schwerpunktverlagerung erst in
den 1970er Jahren Gestalt an. Ihr zufolge ist die
formalpragmatische Kommunikationsanalyse nicht
länger lediglich als eine Metatheorie zu verstehen,
die darauf abzielt, eine »sprachtheoretischen Grund-
legung der Sozialwissenschaften« zu liefern, sondern
als zentraler Bestandteil einer eigenständigen Ratio-
nalitätstheorie (TKH I, 7). Hauptziel bei der Entwick-
lung dieses Zentralelements ist es, einen Begriff
kommunikativer Vernunft aus dem normativen Ge-
halt allgemeiner und unvermeidlicher Präsupposi-
tionen der nicht hintergehbaren Praxis alltäglicher
Verständigung zu gewinnen. Habermas macht im
kommunikativen Sprachgebrauch eine eigentümli-
che Rationalität ausfindig, die für zweierlei grund-
sätzliche Aufgaben eine Lösung bietet, an denen
seiner Ansicht nach die frühe Kritische Theorie
gescheitert ist: den engen Rahmen des die Sozialwis-
senschaften beherrschenden instrumentellen Ver-
nunftmodells zu überschreiten sowie eine überzeu-
gende Antwort auf die Grundfrage jeglicher Gesell-
schaftstheorie zu geben, wie soziale Ordnung
möglich ist. Rückblickend lässt sich jedoch darüber
hinaus sagen, dass die Konzeption kommunikativer
Vernunft nicht nur für Habermas’ Gesellschaftsthe-
orie das Rückgrat bildet, sondern auch für seine Mo-
ral-, Rechts- und politische Philosophie, seine Theo-
rie der Moderne sowie für seine Sozialentwicklungs-
theorie.
Habermas entwickelt seine Konzeption kommu-
nikativer Vernunft in mehreren Schritten und im
Rahmen von vielerlei Schriften. Der Grundriss
nimmt in verschiedenen in den 1970er Jahren ver-
fassten Aufsätzen Gestalt an, von denen die meisten
in dem Sammelband Vorstudien und Ergänzungen
zur Theorie des kommunikativen Handelns (VE) ent-
halten sind. Auf dieser Grundlage führt Habermas
seine Konzeption dann in seiner philosophischen
5. Kommunikative Vernunft 177

Hauptschrift Die Theorie des kommunikativen Han- zur Teilnahme an argumentativen Praktiken gebun-
delns (TKH) aus und verfeinert und verbessert diese den, d. h. an Praktiken der durch Begründungen und
in der Folge kontinuierlich weiter bis zu der 1999 er- Argumente geleisteten Kritik und Rechtfertigung
schienenen Sammlung Wahrheit und Rechtfertigung von problematisch gewordenen Ansprüchen. Haber-
(WR). Für eine erste Näherung an Habermas’ Kon- mas nennt solche Praktiken ›Diskurse‹, weswegen er
zeption kommunikativer Vernunft bietet es sich an, den Begriff ›diskursive Vernunft‹ zur Bezeichnung
zunächst ihre Reichweite zu bestimmen. all jener Kompetenzen verwendet, die ein Sprecher
Habermas’ Erläuterung kommunikativer Ver- erworben haben muss, um sich an der spezifischen,
nunft ist nicht als allumfassende Vernunfttheorie reflexiven Kommunikationsform der Argumenta-
konzipiert. Wie in späteren Schriften (WR) klarer tion beteiligen zu können. Habermas erläutert die
hervortritt, stellt die in sprachlichen Kommunika- interne Beziehung zwischen Rationalität und inter-
tionsstrukturen verkörperte Vernunft nämlich nur subjektiver Rechtfertigung wie folgt:
eine von drei nicht aufeinander reduzierbaren Ratio-
»[…] wer Auffassungen teilt, die sich als unwahr heraus-
nalitätsstrukturen dar. Die anderen beiden sind die stellen, ist nicht eo ipso irrational; irrational ist, wer seine
in der propositionalen Struktur des Erkennens ver- Meinungen dogmatisch vertritt, an ihnen festhält, obwohl
körperte epistemische Rationalität und die in der te- er sieht, daß er sie nicht begründen kann. Um eine Mei-
leologischen Struktur des Handelns verkörperte nung als rational zu qualifizieren, genügt es, daß sie im ge-
Zweckrationalität. Allerdings sind diese drei Kern- gebenen Rechtfertigungskontext aus guten Gründen für
wahr gehalten, d. h. rational akzeptiert werden kann« (WR,
strukturen über die aus der kommunikativen Ver-
107).
nunft entspringende Diskursrationalität miteinan-
der verflochten: Im Vergleich zu dieser ziemlich geradlinigen Ant-
wort auf die erste oben genannte Frage stellt sich die
»[D]ie Diskursstruktur [stiftet] unter den verzweigten Ra- Beantwortung der zweiten – nach der Rechtferti-
tionalitätsstrukturen des Wissens, Handelns und der Rede
einen Zusammenhang, indem sie die propositionalen, te- gung kommunikativer Vernunft als universaler
leologischen und kommunikativen Wurzeln gewisserma- Rationalitätsstruktur – wesentlich komplizierter dar.
ßen zusammenführt. In einem solchen Modell der verzahn- Denn hier reicht es nicht mehr aus, eine systemati-
ten Kernstrukturen verdankt die Diskursrationalität ihre sche Darstellung der idealisierenden Grundannah-
ausgezeichnete Stellung nicht einer fundierenden, sondern men vorzulegen, auf denen eine eigenartige und le-
einer integrativen Leistung« (WR, 104).
diglich optionale Kommunikationsform wie die der
Das hiermit umrissene Modell einer allgemeinen Argumentation oder des ›Diskurses‹ beruht. Für die
Rationalitätstheorie beruht auf zwei wichtigen An- Beantwortung der zweiten Frage bedarf es daher
nahmen, die beide einer detaillierten Rechtfertigung zweier vorgeschalteter Argumentationsschritte. Ers-
bedürfen. Zunächst muss man nämlich zeigen, dass tens muss gezeigt werden, dass die in Diskursen vor-
tatsächlich ein Zusammenhang zwischen den Ratio- liegende Rechtfertigungsrationalität unvermeidlich
nalitätsstrukturen des Wissens, Handelns und der auch schon in der unhintergehbaren Praxis alltägli-
Rede einerseits und der Verfahrensrationalität argu- cher Kommunikation beansprucht wird. Zweitens
mentativer Rechtfertigungspraktiken (d. h. diskursi- muss ebenso gezeigt werden, dass sich die auf diese
ver Rationalität) andererseits besteht. Sodann muss Weise als grundlegend erwiesene kommunikative
man zeigen, dass es sich bei der kommunikativen Vernunft nun nicht andererseits auf Formen instru-
Praktiken innewohnenden Rationalität um eine uni- menteller Rationalität reduzieren lässt. Habermas’
versale Vernunftstruktur handelt, die nicht auf For- formalpragmatische Kommunikationsanalyse dient
men instrumenteller Vernunft zurückführbar ist. der Verteidigung dieser beiden zentralen Annahmen
Der für die erste Frage relevante interne Zusam- seiner Konzeption kommunikativer Vernunft.
menhang zwischen den Rationalitätsstrukturen von
Wissen, Handeln und Rede auf der einen und dis- Das formalpragmatische Forschungsprogramm
kursiven Praktiken auf der anderen Seite ist nicht
schwer einzusehen. Denn wir betrachten Personen Die Aufgabe der Formalpragmatik ist es, die univer-
in dem Maße als rational, in dem sie fähig sind, im salen und unvermeidlichen Präsuppositionen mög-
Falle einer jeweiligen Herausforderung das, was sie licher Verständigungsprozesse zu identifizieren und
glauben, tun und sagen, mit Gründen zu rechtferti- nachzukonstruieren, die die kommunikative Kom-
gen. In diesem Sinne als Zurechnungsfähigkeit ver- petenz von Sprechern ausmachen. Daher wählte Ha-
standene Rationalität ist somit eng an die Fähigkeit bermas den Begriff ›Universalpragmatik‹, als er das
178 III. Texte

Programm in dem Aufsatz »Was ist Universalprag- bar. Zur Stützung dieser These bedient sich Haber-
matik?« (VE, 353–440) erstmals in seinen Hauptzü- mas einiger Ergebnisse der von Austin und Searle
gen darstellte. Allerdings ging er schnell zur Verwen- entwickelten Sprechakttheorie (s. Kap. II.6). Im Ge-
dung des Begriffs ›Formalpragmatik‹ über, um ers- gensatz zu diesen geht es Habermas allerdings nicht
tens sein eigenes Programm schärfer von dem um die umfassende Darstellung all jener Regeln, die
›transzendentalpragmatischen‹ Ansatz seines Kolle- spezifische Sprechakte charakterisieren (so wichtig
gen Karl-Otto Apel abzuheben (s. Kap. II.4), und um eine solche Darstellung auch sein mag). Habermas
zweitens seine Verwandtschaft mit der formalen Se- beschäftigt sich vielmehr mit der Identifikation von
mantik zu unterstreichen. Die Grundidee hinter Ha- unvermeidlichen allgemeinen Präsuppositionen, die
bermas’ Entwurf ist, dass nicht nur Sprache, sondern gegenseitige Verständigung mittels Sprechakten
auch Rede, also die Verwendung von Sätzen in Äu- überhaupt ermöglichen.
ßerungen, einer formalen philosophischen Analyse Solche Präsuppositionen lassen sich identifizie-
zugänglich ist. Für eine umfassende philosophische ren, wenn man auf den Unterschied zwischen den
Aufklärung menschlicher Kommunikation bedarf es Bedingungen der Erzeugung eines grammatisch
also der Ergänzung der formalen Semantik durch korrekten Satzes durch einen kompetenten Sprecher
die Formalpragmatik. Während die erstere den pro- und jenen seiner Verwendung in einer Situation
positionalen Gehalt von Äußerungen untersucht, möglicher Verständigung reflektiert. Habermas er-
um herauszufinden, was in einem Sprechakt gesagt läutert diesen Unterschied unter Bezugnahme auf
wird, untersucht letztere die illokutionäre Kraft des die Realitätsbezüge, in die jeder Satz erst mit dem
Sprechaktes, um die in seinem Vollzug kommunika- Akt der Äußerung eingebettet wird. Indem er geäu-
tiv verwendeten oder herbeigeführten interpersona- ßert wird, wird ein Satz in Bezug gesetzt zu (1) ei-
len Beziehungen zu erläutern. Habermas zufolge nem bestimmten Sachverhalt, (2) einer Sprecherin-
geht die philosophische Bedeutsamkeit letzterer Un- tention, und (3) einer bestimmten interpersonalen
tersuchung philosophisch weit über deren offen- Beziehung. Damit wird er unter Geltungsansprüche
sichtliche Leistung hinaus, unserem Verständnis gestellt, die er als nicht-situierter Satz, als reines
menschlicher Kommunikation weiterzuhelfen. Eine grammatisches Gebilde, weder erfüllen muss noch
solche formalpragmatische Analyse hat nämlich da- kann. Um also die Sprechakte anderer zu verstehen,
rüber hinaus weitreichende handlungs-, vernunft-, müssen die Verständigungspartner demzufolge zu-
moral- und gesellschaftstheoretische Konsequenzen. nächst an dem im propositionalen Gehalt des
Dies wird am besten dann einsichtig, wenn man auf Sprechakts impliziten Wissen teilhaben und somit
die Unterschiede zwischen den Anforderungen ein- den Wahrheitsanspruch der Äußerung beurteilen
geht, die der Besitz von Sprach-, Kommunikations- können. Ferner müssen sie ebenfalls zur Teilhabe an
und Handlungskompetenz jeweils an einen Sprecher den normativen Präsuppositionen fähig sein, die der
stellt. im illokutionären Bestandteil des Sprechakts herge-
Wie bereits angedeutet, besteht die Grundan- stellten persönlichen Beziehung unterliegen, und so-
nahme hinter Habermas’ formalpragmatischem Pro- mit in der Lage sein, den Richtigkeitsanspruch des
gramm darin, dass menschliche Kommunikation ei- Sprechakts zu beurteilen. Schließlich müssen sie
ner spezifischen Rationalität unterliegt (der kom- auch die Wahrhaftigkeit beurteilen können, mit der
munikativen Rationalität nämlich), die sich nicht auf der Sprecher den Sprechakt vollzogen hat. Wahrheit,
instrumentelle Vernunft reduzieren lässt. Während Richtigkeit und Wahrhaftigkeit stellen drei univer-
sich nun die sprachliche Kompetenz von Sprechern selle Geltungsansprüche dar, die Sprecher (implizit
in der Fähigkeit erschöpft, grammatisch wohlge- oder explizit) in ihren Sprechakten je nachdem erhe-
formte Ausdrücke einer Sprache zu verstehen, ver- ben, ob sie sich auf etwas in der objektiven Welt (als
langt die kommunikative Kompetenz zumindest die die Gesamtheit der Entitäten, über die wahre Aussa-
Fähigkeit, sprachliche Ausdrücke dazu zu verwen- gen möglich sind), oder auf etwas in der geteilten so-
den, sich mit jemandem über etwas in der Welt zu zialen Welt (als der Gesamtheit legitim geregelter in-
verständigen oder, wie es Habermas ausdrückt, sich terpersonaler Beziehungen), oder auf etwas in ihrer
auf ›kommunikatives Handeln‹ einzulassen (s. Kap. jeweiligen subjektiven Welt (als der Gesamtheit der
IV.14). Diese kommunikative Fähigkeit ist jedoch Erlebnisse, zu denen jeder privilegierten Zugang hat)
grundverschieden von der Fähigkeit zur Verfolgung beziehen. Diese drei von Habermas als »Geltungsba-
extrakommunikativer Ziele im instrumentellen oder sis der Rede« bezeichneten Geltungsdimensionen
strategischen Handeln und nicht auf diese reduzier- stellen die den Sprechern verfügbaren heuristischen
5. Kommunikative Vernunft 179

Schlüssel dar, wenn sie einander zu verstehen versu- onserfolg wesentlich auch davon ab, dass sich die
chen. Sprecher darauf verlassen können, dass jeder bereit
Die hier zur Anwendung gebrachte Grundidee ist, für seine jeweiligen Sprechakte gerade zu stehen.
besteht in einer Verallgemeinerung der in der for- Dies beinhaltet unter anderem die Bereitschaft, die
malen Semantik vorausgesetzten Auffassung von in Sprechakten erhobenen Geltungsansprüche erfor-
Bedeutung als Wahrheitsbedingungen. Dieser zu- derlichenfalls mit guten Gründen einzulösen, sowie
folge verstehen wir den propositionalen Gehalt einer die Bereitschaft, die interaktionfolgenrelevanten
Behauptung, wenn wir ihre Wahrheitsbedingungen Verpflichtungen zu übernehmen, die sich aus der
erkennen, d. h. wissen, was der Fall ist, wenn sie Anerkennung erfolgreich verteidigter Geltungsan-
wahr ist. Verallgemeinert man diesen Ansatz mit sprüche ergeben. Ohne dieses allgemeine Vertrauen
dem Ziel, sowohl die Bedeutung des Propositionalen blieben Sprechakte schlicht ohne bestimmte Bedeu-
als auch die der in unterschiedlichen Sprechakten tung. Wie Habermas erläutert, hätten solche Sprech-
vorliegenden illokutionären Bestandteile einer Äu- akte wie Befehle, Versprechen oder Behauptungen
ßerung zu erfassen, so gelangt man zu Habermas’ keinerlei Sinn, wenn beispielsweise das Akzeptieren
Auffassung, dass wir einen Sprechakt verstehen, eines Befehls oder das Aussprechen eines Verspre-
wenn wir wissen, was ihn akzeptierbar macht. Mi- chens nicht beinhaltete, diese auszuführen, oder
chael Dummetts (1975, 1976) Ansatz der Erklärung wenn das Akzeptieren einer Behauptung nicht die
von Bedeutung als Behauptbarkeitsbedingungen fol- Übernahme der darin enthaltenen Überzeugung
gend, vertritt Habermas die These, dass es ein un- und die damit verbundene Verhaltensmodifikation
verzichtbarer Bestandteil des Verstehens der Bedeu- einschlösse (ND, 71). Sowie eine verallgemeinerte
tung eines Sprechakts ist, die Art der Gründe zu ken- instrumentelle oder strategische Einstellung gegen-
nen, mit denen eine Sprecherin die mit ihm über der Kommunikation das Vertrauen von Spre-
erhobenen Geltungsansprüche einlösen könnte. chern in ihre gegenseitige Zurechnungsfähigkeit zer-
Dies bedeutet wiederum, dass die Orientierung an mürbte, würden ihre Sprechakte sinnlos. Wenn diese
der möglichen Geltung von Äußerungen ein not- Vermutung zutrifft, dann ist der instrumentelle oder
wendiger Bestandteil sprachlichen Verstehens wird. strategische Sprachgebrauch notwendigerweise dem
Denn Gründe sind so lange nicht als solche identifi- kommunikativen (d. h. verständigungsorientierten)
zierbar, wie Sprecherinnen nicht die interne Per- Sprachgebrauch gegenüber parasitär, ohne den keine
spektive der Bewertung von deren Qualität als gute dauerhafte Kommunikationspraxis möglich wäre
Gründe einnehmen und so zu einer rational moti- (vgl. TKH I, 388; WR, 128). Da sich beiderlei Sprach-
vierten Ja/Nein-Stellungnahme ihnen gegenüber ge- verwendungsarten gegenseitig ausschließen, ist die
langen (vgl. TKH I, 115–116). Die Verteidigung einer in Kommunikationspraktiken enthaltene Rationali-
solchen internen Verbindung zwischen Bedeutung tät irreduzibel auf instrumentelle Rationalität. Daher
und Geltung ist somit der entscheidende Schritt in stellt die kommunikative Rationalität einen unver-
der Rechtfertigung sowohl der Universalität kom- zichtbaren Bestandteil einer allgemeinen Rationali-
munikativer Vernunft als auch ihrer Irreduzibilität tätstheorie dar.
auf instrumentelle Vernunft. Die gerade ausgeführte enge Verbindung zwi-
Im Laufe der Jahre hat Habermas die letztere schen Bedeutung und Geltung dient nun auch zur
These aus unterschiedlichen Gesichtspunkten und Erklärung der Universalität kommunikativer Ratio-
mit vielfältigen Argumenten zu untermauern ver- nalität. Denn kommunikative Verständigung bein-
sucht, auf deren Details hier nicht eingegangen wer- haltet die intersubjektive Anerkennung von Gel-
den kann. Die Grundidee all dieser Verteidigungs- tungsansprüchen, die Kommunikationsteilnehmer
ansätze lässt sich jedoch recht kurz wie folgt ange- mit ihren Sprechakten erheben. Daher kann, wie Ha-
ben: Wenn, wie zuvor argumentiert, die Bedeutung bermas erläutert,
eines Sprechakts durch seine Akzeptierbarkeitsbe-
dingungen angegeben werden kann, und wenn das »[…] sobald mindestens für einen der Geltungsansprüche
Erfassen solcher Akzeptierbarkeitsbedingungen die die Präsupposition der Erfüllung bzw. Einlösbarkeit sus-
Beurteilung der Geltung der Gründe verlangt, die pendiert wird, [...] kommunikatives Handeln nicht fortge-
zur Rechtfertigung des Sprechaktes beigebracht wer- setzt werden. Es besteht dann grundsätzlich die Alterna-
tive, auf strategisches Handeln umzuschalten oder die
den könnten, dann kann kommunikativer Erfolg Kommunikation überhaupt aufzubrechen oder aber das
nicht allein auf der Basis instrumenteller Vernunft verständigungsorientierte Handeln auf der Ebene argu-
erklärt werden. Stattdessen hängt der Kommunikati- mentativer Rede (zum Zwecke einer diskursiven Prüfung
180 III. Texte

des hypothetisch dahingestellten Geltungsanspruch) wie- indem sie sich allein von ›dem zwanglosen Zwang
der aufzunehmen« (VE, 355 f.). des besseren Arguments‹ leiten lassen. Die den Ar-
gumentationspraktiken eigene kognitive Zielsetzung
Da also weder die erste noch die zweite Alternative der Erzeugung von Überzeugungen zieht streng um-
eine ausreichende Basis für dauerhafte Kommuni- rissene Erfolgsbedingungen nach sich. Die entspre-
kationspraktiken liefert, muss die Verfügbarkeit von chenden Anforderungen lassen sich ihrerseits in
argumentativen Praktiken oder ›Diskursen‹ zur Be- Form einer Rekonstruktion der unvermeidlichen
seitigung der unvermeidlich unter Kommunikati- Präsuppositionen und Verfahrensregeln solcher
onspartnern auftretenden Meinungsverschieden- Praktiken explizieren.
heiten als notwendige Bedingung der Aufrechter- In Anlehnung an die Aristotelische Unterschei-
haltung kommunikativer Praktiken angesehen dung zwischen Logik, Dialektik und Rhetorik unter-
werden. Insofern ist die (reflexive) kommunikative scheidet Habermas Argumentationsvoraussetzun-
Rationalität für den Menschen genauso universal gen auf drei Ebenen. Auf der logischen Ebene der
und unhintergehbar, wie es die Kommunikation Produkte bestehen die Argumentationsvorausset-
selbst ist. Sie ist, wie es Habermas ausdrückt, »eine zungen in logischen und semantischen Konsistenz-
Stimme der Vernunft, die sprechen zu lassen wir in voraussetzungen für die Erzeugung triftiger Argu-
der kommunikativen Alltagspraxis nicht umhin- mente (z. B. dürfen sich Sprecher nicht selbst wider-
können, ob wir es wollen oder nicht« (Habermas sprechen, oder verschiedene Sprecher nicht dieselben
1986, 368). Ausdrücke mit unterschiedlichen Bedeutungen ver-
wenden usw.). Auf der dialektischen Ebene der Pro-
zeduren sind die relevanten Voraussetzungen dieje-
Kommunikation und Diskurs
nigen, die einen unbeschränkten Wettbewerb um
Wenn dauerhafte Kommunikationspraktiken daher die besten Argumente ermöglichen (z. B. muss eine
das allgemeine Vertrauen erfordern, dass Sprecher den in Frage stehenden Geltungsansprüchen gegen-
die Geltungsansprüche, die sie mit ihren Sprechak- über hypothetische Einstellung eingenommen wer-
ten erheben, erforderlichenfalls mit guten Gründen den, und sämtliche Diskursteilnehmer müssen als
rechtfertigen könnten, dann muss die Fähigkeit zur wahrhaftig und zurechnungsfähig anerkannt wer-
Teilnahme an Argumentationspraktiken oder ›Dis- den). Auf der rhetorischen Ebene des Argumentati-
kursen‹ Teil der kommunikativen Kompetenz sein. onsprozesses schließlich bestehen die Argumentati-
Wie bereits angemerkt, stellen die drei universellen onsvoraussetzungen in denjenigen, die ein rational
Geltungsansprüche (Wahrheit, Richtigkeit und motiviertes Einverständnis ermöglichen. Dabei han-
Wahrhaftigkeit) und die mit ihnen korrelierten for- delt es sich um pragmatische Eigenschaften der Ar-
mellen Weltbegriffe (der objektiven, sozialen und gumentationspraxis wie die der Symmetrie der Teil-
subjektiven Welt) ein unter Sprechern für gewöhn- nehmer untereinander, die Gleichheit der Teilnah-
lich als geteilt unterstelltes Koordinatensystem dar, mechancen, die Abwesenheit von äußerem Zwang
welches Kommunikationsteilnehmern eine Eini- und Täuschung, die Offenheit gegenüber Kritik usw.
gung darüber erlaubt, was sie jeweils als Tatsache, Habermas bezeichnete die genannten Präsuppo-
gültige Norm oder subjektives Erlebnis ansehen kön- sitionen anfänglich als die Eigenschaften einer idea-
nen (TKH I, 69–70). Solange diese Einigung intakt lisierten Sprechsituation, nahm aber später immer
bleibt, können Sprecher mit ihren jeweiligen Sprech- mehr Abstand von dieser Formulierung, da sie zu
akten direkt Informationen über die Welt austau- der irrtümlichen Auffassung verleitet, dass diese Vo-
schen und danach handeln. Sobald ein solches Ein- raussetzungen lediglich für eine ideale Praxis konsti-
verständnis jedoch von einem Sprecher erfolgreich tutiv seien (oder gar für eine in Zukunft zu realisie-
in Frage gestellt worden ist, ist die routinemäßig in- rende Lebensform [vgl. VE, 181]) und nicht etwa in
formationsaustauschende Kommunikation unter- tatsächlichen Argumentationspraktiken operativ
brochen. Sie muss nun auf einer Handlungskontexte wirksam seien. Habermas zufolge handelt es sich bei
suspendierenden reflexiven Ebene fortgeführt wer- diesen Voraussetzungen nämlich aus begrifflichen
den, auf der die Kommunikationsteilnehmer den Gründen um unvermeidliche Präsuppositionen jeg-
problematisch gewordenen Geltungsansprüchen ge- licher tatsächlichen argumentativen Rechtferti-
genüber eine hypothetische Einstellung einnehmen gungspraxis. Da das Ziel jeglicher Rechtfertigung
können und versuchen können, zu einem auf guten begrifflich mit der Möglichkeit der Überzeugung
Gründen basierenden Einverständnis zu gelangen, derjenigen verknüpft ist, die sie verlangt haben, muss
5. Kommunikative Vernunft 181

jede Rechtfertigung unter solchen Bedingungen voraussetzungen und hat wiederholt den von Apel
stattfinden, in denen es möglich ist, festzustellen, verteidigten Standpunkt zurückgewiesen, dass man
wie überzeugend die vorgebrachten Argumente ei- mit einer solchen philosophischen Analyse apriori-
gentlich sind und d. h. unter zwangs-, täuschungs- sche Erkenntnisse erlangt, die eine Letztbegründung
und ausschließungsfreien Umständen. Wenn diese für Rationalitätsansprüche liefern könnten (s. Kap.
Bedingungen nicht gegeben sind, handelt es sich bei II.4). Habermas nach stellen die pragmatischen Re-
einer Praxis eben nicht um eine Argumentations- geln, die kompetenten Sprechern die Teilnahme an
und Rechtfertigungspraxis, sondern um etwas ande- Verständigungspraktiken ermöglichen, zwar allge-
res. In diesem Sinne müssen Argumentationsteil- mein unterstellte, aber nur de facto unhintergehbare
nehmer voraussetzen, dass diese Bedingungen in Bedingungen dar, die erfüllt sein müssen, damit be-
ausreichendem Maße erfüllt sind, damit ihre Argu- stimmte grundlegende Praktiken zustandekommen
mentationsabsichten überhaupt sinnvoll sind. Im können – d. h. solche Praktiken, für die es innerhalb
Anschluss an Apel vertritt Habermas die Ansicht, unserer soziokulturellen Lebensformen keine auch
dass man die Notwendigkeit und Unvermeidlichkeit nur denkbaren funktionalen Äquivalente gibt (NR,
von pragmatischen Argumentationsvoraussetzun- 30 ff.) Daher ähneln sie
gen mittels einer Analyse der performativen Selbst- »transzendentalen Bedingungen insofern, als wir uns beim
widersprüche aufweisen kann, in die man sich ver- verständigungsorientierten Sprachgebrauch gewissen all-
wickelt, wenn man eine solche Voraussetzung negiert gemeinen Präsuppositionen nicht entziehen können. An-
(vgl. MKH). Ein performativer Selbstwiderspruch dererseits sind sie nicht im strengen Sinne transzendental,
liegt dann vor, wenn der propositionale Gehalt und weil wir (a) auch anders als kommunikativ handeln können
und weil (b) die Unausweichlichkeit idealisierender Unter-
die pragmatische Bedeutung einer Äußerung mitei- stellungen nicht auch schon deren faktische Erfüllung im-
nander in Konflikt geraten. Ein Beispiel stellt der be- pliziert« (Habermas 1986, 346).
hauptend geäußerte Satz »Hiermit bezweifle ich
meine Existenz« dar. Da Äußern und Zweifeln die Der schwach transzendentale Status, den Habermas
Existenz des Sprechers voraussetzen, widerspricht normativen Kommunikationspräsuppositionen zu-
das Gesagte dem, was man mit der Äußerung zu tun schreibt, verleiht seinem Verständnis Kritischer The-
beansprucht. In analoger Weise behauptet Habermas orie nun zwei besondere Züge. Einerseits erhält Ha-
– angesichts der Tatsache, dass der Nichtausschluss bermas in dem Maße einen kritischen Maßstab zur
divergierender Argumente und die Zwangsfreiheit Bewertung tatsächlicher Praktiken, in dem diese
notwendige Voraussetzungen der Herausbildung normativen Präsuppositionen zwar für dauerhafte
echter Überzeugungen darstellen –, dass man sich in Kommunikationspraktiken unumgänglich sind, aber
performative Widersprüche verwickeln würde, wenn dennoch faktisch nicht unbedingt erfüllt sein müs-
man folgenden Satz zu begründen versucht: sen. Darüber hinaus ist dieser kritische Maßstab in
»Nachdem wir A, B, C …. von der Diskussion ausgeschlos- wirklichen Kommunikationspraktiken verankert
sen (bzw. zum Schweigen gebracht, bzw. ihnen unsere In- und daher Kommunikationsteilnehmern selbst intu-
terpretation aufgedrängt) hatten, konnten wir uns endlich itiv verfügbar. Damit entgeht er dem Einwand, dass
davon überzeugen, daß die Norm N zurecht besteht« es sich um einen vom Kritischen Theoretiker von
(MKH, 101). außen herangetragenen Standard handele, da die
Das hiermit umrissene Projekt einer rationalen Re- Triftigkeit dieses kritischen Maßstabes prinzipiell je-
konstruktion des die kommunikative Kompetenzen derzeit von den Teilnehmern selbst bestätigt oder
von Sprechern charakterisierenden intuitiven Wis- verworfen werden kann. Habermas bringt dies wie
sens wirft natürlich sofort auch die Frage nach dem folgt zur Geltung:
Status dieses Wissens auf. Sind die von einer formal- »Dieselben Strukturen, die Verständigung ermöglichen,
pragmatischen Analyse zu Tage geförderten unver- sorgen auch für die Möglichkeiten einer reflexiven Selbst-
meidlichen Argumentationsvoraussetzungen trans- kontrolle der Verständigungsvorgangs. Es ist dieses im
zendentale Bedingungen im streng Kantischen Sinne kommunikativen Handeln selbst angelegte Potential der
(d. h. notwendige und universelle Bedingungen der Kritik, das der Sozialwissenschaftler, indem er sich als vir-
tueller Teilnehmer auf die Kontexte des Alltagshandelns
Erfahrung)? Im Gegensatz zu dem ihn ursprünglich einläßt, systematisch nutzen und aus den Kontexten heraus
inspirierenden Entwurf einer ›Transzendentalprag- gegen deren Partikularität zur Geltung bringen kann« (TKH
matik‹ durch Karl-Otto Apel bestand Habermas im- I, 176; Hervorh. C. L.).
mer auf dem lediglich ›schwach transzendentalen‹
Status der Kommunikations- und Argumentations-
182 III. Texte

Auf der anderen Seite gelingt es Habermas durch die unter dem Druck neuer Einsichten Revisionen zu-
Zuweisung eines lediglich ›schwach transzendenta- lässt und auf diese Weise zunehmend besser begrün-
len‹ Status, den strikten Apriorismus der traditionel- dete Ergebnisse verspricht.
len Transzendentalphilosophie zurückzuweisen und Der Verfahrensbegriff kommunikativer Rationa-
dem falliblen Status des im Rahmen einer Kompe- lität bietet seinerseits eine interessante und komplexe
tenzrekonstruktion erhältlichen Wissens Rechnung Grundlage für die Erklärung der Möglichkeit sozia-
zu tragen. Auf diese Weise verwischt Habermas den ler Ordnung. Einerseits nämlich enthält sprachliche
vorgeblich kategorialen Unterschied zwischen Phi- Verständigung einen überaus wirksamen Mechanis-
losophie und rekonstruktiv verfahrenden Wissen- mus der Handlungskoordinierung, der die soziale
schaften wie der generativen Linguistik oder der Integration ermöglicht. Sprachliche Verständigung
Entwicklungspsychologie. Nichtsdestoweniger wi- erlaubt es Aktoren nämlich, ihre Handlungen auf
dersetzt sich Habermas aber auch der Ansicht, dass der Grundlage gegenseitig akzeptierbarer Geltungs-
man durch die Ablehnung eines privilegierten Zu- ansprüche zu koordinieren, die als solche in Argu-
gangs der Philosophie zu einem besonderen (und mentationspraktiken mit Gründen kritisiert oder
infalliblen) Wissen die Philosophie verabschieden gerechtfertigt werden können. Die von Gesprächs-
müsse (s. Kap. IV.26). Im Gegenteil ist es gerade die partnern gegenseitig angebotene Gewährleistung,
Zurückweisung einer solchen Sonderrolle für die dass sie die in ihren Sprechakten jeweils erhobenen
Philosophie, die die Einbeziehung der Philosophie Geltungsansprüche erforderlichenfalls durch über-
in die wissenschaftliche Kooperation möglich macht zeugende Gründe einlösen könnten, setzt mächtige
und ihr sogar erst die Schlüsselstellung in der Ver- und sozialintegrativ wirkende rationale Motivati-
mittlung zwischen als Expertenkulturen eingekap- onskräfte frei. Das durch die Prozesse der Konsens-
selten Wissenssystemen und dem intuitiven lebens- formierung generierte und verallgemeinerte Ver-
weltlichen Hintergrundwissen eröffnet (s. Kap. trauen von Gesprächspartnern in die gegenseitige
III.9). Zurechnungsfähigkeit wiederum resultiert in ver-
schiedenen Formen von Handlungskoordinierung
und damit von sozialer Ordnung.
Kommunikative Vernunft und Sozialtheorie
Andererseits jedoch ist kommunikativer Verstän-
Dem formalpragmatischen Ansatz zufolge ist die digung durch ihre Abhängigkeit von der permanent
Vernunft in verständigungsorientierten Alltagsprak- offenen Möglichkeit von Meinungsverschiedenhei-
tiken situiert, in denen die Möglichkeit des Errei- ten und Kritik ein Problematisierungspotential ei-
chens rationaler Ergebnisse unterstellt wird. Im gen, das die jeweils bestehende soziale Ordnung zu
Sinne des Verfahrensbegriffs kommunikativer Ver- gefährden vermag. Angesichts der mit solchen Dis-
nunft wird die rationale Akzeptierbarkeit unserer sensrisiken einhergehenden hohen Kosten kann
Überzeugungen umso mehr von der Rationalität un- kommunikatives Handeln somit zunächst eher als
serer Argumentationspraktiken abhängig, je weniger ein disruptiver Mechanismus denn als ein Erklä-
jene sich von a priori gegen Problematisierungen rungsmechanismus für soziale Ordnung erscheinen
immunen substantiellen Inhalten stützen lässt. Denn (ND, 85 f.). Dieser Einwand gegen den Entwurf einer
angesichts der unvermeidlichen Offenheit verstän- Sozialtheorie auf der Grundlage des Begriffs kom-
digungsorientierter Kommunikationspraktiken, in munikativen Handelns ist für Habermas keineswegs
denen erfolgreiche Verständigung von der ausdrück- triftig, sondern wird in der Theorie des kommunika-
lichen und zwangsfrei erreichten Zustimmung der tiven Handelns sogar für die Erläuterung des Stö-
Teilnehmer abhängt, lassen sich nur die formalen rungs- wie des Erklärungspotentials kommunikati-
Bedingungen rationalen Argumentierens im Vorhi- ver Rationalität für eine Theorie der Sozialentwick-
nein als notwendige Bedingungen des Zustande- lung nutzbar gemacht. Insofern die Annahme
kommens rational akzeptierbarer oder gerechtfer- plausibel ist, dass es für kommunikative, verständi-
tigter Ergebnisse betrachten. Der Grundeinsicht gungsorientierte Alltagspraktiken weder hinsicht-
dieser Herangehensweise nach sind unsere Überzeu- lich der Sozialisierung noch hinsichtlich der Repro-
gungen eben nicht deswegen rational, weil sie einem duktion der kommunikativ strukturierten Lebens-
System unrevidierbarer, letztbegründeter Überzeu- welt funktionelle Äquivalente gibt (ND, 97), kann
gungen entstammen oder angehören, sondern viel- das Kommunikationspraktiken eigene Störungspo-
mehr deswegen, weil sie Resultate eines offenen, tential für eine Erläuterung der für moderne Gesell-
selbstkorrigierenden Verfahrens sind, das beständig schaften charakteristischen Rationalisierung der Le-
5. Kommunikative Vernunft 183

benswelt fruchtbar gemacht werden. Diese Rationa- Kommunikative Vernunft und Moraltheorie
lisierung wird so in modernen Gesellschaften als ein
Prozess erkennbar, in dem die Reproduktion der Le- Kommunikative Vernunft als solche ist keine Form
benswelt immer weniger von normativ festgelegten praktischer Vernunft, denn sie umfasst das gesamte
und gegenüber Kritik immunen Bestandteilen und Spektrum von Geltungsansprüchen, also neben dem
immer mehr von durch die Beteiligten selbst erziel- Anspruch auf normative Richtigkeit von Interaktio-
ter kommunikativer Verständigung abhängt. Das nen auch den Anspruch auf propositionale Wahrheit
mit dieser Entwicklung verbundene erhöhte Dis- und den auf subjektive Wahrhaftigkeit. Habermas
sensrisiko wiederum erklärt den Bedarf und die Be- zufolge ermöglicht die kommunikative Vernunft
weggründe für die Entwicklung von Strategien so- zwar durchaus eine Orientierung an Geltungsan-
wohl der Eingrenzung als auch der Entschränkung sprüchen, aber im Unterschied zur klassischen Ge-
des im kommunikativen Handeln angelegten Risi- stalt der praktischen Vernunft ist die kommunika-
kos in modernen Gesellschaften. tive Vernunft keine Quelle von Handlungsnormen.
Ein Paradebeispiel von Entschränkungsstrategien Sie ist weder informativ noch unmittelbar praktisch
bietet sich in der Institutionalisierung von auf Dauer (FG, 18–9). Dadurch wird sie jedoch für die Moral-
gestellten Diskursen (wie der modernen Wissen- theorie keineswegs weniger bedeutsam.
schaften, des Rechts, der autonomisierten Künste Ein wichtiger Vorteil des Verfahrensbegriffs der
usw.), die gerade auf die kontinuierliche Thematisie- kommunikativen Rationalität besteht darin, dass die
rung und Problematisierung verschiedener Gel- formalen Charakteristiken, die er als notwendige Be-
tungsaspekte kultureller Wissenssysteme speziali- dingungen des Zustandekommens rationaler Resul-
siert sind. Ein Beispiel der Eingrenzungsstrategien tate von Argumentationspraktiken ausmacht, hin-
stellt die Entwicklung alternativer Steuerungsme- sichtlich der Inhalte (d. h. der Fragen) neutral sind,
chanismen wie Geld und Macht dar, deren standar- bezüglich derer der Vollzug von Rechtfertigungen
disierende Struktur Handlungskoordination von ge- sinnvoll ist. Der formalpragmatische Ansatz ist ja ge-
genseitigem Einverständnis unabhängig macht und rade motiviert durch den Bedarf nach einer Unter-
somit die Aufrechterhaltung sozialer Ordnung durch scheidung zwischen einer prozeduralen Konzeption
die Verminderung von Dissensrisiken vereinfacht (s. rationaler Akzeptierbarkeit und den unterschiedli-
Kap. III.10). Ein Beispiel für das Zusammenspiel von chen substantiellen Rechtfertigungskriterien, die in
Strategien der Eingrenzung und der Entschränkung spezifischen Argumentationspraktiken verwendet
des im kommunikativen Handeln angelegten Dis- werden. Während letztere (wegen der Verschieden-
sensrisikos entwickelt Habermas in seiner Auffas- heit der jeweils behandelten Fragen) kontextuell und
sung des modernen positiven Rechts in Faktizität (wegen des Ablaufens von Lernprozessen) historisch
und Geltung, wo das Recht als ein System von Regeln variieren, lässt sich ersterer in rein formalen Begrif-
konzipert wird, das beide Strategien verbindet und fen charakterisieren, indem man die unvermeidli-
zugleich arbeisteilig differenziert. Einerseits nämlich chen Voraussetzungen von Argumentationsprakti-
schränkt das moderne Recht durch seine Positivität ken überhaupt spezifiziert, die als solche kulturell in-
das Dissensrisiko ein, indem es Überzeugungen variant sind. In diesem letzteren Sinne gesehen ist
durch Sanktionen ersetzt, so dass die Motive der Re- unser Begriff rationaler Akzeptierbarkeit im Grunde
gelbefolgung zwar freigestellt, die Befolgung selbst prozedural. Denn wenn die Korrektheit unserer
(und die damit einhergehende soziale Koordinie- Überzeugungen nur aus der Überzeugungskraft un-
rungsleistung) allerdings erzwungen wird. Anderer- serer Gründe ersichtlich ist, und wenn keine sub-
seits jedoch muss das moderne Recht in Verfolgung stantiellen Rechtfertigungskriterien a priori vor
seines eigenen Legitimitäts- und damit Begrün- Problematisierungen gefeit sind, dann folgt, dass die
dungsanpruchs das Risiko der kritischen Überprü- Überzeugungskraft unserer Gründe nur aus den Re-
fung und des potentiellen Widerspruchs diskursiv sultaten eines rationalen Argumentationsprozesses
auf Dauer stellen und als Produktivkraft einer prä- hergeleitet werden kann, d. h. aus den Resultaten ei-
sumtiv vernünftigen politischen Meinungs- und nes unter den Bedingungen einer ›idealen Sprechsi-
Willensbildung nutzbar machen (s. Kap. III.13). tuation‹ (zwangs-, täuschungs- und ausschlussfrei
usw.) ablaufenden Prozesses (NR, 45–48).
Dank der gerade umrissenen inhaltlichen Neu-
tralität eröffnet der formalpragmatische Ansatz die
Möglichkeit einer Rationalitätstheorie, die über die
184 III. Texte

engen Grenzen des Begriffs instrumenteller Ratio- eines positivistischen Rationalitätsverständnisses,


nalität hinausreicht und damit nicht nur Fragen der dem zufolge es auf praktische Fragen prinzipiell
Wahrheit oder der Effizienz erfasst, sondern auch keine eigentlich rationalen Antworten geben kann.
alle weiteren Fragen, bezüglich derer die Kommuni- Wenn Argumentationsteilnehmer jedoch die Rich-
kationsteilnehmer bereit sind, einen Argumentati- tigkeit sozialer Normen betreffende praktische Fra-
onsprozess mit dem Ziel einzugehen, sich durch das gen als kognitive Fragen behandeln, und wenn die
Herbeibringen stützender oder kritischer Gründe diskurstheoretische Auffassung rationaler Akzep-
über umstrittene Geltungsansprüche zu einigen. Am tierbarkeit zutrifft, dann stellen ja die in der Theorie
Leitfaden seiner Analyse der drei dem kommunika- kommunikativer Rationalität analysierten diskursi-
tiven Handeln innewohnenden Geltungsansprüche ven Bedingungen rationaler Akzeptierbarkeit ge-
– Wahrheit, normative Richtigkeit und Wahrhaftig- nausosehr notwendige Bedingungen für die Geltung
keit – entfaltet Habermas eine Typologie von Dis- unserer Ansprüche auf begründetes Wissen hin-
kursen, in denen jeder Geltungsanspruch hypothe- sichtlich der Richtigkeit sozialer Normen dar, wie
tisch geprüft und entweder angegriffen oder begrün- dies auch für alle anderen Ansprüche auf begründe-
det werden kann. Obwohl er dabei im Laufe der tes Wissen der Fall ist. An diesem Punkt wird nun
Jahre kleinere Modifikationen in der Zuordnung von auch die spezifische Wirkung der Theorie kommu-
Geltungsansprüchen und spezifischen Argumentati- nikativer Rationalität auf Habermas’ Moraltheorie
onsformen vorgenommen hat (VE, TKH etc.), bleibt (d. h. die Diskursethik) sichtbar. Insofern nämlich
sie in ihren Grundzügen stabil. Während der An- die diskurstheoretische Auffassung rationaler Ak-
spruch auf Wahrhaftigkeit seiner subjektiven Äuße- zeptierbarkeit sich nicht moralischen Gründen ver-
rungen von Seiten eines Sprechers keiner argumen- dankt, kann diese umgekehrt für eine unabhängige
tativen Einlösung fähig ist (und somit sich nur mit- Begründung der Diskursethik herangezogen wer-
tels der Überprüfung der Konsistenz zwischen den. Da nämlich die in der Theorie der kommunika-
Sprecherintentionen und darauffolgenden Handlun- tiven Rationalität enthaltenen Anforderungen an ra-
gen bemessen lässt), sind sowohl der Wahrheitsan- tionale Akzeptierbarkeit sich nicht auf moralische,
spruch empirischer Aussagen als auch der auf nor- sondern auf kognitive Gründe stützen, sind die für
mative Richtigkeit sozialer Beziehungen einer dis- die Aufrechterhaltung rational akzeptierbarer Argu-
kursiven Einlösung fähig. Sie sind in theoretischen mentationsprozeduren notwendigen Grundlagen
bzw. praktischen Diskursen überprüfbar. Letztere ihrereseits neutral gegenüber den in solchen Proze-
unterliegen den gleichen durch das Verfahren erfor- duren verhandelten Inhalten oder Fragestellungen.
derlichen normativen Unterstellungen, allerdings Daher setzt die Diskursethik keine bestimmte mora-
unterscheiden sie sich hinsichtlich der jeweils ein- lische Sichtweise voraus, wenn sie sich auf diese for-
schlägigen Argumentationsregel. Während Diskurse malen Grundlagen stützt. Allerdings ergeben sich
über die Wahrheit empirischer Aussagen vom In- aus diesen formalpragmatischen Grundzügen um-
duktionsprinzip geleitet sind, richten sich praktische gekehrt Anforderungen an die Antworten, die in Re-
Diskurse über die Richtigkeit sozialer Normen nach aktion auf moralische Fragen als rational akzeptier-
einem Universalisierungsprinzip (s. Kap. III.11). bar betrachtet werden können. Und genau hierin
Im Einklang mit dem formalpragmatischen An- zeigen sich ihre Auswirkungen auf die Moral: Unter
satz geht es Habermas bei seiner Darstellung theore- Zugrundelegung der unvermeidlichen normativen
tischer und praktischer Diskurse nicht um die An- Argumentationsunterstellungen lässt sich nämlich
gabe substantieller Kriterien, die hinreichend für recht einfach einsehen, weswegen die (unter den his-
den argumentativen Erhalt wahrer Überzeugungen torischen Bedingungen einer gegebenen Vielfalt mo-
oder korrekter Normen in Diskursen wären, son- ralischer Verhaltenskodexe verlaufenden) Rechtfer-
dern um eine Aufklärung der Bedingungen, unter tigungspraktiken für moralische Normen die Ent-
denen solcherlei Kriterien (sowie Argumente, wicklung unserer moralischen Ansichten in die
Gründe usw.) rechtfertigende Kraft entwickeln kön- Richtung einer zunehmend egalitären, prinzipienge-
nen. Ziel dabei ist es, zu zeigen, wie die allgemeinen leiteten Moral gelenkt haben (s. Kap. III.11).
diskurskonstitutiven Bedingungen rationaler Ak- In den 1970er und 1980er Jahren verfolgte Haber-
zeptierbarkeit den Bereich möglicher Antworten auf mas eine entschieden antirealistische Strategie zur
theoretische wie auch praktische Fragen umreißen. Stützung der durch die Formalpragmatik nahegeleg-
Hierbei handelt es sich zugleich um den entschie- ten engen Analogie zwischen Wahrheits- und Rich-
denden argumentativen Schritt für die Entkräftung tigkeitsanspruch. Dieser Strategie zufolge kann der
5. Kommunikative Vernunft 185

unbedingte und kontexttranszendente Sinn der bei- Kommunikative Vernunft und politische Theorie
den Geltungsansprüche der Wahrheit und der nor-
mativen Richtigkeit mit dem Begriff ›idealisierter ra- Während der 1990er Jahre begann Habermas mit der
tionaler Akzeptierbarkeit‹ erläutert werden. Dies Ausweitung und Weiterentwicklung der diskurstheo-
wiederum führte dazu, dass Habermas eine soge- retischen Auffassung kommunikativer Vernunft für
nannte Konsenstheorie der Wahrheit vertrat, der zu- die Zwecke der Rechts- und politischen Theorie. Den
folge »die Wahrheit einer Proposition das Verspre- Höhepunkt dieser Entwicklung stellt das Werk Fakti-
chen [meint], einen vernünftigen Konsensus über zität und Geltung dar (s. Kap. III.13). Die damit voll-
das Gesagte zu erzielen« (VE, 137). In den 90er Jah- zogene Erweiterung führte in der Folge zu einer we-
ren nahm Habermas diese Wahrheitskonzeption zu- sentlich komplizierteren und differenzierteren Auf-
rück (vgl. WR, 50 ff.) und gestand ein, dass Wahrheit fassung von Richtigkeitsansprüchen innerhalb der
Formalpragmatik, und machte feinere Unterschei-
»[…] ein rechtfertigungstranszendenter Begriff [ist], der dungen innerhalb des weiten Bergiffs normativer
auch nicht mit dem Begriff ideal gerechfertigter Behaupt- Richtigkeit erforderlich, um den unterschiedlichen
barkeit zur Deckung gebracht werden kann. Er verweist
vielmehr auf Wahrheitsbedingungen, die gewissermassen
Geltungsdimensionen sozialer Normen (moralische,
von der Realität selbst erfüllt werden müssen« (WR, 284 f.). rechtliche oder ethisch-politische Gültigkeit, legi-
time Geltung usw.) gerecht zu werden. Dies wiede-
Im Gegensatz zu seiner früheren Auffassung vertritt rum führte zur Einsicht in den Bedarf nach einer
er in Bezug auf in theoretischen Diskursen prüfbare trennschärferen Fassung der Unterscheidung zwi-
und rechtfertigbare Wahrheitsansprüche heute eine schen dem moralischen Universalisierungsprinzip
Position, die er »pragmatischen epistemologischen und dem Diskursprinzip sowie nach einem neuen
Realismus« nennt (WR). Diese Position zielt darauf Prinzip, dem Demokratieprinzip, welches ein Ver-
ab, den aus unserem praktischen Umgang mit der fahren legitimer Rechtsetzung festlegt. Es besagt,
objektiven Welt resultierenden realistischen Intuiti- dass »[…] nur die juridischen Gesetze legitime Gel-
onen Rechnung zu tragen, ohne in einen metaphysi- tung beanspruchen dürfen, die in einem ihrerseits
schen Realismus zurückzufallen, der auf der An- rechtlich verfaßten diskursiven Rechtsetzungprozeß
nahme einer direkten, durch Gründe ungefilterten die Zustimmung aller Rechtsgenossen finden kön-
Korrespondenz zwischen einer privilegierten Unter- nen« (FG, 141). Dieses Prinzip drückt in aller Klar-
menge von Aussagen und dem Aufbau der Welt be- heit aus, inwiefern der Verfahrensbegriff kommuni-
ruhen würde. Nichtsdestoweniger vertritt Habermas kativer Rationalität direkt ein normatives Modell
im Hinblick auf den moralischen Richtigkeitsan- deliberativer Demokratie untermauert. Denn die
spruch nach wie vor eine entschieden antirealisti- normativen Voraussetzungen von Argumentations-
sche Position, die normative Richtigkeit mittels des praktiken (d. h. Symmetrie der Teilnehmer unterein-
Begriffs idealisierter rationaler Akzeptierbarkeit er- ander, gleiche Teilnahmechancen, Inklusion,
läutert. In diesem Sinne führt er aus: Zwangs- und Täuschungsfreiheit, Kritikoffenheit
»[…] ideal gerechfertigte Behauptbarkeit ist das, was wir usw.) weisen unmittelbar auf diejenigen Bedingun-
mit moralischer Geltung meinen […] Die ideal gerechtfer- gen hin, die erfüllt sein müssen, damit der Ablauf
tigte Behauptbarkeit einer Norm weist nicht – wie im Falle von öffentlich-deliberativen Meinungs- und Willens-
eines rechtfertigungstranszendenten Wahrheitsanspruchs bildungsprozessen in demokratischen Staaten politi-
– über die Grenzen des Diskurses hinaus auf etwas hin, das schen Entscheidungen Legitimität verleihen kann,
unabhängig von der festgestellten Anerkennungswürdig-
keit ›Bestand‹ haben könnte. Die Rechtfertigungsimma-
indem die Einhaltung ersterer zu der Annahme be-
nenz von Richtigkeit stützt sich auf ein sinnkritisches Ar- rechtigt, dass letztere vernünftig sind. In diesem Zu-
gument: weil die ›Geltung‹ einer Norm darin besteht, daß sammenhang zeigen sich die Vorteile des Verfah-
diese unter idealen Rechtfertigungsbedingungen akzep- rensbegriffs kommunikativer Rationalität in aller
tiert, d. h. als gültig anerkannt würde, ist ›Richtigkeit‹ ein Deutlichkeit, denn die für die Aufrechterhaltung von
epistemischer Begriff« (WR, 297 f.; s. Kap. III.11).
Argumentationspraktiken unverzichtbaren formal-
Die Folgen dieser Durchbrechung der engen Analo- pragmatischen Voraussetzungen können von allen
gie zwischen Wahrheits- und Richtigkeitsanspruch demokratischen Bürgern trotz ihrer in pluralisti-
für die Aufrechterhaltung des Kernstücks der Kon- schen Gesellschaften unweigerlich auftretenden sub-
zeption kommunikativer Vernunft, nämlich der for- stantiellen Meinungsverschiedenheiten gleicherma-
malpragmatischen Bedeutungstheorie, sind bislang ßen als rational erkannt werden. Dieser Grundzug
ungeklärt. erklärt ebenso die Fruchtbarkeit des Diskursmodells
186 III. Texte

in den aktuellen Diskussionen zur normativen De- schen) Charakters des Wissens, in dem diese sich
mokratietheorie wie auch in empirischen Arbeiten manifestieren, der Kritik aus diametral entgegenge-
zur politischen Deliberation in gegenwärtigen De- setzten philosophischen Richtungen. Auf der einen
mokratien, in denen es unter anderem darum geht, Seite stehen diejenigen (wie Apel 1992; Kuhlmann
spezifische Vorschläge zur Verbesserung bestehen- 1984; s. Kap. II.4), für die die Verteidigung des erste-
der politischer Institutionen zu machen. Im Gegen- ren nur dann sinnvoll ist, wenn man zumindest für
satz zu eher substantiellen normativen Ansätzen philosophische Wissensansprüche weiterhin einen
stellen sich formalpragmatische Voraussetzungen öf- stark transzendentalen Status beansprucht, der es
fentlicher Deliberation nicht nur als weniger um- zur Bereitstellung von Letztbegründungen befähigt.
stritten heraus, sondern lassen sich auch im Rahmen Auf der anderen Seite finden sich diejenigen (wie
der Analyse der normativen Qualität tatsächlicher Rorty 1994), für die der Fallibilismus die Annahme
Deliberationsprozesse wie z. B. parlamentarischer eines solchen philosophischen Sonderwissens sinn-
Debatten oder internationaler Verhandlungen leich- los macht, die allerdings daraus auf die Forderung
ter zurückverfolgen. Ein interessantes Beispiel einer nach dem radikalen Verzicht auf jegliche kontext-
solchen empirischen Anwendung des Verfahrensbe- transzendente Ansprüche auf Universalität und Not-
griffs diskursiver Rationalität in politischem Zusam- wendigkeit schließen.
menhang bietet der Diskurs-Qualitätsindex von J. Auch das der Konzeption kommunikativer Ver-
Steiner, A. Bächtiger, M. Spörndli und M. R. Steen- nunft zugrundeliegende formalpragmatische Pro-
bergen (2004). Einen Überblick über die Fruchtbar- gramm hat in den vergangenen Jahrzehnten Anlass
keit des Diskursmodells für die empirische Politik- zu zahlreichen Diskussionen und Kontroversen ge-
wissenschaft findet sich in den Beiträgen im Sonder- geben, die ihrereseits für seine Weiterentwicklung
band der Acta Politica 40 (2005) und in Ach, Europa. und Verfeinerung produktiv gewesen sind. Am
Eine interessante Diskussion der möglichen Rolle wichtigsten in diesem Zusammenhang sind wohl die
kommunikativer Rationalität für die Analyse inter- Diskussionen um verschiedene technische Aspekte
nationaler Politik findet sich bei Niesen/Herborth des sprechakttheoretischen Anteils der Theorie (wie
2007. z. B. über die Schwierigkeiten für die Formalpragma-
tik, sogenannten Perlokutionen, Drohungen oder
einfachen Imperativen Rechnung zu tragen vgl. Skjei
Rezeption und Kontroversen
1985; Tugendhat 1985; Zimmerman 1985; einige
Da die Konzeption kommunikativer Vernunft das Antworten finden sich in ND, 63–104 und WR), die
Herzstück der Habermas’schen Theoriebildung dar- Diskussionen über die Spezifika der Durchführung
stellt, hat sie von Anfang an im Mittelpunkt der Auf- einer formalpragmatischen Bedeutungstheorie (vgl.
merksamkeit, aber auch der kritischen Kontroverse Wellmer 1992; Lafont 1999; Heath 2001) sowie die
gestanden. Aus inhaltlicher Perspektive lassen sich Diskussionen über der Diskurstheorie der Wahrheit
grob zwei Hauptrichtungen der Kritik unterschei- (McCarthy 1973; Hesse 1980; Wellmer 1986; Lafont
den: Auf der einen Seite steht der Widerstand gegen 1994 und 1999). Habermas’ derzeitige in Antwort
die Verlagerung des Sitzes der Rationalität vom den- auf solche Kritiken entwickelten Ansichten zu all
kenden und handelnden Subjekt weg und in die in- diesen Themen finden sich in Wahrheit und Recht-
tersubjektiven Strukturen sprachlicher Kommuni- fertigung.
kation hinein (Henrich 1987, 1992; Schnädelbach
1992). Auf der anderen Seite steht die Befürchtung,
Literatur
dass eine solche Verlagerung zu einer unplausiblen
Gleichsetzung der Rationalität mit der Fähigkeit ver- Apel, Karl-Otto: »Sprechakttheorie und transzendentale
Sprachpragmatik zur Frage ethischer Normen«. In:
führt, Überzeugungen und Handlungen mit Grün-
Ders.: Sprachpragmatik und Philosophie. Frankfurt a. M.
den zu rechtfertigen, und sich damit einer Überin- 1976, 10–173.
tellektualisierung der Vernunft schuldig macht (vgl. –: »Normative Begründung der ›Kritischen Theorie‹ durch
Schnädelbach 1992; eine ausführliche Replik findet Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit? Ein transzenden-
sich in WR, 102–137). Aus methodologischer Per- tal-pragmatisch orientierter Versuch, mit Habermas ge-
gen Habermas zu denken«. In: Honneth/McCarthy/Offe
spektive öffnet sich Habermas’ Versuch der Verteidi-
1992, 15–65.
gung sowohl des universalen und notwendigen Austin, John L.: Zur Theorie der Sprechakte. Stuttgart
Charakters der Voraussetzungen kommunikativer 1972.
Vernunft als auch des lediglich falliblen (aposteriori- Bächtiger, André/Steiner, Jürg (Hg.): Empirical Approaches
5. Kommunikative Vernunft 187

to Deliberative Democracy. Sonderheft Acta Politica 40, 2 –: Intentionality. Cambridge, Mass. 1983.
(Juli 2005). Skjei: »A Comment on Performative, Subject, and Proposi-
Cooke, Maeve: Language and Reason: A Study of Habermas’s tion in Habermas’s Theory of Communication«. In: In-
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–: »What is a Theory of Meaning? (II)«. In: Gareth Evans/ Thompson, John/Held, David (Hg.): Habermas: Critical
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67–137. –: »Universal Pragmatics«. In: Thompson/Held 1982, 116–
Habermas, Jürgen/Henrich, Dieter/Luhmann, Niklas (Hg.): 133.
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Hesse, Mary: »Habermas’s Consensus Theory of Truth«. In:
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Honneth, Axel/Joas, Hans. Kommunikatives Handeln.
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Honneth, Axel/McCarthy, Thomas/Offe, Claus u. a. (Hg.):
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188 III. Texte

6. Spätkapitalismus These, mit Sozialstaat und Keynesianismus könne


die endgültige Befriedung sozialer Konflikte und die
und Legitimation Aufhebung von ökonomischen Krisen gelingen,
Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus wird die innere Krisenhaftigkeit des Kapitalismus
(1973) betont. In einem »Exkurs über Grundannahmen des
Historischen Materialismus« (Habermas in: Haber-
Die 1973 veröffentlichten Legitimationsprobleme im mas/Luhmann 1971, 285–290) und in der Einleitung
Spätkapitalismus (LS) stellen den Plan oder, wie Ha- zur Neuausgabe von Theorie und Praxis 1971 be-
bermas schreibt, die »Argumentationsskizze« einer nennt Habermas bereits das entscheidende Thema
umfassenden Gesellschaftstheorie dar (LS, 7). Das seiner Krisentheorie, den »chronischen Bedarf an
Buch entwickelt eine Theoriearchitektur, die in eini- Legitimation« (TP 1971, 13). Legitimationsprobleme
gen wichtigen Grundelementen die Werkentwick- im Spätkapitalismus rückt an die Stelle der »Ideolo-
lung bis zur »Theorie kommunikativen Handelns« gie« das Konzept der »Legitimation« ins Zentrum ei-
bestimmt. Entstanden ist Legitimationsprobleme im ner Krisentheorie, die die Grundannahmen des da-
Spätkapitalismus als Programmschrift für die Ar- mals verbreiteten orthodox-marxistischen Denkens
beitsplanung des Starnberger Max-Planck-Instituts destruieren wollte. Weder der Fall der Profitrate
zur Erforschung der Lebensbedingungen der wis- noch der Kampf der Arbeiterklasse und auch nicht
senschaftlich-technischen Welt, dessen Leitung Jür- das ökonomische Versagen eines kapitalistisch agie-
gen Habermas 1971 zusammen mit Carl-Friedrich renden Staates kommen für Habermas in Betracht,
von Weizsäcker angetreten hatte. Legitimationspro- fragt man nach den Grenzen des gegenwärtigen Ge-
bleme im Spätkapitalismus nimmt wesentliche An- sellschaftssystems. Die Krisenhaftigkeit resultiert
regungen aus den Anfangsdiskussionen mit den vielmehr daraus, dass nicht Ideologien als variables
Mitarbeitern am Institut auf (insbesondere Claus Pendant der ökonomischen Entwicklung existieren
Offe, Gertrud Nunner-Winkler, Rainer Döbert und und zur Manipulation eingesetzt werden können,
Klaus Eder), führt aber insbesondere die Ansätze sondern Legitimationen einer eigenen Logik norma-
aus den bisherigen sozial- und politiktheoretischen tiver Strukturen folgen, so dass systemerforderliche
Ansätzen in Habermas’ Schriften zum ersten Ver- Motivationen gerade nicht beliebig zur Verfügung
such einer umfassenden Gesellschaftstheorie zu- stehen.
sammen, die neben der Auseinandersetzung mit Die zweite grundlegende Diskussionslinie ist die
den aktuellen politischen Entwicklungen im Gefolge Beschäftigung mit der Luhmann’schen Systemtheo-
der Studentenbewegung insbesondere von der Be- rie allgemein und speziell seinem Werk »Legitima-
schäftigung mit der Marx’schen Krisentheorie und tion durch Verfahren« (Luhmann 1969). Die in The-
der Abgrenzung zu Luhmanns Systemtheorie moti- orie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie von 1971
viert ist. intensiv geführte Debatte mit Luhmann führt in Le-
Bereits in der Auseinandersetzung mit Herbert gitimationsprobleme im Spätkapitalismus schließlich
Marcuse (veröffentlicht in Technik und Wissenschaft zu einer intensiven Nutzung systemtheoretischer
als Ideologie) hatte Habermas eine Übersicht mögli- Kategorien insbesondere in makrosoziologischer
cher Entwicklungstendenzen des Kapitalismus vor- Perspektive (unter partiellem Rückbezug auf die Sys-
gelegt, die von marxistischen Ansätzen in zwei temtheorie von Talcott Parsons) bei strikter Ableh-
Punkten grundlegend abwich: »Die kapitalistische nung der philosophisch-normativen und mikroso-
Gesellschaft hat sich […] so verändert, daß zwei ziologischen Grundlagen der Systemtheorie, die auf
Schlüsselkategorien der Marxschen Theorie, näm- der Ablösung normativer Strukturen als Grundlage
lich Klassenkampf und Ideologie, nicht mehr um- gesellschaftlicher Integration durch Imperative der
standslos angewendet werden können« (TW, 84). bloßen Komplexitätsbewältigung beruht.
Gleichwohl hält Habermas an der Annahme der Kri- Das Buch gliedert sich in drei Teile. Habermas
senhaftigkeit und der Möglichkeit einer Überwin- klärt im ersten Teil von Legitimationsprobleme im
dung der kapitalistischen Gesellschaftsform fest, Spätkapitalismus den Begriff der Krise und liefert
auch wenn kein Konzept einer anderen, ›sozialisti- eine rudimentäre Theorie sozialer Evolution, die ge-
schen‹ Gesellschaft gezeichnet wird, so im Vortrag gen ein objektivistisch-ökonomistisches Verständnis
»Bedingungen für eine Revolutionierung spätkapi- von Krise gerichtet ist. Im zweiten Teil werden Hy-
talistischer Gesellschaften« aus dem Jahre 1968 (KK, pothesen zu Krisentendenzen im Spätkapitalismus
70–86). Gegen die in den 1960er Jahren verbreitete geprüft mit dem Ergebnis, gerade nicht die ökono-
6. Spätkapitalismus und Legitimation 189

mischen oder staatlichen Steuerungsprobleme als Erfassung des realen Zusammenspiels von Sozial-
kritische Faktoren auszuweisen, sondern die Zufuhr und Systemintegration und theoretisch um die Zu-
an Legitimation, um im dritten Teil das skeptische sammenführung der vereinseitigten sozialwissen-
Argument der Möglichkeit des Verzichts auf an- schaftlichen Theorietraditionen. So wird soziale
spruchsvolle rationale Legitimation durch die Ver- Integration mit Konzepten wie Institution, Verge-
knüpfung von Diskurs- und Gesellschaftstheorie zu- sellschaftung, Handeln, Normen, Werte, Lebenswelt
rückzuweisen. erfasst (u. a. Berger/Luckmann 1969). Die Systemin-
tegration wird dagegen analysiert in Termini der
Selbstregulation, Komplexitätsbewältigung, Steue-
Krisenbegriff und Gesellschaftstheorie
rung und Kontingenz. Allein in der Theorie von Tal-
Bereits mit der Klärung des Begriffs der Krise, aus- cott Parsons finden sich beide Traditionslinien, die
gehend vom medizinischen Verständnis, nimmt Ha- über das berühmte vierteilige AGIL-Funktions-
bermas eine zentrale Weichenstellung vor: Krise ist schema zusammengeführt werden (LS, 14). Haber-
für ihn kein rein objektiver Prozess, sondern betei- mas nähert sich durch den Anspruch, System- und
ligt die Person in ihrer ganzen Subjektivität durch Sozialintegration zusammenführen zu wollen, die-
den Zustand der Ohnmacht. »Mit Krisen verbinden ser Denktradition Parsons an, die in den frühen
wir die Vorstellung einer objektiven Gewalt, die ei- 1970er Jahren in der Soziologie gerade stark an Ein-
nem Subjekt ein Stück Souveränität entzieht, die ihm fluss verlor.
normalerweise zusteht« (LS, 10). Die Lösung der Allerdings arbeitet Habermas in Legitimations-
Krise ist daher eine Befreiung, der Krisenbegriff er- probleme im Spätkapitalismus zunächst mit einem
hält einen normativen Sinn. Habermas entwickelt von Claus Offe übernommenen Modell weiter, das
seine Krisenkonzeption zunächst auf der Basis der drei Funktionssysteme kennt: das ökonomische Sys-
Systemtheorie, obwohl diese den normativen Sinn tem, das politisch-administrative System und das so-
des Krisenbegriffs verfehlt: Systemtheoretisch wer- ziokulturelle System. Diesen drei Systemen werden
den Krisen definiert als Störungen der Systeminte- drei Dimensionen sozialer Evolution zugeordnet: die
gration (LS, 11), als Situationen, die entstehen, wenn Entfaltung der Produktivkräfte, die Zunahme an
Probleme der Bestandserhaltung nicht mehr durch Systemautonomie (Macht) und die Veränderung
die systemeigenen strukturellen Möglichkeiten be- normativer Strukturen. Diese evolutionäre Perspek-
wältigt werden können. Diese gänzlich objektivisti- tive ist erforderlich, um zwischen Strukturwandlun-
sche Vorstellung scheitert bereits daran, dass be- gen als Variationen innerhalb einer weiterhin fortbe-
standsnotwendige Elemente eines Systems sich nicht stehenden Gesellschaftsformation und solchen, die
von solchen unterscheiden lassen, die auch ohne zur Überwindung einer gegebenen Gesellschafts-
Identitätsverlust des Systems geändert werden kön- struktur führen, unterscheiden zu können. Das hat
nen. Deshalb fordert Habermas den Übergang zu auch die Marx’sche Theorie der Gesellschaftsforma-
einer Krisenkonzeption ein, die auf die Sozialinte- tionen geleistet. Doch will Habermas neben den
gration einer Gesellschaft abstellt: »Erst wenn die nicht-normativen Forderungen der Systemintegra-
Gesellschaftsmitglieder Strukturwandlungen als be- tion auch die kulturellen Werte (Sozialintegration)
standskritisch erfahren und ihre soziale Identität be- als Kernbestand einer Formation verstehen und ent-
droht fühlen, können wir von Krisen sprechen« (LS, wickelt zu diesem Zweck den Begriff des Organisati-
12). Störungen der Systemintegration sind nur dann onsprinzips. Organisationsprinzipien bestimmen als
bestandsgefährdend, wenn die Grundlagen sozialer hochabstrakte Regelungsstrukturen die Lernkapazi-
Integration, die normativen Strukturen einer Gesell- tät einer Gesellschaft, ohne ihre Identität zu verlie-
schaft, in Gefahr sind. Eine Krisentheorie muss da- ren (Entwicklungsniveau), und legen die Variations-
her erfassen, welche systemischen Steuerungspro- spielräume in den drei Dimensionen der Evolution:
bleme Folgen erzeugen, die die soziale Integration Entfaltung der Produktivkräfte, Zuwachs an Steue-
gefährden. Damit regiert der Unterschied von Sys- rungskapazität und Veränderungen der identitäts-
tem- und Sozialintegration, später in die Differenz stiftenden Deutungssysteme fest. Die Wahl des Be-
von System und Lebenswelt transferiert, die Theo- griffs ›Organisationsprinzip‹ als Zentralbegriff einer
riearchitektonik – immer eine Asymmetrie mitden- Theorie sozialer Evolution beruht auf der Annahme,
kend, die der Sozialintegration den gesellschaftsthe- dass es mindestens drei universale Eigenschaften
oretischen Vorrang als Basis sozialen Zusammenle- oder Konstituentien gesellschaftlicher Systeme (LS,
bens gibt. Zugleich geht es Habermas aber um die 19–20) gibt.
190 III. Texte

1. Produktion als Austausch mit der äußeren Na- Systemautonomie, aber die Variation der Sollwerte
tur und Sozialisation als Aneignung der inneren Na- wird beschränkt von der Entwicklungslogik norma-
tur sind die beiden wesentlichen Beziehungen zwi- tiver Strukturen, auf die kein Zugriff seitens der
schen Gesellschaftssystem und Umwelt. Über neues Ökonomie besteht. So kann es sein, dass die Ent-
technisch verwertbares Wissen kann die Kontrolle wicklung der Normsysteme die Systementwicklung
über die äußere Natur erhöht werden, durch die ver- befördert, sie kann aber auch ein Entwicklungshin-
feinerte Interpretation der Bedürfnislagen verwan- dernis bilden. So kann die Steigerung der Produktiv-
deln sich Gefühle in Richtung universalistischer kräfte zwar eine Veränderung normativer Struktu-
Normen und reflektierter Werte, die eine erhöhte ren auslösen, deren Entwicklung folgt dann aber
Vergesellschaftung der inneren Natur ermöglichen. einer eigenen Logik mit der Folge, dass das Gesell-
Produktion wie Sozialisation folgen einer eigenen schaftssystem in der Dimension Systemautonomie
Entwicklungslogik, folgen rational nachkonstruier- durch neue Legitimationsansprüche begrenzt und
baren Mustern, weil sie sich des Mediums wahrheits- überfordert wird. Genau das, so Habermas, ist im
fähiger Aussagen (Produktion) und rechtfertigungs- Spätkapitalismus der Fall. Die normativen Struktu-
bedürftiger Normen (Sozialisation) bedienen. Dass ren bilden mithin das eigentliche Hindernis einer
wissenschaftlich-technische Entwicklung ein gerich- Perpetuierung des bestehenden gesellschaftlichen
teter, rational nachkonstruierbarer und nicht-um- Systems. Sie bilden durch ihre Eigenentwicklung ein
kehrbarer Prozess ist, konnte dabei als weithin aner- Hemmnis der Machtentfaltung des gegebenen Sys-
kannte These gelten. Dagegen ist die Annahme einer tems. Statt wie im marxistischen Modell die Produk-
Eigenlogik von normativen Strukturen jene neue tionsverhältnisse negativ als hinderlichen Überbau
und starke Behauptung, die Habermas in die Diskus- freier Entwicklung der Produktivkräfte zu sehen,
sion erst einführt. Die Eigenlogik-These geht dabei sind die an die Stelle der Produktionsverhältnisse ge-
mit der Annahme der Unverfügbarkeit dieser Ent- tretenen normativen Strukturen nun der positiv ge-
wicklung einher: Normative Strukturen sind nicht wertete, erwünschte Hemmschuh eines Selbstlaufs
durch das System beliebig instrumentalisierbar. Sie von Technik und Ökonomie.
sind gerade nicht »Überbau«, instrumentell gestalt- 3. Die Entwicklungsniveaus und Lernkapazitäten
bare Größe in den Händen der Mächtigen, sondern einer Gesellschaft bemessen sich daran, ob theore-
bilden eigenständige und damit auch potentiell wi- tisch-technische und praktische Fragen differenziert
derständige Strukturen aus. Damit ist aber die werden und jeweils in institutionalisierten Diskur-
Marx’sche These der Entwicklung von Gesellschafts- sen Lernprozessen ausgesetzt werden. Die Unum-
formationen über die Sprengung von Produktions- kehrbarkeit dieser Lernniveaus ergibt sich aus dem
verhältnissen durch den Fortschritt der Produktiv- fundamentalen »Automatismus des Nicht-nicht-ler-
kräfte einem Bild gewichen, bei dem zwei Kräfte eine nen-Könnens« (LS, 28), der den Kern der Vernünf-
sprengende Wirkung entfalten können: die Produk- tigkeit des Menschen ausmacht. In dieser Passage
tivkräfte wie die normativen Strukturen. Aber es be- zur dritten universalen Eigenschaft von Gesellschaf-
steht eine grundlegende Asymmetrie zwischen ih- ten ist beinahe en passant der Kern des Rationalitäts-
nen. Die Produktivkräfte erweitern die Systemauto- verständnisses bei Habermas freigelegt und zugleich
nomie. Die Entwicklung der normativen Strukturen zur Grundlage einer Gesellschaftstheorie gemacht.
dagegen kann sie sogar einengen. Auffallend ist zu-
dem, dass die dem politischen System zugeordnete
Liberalkapitalismus und Spätkapitalismus
evolutionäre Dimension allein abhängig ist von den
Entwicklungen bei den normativen Strukturen und An diese drei gesellschaftlichen Universalien schließt
in Wissenschaft, Technik, Ökonomie. Politik unter- sich konsequent der Entwurf einer Evolutionstheo-
liegt im Unterschied zu Produktion und Sozialisa- rie der Gesellschaftsformationen an, die in Rekon-
tion gerade keiner Eigenlogik und besitzt damit struktion des Historischen Materialismus näher aus-
keine eigenen evolutionären Entwicklungsniveaus. gearbeitet, in Legitimationsprobleme im Spätkapita-
Die in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus lismus aber in Grundzügen skizziert wird (LS,
entwickelte politische Krisentheorie beruht darauf, 30–40). Habermas unterscheidet vorhochkulturelle,
dass der Politik gerade keine eigenevolutionäre Dy- hochkulturelle und postmoderne Gesellschaftsfor-
namik zugeschrieben wird. mationen, wobei die letzteren lediglich als Möglich-
2. Die Sollwerte einer Gesellschaft verändern sich keit postuliert werden. Die zentralen Differenzie-
in Abhängigkeit von den Produktivkräften und der rungen finden sich im Bereich der hochkulturellen
6. Spätkapitalismus und Legitimation 191

Gesellschaften, die allesamt Klassengesellschaften Warenbesitzer erzeugt Ungleichheiten, die sich je-
sind: Auf traditionale Gesellschaften folgen mo- doch in entpolitisierten Klassenverhältnissen nie-
derne, die wiederum kapitalistisch oder postkapita- derschlagen, da sie privatrechtlich und nicht staat-
listisch (staatssozialistisch) sein können. Für die Kri- lich-herrschaftlich erzeugt werden (LS, 36). Eine po-
sentheorie wird nur die Unterscheidung innerhalb litische Legitimationskrise kann es nicht geben, da
der kapitalistischen Gesellschaftsformation zwi- von Habermas eine Selbstlegitimationsfähigkeit des
schen liberalkapitalistischen und organisiert kapita- Marktes durch die dem Äquivalententausch inne-
listischen Gesellschaften wichtig. Die Ausführungen wohnende Gerechtigkeit unterstellt wird mit der
zu den anderen Formationen dienen lediglich – so Folge, dass der Tauschverkehr nicht mehr seitens der
auch der Titel des Abschnittes – der »Illustration ge- Politik und des Staates gerechtfertigt werden muss.
sellschaftlicher Organisationsprinzipien«. Vorhoch- Die ›unpolitischen‹ ökonomischen Verhältnisse ent-
kulturelle Gesellschaften basieren auf den Primär- lasten den Staat von Legitimationszwängen (LS, 37).
rollen von Alter und Geschlecht, auf Verwandt- Auch wenn beim Proletariat eher Repression und
schaftssystemen als totalen Institutionen, die sowohl Fatalismus für Folgebereitschaft sorgen, dominieren
System- als auch Sozialintegration leisten. Ange- bürgerliche Marktideologien eine Klassengesell-
sichts fehlender Produktivität dieser Nicht-Klassen- schaft, in der die herrschende Klasse gerade nicht
gesellschaften treten keine inneren Widersprüche politisch herrscht. Da aber die Ökonomie das Orga-
auf, die das Organisationsprinzip überfordern könn- nisationsprinzip der Gesellschaft bildet, werden
ten. Auslöser von Krisen sind daher externe Ereig- Probleme ökonomischer Steuerung auch unmittel-
nisse (ökologische Veränderungen, Krieg, Erobe- bar – ohne die Vermittlung über die Dimension der
rung). Traditionale Gesellschaften dagegen sind Sozialintegration – zu Fragen des Fortexistierens der
Klassengesellschaften in offen politischer Form. Der Gesellschaftsformation. Aufgrund ihrer Ökonomie-
Staat als bürokratischer Herrschaftsapparat löst die zentriertheit ist diese Gesellschaftsform von einer
Verwandtschaftsbeziehungen als institutionellen Systemkrise als Unterbrechung des Akkumulations-
Kern des Systems ab, ökonomische Beziehungen prozesses tangiert, während traditionale Gesellschaf-
sind durch politische Gewalt reguliert. Zudem wer- ten als politische Klassengesellschaften über Legiti-
den Funktionen sozialer von systemischer Integra- mationskrisen und Klassenkämpfe in eine Identi-
tion getrennt bei Ausdifferenzierung sakral-religiö- tätskrise geraten (LS, 41). Ökonomische Krisen sind
ser und säkularer (politisch-rechtlicher) Gewalten. im Liberalkapitalismus jedoch recht häufig, so dass
Dies ermöglicht erhebliche Steigerungen der System- dauerhaftes Krisenbewusstsein auf Seiten der bür-
autonomie, erzeugt aber mit der steigenden gerlichen Klasse den revolutionären Hoffnungen bei
Produktivität auch eine tendenziell instabile Klas- den Arbeitern gegenübersteht. Dank fehlender In-
senstruktur. Es entsteht die Gefahr, dass religiöse tervention des Staates treffen die Interessen der Klas-
Weltbilder in Widerspruch zu den realen Ausbeu- sen unmittelbar aufeinander, ökonomische Krise
tungsbeziehungen zwischen den Klassen geraten. und Klassenkampf bilden eine Einheit, und so lässt
Krisen entstehen in traditionalen Gesellschaften sich Klassenhandeln aus der ökonomischen Analyse
mithin aus inneren Widersprüchen. Sie nehmen ih- herleiten. Genau dagegen richtet sich Habermas, be-
ren Anfang bei Steuerungsproblemen, die erhöhte trachtet aber Klassenkämpfe im Liberalkapitalismus
Repression zur Sicherung der Produktionsbasis deshalb als unpolitische, da nicht über den Staat ver-
dieser Gesellschaften notwendig machen. Daraus re- mittelte Auseinandersetzungen – eine hoch proble-
sultieren Legitimationsprobleme, die in Klassen- matische These, die jedoch für die Schlussfolgerung,
kämpfen münden mit der (möglichen) Folge der dass eine Theorie des Klassenkampfes nicht im Zen-
Umwälzung dieser Gesellschaften. Traditionale Ge- trum einer Gegenwartstheorie stehen darf, zentral
sellschaften kennen mithin Legitimationskrisen. ist:
Das gilt – und darin liegt die Pointe der weiteren
Argumentation – gerade nicht für die liberalkapita- »Genau diese soziologische Rückübersetzung einer imma-
nent ansetzenden ökonomischen Analyse macht unter den
listische Ausprägung moderner Gesellschaften.
veränderten Bedingungen des organisierten Kapitalismus
Während in traditionalen Gesellschaften Politik die Schwierigkeiten« (LS, 49).
Ökonomie reguliert und beherrscht, wird der Libe-
ralkapitalismus von Habermas als System der Tren- Der Spätkapitalismus unterscheidet sich nach dem
nung von Ökonomie und Politik begriffen: Die in Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus prä-
staatsfreie Sphäre des Verkehrs privatautonomer sentierten Modell in zweierlei Hinsicht vom Liberal-
192 III. Texte

kapitalismus. Zum einen sind es die Konzentrations- Diese werden auf der Grundlage einer Theorie dreier
prozesse des Kapitals und die Organisierung der gesellschaftlicher Subsysteme, dem ökonomischen
Märkte (auch und gerade der Arbeitsmärkte), die die System, dem administrativen (auch politisch ge-
Phase des Konkurrenzkapitalismus beenden, zum nannten) System und dem legitimatorischen (oder
anderen werden dysfunktionale Folgen des Marktes soziokulturellen) System als ökonomische, politische
durch umfassende Intervention des Staates ausgegli- und soziokulturelle Krisentendenzen eingeführt.
chen (LS, 50 f.), ohne dass die private Investitionsau- Mittels einer Input-Output-Analyse der drei Systeme
tonomie der Unternehmen durch politische Planung werden sie aber alsbald zu einer Krisentypologie mit
abgelöst würde. Diese staatliche Überformung und vier möglichen Krisen (ökonomische, Rationalitäts-,
Politisierung des Kapitalismus lässt jedoch die Basis- Legitimations- und Motivationskrise) umgebildet.
ideologie des gerechten Markttausches zusammen- Ökonomische und Rationalitätskrise sind Formen
brechen und erzeugt damit politischen Legitimati- systemischer Desintegration (Systemkrise), Legiti-
onsbedarf. Dieser ist nur durch Sozialpolitik als Lie- mations- und Motivationskrise stellen die soziale In-
ferant systemkonformer Entschädigungen wie Geld, tegration in Frage (Identitätskrise). Ansatzweise ar-
Sicherheit, freie Zeit (»wohlfahrtsstaatliche Ersatz- gumentiert Habermas sogar mit vier Systemen (LS,
programmatik«, LS, 56) und Anstrengungen zur wei- 72), mit dem legitimatorischen System auf Seiten der
teren Entpolitisierung in einer bloß »formalen« statt Sozialintegration – eine Konstruktion, die auf die in
»materialen Demokratie« abzufangen, die den Bür- der Theorie des kommunikativen Handelns später
gern nur »den Status von Passivbürgern mit Recht eingeführte Zweiteilung der Lebenswelt in Privat-
auf Akklamationsverweigerung« lässt (LS, 55). Alle sphäre und Öffentlichkeit vorgreift (TKH II, 473).
Anstrengungen richten sich im Spätkapitalismus zu-
dem darauf, den Klassenkonflikt latent zu halten.
Krisentendenzen
Zur Befriedung der widerständigen Arbeiterbewe-
gung und -parteien werden mit dem Sozialstaat und Der Charakter des folgenden Teils (LS, 73–130) zu
einer durch kollektive Tarifverträge gesicherten poli- den vier möglichen Krisentypen darf nicht verkannt
tischen Lohnbildung, letztlich einer Machtpreisbil- werden: Habermas prüft hier Hypothesen und Kri-
dung am Arbeitsmarkt, grundlegende Änderungen senszenarien daraufhin, ob sie über genügend lo-
zugelassen, die sich aber außerhalb der unmittelba- gisch-argumentative Kraft verfügen, um nicht nur
ren Konfliktzone in einer Dauerkrise der öffentli- situativ auftretende Schwankungen zu diagnostizie-
chen Finanzen niederschlagen. Auf diesem Weg löst ren, sondern eine Krise, an deren Bewältigung die
sich die soziale Identität der Klassen und ihr Klas- spätkapitalistische Gesellschaft aufgrund der imma-
senbewusstsein auf (LS, 57–60). Krisentendenzen nenten Schranken ihres Organisationsprinzips
des Spätkapitalismus erwachsen mithin gerade nicht gehindert ist. Beginnend mit der Annahme, dass
aus politisierten Klassenkämpfen. Ein Verände- mindestens eine dieser vier möglichen Krisentypen
rungspotential – so der Kommentar zu den wieder- auftreten können muss, damit die Rede vom Spätka-
belebten marxistischer Revolutionsbestrebungen je- pitalismus berechtigt ist (LS, 72), kommt Habermas
ner Tage – muss jenseits der Arbeiterklasse gesucht schließlich zu folgendem Ergebnis. Von den vier Kri-
werden. sentendenzen, die für den Spätkapitalismus behaup-
Jedoch beruht das Veränderungspotential weiter- tet werden, ist nur eine, die zur Krise der gesamten
hin auf systemspezifischen Krisenerscheinungen. Gesellschaftsform werden kann: die Legitimations-
Zwar führt Habermas unter dem Titel »Folgepro- krise. Die anderen Krisentendenzen werden abge-
bleme spätkapitalistischen Wachstums« drei Krisen- fangen: So verlagern sich ökonomische Krisenten-
tendenzen an, die gerade nicht systemspezifisch denzen über die politische Intervention ins adminis-
sind, darunter die Störung des ökologischen Gleich- trative und von dort ins soziokulturelle System. Das
gewichts durch wachsende Bevölkerung bei endli- politische System expandiert im Zuge dieser ›Auf-
chen Ressourcen und zunehmender Schadstofffrei- fanglösung‹ allerdings in beide Richtungen, auch in
setzung – eine erstaunlich frühe Aufnahme dieser Richtung des soziokulturellen Systems – eine Argu-
Entwicklung in eine gesellschaftstheoretische Be- mentation, die zur späteren These der Kolonialisie-
schreibung, wenn auch in einem theoriearchitekto- rung der Lebenswelt führt:
nischen Anbau (LS, 61–63). Die ganze Aufmerksam- »Das politische System hat im Verlaufe der kapitalistischen
keit des Textes gilt in der Folge aber den systemspe- Entwicklung seine Grenzen nicht nur in das ökonomische,
zifischen Krisenerscheinungen des Spätkapitalismus. sondern auch das soziokulturelle System verschoben. In-
6. Spätkapitalismus und Legitimation 193

dem sich Organisationsrationalität ausbreitet, werden kul- sen abhängig (LS, 96). Ökonomische Gesetze können
turelle Überlieferungen unterwandert und entkräftet; der
die Staatstätigkeit nicht bestimmen, weil der Staat
Traditionsbestand selbst entzieht sich dem administrativen
Zugriff – administrativ lassen sich legitimationswichtige selbst die Determinanten des Verwertungsprozesses
Überlieferungen nicht regenerieren« (LS, 70). verändert hat und auf der Basis des sozialstaatlichen
Klassenkompromisses eigene Planungskapazitäten
Ökonomische Krisentendenzen haben im Spätkapi- aufgebaut und wirksame Steuerungsinstrumente
talismus dagegen nicht den Charakter gesellschafts- eingeführt hat. Die gegenteiligen Thesen Offes
gefährdender Entwicklungen. Habermas lehnt die (1972) zur systemnotwendigen Zunahme system-
Thesen der Fortgeltung des Wertgesetzes, der öko- widriger Elemente weist Habermas allesamt zurück
nomischen Krise als Ausdruck des tendenziellen (LS, 94 ff.). Anders als Unternehmen, die im Konkurs
Falls der Profitrate und des Staates als Vollzugsorgan eine klare Grenze ihrer Existenz und im Profitmotiv
des Wertgesetzes ab (LS, 74 f.). Dieser Kontinuitäts- eine klare Präferenzstruktur besitzen, verfügt der
these, wie sie beispielsweise von Elmar Altvater und Staat auch bei irrationalen Entscheidungen oder stei-
Ernest Mandel vertreten wurde, stellt Habermas die gender Desorganisation einzelner gesellschaftlicher
These des Bruches mit der rein ökonomischen Logik Bereiche über keine klar erkennbare Grenze seines
zugunsten der politischen Affizierung der gesamten Handelns und seiner Existenz. Damit attestiert Ha-
Produktionsverhältnisse gegenüber. Kapitalistische bermas dem Staat ein erstaunlich hohes Maß an
Strukturen sind für ihn mittlerweile von ökonomi- Steuerungsfähigkeit.
schen Prozesslogiken und der politischen Gegen- Allerdings nimmt er an, dass Langfristplanung in
steuerung (Konjunktursteuerung und Sozialstaat) komplexen Gesellschaften generell höchst proble-
geprägt (LS, 77–79). Mit dem ausgebauten Bildungs- matisch ist, womit eine Annahme über die interne
system und dem Forschungssektor sind Bereiche Begrenztheit administrativen Handelns an sich (Ha-
entstanden, die sich nicht mehr in der Tauschwertlo- bermas verweist hier auf die Arbeiten von Fritz W.
gik begreifen lassen – ein Argument, das bei Haber- Scharpf; LS, 93) entwickelt wird, die aber gerade
mas in den 1960er Jahren noch eine weit bedeuten- nicht zur These einer Eigenlogik des politisch-admi-
dere Rolle in der Argumentation gegen die Fortgel- nistrativen Systems führt. Der Staat ist zwischen
tung des Wertgesetzes gespielt hatte. Ökonomie und Kultur, die beiden eigenlogischen
Wenn die ökonomischen Krisentendenzen poli- Entwicklungen folgen, eingespannt als flexibler Steu-
tisch abgefangen werden, könnte die zentrale Pro- erungs- und Überlebenskünstler, der aber in sich
blematik im Politischen gesucht werden: Politische keine Strukturbildung mit Widerstandskraft, keine
Krisentendenzen treten in zwei Formen auf, als Out- Eigenlogik, besitzt.
putkrisen (Mangel an administrativer Steuerungsfä- So kann nicht der Output des politisch-adminis-
higkeit – Rationalitätskrisen) oder als Inputkrisen trativen Systems zum Problem werden, sondern nur
(fehlende Massenloyalität – Legitimationskrisen). die Inputseite, die Beschaffung von Legitimation für
Eine Rationalitätskrise schließt Habermas in Ausei- die politisch getroffenen Maßnahmen. Im organi-
nandersetzung mit den zeitgenössischen, marxis- sierten Kapitalismus wird Klassenherrschaft repoli-
tisch inspirierten Staats- und Planungstheorien aber tisiert (LS, 96 f.). Zwingende Grenze der weiteren
aus (LS, 87 ff.). Weder die These des Staates als unbe- Entfaltung von kapitalistischer Ökonomie und staat-
wusstem Vollzugsorgan ökonomischer Gesetze noch licher Steuerungsautonomie ist nur die verfügbare
die These des Staates als planmäßigem Agenten des Legitimation. Der Staat gerät nur dann in Gefahr,
Monopolkapitals noch vermittelnde Theorien kön- wenn sich prinzipieller Zweifel an jenen Normen
nen aufzeigen, dass der Staat notwendig an den Auf- verbreitet, die administratives Handeln leiten. Aller-
gaben der Rationalisierung ökonomischer Ungleich- dings könnten administratives und legitimatorisches
gewichte scheitert. Zwar unterliegt der Staat einer System (hier erfolgt wieder die Aufteilung des politi-
gewissen Bewusstlosigkeit, die ihn Folgeprobleme schen Systems in zwei einzelne Systeme) auch ent-
seines Handelns nicht antizipieren lässt, er verharrt koppelt werden qua Trennung von instrumenteller
in inkrementalistischem Handeln, doch ist der Aus- und symbolischer Politik (so mit Verweis auf Mur-
gang der administrativen Steuerungsbemühungen ray Edelman). Die Annahme einer Legitimations-
letztlich von den wechselnden Spannungsverhältnis- krise lässt sich daher nur verteidigen, so Habermas,
sen zwischen gesamtkapitalistischem Bestandserhal- wenn es stimmt, dass es erstens eine systematische
tungsinteresse, dem Interesse einzelner Kapitalfrak- Grenze der Manipulation, d. h. der administrativen
tionen und den verschiedenen Bevölkerungsinteres- Erzeugung von Motivationen, Sinn, Normen, gibt
194 III. Texte

(Theorem der Grenzen der Manipulierbarkeit). Ge- soziokultureller Output, der auf familialem (Karrie-
gen die damals weit verbreitete These der beinahe reorientierung, Rückzug auf Familie, Freizeit, Kon-
unbeschränkten Manipulierbarkeit beharrt Haber- sum) und staatsbürgerlichem Privatismus – letzterer
mas auf dem Eigensinn des kulturellen Systems als als Bedingung einer entpolitisierten Öffentlichkeit –
Grenzsetzer der Administration. Eine administra- basierte. Diese funktionalen Beiträge des kulturellen
tive »Legitimationsbeschaffung ist selbstdestruktiv, Systems werden im Spätkapitalismus aber systema-
sobald der Modus der ›Beschaffung‹ durchschaut tisch untergraben, ohne dass funktionale Äquiva-
wird« (LS, 99). Zum zweiten muss die Expansion der lente an ihre Stelle treten könnten, da die Entwick-
Staatstätigkeit eine überproportionale Steigerung lungslogik normativer Strukturen keine für den
des Legitimationsbedarfes mit sich bringen (Theo- Spätkapitalismus noch passförmige Lernstufe bereit-
rem der Steigerung des Legitimationsbedarfes; LS, stellt. Schon im Liberalkapitalismus konnte nur in
100). Dies ist zwingend, weil die neuen Staatsaufga- der Verbindung aus bürgerlichen Ideologien (Besitz-
ben auch die Grenze des politischen Systems gegen- individualismus, Utilitarismus, Leistungsorientie-
über dem kulturellen System verschieben. Um die rung) mit vorkapitalistischen, insbesondere religiö-
ökonomischen Krisen rationalisierend abfedern zu sen Traditionsbeständen eine passförmige Motivati-
können, muss der Staat immer stärker in die kultu- onsgrundlage entstehen (LS, 110). Ohne dass dies in
rellen Bestände eingreifen (so das Vorläufertheorem Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus systema-
zur Kolonialisierungsthese der TKH). Kultur – zu- tisch weiterverfolgt würde, liefert Habermas hier
nächst als Traditionsbestand verstanden – wird in eine jeder gesellschaftlichen Spezifik vorausgehende
die Reflexion hineingezwungen, weil sie Gegenstand und daher wohl eher anthropologisch zu nennende
politischer Planung und damit auch als änderbar er- Krisenthese, die kommunikative Bedürfnisse funda-
scheint. Dieses neue kulturelle Kontingenzbewusst- mentaler Art – Suche nach sinnhaft-tröstender Be-
sein erzeugt nicht-intendierte Beunruhigungsef- wältigung grundlegender Lebensrisiken – als letzte
fekte, die sich nur über die Einführung von Diskur- Quelle des Ungenügens der kulturellen Deutungs-
sen wieder stabilisieren lassen. An die Stelle der muster und Motivationen unterstellt. Im Weiteren
kulturellen Selbstrechtfertigung treten diskursive konzentriert er sich auf die Erosionsprozesse vorka-
Arenen, in denen kollektive Anstrengungen zur pitalistischer Traditionsbestände und bürgerlicher
Rechtfertigung und Überprüfung von Rechtferti- Ideologien in der Phase des organisierten Kapitalis-
gungen gemacht werden müssen. Notwendig ist die mus: Vorbürgerliche Traditionsbestände werden zer-
Legitimationskrise aber nur deshalb, weil Sinn eine stört durch wissenschaftliche Rationalisierung,
knappe Ressource ist, die gerade nicht in beliebiger durch Wertpluralismus und die Subjektivierung von
Menge und Qualität bereitgestellt werden kann, Werthaltungen angesichts der aus religiösen Weltbil-
wenn der Legitimationsbedarf im politischen Sys- dern freigesetzten Moralauffassungen (LS, 112/3).
tem wächst (LS, 123–125), notwendig ist sie, weil das Die bürgerliche Ideologie der Leistungsorientierung
kulturelle System auf Normenbegründung und uni- scheitert an der Umstellung der Aufstiegsbedingun-
versalistische Rechtfertigung beharrt (LS, 105) und gen von reinem Markt- auf Schulerfolg, denunziert
politikinkompatiblen Output, d. h. nicht angepasste aber diese neue Form der Leistungsorientierung
Motivationen, liefert. Die »definitiven Schranken durch die Entkopplung von schulischer Qualifika-
der Legitimationsbeschaffung« bestehen in »un- tion und Berufserfolg. Deshalb schrumpfen die in-
nachgiebigen normativen Strukturen«, »die das öko- trinsischen Leistungsmotivationen und die extrinsi-
nomisch-politische System nicht länger mit ideolo- schen greifen nicht, da keine industrielle Reservear-
gischen Ressourcen versorgen, sondern mit Über- mee (Arbeitslosigkeit) als Drohpotential bereitsteht.
forderungen konfrontieren« (LS, 130). Und die Ideologie der Tauschwertorientierung kann
Unter Motivationskrise (LS, 106 ff.) versteht Ha- angesichts der großen Anzahl nicht in den Produkti-
bermas entsprechend die Entwicklung eines für Staat onsprozess aktiv eingebundener Personengruppen
und Ökonomie zunehmend dysfunktionalen Out- (hier greift Habermas auf ein Argument Offes zu-
puts des kulturellen Systems. Motivationskrise und rück) keine allgemeine Geltung mehr erreichen. Die
Legitimationskrise verweisen auf Inkompatibilitä- Zeitgebundenheit des Textes wird an diesen Überle-
ten, die sie nur jeweils von einer anderen Seite her gungen besonders deutlich, haben doch die 1990er
thematisieren (Motivation: Output des soziokultu- Jahre mit ihrer neuen Dominanz von Geld, Markt-
rellen Systems; Legitimation: Input des politisch-ad- leistung und starker Tauschwertorientierung bei ho-
ministrativen Systems). Funktional war bisher ein her Arbeitslosigkeit deutlich gemacht, dass die kul-
6. Spätkapitalismus und Legitimation 195

turellen Entwicklungen weit weniger linear und des eigenen Verhaltens an rechtfertigungsbedürfti-
langfristig angelegt sind, als in Legitimationspro- gen Normen nicht mehr stattfindet? Der gerade ge-
bleme im Spätkapitalismus vermutet. zeigte Optimismus gegenüber einer universalistische
Das stärkste Argument für die Erwartung einer Moral einfordernden Jugend weicht hier der skepti-
Motivationskrise liegt aber in der Annahme, dass schen Frage, ob man auch in Zukunft mit der Wahr-
normative Strukturen eine kulturelle Sperre bilden heitsabhängigkeit des Legitimitätsglaubens, mit der
und Irreversibilitäten erzeugen, weil sie allein einer Bindung von Politik an rational bestreitbare Recht-
internen Logik folgen (LS, 117), die nur bei völligem fertigungen rechnen kann. Ausgelöst ist dieser Zwei-
Rückfall hinter den erreichten kulturellen Stand – fel insbesondere durch die Überlegungen Niklas
wie etwa im Faschismus – ausgeschaltet werden Luhmanns. Gegen dessen rein empiristische Theorie
kann. Die dominierenden drei Bestandteile moder- der Akzeptanzsicherung und Beschaffung von be-
ner Kultur: Szientismus, nach-auratische Kunst und gründungsfreier Folgebereitschaft will Habermas an
universalistische Moral, üben eine derartige Sperr- zwei Annahmen festhalten, die zugleich auch die
klinkenfunktion aus. Sie lassen den Rückzug in Pri- Voraussetzung für die Geltung seiner Krisentheorie
vatismus nicht mehr zu, liefern sie doch ständig Ar- darstellen (LS, 131). Erstens: Motivationen sind nicht
gumente als Instanzen der Kritik, verstärken die Dif- vorrangig oder gar durchgängig von Emotionen und
ferenz zwischen Kultur und Politik durch die Begierden bestimmt, sie beruhen wesentlich auch
Produktion massen- und auch gegenkultureller Ent- auf der Verinnerlichung von symbolischen Erwar-
würfe und binden alle Normgeltung allein an das tungsstrukturen, d. h. Normen. Insbesondere Folge-
Prinzip universeller Rechtfertigung in Diskursen bereitschaft gegenüber politischer Herrschaft be-
(LS, 117–125). Zudem sind kommunikative Ethik ruht, und das hatte Max Weber bereits gezeigt, nicht
und Kunst bereits Anfang der 1970er Jahre bestim- nur auf Furcht, Opportunität und Sanktionsgewalt,
mend für die Sozialisation der jungen Generation sondern auch auf dem Glauben an die Legitimität,
geworden (LS, 126–128). Angesichts der neuen ab- die Anerkennungswürdigkeit, dieser Herrschafts-
strakt-universalistischen Moralstrukturen sind nur ordnung. Während in diesem Punkt Weber’sche und
Rückzug oder Protest angemessene Handlungswei- Habermas’sche Legitimitätstheorie konvergieren,
sen auf die Zumutungen von Politik und Ökonomie. besteht keine Übereinstimmung im zweiten Punkt.
Der Jugendprotest erklärt sich gerade nicht durch Während Weber in empiristischer Haltung verbleibt,
ökonomische Deprivation, sondern ist Ausdruck des betont Habermas, dass faktisch geltende Normen
Aufeinanderprallens systemischer Anforderungen sich als richtig oder falsch erweisen können, dass sie
und neuer normativer Strukturen. Mit diesen Aus- über einen Wahrheitsbezug verfügen. Später in Zur
führungen bringt Habermas die Protestbewegungen Rekonstruktion des historischen Materialismus wird
der späten 1960er Jahre an theoretisch entscheiden- Habermas den an dieser Stelle nur angedeuteten Ge-
der Stelle ins Spiel. Sie zeigen, dass ein neues morali- danken einer Stufenfolge des moralischen Bewusst-
sches Lernniveau erreicht ist, sie sind Träger von seins im Gefolge der Schriften von Piaget und Kohl-
Motivationen, die sich nicht mehr einpassen lassen, berg entfalten. In Legitimationsprobleme im Spät-
sie sind nicht angepasst und entziehen dem politi- kapitalismus konzentriert er sich auf den Nachweis,
schen System Legitimation. So ist das Konzept der dass überhaupt ein Wahrheitsbezug besteht, ein
Legitimationskrise auch der Versuch einer Interpre- Nachweis mit politiktheoretisch zentraler Bedeu-
tation und Erklärung der Studenten- und Jugend- tung. Die Kontroverse um den Wahrheitsbezug von
protestbewegung, ein Versuch, der die Anfang der Legitimationsüberzeugungen hatte sich anhand We-
1970er Jahre verbreitete Selbstdeutung dieser Bewe- bers Typus rationaler Herrschaft entzündet. Eine
gung in Kategorien des Klassenkampfes als verfehlt empiristische Sicht musste den Legalitätsglauben
zurückweist. rein psychologisch verstehen (so Luhmann in Fort-
setzung von Carl Schmitt), während eine Konzep-
tion rationaler Motivation danach fragte, wie sich
Verzicht auf Legitimation und Rechtfertigung?
die Satzung, auf die sich legale Verfahren berufen,
Im folgenden dritten Teil »Zur Logik von Legitimati- ihrerseits rechtfertigt (LS, 133). Um an diesen zwei-
onsproblemen« will Habermas einen letzten Zweifel ten Diskussionsfaden anzuknüpfen und eine explizit
klären: Kann es nicht zum Verzicht auf Legitimatio- normative Theorie der Legitimität zu entwickeln,
nen kommen, etwa dadurch, dass die Sozialisation wechselt Habermas vom Feld der Soziologie zur Phi-
der Bürger derart umgestellt wird, dass eine Bindung losophie (LS, 140–152) und weist dort empiristische
196 III. Texte

Moraltheorien zurück: Konzeptionen in der Tradi- nicht der Fall, weil bereits in den alltagssprachlichen
tion Humes, die moralische Kontroversen nicht mit Strukturen der Intersubjektivität die Erwartung der
Gründen für entscheidbar halten und Normen nur diskursiven Einlösung von Geltungsansprüchen ent-
als Produkt vertraglicher Vereinbarung und damit halten ist. In jedem Interaktionszusammenhang sind
als Ausdruck empirischen Willens verstehen, kön- die Grundnormen vernünftiger Rede als notwendige
nen nicht erklären, warum die Beteiligten – bei in- Unterstellung gegenwärtig, der transzendentale Cha-
zwischen geänderten Interessen – an einem einmal rakter der Umgangssprache lässt einen Ausstieg aus
geschlossenen Vertrag als bindend festhalten. Das den Zumutungen der letztlich argumentativen Ein-
Modell vertragsschließender Parteien muss daher, so lösung von Geltungsansprüchen nicht zu (LS, 153).
Habermas, durch ein Modell der Kommunikations- Im Anschluss daran entwickelt Habermas eine drei-
gemeinschaft abgelöst werden, das gerade nicht auf stufige Legitimationstheorie, die auch Raum für den
letztlich irrationalen Willensakten, sondern auf ra- politischen Kompromiss als legitime Erscheinung
tional motivierter Anerkennung beruht. Allerdings lässt: Höchste Legitimität besitzen Regelungen, die
können normative Geltungsansprüche nicht mittels sich auf verallgemeinerungsfähige Interessen stützen
deduktiven Argumenten eingelöst werden. Dies können, wie sie sich als rationaler Konsens aus dis-
kann nicht gelingen, da den Anfang der Begrün- kursiven Verfahren ergeben könnten. Regelungen,
dungskette ein oberster Wert bilden müsste, der aber die sich nicht auf verallgemeinerungsfähige Normen
angesichts des Wertpluralismus nur Ergebnis einer stützen, sind zwar Ausdruck normativer Macht.
irrationalen Wertentscheidung sein könnte. Mit Ver- Kompromisse sind aber durchaus legitim, wenn ein
weis auf seinen Aufsatz »Wahrheitstheorien« aus Machtgleichgewicht zwischen den verhandelten In-
dem Jahre 1970 bietet Habermas im Anschluss an teressen existiert und keine verallgemeinerungsfähi-
Peirce und Toulmin »substantielle Argumente« als gen Interessen zur Debatte stehen. Sind diese Bedin-
alternative Rechtfertigungsform an (LS, 147). Hier gungen allerdings nicht erfüllt, handelt es sich um
werden pragmatische Einheiten, Sprechakte, mitein- einen Scheinkompromiss. Illegitim sind neben
ander in einer Logik des Diskurses verknüpft. Nicht Scheinkompromissen natürlich alle nicht auf Zu-
eine Logik der Schlüsse, sondern eine der Kommu- stimmung beruhenden Normen wie insbesondere
nikationsakte, und zwar einer handlungsentlasteten Ideologien, die Verallgemeinerungsfähigkeit nur be-
Form der Kommunikation in Diskursen, bildet die haupten (LS, 156).
Grundlage der Einlösung von Geltungsansprüchen. Das Konzept des Diskurses bietet nun aber auch
Es folgt die bekannte Bestimmung des Diskurses die Möglichkeit, Ideologiekritik auf eine neue Art zu
durch die Bedingungen, dass kein Zwang außer dem betreiben: als Analyse der Unterdrückung verallge-
Zwang des besseren Arguments zählt, dass Zugang meinerungsfähiger Interessen, die in einem rationa-
für alle besteht und nur ein Motiv, und zwar das der len Diskurs kontrafaktisch zu identifizieren wären
kollektiven Wahrheits- bzw. Richtigkeitssuche zur (LS, 156–161). Angesichts der schwierigen Aufgabe,
Geltung kommt. Wenn unter diesen Rahmenbedin- einen Maßstab zur Beurteilung von Interessenlagen
gungen in einem praktischen, auf die Richtigkeit von zu gewinnen, kann die kritische Gesellschaftstheorie
Normen gerichteten Diskurs ein Konsens entsteht, nur advokatorisch Diskurse durchführen, indem sie
kann dieser als Ausdruck des vernünftigen Willens »in einem stellvertretend simulierten Diskurs zwi-
gelten (LS, 148 f.). Die Pluralität von Wertorientie- schen den Gruppen, die sich durch einen artikulier-
rungen wird nicht geleugnet, aber dem Diskurs kann ten oder zumindest virtuellen Gegensatz der Interes-
aufgrund seiner spezifischen Verfassung zugetraut sen voneinander abgrenzen (bzw. nicht arbiträr ab-
werden, partikulare (und damit im Diskurs nicht zu- grenzen lassen), verallgemeinerungsfähige und
stimmungsfähige) von verallgemeinerungsfähigen gleichwohl unterdrückte Interessen« feststellt (LS,
(die unter den Diskursbestimmungen Konsens fin- 161). Das Ergebnis dieser advokatorischen Diskurse
den) zu unterscheiden. Und auch einen letzten Ein- bleibt aber hypothetisch. Keinesfalls kann eine nicht
wand gegen einen derartigen Ansatz widerlegt Ha- empirisch hinterfragbare Diagnostik unterdrückter
bermas bereits in diesem Abschnitt von Legitimati- Interessen mit Rückgriff auf anthropologische Be-
onsprobleme im Spätkapitalismus mit dem Verweis dürfnisse oder geschichtsphilosophische Überlegun-
auf die weiter auszuarbeitende Universalpragmatik: gen entwickelt werden. Dem Entlarvungsmodell ei-
den Einwand eines Rest-Dezisionismus – schließlich ner selbstgewissen Theorie der objektiven Klassen-
bedürfe es für den Eintritt in den Diskurs eines Wil- interessen setzt Habermas hier die vorsichtige
lensentschlusses. Dies sei, so Habermas, deshalb Konzeption der politischen Intervention von Kriti-
6. Spätkapitalismus und Legitimation 197

scher Theorie durch immer hypothetisch bleibende fest, einen Begriff praktischer Rationalität zu etablie-
Analysebeiträge entgegen. Aber auch dieses Modell ren, der auf willensbildende Diskurse als Vernunft-
setzt voraus, dass normative Rechtfertigung ein zen- kern zielt, wohl wissend, dass eine derartige, auf
traler Pfeiler moderner Gesellschaften bleibt. praktische Rationalität gründende Kritische Theorie
Gegen Ende von Legitimationsprobleme im Spät- auch an schlechter Realität scheitern kann.
kapitalismus (162–178) schlägt Habermas zunächst
einen dunklen Ton an, werden doch alle Argumente Theorieentwicklung und Rezeption
zugunsten einer möglichen Ablösung der Hand-
lungsmotive von Zumutungen der Normativität zu- Die weitere Theorieentwicklung Habermas’ in den
sammengetragen. Ausgangspunkt ist dabei die Über- 1970er Jahren liest man heute meist unter dem Ge-
legung, dass in der Moderne nach Profanisierung sichtspunkt der Ausarbeitung der Theorie des kom-
und Verselbstständigung des wissenschaftlichen munikativen Handelns, in der das Konzept der Legi-
Wissens, die mit einem Verzicht auf eine ›tröstende‹ timationskrise vom Bild der Kolonialisierung der
Weltdeutung einhergehen, die moralischen Binde- Lebenswelt als zeitdiagnostischer und zugleich ge-
kräfte auf die Grundnormen vernünftiger Rede re- sellschaftstheoretischer Zentralformel abgelöst wird.
duziert sind. Eine derartige Moral ist nicht mehr in Das ist auch durchaus angemessen, versteht sich
dem alten Umfange zur Stabilisierung von Identi- doch Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus ge-
tätsbildungen fähig, sie ist eigentümlich »kraftlos« mäß Vorwort als Schritt zur Bearbeitung der mit
(LS, 166). Belege dafür, dass es eine Entwicklung in theoretischen Grundlagenproblemen verbundenen
Richtung des Verzichts auf Rechtfertigung geben materialen Fragen einer Theorie der gegenwärtigen
könnte, sind der Zynismus spätbürgerlichen Be- Gesellschaft, »die, wie ich bald zu zeigen hoffe, im
wusstseins im Gefolge eines Nietzscheanischen Ni- Rahmen einer Theorie des kommunikativen Han-
hilismus, die These vom Ende des Individuums (von delns geklärt werden können« (LS, 7). Zunächst folg-
Horkheimer/Adorno bis zu Gehlen und Schelsky), ten auf Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
die Rückbildung der Demokratietheorie zur bloßen Vorträge zur Legitimationskrise (Rom 1973, Polito-
Eliten- und Elitenauswahltheorie (u. a. Schumpeter) logentag in Duisburg 1975 – Auseinandersetzung
oder der Rückzug auf private Selbstverwirklichung mit Wilhelm Hennis), die 1976 in Zur Rekonstruk-
und die Parolen unmittelbarer Befriedigung wie in tion des Historischen Materialismus aufgenommen
Teilen der Studentenbewegung. Habermas hält es für wurden. Ende der 1970er Jahre wendet sich Haber-
keineswegs ausgemacht, dass sich diese Entwicklun- mas von der Idee der Überwindung des kapitalisti-
gen durchsetzen. Die negative Utopie einer Abkopp- schen Gesellschaftssystems ab. Entsprechend wird
lung der Motivbeschaffung von normativen Mustern ein darauf ausgerichteter Krisenbegriff hinfällig. Es
sieht er in Luhmanns Systemtheorie gezeichnet, die bleiben zwar Fragen der politischen Legitimation re-
hier am Ende von Legitimationsprobleme im Spätka- levant, aber von einer Legitimationskrise als Infrage-
pitalismus abermals zum zentralen Bezugspunkt des stellung des Systems ist nicht mehr die Rede. Die in
eigenen Theorieschaffens wird. Mit dem Verzicht Legitimationsprobleme des Spätkapitalismus entfal-
auf die Annahme sozialer Integration via Normen tete Argumentation eines Eindringens der ökonomi-
als Grundpfeiler bisheriger soziologischer Theorie- schen und administrativen Steuerungsimperative in
bildung zugunsten der Orientierung an Problemen das soziokulturelle System wird im Kapitel »Marx
einer sich selbst stabilisierenden Bewältigung von und die These der inneren Kolonialisierung« des
Komplexität verliert sich auch der Bezugspunkt der zweiten Bandes der Theorie des kommunikativen
vernünftigen Organisation einer Gesellschaft. Poli- Handelns wieder aufgegriffen, zur Kolonialisierungs-
tisch tritt damit an die Stelle einer demokratisch- these zugespitzt, krisentheoretisch entschärft und zu
partizipatorischen Entwicklung das Konzept einer einer Theorie lebensweltlicher Pathologien umge-
sich selbst legitimierenden Verwaltung. Abschlie- formt: »Wenn es aber gelingt, Steuerungskrisen, d. h.
ßend wendet sich Habermas entschieden gegen diese wahrgenommene Störungen der materiellen Repro-
Tendenzen, Vernunft auf zweckrationale Hand- duktion durch Rückgriffe auf Ressourcen der Le-
lungsrationalität oder wie bei Luhmann auf eine Sys- benswelt abzufangen, entstehen Pathologien der Le-
temrationalität einzuschränken, die mit Rationalität benswelt« (TKH II, 566). Die Krisentheorie wird
nichts anderes meint als die Unterordnung unter ei- durch eine Theorie der Pathologien abgelöst.
nen »grundsätzlich opportunistischen Lebenspro- Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus wurde
zeß« (LS, 193). Habermas hält an seinem Vorhaben in den 1970er Jahren wissenschaftlich breit, aber in
198 III. Texte

eher kritischer Weise rezipiert – weithin bei Aner- schaftliche Bewegung als Träger der Kritik angeben
kennung und Nachwirkung des umfassenden gesell- zu können. Deshalb müsse Habermas auf der »Ebene
schaftstheoretischen Ansatzes, der hier vorgelegt von Hinweisen auf allgemeine Krisentendenzen«
wurde. Bei konservativen Intellektuellen und in Tei- verbleiben. »Seine Kritik behält einen anonymen
len der Massenmedien jedoch trafen Habermas, sein Charakter« und ist nicht adressiert an einen beson-
Buch Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus deren Akteur (McCarthy 1980, 438).
und die Frankfurter Schule auf die Anschuldigung, Fragen nach der Anlage einer Theorie, die kri-
selbst maßgeblich zur Erzeugung von Legitimations- tisch sein will, und nach möglichen Trägergruppen
problemen beigetragen zu haben – bis hin zum Vor- von Protest werden zu Beginn des neuen Jahrhun-
wurf der Sympathie mit Terroristen. Erst die Verlei- derts wieder aufgeworfen. In einer Kombination aus
hung des Adorno-Preises 1980 an Habermas mit der Habermas’scher Theorie und Konzepten der Aner-
Aufforderung des Frankfurter CDU-Oberbürger- kennung von Axel Honneth wird z. B. auf einer stär-
meisters, mit derartig verfehlten Vorwürfen Schluss ker subjektivierten und identitätsbezogenen Basis
zu machen, schuf hier eine gewisse Beruhigung versucht, die These der Legitimationskrise zu revita-
(Wiggershaus 2004, 109). Innerhalb der Politikwis- lisieren (Iser 2008, 147). Auch die Verwendung der
senschaft wurde die Krisentheorie insbesondere von Begriffe »Paradoxien« oder »paradoxe Widersprü-
Seiten marxistisch ausgerichteter Staatstheorie als che« (Hartmann 2005) dient dazu, Ansatzpunkte für
verfehlt kritisiert. Meist erfolgte die Kritik jedoch gesellschaftskritische Bewegungen theoretisch iden-
stärker anhand der Schriften von Claus Offe (1972), tifizieren zu können. Jedoch, so die Kritik Claus Of-
auch wenn beide gemeinsam als Vertreter einer »po- fes (2005, 269), werden auf diese Weise keine struk-
litischen Krisentheorie« eingeordnet wurden, die turbedingten, sondern »eigentümlich kontingente«
wesentliche Marx’sche Einsichten aufgegeben und Phänomene als Widersprüche identifiziert. So
durch die Übernahme systemtheoretischer Überle- scheint es nicht zu gelingen, subjektive Erfahrungen
gungen und Theoreme verdrängt hätten (vgl. u. a. als strukturell verursachte Basis demokratisch-kriti-
Beiträge in Ebbighausen 1976; Blanke/Jürgens/Kas- scher Bewegungen ausfindig zu machen (Iser 2005).
tendiek 1975). Insbesondere die Annahme einer er- Der Krisenbegriff selbst hatte sich zudem seit Ende
folgreichen politisch-administrativen Überformung der 1970er Jahre zu einer eher alltäglichen Erschei-
des Kapitalprozesses entwickelte sich zum zentralen nung abgeschwächt, verlor seine »theoretische und
Angriffspunkt der Kritik. Zudem lösten die Integra- politische Schärfe« (Beck 1985, 309) und wurde all-
tion der Systemtheorie in eine Kritische Gesell- gemein als Phänomen verstanden, das mit einer Sys-
schaftstheorie und der Dualismus von Sozial- und temgefährdung nicht einhergehen muss. Eine Legiti-
Systemintegration auch über den engeren Kreis der mationskrise, wie immer man die Analytik des Be-
marxistischen Staatstheorie hinaus breite Kritik aus griffs beurteilte und wie man ihn operationalisierte,
(Peters 1993, 311), die sich mit dem Erscheinen der war empirisch in der Zeit nach Legitimationspro-
Theorie des kommunikativen Handelns auf das Be- bleme im Spätkapitalismus nicht eingetreten (u. a.
griffspaar System-Lebenswelt konzentrierte und in- Peters 1993, 218). Durch die Weltfinanzmarkt- und
tensivierte (Honneth 1985). Weltwirtschaftskrise 2008/09 dürfte die Krisendia-
Im Jahre 1975 erschien unter dem Titel Legitima- gnostik in der Nachfolge von Legitimationsprobleme
tion Crisis eine amerikanische Übersetzung von Le- im Spätkapitalismus sicherlich neue Aktualität erhal-
gitimationsprobleme im Spätkapitalismus von Tho- ten, auch wenn oder gerade weil die Habermas’sche
mas McCarthy, der auch mit seinem Buch The Criti- Grundthese einer Abfederung und eines Abfangens
cal Theory of Jürgen Habermas aus dem Jahre 1978 ökonomischer Krisen durch die Politik massiv an
(dt. 1980), das im letzten Kapitel eine ausführliche Plausibilität verloren haben dürfte.
Darstellung von Legitimationsprobleme im Spätkapi-
talismus enthält, für die anfängliche Rezeption in an-
Literatur
gelsächsischen Ländern sorgte – eine Rezeption, die
bald von der Aufnahme der Theorie des kommunika- Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere
tiven Handels überholt wurde (vgl. Thompson/Held Moderne. Frankfurt a. M. 1985.
Benhabib, Seyla: Critique, Norm, and Utopia. A Study of the
1982; Benhabib 1986; White 1995). Thomas McCar-
Foundations of Critical Theory. New York 1986.
thy nahm seinerseits derart Stellung, dass er Legiti- Berger, Peter/Luckmann, Thomas: Die gesellschaftliche
mationsprobleme im Spätkapitalismus als Ausdruck Konstruktion der Wirklichkeit. Eine Theorie der Wissens-
der Verlegenheit wertet, keine organisierte gesell- soziologie. Frankfurt a. M. 1969.
7. Geschichte und Evolution 199

Blanke, Bernhard/Jürgens, Ulrich/Kastendiek, Hans: Kritik


der Politischen Wissenschaft. Analysen von Politik und
7. Geschichte und Evolution
Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft. 2 Bde. Frank- Zur Rekonstruktion des Historischen
furt a. M. 1975. Materialismus (1976)
Ebbighausen, Rolf (Hrsg.): Bürgerlicher Staat und politische
Legitimation. Frankfurt a. M. 1976.
Geis, Anna/Strecker, David (Hg.): Blockaden staatlicher Po- Die Essays des Sammelbandes Zur Rekonstruktion
litik. Sozialwissenschaftliche Analysen im Anschluss an des Historischen Materialismus (1976) – durchwegs
Claus Offe. Frankfurt a. M./New York 2005. Mitte der 1970er Jahre entstanden – stellen einen
Habermas, Jürgen: Legitimation Crisis. Boston 1975 (1976
auch: Cambridge). Meilenstein in Habermas’ Denken dar. Sie verknüp-
– /Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozial- fen seine seit den 1950er Jahren fortgeführten Über-
technologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt legungen zum Historischen Materialismus einerseits
a. M. 1971. mit seinen Arbeiten über die Theorie des kommuni-
Hartmann, Martin: »Paradoxien des ›neuen‹ Kapitalis- kativen Handelns aus den frühen 1970er Jahren und
mus«. In: Geis/Strecker 2005, 199–212.
Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kri- andererseits mit den Ergebnissen der Auseinander-
tischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1985. setzung, die er kurz zuvor mit Niklas Luhmann über
Iser, Mattias: »Krise und Kritik – mehr als nur ein Ana- die Theorie sozialer Systeme geführt hatte. In ihrer
chronismus?« In: Geis/Strecker 2005, 185–198. Gesamtheit leiten sie das Forschungsprogramm ein,
–: Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer kritischen das bald darauf zur Theorie des kommunikativen
Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a. M./New York 2008.
Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Neuwied Handelns (1981) führen sollte.
1969.
McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse.
Von der Philosophie der Geschichte zur
Frankfurt a. M. 1980 (engl. 1978).
Offe, Claus: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates. systematisch verallgemeinerten Geschichte
Frankfurt a. M. 1972.
–: »Rote Fäden und lose Enden. Anmerkungen zu einer
In seinem »Literaturbericht zur philosophischen
Mega-Agenda«. In: Geis/Strecker 2005, 245–277. Diskussion um Marx und den Marxismus« (1957)
Peters, Bernhard: Die Integration moderner Gesellschaften. und in verschiedenen Essays der frühen 1960er
Frankfurt a. M. 1993. Jahre, die unter dem Titel Theorie und Praxis (1963)
Thompson, John B./Held, David (Hg.): Habermas. Critical zusammengestellt wurden, grenzt sich Habermas
Debates. London 1982.
White, Stephen K. (Hg.): The Cambridge Companion to Ha-
in einer Reihe grundlegender Fragen vom »ortho-
bermas. Cambridge 1995. doxen« Marxismus ab (s. Kap. II.1). Insbesondere
Wiggershaus, Rolf: Jürgen Habermas. Reinbek bei Ham- lehnte er dessen szientistisches Selbstverständnis
burg 2004. und die objektivistische Darstellung des Verhältnis-
Frank Nullmeier ses von Theorie und Praxis ab und vertritt stattdes-
sen eine Auffassung der kritischen Gesellschaftstheo-
rie als einer »empirischen Geschichtsphilosophie in
praktischer Absicht«. Das Ziel der Geschichte sei –
so seine These – kein Gegenstand metaphysischer
Hypostasierung oder sozialwissenschaftlicher Pro-
gnosen, sondern eines praktisch-politischen Ent-
wurfs: Es sei ein Ziel, das kollektive Akteure in
Kenntnis der objektiven Bedingungen zu verwirkli-
chen versuchen könnten.
Diese Idee, die Gesellschaft als ein geschichtlich
sich entwickelndes Ganzes zu verstehen, um das po-
litische Bewusstsein aufzuklären und die politische
Praxis reflexiv anzuleiten, wird im Verlauf der 1960er
Jahre von Habermas – vor allem in seinem »Litera-
turbericht zur Logik der Sozialwissenschaften«
(1967) und in Erkenntnis und Interesse (1968) – theo-
retisch weiter ausgearbeitet. In erstgenanntem Text
führt er seinen Angriff gegen die neopositivistische
Angleichung von Gesellschafts- und Naturwissen-
200 III. Texte

schaften hauptsächlich mittels einer ausführlichen xive Akte auflösen lassen. In Erkenntnis und Interesse
Diskussion der Natur und der Funktion interpretati- wird dieses Modell in einer ausführlichen Diskus-
ven Verstehens in der Sozialforschung. Er legt dar, sion der Freud’schen Methodologie weiter ausgear-
dass jede Methodologie, die von der vorgängigen beitet. Habermas beschreibt die Psychoanalyse als
symbolischen Gestaltung der sozialen Realität ab- eine ›Tiefenhermeneutik‹ systematisch verzerrter
strahiert, zum Scheitern verurteilt ist, da sie die in- Kommunikation, die sich im Gegensatz zu einer
tersubjektiv geteilten Sinngehalte außer Acht lässt, normalen Hermeneutik auf theoretische Annahmen
die den soziokulturellen Hintergrund konstituieren, beruft. Insbesondere stützt sich die psychoanalyti-
vor welchem die vergesellschafteten Individuen in- sche Interpretation auf eine ›systematisch verallge-
teragieren. Zugleich lehnt er eine interpretivistische meinerte Geschichte‹ der psychodynamischen Ent-
Gleichsetzung der Sozialforschung mit der Sinnex- wicklung, die als eine ›narrative Folie‹ zur Rekon-
plikation ab. Die kulturelle Tradition müsse in Rela- struktion individueller Lebensgeschichten eingesetzt
tion zu dem objektiven Kontext der Systeme gesell- wurde; vor dieser Folie können die Subjekte die Ur-
schaftlicher Arbeit und politischer Herrschaft gese- sprünge ihrer Selbstmissverständnisse erkennen. In-
hen werden, so dass subjektive Sinnzusammenhänge dem er dieses Modell als einen Anhaltspunkt für die
in Relation zu objektiven – häufig latenten – Sinnzu- Methodologie des Historischen Materialismus
sammenhängen untersucht und dabei genauer auf nimmt, kann Habermas letzteren als einen ›systema-
ihren ideologische Gehalt überprüft werden könn- tisch‹ oder ›theoretisch‹ verallgemeinerten Rahmen
ten. Daher müsse die kritische Theorie das interpre- begreifen, der eine doppelte – sowohl handlungs- als
tative Verstehen in einen größeren Rahmen integrie- auch systemtheoretische – Perspektive auf die Gat-
ren, der es ermögliche, die empirischen Bedingun- tungsgeschichte eröffnet und es ermöglicht, die ge-
gen zu erfassen, nach denen sich kulturelle Tra- sellschaftlichen Ursprünge ideologisch verzerrter
ditionen historisch veränderten. Kommunikation aufzudecken. In der anschließen-
In Die Logik der Sozialwissenschaften wird dieser den Diskussion mit Gadamer hebt Habermas wie-
allgemeine Interpretationsrahmen als eine histori- derholt hervor, sich auf einen theoretisch verallge-
sche Analyse sozialer Systeme bezeichnet, die in der meinerten interpretativen Rahmen zu stützen, um
Tradition des Historischen Materialismus steht, wo- die Kritische Theorie von dem abzusetzen, was er
bei dieser jedoch einer Revision unterzogen wird, für die historizistischen und relativistischen Impli-
um den Errungenschaften des sozialwissenschaftli- kationen soziohistorischer Hermeneutik hielt (Apel
chen Funktionalismus und vor allem der Parsons- et al. 1971).
schen Theorie sozialer Systeme gerecht zu werden.
Zugleich muss sich der Funktionalismus seinerseits Die Theorie sozialer Systeme
von seinem szientistischen Selbstmissverständnis
lösen und sich seiner nicht zu eliminierenden histo- Anfang der 1970er Jahre begann Habermas, auf eine
rischen, hermeneutischen und praktischen Mo- noch weit robustere theoretische Ausrichtung zuzu-
mente bewusst werden. Dies bedeutet, ihn nicht als steuern; dies zeigt sich in seiner systematischen Be-
eine allgemeine Theorie empirisch-analytischer Art schäftigung mit Sprachtheorien und Theorien der
zu verstehen, sondern ihn vielmehr als eine allge- ontogenetischen Entwicklung ebenso wie in seinen
meine Interpretation der formativen Prozesse der intensivierten Bemühungen, sich über das Wesen
menschlichen Gattung – im Lichte einer in der Pra- und die Grenzen der Theorie sozialer Systeme Klar-
xis entworfenen herrschaftsfreien Zukunft – zu se- heit zu verschaffen: Sowohl die »Vorbereitende[n]
hen. Bemerkungen zu einer Theorie der kommunikati-
In Die Logik der Sozialwissenschaften wurde die ven Kompetenz« (s. Kap. III.5) als auch der Essay
Logik solcher allgemeiner Interpretationen auch im »Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie?«
Zusammenhang der Psychoanalyse erläutert, wo- erschienen 1971 (Habermas/Luhmann 1971). Aus
durch eine doppelte Perspektive – auf den subjekti- dem neuen Forschungsprogramm ergibt sich die
ven und auf den objektiven, oft unbewussten Sinn – Forderung nach einer allgemeinen Theorie sprach-
eingeräumt wird; damit wurde zugleich auch eine licher Verständigung in Form einer Universalprag-
Kritik verzerrter Kommunikationsformen ermög- matik (s. Kap. IV.14); diese sollte als die Basis einer
licht. Außerdem wird damit ein Modell für die Ana- Theorie der individuellen Entwicklung in Form einer
lyse solcher kausaler Relationen bereitgestellt, die allgemeinen Darstellung des stufenweisen Erwerbs
symbolischer Natur sind und sich daher durch refle- kommunikativer oder interaktiver Kompetenz die-
7. Geschichte und Evolution 201

nen; und auf diese beiden Theorien sollte eine Theo- Ansicht nach ist dieses Vorgehen unerlässlich, um
rie sozialer Evolution aufbauen, die von Habermas die kritische Dimension der Gesellschaftstheorie zu
als eine handlungs- und systemtheoretische Rekon- bewahren, da der neo-evolutionistische Naturalis-
struktion des Historischen Materialismus verstan- mus der Theorie sozialer Systeme normative Struk-
den wird. Zur Rekonstruktion des Historischen Mate- turen auf funktional interdependente, auf das Über-
rialismus enthält zwar einen Essay über die Entwick- leben in einer komplexen Umwelt ausgerichtete Mo-
lung der Ich-Identität und des Moralbewusstseins, mente eines Gesellschaftssystems reduzierte (s. Kap.
doch legt dieser Text das Hauptaugenmerk auf die II.12 und IV.7). Dies läuft in Habermas’ Sicht auf
soziale Evolution, die auch das thematische Zentrum eine akzentuierte Form eines Normenskeptizismus
dieses Artikels bilden wird. jener Art hinaus, die Max Weber in klassischer Weise
Parsons’ struktureller Funktionalismus interes- beschrieben hatte; die Legitimität wird durch den
siert Habermas als ein Versuch, den handlungstheo- Glauben an die Legitimität ersetzt, und die Sozial-
retischen Bezugsrahmen in eine Theorie des Gesell- forschung wird umgestellt auf die Erforschung jener
schaftssystems als eines Komplexes funktional aus- Mechanismen, die diesen Glauben erzeugen, auf die
differenzierter Subsysteme zu integrieren. Doch er Erforschung der funktionalen Äquivalente, die die-
kritisiert Parsons dafür, die handlungstheoretische sen ersetzen könnten, und dergleichen mehr (s. Kap.
Perspektive letzten Endes der systemtheoretischen IV.18).
Perspektive untergeordnet zu haben – insbesondere
seit er Überlegungen der Biokybernetik in seine Die Rekonstruktion
Theorie der gesellschaftlichen Evolution übernom- des Historischen Materialismus
men und dadurch die hermeneutischen und die kri-
tischen Momente der Sozialforschung ausgeschaltet In seiner ausführlichen systematischen Einleitung
hatte. Parsons spätere Arbeiten lösen an der hand- zu Zur Rekonstruktion des Historischen Materialis-
lungstheoretischen Front eine Revolte in Gestalt ei- mus, »Historischer Materialismus und die Entwick-
ner ganzen Reihe radikal interpretativer Ansätze zur lung normativer Strukturen« (RHM, 9–48), in den
Sozialforschung aus – von der Phänomenologie und vier Essays von Teil III dieses Bandes und insbeson-
der Ethnomethodologie angefangen bis hin zum so- dere im Titelaufsatz (ebd., 144–199) stellt Habermas
zialen Interaktionismus, zur Sprachanalyse und zur seinen Ansatz zur Rekonstruktion des Historischen
Hermeneutik. In unserem Kontext ist jedoch die Re- Materialismus dar. Diese stützt sich auf die These,
aktion auf der anderen, der systemtheoretischen dass Entwicklungen in der Sphäre der sozialen Inte-
Front von unmittelbarem Interesse: die Auflösung gration nicht einfach aus Entwicklungen in der
der internen Spannungen in Parsons’ dualistischem Sphäre der materiellen Produktion folgen, sondern
Ansatz mittels einer radikaleren und konsistenteren ihre eigene, unabhängige Logik besitzen. Habermas’
Unterordnung der Theorie sozialen Handelns unter Strategie bei der Ausarbeitung dieser Logik besteht
die Anforderungen einer Theorie sozialer Systeme. darin, strukturelle Vergleiche mit solchen Entwick-
Der exemplarische Vertreter dieser Herangehens- lungslogiken anzustellen, die für ontogenetische
weise ist Niklas Luhmann, mit dem Habermas in Prozesse erarbeitet worden waren, und das bedeutet,
den frühen 1970er Jahren eine intellektuelle Ausei- nach ›homologen Bewusstseinsstrukturen‹ in der
nandersetzung begann (Habermas/Luhmann 1971), Geschichte des Individuums und der Gattung Aus-
die bis zu Luhmanns Tod 1999 fortdauerte (s. Kap. schau zu halten. Er schlägt drei Gebiete für solche
II.11). Auf dieser Front kann man das in Zur Rekon- Vergleiche vor: Rationalitätsstrukturen in der Ich-
struktion des Historischen Materialismus vorgestellte Entwicklung und in der Evolution der Weltanschau-
Forschungsprogramm als eine systematische An- ungen; die Entwicklung der Ich-Identität und der
strengung betrachten, dem rein systemtheoretischen kollektiven Identität; die Entwicklung des Moralbe-
Ansatz zur gesellschaftlichen Evolution, wie ihn wusstseins und die Evolution moralischer und religi-
Luhmann in »Evolution und Geschichte« (1976) öser Vorstellungen. In Zur Rekonstruktion des Histo-
skizziert hatte, eine Herangehensweise entgegenzu- rischen Materialismus liegt der Schwerpunkt auf letz-
stellen, die die funktionalistische Analyse mit einer terem Gebiet, und insbesondere auf der Evolution
davon unabhängigen Theorie gesellschaftlichen von Moral und Recht, da diese als der Schlüssel zur
Handelns verbindet; Habermas fasst dies in Entgeg- Evolution der Formen sozialer Integration betrach-
nung auf Luhmann in seinem Aufsatz »Geschichte tet wird.
und Evolution« (RHM, 200–259) zusammen. Seiner Ein neues Element in Habermas’ Beschäftigung
202 III. Texte

mit dem Historischen Materialismus stellte in den Mitarbeiter Rainer Döbert (1973) und – vor allem –
1970er Jahren der von Jean Piaget und anderen be- Klaus Eder (1973; 1976) stützt. Die handlungstheo-
gründete genetische Strukturalismus dar (s. Kap. retische Analyse (in ihrer an der Entwicklung von
II.10), der es erlaubte, die kognitive Entwicklung als Kompetenzen orientierten Form) einerseits und Ele-
den stufenweisen Erwerb von Grundkompetenzen mente der funktionalistischen Systemtheorie ande-
zu verstehen. Habermas interessiert sich besonders rerseits werden in dieser Skizze zugleich – analytisch
für die normative Komponente dieses Forschungs- – voneinander geschieden und – empirisch – mitei-
programms, wie sie von Lawrence Kohlberg und an- nander verknüpft. Insbesondere wird die Entwick-
deren – vor allem in ihrer Darstellung der Entwick- lungslogik normativer Strukturen, die lediglich den
lung des Moralbewusstseins – ausgearbeitet worden logischen Raum für die Gestaltung immer komple-
war. Dieser Strang der kognitiven Entwicklungspsy- xerer Strukturformen abgrenzt, von der realen Ent-
chologie stellt, so Habermas, den Schlüssel zur Logik wicklungsdynamik unterschieden, die von kontin-
der Entwicklung normativer Strukturen dar. Die genten Umständen und empirischen Lernprozessen
Gattung »[…] lernt nicht nur in der für die Produk- abhängig ist.
tivkraftentfaltung entscheidenden Dimension des Nach diesem Modell vollzieht sich die soziale
technisch verwertbaren Wissens, sondern auch in Evolution nicht in der Institutionalisierung spezifi-
der für die Interaktionsstrukturen ausschlaggeben- scher Werte – wie bei Parsons –, sondern in der ›in-
den Dimension des moralisch-praktischen Bewußt- stitutionellen Verkörperung von Rationalitätsstruk-
seins« (RHM, 162 f.). Die gesellschaftliche Evolution turen‹, die das Lernen auf neuen Ebenen möglich
ließe sich so als ein zweidimensionaler Lernprozess macht. Im eigentlichen Sinne des Wortes lernen nur
darstellen, dessen Stufen sich strukturell beschrei- Individuen; doch die Lernfähigkeiten und -erfolge
ben und sich nach einer Entwicklungslogik anord- der Individuen sind eine Ressource, die bei der Ent-
nen lassen, und sich somit als eine irreversible Folge stehung neuer Gesellschaftsstrukturen in Anspruch
diskreter, zunehmend komplexer und umfassender genommen werden kann. Wenn die Ergebnisse indi-
werdender Stufen auffassen lassen, wobei die späte- vidueller Lernprozesse in die kulturelle Tradition
ren Stufen die früheren voraussetzen und auf diese Eingang finden, dienen sie als eine Art kognitives
aufbauen (s. Kap. IV.19). Diese Zweidimensionalität Potential, das von sozialen Bewegungen genutzt wer-
besagt, dass die Rationalisierungsprozesse in der den kann, sobald unlösbare systemische Probleme
Sphäre kommunikativer Interaktion mit den Ratio- eine Transformation der Grundform gesellschaftli-
nalisierungsprozessen in der Sphäre der Produktiv- cher Integration erforderlich machen. Das bedeutet,
kräfte weder identisch sind noch direkt aus ihnen dass latent vorhandene Rationalitätsstrukturen
folgen. In der geschichtlichen Realität – so Haber- durch soziale Bewegungen in die gesellschaftliche
mas’ These – ist es das Lernen in der erstgenannten Praxis umgesetzt werden können, so dass sie letzten
Dimension, das als ›Schrittmacher‹ der gesellschaft- Endes eine institutionelle Verkörperung erreichen
lichen Evolution gedient hat, indem es die Lösung (RHM, 118). Selbstverständlich ist die Antwort auf
krisenverursachender Systemprobleme und das Ent- die Frage, ob und wie Probleme entstehen, die die
stehen neuer Institutionen ermöglicht hat (RHM, strukturell begrenzte Anpassungsfähigkeit einer Ge-
35). Die großen Entwicklungen, die beispielsweise sellschaft übersteigen, eine kontingente; ob die not-
zum Aufstieg der ersten Zivilisationen oder zum wendigen, jedoch noch nicht institutionalisierten
Aufstieg des Kapitalismus geführt hatten, folgten (praktischen und technischen) Rationalitätsstruktu-
nicht etwa auf bemerkenswerte Entwicklungen der ren zur Verfügung stehen, ob soziale Bewegungen
Produktivkräfte, sondern hatten diese zur Folge; entstehen, die sich dieser Herausforderung durch die
diese Entwicklungen waren durch die Entwicklung Aktivierung eines solchen Potentials stellen, und ob
neuer Formen gesellschaftlicher Integration und die entstehenden Institutionen sich stabilisieren las-
neuer institutioneller Rahmen bedingt. Daher lautet sen, hängt ebenfalls von kontingenten Umständen
die zentrale sozial-evolutionäre Frage: Wie kommen ab (RHM, 123). Dennoch weist die aus der Institutio-
neue Formen gesellschaftlicher Integration zu- nalisierung neuer Rationalitätsstrukturen resultie-
stande? rende Entwicklung selbst die Form eines gesell-
Im Titelaufsatz »Zur Rekonstruktion des Histori- schaftlichen Lernprozesses auf.
schen Materialismus« legt Habermas eine skizzen- Wie schon bemerkt wurde, hängt gesellschaftli-
hafte Erklärung der Evolution von Moral und Recht ches Lernen von individuellem Lernen ab; dieses
vor, die sich in großem Maße auf das Werk seiner übernimmt in der Theorie der gesellschaftlichen
7. Geschichte und Evolution 203

Evolution eine Rolle, die sich ungefähr mit der Rolle struktion des Historischen Materialismus die interne
der Mutation in der biologischen Evolutionstheorie Einheit von Theorie und Praxis aufgegeben worden
vergleichen lässt, da die Ergebnisse des Lernens be- sei, die Habermas seit den 1950er Jahren als das Mar-
wahrt und als Elemente einer Tradition weitergege- kenzeichen der Kritischen Theorie angesehen hatte.
ben werden können. Diese Analogie stößt jedoch an Um dieses Unbehagen auszuräumen, bemerkt er,
eine unübersehbare Grenze: Die Ontogenese von dass die Kritische Theorie sich nicht in der Kon-
Bewusstseinsstrukturen ist keine Angelegenheit zu- struktion einer Theorie der sozialen Evolution – und
fälliger Variationen, sondern stellt selbst einen ge- das heißt: in der Rekonstruktion des Historischen
richteten Prozess dar (RHM, 188). Und genau dies Materialismus – erschöpfe; ihr letztes Ziel sei eine
wird in systemtheoretischen Darstellungen der ge- historisch orientierte Analyse der gegenwärtigen
sellschaftlichen Evolution außer Acht gelassen. Sie Gesellschaft in praktischer Absicht, und das heißt:
können von Nutzen sein, wenn Probleme beschrie- eine Rekonstruktion der Kritik der kapitalistischen
ben und analysiert werden sollen, die die strukturell Gesellschaft. Im Gegensatz zu der retrospektiven Er-
begrenzte Anpassungsfähigkeit einer Gesellschaft klärung vergangener Entwicklungen hat die Analyse
übersteigen, oder wenn man verstehen möchte, wa- der gegenwärtigen Gesellschaft einen ›unmittelbar
rum gewisse Strukturentwicklungen die Lösung die- praktischen Bezug‹; denn ihre ›Zeitdiagnose‹ über-
ser Probleme ermöglichen; doch sie können nicht nimmt den in der Praxis entworfenen Standpunkt
angemessen erklären, wie diese Strukturtransforma- struktureller Möglichkeiten, die noch nicht verwirk-
tionen zustande kommen. Darüber hinaus sind die licht worden sind (RHM, 250). Kurz gesagt: Während
Richtungskriterien des Fortschritts, die von den neo- die Konstruktion sozial-evolutionärer Darstellungen
evolutionistischen Funktionalisten typischerweise vergangener Transformationen eine grundlegend
angeführt werden (z. B. die Steigerung der System- theoretische Aufgabe darstellt, hat die Diagnose ge-
komplexität oder der Steuerungskapazität) ebenfalls genwärtiger Probleme die Form einer prospektiven
inadäquat, da ihnen jegliche innere Logik der Ent- Retrospektive unter Gesichtspunkten, die durch ein
wicklung entgeht. praktisches Interesse an der Zukunft eröffnet wer-
den.
Geschichte und Evolution In seinem Essay »Geschichte und Evolution« be-
tont Habermas den theoretischen Charakter seiner
Obwohl Habermas Ende der 1960er Jahre explizit Darstellung der sozialen Evolution und räumt damit
versucht, den radikal situativen Charakter rein inter- auch ein, das historisch-hermeneutische Moment
pretativer Ansätze zur Sozialforschung zu entschär- seiner früheren Rekonstruktionen des Historischen
fen, indem er einen allgemeinen Interpretationsrah- Materialismus aufgegeben zu haben. Er unterschei-
men für eine historisch orientierte Funktionsanalyse det explizit die Theorie der sozialen Evolution von
konstruiert, blockiert die interne Beziehung der Kri- der Geschichtsphilosophie ebenso wie von einer
tischen Theorie zu einem in der Praxis angelegten Universalgeschichte der Gattung; im Gegensatz zu
Ende der Geschichte jeden Versuch, diese mit reiner dieser Theorie bleibt jegliche Form der Geschichts-
Theorie gleichzusetzen. Seine Darstellung der ›Bil- schreibung an einen narrativen Bezugsrahmen und
dungsprozesse der Gattung‹ ist in ihrem Wesen pra- damit an einen bestimmten hermeneutischen Stand-
xisorientiert; wenn sie auch ›systematisch verallge- punkt gebunden. Er unterscheidet diese Theorie zu-
meinert‹ ist, bietet sie doch weiterhin ein ›hand- gleich von einer systematisch verallgemeinerten Ge-
lungsorientiertes Selbstverständnis‹. Im Gegensatz schichtsschreibung – und das heißt: Der Historische
dazu versteht Habermas in Zur Rekonstruktion des Materialismus wird nicht mehr als ein allgemeiner
Historischen Materialismus die von ihm vertretenen interpretatorischer oder narrativer Rahmen angese-
sozial-evolutionären Hypothesen als theoretische hen, denn auch dieser ist zwangsläufig mit einen
Aussagen im eigentlichen Sinne: Sie müssen in ei- Standpunkt in der Praxis verknüpft. Die von einer
nem theoretischen Diskurs überprüft werden (RHM, Theorie sozialer Evolution angebotenen Erklärun-
246). Rekonstruktive Theorien beanspruchen eine gen »[…] können nicht einmal in Erzählform ge-
universelle, vom historisch-hermeneutischen Stand- bracht werden. Im Rahmen der Entwicklungstheorie
punkt unabhängige Gültigkeit: »Für die Entwicklung müssen diese Übergänge als abstrakte Übergänge zu
einer Kompetenz […] gibt es hingegen nur eine ein- neuen Lernniveaus gedacht werden […]« (RHM,
zige richtige Theorie […]« (RHM, 217). 244 f.). Diese strikte Trennung wirft einige Fragen
Damit stellte sich die Frage, ob mit Zur Rekon- auf. Es ist nicht einsichtig, dass Elemente einer evo-
204 III. Texte

lutionären Erklärung – wie etwa die Bestimmung sozialen Evolution in Habermas’ Werk im Hinter-
der Systemprobleme und der relevanten empirischen grund; es wurde oft auf sie Bezug genommen, doch
Umstände, die strukturelle Beschreibung des Zu- sie wurde in keiner wesentlichen Hinsicht weiterent-
standes ›vorher‹ und ›nachher‹, die Kennzeichnung wickelt. Dies änderte sich erst nach der Jahrhundert-
sozialer Bewegungen als Urheber des Wandels, die wende, als Habermas sich zunehmend in den gegen-
Darstellung der Schaffung und Stabilisierung neuer wärtigen Debatten über Religion und Moderne en-
institutioneller Formen usw. – in einer ›theoretisch gagierte; dies veranlasste ihn allmählich dazu, die
verallgemeinerten Geschichtsschreibung‹ (etwa des Entwicklungslogik der Weltanschauungen und ge-
Übergangs zum liberalen Kapitalismus im frühneu- rade auch jener Weltreligionen, die Hochkulturen
zeitlichen Europa) nicht auftreten dürften. Haber- geprägt haben, neu zu überdenken (s. Kap. III.15).
mas selbst weist darauf hin, dass die vielen Histori-
ker, die sich auf die Sozialwissenschaften stützen, Literatur
sich typischerweise nicht nur auf Akteure und ihre
Alford, C. Fred: Rezension der englischen Übersetzung von
Handlungen, sondern auch auf andere Faktoren be- RHM. In: New German Critique 18 (1979), 176–180.
ziehen: z. B. auf Institutionen, auf ökonomische, po- Apel, Karl-Otto et al.: Hermeneutik und Ideologiekritik.
litische und rechtliche Systeme, oder auf kulturelle Frankfurt a. M. 1971.
Muster; zudem bezieht sich dieses Erklärungs- Arnason, Johann: Rezension der englischen Übersetzung
schema auf gesellschaftliche Gruppen als ›Träger‹ von RHM. In: Telos 34 (1979), 215.
Assoun, Paul Laurent/Raulet, Gérard: Marxisme et théorie
neuer Ideen und Praktiken und ›Agenten‹ gesell- critique. Paris 1978.
schaftlicher Veränderung. Jedenfalls scheint es, dass Besnier, Jean-Michael: »Le Marxisme au passé«. In: Revue
die vorgeschlagene evolutionäre Erklärung eines be- de Métaphysique et de Morale 85 (1980), 387–411.
stimmten epochalen Übergangs – im Gegensatz zu Döbert, Rainer: Systemtheorie und die Entwicklung religiö-
einer abstrakten und verallgemeinerten Entwick- ser Deutungssysteme. Zur Logik des sozialwissenschaftli-
chen Funktionalismus. Frankfurt a. M. 1973.
lungslogik – nicht einfach an die Seite von konkur- Eder, Klaus (Hg.): Die Entstehung von Klassengesellschaften.
rierenden historischen Erklärungen treten könnte; Frankfurt a. M. 1973.
sie müsste gegenüber diesen anderen Erklärungen –: Die Entstehung staatlich organisierter Gesellschaften. Ein
einklagen, dass sie die korrekte Erklärung bietet. Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution. Frankfurt
a. M. 1976.
Flood, Tony: »Jürgen Habermas’s Critique of Marxism«. In:
Rezeption Science and Society 41 (1978), 448–464.
Forester, John: Rezension der englischen Übersetzung von
Die in Zur Rekonstruktion des Historischen Materia- RHM. In: Theory and Society 10 (1981), 745–750.
lismus versammelten Essays werden ausdrücklich als Gelder, Frederik van: Habermas’ Begriff des historischen
der Auftakt zu einem neuen Forschungsprogramm Materialismus. Diss. Frankfurt a. M. 1985.
Giegel, Hans-Joachim: System und Krise. Kritik der Luh-
gekennzeichnet. Dieses Programm erreicht einige mannschen Gesellschaftstheorie. Beitrag zur Habermas-
Jahre später mit der Veröffentlichung der Theorie des Luhmann Diskussion. Frankfurt a. M. 1975.
kommunikativen Handelns (1981) seinen theoreti- Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesell-
schen Kulminationspunkt, und dieses Werk be- schaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemfor-
herrschte in der Folgezeit die Diskussion über Ha- schung? Frankfurt a. M. 1971.
Held, David: Rezensinon von RHM. In: The Sociological Re-
bermas’ Ansatz einer Theorie des sozialen Wandels.
view 26 (1978), 183–194.
In der Zwischenzeit gab es einige Rezensionen zu Honneth, Axel/Jaeggi, Urs (Hg.): Arbeit, Handlung, Norma-
Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus tivität. Frankfurt a. M. 1980.
(z. B. Keane 1977; Held 1978; Arnason 1979), ebenso Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.): Kommunikatives Handeln.
wie einige Diskussionsbeiträge zu seiner Rekon- Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikati-
struktion des Historischen Materialismus (z. B. ven Handelns«. Frankfurt a. M. 1986.
Ingram, David: Habermas and the Dialectic of Reason. New
Assoun/Raulet 1978; Honneth/Jaeggi 1980) und zu Haven 1987.
seiner Theorie gesellschaftlicher Evolution (vgl. Keane, John: Rezension von RHM. In: Theory and Society 4
McCarthy 1989, Anhang 3; Schmid 1982). Aber (1977), 561–572.
nichts davon kommt der intensiven und detaillierten Luhmann, Niklas: »Evolution und Geschichte«. In: Ge-
Diskussion der Theorie des kommunikativen Han- schichte und Gesellschaft. Zeitschrift für historische Sozi-
alwissenschaft 2 (1976), 284–309.
delns gleich (s. Kap. III.10). Nach der Publikation Maciejewski, Franz (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder So-
und der Rezeption der Theorie des kommunikativen zialtechnologie. Beiträge zur Habermas-Luhmann Dis-
Handelns (Honneth/Joas 1986) blieb die Theorie der kussion. Frankfurt a. M. 1973.
8. Aporien der kulturellen Moderne 205

– (Hg.): Theorie der Gesellschaft oder Sozialtechnologie.


Neue Beiträge zur Habermas-Luhmann Diskussion.
8. Aporien der kulturellen
Frankfurt a. M. 1974. Moderne
McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse.
Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 21989 »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«
(mit einem Anhang zur Taschenbuchausg.) (engl. 1978). (1980)
Oetzel, Klaus-Dieter: »Vernunft und Parteilichkeit. Zu Ha-
bermas’ Strategie einer Rekonstruktion des historischen Im Jahr 1980 wurde Habermas der zum ersten Mal
Materialismus«. In: Leviathan 5 (1977), 552–577. verliehene Adorno-Preis zuerkannt. Die Rede, die
Owen, David: Between Reason and History: Habermas and
the Idea of Progress. Albany, NY 2002. Habermas bei Entgegennahme des Preises am Jah-
Rockmore, Tom: Habermas on Historical Materialism. restag von Adornos Geburtstag in der Frankfurter
Bloomington, Ind. 1989. Paulskirche unter dem Titel »Die Moderne – ein un-
Schmid, Michael: »Habermas’s Theory of Social Evolu- vollendetes Projekt« (MUP) gehalten hat, unter-
tion«. In: Thompson/Held 1982, 162–180. nimmt eine scharfe Attacke auf ein Bündel hetero-
Sensat, Julius Jr.: Habermas and Marxism: An Appraisal.
London 1979. gener Positionen, die Habermas als ebenso viele
Thompson, John/Held, David (Hg.): Habermas: Critical Spielarten der Preisgabe der emanzipatorischen
Debates. Cambridge, Mass. 1982. Ideen der Moderne versteht; Habermas gibt ihnen
Thomas McCarthy (Übers. Nikolaus Gramm) den gemeinsamen Namen »Postmoderne«. Haber-
mas tut dies in dem Selbstverständnis, einer grund-
legenden Intention Adornos zu folgen, der »sich
dem Geist der Moderne [...] vorbehaltlos verschrie-
ben« habe (MUP, 444). Die Rede will, in anderer
Formulierung, die Frage beantworten, »wie es sich
mit der Bewußtseinsstellung der Moderne heute
verhält« (ebd.).
Habermas’ These lautet, dass die Beantwortung
dieser Frage identisch damit ist, eine der Gegenwart
angemessene Antwort auf die Frage »Was ist Aufklä-
rung?« zu geben; Aufklärung ist das »Projekt der
Moderne«. Dabei kann die Frage »Was ist Aufklä-
rung?« heute, unter gegenwärtigen Bedingungen zu
beantworten, nicht heißen, den aufklärerischen Ap-
pell an den Mut, selber zu denken (Kant 1964), bloß
zu wiederholen. Es verlangt vielmehr, die »Aporien«
(MUP, 452) zu begreifen, in die die Versuche, diesen
Appell in die Tat umzusetzen, in den letzten zwei-
hundert Jahren geraten sind. Mehr noch als darin,
sich dem Geist der Moderne ›vorbehaltlos‹ zu ver-
schreiben, erweist sich Habermas’ Adornopreis-
Rede hierin vom Geist Adornos bestimmt: Das Pro-
jekt der Aufklärung weiter zu treiben, verlangt zual-
lererst, die ›Dialektik‹ – oder eben die »Aporien« – der
Aufklärung zu denken. Die Aufklärung muss selbst-
reflexiv werden.
Angesichts dieses Programms mag es im Rück-
blick verwunderlich erscheinen, welche Polemiken
Habermas’ Rede ausgelöst hat – vor allem im Ver-
hältnis zu poststrukturalistischen, neoavantgardisti-
schen und linksalternativen Positionen (vgl. Kraus-
haar u. a. 1980). Der Grund dafür liegt freilich darin,
dass Habermas in seiner Rede all diese Positionen
(die er deshalb »jungkonservativ« nennt, vgl. MUP,
463) der Preisgabe der Aufklärungsidee bezichtigt
206 III. Texte

hat: In ihrem Versuch, die ›Aporien‹ der Aufklärung modernen Gesellschaft als ein Gefüge selbständiger
zu denken, vermutet Habermas bloße Anti-Aufklä- und in ihrer jeweiligen Eigenlogik rationalisierter
rung. Diese Bezichtigung hat die Rezeption von Ha- Sphären verliert ebenso normativ wie deskriptiv an
bermas’ eigener Theorie in der Folge weit stärker be- Überzeugungskraft (vgl. Bonacker/Reckwitz 2007).
einträchtigt als die jener Theorien. Eine Nachzeich- Wenn Habermas die Frage nach der Moderne un-
nung der genannten Polemiken im Anschluss an ter gegenwärtigen Bedingungen neu stellen und be-
Habermas’ Rede wäre für eine Theoriegeschichte der antworten will, dann bezieht er sich jedoch nicht nur
1980er und 1990er Jahre daher von erheblicher Be- auf das Aufkommen dieser Debatten, die auf eine
deutung. Hier geht es dagegen vor allem um die ar- kritische Revision des überkommenen Modernever-
gumentative Struktur von Habermas’ Überlegungen ständnisses zielen. Die Herausforderung, die darin
und ihre Probleme. Bei aller Knappheit der Darle- liegt, diese Frage jetzt zu stellen, liegt nach Haber-
gung entfaltet Habermas’ Adornopreis-Rede ein mas vielmehr darin, dass sich die dominante Rheto-
überaus anspruchsvolles Theorieprogramm; es ist rik dieser Debatten von den 1960er zu den 1970er
die Blaupause der großen systematischen Bücher der Jahren grundlegend verändert hat (Habermas 1981;
beiden folgenden Jahrzehnte. vgl. Brunkhorst 1987). Während die Debatten um
einen Wandel moderner Gesellschaften in den
1960er Jahren so geführt wurden, dass dabei nach
Das Argument
den Chancen einer Fortsetzung, gar Radikalisierung
Das Argument der Rede entfaltet sich in drei Schrit- des ursprünglich emanzipatorischen Gehalts der
ten: Habermas unternimmt zunächst eine kurze Be- Moderne gefragt wurde, lautet die Frage in den
stimmung der unübersichtlichen Situation, in der 1970er Jahren dagegen, inwiefern diese Veränderun-
sich heute die Frage nach der Moderne stellt; darauf gen moderner Gesellschaften die Chance bieten, mit
folgt eine ebenso knappe Zurückweisung der neo- der tendenziell totalitären Logik der Moderne zu
konservativen Deutung dieser Situation durch die brechen. Zwei Dinge also haben sich in Habermas’
Erläuterung des Verhältnisses von ›gesellschaftli- Perspektive zugleich verschoben: der Begriff der
cher‹ und ›kultureller‹ Moderne; schließlich expo- Moderne und damit die Erwartungen und die Be-
niert der Hauptteil der Rede die »Aporien« der kul- griffe, mit denen auf die gesellschaftlichen Transfor-
turellen Moderne und schlägt auf dieser Grundlage mationen der Gegenwart geschaut wird. Der Zeit-
eine Reformulierung des Projekts der Aufklärung geist, so Habermas, will es so sehen, dass sich in den
vor. – ökonomischen, technologischen, administrativen,
kulturellen – Veränderungen der Gegenwart das
Das Altern der Moderne: Die Gegenwart, in der Ha- Ende der Moderne vollzieht.
bermas die Frage nach der Moderne aufnimmt, ist Die Adornopreis-Rede zeigt die Wirksamkeit die-
bestimmt durch die anschwellende Diskussion um ser Deutungsstrategie im Feld der Künste auf. Ha-
den grundlegenden Wandel moderner Gesellschaf- bermas beginnt mit der Erinnerung daran, dass der
ten seit der Mitte des 20. Jahrhunderts. Darin wird Ausdruck ›modern‹ stets die Gegenwart als das
auf unterschiedlichste Weise der Eindruck formu- Neue, das sich vom Alten absetzt, bezeichnete (MUP,
liert, dass ein Gesellschaftsmodell, das als ›klassi- 446 f.). Dabei geht es den Modernen aber nicht um
sche‹, ›hohe‹ oder ›erste‹ Moderne bezeichnet wird, Innovation um ihrer selbst willen. Ihre Innovationen
zu Ende gekommen ist und durch ein neues, dessen sind vielmehr getrieben von dem Anspruch auf ›Au-
Namen ebenso vielfältig sind, ersetzt zu werden be- thentizität‹ – darauf, es zum ersten Mal richtig zu
ginnt. Diese Diagnose betrifft alle gesellschaftlichen machen, indem man mit der alten Weise bricht. Das
Bereiche: von der Ökonomie (Ende des industriellen Neue ist der Einbruch des Wahren, denn das Wahre
Monopolkapitalismus) und der Technologie (Beginn kann nur im Bruch mit dem geschichtlichen Traditi-
der digitalen Informationstechnologie), über die onszusammenhang eintreten. Benjamins Begriff der
staatlichen Institutionen wie Recht, Verwaltung und Jetztzeit steht dafür ebenso wie Octavio Paz’ Ein-
Erziehung (die in Debatten um Hierarchie und Bü- sicht, der Modernismus sei »als sich selbst negie-
rokratie, Zentralität und Netzwerkstruktur verstrickt rende Bewegung« angetrieben von der »›Sehnsucht
werden), bis zu den Sphären der Kultur (Ersetzung nach wahrer Präsenz‹« (MUP, 447). Diese »Gesin-
von ›rationalistischen‹ durch ›kontextualistische‹ nung der ästhetischen Moderne« sieht Habermas,
Modelle in Wissenschaft, Moral und Kunst). Das ex- mit Peter Bürger (1974) und Paz selbst, als »geal-
emplarisch von Max Weber formulierte Konzept der tert«, wenn nicht gescheitert an: Die Diagnose vom
8. Aporien der kulturellen Moderne 207

Ende der Avantgarde trifft zu. Die Frage ist nur, was tive Einwand aber noch so reformuliert und radika-
das bedeutet: »Signalisiert es den Abschied von der lisiert werden, dass, so wie die gesellschaftlichen,
Moderne? Bedeutet die Postavantgarde bereits den auch die kulturellen Modernisierungsprozesse zer-
Übergang zur Postmoderne?« (MUP, 448). Oder gibt störerisch sind. Und dieser Einwand ist nach Haber-
es eine postavantgardistische Moderne – und, in mas nicht einfach zurückzuweisen: »Auch unabhän-
Analogie dazu, auch eine postmonopolistische, post- gig von den Folgeproblemen der gesellschaftlichen
bürokratische, posthierarchische, postrationalisti- Modernisierung, auch aus der Innenansicht der kul-
sche Moderne? turellen Entwicklung ergeben sich Motive für den
Zweifel und die Verzweiflung am Projekt der Mo-
Die Krise gesellschaftlicher Modernisierung: Die neo- derne.« Die kulturelle Moderne bringt »ihre eigenen
konservative Deutung des Endes der Avantgarde Aporien« hervor (MUP, 452).
(Bell 1991) besagt, dass sie künstlerisch erschöpft ist,
zugleich aber gesellschaftlich eine nachhaltig dest- Die Aporien der kulturellen Moderne und ihre Auf-
ruktive Kraft entwickelt hat: »Die avantgardistische klärung: Der Hauptteil der Rede (MUP, 452–462)
Kunst dringt in die Wertorientierungen des Alltags- entwickelt ein Konzept der kulturellen Moderne, das
lebens ein und infiziert die Lebenswelt mit der Ge- nicht nur den neokonservativen Einwand, sie sei
sinnung des Modernismus« (MUP, 449). So erklären eine der Ursachen für die genannten Phänomene so-
sich in neokonservativer Deutung die desintegrati- zialer Desintegration, zurückweist, sondern die Ge-
ven Phänomene der konsumistischen, egoistischen, genbehauptung dazu aufstellt: Die kulturelle Mo-
narzisstischen, individualistischen Gegenwartskul- derne kann eine überzeugende Lösung für ihre eige-
tur. Die Neokonservativen versuchen es mit einer nen Aporien entwickeln – eine Lösung, die zwar die
halbierten Modernekritik: Die Moderne soll kultu- Aufgabe, »die gesellschaftliche Modernisierung in
rell bekämpft und überholt, ökonomisch, technolo- andere nichtkapitalistische Bahnen« zu lenken
gisch und politisch hingegen bejaht und verteidigt (MUP, 462), nicht ersetzen soll, die aber so verstan-
werden. In Deutschland hat die Ritter-Schule dies in den werden kann, dass sie in ihrem Feld, dem der
eine Theorie der Trennung von Gesellschaft und Kultur und insbesondere der Künste, vormacht, wie
Kultur gefasst, in der diese die Defizite jener nicht die Struktur einer solchen Umlenkung aussehen
kritisiert, sondern kompensiert. Das kann die Kultur könnte.
aber nur, wenn sie traditionell bleibt und den meta- Habermas beschreibt die Prozesse der Moderni-
physisch verlorenen Sinn surrogathaft ersetzt (MUP, sierung als solche der »Ausdifferenzierung« (MUP,
463 f.). Die Avantgarden, so der neokonservative 452 f.). Das ›Projekt der Moderne‹ besteht in einer
Einwand, bedrohen das Kompensationsgefüge mo- grundsätzlichen Transformation des traditionellen
derner Gesellschaften und destabilisieren sie daher Vernunftbegriffs: Vernunft wird in der Moderne
im Ganzen. nicht mehr ›substantiell‹ verstanden, als die Fähig-
Der Grundfehler der neokonservativen Deutung keit zur Einsicht in die bestehende Ordnung der
ist nach Habermas, dass sie die Ursache für die des- Welt, sondern prozedural, als die Fähigkeit zur Her-
integrativen Prozesse, die sie diagnostiziert (und ge- vorbringung vernünftiger Strukturen (Argumente,
gen die sich die ›neopopulistischen Proteste‹ der Ge- Theorien, Institutionen usw.) durch die Anwendung
genwart richten), falsch lokalisiert: Weil die Neokon- bestimmter Verfahren. Diese sind bereichsspezifisch
servativen sich blind machen (wollen) für die differenziert: Indem die »überlieferten Probleme [...]
zerstörerische Logik der »gesellschaftlichen Moder- jeweils als Erkenntnis-, als Gerechtigkeits-, als Ge-
nisierung, die unter dem Druck der Imperative von schmacksfragen behandelt werden können, kommt
Wirtschaftswachstum und staatlichen Organisati- es in der Neuzeit zu einer Ausdifferenzierung der
onsleistungen immer weiter in die Ökologie gewach- Wertsphären Wissenschaft, Moral und Kunst« (MUP,
sener Lebensformen, in die kommunikative Binnen- 452). Habermas begreift mithin die moderne Aus-
struktur geschichtlicher Lebenswelten eingreift« differenzierung vernunfttheoretisch: Sie ist ein Pro-
(MUP, 451), machen sie die Prozesse der kulturellen zess der Rationalisierung, damit eines Zugewinns an
Modernisierung dafür verantwortlich: »sie projizie- Wissen – der aber zugleich ein ganz neues Problem
ren die Ursachen, die sie nicht ans Licht bringen, auf schafft: der »Abstand zwischen den Expertenkultu-
die Ebene einer eigensinnig subversiven Kultur und rellen und dem breiten Publikum« wächst (MUP,
ihrer Anwälte« (MUP, 452). Auch nach dieser Klar- 453). Ein ganz neues Problem ist das nicht, weil die-
stellung der Kausalitäten könnte der neokonserva- ser Abstand in früheren Kulturen nicht bestanden
208 III. Texte

hätte, sondern weil dieser erst für die Moderne zum löst werden kann. Der Blick auf die Kunst belehrt
Problem wurde. Denn als prozedurales ist das aus- auch darüber, wie die Aufklärung ihr selbstprodu-
differenzierte Wissen seinem Sinn nach prinzipiell ziertes Problem tatsächlich zu lösen vermag: nicht
jedem zugänglich. Das ist die Aporie der kulturellen indem sie die Lebenswelt von einer der ausdifferen-
Moderne: Ihre ausdifferenzierte Vernunft ist auf zierten Expertenkulturen her zu verändern sucht,
Vollzug durch jeden angelegt und macht diesen un- sondern indem die Aufklärung die verschiedenen
möglich; das »Autonomwerden von spezialistisch normativen Gesichtspunkte, die in den ausdifferen-
bearbeiteten Sektoren« bedeutet zugleich »deren Ab- zierten Expertenkulturen spezialistisch behandelt
spaltung von einem Traditionsstrom, der sich in der werden, wieder in ein »Zusammenspiel« versetzt.
Hermeneutik der Alltagspraxis naturwüchsig fort- Das Projekt der Aufklärung besteht darin, die Kluft
bildet« (MUP, 454). Zugleich ist das der Grund, aus zwischen Expertenkulturen und Lebenswelt zu über-
dem der bloße Appell der Aufklärung, sich der eige- winden, indem ihrer beider Ansprüche konsistent
nen Vernunft zu bedienen, zu wissen zu wagen, nicht zusammengehalten werden: der Anspruch (der Ex-
ausreichend ist: Es ist kein habituelles, sondern ein pertenkulturen) auf Spezialisierung der kulturellen
strukturelles Problem, das die Aufklärung lösen Formen und der Anspruch (der Lebenswelt) auf »ein
muss. Die aporetische Grundstruktur der kulturel- zwangloses Zusammenspiel des Kognitiven mit dem
len Moderne zwingt dem Projekt der Aufklärung Moralisch-Praktischen und dem Ästhetisch-Expres-
eine in sich gegenläufige Programmatik auf: die aus- siven« (MUP, 459; vgl. Seel 1986). Wie, ja dass dies
differenzierten Gestalten der Vernunft »unbeirrt in überhaupt konsistent zu denken ist, zeigt sich nach
ihrem jeweiligen Eigensinn zu entwickeln, aber Habermas im Feld der Künste an der Leistung der
gleichzeitig auch die kognitiven Potentiale, die sich ›Kritik‹. Denn die Leistung der Kunstkritik besteht
so ansammeln, aus ihren esoterischen Hochformen nicht nur darin, Laien zu Experten heranzubilden,
zu entbinden und für die Praxis, d. h. für eine ver- sondern »ästhetische Erfahrungen auf eigene Le-
nünftige Gestaltung der Lebensverhältnisse zu nüt- bensprobleme« zu beziehen, die »explorative, le-
zen« (MUP, 453). bensorientierende Kraft« der großen Kunstwerke zu
Das ist die Stelle, an der für Habermas’ Argumen- entfalten – so wie dies Peter Weiss in seiner Ästhetik
tation der Blick auf die moderne Kunst wichtig wird. des Widerstands vorführt (MUP, 460 f.). Kritik ist
Denn die moderne Kunst ist nicht nur von derselben Aufklärung als »Aneignung der Expertenkultur aus
Aporie wie alle kulturellen Sphären geschlagen – sie dem Blickwinkel der Lebenswelt«, eine »differen-
ist autonom und soll zugleich doch der Veränderung zierte Rückkoppelung der modernen Kultur mit ei-
des Lebens dienen (MUP, 455–7). Die moderne ner auf vitale Überlieferung angewiesenen, durch
Kunst ist zugleich das Feld, in der radikale Strategien bloßen Traditionalismus aber verarmten Alltagspra-
der »Aufhebung« der aufgebrochenen Kluft zwi- xis« (MUP, 462).
schen den eigensinnig entfalteten Formen und der Habermas’ Konzept der Aufklärung ist zweistufig:
Lebenswelt ausprobiert worden sind. Das Paradigma (1) rationalisierende Ausdifferenzierung der Wis-
dieser »falschen Aufhebung« ist für Habermas die sensformen aus der Lebenswelt; (2) vermittelnde
›surrealistische Revolte‹: Hier wurde versucht, den Rückkoppelung der ausdifferenzierten Sphären mit
»rationalisierten Alltag aus der Starre kultureller der Lebenswelt. Als »konservativ« oder antiaufkläre-
Verarmung« zu erlösen, indem »ein kultureller Be- risch geltend demgegenüber alle Positionen, die
reich, hier also die Kunst, gewaltsam geöffnet und einen oder beide dieser Aufklärungsschritte nicht
ein Anschluss zu einem der spezialisierten Wissens- mitgehen. Habermas unterscheidet drei solcher Po-
komplexe hergestellt wird. Auf diesem Weg könnte sitionen: »jungkonservative« Ästhetizisten, »altkon-
eine Einseitigkeit und eine Abstraktion allenfalls servative« Traditionalisten, »neukonservative« Sepa-
durch eine andere ersetzt werden« (MUP, 458). Die ratisten (MUP, 463 f.). Die Jungkonservativen betrei-
»falsche Aufhebung« der Kluft zwischen autonomer ben eine einseitige Ästhetisierung der Lebenswelt,
Kunst und Lebenswelt musste ebenso scheitern wie die Altkonservativen bestreiten die Rationalisie-
Versuche einer moralistischen oder szientistischen rungsgewinne der Ausdifferenzierung, die Neokon-
Überformung der Lebenswelt (MUP, 458 f.). servativen geben die Idee der Rückkoppelung preis.
Der Blick auf die Kunst belehrt nach Habermas
aber nicht nur darüber, wie das von der Aufklärung
hervorgebrachte Problem der Abspaltung der aus-
differenzierten Kultur von der Lebenswelt nicht ge-
8. Aporien der kulturellen Moderne 209

Probleme und Kontroversen Habermas liest die ›postmoderne‹ Kritik am mo-


dernen Rationalismus als Gleichsetzung von Mo-
Nach Publikation von Habermas’ Rede haben vor al- derne und Rationalismus. In Reaktion darauf hat
lem diejenigen Autoren, die von ihm als ›Jungkon- Lyotard insistiert, die Postmoderne – die Postmo-
servative‹ etikettiert wurden, die damit verbundene derne des Erhabenen, die er der postmodernen »Er-
Charakterisierung als Anti-Aufklärer zurückgewie- schlaffung« gegenüberstellt – als eine Radikalisie-
sen (vgl. Foucault 2005; Kamper 1987). Diese De- rung der moderneimmanenten Kritik rationalisti-
batte um Habermas’ Verständnis postmoderner und scher Modelle zu verstehen (Lyotard 1987). Das
poststrukturalistischer Positionen hat, zusätzlich an- bestätigt Andreas Huyssens historischer Rückblick
gefacht durch Der philosophische Diskurs der Mo- auf den Beginn der Postmoderne in der US-ameri-
derne, vor allem in der US-amerikanischen Rezep- kanischen Literatur (und der sie begleitenden Essay-
tion breiten Raum eingenommen (z. B. Passerin istik und Theorie; exemplarisch Fiedler 1988b) in
d’Entrèves/Benhabib 1996). Hier sollen im Folgen- den 1960er Jahren: Sie ist eine Bewegung, die sich
den jedoch nicht Fragen der Interpretation verfolgt, gerade in ihrer Kritik an einer rationalistischen »ver-
sondern vier sachliche Probleme von Habermas’ sion of modernism« zugleich als eine Radikalisie-
Adornopreis-Rede benannt werden, die zum Gegen- rung der Moderne versteht (Huyssen 1986, 188);
stand scharfer Kontroversen geworden sind. daran knüpft Hal Fosters Begriff eines »postmo-
dernism of resistance« an (Foster 1983). Diesen Zu-
Moderne und Rationalismus: Für Habermas’ Cha- sammenhang entfaltet Albrecht Wellmer zu einer
rakterisierung der von ihm ›postmodern‹1 genann- »Dialektik von Moderne und Postmoderne«. Darin
ten Positionen ist die Behauptung zentral, dass diese zeigt Wellmer, dass die rationalismuskritischen Mo-
Positionen die Aufklärungsidee vernünftiger Selbst- tive der Postmoderne so gedeutet werden können,
bestimmung verabschieden. Als Beleg dafür dient dass sie in der Traditionslinie einer Selbstkritik der
Habermas die Kritik am ›Rationalismus‹, die für Moderne stehen (Wellmer 1985, 49–58). Exempla-
diese Positionen prägend ist. ›Rationalismus‹ meint risch dafür ist Adorno, der in der Philosophie der
dabei eine spezifisch moderne Weise der Totalisie- neuen Musik nicht nur in der Gegenüberstellung von
rung oder Einheitsbildung in Form einer »Meta-Er- Schönberg und Strawinsky die musikalische Avant-
zählung« (Lyotard 1986). Während Narrative (der garde gegen jede »Regression« verteidigt, sondern
ersten Stufe) irreduzibel vielfältig und unabschließ- im selben Zug auch die rationalistischen Tendenzen
bar sind, sind Meta-Erzählungen Versuche, die ver- der (Schönberg’schen) Avantgarde als Umschlag der
schiedenen Sprachspiele dadurch in eine Ganzheit Moderne von Befreiung in Herrschaft gedeutet hat
zu integrieren, dass nach einem einheitlichen Mus- (Adorno 1976, 65 f.).
ter definiert wird, was sie rational macht. Ein Stan- Die ›postmoderne‹ Kritik des modernen Rationa-
dardmodell moderner Meta-Erzählungen besagt da- lismus kann mithin nicht als solche bereits als anti-
bei, dass solche Prozesse rational sind, die sich als modern verstanden werden – zumal auch im Zen-
transparente Anwendung eines durch Regeln defi- trum von Habermas’ eigener Theorie der Moderne
nierten Verfahrens, im Idealfall: einer Methode, ver- eine Kritik an ihrem Rationalismus steht, den er als
stehen lassen. Dafür können, je nach philosophi- pathologische Form ihrer Ausdifferenzierung be-
scher Position, die Logik, die Naturwissenschaften, greift. Die Kontroverse zwischen Habermas und
das Recht, die Administration oder die Technik als ›postmodernen‹ Positionen dreht sich daher gar
Muster gelten, durch deren totalisierende Durchset- nicht um das Ob, sondern das Wie der Kritik am Ra-
zung Einheit hergestellt wird. tionalismus der Moderne. In der Debatte zwischen
Habermas und den ›postmodernen‹ Positionen geht
1
es nicht darum, ob der Rationalismus zu kritisieren
Ich übergehe im Folgenden die Diskussion um die Frage
nach der Angemessenheit dieser Etikettierung. Habermas ist, und auch nicht darum, ob der Rationalismus eine
bezeichnet auch solche Positionen als ›postmodern‹, die Gestalt der Moderne ist; das sagen beide Seiten, auf
sich selbst so nicht nennen. Wo ich Habermas’ Wortver- unterschiedliche Weise. In der Debatte zwischen Ha-
wendung folge, setzte ich den Ausdruck ›postmodern‹ in bermas und den ›postmodernen‹ Positionen geht es
Anführungszeichen (damit ist also gemeint: »von Haber- vielmehr um Habermas’ These, dass die Kritik am
mas ›postmodern‹ genannte Positionen«). Wenn ich den
Ausdruck ›postmodern‹ dagegen gelegentlich ohne Anfüh- modernen Rationalismus allein möglich und be-
rungszeichen verwende, so beziehe ich mich damit auf sol- rechtigt ist, wenn sie als ›Aufklärung‹ (im oben be-
che Positionen, die sich ausdrücklich selbst so bezeichnen. stimmten Sinn; s. oben, S. 207 f.) verstanden wird.
210 III. Texte

Dieses Konzept der Aufklärung enthält zwei As- raus zu garantieren vermögen, für von vornherein
pekte: die Deutung der modernen Ausdifferenzie- gescheitert. Normative Verbindlichkeit und damit
rung als Rationalisierung (s. den folgenden Ab- (theoretisches oder praktisches) Wissen gibt es nur
schnitt) und die Aussicht auf eine rationale Über- in Teilnahme an lebensweltlichen Praktiken. Die
windung der pathologischen Formen der modernen Idee der Ausdifferenzierung und damit eigensinnig
Ausdifferenzierung (s. unten, S. 211 f.). – Diese bei- verselbständigter Wertsphären ist aus der Sicht her-
den Aspekte bilden den sachlichen Kern der Debatte meneutischer Theoriemodelle bloße Ideologie, ohne
im Anschluss an Habermas’ Adornopreis-Rede. Realität: Es gibt nur eine Ebene, die der Lebenswelt
(Bubner 1982). (b) Postmoderne Theoriemodelle
Ausdifferenzierung als Rationalisierung: Die erste planieren Habermas’ Zwei-Ebenen-Modell von der
Stufe von Habermas’ Aufklärungsbegriff besteht da- anderen Seite her: An die Stelle der zweistufig gestaf-
rin, die Moderne gesellschaftlich wie kulturell als felten Konstruktion ›Lebenswelt – ausdifferenzierte
Ausdifferenzierung eigensinniger Sphären und diese Sphären‹ tritt eine plane Fläche, auf der sich eine
Ausdifferenzierung wiederum als Rationalisierung Vielfalt irreduzibel verschiedener Diskurse tummelt.
zu verstehen. Der Begriff der ›Ausdifferenzierung‹ Die Differenz der Sphären, Diskurse und Sprechwei-
hat darin eine zweifache Bedeutung (MUP, 452 f.): sen kann demnach nicht als ›Ausdifferenzierung‹ ei-
›Ausdifferenzierung‹ meint zum einen, dass in der ner vorgängigen Einheit, der Lebenswelt, gedacht
Moderne gesellschaftliche und kulturelle Sphären werden, sondern ist bestimmt durch eine unhinter-
ausgebildet werden, die auf je einen Funktions- oder gehbare und nicht zu einende Pluralität. Wo herme-
Geltungsgesichtspunkt spezialisiert sind. ›Ausdiffe- neutische Theorien (wie Henrich auch noch gegen
renzierung‹ meint zum anderen, dass die eigensinni- Habermas’ Lebensweltbegriff eingewandt hat) »die
gen gesellschaftlichen und kulturellen Sphären sich Ressourcen der Lebenswelt ohne weiteres als zuletzt
nicht nur jeweils voneinander, sondern alle zusam- verläßlich geltend machen« können zu glauben
men von der ›Lebenswelt‹ als derjenigen Praxis ab- (Henrich 1987, 19) und damit auf Einheit als unmit-
scheiden, in der die Gesichtspunkte, die den einzel- telbares Gegebenes setzen, gehen postmoderne The-
nen Sphären getrennt zugrunde liegen, zusammen- orien von einer unhintergehbaren Pluralität von Dis-
wirken. Ausdifferenzierung ist Rationalisierung, kursen und Sprachspielen aus. Diese Pluralität kann
weil darin lebensweltlich immer schon erhobene durch keine ›Meta-Erzählung‹ erfasst werden – auch
Geltungsansprüche als solche isoliert, problemati- nicht durch die an Kant und Weber angelehnte Drei-
siert und in spezialisierten Verfahren bearbeitet wer- erlogik der Habermas’schen Ausdifferenzierungsfi-
den. Den Prozess der Ausdifferenzierung als ›Ratio- gur (Wissenschaft, Moral/Recht, Kunst); das ist nur
nalisierung‹ zu bezeichnen, dient dabei zugleich der eine weitere Meta-Erzählung der Moderne (Rorty
Erklärung wie der Rechtfertigung: Da bzw. soweit 1985, 167 f.). An ihre Stelle tritt in postmodernen
die Ausdifferenzierung eigensinniger Sphären einen Theorien der »Widerstreit« pluraler Diskurse, des-
Akt der Rationalisierung darstellt, ist sie berechtigt – sen (»erhabener«) Bruch mit jeder Einheit nicht
ein erster, notwendiger Schritt im Projekt der Auf- überwunden, sondern allenfalls durch je lokale und
klärung. Deshalb kann die moderne Ausdifferenzie- begrenzte Strategien bearbeitet werden kann (Lyo-
rung, auch wenn sie zu rationalistischen Strategien tard 1989).
führt, nicht zurückgenommen werden. Sie zurück- Beiden Einwänden gegen Habermas’ Zwei-Ebe-
zunehmen hieße, ihre Rationalitätsgewinne zu ver- nen-Modell ist gemeinsam, dass sie keinen Begriff
spielen. der (Aus-)Differenzierung haben: das hermeneuti-
In den philosophischen Debatten um Habermas’ sche Modell nicht, weil es von der unverlierbaren
Konzept der Moderne ist ein erster Typ von Einwän- Gegebenheit der Einheit lebensweltlicher Praktiken
den erhoben worden, die darauf abzielen, das Zwei- ausgeht, der gegenüber alle Verselbständigung aus-
Ebenen-Modell von Lebenswelt und ausdifferenzier- differenzierter Verfahren nur scheinhaft, selbstzer-
ten Wertsphären durch einstufige Konzepte zu erset- störerisch sein kann; das postmoderne Modell nicht,
zen. Solche Konzepte planer Flächigkeit können von weil es von der nicht weniger gewissen Gegebenheit
beiden Seiten, der zugrundeliegenden Lebenswelt der Pluralität heterogener Diskurse ausgeht, deren
(a) und den ausdifferenzierten Wertsphären (b) her Entstehung nicht noch einmal erklärt werden kann.
formuliert werden. (a) Hermeneutische Theoriemo- Das unterscheidet beide von dekonstruktiven Model-
delle halten jeden Versuch, Verfahren auszudifferen- len. Dekonstruktive Modelle rekonstruieren, mit
zieren, die normative Verbindlichkeit aus sich he- Habermas, das notwendige Hervorgehen ausdiffe-
8. Aporien der kulturellen Moderne 211

renzierter rationaler Verfahren zur Bearbeitung spe- Bereich der Architektur und ihrer Theorie formu-
zieller Geltungsgesichtspunkte aus den lebensweltli- liert hat. Habermas hat diese Verwandtschaft seiner
chen Praktiken, denen gegenüber sie sich verselb- Krisendiagnose mit der postmodernen in einem
ständigen: Der Grund der Rationalisierung ist die Aufsatz über »Moderne und postmoderne Architek-
immanente Krise der Lebenswelt (Derrida 1987). tur«, der zwei Jahre nach seiner Rede erschienen ist,
Diese Diagnose teilt die Dekonstruktion mit Haber- mit der Bemerkung festgehalten, dass die postmo-
mas. Die Dekonstruktion beschreibt die Krise der derne »Opposition zur Moderne« die »ungelösten
Lebenswelt aber anders als Habermas: nicht als Auf- Probleme auf [-nehme], die die moderne Architek-
treten von »Problemen«, die nach einer rationalen tur ins Zwielicht gerückt haben« (Habermas
Lösung verlangen, sondern als einen doppelsinnigen [1982]/1988b, 120).
Prozess der Überschreitung: zugleich durch ihren Habermas’ Übereinstimmung mit der postmo-
»unendlichen« Anspruch auf Wahrheit und die Frei- dernen Gegenwartsdiagnose gilt offensichtlich für
setzung eines Spiels der Zeichen »ohne Zentrum« These Nr. 2 seiner Aporiediagnose, die sich aus-
(Derrida 1972). Prozeduren der Verbindlichkeitssi- drücklich gegen die Avantgarden richtet. Wie für die
cherung, wie in Recht oder Wissenschaft, können Postmodernen, so sind auch für Habermas die
dann als Versuche verstanden werden, diese Logik Avantgarden das künstlerische Pendant für den Ra-
der Selbstüberschreitung lebensweltlicher Wissens- tionalismus der Moderne: So wie rationalistische Po-
formen zu kontrollieren – Versuche jedoch, die sitionen die Lebenswelt unmittelbar nach dem Mo-
ebenso notwendig scheitern müssen wie sie notwen- dell der ausdifferenzierten Wissenschaft oder des
dig aus den lebensweltlichen Praktiken hervorgehen Rechts reformieren wollen, versuchen die Avantgar-
mussten. Dekonstruktive Theorien plädieren nicht den dies nach dem Modell der autonomen, experi-
für Irrationalität (MUP, 463), sondern präsentieren mentellen, transgressiven Kunst. Die Avantgarden
eine andere Genealogie der Rationalität (Gasché betreiben die Zerstörung der Lebenswelt durch ihre
1988). Kolonialisierung von der Kunst her. Dieser avant-
Habermas nennt alle drei Einwände gegen seine gardistische Lösungsversuch für die Ausdifferenzie-
Theorie der modernen Ausdifferenzierung ›postmo- rung der Moderne ist gescheitert.
dern‹, weil sie diese Ausdifferenzierung nicht als Ra- Postmodern ist aber nicht erst Habermas’ Skepsis
tionalisierung rechtfertigen (Dumm 1988, 212–4; gegenüber den avantgardistischen Lösungsversu-
Jay 1985, 137–9). Das tun sie mit unterschiedlichen chen, ›postmodern‹ kann auch bereits die zugrunde-
Argumenten. Es hat jedoch in allen drei Theoriemo- liegende Beschreibung des zu lösenden Problems ge-
dellen denselben Effekt: dass auch der Umgang mit nannt werden: Habermas’ These Nr. 1, dass das
den differenzierten Sphären nicht nach dem Modell Grundproblem der modernen Künste darin liegt,
von Habermas’ Konzept der Aufklärung, als ›Aneig- dass ihr ästhetisch autonomer Eigensinn aus der Per-
nung‹ ihrer Rationalitätspotentiale, gedacht werden spektive der Lebenswelt keinen Sinn mehr hat und
kann. deshalb in ihr nicht mehr angeeignet werden kann,
entspricht dem zentralen Einwand, den die postmo-
Die postmoderne Architektur und das Problem der derne Architekturtheorie gegen den Modernismus
Autonomie: Habermas rechtfertigt die moderne Aus- Mies van der Rohes und Le Corbusiers erhoben hat.
differenzierung als Rationalisierung. Zugleich be- Denn nur auf der Oberfläche richtet sich der post-
schreibt er die gegenwärtige Situation der ausdiffe- moderne Einwand gegen die Formen oder den Stil
renzierten, rationalisierten Moderne als aporetisch. der Moderne. Hier lautet der postmoderne Einwand,
Diese Aporie kann durch zwei Thesen bestimmt dass die moderne Form auf Einheit programmiert ist
werden: (1) Die rationalen Potentiale der ausdiffe- und durch eine Form der Vielheit, der Pluralität der
renzierten Sphären treten der Lebenswelt zuneh- Stile ersetzt werden muss (vgl. Welsch 1988a, Kap.
mend fremd gegenüber. (2) Eine Überwindung der IV). »Komplexität und Widerspruch« lautet die ent-
Entfremdung durch unmittelbare Übersetzung die- sprechende Programmformel Robert Venturis (Ven-
ser rationalen Potentiale in die Lebenswelt ist un- turi 1966/2002, Kap.2), die die postmoderne Archi-
möglich. Beide Thesen zur Beschreibung der gegen- tektur der Ambiguität von den gewaltsamen Formen
wärtig aporetischen Lage der kulturellen Moderne moderner Einheitsbildung absetzen soll. Auch wo
stehen ›postmodernen‹ Positionen weit näher als die die postmodernen Autoren diese Pluralität als »his-
Polemik der Adornopreis-Rede vermuten lässt. Das toristisch« und »eklektizistisch« beschreiben (Jencks
gilt insbesondere dafür, wie sich die Postmoderne im 1978, 127–132), bleibt das Motiv der Kritik an den
212 III. Texte

illusionären Simplifizierungen der modernen Form- Wellmer 1985, 122–8). Habermas’ Diagnose der ge-
konzepte (die nach postmoderner Kritik Einheit nur genwärtigen Aporien der kulturellen Moderne teilt
um den Preis von Heterogenität hervorbringen kön- die postmoderne Problemstellung, für deren Lösung
nen) stets sichtbar. Doch der grundlegende Antrieb er aber an zentralen Elementen der Moderne festhal-
der postmodernen Kritik des Modernismus kommt ten will. Dafür steht der Begriff der Aufklärung: Ha-
woanders her. bermas’ Aufklärungsbegriff soll die beiden Extreme
Charles Jencks’ Definition eines postmodernen von modernistischer Verselbständigung bis zu rät-
Bauwerks lautet, dass es ›auf wenigstens zwei Ebe- selhafter Fremdheit, und postmoderner Überwin-
nen zugleich spricht‹: »[…] to other architects and a dung der Entfremdung im Populären vermeiden
concerned minority who care about specifically ar- und ihre berechtigten Ansprüche – auf Autonomie
chitectural meanings, and to the public at large, or und auf Verständlichkeit – schlüssig vermitteln. Ver-
the local inhabitants, who care about other issues treter beider Seiten halten dieses Projekt für unreali-
concerned with comfort, traditional building and a sierbar: aus autonomietheoretischer Sicht ist bereits
way of life« (Jencks 1978, 6). Entgegen aller Rede von die postmoderne Forderung nach lebensweltlicher
der ›Funktion‹ hat der architektonische (und erst Verständlichkeit, die Habermas teilt, eine Bestrei-
recht der urbanistische) Modernismus diese zweite, tung der »Souveränität« der Kunst (Menke 1991);
die eigentliche Sprachebene von Gebäuden systema- aus postmoderner Sicht dagegen kann die Forde-
tisch vernachlässigt, wenn nicht gar verdrängt. Das rung nach lebensweltlicher Verständlichkeit nicht
Grundanliegen der Postmoderne ist dagegen, das eingelöst werden, wenn nicht die Idee der künstleri-
Bauen und Planen aus seinen systemischen Verselb- schen Autonomie selbst preisgegeben wird: »Relati-
ständigungen zu befreien und als eine »Lebensform« vität anstelle von Autonomie!« (Klotz 1985, 423).
(Jencks) zu begreifen. Die Moderne ist elitär, die
Postmoderne populär, denn ihr geht es um architek- Ausblick: Kunst und Gesellschaft: Warum diskutiert
tonische Formen, die ihren Sinn- und Sprachcharak- Habermas in seiner Adornopreis-Rede überhaupt
ter ernst nehmen: die einen Symbolismus und eine die Aporien der kulturellen, enger noch: der ästheti-
Narrativik entwickeln, die sich einem historisch und schen Moderne? Das heißt: Wie steht diese Diskus-
kulturell situierten Publikum verständlich zu ma- sion zu der Frage, »wie die gesellschaftliche Moder-
chen versuchen (Venturi/Brown/Izenour 1994, Teil nisierung in andere nichtkapitalistische Bahnen ge-
II; Klotz 1985, Teil 4). Der grundlegende Einwand lenkt werden kann« (MUP, 462)? Was ist das
der Postmoderne gegen den Modernismus gilt mit- Verhältnis zwischen ästhetisch-kultureller Aufklä-
hin nicht seinen formalen Lösungen, sondern seiner rung und politisch-gesellschaftlicher Veränderung?
Bestimmung des sozialen Ortes des Bauwerkes – der Die Antwort auf diese Fragen, die Habermas’
Behauptung seiner künstlerischen Autonomie. Die Adornopreis-Rede nahelegt, lautet, dass sich der kul-
Verdrängung von Pluralität und Heterogenität auf turellen und der gesellschaftlichen Moderne struk-
der Formebene ist für die Postmodernen nur eine turell homologe Probleme stellen, so dass auch die
Folge davon. Lösung der Aporien der kulturellen Moderne als
Das ist auch das Problem, das Habermas ins Zen- Muster für die Lösung der Widersprüche der gesell-
trum seiner Diagnose der kulturellen Aporien der schaftlichen Modernisierung dienen kann. Die Er-
Moderne stellt. Die Frage lautet: Wie kann die Kunst läuterung, wie »eine differenzierte Rückkoppelung
lebensweltlich verständlich sprechen? Habermas der modernen Kultur mit einer auf vitale Überliefe-
teilt mithin die postmoderne Idee, dass die Kunst, rungen angewiesenen […] Alltagspraxis« (MUP,
gegen ihre moderne Verselbständigung, ihre Ver- 462) im Bereich der Künste möglich ist, definiert zu-
ständlichkeit zurückgewinnen muss. Die Kunst, so gleich ein allgemeines Konzept der Aufklärung, das
lautet die von Habermas geteilte postmoderne For- je in spezifischer Weise nicht nur für die anderen
derung, muss das »Schweigen« brechen (Wallenstein Sphären der modernen Kultur, wie Wissenschaft
2008), mit dem die modernistisch verselbständigten und Moral, sondern auch für die rationalisierten und
Formen die Sinnerwartungen des Publikums quit- aus der Lebenswelt ausdifferenzierten sozialen Sys-
tieren. Die Frage, die dieses Programm aufwirft, ist teme – Recht, Verwaltung, Ökonomie – reformuliert
jedoch, ob dies, wie Habermas im Gegensatz zu den werden muss. Die Probleme in Kultur und Gesell-
postmodernen Konzeptionen meint, geleistet wer- schaft sind homolog: Es geht stets um die gewalt-
den kann, ohne den modernen Anspruch auf Auto- same Überformung lebensweltlicher Praktiken
nomie aufzugeben (Habermas [1982]/1988, 116 f.; durch Verfahrensweisen und Handlungssysteme, die
8. Aporien der kulturellen Moderne 213

sich durch Rationalisierungsprozesse aus der Le- Literatur


benswelt ausdifferenziert haben. Daher kann auch Adorno, Theodor W.: Philosophie der Neuen Musik. Gesam-
das Konzept der Aufklärung, das Habermas zur Lö- melte Schriften. Bd. 12. Frankfurt a. M. 1976.
sung der Aporien der kulturellen Moderne entwi- Bell, Daniel: Die kulturellen Widersprüche des Kapitalismus.
ckelt, so verstanden werden, dass sich ihm das Mus- Frankfurt a. M./New York 1991 (engl. 1976).
Bonacker, Thorsten/Reckwitz, Andreas (Hg.): Kulturen der
ter dafür entnehmen lässt, »[…] wie die gesellschaft- Moderne. Frankfurt a. M./New York 2007.
liche Modernisierung in andere nichtkapitalistische Brunkhorst, Hauke: Der Intellektuelle im Land der Manda-
Bahnen gelenkt werden kann« (MUP, 426). rine. Frankfurt a. M. 1987.
In diesem Verständnis sind die Probleme, die Bubner, Rüdiger: Handlung, Sprache und Vernunft. Grund-
Aporien der Kultur und die Widersprüche der Ge- begriffe praktischer Philosophie. Frankfurt a. M. 1982.
Bürger, Peter: Theorie der Avantgarde. Frankfurt a. M.
sellschaft, ebenso wie deren Lösung, die Logik kultu- 1974.
reller Aufklärung und die gesellschaftlicher Verän- Derrida, Jacques: Husserls Weg in die Geschichte am Leitfa-
derung, durch Homologie verbunden. Wenn Haber- den der Geometrie. München 1987 (frz. 1962).
mas die aufklärerische Leistung der Kunst durch die –: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt a. M. 1972.
»explorative, lebensorientierende Kraft, die von der Dumm, Thomas L.: »The Politics of Post-Modern Aesthe-
tics: Habermas Contra Foucault«. In: Political Theory
Begegnung mit einem großen Gemälde« ausgehen
Bd. 16 (1988), 209–228.
kann, erläutert (MUP, 461), dann legt dies jedoch Fiedler, Leslie: »Überquert die Grenze, schließt den Gra-
noch eine andere, engere Verbindung nahe. Denn ben!« [1969]. In: Welsch 1988b, 57–74.
die jungen kommunistischen Arbeiter, mit deren Foster, Hal (Hg.): The Anti-Aesthetic. Essays on Postmodern
Diskussionen über den Pergamon-Altar Peter Weiss’ Culture. New York 1983.
Ästhetik der Widerstandes (dem Habermas das Bei- Foucault, Michel: »Was ist Aufklärung?« [1984]. In: Schrif-
ten, Bd. IV. Frankfurt a. M. 2005, 687–707.
spiel entnimmt) einsetzt, betreiben nicht bloß eine Gasché, Rodolphe: »Postmodernism and Rationality«. In:
›Aneignung‹ künstlerischen Eigensinns, der die Ver- The Journal of Philosophy 85, Nr. 10 (Oktober 1988),
änderung der Gesellschaft strukturell entspricht. Die 528–538.
Aufklärung, die sie ästhetisch gewinnen, soll viel- Habermas, Jürgen: »Einleitung zum Band 1000 der Edition
mehr zur gesellschaftlichen Veränderung hinführen. Suhrkamp«. In: Kleine Politische Schriften I–IV. Frank-
furt a. M. 1981, 411–441.
Kunst und Gesellschaft stehen hier nicht in einem –: »Moderne und postmoderne Architektur« [1982]. In:
Verhältnis der Homologie und damit auf einer Welsch 1988b, 110–120.
Ebene, sondern in einem reflexiven Verhältnis. Die Henrich, Dieter: »Was ist Metaphysik – was Moderne?
Kunst ist ein Medium der Transformation der Ge- Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas«. In: Ders.: Kon-
sellschaft: zunächst, indem sich die Gesellschaft im zepte. Essays zur Philosophie in der Zeit. Frankfurt a. M.
1987, 11–43.
Medium der Kunst anders zeigt; sodann, indem die Huyssen, Andreas: »Mapping the Postnodern«. In: After
Gesellschaft durch ihre andere, ästhetische Erfah- the Great Divide. Modernism, Mass Culture, Postmoder-
rung verändert wird. Ohne in diesem minimalen, nism. Bloomington, Ind. 1986, 179–221.
abgeschwächten Sinn an der Idee einer Avantgarde- Jameson, Fredric: Postmodernism, or, The Cultural Logic of
funktion der Kunst festzuhalten, ist auch Habermas’ Late Capitalism. Durham 1991.
Jay, Martin: »Habermas and Modernism«. In: Richard J.
Nachdenken über ästhetische Aufklärung heute Bernstein (Hg.): Habermas and Modernity. Cambridge,
sinnlos. UK 1985, 125–139.
Das setzt zweierlei voraus: (1) dass gegen das Jencks, Charles: The Language of Post-Modern Architecture.
postmoderne Plädoyer für Popularität, Verständ- New York 21978.
lichkeit und ›soziale Relevanz‹ auch heute noch an Kant, Immanuel: »Beantwortung der Frage: Was ist Aufklä-
rung«. In: Werke in sechs Bänden. Hg. von Wilhelm Wei-
der Differenz der Kultur gegenüber der gesellschaft- schedel. Bd. VI. Darmstadt 1964.
lichen Modernisierung festgehalten werden kann Kamper, Dietmar: »Aufklärung – was sonst? Eine dreifache
(Jameson 1991); (2) dass gegen die postmoderne Polemik gegen ihre Verteidiger«. In: Dietmar Kamper/
Kritik an den Avantgarden als Strategien gewaltsa- Willem van Reijen (Hg.): Die unvollendete Vernunft. Mo-
mer Übergriffe auch heute noch an einem Konzept derne vs. Postmoderne. Frankfurt a. M. 1987, 37–45.
Klotz, Heinrich: Moderne und Postmoderne. Architektur der
der Ästhetisierung festgehalten werden kann (Ran-
Gegenwart 1960–1980. Braunschweig/Wiesbaden 21985.
cière 2002). Kraushaar, Wolfgang u. a.: »Vier Jungkonservative beim
Projektleiter der Moderne«. In: die tageszeitung, 3. und
21.10.1980.
Lyotard, Jean-François: Das postmoderne Wissen. Ein Be-
richt. Graz/Wien 1986 (frz. 1979).
214 III. Texte

–: »Beantwortung der Frage: Was ist postmodern?« [1982].


In: Postmoderne für Kinder. Wien 1987, 11–31.
9. Platzhalter und Interpret
–: Der Widerstreit. München 1989 (frz. 1983). »Die Philosophie als Platzhalter und Interpret«
Menke, Christoph: Die Souveränität der Kunst. Ästhetische (1981)
Erfahrung nach Adorno und Derrida. Frankfurt a. M.
1991.
Passerin d’Entrèves, Maurizio/Benhabib, Seyla (Hg.): Ha- Höhepunkt des Stuttgarter Hegelkongresses 1981,
bermas and the Unfinished Project of Modernity. Cam- der unter der Hamletfrage der deutschen Philoso-
bridge UK 1996. phie: »Kant oder Hegel?« ausgefochten wurde, war
Rancière, Jacques: »The Aesthetic Revolution and Its Out-
comes«. In: New Left Review 14, (März/April) 2002, 133– der gemeinsame Auftritt der Avantgarde des ameri-
151. kanischen Neopragmatismus. Nach Richard Rortys
Rorty, Richard: »Habermas and Lyotard on Postmoder- kurzer Einführung (Rorty 1983), dessen bahnbre-
nity«. In: Richard J. Bernstein (Hg.): Habermas and Mo- chende Kritik des philosophischen Idealismus in
dernity. Cambridge, UK 1985, 161–175. dem Buch The Mirror of Nature (Rorty 1979), der
Seel, Martin: »Die zwei Bedeutungen ›kommunikativer‹
Vernunft. Bemerkungen zu Habermas’ Kritik der plura- großen Programmschrift des Neopragmatismus, das
len Vernunft«. In: Axel Honneth/Hans Joas (Hg.): Kom- gerade in deutscher Übersetzung vorlag, destruierte
munikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1986, 53–72. Willard V. O. Quine ein weiteres Mal den Mythos au-
Venturi, Robert: Complexity and Contradiction in Architec- tonomer Referenz, des theorieinvarianten Sachbe-
ture [1966]. New York 2002. zugs von Sätzen, in denen wir unsere Beobachtun-
– /Brown, Denise S./Izenour, Steven: Learning from Las
Vegas [1972]. Cambridge, Mass./London 1994. gen zu Protokoll geben (Quine 1983, 412–422), und
Wallenstein, Sven-Olov: The Silences of Mies. Stockholm danach legte Donald Davidson seine holistische
2008. Theorie der Wahrheit dar, für die es keinen Ort der
Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmo- Wahrheit diesseits des Ganzen unserer sprachlichen
derne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt a. M. 1985. Praxis gibt (Davidson 1983, 423–438). Hegel hatte
Welsch, Wolfgang: Unsere postmoderne Moderne. Wein-
heim 21988a.
nach den drei ersten Rednern des Panels auf der gan-
– (Hg.): Wege aus der Moderne. Schlüsseltexte der Postmo- zen Linie triumphiert. Die kantischen Dualismen
derne-Diskussion. Weinheim 1988b. waren zu neuer Einheit aufgehoben und ein Konti-
Christoph Menke nuum aus Bedeutungs- und Weltwissen an ihre Stelle
getreten. Das Ganze war wieder das Wahre – freilich
um den Preis, dass der Kopf der Hegel’schen Philo-
sophie, der absolute Geist, abgeschlagen und »unbe-
wiesen in seinem Blute« schwamm (Heine 1964,
250). Als letzter Redner des Panels zeigte Hilary Put-
nam dann, wie sich unsere sprachlich verfasste Le-
bensform zwar nicht von einem archimedischen
Feldherrnhügel außer ihr kommandieren lässt, wohl
aber von innen theoretisch kritisiert und praktisch
transzendiert werden kann (Putnam 1983). Wieder
hatte Hegel triumphiert, und diesmal nicht nur in
der Sache, sondern auch mit der dialektischen Me-
thode bestimmter Negation, die in früheren Zeiten
der Erzfeind sprachanalytischer Philosophen gewe-
sen war. Ein weiterer Dualismus, der von Theorie
und Praxis, der Kant noch zu aristotelischen Aus-
weichmanövern (›Urteilskraft‹) genötigt hatte, war
beseitigt und durch ein Dewey’sches Kontinuum
substituiert. Aber auch diesmal war der Preis für He-
gel hoch. Die eigene Methode wendete sich gegen
ihn. Mochte die Versöhnung mit Kants Begriff der
Kritik als Fortschritt im wissenschaftlichen Denken
gerade noch angehen, so war die praktische Selbst-
transzendenz genau das, wovor Hegel die Kantianer
immer gewarnt und womit Hegels Schüler Marx
9. Platzhalter und Interpret 215

(Henrich 1971, 187–208) zwar keinen Lehrstuhl er- zes. Dessen Autor war in der theoretischen Philoso-
obert, aber Geschichte gemacht hat: Die Idee einer phie die Natur, in der Moralphilosophie die Ver-
weltverändernden Praxis, die sich aus dem Innern nunft, in der Rechtsphilosophie das Volk. Von der
des wahren Ganzen gegen dieses kehrt und es im unter dem Schleier des Nichtwissens verhüllten Ge-
praktischen Vollzug der Kritik als falsch erweist. setzgebung, der Legislativgewalt des Naturzustands,
Nicht mehr das Wirkliche war – wendet man Hegels wollte Kant die Philosophie fortan ausgeschlossen
Methode nur konsequent genug an und verzichtet wissen. Der ohnehin immer nur angemaßte Zugang
auf den Abbruch der Reflexion im spekulativen zum innersten Willen und Wissen des Gesetzgebers,
Schluss – das Vernünftige, sondern Hegels Alptraum zur real existieren Idee, sollte der Philosophie auf
wurde wahr: Die Vernunft sah sich »mitten im ›Dün- immer versperrt bleiben. An der Seite des neuen, auf
ger‹ der Widersprüche« (Marx 1968, 80) von Hegels Form und Funktion reduzierten Königs (Volk, Ver-
eigener Philosophie, zum Ausbruch aus dessen Sys- nunft, Natur) war für sie kein Platz mehr. Von der
tem und dem jetzt als schlecht erkannten Wirklichen Bürde sowohl der substantiellen wie der formalen
genötigt. Sie war nicht länger Garant und Verklä- Souveränität befreit, im parlamentarischen Konzert
rung, sondern konnte im dialektischen Gegenzug der Fakultäten links, in unmittelbarer Nachbarschaft
postwendend, wie sonst bei Hegel nur »das Weibli- der Jakobiner platziert (Kant 1977, 299), musste die
che«, zum »inneren Feind des Gemeinwesens« (He- Philosophie sich mit den Rollen einer gesetzesge-
gel 1952, 340) werden. bundenen Exekutive der Wissenschaften und eines
Daran konnte Habermas, der am selben Tag den »bestallten Richters« (Kant 1968, 10 [KrV B XIII)
Abendvortrag zum Thema »Die Philosophie als der Kultur zufrieden geben.
Platzhalter und Interpret« (PI) hielt, zwanglos an- Durch eine methodische Praxis experimenteller
schließen. Dieser Vortrag ist ein, wenn nicht der Beweisverfahren sollte sich der philosophische Ver-
Schlüssel zum ganzen Werk. Er beginnt mit der, An- fassungsrichter, die Judikativgewalt, eine zumindest
fang der 1980er Jahre gerade auf breiter Front vom hypothetische Kenntnis der Gesetzeslage verschaf-
akademischen Zeitgeist nachvollzogenen Wende der fen und der Spekulation scharfe Grenzen ziehen.
poststrukturalistischen Philosophie von den Meis- Kant hat den Philosophenkönig ein für allemal ent-
terdenkern Kant, Hegel, Marx zum Meister Nietz- thront, ihn aber zum Trost der verlorenen Würde
sche (PI, 42). Habermas gibt unumwunden zu, dass reiner Erkenntnis als »obersten Richter auch gegen-
zwar nicht die gelegentliche Apologie Nietzsches, über der Kultur im ganzen« (PI, 43) eingesetzt. Mit
wohl aber die Kritik am latenten Herrschaftscharak- der Rolle des Richters aber hat Kant, aller Kritik des
ter auch noch des formalen und gewaltenteiligen Meisterdenkens und seines »vornehmen Tons«
philosophischen Fundamentalismus Kants, in der (Kant 1977a) zum Trotz, die Philosophie erneut
Poststrukturalisten, Dekonstruktionisten und Prag- überfordert: »Indem die Philosophie, wie Max We-
matisten übereinstimmen, berechtigt und nur zu gut ber später sagen wird, die kulturellen Wertsphären
begründet sei (PI, 43). von Wissenschaft und Technik, Recht und Moral,
Kunst und Kunstkritik allein nach formalen Merk-
malen voneinander abgrenzt und innerhalb ihrer
Meisterdenker Kant
Grenzen zugleich legitimiert, gebärdet sie sich als
Bereits Kant selbst hatte, in einer historisch beispiel- oberste gerichtliche Instanz nicht nur gegenüber den
losen Kritik am Meisterdenken der von Parmenides Wissenschaften, sondern gegenüber der Kultur im
bis Wolf reichenden Metaphysik der Philosophie zu- ganzen« (PI, 43, mit Verweis auf Kant 1968, 491 [KrV
gemutet, was die Französische Revolution der alteu- B 779]).
ropäischen Politik in der gesellschaftlichen Wirk- Auch mit der anderen Rolle einer Exekutive, die
lichkeit zumuten sollte: den egalitären Formalismus den einzelnen Wissenschaften ihren Platz anweist,
des Gesetzes, zu dem alle gleich weit entfernt sind indem sie ihnen, mit der gesetzlichen Autorität des
(Sieyès) und die dialektische Integration von Gewal- synthetischen Apriori ausgestattet, unübersteigbare
tenteilung und Souveränität in einer republikani- Grenzen des Erfahrbaren zieht, mutet Kant der Phi-
schen (demokratischen) Verfassung. Ganz analog losophie ein weiteres Mal zu viel zu und macht den
schränkte Kant in der Philosophie zunächst die Transzendentalphilosophen zum Meisterdenker in
Wahrheit verbürgende Souveränität auf die Rolle des der Stunde seines Sturzes: »Indem sie die Funda-
Gesetzgebers, des pouvoir constituant ein und for- mente der Wissenschaft ein für allemal zu klären,
malisierte sie zur Herrschaft des natürlichen Geset- die Grenzen des Erfahrbaren ein für allemal zu defi-
216 III. Texte

nieren beansprucht, weist die Philosophie den Wis- gitimation seiner gesetzesgebundenen Praxis und
senschaften ihren Platz an. Es scheint, als sei sie mit über dem Volk, dessen Organ sie doch ist, aufbaut.
dieser Rolle eines Platzanweisers überfordert« (PI, Die Kritik am undemokratischen Fundamentalis-
43). mus der Verfassungsgerichtsbarkeit, die Habermas
Den Grund, die gemeinsame Wurzel solch dop- 1992 in Faktizität und Geltung vorgelegt hat (s. Kap.
pelter Überforderung, sieht Habermas in der Idee III.13), liegt ganz auf der Linie seiner zehn Jahre zu-
apriorischer Erkenntnis, an der Kant, wie formal vor entworfenen Kritik am philosophischen Funda-
und differenziert auch immer, festhält. Auch der for- mentalismus Kants. Wie in Philosophie und Wis-
malisierte und differenzierte »Fundamentalismus« senschaft, so weist Habermas auch im demokrati-
der Vernunft kann nämlich nur durch »eine Er- schen Rechtsstaat jeden Anspruch des juristischen
kenntnis vor der Erkenntnis« begründet werden, die Meisterdenkens oberster Gerichte auf Letztbegrün-
zwischen »sich und die Wissenschaften eine eigene dung zurück. Die Rolle der Verfassungsgerichtsbar-
Domäne« legt, dank derer sie »Herrschaftsfunktio- keit soll auf die eines ständigen parlamentarischen
nen« ausübt. Eine solche Letztbegründung ist Ideo- Ausschusses mit der Kompetenz zur formalen
logie, das falsche Bewusstsein der transzendentalen Normkontrolle beschränkt bleiben. Aus dem über-
Deduktion, das nicht durch das »Ich denke«, das demokratischen und übergesetzlichen Hüter und
»alle meine Vorstellungen (muss) begleiten können« letzten Interpreten der Verfassungsordnung im Gan-
(Kant 1968, 108, B 131), sondern durch ein ge- zen wird, ganz so wie in der Philosophie, die demo-
schichtliches Herrschaftsverhältnis konstituiert wird, kratisch legitimierbare und demokratisch begrenzte
wie Lukács und Adorno schon immer gemutmaßt Funktion eines Hüters der prozeduralen Rationalität
hatten. des Rechts (FG, 292 ff.).
Mit dem Verweis auf die Herrschaftsfunktionen
des philosophischen Fundamentalismus greift Ha-
Demokratisierung der Philosophie
bermas nicht nur auf ein zentrales Motiv der neo-
marxistischen Ideologiekritik zurück, er trifft sich In dem Stuttgarter Vortrag von 1981 entwickelt Ha-
auch mit Foucault und dem Poststrukturalismus (s. bermas die Idee einer Demokratisierung der Philoso-
Kap. II.21), Derrida und der Dekonstruktion (s. Kap. phie in zwei Schritten. Im ersten wird, ganz auf der
II.21), Dewey und dem Neopragmatismus (s. Kap. Linie von Marx, der gesellschaftliche Gehalt von
II.23). Habermas möchte jedoch weder die zielge- »Kants Begriff einer formalen und in sich differen-
richtet adressierbare Idee der Kritik im Stile Fou- zierten Vernunft« (PI, 44) bestimmt und von ihrer
caults durch eine allseits anschlussfähige Genealogie, fundamentalistischen Begründung abgetrennt. Die
noch im Stile Derridas durch eine selbstreflexiv ubi- »Bewegung des Begriffs« (Hegel), die in einem ge-
quitäre Dekonstruktion, noch wie Rorty durch eine waltigen Sprung von Platon zu Kant führt, ist keine
kriterienlose Praxis der Weltverbesserung ersetzen. autonome Selbstbewegung des Geistes. Sie verdankt
Er glaubt zwar wie Rorty, Foucault und Derrida, mit sich vielmehr einem evolutionären Prozess gesell-
dem epistemischen Fundamentalismus die letzten schaftlicher und kultureller Differenzierung. In die-
Rollen des Meisterdenkens, die des philosophisch sem Prozess »kristallisieren« sich die drei von Kant
privilegierten Platzanweisers und obersten Richters unterschiedenen Vernunftmomente (1) der »moder-
und damit den Herrschaftscharakter (nicht: die nen Wissenschaft«, (2) des »positiven Rechts und
Macht und den Einfluss – s. u.) philosophischen der prinzipiengeleiteten Profanethik«, (3) der auto-
Denkens abstreifen zu können. Aber er möchte, an- nomen »Kunst« und »institutionalisierten Kunstkri-
ders als Rorty, Foucault und Derrida mit Kant an der tik« heraus, die Habermas mit dieser Terminologie
Rolle eines Hüters der prozeduralen Rationalität (PI, bereits in die Sprache der Soziologie übersetzt hat;
44) festhalten. und sie tun dies ganz »ohne Anleitung durch die Kri-
Dafür braucht die moderne Kultur jedoch so we- tik der Vernunft« und »ohne Zutun der Philosophie«
nig einen obersten Richter wie die moderne Demo- (PI, 56). In autonomen, aber philosophisch lehrrei-
kratie eine Verfassungsgerichtsbarkeit, die Werte chen »Ausgliederungsprozessen« haben »die Wis-
und Orientierungen verbindlich macht, das überpo- senschaften« sich selbst von den metaphysischen
sitive Recht gegen das positive Gesetz ausspielt, die »Weltbildern« abgestoßen und »auf eine Interpreta-
Grundrechte anstelle des Parlaments interpretiert, tion von Natur und Geschichte im Ganzen« Verzicht
diesem bis ins Detail strittige Gesetze diktiert und geleistet (PI, 56). Die Begründungen, die sie dazu –
eine höhere Autorität neben der demokratischen Le- wenn überhaupt – brauchten, haben sie selbst pro-
9. Platzhalter und Interpret 217

duziert, und so wie die Wissenschaften haben sich zeitiger Unter- und Überbietung Kants befreit sich
auch Moral und Recht, Kunst und Kunstkritik in der die Philosophie in den nachfolgenden Argumenta-
gesellschaftlichen Wirklichkeit ausdifferenziert und tionsschritten durch eine Serie radikalisierter Selbst-
selbst begründet. Mit »dem Ganzen der Kultur ver- kritiken, die These T1 (Kant) und Antithese A1 (He-
hält es sich ähnlich wie mit den Wissenschaften: die gel) in einer Bewegung »reflektierender Abstrak-
Kultur bedarf keiner Begründung und keiner Ein- tion« (Kesselring 1984) in These T2 (T1/A1)
stufung« (PI, 55). aufheben und – in verschiedenen Anläufen des Kon-
Aus der soziologischen Perspektive eines kom- struktivismus (Lorenzen) und Kritizismus/Negativis-
munikationstheoretisch rekonstruierten Histori- mus (Popper/Adorno) einerseits, des Pragmatismus
schen Materialismus (vgl. RHM) entschlüsselt sich (Peirce) und der Hermeneutik (Dilthey) andererseits
die Vernunft als Vernunft der Gesellschaft, und die – zu einer Synthese bringen, in der die transzenden-
eigentliche Leistung der Transzendentalphilosophie tale und die dialektische Vernunft vorbehaltlos ver-
besteht nicht mehr in der letzten (Kant), auch nicht gesellschaftet und provinzialisiert werden, ohne indes
in der vorletzten (Popper) Begründung von Wissen- ihren universalistischen Anspruch auf Selbsttran-
schaft und Kultur, sondern im ersten Entwurf einer szendenz ganz aufzugeben. Hier ist die Formel von
postfundamentalistisch retrospektiven und falliblen, Marx paradigmatisch: Aufhebung und Verwirkli-
aber normativ gehaltvollen »Theorie der Moderne« chung, nicht Verabschiedung der Philosophie (PI, 51).
(PI, 44, 55; zu deren Problemen s. Kap. III.8). Dem folgt auf dem Fuße die Gegenthese A2 in meh-
Diese Umdeutung des Kantischen Vernunftbe- reren Varianten als therapeutische (Wittgenstein),
griffs verbindet Habermas im zweiten Schritt mit ei- heroische (Bataille/Heidegger) und salvatorische (Ga-
nem Metanarrativ, das zunächst nur eine von vielen damer) Verabschiedung der Philosophie und ihres
großen und kleinen Geschichten erzählt, die zwar Wahrheitsanspruchs. Aus der Kritik, welche die Welt
Wahrheitsansprüche erheben, diese aber nicht mehr von Kant bis Adorno bestimmt hatte, wird Abrich-
philosophisch zwingend (apriorisch) begründen tung, Geste und Gespräch, Destruktion, Dekon-
können und miteinander konkurrieren müssen. Die struktion und Kampf. So wie Marx die Aufhebung
Geschichte, die Habermas als Alternative zu Rortys der Philosophie auf den Begriff revolutionärer Pra-
Metanarrativ von der großen Transformation der xis, so hat Rorty die Verabschiedung der Philosophie
wahrheitsfunktionalen Vernunft in wahrheitsfreies auf den Begriff eines wahrheitsfreien Bildungswissens
Bildungswissen skizziert und wenig später im Philo- gebracht. »In Rortys Version vereinigt« die Philoso-
sophischen Diskurs der Moderne (s. Kap. III.12) aus- phie »gleichzeitig alle Tugenden, die sie sich durch
arbeiten wird, versteht die Demokratisierung der einen therapeutisch entlastenden, einen heroisch
Philosophie als dialektischen Lernprozess, der die überwindenden und einen hermeneutisch erwe-
Vernunft zwar nicht zum Verschwinden bringt, aber ckenden Abschied von der Philosophie erworben
im Sinne einer Entwicklungslogik (s. Kap. II.10; II.12; hat: Die unauffällig subversive Kraft des Müßiggangs
III.7; IV.7; IV.19) zur Selbstrationalisierung und zur verbindet sich dann mit elitärer sprachlich-schöpfe-
egalitären Kooperation mit Wissenschaft und Kultur rischer Phantasie und der Weisheit der Tradition«
nötigt. (PI, 53).
Das Metanarrativ vom Schicksal der Vernunft in These T2 (Marx) und Gegenthese A2 (Rorty) füh-
der Moderne entwirft Habermas selbst als eine ren in einer weiteren Bewegung reflektierender Ab-
dialektische Entwicklungslogik, die dem ebenso straktion schließlich zu der von Habermas selbst fa-
simplen wie brauchbaren Hegel’schen Schema der vorisierten These T3 (T2(T1/A1)/A2). Die Philoso-
argumentativ aufgestuften Abfolge von Thesen, An- phie erfährt eine doppelte Transformation, sie wird
tithesen und Synthesen folgt: Der transzendentalphi- in die Wissenschaft und in die Kultur internalisiert,
losophischen Letztbegründung Kants (These T1) setzt um das dort bereits latente Potential der Selbsttran-
im ersten Argumentationsschritt Hegel die Anti- szendenz zu Manifestationen zu verführen. Dabei
these (A1) einer dialektischen Selbstaufstufung des kann sie erfolgreich sein oder scheitern, muss mit
Geistes durch den Mechanismus einer wiederholten anderen Verführerinnen konkurrieren und damit
Umkehr des Verhältnisses von Subjekt und Objekt rechnen, wie Quine vom Verführten verführt zu
entgegen. Am Ende freilich landet Hegel bei einem werden. Alle alteuropäischen Hierarchien haben sich
absoluten Wissen, das den Fundamentalismus Kants in egalitäre und umkehrbare Relationen verwandelt.
nur um den Preis seiner Überbietung zu detranszen-
dentalisieren vermag. Aus dieser Antinomie gleich-
218 III. Texte

Starke Theorien, holistische Interpretationen den kommunikativen Mächten öffentlichen Streits


und öffentlicher Entzweiung aussetzen. Als ein In-
Innerhalb der Wissenschaften wird aus dem wissen- terpret unter vielen Interpreten öffentlicher Angele-
schaftsfernen Platzanweiser ein wissenschaftsinter- genheiten muss die Philosophie oder das philoso-
ner Platzhalter für starke Hypothesen und »empiri- phisch gewordene Expertenwissen versuchen, die
sche Theorien mit starken universalistischen An- öffentliche Meinung für den immer nur fragmenta-
sprüchen«, wie sie paradigmatisch in den großen rischen Zustrom dieses Wissens zu öffnen, indem sie
revolutionären Forschungsprogrammen (Lakatos (im Guten wie im Bösen) Diskussionen vom Zaun
1974) der Sozial- und Humanwissenschaften des 20. bricht, Polemiken inszeniert, Streit provoziert, Agi-
Jahrhunderts, bei Freud und Durkheim, Mead und tation betreibt und Kampagnen lostritt. Ihr Part ist
Weber, Piaget und Chomsky vorliegen. »Sie alle ha- es immer noch, vor allem in der Rolle des Intellektu-
ben, wenn das Wort überhaupt einen Sinn hat, einen ellen (s. Kap. IV.11), die »Verhältnisse« dadurch
genuin philosophischen Gedanken wie einen »zum Tanzen« zu bringen, dass sie »ihnen ihre ei-
Sprengsatz in eine spezielle Forschungstradition ein- gene Melodie vorspielt« (Marx 1966, 20). Das Spek-
geführt« (PI, 54). In diesen Forschungsprogrammen trum solcher Interpretationsleistungen reicht von
wird die Philosophie nicht etwa wie bei Quine ohne biederem Wissenschaftsjournalismus über den Ein-
Rest in Wissenschaft aufgelöst, sondern wird wissen- satz der »Waffe der Kritik« (Marx) im Kampf um
schaftlich, indem die Wissenschaft selbst philoso- epistemische Hegemonien bis zur moralisch moti-
phisch wird. Habermas expliziert, in Anspielung auf vierten Regelverletzung.
eine berühmte Formulierung des jungen Marx, der In der Rolle des Interpreten verschränken sich die
von der Verwirklichung der Philosophie im Philo- sehr verschiedenen Motive einer Ideologiekritik, die
sophischwerden der Wirklichkeit gesprochen hatte, »im scheinbar allgemeinen Interesse das partikulare
die Verwissenschaftlichung der Philosophie (gegen der Herrschenden aufdeckt« (Habermas 1972, 212),
Quine) als »Philosophischwerden der Humanwis- mit solchen einer rettenden Kritik, die versucht, eine
senschaften« (PI, 54). Das ist eines der vielen marxis- »mit Jetztzeit geladene Vergangenheit« »aus dem
tischen Motive (s. Kap. II.1), die sich von der Disser- Kontinuum der Geschichte« herauszusprengen
tation bis zum Spätwerk durchgehalten haben, in (Benjamin 1961, 276), um »die Quelle jener seman-
dem Habermas erst jüngst (gegen Rorty und einen tischen Potentiale« erschließen zu können, »die wir
breiten liberalen mainstream aus Realismus, Volun- zur Interpretation der Welt im Licht unserer Bedürf-
tarismus und Postmoderne) daran erinnert hat, dass nisse brauchen« (Habermas 1972, 217). Dabei be-
eine post-truth democracy keine mehr wäre (NR, schränkt sich die Interpretenrolle auf den doppelten
150 f.). Auch die Demokratie muss von Zeit zu Zeit Negativismus einer moralisch motivierten Ideologie-
philosophisch werden, um nicht in leerem Formalis- kritik am falschen Schein des Allgemeinen und einer
mus abzusterben. ethisch und ästhetisch motivierten, rettenden Kritik
Schon aus diesem Grund darf sich die neue Rolle am verfehlten Leben, dringt aber nicht mehr bis zur
einer postfundamentalistischen Philosophie nicht in Affirmation des richtigen Totalitätsbewusstsein
ihrer Platzhalterfunktion erschöpfen, sondern muss (Lukács) und des guten Lebens (Aristoteles) vor (s.
ihren Wahrheitsanspruch auch in totalitätsbezoge- Kap. II.16). Es geht der rettenden Kritik nicht mehr
nen Interpretationen unserer sozialen Lebenswelt zur ums gute, wohl aber (mit Adorno) ums nicht ver-
Geltung bringen. Ihre Rolle als Interpret der moder- fehlte Leben. Auch dies ist eine Hegel entwendete
nen Zeiten ist es, (1) die esoterischen Gehalte hoch Hegel’sche Entdeckung, dass die doppelte Negation
spezialisierter Expertendiskurse intern – in subversi- nicht dasselbe ist wie die einfache Affirmation, die
ven »Gegenbewegungen« (PI, 56 f.) zur Spezialisie- nach dem mathematischen Muster Minus mal Mi-
rung – zu vermitteln, z. B. durch das Ästhetischwer- nus ist Plus zustande kommt. Auch an dieser Stelle
den von Theorien, die Theoretisierung ethischer trifft Habermas sich mit Foucault und mehr noch
und juristischer Diskurse, die Freilegung praktischer mit Derrida, kann doch auch das bestens funktionie-
Implikationen von Forschungsprogrammen oder die rende Getriebe des parlamentarisch-demokratischen
Politisierung der Kunst. Ihre Rolle als Interpret ist es Alltagslebens und ein noch so erfolgreicher und ef-
darüber hinaus aber, (2) die Expertendiskurse zu ex- fektiver sozialdemokratischer Fortschritt in der
ternalisieren und exoterische Brücken zur All- »Verbesserung« der »Reproduktion des Lebens« zu
tagspraxis zu bauen. Die Philosophie soll in ihrer einer »bedeutungslosen Emanzipation« (Habermas
Rolle als Interpret des Ganzen das Expertenwissen 1972, 219) verblassen und semantisch veröden.
9. Platzhalter und Interpret 219

Die neuen Rollen des Platzhalters und Interpreten »Gefährlichkeit« (Arendt) allen Handelns zu entlas-
haben die angemaßte Souveränität der Philosophie ten. Alle Formen der Macht sind durch jeweils ver-
verabschiedet und sich ihrer Herrschaftsfunktionen schiedene Formen der Gewalt gedeckt bzw. in der
entledigt. Aber sie haben sie nicht durch ein Wol- Terminologie Luhmanns durch symbiotische Mecha-
kenkuckucksheim reiner Verständigung abgelöst, nismen an das Bewegen von Körpern gebunden (Luh-
das immer wieder zu unrecht und meist böswillig mann 1974). Schon deshalb setzt Habermas auch
der Theorie des kommunikativen Handelns als Ideal, nicht wie Hannah Arendt die Macht der Gewalt,
Ziel und Programm untergeschoben wird. Zwanglos sondern die kommunikative der administrativen
zwingen tut nur das bessere Argument, dem ein Ak- Macht entgegen. Ist die Deckungsreserve sozialer
teur aus eigener Einsicht zustimmt. Das passiert je- Macht die boykottierende Gewalt von Streiks und
der und jedem ständig, und das ist das Moment der Aussperrungen, so ist die Deckungsreserve adminis-
Vernunft in der Geschichte, eine – wie Walter Benja- trativer Macht die öffentliche Zwangsgewalt von Po-
min schreibt – »Sphäre menschlicher Übereinkunft«, lizei- und Militäreinsätzen und diejenige kommuni-
die »der Gewalt vollständig unzugänglich ist«: Es ist kativer Macht die rächende Gewalt der Insurrektion
»die eigentliche Sphäre der Verständigung, die Spra- oder der Revolution.
che« (Benjamin 1966, 55, affirmativ zitiert von Ha-
bermas 1972, 221). Aber »Diskurse sind Inseln im Kant oder Hegel?
Meer der Praxis« (Habermas 1982). Auch die Rollen
des Platzhalters und Interpreten sind wie die kom- Die gesamte Gedankenführung des Stuttgarter Vor-
munikative Macht, die das Philosophischwerden der trags von 1981 ist, wie wir gesehen haben, metho-
Wissenschaft und der Massenkultur (s. Kap. IV.21) disch und sachlich zutiefst von hegelianischen Moti-
erst ermöglicht, ganz und gar Praxis. Jedes For- ven abhängig. Methodisch verzichtet sie auf jede
schungsprogramm, jede Forschergemeinschaft und transzendentale Deduktion und propagiert und be-
jede öffentliche Verständigung ist mit (kommunika- dient sich stattdessen selbst der geschmeidigen In-
tiver, sozialer und administrativer) Macht (s. Kap. strumente immanenter Kritik, bestimmter Negation
IV.20; II.13) kontaminiert und in Kämpfe um Ein- und reflektierender Abstraktion. Sachlich zieht sie
flusssphären und Hegemonie verstrickt. Hier gilt die alle kantischen Dualismen ein und zielt auf Vermitt-
von Habermas in seiner Benjamin-Rede von 1972 lung von Philosophie und Wissenschaft, Theorie
der Vernunft der Verständigung hinzugefügte War- und Praxis, Denken und Gesellschaft, Vernunft und
nung Benjamins: »Pessimismus auf der ganzen Li- Geschichte, Rationalität und Evolution innerhalb ei-
nie! Jawohl und durchaus […] vor allem aber Miß- nes Kontinuums von Praktiken. Aber die kritische
trauen, Mißtrauen und Mißtrauen in alle Verständi- Theorie der Gesellschaft, an deren wichtigsten Prä-
gung zwischen den Klassen, zwischen den Völkern, missen Habermas mit Kant, Marx und Adorno fest-
zwischen den Einzelnen. Und unbegrenztes Ver- hält, soll aus dem Bestehenden selbst und aus dessen
trauen allein in die I.G. Farben und die friedliche Eigenbewegung, soll also – mit Hegel gegen Hegel
Vervollkommnung der Luftwaffe« (Benjamin 1966, denkend – den radikalen, normativen Universalis-
214, zit. bei Habermas 1972, 221). Anders als das mus Kants erneuern. Die Bedingungen der Möglich-
Geldmedium oder das Medium administrativer keit starker Theorien (Philosophischwerden der Wis-
Macht sind Einfluss und kommunikative Macht, die senschaft) und totalitätsbezogener Interpretationen
Medien der Platzhalter und Interpreten, doppelt co- (Gesellschaftskritik, Geschichtsdeutung und Zeit-
diert. Kommunikative Macht degeneriert zur Ideo- diagnose) werden, wie in der langen Denkbewegung
logie hegemonialer Mächte, wenn ihre argumenta- von Fichte, Hegel, Schelling bis Rorty, Luhmann,
tive Deckungsreserve abschmilzt. Aber sie ist ohn- Foucault, vollständig zu empirischen Bedingungen
mächtig, wenn sie im Fall schreienden Unrechts und der Möglichkeit diskursiver und kommunikativer
brutaler Repression nicht mehr auf die materielle Praktiken detranszendentalisiert. Aber an der Frage,
Deckungsreserve »rächender Gewalt« (Habermas was diese Bedingungen ermöglichen, scheiden sich
1982; vgl. a. TKH II, 345) zurückgreifen kann, eine die Geister, und Habermas setzt in das variable Was
Deckungsreserve, die freilich durch die zwanglos Kant als Hypothese ein. Die These, die Kant und
zwingende Kraft besserer Argumente – auch das un- Hegel mit Marx (und Kierkegaard/Heidegger) inte-
terscheidet das postmetaphysische vom meisterhaf- griert, bewahrt das Erbe des Kantischen Universalis-
ten Denken – nicht mehr verbindlich gemacht wer- mus für die politische Praxis, indem sie Kant vom
den kann, um den Handelnden vom Risiko bzw. der philosophischen Kopf auf die geschichtlich-gesell-
220 III. Texte

schaftlichen Füße stellt. Sie behauptet, dass in die 10. Theorie der Gesellschaft
durch und durch kontingenten geschichtlichen und
gesellschaftlichen »Bedingungen verständigungsori- Theorie des kommunikativen Handelns (1981)
entierten Handelns ein Moment Unbedingtheit ein-
gebaut« sei (PI, 58). Das ist die ganze Theorie.
Ein Klassiker der Gesellschaftstheorie
Literatur Das sozialphilosophische Denken von Jürgen Haber-
Benjamin, Walter: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Frankfurt
mas ist zutiefst von der Überzeugung geprägt, dass
a. M. 1966. die gesellschaftliche Entwicklung im Prinzip eine
Davidson, Donald: »A Coherence Theory of Truth and Fortschrittsgeschichte darstellt, faktisch aber gravie-
Knowledge«. In: Henrich 1983, 423–438. rende soziale Missstände hervorbringt. Damit zeich-
Habermas, Jürgen: »Bewusstmachende oder rettende Kri- net sich sein Ansatz auf der einen Seite durch ein Ge-
tik – Die Aktualität Walter Benjamins«. In: Siegfried Un-
spür für jene Leidens- und Krisenphänomene aus,
seld (Hg.): Zur Aktualität Walter Benjamins. Frankfurt
a. M. 1972, 173–224. welche den Blick der vollkommen im Bann der tech-
–: »A Reply to my Critics«. In: John B. Thompson/David nischen und ökonomischen Entwicklung stehenden
Held (Hg.): Habermas – Critical Debates. London 1982, neokonservativen und neoliberalen Modernisierer
219–283. gar nicht erst trüben; auf der anderen Seite hält er
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Phänomenologie des Geis-
aber eine ebensolche Distanz zu denen, die sich an-
tes. Hamburg 1952.
Heine, Heinrich: »Zur Geschichte der Religion und Philo- gesichts der Übel und Katastrophen, die die Moderne
sophie in Deutschland«. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. hervorgebracht hat, in antimodernistische Utopien
IX. München 1964, 153–285. flüchten. Entscheidend für die Auffassung von Ha-
Henrich, Dieter: Hegel im Kontext. Frankfurt a.M 1971. bermas, dass ein und derselbe Prozess sowohl eman-
– (Hg.): Kant oder Hegel? Stuttgart 1983. zipatorische als auch pathologische Züge trägt, ist der
Kant, Immanuel: Kritik der reinen Vernunft. Berlin 1968.
–: »Der Streit der Fakultäten«. In: Ders.: Werke. Bd. XI. Gedanke, dass sich nicht alle fortschrittlichen Poten-
Frankfurt a. M. 1977, 261–393. ziale im Geschichtsverlauf gleichermaßen entfaltet
–: »Von einem neuerdings erhobenen vornehmen Ton in haben und die soziale Entwicklung als Prozess einsei-
der Philosophie«. In: Ders: Werke. Bd. VI. Frankfurt tiger Rationalisierung zu verstehen ist. Diesem
a. M. 1977a, 377–397. Grundgedanken zufolge entbindet die gesellschaftli-
Kesselring, Thomas: Entwicklung und Widerspruch. Frank-
furt a. M. 1981 che Modernisierung ein umfassendes Vernunftpo-
–: Die Produktivität der Antinomie. Hegels Dialektik im tenzial, aber die Gehalte des okzidentalen Rationalis-
Lichte der genetischen Erkenntnistheorie und der forma- mus werden nur partiell ausgeschöpft und sind daher
len Logik. Frankfurt a. M. 1984. verzerrt und wirken destruktiv. So führt der Weg von
Lakatos, Imre: The Methodology of Scientific Research Pro- der Befreiung aus traditionalen Abhängigkeiten nicht
grammes. Philosophical Papers, V.I. London 1974.
Luhmann, Niklas: »Symbiotische Mechanismen«. In: Klaus
zur Selbstentfaltung autonomer Personen in einer so-
Horn u. a. (Hg.): Gewaltverhältnisse und die Ohnmacht lidarischen Gesellschaft; stattdessen sind an die Stelle
der Kritik. Frankfurt a. M. 1974, 107–131. der alten Unfreiheiten neue Formen der Unmündig-
–: Macht. Stuttgart 1975. keit getreten, die aus einem strukturell begründeten
Marx, Karl: »Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Zwang zu technisch-instrumentellen Orientierungen
Einleitung«. In: Marx-Engels I. Studienausgabe: Philoso-
phie. Frankfurt a. M. 1966, 1–35.
im Umgang mit sich und der Welt resultieren.
–: Theorien über den Mehrwert. Teil 3. Frankfurt a. M. Die Theorie des kommunikativen Handelns (TKH;
1968. vgl. VE und ND) ist das Resultat des mehr als zwei
Putnam, Hilary: »Was ist Epistemologie?«. In: Henrich Jahrzehnte währenden Ringens um eine gesell-
1983, 439–448. schaftstheoretische Ausarbeitung dieser Grundintui-
Rorty, Richard: Der Spiegel der Natur. Frankfurt a. M. 1981
(engl. 1979).
tion. Das endgültige Ergebnis ist ein monumentales
Rorty, Richard: »Zur Einführung«. In: Henrich 1983, 408– Opus von zwei Bänden und etwa 1200 Druckseiten,
411. das Hauptwerk von Jürgen Habermas. Um ein Mam-
Quine, Willard V. O.: »Gegenstand und Beobachtung«. In: mutwerk handelt es sich dabei auch hinsichtlich der
Henrich 1983, 412–422. unterschiedlichen Ansätze, die der Autor sich hier
Hauke Brunkhorst
produktiv anverwandelt und die er weiterentwickelt
hat. Leitend bleibt freilich der in den 1950er Jahren
rezipierte westliche Marxismus:
10. Theorie der Gesellschaft 221

»Alles, was ich mir sonst angeeignet habe, erhält seinen auf Konzeptualisierungsaufgaben jedoch Erklä-
Stellenwert einzig im Zusammenhang mit dem Projekt ei- rungsansprüche preisgibt und darauf verzichtet, ein-
ner auf dieser Traditionslinie erneuerten Gesellschaftsthe- zelne gesellschaftliche Phänomene mit Blick auf den
orie« (NU, 216).
Gesamtkontext zu verstehen.
Schon zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung 1981 Die gegenwärtige Lage der Theorie des kommuni-
galt die Theorie des kommunikativen Handelns als kativen Handelns lässt sich jedoch nicht hinreichend
moderner Klassiker der Gesellschaftstheorie. Das durch ihre Empirieferne und den neuen Geist theo-
Werk war bereits vor der Publikation Thema akade- retischer Bescheidenheit erklären. Der sperrige Cha-
mischer Auseinandersetzungen und wurde schnell rakter des Werkes hat auch Habermas selber dazu
Gegenstand einer intensiven internationalen Rezep- verleitet, es additiv zu erläutern (NU, 178 ff.; vgl. Iser/
tion. Gut ein Vierteljahrhundert später gehören die Strecker 2009). Dahinter tritt der Kerngehalt seiner
gesellschaftstheoretischen Überlegungen dieser Kon- Gesellschaftstheorie zurück. Gerade dieser aber ist
zeption längst zum Kanon der soziologischen Theo- den heute diskutierten alternativen Ansätzen überle-
rie und ihre Grundbegriffe sind zahlreichen Studie- gen.
rendengenerationen und einem großen Publikum
vertraut. Zugleich genießt Habermas heute einen für
Die Theorie des kommunikativen Handelns
einen zeitgenössischen Fachphilosophen nahezu
beispiellosen Bekanntheitsgrad. Gleichwohl sind Die Rationalitätstheorie – der Begriff kommunikati-
von der Theorie des kommunikativen Handelns heute ver Rationalität: Um zu zeigen, dass Rationalitätspo-
nur noch einzelne Bestandteile in der Diskussion le- tenziale sich im Prozess gesellschaftlicher Moderni-
bendig, eher die philosophischen Grundlagen als die sierung nur einseitig entfaltet haben, muss Haber-
soziologischen Theoreme, die mehr als Schlagworte mas einen Vernunftbegriff entwickeln, der mehr
denn in ihrem Gehalt überlebt haben. Als Gesell- umfasst als die Dimension der instrumentellen bzw.
schaftstheorie sucht man die Theorie des kommuni- Zweckrationalität (s. Kap. IV.28). Erlaubt diese Di-
kativen Handelns in aktuellen Diskussionen verge- mension allein eine Bewertung von Mitteln für fest-
bens. Sieht man von den allgegenwärtigen Zeitdiag- stehende Zwecke, so muss eine Diagnose, der zufolge
nosen ab, so wird man hier eher auf Rational die Verabsolutierung ökonomischer Maßstäbe für
Choice-Ansätze, Netzwerkanalysen, Anthony Gid- die gesellschaftliche Entwicklung selbst unvernünf-
dens’ Strukturierungstheorie, Pierre Bourdieus Pra- tig – und nicht nur unter irgend einem Gesichts-
xeologie und in einigen Ländern auf Niklas Luh- punkt kritikwürdig – ist, unterstellen, dass neben
manns Systemtheorie treffen. Auch von den Studien Mitteln auch die jeweiligen Zwecke selbst mehr oder
Michel Foucaults gehen heute, wie die Diskursana- weniger rational sein können. Habermas geht es frei-
lyse und die Gouvernementalitätsstudien zeigen, lich nicht nur um den Nachweis, dass auch morali-
Impulse aus, denen keine vergleichbaren Anregun- sche Auffassungen rational begründet werden kön-
gen durch die Gesellschaftstheorie von Habermas nen; vorrangig ist vielmehr die Frage, wie die Ver-
entgegenstehen. nunft sozial verankert ist und sich auf die
Dies hat sicher mit dem programmatischen Cha- gesellschaftliche Entwicklung auswirkt. Die Ratio-
rakter des Werkes zu tun, und der hohe Abstrakti- nalitätstheorie muss folglich zeigen, dass sich auf
onsgrad dürfte sein übriges dazu beigetragen haben, dem Wege der Rekonstruktion invarianter, also kul-
dass es empirisch weitgehend unausgeführt geblie- turunabhängiger gesellschaftlicher Strukturen ein
ben ist. Zudem steht Gesellschaftstheorie gegenwär- mehrdimensionales, nicht auf den instrumentellen
tig ohnehin nicht allzu hoch im Kurs. Angesichts ge- Aspekt beschränktes Vernunftkonzept identifizieren
steigerter gesellschaftlicher Komplexität traut sich lässt.
heute kaum noch jemand zu, das Ganze in den Blick Dieses sozial schon wirksame, weil von den Ge-
zu nehmen. Da kommt der Umstand, dass der Ge- sellschaftsmitgliedern in ihren Interaktionen not-
sellschaftsbegriff historisch durch seine Kopplung wendig unterstellte, von ihnen in Anspruch genom-
an den Nationalstaat belastet ist, gerade recht, um mene und daher mindestens implizit anerkannte
ihn als überholt zu verabschieden. An die Stelle der Vernunftpotenzial findet Habermas in der Struktur
Gesellschaftstheorie scheint heute weitgehend die der menschlichen Sprache auf (s. Kap. III.5; IV.8.;
Sozialtheorie getreten zu sein, die sich damit be- IV.14). Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die
scheidet, Begrifflichkeiten für die empirische For- verbreitete Auffassung, dass man die Bedeutung ei-
schung theoretisch zu klären, mit dieser Verlagerung nes Satzes versteht, wenn man weiß, was ihn wahr
222 III. Texte

macht bzw. seine Geltungsbedingungen kennt. Die- Sprecher der Analyse von Habermas zufolge aber
ser Überlegung zum Zusammenhang von Bedeu- noch weitere Gemeinsamkeitsunterstellungen, näm-
tung und Geltung gibt Habermas eine pragmatische lich die einer sozialen Welt legitimer interpersona-
Wendung (s. Kap. IV.25). Er argumentiert, dass das len Beziehungen und die einer subjektiven Welt pri-
Wissen darum, unter welchen Bedingungen ein Satz vilegiert zugänglicher Erlebnisse. Sprecher können
wahr ist, beinhaltet, dass man weiß, wie sich die frag- sich nicht nur über die Wahrheit von Sachverhalten,
liche Behauptung begründen lässt und mit welcher sondern in ähnlicher Weise auch über die Legitimi-
Art von Gründen sie kritisiert werden kann. Um den tät bzw. Richtigkeit von Normen und die Wahrhaf-
Nachweis, dass sich Gültigkeitsbedingungen mithin tigkeit von Expressionen verständigen, weil sie mit
nicht nur für das ›Was‹, sondern auch für das ›Wie‹ ihren Äußerungen Bezüge zu drei Welten aufneh-
einer Äußerung angeben lassen, bemüht Habermas men und folglich mit jeder Äußerung drei Geltungs-
sich mit den Mitteln der Formalpragmatik, der Wis- ansprüche erheben. Das formale Bezugssystem der
senschaft der allgemeinen Strukturen der Sprachver- drei Welten (dem die grammatische Struktur der
wendung. Seiner Analyse zufolge beruht sprachliche Sprache mit der Unterscheidung von 1., 2. und 3.
Verständigung darauf, dass Sprechakte mit Gel- Person korrespondiert) bildet somit die Grundlage
tungsansprüchen verknüpft sind: Wer jemandem ge- für einen dreidimensionalen Rationalitätsbegriff,
genüber etwas als etwas äußert, erhebt damit den der nicht auf Wahrheitsfragen im engen Sinne be-
Anspruch, die Behauptungen für die Gültigkeit der schränkt bleibt, sondern auch die Bereiche normati-
Äußerung seien erfüllt. Natürlich kann ein Sprecher ver Richtigkeit und expressiver Wahrhaftigkeit er-
einen Hörer auch täuschen wollen; aber solche (und fasst.
weitere) Fälle eines erfolgsorientierten Sprachge- Alle Aspekte des Begriffs der kommunikativen
brauchs bleiben abhängig vom verständigungsorien- Vernunft und seiner Begründung haben Kritik auf
tierten Sprachgebrauch (in diesem Fall davon, dass sich gezogen. Dabei ist die Rationalitätstheorie der-
der Hörer unterstellt, die Aussage sei vom Sprecher jenige Baustein der Theorie des kommunikativen
ehrlich gemeint) und lösen den Zusammenhang von Handelns, der am nachhaltigsten in aktuellen Dis-
Sprechakten und Geltungsansprüchen folglich nicht kussionen präsent ist. Die zentralen Argumente sind
auf. Es sind eben diese Ansprüche, die Aussagen mit schon früh ausgetauscht worden. Im Prinzip geht es
übersubjektiv zu beurteilenden Gründen verknüp- immer um die Frage, ob es Habermas gelungen ist,
fen und es damit möglich machen, Äußerungen Ra- die normativen Grundlagen für eine Theorie zu be-
tionalität zuzuschreiben. gründen, die Gesellschaft nicht nur zu beschreiben
Vernunft identifiziert Habermas mithin in der und zu erklären beabsichtigt, sondern darüber hi-
menschlichen Redepraxis, die Akteure unweigerlich naus beansprucht, allgemein teilbare Maßstäbe für
in den Austausch von Gründen, in Kritik und Recht- ihre Kritik bereitzustellen. Ein grundlegender Ein-
fertigungsverpflichtungen verstrickt. Die entschei- wand verwirft den gesamten soziologischen Ansatz
dende Überlegung auf dem Weg zu dem gesuchten von Habermas und bezweifelt, dass sich auf dem
mehrdimensionalen Rationalitätskonzept besteht Wege einer Rekonstruktion gesellschaftlicher Struk-
nun darin, dass sich Äußerungen nicht nur unter ei- turen unbedingte, also von empirischen Kontingen-
nem Gesichtspunkt, sondern in genau drei Hinsich- zen unbeeinträchtigte Rationalitätsgehalte und nor-
ten bezweifeln und verteidigen lassen. Ein Hörer mative Verpflichtungen gewinnen lassen (Schnädel-
kann eine Äußerung zurückweisen, weil er glaubt, bach 1986). Während Habermas (NR, 105) zufolge
ihr propositionaler Gehalt treffe nicht zu, der Spre- jedes andere Verfahren den Bereich vernünftiger,
cher erhebe eine illegitime Behauptung oder meine allgemein nachvollziehbarer, nachmetaphysischer
gar nicht, was er sagt. Entsprechend unterscheidet Argumentation verlasse (s. Kap. II.8; IV.23), behar-
Habermas die drei Geltungsansprüche auf (proposi- ren Transzendentalphilosophen und andere Vertre-
tionale) Wahrheit, (normative) Richtigkeit und (ex- ter universalistischer Auffassungen auf einer philo-
pressive) Wahrhaftigkeit. Sollen Sprecher sich in all sophischen, am Begriff der Vernunft ansetzenden
diesen Hinsichten mit übersubjektiven Gründen Geltungsbegründung (Apel 1989).
verständigen können, müssen sie sich freilich jeweils Eine zweite Kritik richtet sich gegen die pragmati-
auf dasselbe beziehen. Relativ unproblematisch ist sche Wendung, die Habermas dem Zusammenhang
dies in Bezug auf unser Wissen über Tatsachen. Wir von Bedeutung und Geltung gibt. Um den Sinn einer
unterstellen eine gemeinsame Welt existierender sprachlichen Äußerung zu erfassen, so der Einwand,
Sachverhalte. Neben dieser objektiven Welt machen müsse man zu ihr keineswegs wertend Stellung neh-
10. Theorie der Gesellschaft 223

men (Tugendhat 1985; Zimmermann 1985). Deswe- Die Handlungsbegriffe der soziologischen Tradition
gen bestehe kein konstitutiver Zusammenhang zwi- sind aber zu eng angelegt, um alle Rationalitätsas-
schen Verstehen und Verständigung und gingen pekte des Handelns erfassen zu können. Das zeigt
Sprecher folglich nicht immer schon, zumindest im- sich an einer selektiven Konzeptualisierung der je-
plizit und kontrafaktisch, kontexttranszendierende weils möglichen Weltbezüge. So beschränken die
Rechtfertigungsverpflichtungen ein (Cooke 1994). dominanten Begriffe des teleologischen und des
Auch diese Auseinandersetzung hat bislang eher zu strategischen Handelns die Analyse auf den Bezug
einer Bekräftigung der jeweiligen Positionen als zu zur objektiven Welt: Die Rationalität von Meinun-
einer argumentativen Auflösung des Dissenses ge- gen und Handlungen kann in diesem Rahmen nach
führt. So hat Habermas (1986, 360) von einer »kon- ihrer Wahrheit und Wirksamkeit beurteilt werden.
traintuitiven Lesart« seiner Kritiker gesprochen, der Erst der Begriff des normenregulierten Handelns er-
gegenüber er auf seinen Ausführungen »beharren« laubt zudem Urteile über die Legitimität von Moti-
möchte. ven, Handlungen und Normen, weil er voraussetzt,
Mit zahlreichen Einwänden setzt Habermas sich dass Akteure sich neben der objektiven auch auf die
schon in der Theorie des kommunikativen Handelns soziale Welt beziehen. Für die Rationalität von Wün-
selbst auseinander. Vor allem die These, es gäbe schen und Gefühlen bleibt freilich auch dieser Be-
mehr als nur einen Geltungsanspruch und norma- griff blind, weil er Beziehungen von Akteuren zur
tive und expressive Fragen seien in ähnlicher Weise subjektiven Welt nicht konzeptualisiert; darauf ist
wie Wahrheitsfragen einer rationalen Erörterung zu- der Begriff des dramaturgischen Handelns zuge-
gänglich, bleibt umstritten. In der Folge hat Haber- schnitten, der die Innenwelt gegen eine Außenwelt
mas sich darum bemüht, die unterschiedlichen Dis- abhebt, aber die Differenzierung von objektiver und
kurstypen weiter zu klären. Während der Geltungs- sozialer Welt nicht kennt, auf der die Fähigkeit von
anspruch auf Wahrhaftigkeit und der Bereich der Akteuren beruht, Fakten und Werte zu unterschei-
Ästhetik weitgehend unausgearbeitet geblieben sind, den. Moderne Akteure hätten jedoch ein dezentrier-
ist in Bezug auf moralische Fragen der Formalismus tes Selbst- und Weltverständnis entwickelt und näh-
etwas abgeschwächt (ED) und die Wahrheitstheorie men Bezüge zu allen drei Welten auf. Nach Haber-
modifiziert worden (WR). Am dreidimensionalen mas stellen das teleologische, normenregulierte und
Konzept einer prozeduralen Vernunft hat sich dabei dramaturgische Handeln deswegen Vereinseitigun-
im Kern nichts geändert. Überraschenderweise ist gen bzw. Grenzfälle des kommunikativen Handelns
gerade das Verhältnis der drei Rationalitätsdimensi- dar, das Bezüge zur objektiven, zur sozialen und zur
onen und die Frage, wie Sprechhandlungen immer subjektiven Welt und somit alle rationalisierungs-
unter allen drei Geltungsaspekten problematisiert fähigen Aspekte des Handelns erfasst (s. auch Kap.
werden können, weder von Habermas noch von sei- IV.14).
nen Kritikern eingehender thematisiert worden (Seel Im Unterschied zur Tradition wählt Habermas
1986); dabei steht die Fähigkeit, ungezwungen zwi- zudem einen konsequent interaktionstheoretischen
schen den verschiedenen Vernunftmomenten chan- Zugang. Sowohl die Begriffe des teleologischen, des
gieren zu können, im Zentrum seiner Überlegun- normenregulierten und des dramaturgischen Han-
gen. delns als auch die von Max Weber eingeführte Hand-
lungstypologie, die affektuelles, wertrationales und
Die Handlungstheorie – der Begriff kommunikativen zweckrationales Handeln unterscheidet, gehen zu-
Handelns: Um die Intuition zu begründen, dass die nächst vom einzelnen Akteur aus. Dagegen richtet
gesellschaftliche Entwicklung ein Prozess einseitiger Habermas den Fokus auf den Mechanismus der
Rationalisierung ist, kann Habermas freilich nicht Handlungskoordinierung, also auf die Art und
bei der menschlichen Redepraxis stehen bleiben. Weise, wie Handlungen aneinander anschließen. Im
Ausgehend von der Überzeugung, dass soziale Struk- Anschluss an Überlegungen Webers unterscheidet
turen aus Handlungszusammenhängen resultieren, er zwischen einer Handlungskoordinierung durch
soll als zweiter Theoriebaustein der Theorie des kom- Interessenlage und einer Handlungskoordinierung
munikativen Handelns eine soziologische Hand- durch normatives Einverständnis und gelangt so zu
lungstheorie zeigen, dass die kommunikative Ver- zwei Handlungstypen. Interaktionen zwischen er-
nunft die menschliche Handlungspraxis durch- folgsorientiert eingestellten Akteuren nennt er stra-
dringt. Handelnde können nicht umhin, selber tegisches, Interaktionen zwischen verständigungs-
spezifische Rationalitätsunterstellungen zu machen. orientiert eingestellten Akteuren kommunikatives
224 III. Texte

Handeln. Im ersten Fall beruht die Handlungskoor- Ableitungsverhältnis aus einem vermeintlichen Vor-
dinierung auf Zwang, Machtasymmetrien oder einer rang des verständigungsorientierten vor dem er-
zufälligen Übereinstimmung der egozentrischen Er- folgsorientierten Sprachgebrauch zu begründen. Im
folgskalküle, im zweiten Fall dagegen auf einem Ein- Fokus steht dabei insbesondere die sprechakttheore-
verständnis der Interaktionspartner über ihre Hand- tische Unterscheidung zwischen dem Gehalt, dem
lungssituation, die sie anhand des Bezugssystems der Modus und dem Effekt einer Äußerung und das Ver-
drei Welten interpretieren. hältnis zwischen diesen drei – lokutionär, illokutio-
Anders als beim strategischen Handeln, das auf- när und perlokutionär genannten – Bestandteilen
grund der empirischen Motivation der interagieren- von Sprechhandlungen (s. Kap. II.6.; vgl. Culler 1985;
den Akteure gelingt, die sich an den Vor- und Nach- Greve 1999; Skjei 1985; Habermas 1985).
teilen ihrer Handlungsoptionen orientieren, ent- Diese Kritiken berücksichtigen in der Regel aller-
springt die Bindungswirkung des kommunikativen dings nicht die gesellschaftstheoretische Absicht, die
Handelns diesem selbst bzw. der rationalen Motiva- Habermas mit der Unterscheidung der beiden Hand-
tion der Akteure. Die Verständigung über eine lungstypen verfolgt. Diese bezieht sich auf die Frage,
Handlungssituation mündet nämlich genau dann in ob Zwang oder die Interessen egozentrisch einge-
ein Einverständnis der Beteiligten, wenn diese die in stellter Akteure für die Hervorbringung sozialer
dem Interpretationsprozess erhobenen Geltungsan- Ordnung hinreichen, wie z. B. Vertreter des Rational
sprüche akzeptieren. Das bedeutet nun nicht, dass Choice-Ansatzes im Gefolge von Thomas Hobbes
kommunikatives Handeln interesselose Akteure vo- meinen, oder ob die Stabilität von Gesellschaften auf
raussetzt. Wer handelt, verfolgt Ziele. Aber davon den Legitimitätsglauben ihrer Mitglieder angewie-
bleibt der Mechanismus der Handlungskoordination sen ist, wie Habermas mit Max Weber annimmt. Was
unberührt. Wer kommunikativ handelt, verfolgt die Habermas dabei über Weber hinaus behauptet ist,
eigenen Ziele auf der Grundlage einer Situationsde- dass dieser Einverständnisglaube auf Strukturen
finition, die zwischen den Interaktionspartnern we- sprachlicher Verständigung beruht, die es ermögli-
der in Bezug auf die Wahrheit der dabei unterstellten chen, die Differenz zwischen einer bloß faktischen
Sachverhalte noch die normative Richtigkeit der be- Zustimmung und einem begründeten Einverständ-
rührten sozialen Beziehungen noch die Aufrichtig- nis zu klären. Deswegen hält er auch gegen Vor-
keit der Akteure strittig ist. Ein anderes Missver- schläge aus dem Bereich der internationalen Bezie-
ständnis bestünde darin, kommunikatives Handeln hungen, in denen seine Handlungstypologie für die
mit Sprechen gleichzusetzen. Auf der einen Seite Unterscheidung der beiden Verhandlungsmodi des
wird Sprache nicht nur verständigungs-, sondern arguing und des bargaining fruchtbar gemacht wor-
auch erfolgsorientiert gebraucht (wobei der erfolgs- den ist (vgl. Niesen/Herborth 2007), daran fest, das
orientierte Sprachgebrauch nach Habermas den ver- normenregulierte Handeln als Grenzfall des kom-
ständigungsorientierten voraussetzt und auch das munikativen Handelns zu verstehen und nicht als ei-
strategische Handeln nur ›parasitär‹ auf dem kom- genständigen Typus zu unterscheiden (Habermas
munikativen Handeln als dem Originalmodus auf- 2007, 423 f.). In jedem Fall wird die gesellschaftsthe-
sitzt). Auf der anderen Seite muss ein Einverständnis oretische Annahme, dass die Reproduktion sozialer
in der Regel nicht erst explizit herbeigeführt werden; Ordnung auf mehr als strategisches Handeln, näm-
Akteure folgen in weiten Teilen Routinen und ver- lich auf Verständigungsprozesse und kommunikati-
stehen sich wortlos. Nur Situationsdefinitionen, die ves Handeln angewiesen ist, nicht direkt von der
zunächst strittig sind, erfordern einen offenen Ver- handlungstheoretischen Frage nach dem Ableitungs-
ständigungsprozess. Diese reflexive Form kommu- verhältnis zwischen den beiden Handlungstypen
nikativen Handelns bezeichnet Habermas als Dis- tangiert.
kurs (s. Kap. IV.2). Prekärer ist die Abgrenzung beider voneinander.
Der Begriff des kommunikativen Handelns hat Es soll sich nicht einfach um analytisch verschiedene
allerdings nicht nur zu Missverständnissen, sondern Aspekte von Interaktionen, sondern um zwei unter-
auch zu ernsten Einwänden Anlass gegeben. Erstens schiedliche Typen handeln. Klärungsbedürftig ist
ist Habermas’ Behauptung zurückgewiesen worden, dabei, wie sich das Kriterium der zwei verschiede-
dem strategischen Handeln komme gegenüber dem nen Mechanismen der Handlungskoordination zu
kommunikativen Handeln lediglich ein abgeleiteter dem weiteren Kriterium verhält, das Habermas auch
Status zu. Zahlreiche Autoren haben argumentiert, anführt, nämlich dem der (entweder verständi-
dass jedenfalls der Versuch misslungen sei, dieses gungs- oder erfolgsorientierten) Einstellungen der
10. Theorie der Gesellschaft 225

Akteure. Beides deckt sich schließlich nur in dem fungiert ›Gesellschaft‹ in Gestalt eines unthemati-
Fall, dass die Interaktionspartner dieselbe Hand- schen ›Hintergrundwissens‹ – wobei der Begriff des
lungsorientierung einnehmen. Zudem ist angeführt Wissens hier insofern ungenau ist, als die Lebens-
worden, dass die nachträglich eingeführte Unter- welt als selbstverständlich Gegebenes erfahren wird.
scheidung zwischen einer schwachen, verständi- Erst wenn Sinngehalte problematisch werden, wer-
gungsorientierten und einer starken, einverständ- den sie zum Gegenstand bewusster Erkenntnis, ver-
nisorientierten Form kommunikativen Handelns lieren damit aber auch ihren Status als Bestandteil
(WR) die Trennschärfe gegenüber dem strategischen der Lebenswelt (und werden zu etwas in der Welt).
Handeln beeinträchtigt (Schluchter 2007). Das wäre Die Struktur der Lebenswelt präzisiert Habermas
insofern problematisch, als das kommunikative sodann, indem er in Auseinandersetzung mit ver-
Handeln nur unter der Voraussetzung einer eindeu- schiedenen gesellschaftstheoretischen Traditionen
tigen Unterscheidbarkeit der beiden Handlungsty- argumentiert, dass neben Sinngehalten auch Solida-
pen als Träger kommunikativer Rationalität zu fun- ritäten und Fertigkeiten als weitere gesellschaftliche
gieren vermag. Wären erfolgs- und verständigungs- Ressourcen in Interaktionen einfließen. Entspre-
orientierte Aspekte im Handeln dagegen miteinander chend der drei Ressourcen Sinn (bzw. Wissen), Soli-
verwoben, wie u. a. Pierre Bourdieu und Michel Fou- daritäten (bzw. soziale Ordnungen oder Gruppenzu-
cault argumentiert haben, und ließen sich beispiels- gehörigkeiten) und Fertigkeiten (bzw. Kompetenzen
weise ›Überzeugen‹ und ›Überreden‹ nicht klar von- oder Ich-Stärke) unterscheidet er drei Komponenten
einander unterscheiden, was insbesondere Richard der Lebenswelt: Kultur, Gesellschaft und Persönlich-
Rorty immer wieder angeführt hat, dann bliebe die keit (den Gesellschaftsbegriff verwendet Habermas
kontexttranszendierende Kraft und potentiell uni- verwirrenderweise doppelt, nämlich einmal in ei-
versalistische Reichweite der Geltungsbasis der Rede nem umfassenden Sinne und einmal als Teilsegment
beschränkt oder verzerrt (vgl. McCarthy 1993). der Lebenswelt). Die drei Lebensweltkomponenten
halten die gesellschaftlichen Ressourcen bereit, auf
Die Gesellschaftstheorie – Lebenswelt und System: die Akteure in ihren Interaktionen zurückgreifen,
Habermas entwickelt seine Gesellschaftstheorie zwar und werden durch kommunikatives Handeln repro-
auf handlungstheoretischer Grundlage, aber er duziert.
glaubt nicht, dass sich gesellschaftliche Zusammen- Im Zuge ihrer Reproduktion wandelt sich die Le-
hänge allein durch eine Analyse von Handlungen benswelt. In frühen Gesellschaften war das Einver-
angemessen verstehen lassen (s. Kap. IV.8). Zum ei- ständnis, das die Handlungskoordinierung ermög-
nen fungiert ›Gesellschaft‹ nämlich immer schon als lichte, durch Mythen gesichert. Auch die rituellen
Handlungsressource. Zum anderen folgt die Ent- Praktiken, durch die sich diese Gesellschaften repro-
wicklung sozialer Strukturen einer eigenen Logik, duzierten, beruhten auf kommunikativem Handeln.
die sich nicht auf einzelne Handlungen, geschweige Aber die sakrale Wurzel der Gesellschaft schirmte
denn die konkreten Absichten einzelner Akteure zu- ihre zentralen Institutionen gegen Infragestellungen
rückführen lässt. Somit bedarf die Handlungstheorie ab. Erst nachdem Weltbilder als Weltdeutungen (und
der Ergänzung um explizit gesellschaftstheoretische damit als etwas Kritisierbares) durchschaut worden
Konzepte. In diesem Sinne führt Habermas das Kon- waren und nur in dem Maße, wie sich das formale
zept der Lebenswelt als gesellschaftstheoretischen Bezugssystem der drei Welten ausdifferenzierte (und
Komplementärbegriff zum kommunikativen Han- damit die drei Geltungsansprüche trennten, so dass
deln ein. z. B. die Existenz und die Richtigkeit von Sachverhal-
Der Begriff der Lebenswelt dient Habermas als ten unabhängig voneinander beurteilt werden konn-
Schlüssel für die Struktur und Entwicklungslogik ten), vermochte sich das Rationalitätspotential kom-
der Gesellschaft. Dabei steht der Begriff der Lebens- munikativen Handelns zu entfalten. Habermas be-
welt zunächst schlicht als Statthalter für den Begriff zeichnet diesen Prozess als ›Versprachlichung des
der Gesellschaft. Die Bestimmung, die der Begriff Sakralen‹, weil Tabus und Traditionen in seinem
der Lebenswelt in der phänomenologischen Tradi- Verlauf ihre imperative Kraft verlieren und gesell-
tion erhalten hat, nämlich als horizontbildender schaftliche Bereiche zunehmend davon abhängig
Kontext eines situativen Verweisungszusammen- werden, dass die Gesellschaftsmitglieder die damit
hangs von Bedeutungen, erlaubt freilich sogleich verbundenen Geltungsansprüche autonom akzep-
eine erste Präzisierung dessen, was unter ›Gesell- tieren oder zurückweisen.
schaft‹ zu verstehen ist. Als Handlungsressource Angestoßen wird dieser Rationalisierungsprozess
226 III. Texte

durch äußere Umstände, nämlich dadurch, dass Ak- umzustellen. Weil der Mechanismus systemischer
teure mit ihren handlungsleitenden Vorstellungen Integration im Gegensatz zu dem der sozialen Inte-
an der Praxis scheitern; gleichwohl erfolgt der Wan- gration nicht auf der Koordinierung der Handlungs-
del nicht willkürlich, sondern wird eben durch die absichten der Interaktionspartner, sondern auf der
Logik der Verständigung bestimmt. Strukturell funktionalen Vernetzung von Handlungsfolgen be-
schlägt er sich mithin erstens in einer Ausdifferen- ruht, entlastet diese Umstellung von Verständi-
zierung der in frühen Gesellschaften noch weitge- gungsanforderungen. Die Funktion des modernen
hend verschränkten Lebensweltkomponenten nie- Rechts besteht in diesem Zusammenhang darin, in
der und zweitens in einer Formalisierung von Kul- Form von amtsgebundenen Weisungsbefugnissen
tur, Gesellschaft und Persönlichkeit (also als administrative Macht sowie mittels Eigentums- und
Verwissenschaftlichung des Wissens, Universalisie- Vertragsfreiheit das Geld in der Gesellschaftskom-
rung und Prozeduralisierung von Recht und Moral ponente der Lebenswelt zu verankern. Mit der ge-
sowie Individualisierung der Subjekte). sellschaftlichen Institutionalisierung dieser beiden
Diesen Prozess konzeptualisiert Habermas im entsprachlichten Kommunikationsmedien, die ge-
Rahmen einer Stufentheorie gesellschaftlicher Evo- eignet sind, die Handlungen erfolgsorientiert einge-
lution (s. Kap. II.12, III.7, IV.7), die zeigen soll, dass stellter Akteure zu koordinieren, waren die Voraus-
das moderne im Vergleich zum traditionalen Selbst- setzungen für die Entwicklung des modernen Ver-
und Weltverständnis nicht nur ein anderes, sondern waltungsstaates und der kapitalistischen Ökonomie
ein vernünftigeres ist. Dazu überträgt er die zentra- gegeben. Vom Erfordernis der Verständigung entlas-
len Annahmen der rekonstruktiven Wissenschaft tet haben sich diese Bereiche der materiellen Repro-
der Entwicklungspsychologie von der ontogeneti- duktion der Gesellschaft von der Lebenswelt entkop-
schen auf die phylogenetische Ebene (s. Kap. II.10, pelt, die sich sodann als Privatsphäre und Öffent-
IV.19, IV.27) – was sowohl in Hinsicht auf die Zwei- lichkeit ausgeformt hat und allein noch die
fel am entwicklungspsychologischen Stufenmodell symbolische Reproduktion der Gesellschaft umfasst.
(Gilligan 1982; vgl. McCarthy 1982; Giddens 1985) Die gesellschaftliche Entwicklung wird von Ha-
prekär ist wie auch mit Blick auf die Frage, ob nicht bermas folglich als zweistufiger Differenzierungs-
angesichts der historischen Vielfalt gesellschaftlicher prozess beschrieben, in dem sich zunächst die Le-
Entwicklungsverläufe der Begriff der Moderne auf- bensweltkomponenten entschränkt und sodann die
zugeben und durch die Konzeption von »multiple Subsysteme ›Wirtschaft‹ und ›Staat‹ von der Lebens-
modernities« (Eisenstadt 2000) zu ersetzen sei. welt entkoppelt haben (s. Kap. IV.31). Während die
Der Zugewinn an Rationalität und Autonomie symbolische Reproduktion der Gesellschaft notwen-
bedeutet zugleich ein gesteigertes Dissensrisiko. dig auf kommunikatives Handeln angewiesen sei,
Doch der Modernisierungsprozess potenziert nach weil Sinn, Solidaritäten und Fertigkeiten nicht ver-
Habermas nicht nur die Gefahr scheiternder Hand- ordnet, sondern nur auf der Grundlage eines Einver-
lungskoordinierung, sondern bringt auch das Ge- ständnisses ausgebildet werden können, lassen sich
genmittel hervor. Die Ausdifferenzierung von objek- administrative und wirtschaftliche Funktionen im
tiver und sozialer Welt sowie der korrespondieren- Prinzip problemlos und effizienter erfüllen, wenn
den Geltungsansprüche auf Wahrheit und Richtigkeit Verständigungsanforderungen durch systemische
ermöglicht nämlich ein Handeln, das durch ein Ein- Mechanismen substituiert werden. Verwaltungsstaat
wirken auf die Welt ohne erforderliche Legitimie- und Marktwirtschaft gelten Habermas also nicht per
rung der Handlungsorientierungen charakterisiert se als problematisch.
ist. Erst damit kann sich das erfolgs- vom verständi- Kein Aspekt der Habermas’schen Theoriebildung
gungsorientierten Handeln emanzipieren, kann sich hat erbittertere Kritik auf sich gezogen, als seine An-
strategisches Handeln als eigenständiger, vom kom- eignung systemtheoretischer Konzepte. Dahinter
munikativen Handeln unterschiedener Typus entwi- steht die Annahme, mit der Systemtheorie sei keine
ckeln. Zudem hat sich im Rationalisierungsprozess Gesellschaftskritik zu machen (Misgeld 1985). Das
mit dem modernen Formalrecht ein Instrument ent- ist insofern ein überraschender Verdacht, als auch
wickelt, das es möglich macht, die Reproduktion ge- die Marx’sche Gesellschaftstheorie eine ähnliche
sellschaftlicher Teilbereiche von der auf kommuni- Kombination von Handlungs- und Systemtheorie
kativem Handeln beruhenden sozialen Integration darstellt wie die Theorie des kommunikativen Han-
auf den alternativen, mit strategischem Handeln ver- delns (Brunkhorst 1983), die Gesellschaften ganz all-
träglichen Mechanismus systemischer Integration gemein als »systemisch stabilisierte Handlungszu-
10. Theorie der Gesellschaft 227

sammenhänge sozial integrierter Gruppen« (TKH II, zient, sondern auch unproblematisch sein soll
228) definiert. Eine Differenz besteht allerdings da- (McCarthy 1986). Zudem stellt sich die Frage, ob das
rin, dass Habermas die beiden Theoriesprachen in systemtheoretische Instrumentarium nicht zu einem
Bezug auf moderne Gesellschaften nicht nur analy- übermäßig harmonistischen Verständnis der Berei-
tisch unterscheidet, sondern verschiedenen Gesell- che materieller Reproduktion zwingt und ein Senso-
schaftsbereichen zuordnet. Schon die analytische rium gerade für diejenigen Krisentendenzen vermis-
Unterscheidung, die damit begründet wird, dass die sen lässt, die den Fokus der Marx’schen Analyse aus-
Aspekte symbolischer Reproduktion aus handlungs- machen (Berger 1986).
theoretischer Perspektive und die Aspekte materiel- Die System/Lebenswelt-Unterscheidung immu-
ler Reproduktion aus systemtheoretischer Perspek- nisiere aber nicht nur Wirtschaft und Staat gegen
tive genauer erfasst werden können, ist nicht unwi- Kritik, sondern zeichne auch ein idealisiertes Bild
dersprochen geblieben. So ist durchaus umstritten, der Lebenswelt, das Kommunikation, Verständigung
ob nicht eine differenziertere Handlungstheorie die und Konsens hervorhebe, Dissens, Macht und Ge-
Vernetzung der nicht-intendierten Nebenfolgen des walt dagegen ausblende (Honneth 1986; Luhmann
Handelns und die Verselbständigung sozialer Struk- 2000, 54). Konkretisiert worden ist dieser Einwand
turen doch angemessen zu erfassen vermag (Joas insbesondere von feministischen Autorinnen (s.
1986). Kap. II.22). So hat Nancy Fraser (1995) betont, die
Was aber als der eigentliche Verrat an der Tradi- Theorie des kommunikativen Handelns verschleiere
tion der Kritischen Theorie angesehen worden ist, die unbezahlte Arbeit, die innerhalb der Familie tra-
die zu erneuern Habermas explizit beansprucht (s. ditionell von Frauen z. B. in Gestalt der Kindererzie-
Kap. II.2), ist der Umstand, dass er der Unterschei- hung ausgeübt werde. Dagegen hat sie ein theoreti-
dung von System- und Sozialintegration für Gesell- sches Instrumentarium eingefordert, das die Me-
schaften, in denen System und Lebenswelt entkop- chanismen identifiziert, auf denen patriarchale
pelt sind, eine ›essentialistische‹ Bedeutung zu- Herrschaft sowohl in der Familie als auch in der offi-
schreibt (Habermas 1986, 383). Damit ist nicht ziellen Ökonomie beruht. Hierfür ist zumindest eine
gemeint, dass Akteure in ökonomischen und admi- Begrifflichkeit erforderlich, die neben der formali-
nistrativen Zusammenhängen ausschließlich eine sierten administrativen noch weitere Formen von
objektivierende Einstellung einnehmen und strate- Macht kennt (Cohen 1995). Diese Kritiken überse-
gisch handeln würden. Habermas bestimmt System hen freilich, dass Habermas (1986; FG) mit dem al-
und Lebenswelt schließlich nicht über die Differenz lerdings erst in späteren Schriften eingehender aus-
von strategischem und kommunikativem Handeln, gearbeiteten Konzept der auf ungleichen Ressour-
sondern über den Unterschied von sozialer und sys- cenausstattungen beruhenden sozialen Macht über
temischer Integration. Wenn die Tendenz auch eine solch ein Konzept verfügt (s. Kap. II.13, IV.20) und
andere ist, so kommt kommunikatives Handeln in davon ausgeht, dass Phänomene der Herrschaft und
Wirtschaft und Staat durchaus vor. Aber weil diese der Unterdrückung sowohl in lebensweltlichen wie
Bereiche rechtlich konstituiert sind, ist der kommu- auch in systemisch verfassten Kontexten sogar den
nikativen Rationalität das Fundament entzogen und Regelfall darstellen. Doch wieso widmet die Theorie
können die Interaktionspartner im Konfliktfall im- des kommunikativen Handelns solchen repressiven
mer strategische Einstellungen einnehmen: Vorge- Strukturen kaum Aufmerksamkeit? Offensichtlich
setzte müssen sich nicht rechtfertigen, Käufer und erscheint Habermas die Kritik anderer Aspekte mo-
Verkäufer können ihre Motive für sich behalten – derner Gesellschaften wichtiger. Warum?
Verwaltung und Markt funktionieren dennoch. In
diesem Sinne handelt es sich um Bereiche »norm- Die Zeitdiagnose – Kolonialisierung der Lebenswelt:
freier Sozialität« (TKH II, 455). Einen essentialisti- Obschon Habermas mit der radikalen Kapitalismus-
schen Sinn erhält die Unterscheidung von System und Staatskritik des klassischen Marxismus bricht,
und Lebenswelt darüber hinaus dadurch, dass Ha- geht er nicht von einer im Prinzip konfliktfreien und
bermas die Marx’sche Perspektive einer Überwin- harmonischen Gesellschaftsentwicklung aus, son-
dung der Ausdifferenzierung von Ökonomie und dern versteht den Modernisierungsprozess als pa-
Staat, z. B. durch Rätedemokratie und Planwirt- thologischen Vorgang einer nur einseitigen Rationa-
schaft, aufgegeben hat. Der eigentliche Kern des An- lisierung. Die Theorie des kommunikativen Handelns
stoßes besteht in der Annahme, dass die systemische verfolgt gerade das Ziel, die spezifisch modernen so-
Integration von Staat und Wirtschaft nicht nur effi- zialen Missstände zu identifizieren. Dabei stellt Ha-
228 III. Texte

bermas sich explizit in die Tradition des westlichen nicht hinreichend zu erklären, der ja etwa mit Blick
Marxismus und bemüht sich um eine Aktualisierung auf dessen mangelnde Aufmerksamkeit für andere
der Verdinglichungsdiagnosen von Georg Lukács Probleme wie z. B. die erwähnten Herrschaftsphäno-
und der Kritischen Theorie von Max Horkheimer mene und klassische Fragen der Verteilungsgerech-
und Theodor W. Adorno. Zudem hält er daran fest, tigkeit, der Ungleichheit und der Armut überraschen
dass es Kapitalismus und Staatsapparat sind, welche mag und erklärungsbedürftig ist.
die zeitgenössischen Verdinglichungsphänomene Der Kolonialisierungsthese zugrunde liegt zu-
auslösen. nächst die Dynamik der Rationalisierung der Le-
Wie kann die Entkopplung von System und Le- benswelt, die sich in der Differenzierung der Lebens-
benswelt auf der einen Seite als unproblematisch weltkomponenten, der Dezentrierung des Weltver-
gelten und als evolutionärer Fortschritt interpretiert ständnisses und der Formalisierung von Weltbildern
werden, während es auf der anderen Seite gerade manifestiert. Diese Rationalisierungsdynamik er-
dieser Vorgang sein soll, aus dem sich die Patholo- möglicht Gesellschaften, ein höheres Maß an Kom-
gien moderner Gesellschaften ergeben? Alles soll plexität auszubilden und führt in der Moderne
darauf ankommen, dass das Recht, über das die Sys- schließlich zur Entkopplung von System und Le-
teme in der Lebenswelt verankert sind, »die System- benswelt. An diesem Punkt entwickeln die syste-
erhaltung den normativen Restriktionen der Le- misch verfassten Bereiche sodann eine »unaufhalt-
benswelt unterwirft« und der ökonomisch-adminis- same Eigendynamik« (TKH II, 488). Zur Erklärung
trative Komplex nicht umgekehrt »die Lebenswelt dieser Wachstumsdynamik schließt Habermas an
den systemischen Zwängen der materiellen Repro- die Spätkapitalismustheorie von Claus Offe (1972;
duktion unterordnet und dadurch mediatisiert« 1973; vgl. LS) an (s. Kap. III.6, IV.30). Die Grundidee
(TKH I, 275 f.). Doch es ist das zweite Szenario, das besteht darin, dass die Krisenhaftigkeit des Akku-
nach Habermas vorherrscht. Er bezeichnet es als mulationsprozesses in der nachliberalen Epoche des
Kolonialisierung der Lebenswelt (durch die Sys- Kapitalismus keineswegs überwunden ist, sich aber
teme) (s. Kap. IV.12). Damit meint er, dass Privat- nicht mehr unmittelbar ökonomisch manifestiert,
sphäre und Öffentlichkeit (als die institutionellen sondern durch die Interventionstätigkeit und antizy-
Ordnungen der Lebenswelt) den strukturfremden klische Steuerungspolitik des Staates in den politi-
Medien ›Geld‹ und ›administrative Macht‹ unter- schen Bereich verlagert wird. Wohl nicht zuletzt un-
worfen werden. Diese Prozesse der Monetarisierung ter dem Eindruck des Keynesianismus, der in der
und Bürokratisierung äußern sich darin, dass Pri- Bundesrepublik Deutschland in der zweiten Hälfte
vatpersonen sich in Konsumenten des Marktange- der 1960er mit der Politik der Globalsteuerung zum
bots und Staatsbürger in Klienten wohlfahrtsstaatli- offiziellen Programm geworden war und dessen Do-
cher Leistungen verwandeln, die Autonomie der Ge- minanz in den westlichen Industrieländern bis zur
sellschaftsmitglieder mithin versehrt wird und Ölkrise andauerte, herrschte die Annahme vor, öko-
sozialpathologische Erscheinungen wie Identitäts- nomische Krisen könnten durch politische Maßnah-
krisen und Entfremdungsphänomene auftreten (s. men effektiv abgefedert werden. Damit avanciere die
Kap. IV.29). Politik allerdings zur verantwortlichen Instanz für
Habermas entwickelt diese Überlegung im An- den Lebensstandard der Gesellschaftsmitglieder und
schluss an Max Webers pessimistische Diagnose, müsse, insofern zwischen Kapitalismus und Demo-
dass der Modernisierungsprozess zwangläufig so- kratie »ein unauflösliches Spannungsverhältnis« be-
wohl zu Phänomenen des Freiheits- als auch des stehe (TKH II, 507), mit der Gefahr des Legitimati-
Sinnverlustes führen müsse. Darauf fußt die geläu- onsentzuges rechnen. Darauf reagiere die Politik mit
fige Interpretation, auch die Theorie des kommunika- immer detaillierteren Programmen zur Verwaltung
tiven Handelns formuliere eine doppelte Pathologie- der Gesellschaft. Die Ahnung, die Politik könnte
diagnose und stelle der These der freiheitsversehren- hierbei erfolgreich sein, eine Annahme, die uns
den Kolonialisierung eine weitere These zur Seite, heute fremd geworden ist, die aber zur Zeit der Ab-
die sich auf die Austrocknung von Sinnressourcen fassung der Theorie des kommunikativen Handelns
beziehe (z. B. Celikates/Pollmann 2006; Cooke 1994; im damals noch präsenten Schatten politischer Pla-
Kneer 1990; Strecker/Schaal 2006). Diese Lesart un- nungsutopien durchaus eine empirische Referenz
terschätzt jedoch die Komplexität der Kolonialisie- hatte, stellt wohl den impliziten Hintergrund der Ko-
rungsthese und vermag ihren herausgehobenen Stel- lonialisierungsthese dar. Der dystopische Horizont,
lenwert im Rahmen der Zeitdiagnose von Habermas gegen den Habermas anschreibt, wird mithin durch
10. Theorie der Gesellschaft 229

die ›adornitische‹ Vorstellung einer total verwalteten erläutert Habermas diese Unterscheidung anhand
Welt gebildet, in der allein noch geld- und machtver- der beiden Funktionen der materiellen und der sym-
mittelter Erfolg etwas bedeuten. bolischen Reproduktion von Gesellschaften; zum
Als Ursache dieser Kolonialisierung der Lebens- anderen benennt er verschiedene gesellschaftliche
welt sieht Habermas also ganz im Einklang mit der Bereiche, nämlich Wirtschaft und Staat versus Pri-
marxistischen Tradition die unüberwindbare kapita- vatsphäre und Öffentlichkeit. Diese Gleichsetzung
listische Krisendynamik, die sich aber anders als bei ist unplausibel (Fraser 1995). Wie erwähnt ist die
Marx unter den spätkapitalistischen Bedingungen Privatsphäre keineswegs frei von Aspekten der mate-
einer weitgehenden Verschränkung von Staat und riellen Reproduktion; erst recht bleiben ökonomi-
Gesellschaft nicht mehr direkt, sondern vermittelt sche und staatliche Handlungskontexte der symboli-
über die politische Interventionstätigkeit auswirkt. schen Reproduktion nicht äußerlich. Kaum etwas
Im Einzelnen wird dieser Vorgang in der Theorie des dürfte in Gesellschaften unseres Typs die Sinnorien-
kommunikativen Handelns am Prozess der sozial- tierungen, Solidaritäten und Identitäten der Indivi-
staatlichen Verrechtlichung beschrieben und zu ei- duen stärker prägen als ihr beruflicher Kontext. Im
ner linken Sozialstaatskritik ausgearbeitet. Der Sozi- Gegensatz zu gesellschaftlichen Bereichen lassen
alstaat lässt sich insgesamt als ein Arrangement be- sich die materielle und die symbolische Reproduk-
schreiben, das ökonomischen Krisen ihre Sprengkraft tion nur analytisch trennen. Somit scheitert die sub-
nimmt, indem durch Transferleistungen extreme stantielle These, die Herausbildung der Institutionen
Formen der Verelendung, wie sie für die Phase der von Markt und Staat sei im Prinzip unproblematisch,
Industrialisierung typisch waren, vermieden wer- das Eindringen von Geld und administrativer Macht
den. Solch eine Sozialpolitik beruht aber auf einer in Privatsphäre und Öffentlichkeit dagegen bringe
administrativen Klassifizierung von Personen und zwingend pathologische Folgen hervor (Kneer
Lebenslagen, welche die Betroffenen zu Objekten 1990).
paternalistischer Maßnahmen degradiert. Insofern Einen Sinn behält die These, dass der Prozess der
die sozialstaatlichen Entschädigungen zudem in Modernisierung nicht zwangsläufig pathologisch
Geldzahlungen bestehen, forciert diese Bürokratisie- verlaufen müsse und nicht jede Technisierung der
rung zugleich Tendenzen der Monetarisierung. Die Lebenswelt als Kolonialisierung zu verstehen sei, je-
Lebenswelt wird dadurch beeinträchtigt, weil diese doch auch unabhängig von Habermas’ unplausiblen
Maßnahmen anders als in ökonomischen und admi- substantiellen Annahmen wie z. B. der, dass die sozi-
nistrativen Zusammenhängen bei den Betroffenen alstaatliche Verrechtlichung, nicht aber die Instituti-
objektivierende Einstellungen auch in Fragen der onalisierung der Lohnarbeiterrolle die symbolische
persönlichen Identität, der Gruppenzugehörigkeiten Reproduktion der Gesellschaft beeinträchtige. Kolo-
und der Sinnorientierungen fördern, während sie nialisierungsphänomene stehen deswegen im Zen-
expressive Einstellungen, die eine ungezwungene In- trum der Theorie des kommunikativen Handelns,
terpretation der eigenen Bedürfnisse ermöglichen, weil es sich dabei um einen spezifischen Typus ge-
sowie normative Einstellungen, die der Begründung sellschaftlicher Probleme handelt. Der Grund dafür,
fairer sozialer Regelungen zugrunde liegen, unter- dass Habermas illegitime Figurationen sozialer
drücken. Macht wie z. B. patriarchale Familienstrukturen
Der strukturelle Zwang zu objektivierenden Ein- nicht näher thematisiert, besteht darin, dass er an-
stellungen, der von den entsprachlichten Kommuni- nimmt, diese Formen verzerrter Kommunikation
kationsmedien ausgeht und den Habermas als Tech- könnten von den Betroffenen selber problematisiert
nisierung der Lebenswelt bezeichnet, betrifft freilich werden. Eben das soll für den Fall der Kolonialisie-
nicht erst jene Phänomene, für die der Begriff der rung nicht zutreffen (Kneer 1990). Denn die ent-
Kolonialisierung reserviert bleiben soll, sondern sprachlichten Medien ›Geld‹ und ›Macht‹ verzerren
schon die Ausdifferenzierung von Staat und Markt Kommunikation nicht nur, sondern verdrängen sie
aus der Lebenswelt. Die Argumentation, dass nicht ganz und desavouieren damit von vornherein jeden
schon die Entkopplung, sondern erst die Ausdeh- Versuch einer diskursiven Klärung strittiger Aspekte
nung von Geld und administrativer Macht über die von Interaktionskontexten (Iser 2008). Deswegen
Grenzen von Wirtschaft und Staat hinaus als ver- bedarf die Kritik der Kolonialisierungsphänomene,
dinglichende Kolonialisierung zu verstehen sei, be- die folglich nicht Kritik des strategischen Handelns
ruht auf der Gleichsetzung zweier unterschiedlicher oder der instrumentellen Rationalität, sondern Kri-
Bestimmungen von System und Lebenswelt. Einmal tik der funktionalistischen Vernunft ist, einer gesell-
230 III. Texte

schaftstheoretisch angeleiteten Analyse. Die These thetisierende Deutungen des Rationalisierungspro-


verdrängter Kommunikation und der damit einher- zesses sowie der Probleme der Technisierung und
gehenden Gefahr einer motivlosen Befolgung gesell- der kulturellen Verarmung der Lebenswelt produ-
schaftlicher Imperative stellt im Übrigen ein durch- ziert, auf diesem Wege z. B. den Protest der neuen
gängiges Motiv im Werk von Habermas dar, das sich sozialen Bewegungen als defensiven Kampf gegen
von der Kritik an der Technokratiethese (s. Kap. die Kolonialisierung der Lebenswelt interpretiert
III.3) über die Auseinandersetzung mit Luhmann (s. (kritisch dazu Cohen 1995) und dadurch zu einem
Kap. II.11) und die Kolonialisierungsthese bis zur besseren Verständnis gesellschaftlicher Missstände
Debatte über die Klonierung von Menschen (s. Kap. beiträgt.
III.16) zieht. »So könnte die Philosophie ihren Bezug zur Totalität in ei-
Entscheidend für die Begründung der kategoria- ner der Lebenswelt zugewandten Interpretenrolle aktuali-
len Unterscheidung von verzerrter und verdrängter sieren. Sie könnte mindestens dabei helfen, das stillgestellte
Kommunikation ist Habermas’ Rekonstruktion der Zusammenspiel des Kognitiv-Instrumentellen mit dem
Weber’schen Sinnverlustthese. So wie die Wachs- Moralisch-Praktischen und dem Ästhetisch-Expressiven
wie ein Mobile, das sich hartnäckig verhakt hat, wieder in
tumsdynamik der Systeme das potenzielle Problem Bewegung zu setzen« (MKH, 26).
der Technisierung der Lebenswelt verursacht, resul-
tiert aus der Rationalisierungsdynamik potenziell Dabei darf die Philosophie mit ihren Deutungen
das Problem einer kulturellen Verarmung der Le- freilich nur als eine weitere Stimme im öffentlichen
benswelt. Die strukturelle Ursache dafür besteht in Diskurs verstanden werden. Die Annahme, die Ge-
der zwangsläufigen institutionellen Abspaltung von sellschaftsmitglieder seien prinzipiell nicht fähig,
Expertenkulturen von der lebensweltlichen Alltags- selber ein angemessenes Verständnis von Koloniali-
kommunikation durch die Verwissenschaftlichung sierungsphänomenen zu entwickeln, ist zu stark. So
der drei Rationalitätssphären. Das Problem der kul- lässt sich beispielsweise die Frage, ob bzw. inwieweit
turellen Verarmung äußert sich in einer Verödung das Bildungssystem mit der Wirtschaft kurzge-
der Sinnressourcen und der Fragmentierung des All- schlossen werden soll, die Habermas als exempla-
tagsbewusstseins, das ohne Rückkopplung an den risch für die Auseinandersetzung um die Kolonia-
Stand des gültigen Wissens nicht mehr imstande ist, lisierung der Lebenswelt benennt, als Kampf um
angemessene Gesamtdeutungen sozialer Kontexte sinnvolle Erziehungsziele und für unverzerrte Inter-
und Problemlagen zu produzieren. Die Konsequenz aktions- und Kommunikationskontexte verstehen,
ist, dass sich die Technisierung der Lebenswelt unge- in denen alle Arten von Gründen zum Zuge kom-
bremst auszubreiten vermag, weil die Frage, wo ob- men können und nicht eine bestimmte Kategorie
jektivierende Einstellungen gerechtfertigt sind und von Argumenten aus strukturellen Gründen domi-
wo sie begrenzt werden müssen, nicht mehr sinnvoll niert; wohl kaum droht hier die Gefahr einer gänzli-
problematisiert werden kann. chen Verdrängung von Kommunikation und einer
resultierenden Unfähigkeit, objektivierende an nor-
»Erst damit sind die Bedingungen einer Kolonialisierung mativen und expressiven Einstellungen zu relativie-
der Lebenswelt erfüllt: die Imperative der verselbständigten
Subsysteme dringen, sobald sie ihres ideologischen Schlei- ren. Auch innerhalb systemisch verfasster Bereiche
ers entkleidet sind, von außen in die Lebenswelt – wie Ko- ist der Verständigungsmechanismus nicht vollkom-
lonialherren in eine Stammesgesellschaft – ein und erzwin- men verdrängt; zwar steht kommunikatives Handeln
gen die Assimilation; aber die zerstreuten Perspektiven der in Staat und Wirtschaft unter Vorbehalt, insofern die
heimischen Kultur lassen sich nicht soweit koordinieren, Akteure sich Rechtfertigungsverpflichtungen effek-
daß das Spiel der Metropolen und des Weltmarktes von der
Peripherie her durchschaut werden könnte« (TKH II, 522). tiv entziehen können, aber dieser Vorbehalt steht
aufgrund der rechtsförmigen und folglich demokra-
Die kulturelle Verarmung der Lebenswelt muss je- tisch modifizierbaren Verankerung der Systeme in-
doch nicht zwangsläufig eintreten. Entscheidend ist nerhalb der Lebenswelt selbst unter Vorbehalt.
nach Habermas eine vitale Öffentlichkeit (s. Kap. Das Recht muss folglich nicht zum Einfallstor sys-
IV.24), welche die Expertenkulturen an die Alltags- temischer Imperative in die Lebenswelt degenerie-
kommunikation zurückbindet. In diesem Zusam- ren, sondern kann auch als Instrument der demokra-
menhang kommt nun auch der Philosophie eine tischen Einflussnahme auf Wirtschaft und Verwal-
besondere Rolle zu (s. Kap. III.9): Sie vermag die tung genutzt werden. Komplementär zur Zeitdiagnose
Öffentlichkeit zu bereichern, indem sie an der Rück- der Theorie des kommunikativen Handelns, die sich
übersetzung des Expertenwissens mitwirkt und syn- mit dem Ist-Zustand westlicher Industriegesellschaf-
10. Theorie der Gesellschaft 231

ten befasst, hat Habermas den Soll-Zustand in sei- rungspolitik zu erfassen, welche die ökonomische
nem rechts- und demokratietheoretischen Haupt- Deregulierung begleitet haben, noch passt er dazu,
werk Faktizität und Geltung (FG) ausgeführt (s. Kap. dass die prognostizierten Legitimationskrisen im
III.13). Beide Werke unterscheidet somit in erster Li- Großen und Ganzen ausgeblieben sind, während
nie die Perspektive auf das Verhältnis von System ökonomische Krisen von der Politik keineswegs ef-
und Lebenswelt (Strecker/Schaal 2006). fektiv abgefedert werden und gegenwärtig sogar eine
Wichtige Modifikationen ergeben sich freilich aus neue Dimension erreicht haben.
einem veränderten Verständnis und der Fortent-
wicklung der Konzeption des Rechts. Zum einen hält Gesellschaftstheorie heute
Habermas die grundrechtliche Verfassung der Öf-
fentlichkeit nun für hinreichend, um der Dystopie Sind schon die Teiltheorien der Theorie des kommu-
eines totalen Verblendungszusammenhangs vorzu- nikativen Handelns in aktuellen gesellschaftstheore-
beugen und »ein Potential der Selbsttransformation« tischen Debatten kaum präsent, so spielt ihr funda-
(FG, 452) zu begründen (s. Kap. IV.26). Damit relati- mentales Konstruktionsprinzip überhaupt keine
viert sich der besondere Status der Kolonialisierung Rolle. Gerade dieses weist aber einen Weg aus den
im Verhältnis zu anderen gesellschaftlichen Miss- Sackgassen, in welche die gegenwärtig vorherrschen-
ständen. Folglich streift Habermas mit diesem den Ansätze hineingeführt haben (ausführlich zum
Schritt den orthodoxen Restgehalt ab, der sein Werk, Folgenden vgl. Strecker 2009b). Die Gesellschafts-
wenn auch nur in rudimentärer Weise, noch mit der theorie von Habermas steht auch insofern in der
Vorstellung verbunden hatte, eine gesellschaftskriti- Tradition des westlichen Marxismus, als sie den An-
sche Avantgarde müsse den verblendeten Massen spruch erhebt, die Gesellschaftsmitglieder über sozi-
den Weg weisen. Zum zweiten hat er die Koloniali- ale Missstände aufzuklären, die ihnen selber nicht
sierung in der Theorie des kommunikativen Handelns bewusst sind. Die ideologiekritische Tradition hat zu
noch für eine notwendige Konsequenz sozialstaatli- diesem Zweck einer Bewusstmachung undurch-
cher Programme gehalten, von denen er damals schauter Machtverhältnisse eine perspektivendualis-
meinte, dass sie aufgrund der paternalistischen Ka- tische Theoriekonzeption entwickelt: Der gesell-
tegorisierungen des Sozialrechts inhärent ambiva- schaftstheoretische Beobachter produziert in objek-
lent seien, nämlich zugleich freiheitsverbürgend und tivierender Einstellung Hypothesen über soziale
freiheitsentziehend; in Faktizität und Geltung hat Mechanismen, welche die Akteure (z. B. durch fal-
Habermas die Dichotomie von klassischem Formal- sches Bewusstsein) an einem unverzerrten, authen-
und regulativem Sozialrecht um die Kategorie des tischen und autonomen Verständnis gesellschaftli-
reflexiven Rechts erweitert und eine Theorie delibe- cher Problemlagen hindern; ob diese Hypothesen
rativer Demokratie ausgearbeitet, die zeigen soll, wie zutreffen, wird aber anders als im orthodoxen Mar-
dieses Recht die von Verwaltungsakten Betroffenen xismus und dessen Avantgardekonzeptionen davon
ermächtigen kann, Einfluss auf die Regelungen zu abhängig gemacht, dass die betroffenen Gesell-
nehmen, denen sie der früheren Auffassung zufolge schaftsteilnehmer sie in performativer Einstellung
hilflos ausgeliefert sind (s. Kap. II.3). als richtig anerkennen. Nur der Bruch mit der Teil-
Das in Faktizität und Geltung entwickelte Modell nehmerperspektive erlaubt, den Schleier der Ver-
ersetzt die frühere Zeitdiagnose somit nicht, son- dinglichung zu lüften; aber auch die Beobachterper-
dern stellt die Therapie gegen die Kolonialisierung spektive steht unter Vorbehalt und wird an die Teil-
vor (Strecker 2009a), gegen Bürokratisierungs- und nehmerperspektive zurückgebunden, die vorrangig
Monetarisierungstendenzen, die möglicherweise bleibt.
selten dominanter waren als derzeit (Celikates/Poll- Die klassische Ideologiekritik scheitert freilich an
mann 2006). Allerdings lassen sich Kolonialisie- dem Problem, die (üblicherweise als revolutionär
rungsphänomene eigentlich schon zum Zeitpunkt ausgezeichneten) Bedingungen anzugeben, unter
der Veröffentlichung der Theorie des kommunikati- denen die Gesellschaftsmitglieder zu einer unver-
ven Handelns und erst recht heute – trotz der aktuel- zerrten Beurteilung der Beobachterhypothesen in
len Wiederkehr des deficit spending – nicht mehr auf der Lage sind. Eben dieses Problem löst die Theorie
der Grundlage einer keynesianisch inspirierten The- des kommunikativen Handelns, indem sie den Über-
orie des Spätkapitalismus erklären. Dieser Ansatz gang von der Bewusstseins- zur Sprachphilosophie
vermag weder die paternalistischen Programme ei- vollzieht und die Ideologiekritik in eine Kritik der
nes compassionate conservatism und einer Aktivie- Verständigungsverhältnisse transformiert: An die
232 III. Texte

Stelle der Idee der Gesellschaft als eines sich selbst bei Habermas um die Systemtheorie handeln; erfor-
aufklärenden, aber potenziell verblendeten Gat- derlich ist aber zumindest ein funktionales Äquiva-
tungssubjekts tritt damit die auf der Grundlage des lent dafür.
Begriffs kommunikativer Rationalität entwickelte Zwischen diesen Extremen steht eine Konzeption,
Konzeption diskursiver, demokratischer Prozedu- die auf den ersten Blick große Gemeinsamkeiten mit
ren, die den Gesellschaftsmitgliedern in ihrer Plura- der Theorie des kommunikativen Handelns aufweist.
lität die unverzerrte Klärung ihrer Bedürfnisse und Bourdieu (1987) geht von der Unterscheidung der
Ansprüche ermöglichen. Gleichwohl besteht in der beiden Perspektiven von Teilnehmer und Beobach-
Theorie des kommunikativen Handelns noch die Vor- ter aus, die die gesamte soziologische Theoriebil-
stellung, die Theorie müsse und könne Verdingli- dung strukturiert habe, und entwickelt eine Gesell-
chungsphänomene unzweifelhaft bestimmen, ein schaftstheorie, die auf die Aufdeckung undurch-
orthodoxer Rest, der auf die Annahme zurückgeht, schauter Machtverhältnisse zugeschnitten ist. Statt
der gesellschaftstheoretische Beobachter verfüge jedoch die beiden Perspektiven auseinanderzuhalten
über eine höhere Einsicht. Konsequent verwirft Ha- und sich um deren Vermittlung zu bemühen, entwi-
bermas diese Annahme in der Folge. Die Differenz ckelt er eine vermeintliche Alternative jenseits bei-
von Teilnehmer- und Beobachterperspektive, die der. Die Praxeologie lässt jedoch beide Perspektiven
systematisch verzerrte Kommunikations- bzw. un- ineinander fallen – mit der Folge, keiner von beiden
durchschaute Machtverhältnisse der Kritik erschlie- gerecht zu werden. Auf der einen Seite entwertet er
ßen will, anstatt sie dagegen zu immunisieren, wird mit wissenssoziologischen Argumenten die Erkennt-
nun strikt methodisch verstanden. Unterschiedli- nis des sozialwissenschaftlichen Beobachters; dieser
chen Personengruppen lassen sich die beiden Per- wird an den Teilnehmer assimiliert. Auf der anderen
spektiven nicht fest zuordnen – wenn der Gesell- Seite findet er für die Perspektive des Teilnehmers
schaftstheoretiker auch eine wichtige Stimme inner- kein Vokabular jenseits der für die Beobachterper-
halb der demokratischen Öffentlichkeit sein kann. spektive entwickelten objektivierenden Begrifflich-
In keiner Konzeption ist der Perspektivendualis- keit; in diesem Sinne wird der Teilnehmer an den
mus konsequenter zum zentralen Konstruktions- Beobachter assimiliert. Obwohl die Theorie des kom-
prinzip der Gesellschaftstheorie gemacht worden als munikativen Handelns in der aktuellen gesellschafts-
im Werk von Habermas. Eben dieser Perspektiven- theoretischen Diskussion kaum mehr eine Rolle
dualismus spielt im gegenwärtigen Spektrum gesell- spielt, stellt folglich die Konzeption von Habermas
schaftstheoretischer Ansätze keine entscheidende den aussichtsreichsten Anknüpfungspunkt für eine
Rolle. Am einen Ende stehen hier Konzeptionen wie Erneuerung der Gesellschaftstheorie dar.
die von Luhmann (1997), der die Beobachterper-
spektive totalisiert; das Problem, das daraus resul-
tiert, besteht darin, Fragen, die Gesellschaftsmitglie- Literatur
der sich unweigerlich stellen und die ihre Erwartun- Apel, Karl-Otto: »Normative Begründung der ›Kritischen
gen an gesellschaftstheoretische Aufklärung struk- Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Gewißheit?
turieren, nicht beantworten, ja nicht einmal Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit
konzeptualisieren zu können. Am anderen Ende des Habermas gegen Habermas zu denken«. In: Axel Hon-
Spektrums stehen Konzeptionen, die allein die Teil- neth/Thomas McCarthy/Claus Offe/Albrecht Wellmer
(Hg.): Zwischenbetrachtungen im Prozeß der Aufklärung.
nehmerperspektive kennen, wie z. B. der anerken- Frankfurt a. M. 1989, 15–65.
nungstheoretische Neuansatz der Kritischen Theo- Berger, Johannes: »Die Versprachlichung des Sakralen und
rie von Axel Honneth (1992), bei dem offen bleibt, die Entsprachlichung der Ökonmie«. In: Honneth/Joas
wie jene Verdinglichungsphänomene erfasst werden 1986, 255–277.
sollen, die sich aus der Verselbständigung sozialer Bourdieu, Pierre: Sozialer Sinn. Frankfurt a. M. 1987 (frz.
1980).
Prozesse ergeben, die sich ›hinter dem Rücken‹ bzw. Brunkhorst, Hauke: »Paradigmakern und Theoriendyna-
›über den Köpfen‹ der Betroffenen vollziehen und mik der Kritischen Theorie der Gesellschaft«. In: Soziale
die traditionell im Fokus der Kritischen Theorie ste- Welt 34. Jg. 1 (1983), 22–56.
hen. Es bleibt abzuwarten, ob diese überwiegend mit Celikates, Robin/Pollmann, Arnd: »Baustellen der Ver-
philosophischen Mitteln ausgearbeitete Konzeption, nunft. 25 Jahre Theorie des kommunikativen Handelns –
Zur Gegenwart eines Paradigmenwechsels«. In: WestEnd
wie einmal angedeutet (Hartmann 2002), noch um 3. Jg., 2 (2006), 97–113.
ein dafür geeignetes soziologisches Instrumenta- Cohen, Jean L.: »Critical Social Theory and Feminist Cri-
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10. Theorie der Gesellschaft 233

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234 III. Texte

11. Diskursethik der Moral auf moralische Richtigkeit ist in praktischen Diskur-
sen einzulösen, da es hier um die Begründung allge-
»Diskursethik – Notizen zu einem meiner Sollsätze geht (ebd., 146). Unter Bedingun-
Begründungsprogramm« (1983) gen, die am Ideal einer Kommunikationsverzerrun-
gen ausschließenden Sprechsituation zu messen
Der aus Anlass des 60. Geburtstags von Karl-Otto sind, sollen freie und gleiche Diskursteilnehmer
Apel verfasste Text, der in dem Band Moralbewußt- Konsense erzielen können, die zur Normbefolgung
sein und kommunikatives Handeln erschienen ist, rational motivieren können (ebd., 176 f.).
stellt Habermas’ diskursethischen Ansatz auf pro- Die Idee der rational, weil diskursiv begründeten
grammatische und umfassende Weise dar. Er zieht Folgebereitschaft spielt in Legitimationsprobleme im
die Summe aus einer ganzen Reihe von vorherge- Spätkapitalismus (1973) eine Legitimationskrisen er-
henden Arbeiten seit den frühen 1970er Jahren und klärende sowie ideologiekritische Rolle. Der gesell-
bildet den Ausgangspunkt für eine Vielzahl weiter- schaftliche Wandel bringt posttraditionale Legitima-
führender Diskussionen und Revisionen der Dis- tionserwartungen mit sich, die auf praktische Dis-
kurstheorie der Moral. Diese hatte Habermas in Ko- kurse verweisen, für die in Gesellschaften dieser
operation mit Apel entwickelt; in dem Text disku- Prägung aber keine ausreichenden Möglichkeiten
tiert Habermas jedoch auch die wesentlichen und Orte bestehen, sowohl institutionell als auch im
Unterschiede zu Apels Transzendentalpragmatik. Raum der sozial geltenden Rechtfertigungen. Für die
An dieser Stelle mag es angebracht sein, eine Be- Kritik an Ideologien, die fälschlicherweise vom Vor-
griffsbestimmung vorauszuschicken: ›Diskursethik‹ liegen verallgemeinerungsfähiger Interessen ausge-
steht für die Konzeption einer Theorie der Moral in hen, um bestehende Verhältnisse zu legitimieren, ist
der kantischen Tradition, deren wichtigstes Merk- Habermas zufolge die These von der »Wahrheitsfä-
mal die Ersetzung der reflexiven Prüfung morali- higkeit praktischer Fragen« (LS, 140 ff.) notwendig –
scher Maximen nach der Vorgabe des Kategorischen gemäß des einzigen Grundsatzes, »in dem sich prak-
Imperativs durch eine argumentative Einlösung der tische Vernunft ausspricht«, nämlich des Grundsat-
Geltungsansprüche moralischer Normen in einem zes »der Universalisierung« (ebd., 149). So dient die
praktischen Diskurs ist. Methodisch wird aus der prozedurale Idee der rationalen Argumentation in
transzendentalen Selbstreflexion der praktischen praktischen Diskursen als kritische Folie dazu,
Vernunft im Sinne Kants eine pragmatische Rekon- »rechtfertigungsfähige Normen von solchen Nor-
struktion der normativen Implikationen der kom- men [zu] unterscheiden, die Gewaltverhältnisse sta-
munikativen Rationalität. bilisieren« (ebd., 153).
Habermas’ Argumentation nimmt auf Karl-Otto
Die Entwicklung der Theorie Apels Idee des »Aprioris der Kommunikationsge-
meinschaft« (Apel 1973) Bezug wie auch auf den
Die Diskursethik ist im Kontext von Habermas’ Phi- Konstruktivismus von Paul Lorenzen und Oswald
losophie der Sprache (bzw. der Theorie unterschied- Schwemmer (LS, 150 ff.). Beiden Ansätzen ist ge-
licher Geltungsansprüche), seiner Theorie der Ent- mein, die Geltung moralischer Normen aus einer Si-
wicklung des »postkonventionellen« moralischen tuation der Beratung bzw. der Kommunikation her-
Bewusstseins (in der Nachfolge Kohlbergs) sowie aus zu erklären, die Verallgemeinerungsfähigkeit
seiner Philosophie des Rechts und der Demokratie diskursiv hervorbringt; Lorenzen (1969) nennt dies
(in denen praktische Diskurse zentrale Funktionen das Prinzip der »Transsubjektivität«, Apel verortet
haben) zu sehen. Ursprünglich spielte die Idee frei- dies in einer Dialektik von »realer« und »idealer
lich in einem gesellschafts- und erkenntnistheoreti- Kommunikationsgemeinschaft«: »Wer nämlich ar-
schen Zusammenhang eine Rolle, nämlich einerseits gumentiert, der setzt immer schon zwei Dinge
in den Überlegungen zu Wahrheitstheorien und an- gleichzeitig voraus: Erstens eine reale Kommunika-
dererseits bei der Analyse der Legitimationspro- tionsgemeinschaft, deren Mitglied er selbst durch ei-
bleme im Spätkapitalismus. nen Sozialisationsprozess geworden ist, und zwei-
Die Abhandlung über »Wahrheitstheorien« tens eine ideale Kommunikationsgemeinschaft, die
(1972) enthält die erste ausführliche universal- prinzipiell imstande sein würde, den Sinn seiner Ar-
pragmatische Analyse der verschiedenen Geltungs- gumente adäquat zu verstehen und ihre Wahrheit
ansprüche der Verständlichkeit, Wahrheit, Richtig- definitiv zu beurteilen« (Apel 1973, 429). Letzteres
keit und Wahrhaftigkeit (VE, 138). Der Anspruch ist das entscheidende Apriori, das die bestehende
11. Diskursethik der Moral 235

Gesellschaft im Sinne der »Beseitigung aller sozial pragmatische Analyse kommunikativ-praktischer


bedingten Asymmetrien des interpersonalen Dia- Vernunft eingeführt, sondern durch den Anschluss
logs« (ebd., 432) transzendiert und entsprechende an die Untersuchung moralischer Reaktionen durch
ethische Pflichten enthält. Peter Strawson. Dieser erklärt, inwiefern moralische
In Zur Rekonstruktion des Historischen Materialis- Vorwürfe, die sich nur aus der Perspektive der Teil-
mus (1976) betrachtet Habermas die Herausbildung nehmer erschließen lassen, die Beteiligten gemein-
einer postkonventionellen Moralvorstellung, die auf sam in eine Rechtfertigungssituation bringen, die
eine kommunikative Ethik verweist, aus onto- und auf den kognitiven Gehalt der Moral verweist (DE,
phylogenetischer Perspektive. Nachgezeichnet wird 59). Nur durch die Unterstellung, dass der morali-
in beiden Hinsichten die Herausbildung entspre- sche Vorwurf begründet bzw. begründbar ist und
chender Haltungen und Identitäten in Prozessen der dass derjenige, der gefehlt hat, solche Gründe hätte
persönlichen bzw. kulturellen Entwicklung; insbe- sehen können und beachten sollen, ist das morali-
sondere Prozesse der Rationalisierung werden iden- sche Sprachspiel zu verstehen. Im persönlichsten
tifiziert, in denen Konfliktregelungen durch Kom- Bereich moralischer Beziehungen und Konflikte
munikation und Konsens ermöglicht werden (RHM, bringt sich somit das »Überpersönliche« oder bes-
34). Die Entwicklungspsychologie des moralischen ser »Zwischenpersönliche« moralischer Normen
Bewusstseins von Kohlberg dient Habermas dazu, zur Geltung, nämlich deren diskursive Begründbar-
die höchste Stufe des prinzipienorientierten Reflek- keit. Etwas tun »sollen« heißt daher, »gute« bzw. so-
tierens auf diskurstheoretische Weise zu deuten gar »bindende« Gründe für ein bestimmtes Han-
(ebd., 84 f.). deln zu haben; der Raum der Moral ist ein Raum
In der Theorie des kommunikativen Handelns von Gründen, was nach Habermas grundsätzlich
(1981) schließlich führt Habermas die verschie- gegen emotivistische oder dezisionistische Ansätze
denen Theoriestränge der 1970er Jahre zusammen spricht.
zu einer Theorie der kommunikativen Rationalität Habermas unterstreicht jedoch, dass normative
und der Ausdifferenzierung von Geltungsdimensio- Aussagen nicht wie deskriptive Aussagen verstanden
nen bzw. Weltbezügen, die die Moderne – auch in werden dürfen; »Wahrheitsfähigkeit« heißt in bei-
ihrer inneren Widersprüchlichkeit – kennzeichnen. den Fällen etwas anderes – so dass Habermas in Be-
Der Fokus der gesamten Untersuchung liegt auf ge- zug auf praktische Normen den Ausdruck eines
sellschaftstheoretischen Fragestellungen, praktische »wahrheitsanalogen« Geltungsanspruchs vorzieht
Diskurse gelten als herausgehobener Modus kom- (ebd., 66). Wie aber sieht der Begründungsmodus
munikativen, verständigungsorientierten Handelns für solche Normen aus?
(TKH II, 141 ff.). Eine eigene moralphilosophische Es hilft an dieser Stelle, zwischen zwei Begrün-
Betrachtung findet sich in diesem Zusammenhang dungsfragen zu unterscheiden (Wingert 1993, Teil 3;
nicht. Diese Aufgabe übernimmt hingegen der 1983 Forst 2007, Kap. 1). Einerseits – und dies steht hier
publizierte Text zur Diskursethik. im Vordergrund – die Frage, wie moralische Nor-
men ihrem Geltungsanspruch gemäß zu begründen
sind, und andererseits die Frage, wie die Prinzipien
Das Begründungsprogramm
dieser Begründung – also das Universalisierungs-
Der Text ist in drei Teile gegliedert, die schwerpunkt- bzw. Diskursprinzip – selbst begründet werden müs-
mäßig der Phänomenologie der Moral, dem univer- sen bzw. können. Dies wird in der Auseinanderset-
salpragmatischen Begründungsprogramm sowie der zung mit Apel behandelt.
Auseinandersetzung mit der Transzendentalprag- Zunächst zur ersten Begründungsfrage. Haber-
matik Apels gewidmet sind. mas’ Vorschlag ist es, als Erstes die »Logik der mora-
Habermas platziert seinen Ansatz in der Reihe lischen Argumentation« (DE, 67) zu rekonstruieren;
kantischer, kognitivistischer Ethiken, die an der dazu sind die im kommunikativen Handeln immer
Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen festhalten schon erhobenen praktischen Geltungsansprüche zu
und diese in einem Verfahren der unparteilichen analysieren. Moralische Normen haben die Form
Argumentation unter freien und gleichen, autono- universeller, unbedingter Sollsätze (»Man soll nie-
men Subjekten beantwortet sehen wollen – wie ne- manden töten«), und anders als bei Tatsachenbe-
ben Apel und Lorenzen in Habermas’ Augen auch hauptungen stellen solche Sätze nicht eine soziale
John Rawls in seiner Theorie der Gerechtigkeit. Tatsache fest (»Menschen folgen der Norm, man soll
Dies wird freilich zunächst nicht über eine formal- niemanden töten«), sondern sie erheben den An-
236 III. Texte

spruch, unter vernünftigen Personen jederzeit ratio- Während somit der kognitivistische und der pro-
nal begründbar zu sein. Sie sind, anders gesagt, »an- zeduralistische Charakter des Ansatzes aufeinander
erkennungswürdig«. verweisen, ergibt sich der deontologische Charakter
Damit sind die Weichen für eine prozeduralisti- aus einer Reflexion auf den Gegenstandsbereich der
sche und deontologische Theorie der Moral in der Moral. Denn in der Tradition Kants folgt die Theorie
Nachfolge Kants gestellt. Moralische Normen sind nach Habermas einem engen Moralbegriff, der sich
rational zu begründen, und zwar so, dass die Nor- auf Normen des richtigen bzw. gerechten Handelns
men ausgeschlossen werden, »die nicht die quali- beschränkt und sich nicht gleichermaßen auf Fragen
fizierte Zustimmung aller möglicherweise Betrof- des »guten Lebens« bezieht. Um dies zu erklären,
fenen finden könnten« (DE, 73). Der Kategorische verwendet Habermas die terminologische Unter-
Imperativ Kants wird entsprechend umformuliert. scheidung zwischen »Moral« und »Ethik«, oder ge-
Zwar geht es nach wie vor um den Aspekt der Verall- nauer: zwischen moralischen Normen und ethischen
gemeinerungsfähigkeit, jedoch nicht von subjekti- Werten (da die philosophische Reflexion der Moral
ven Maximen, die reflexiv geprüft werden, sondern allgemein »Ethik« heißt). Erklärt werden soll ja zu-
von Normen, die Gegenstand praktischer Diskurse nächst nur die strikte, kategorische Geltung morali-
sind bzw. sein sollen. Auch das reflexive Modell ei- scher Normen, die wechselseitig und allgemein bin-
nes »Rollentauschs« genügt daher nicht; wesentlich dend und einforderbar sind, während ethische Werte
ist vielmehr für moralisch geltende Normen, »daß einen anderen Anspruch auf Geltung erheben, der
die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils aus stärker in Bezug auf eine jeweilige Lebensform und
ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung der auch individuelle Lebensgeschichten einzulösen ist
Interessen eines jeden Einzelnen (voraussichtlich) (was in den diskursethischen Texten allerdings nicht
ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und den eingehender analysiert wird). Der Universalisierungs-
Auswirkungen der bekannten alternativen Rege- grundsatz »U« legt, so Habermas, »einen Schnitt«
lungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können« zwischen »das Gute« und »das Gerechte« (DE, 113),
(DE, 76 f., Hervorh. i.O.). Dies ist der Universalisie- wobei Gerechtigkeit im Sinne moralischer Richtig-
rungsgrundsatz »U«, der zunächst als Argumentati- keit verstanden werden muss, nicht im Sinne politi-
onsregel für praktische Diskurse eingeführt wird. scher oder sozialer Gerechtigkeit. Für eine postkon-
Im Unterschied etwa zu Rawls’ Idee einer Nor- ventionelle Moral, wie Habermas sie im Anschluss
menbegründung in einer »original position« von an Kohlberg skizziert (vgl. MKH, 127 ff.), ist kenn-
Parteien, die ihre jeweiligen persönlichen bzw. sozia- zeichnend, dass sie zwar innerhalb einer kommuni-
len Vor- oder Nachteile nicht kennen und daher zur kativen Lebenswelt verortet ist, dabei aber ihre Gel-
Unparteilichkeit gezwungen sind (Rawls 1975), un- tungskraft reflexiv-kritisch generiert, nicht aus Tra-
terstreicht Habermas den diskursiven Charakter der ditionen oder partikularen Werten einer bestimmten
Moral. Dabei ist aber das Spannungsverhältnis von Lebensform. Entsprechend geht mit der Diskurs-
idealer Diskurssituation und realen Diskursen zu ethik der Gedanke einer »Differenzierung innerhalb
beachten: So sehr reale Diskurse notwendig sind, um des Praktischen« einher: »die moralischen Fragen,
Konsense zu erzielen bzw. die relevanten Perspekti- die unter dem Aspekt der Verallgemeinerungsfähig-
ven einzubeziehen, so sehr wohnt doch dem An- keit von Interessen oder der Gerechtigkeit grundsätz-
spruch auf moralische Richtigkeit ein ideales Mo- lich rational entschieden werden können, werden
ment auf »Akzeptabilität« inne, das erst unter Bedin- nun von den evaluativen Fragen unterschieden, die
gungen echter Allgemeinheit und ungehinderter sich unter dem allgemeinsten Aspekt als Fragen des
Kommunikation einzulösen wäre. guten Lebens (oder der Selbstverwirklichung) dar-
Gegen eine semantische Verkürzung der Gel- stellen und die einer rationalen Erörterung nur in-
tungsdimension besteht Habermas auf dem pragma- nerhalb des unproblematischen Horizonts einer ge-
tischen Element der Rechtfertigung von Normen: Sie schichtlich konkreten Lebensform oder einer indivi-
werden auf dem Wege akzeptabler Begründungen duellen Lebensführung zugänglich sind« (DE, 118,
generiert (DE, 81). Die Rechtfertigung wird als eine Hervorh. i.O.).
kommunikative Praxis verstanden, wobei praktische Der Universalisierungsgrundsatz wurde als Prin-
Diskurse nicht, wie in einem empiristischen Ver- zip der moralischen Argumentation eingeführt, und
ständnis der Moral, auf Kompromisse zwischen un- auf dieser Basis schlägt Habermas den diskursethi-
terschiedlichen Interessen hinauslaufen, sondern auf schen Grundsatz »D« vor, dem zufolge »nur die Nor-
geteilte bzw. teilbare Begründungen abzielen. men Geltung beanspruchen dürfen, die die Zustim-
11. Diskursethik der Moral 237

mung aller Betroffenen als Teilnehmer eines prakti- Rezeption und Kontroversen
schen Diskurses finden (oder finden könnten)« (DE,
103). Wie aber ist dieses Prinzip selbst begründet, Der Diskursethik, wie Habermas sie charakterisiert
genauer: Welche Geltung kommt ihm zu? hat, ist eine enorm breite Rezeption zuteil geworden;
Dieser Frage wendet sich Habermas in der Ausei- innerhalb kurzer Zeit wurde sie als prominenter zeit-
nandersetzung mit Apels Transzendentalpragmatik genössischer Ansatz in der kantischen Tradition ne-
zu. Dessen Theorie zufolge ist eine »Letztbegrün- ben dem von John Rawls diskutiert. Dabei sind eine
dung« der Diskursethik durch eine transzendentale Reihe von Kritikpunkten formuliert worden, die zur
Reflexion auf die Nichthintergehbarkeit der Diskurs- weiteren Ausarbeitung der Theorie geführt haben:
und Argumentationsnormen gegeben, an die den- (1) das Problem des Verhältnisses von Normenbe-
kende und sprechende Wesen immer schon gebun- gründung und -anwendung; (2) die abstrakte Per-
den sind (Apel 1973; 1988). Dies zu bestreiten, liefe spektive der Moral; (3) das Verhältnis von Ethik und
auf einen performativen Selbstwiderspruch hinaus. Moral; (4) der konstruktivistische Charakter der
Habermas hingegen ist hinsichtlich der Identifizie- Theorie; schließlich (5) der normative Status des
rung von Argumentationsregeln und moralischen Diskursprinzips. Habermas hat in seinen Erläute-
Normen zurückhaltend; auch aus einer transzenden- rungen zur Diskursethik (1991) und nachfolgenden
talpragmatischen Ableitung von »U« und »D« folge Texten umfassend auf diese und weitere Kritiken re-
nicht deren Status als moralische Grundsätze (DE, agiert.
104; vgl. auch Wellmer 1986). Solche könnten erst in 1. Albrecht Wellmer (1986) sieht im Ansatz der
praktischen Diskursen begründet werden. Wie es in Diskursethik eine Vermischung von Fragen der Mo-
einem späteren Text heißt, ist zwischen dem »›Muß‹ ral und demokratischer Legitimation (ebd., 55, 67).
einer schwachen transzendentalen Nötigung« und Bei ersteren gehe es nicht um allgemeine Normen-
dem »präskriptiven ›Muß‹ einer Handlungsregel« begründung, sondern um gerechtfertigte Hand-
(ED, 191) zu unterscheiden. lungsweisen, die situationsspezifisch zu bestimmen
Ein weiterer, methodischer Einwand gegen Apel seien (ebd., 131 f.). Während Wellmer somit morali-
besagt, dass die »hypothetische Nachkonstruktion« sche Diskurse primär als »Anwendungsdiskurse«
pragmatischer Regelvoraussetzungen nur den Status begreift, folgt Habermas (ED, 137 ff.) Klaus Günthers
einer falliblen Rekonstruktion, nicht den einer tran- (1988) Unterscheidung von Begründungs- und An-
szendentalen Selbstreflexion im klassischen Sinne wendungsdiskursen. Dem zufolge können letztere
haben kann (DE, 107). Diese Rekonstruktion ist Ha- erstere nicht ersetzen, sind aber nötig, um abstrakte
bermas zufolge auf die Kooperation mit den Einzel- Normen auf Einzelsituationen unter dem Gesichts-
wissenschaften angewiesen; eine Letztbegründung punkt der Angemessenheit anzuwenden. Der
ist der Philosophie nicht möglich. Grundsatz »U« bleibt hingegen für die Dimension
Mit dieser Relativierung des starken Begrün- moralischer Begründung zentral.
dungsanspruchs ist allerdings keine Relativierung 2. Die entwicklungspsychologische Theorie von
des Anspruchs verbunden, dass die Rekonstruktion Lawrence Kohlberg (1981), an die Habermas an-
des Diskursprinzips einen kulturübergreifenden Sta- schließt, war in den 1980er Jahren zum Gegenstand
tus beansprucht und entsprechend eine allgemeine der Kritik geworden. Carol Gilligan (1982) etwa
Struktur der Moral auf den Begriff bringt. Die Ana- hatte zu zeigen versucht, inwiefern die Konstruktion
lyse des kognitivistisch zu verstehenden Geltungsan- von sechs Entwicklungsstufen des moralischen Be-
spruchs der Moral weiß um dessen historisch-sozi- wusstseins bis hin zur höchsten Stufe der postkon-
ale Genese, schließt daraus aber nicht im Sinne eines ventionellen, universalistischen Normenbegrün-
moralischen Relativismus auf die begrenzte Geltung dung nicht nur einen Gender-Bias habe, sondern
für bestimmte Kulturen zurück. Und die Betonung auch der Partikularität moralischer Erfahrungen
des rekonstruktiven Ansatzes geht noch immer da- und Urteile nicht gerecht werde. Insbesondere werde
von aus, dass es zu dieser Art der Analyse unserer der Aspekt der Fürsorge (care) für den Anderen aus-
kommunikativen Praxis »keine Alternative gibt« gespart. Daran schloss sich eine umfassende Debatte
(DE, 107). in der Moralpsychologie und -philosophie an, die
auch die Diskursethik einbezog. Aus der Sicht einer
Care-Ethik wie auch einer durch Lévinas und Der-
rida bzw. Lyotard beeinflussten Kritik am abstrakten
Universalismus kantischer Theorien schien der dis-
238 III. Texte

kursethische Ansatz der Partikularität und Einzigar- für die Diskursethik ist die prozedurale Auffassung
tigkeit und damit der Differenz von Personen ebenso der Trennung beider Sphären. Dabei ist allerdings
wenig gerecht zu werden wie der Qualität und Be- die Rede von »zwei Sphären« zu differenzieren, denn
sonderheit gemeinschaftlicher Bindungen an An- es ist keine wertontologische Alternative damit ver-
dere (um so unterschiedliche Perspektiven wie die bunden. Die Trennung zwischen Werten und Nor-
einer Differenztheorie und eines Kommunitarismus men ist dynamischer Natur und stets Gegenstand
gemeinsam zu erwähnen). Darauf antworteten un- von Diskursen – auch solchen, in denen strittig
terschiedliche Versuche, die Perspektive des concrete bleibt, ob eine Frage ethisch oder moralisch zu be-
other im Unterschied zur Anerkennung eines bloß antworten ist, wie die bezüglich des normativen Sta-
generalized other geltend zu machen, um es mit Seyla tus des Embryos bzw. »optimierender« Eingriffe in
Benhabib (1992) – in Anlehnung an G.H. Mead – die menschliche Natur, was Habermas in Die Zu-
auszudrücken; innerhalb eines »interaktiven Univer- kunft der menschlichen Natur (2001) behandelt.
salismus« sollte der Andere sowohl als gleich wie Zentral sind die Bezugspunkte des »für mich«
auch als different und einzigartig anerkannt und ein- bzw. »für uns« Guten, das nicht mit allgemeiner Soll-
bezogen werden. Lutz Wingert (1993) analysiert den geltung behauptet werden muss, und der des »für
moralischen Standpunkt im diskursethischen Rah- alle Gerechten« bzw. »Verbindlichen«, das einem ei-
men als einen des zweifachen Respekts: Der Andere genen Geltungsmodus folgt (ED, 100 ff.). Ersteres
wird als unvertretbar Einzelner und auch als gleich- bedeutet nicht, dass ethische Fragen nicht auch rati-
berechtigter Angehöriger einer kommunikativen Le- onal zu beantworten sind oder etwa »rein subjekti-
bensform geachtet (ebd., 179). Axel Honneth (2000) ver« oder »privater« Natur wären; es bedeutet nur,
wiederum betont die »kommunikative Tugend« der dass moralische Verbindlichkeit strikt reziprok und
Wahrnehmung und Berücksichtigung der anderen allgemein gerechtfertigt werden muss. Hilary Put-
Person als besonderes Wesen; dazu bedarf es seines nam (2001) kritisiert die epistemische Komponente
Erachtens eines Hinausgehens über die Perspektive der Unterscheidung, der zufolge ethischen Werten
der Gleichbehandlung hin zu einer Form der Für- ein kognitivistischer Geltungssinn abgesprochen
sorge, die nicht mehr an Symmetrie und Reziprozität werde – was aber weder religiösen Werthaltungen
orientiert ist und damit in Spannung zu einer kanti- noch »dichten« ethischen Urteilen gerecht werde.
schen Moralauffassung steht. Habermas (2000) hat diesbezüglich auf die konstitu-
Habermas selbst versucht demgegenüber, die Kri- tive Kontextgebundenheit ethischer Werte hinge-
tik insofern einzubeziehen, als neben die Perspektive wiesen, die allerdings nicht in Frage stellt, dass auch
der Gleichbehandlung die der Solidarität als »Ande- sie einen kognitiven Gehalt haben – nur in anderer
res« der Gerechtigkeit treten sollte (ED, 70). Dies Weise als moralische Normen.
sieht er allerdings als zwei Aspekte »derselben Sa- Martin Seel (1995) zufolge setzt eine deontologi-
che«: »Gerechtigkeit bezieht sich auf die gleichen sche Moralvorstellung eine Konzeption des Guten
Freiheiten unvertretbarer und sich selbst bestim- voraus, da ihre inhaltliche Pointe darin bestehe, allen
mender Individuen, während sich Solidarität auf das Einzelnen gleichermaßen die Möglichkeiten zu ei-
Wohl der in einer intersubjektiv geteilten Lebens- nem guten Leben zu gewähren. Dazu bedürfe es ei-
form verschwisterten Genossen bezieht […]« (ebd.). ner formalen Theorie des guten bzw. gelingenden
Da diese Solidarität nicht an besondere Formen der Lebens. Dies scheint aber die Perspektive einer ob-
Zugehörigkeit gebunden ist, sieht Habermas sie als jektiven ethischen Theorie vorauszusetzen, die dem
Teil der postkonventionellen Moral an. Seiner Auf- Diskurs vorgeschaltet wäre – eine Möglichkeit, die
fassung nach ist es ein spezifischer Vorzug der Dis- Habermas bestreitet (EA, 45). Was an Vorstellungen
kursethik, gerade im Lichte dieser Debatte betrach- des Guten reziprok forderbar ist, muss sich mora-
tet, dass sie die Perspektive der Einzelnen diskursiv lisch im Diskurs Freier und Gleicher erweisen las-
zur Geltung bringt und eben nicht in einem nur ab- sen; dies ist eine wichtige Implikation einer Konzep-
strakten Sinne (EA, 43 ff.). tion moralischer Autonomie im kantischen Sinne.
3. Die Unterscheidung von ethischen Werten und Schließlich spielt die Unterscheidung von Ethik
moralischen Normen ist der Anlass für eine Reihe und Moral bezüglich der Frage moralischer Motiva-
von Diskussionen gewesen (Forst 2007, 100 ff.). Sie tion eine Rolle. Nicht nur in Bezug auf die Befolgung
ist nicht nur in der Diskursethik anzutreffen, son- moralischer Normen, sondern auch in Bezug auf die
dern in der einen oder anderen Form Kennzeichen Einnahme des moralischen Standpunkts insgesamt
jeder deontologischen Moralauffassung; spezifisch scheinen ethische Überlegungen des »für mich« Gu-
11. Diskursethik der Moral 239

ten ausschlaggebend sein zu müssen, da sonst nicht der kontrafaktischen Idealität – der Akzeptabilität
erklärt werden könne, wie abstrakte Überlegungen unter idealen Bedingungen – in den Geltungsbegriff
in subjektive Motive überführt werden können (Tu- ein, so dass reale praktische Diskurse stets unter dem
gendhat 1984; Williams 1984). An dieser Stelle ist Vorbehalt der Unvollkommenheit stehen – welcher
Habermas’ Position ambivalent. Einerseits wendet er freilich selbst nur diskursiv zur Geltung gebracht
sich gegen eine ethische Begründung moralischer werden kann, da es keinen privilegierten epistemi-
Motivation (ED, 150 f.), andererseits schreibt er mo- schen Zugang zu »moralischen Wahrheiten« gibt.
ralischen Einsichten nur eine »schwach motivie- 5. Die Konstruktion moralischer Normen findet
rende Kraft guter Gründe« (ebd., 135) zu: »Das Mo- somit nicht in einem normfreien Raum statt: Sie
ralprinzip übernimmt nur die Rolle einer Argumen- setzt vielmehr das Diskursprinzip sowie den Status
tationsregel für die Begründung moralischer Urteile; freier und gleicher Personen als rechtfertigungsbe-
als solche kann es weder zum Eintritt in moralische rechtigte Diskursteilnehmer voraus. Von welcher
Argumentationen verpflichten noch zur Befolgung Art aber ist diese Voraussetzung, insbesondere in
moralischer Einsichten motivieren« (ebd.). Die Mo- normativer Hinsicht? Habermas ist gegenüber Apels
ral bedarf daher der »Rückendeckung durch entge- Kritik, dass seine Rekonstruktion des Diskursprin-
genkommende Sozialisationsprozesse und Identitä- zips dessen transzendentale und deontologische Be-
ten« (ebd.), die postkonventionelle Einstellungen gründung unterbestimme (Apel 1998), nicht nur
und das Vertrauen fördern, dass moralisches Han- weiterhin einer »Letztbegründung« gegenüber skep-
deln zumutbar ist. In diesem Sinne umfasst der Be- tisch geblieben (NR, 84 ff.); er bestimmt daneben
griff einer »kommunikativen Lebensform« ethische auch das Diskursprinzip – »gültig sind genau die
und moralische Motive; die Ambivalenz, die dies er- Handlungsnormen, denen alle möglicherweise Be-
zeugt, zeigt sich etwa an Formulierungen wie der, troffenen als Teilnehmer an rationalen Diskursen
dass das »Festhalten« an der Wahrheitsfähigkeit zustimmen könnten« – in Faktizität und Geltung
praktischer Fragen mit einem Entschluss bzw. dem (1992) so, dass es auf einer Abstraktionsebene liege,
»Selbstverständnis kommunikativ handelnder Sub- die gegenüber Recht und Moral »neutral« ist (FG
jekte« zusammenhängt, was mit »ethischen Motiven 138). Damit erhält das Prinzip einen »normativen
verflochten« ist (WR, 317). Gehalt«, aber keine moralische Verbindlichkeit nach
4. Die Bestimmung des kognitivistisch zu verste- der Art moralischer Normen. Habermas unter-
henden Geltungs- bzw. Wahrheitsanspruchs morali- streicht, dass in seinen Augen die kommunikative
scher Normen ist ein in den Debatten um die Dis- Vernunft nicht länger wie im kantischen Verständnis
kursethik stets wiederkehrendes Thema, insbeson- die praktische Vernunft »eine Quelle für Normen
dere die Abgrenzung zu Wahrheitsansprüchen im des Handelns« (FG, 18, auch KHDV) sein kann. Da-
Bereich der theoretischen Vernunft. Während Ha- mit ist letztlich der stärkste Unterschied zu Kant
bermas in Bezug auf letztere von einer reinen Kon- markiert, für den der Kategorische Imperativ als
senstheorie der Wahrheit abgerückt ist (WR), unter- »Sittengesetz« den autonomen Willen bindet. Zu-
streicht er gegenüber moralisch-realistischen Positi- gleich ist damit auch das für eine deontologische
onen, die die Voraussetzung »verallgemeinerbarer Moralkonzeption zentrale Problem markiert, dass
Interessen« im Sinne eines vordiskursiven Existie- der Verpflichtungscharakter des moralischen Recht-
rens derselben verstehen (Lafont 1998), den kon- fertigungsprinzips selbst auf andere Motive zu seiner
struktivistischen Charakter der Diskursethik. Die Befolgung angewiesen ist, als es selbst generieren
Welt moralischer Normen ist nach Habermas eine kann. Innerhalb des diskursethischen Programms
diskursiv erzeugte (WR, 309), und in diesen Diskur- taucht damit eine Begründungslücke zwischen dem
sen bilden sich verallgemeinerungsfähige Interessen »›Muß‹ einer schwachen transzendentalen Nöti-
erst heraus. Wenn an der Voraussetzung einer »rich- gung« und »dem präskriptiven ›Muß‹ einer Hand-
tigen Antwort« auf moralische Fragen festgehalten lungsregel« (FG, 18) auf, die die Frage aufwirft, ob
wird, so nicht mit dem Bezug auf zu entdeckende die Begründung einer Pflicht zur diskursiven Recht-
Wahrheiten, sondern mit Bezug auf die Konstruk- fertigung eine stärkere Betonung der diskursiven
tion von Normen, »die unter dem inklusiven Ge- Vernunft als praktische nötig macht, ohne dabei eine
sichtspunkt der gleichmäßigen Berücksichtigung »Letztbegründung« anzustreben (Forst 2007, 74 ff.).
der einschlägigen Ansprüche aller Personen von je- Die erwähnten Punkte (1) bis (5), die um weitere
dem Betroffenen aus guten Gründen akzeptiert wer- ergänzt werden könnten – insbesondere um die Di-
den könnten« (WR, 301). Damit geht ein Moment mension bioethischer Fragen (siehe dazu LE) –, zei-
240 III. Texte

gen, zu welchen Diskussionen der ursprüngliche 12. Verteidigung der Moderne


Ansatz der Diskursethik führte und welche Weiter-
entwicklungen daraus entstanden sind; sie deuten Der philosophische Diskurs der Moderne
aber auch darauf hin, dass dies ein nicht abgeschlos- (1985)
sener Prozess ist. Auch dies beweist die Produktivität
der Theorie.
Die Moderne als Rationalisierung und die Kritik
der instrumentellen Vernunft
Literatur
Apel, Karl-Otto: »Das Apriori der Kommunikationsge-
Seitdem Max Weber das Schicksal moderner Gesell-
meinschaft und die Grundlagen der Ethik« [1967]. In: schaften als eines der ›Rationalisierung‹ beschrieb,
Ders.: Transformation der Philosophie. Bd. 2. Frankfurt ist das Verhältnis zwischen dem Projekt des abend-
a. M. 1973, 358–436. ländischen Rationalismus und den strukturellen
–: Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a. M. 1988. Problemen und Widersprüchen der modernen kapi-
–: Auseinandersetzungen. Frankfurt a. M. 1998.
talistischen Gesellschaften ein zentrales Thema für
Benhabib, Seyla: Situating the Self. New York 1992.
Forst, Rainer: Das Recht auf Rechtfertigung. Frankfurt a. M. die Vertreter der Frankfurter Schule gewesen. Die
2007. Kritik der frühen Frankfurter Schule an der ›instru-
Gilligan; Carol: In a Different Voice. Cambridge, Mass. mentellen Vernunft‹ führte die Tradition des Weber-
1982. Marxismus fort (vgl. Lukács 1968; Löwith 1960;
Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit. Frankfurt
Merleau-Ponty 1968). Die Autoren verbanden We-
a. M. 1988.
Habermas, Jürgen: »Werte und Normen«. In: Deutsche bers Thesen zur gesellschaftlichen Modernisierung
Zeitschrift für Philosophie 48 (2000), 547–564. mit Marxens Analyse der Warenförmigkeit und
Honneth, Axel: Das Andere der Gerechtigkeit. Frankfurt prognostizierten eine Ausbreitung ›durchrationali-
a. M. 2000. sierter‹ Beziehungs- und Verhaltensformen in den
Kohlberg, Lawrence: The Philosophy of Moral Development. zentralen Institutionen moderner Gesellschaften:
San Francisco 1981.
Lafont, Cristina: »Pluralism and Universalism in Discourse etwa dem Staat, öffentlichen und privatwirtschaftli-
Ethics«. In: Amos Nascimento (Hg.): A Matter of Dis- chen Bürokratien, dem kapitalistischen Unterneh-
course. Aldershot 1998, 55–78. men, Gerichten, der Armee und den Schulen. Ratio-
Lorenzen, Paul: Normative Logic and Ethics. Mannheim nalisierung und Warenförmigkeit gingen mit der
1969. Zergliederung komplexer Aufgaben, Beziehungen
Putnam, Hilary: »Werte und Normen«. In: Lutz Wingert/
Klaus Günther (Hg.): Die Öffentlichkeit der Vernunft und und Sachverhalte in gleiche und fungible Einheiten
die Vernunft der Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 2001, einher, die mittels abstrakter Regeln und Prozeduren
218–313. beherrschbar waren, welche ihrerseits austausch-
Rawls, John: Eine Theorie der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M. und vorausberechenbar und somit allen materialen
1975. Qualitäten gegenüber ›indifferent‹ waren. Wie die
Seel, Martin: Versuch über die Form des Glücks. Frankfurt
a. M. 1995.
Warenförmigkeit alle materiellen Dinge und zwi-
Tugendhat, Ernst: Probleme der Ethik. Stuttgart 1984. schenmenschlichen Beziehungen auf formale, im
Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog. Frankfurt a. M. 1986. Markt gegen Geld zu tauschende Äquivalenzen re-
Williams, Bernard: Moralischer Zufall: philosophische Auf- duzierte, so abstrahierte die Rationalisierung auch
sätze 1973–1980. Königstein, Ts. 1984 (engl. 1981). von der Persönlichkeit derjenigen, die Machtpositio-
Wingert, Lutz: Gemeinsinn und Moral. Frankfurt a. M.
1993.
nen innehatten, und verwandelte sie in gesichtslose
Rainer Forst Bürokraten und Aufseher. Bekanntlich waren diese
Rationalisierungsprozesse für Weber höchst zwei-
deutig, führten sie doch nicht zu einem Mehr an
Freiheit oder Sinn. Ganz im Gegenteil erbrachte die
gesellschaftliche Rationalisierung einen Freiheits-
verlust sowie »Fachmenschen ohne Geist, Genuß-
menschen ohne Herz: dies Nichts bildet sich ein,
eine nie vorher erreichte Stufe des Menschentums
erstiegen zu haben« (Weber 1972, 189).
Die Rationalisierung betraf jedoch nicht nur die
Prozesse der gesellschaftlichen Modernisierung. Sie
bedeutete auch den Verlust der Magie, eine wach-
12. Verteidigung der Moderne 241

sende Ausdifferenzierung von Wertsphären wie ren wieder miteinander vereinigen würde. Sie zielte
Wissenschaft, Jurisprudenz, Ethik, Ästhetik und vielmehr auf eine Form von kritischer Rationalität,
Theologie, eine Zunahme an Formalisierung und die an das uneingelöste Versprechen der Aufklärung
Systematisierung sowie eine Intensivierung grund- appellierte, dass kritisches Denken, Freiheit und
sätzlicher disziplinarischer Prozeduren. Auch diese eine gerechte Gesellschaft eine unauflösliche Einheit
Prozesse sah Weber ambivalent: In seinen Augen bildeten. Nach und nach jedoch verwandelte sich
führten sie lediglich zu einer weiteren Fragmentie- dieses Versprechen der Aufklärung vor allem im
rung von Werten; ironischerweise konnte der mo- Werk von Adorno und Horkheimer in eine Aporie.
derne Rationalismus sein eigenes Bekenntnis zur Weil sie immer stärker davon überzeugt waren, dass
Vernunft als Lebensform nicht rechtfertigen. Je rati- die Rationalisierung durch die wachsende techni-
onalisierter diese Sphären wurden, desto schwieriger sche Beherrschung von Mensch und Natur unwei-
war es tatsächlich, zu begründen, warum man sich gerlich mit einem Freiheitsverlust einherging, cha-
zur Anleitung seiner Lebensführung für ein be- rakterisierten sie die Struktur der abendländischen
stimmtes Wertesystem statt eines anderen entschei- Rationalität selbst – also die Erfordernisse einer auf
den sollte. Weber stand vielmehr folgendes Bild vor Begriffen beruhenden formalen Argumentations-
Augen: »Die alten vielen Götter, entzaubert und da- struktur, wie sie das westliche Denken seit der Philo-
her in Gestalt unpersönlicher Mächte, entsteigen ih- sophie Platons bestimmt – als ein Herrschaftsinstru-
ren Gräbern, streben nach Gewalt über unser Leben ment. Mit diesen wohlbekannten Thesen aus der
und beginnen untereinander wieder ihren ewigen Dialektik der Aufklärung, die den Ursprung der Be-
Kampf« (Weber 1992, 101). Unter dem Strich führte herrschung von Natur und Mensch in der Frühge-
die kulturelle Rationalisierung zu tödlichen Kämp- schichte der Entstehung der Vernunft im Dienste
fen zwischen Verfechtern verschiedener Werte, der ›Selbsterhaltung‹ lokalisierten, war die Verbin-
wachsender Inkommensurabilität und einem Ver- dung zwischen dem abendländischem Rationalis-
lust an Sinn. mus, der Moderne und dem Projekt einer emanzi-
Nach dem Niedergang der sozialistischen Bewe- pierten Gesellschaft unwiderruflich zerstört (vgl.
gungen Europas in den 1920er Jahren, der Unfähig- Benhabib 1992).
keit der Arbeiterklassen, den Aufstieg des Faschis-
mus zu verhindern, dem Entstehen ›staatskapitalis- Abschied von der Subjektphilosophie
tischer‹ bzw. ›monopolkapitalistischer‹ Strukturen
im faschistischen Europa bzw. in den unter der In »Die Verschlingung von Mythos und Moderne:
Weltwirtschaftskrise leidenden Vereinigten Staaten Horkheimer und Adorno«, dem Kapitel, das Der phi-
hielten die Theoretiker der Frankfurter Schule – losophische Diskurs der Moderne der Dialektik der
Max Horkheimer, Theodor W. Adorno, Herbert Aufklärung widmet, erinnert Habermas seine Leser
Marcuse und Friedrich Pollock – Webers These von daran, dass der in den 1980er Jahren vorherrschende
der ›gesellschaftlichen Modernisierung‹ für unum- Diskurs um Moderne und Postmoderne einige der
stößlich. Der gesellschaftliche Widerstand war ge- Themen und Probleme dieses Buches wiederbelebt
brochen; die Widersprüche des Kapitalismus waren hat:
besänftigt durch staatliche Eingriffe in die wirt- »Die Argumentation folgt also in Ansehung der Wissen-
schaftlichen Verteilungs- und Zirkulationsprozesse, schaft, der Moral und der Kunst derselben Figur: bereits
die gleichwohl stets das Ziel verfolgten, das Prinzip die Trennung der kulturellen Bereiche, der Zerfall der in
des privaten Profits im Marktgeschehen abzusi- Religion und Metaphysik noch verkörperten substantiellen
chern. Vernunft, entmächtigt die isolierten, ihres Zusammenhalts
beraubten Vernunftmomente so sehr, daß diese zur Ratio-
Obwohl die Vertreter der ersten Generation der nalität im Dienste wildgewordener Selbsterhaltung regre-
Frankfurter Schule Webers Diagnose eines Frei- dieren. Vernunft wird in der kulturellen Moderne endgül-
heitsverlusts in kapitalistischen Gesellschaften teil- tig ihres Geltungsanspruchs entkleidet und an schiere
ten, glaubten sie doch, dass Weber in Bezug auf den Macht assimiliert. […] Wenn man die Kritik der instru-
Rationalismus in der Kultur falsch lag und eine Al- mentellen Vernunft auf diesen Kern reduziert, wird klar,
warum die Dialektik der Aufklärung das Bild der Moderne
ternative zu den formalistischen und fragmentierten
auf erstaunliche Weise einebnen muß. Die der kulturellen
Formen von Rationalität denkbar war. Die ›Kritik Moderne eigene Würde besteht in dem, was Max Weber die
der instrumentellen Vernunft‹ verstand diese Alter- eigensinnige Ausdifferenzierung der Wertsphären genannt
native nicht als Rückkehr zur Vision einer substanti- hat« (DM, 136 f.).
ellen Vernunft, die die ausdifferenzierten Wertsphä-
242 III. Texte

Wie diese Passage klar ausdrückt, muss Der philoso- einer Sprechhandlung selbst entnommen werden; sie brau-
chen nicht durch hinzutretende Sanktionsbedingungen ver-
phische Diskurs der Moderne von 1985 vor dem Hin-
vollständigt werden« (TKH I, 405. Hervorh. i.O.).
tergrund von Habermas’ vier Jahre zuvor veröffent-
lichter Theorie des kommunikativen Handelns gele- Diese Abkehr vom Paradigma der Subjektphiloso-
sen werden, die gegenüber dem Moderne- und phie, glaubt Habermas, führt zu einer Theorie der
Rationalisierungsverständnis der frühen kritischen Moderne als Rationalisierung, die sich merklich von
Theorie einen Paradigmenwechsel eingeleitet hatte. der Max Webers unterscheidet. Wenn wir die Ver-
In der Theorie des kommunikativen Handelns unter- nunft als einen kontingenten und falliblen Kommu-
nahm Habermas eine umfassende Neulektüre der nikationsprozess des Gebens von Gründen verste-
Tradition des westlichen Marxismus von Lukács bis hen, dann erkennen wir:
Adorno und Horkheimer (TKH I, Kap. IV; TKH II,
»Die Dialektik der Aufklärung wird dem vernünftigen Ge-
Kap. VIII), um Webers einflussreiche These vom halt der kulturellen Moderne, der in den bürgerlichen Idea-
Freiheits- und Sinnverlust einer eingehenden Kritik len festgehalten (und mit ihnen auch instrumentalisiert)
zu unterziehen. Er bezweckte nichts weniger, als das worden ist, nicht gerecht. Ich meine die theoretische Eigen-
gesamte Projekt einer kritischen Gesellschaftstheo- dynamik, die die Wissenschaften, auch die Selbstreflexion
rie radikal umzuorientieren, indem er es von der der Wissenschaften, über die Erzeugung technisch ver-
wertbaren Wissens immer wieder hinaustreibt; ich meine
Kritik der instrumentellen Vernunft abbrachte, die
ferner die universalistischen Grundlagen von Recht und
in seinen Augen noch der Subjektphilosophie ver- Moral, die in den Institutionen der Verfassungsstaaten, in
pflichtet war. Formen demokratischer Willensbildung, in individualisti-
Ob wir das Subjekt der Moderne anhand seines schen Mustern der Identitätsbildung auch eine (wie immer
Vermögens zu Selbstbewusstsein und Reflexion be- verzerrte und unvollkommene) Verkörperung gefunden
haben; ich meine schließlich die Produktivität und die
griffen, wie es die moderne Philosophie von Descar-
sprengende Kraft ästhetischer Grunderfahrungen […]«
tes bis Hegel und von Locke bis Hume gewohnt war, (DM, 137 f., Hervorh. i.O.).
oder ob wir dieses Subjekt im Lichte des Paradigmas
von Produktion und Arbeit verstanden, wie es die Im Philosophischen Diskurs der Moderne setzt sich
Marxisten vorschlugen, lief auf das Gleiche hinaus: Habermas mit einer neuen Form von Skeptizismus
Stets wurde dabei das Subjekt monologisch gedacht bezüglich dieser Behauptungen auseinander, der das
und die Einzigartigkeit der Bildung des menschli- emanzipatorische Potential moderner Gesellschaf-
chen Selbstbewusstseins durch sprachlich vermit- ten radikal in Frage stellt. Auf merkwürdige und un-
telte Interaktion ignoriert. Die Dezentrierung des erwartete Weise widersetzen sich diese neuen Philo-
Subjektbegriffs konnte sich nur kraft der Erkenntnis sophien dem Paradigmenwandel von der Subjekt-
einstellen, dass die Subjektbildung das Resultat der philosophie zur kommunikativen Vernunft und
kommunikativen Sozialisation von Menschen durch erscheinen auf den ersten Blick wie eine Wiederkehr,
das Medium verständigungsorientierter Interaktio- ja fast wie eine Zurückforderung der Thesen Max
nen war. Die Vernunft, argumentierte Habermas, ist Webers und der ersten Generation der Frankfurter
nicht nur reflexiv, sondern auch kommunikativ; das Schule. Die von Jean-François Lyotard verkündete
Vernunftsubjekt wird der Reflexion nur fähig infolge ›postmoderne Skepsis‹ gegenüber den modernen
seiner Sozialisation in Prozessen einer auf Geltungs- Metaerzählungen lässt als einzige Alternative zu ei-
ansprüche zielenden Kommunikation. Der Kern der ner rationalen Lebensführung den Kampf zwischen
Vernunft besteht nicht in Rationalisierung, sondern Göttern und Dämonen à la Weber und Nietzsche zu.
in der Artikulation von Gründen, also dem stets fal- Michel Foucaults Darstellung der Genese moderner
liblen, revidierbaren und anfechtbaren Austausch Subjektivität in den und durch die Medien immer
mit anderen Subjekten, mit denen wir zu einer ge- raffinierterer Mechanismen der ›Gouvernementali-
wissen Übereinstimmung bezüglich der umstritte- tät‹ überbietet Weber, um selbst die Möglichkeit ei-
nen Geltungsansprüche der Wahrheit, Richtigkeit nes autonomen Subjekts der Moderne in Frage zu
und Wahrhaftigkeit kommen müssen. stellen, die für Weber noch selbstverständlich war.
Tatsächlich sieht Foucault, hierin Adorno und Hork-
»Die Anmeldung eines Geltungsanspruches ist nicht Aus- heimer sehr ähnlich, Macht und Herrschaft so eng
druck eines kontingenten Willens; und das Ja zu einem
mit der Geschichte der Entstehung des abendländi-
Geltungsanspruch keine allein empirisch motivierte Ent-
scheidung. […] Geltungsansprüche sind intern mit Grün- schen Subjekts verschränkt, dass für ihn die psychi-
den verknüpft. Insofern können die Bedingungen für die schen Strukturen des modernen Selbst undenkbar
Akzeptabilität von Anweisungen dem illokutionären Sinn wären ohne die Geschichte der Repressionen, denen
12. Verteidigung der Moderne 243

es unterworfen war. Und in Jacques Derridas Kritik zierten Struktur der ›Sittlichkeit‹ finden, welche die
des westlichen ›Phallogozentrismus‹ hören wir das Einheit, aber auch die Naivität der griechischen Polis
Echo eines berühmten Satzes aus der Dialektik der überwindet, die der junge Hegel noch idealisiert
Aufklärung: »Aus dem Formalismus der mythischen hatte. In Hegels Philosophie sind Moderne und Rati-
Namen und Satzungen, die gleichgültig wie Natur onalität intrinsisch miteinander verbunden, weil der
über Menschen und Geschichte gebieten wollen, tritt moderne Staat, insofern er auf der Anerkennung
der Nominalismus hervor, der Prototyp bürgerli- subjektiver Freiheiten beruht, auch eine rationale
chen Denkens. Selbsterhaltende List lebt von jenem Struktur ist. Bekanntlich kann nicht nur diese quie-
zwischen Wort und Sache waltenden Prozeß« (Hork- tistische Versöhnung mit dem modernen Staat, der
heimer/Adorno 1969, 68). Derrida enthüllt die Lo- in Hegels Darstellung noch alle Züge eines allgemei-
gik des identitären Denkens, auf dem ein solcher nen Wahlrechts und modernen Parlaments vermis-
Phallogozentrismus beruht. Da jedoch jeder Ver- sen lässt, sondern auch Hegels allgemeine Metaphy-
such einer derartigen Enthüllung selbst im Medium sik einer Einheit von ›Wesen und Existenz‹ in der
der Vernunft stattfinden muss, begründet Derrida ›Wirklichkeit‹ den Bestrebungen des modernen Sub-
eine völlig neue Art des Lesens, bei der das Aporeti- jekts nicht genügen. »Hegel hat den Diskurs der Mo-
sche, das Undenkbare, das Unerkennbare und die derne eröffnet; erst die Junghegelianer haben ihn
blinden Flecken eines Textes via Dekonstruktion in dauerhaft etabliert« (DM, 67).
den Mittelpunkt der Analyse rücken. Die wirklich radikale Herausforderung des Dis-
Der philosophische Diskurs der Moderne ist sowohl kurses der Moderne stammt jedoch nicht von Feuer-
eine Zeitdiagnose der Stimmungslage westlicher Ge- bach oder von Marx, sondern von Nietzsche. Er ist
sellschaften in den späten 1980er Jahren, die zu die- der erste, der einer dezidierten Unversöhnlichkeit
ser Zeit im Bann der Begriff ›Postmoderne‹ und von Selbst und Gesellschaft, Individuum und Staat
›Poststrukturalismus‹ standen, als auch eine kriti- Ausdruck verleiht. Für ihn ist die bürgerliche Mo-
sche Untersuchung jener Sackgassen der modernen derne mit einer radikaleren Geste zu konfrontieren
Philosophie, die sich in der Nachfolge Hegels und als mit der Revolutionierung der Eigentumsverhält-
Nietzsches durch eine noch immer unhinterfragte nisse an den Produktionsmitteln. Zunächst müssten
Treue zur Subjektphilosophie aufgetan hatten. Ha- die Ursprünge der bürgerlich-christlichen Gesell-
bermas zwingt so unterschiedliche Denker wie Der- schaft freigelegt werden, die in einem Sklavenauf-
rida und Bataille, Foucault und Heidegger, Schiller stand gegen eine natürliche Aristokratie liegen. Mit
und Castoriadis in ein starkes Interpretationsraster. diesem Aufstand, der von Sokrates zu Jesus führt,
Das Resultat dieser ›starken Lesart‹ war eine lang an- beginnt der Diskurs der Gleichheit, des Gewissens
haltende Kontroverse über die Richtigkeit und und der Notwendigkeit, Versprechen zu halten. Das
Fruchtbarkeit vieler seiner Interpretationen (s. Lite- Subjekt der Moderne wird über und durch Jahrhun-
raturverzeichnis). Mit ›starker Lesart‹ meine ich derte der Unterdrückung von Instinkten geformt –
eine, bei der die immanente Kritik der betreffenden und die Ausbildung von Schuld und einem schlech-
Philosophen letztlich auf den Nachweis hinauslaufen ten Gewissen. Als Genealoge und Physiologe ver-
soll, dass die Probleme, die sie sich in ihren Theorien sucht der Philosoph in Nietzsches Vorstellung
einhandeln, von ihrem Festhalten an der Subjektphi- zunächst einmal, die Krankheit der Zivilisation zu
losophie und ihrer Weigerung, die kommunikative verstehen.
Wende der Vernunft zu vollziehen, herrühren.
Hegel und Nietzsche bilden für Habermas die bei- »Mit Nietzsches Eintritt in den Diskurs der Moderne ver-
den Pole des Problems der modernen Subjektivität. ändert sich die Argumentation von Grund auf. […] Drei-
mal ist dieser Versuch, den Vernunftbegriff auf das Pro-
Hegel beschreibt die Moderne in seinem Frühwerk gramm einer in sich dialektischen Aufklärung zuzuschnei-
als einen Prozess der ›Entzweiung‹. In seinen späte- den, mißlungen. In dieser Konstellation hatte Nietzsche
ren Schriften versucht er diesen Zustand durch den nur die Wahl, entweder die subjektzentrierte Vernunft
Nachweis zu überwinden, wie Zivilgesellschaft und noch einmal einer immanenten Kritik zu unterziehen –
Staat nach der Französischen Revolution den An- oder aber das Programm im ganzen aufzugeben. Nietzsche
entscheidet sich für die zweite Alternative – er verzichtet
sprüchen der Rechtssubjekte und den Forderungen
auf eine erneute Revision des Vernunftbegriffs und verab-
des individuellen moralischen Gewissens gerecht schiedet die Dialektik der Aufklärung« (DM, 106 f.).
werden können. Mit diesen neuen rechtlichen und
moralischen Freiheiten ausgestattet, kann das Indi- Die Geste des Physiologen und Genealogen, der die
viduum nunmehr seinen Platz in einer ausdifferen- Malaise des Vernunftsubjekts untersucht, kehrt in
244 III. Texte

den Arbeiten Michel Foucaults wieder. Auch in Schreibweise soll die Schwierigkeit und auch Künst-
Heideggers Rekonstruktion der Geschichte der west- lichkeit einer klaren Grenzziehung zwischen dem
lichen Metaphysik als einer selbstzerstörerischen Modernen und dem Postmodernen anzeigen. Viele
Subjektivität, die ihren eigenen ontologischen Grund der vermeintlich spezifisch postmodernen Sensibili-
nicht zu fassen bekommt, wirkt Nietzsches Moder- täten lassen sich bereits in Adornos hochmodernis-
nekritik fort. Doch ist bei Nietzsche noch ein ande- tischer ästhetischer Theorie, aber auch in der Litera-
res Moment am Werk, nämlich seine Hinwendung tur eines Bertolt Brecht, Eugène Ionesco oder Sa-
zur Kunst und zum Ästhetischen als einem Medium, muel Beckett finden (vgl. Wellmer 1985).
das die Wunden der Moderne zu heilen vermag. In Das Werk, das diese Sensibilitäten am eindring-
der Dichtung, in der Musik, in der Kunst können wir lichsten zum Ausdruck brachte, war Jean-François
zumindest den Vorschein einer neuen Subjektivität Lyotards Das postmoderne Wissen. Ein Bericht von
erfahren. In Also sprach Zarathustra erschafft Nietz- 1986 (frz. 1979). Für Lyotard zeichnet sich das post-
sche eine quasimythische und quasiprophetische Fi- moderne Zeitalter durch eine gewisse Ungläubigkeit
gur, die zeigen soll, wie ein neuer Mensch, ein ›Über- gegenüber ›Metaerzählungen‹ aus, und Habermas’
mensch‹ auftreten kann, der den Gestank der bür- Werk gilt ihm als ein Paradebeispiel für den falschen
gerlichen Zivilisation überwände. Diese Geste, die modernistischen Glauben an Metaerzählungen. Mit
Moderne durch eine Form von Ästhetik zu überwin- seiner Theorie des kommunikativen Handelns und
den, die sich dem Alltäglichen verweigert und die der Zurückweisung des Paradigmas der Subjektphi-
Ansprüche poetischer Subjektivität radikalisiert, fin- losophie böte Habermas einfach eine weitere Meta-
det ein Echo sowohl im Schaffen Georges Batailles erzählung, einen weiteren legitimierenden Diskurs,
als auch bei den Surrealisten und im zeitgenössi- den man der Erzählung vom sich selbst in der Ge-
schen Diskurs mancher postmoderner Autoren. schichte erkennenden Geist (Hegel) oder der Erzäh-
Ich möchte mich im Folgenden nicht mit der lung von der Emanzipation des Menschen durch Ar-
Frage befassen, ob Habermas Hegel und Nietzsche, beit (Marx) an die Seite stellen könnte. Lyotard
Foucault und Heidegger, Bataille und viele andere schreibt: »Wenn dieser Metadiskurs explizit auf diese
zutreffend interpretiert hat; obwohl sie durchgängig oder jene große Erzählung zurückgreift wie die Dia-
provokativ sind, können seine Lektüren aufgrund lektik des Geistes, die Hermeneutik des Sinns, die
der konzeptuellen Gesamtstrategie des Werks mit- Emanzipation des vernünftigen oder arbeitenden
unter arg schematisch ausfallen (vgl. hierzu beson- Subjekts, so beschließt man, ›modern‹ jene Wissen-
ders die Aufsätze von Dallmayr, Norris, Hoy und schaft zu nennen, die sich auf ihn bezieht, um sich zu
Schmidt in: Passerin d’Entrèves/Benhabib 1996). Ich legitimieren« (Lyotard 1986, 13 f.).
möchte mich lieber auf einige thematische Aspekte Habermas hat nicht direkt auf Lyotards Thesen
von Habermas’ Auseinandersetzung mit dem philo- reagiert; Richard Rorty und Richard Bernstein je-
sophischen Diskurs der Moderne/Postmoderne doch haben die Implikationen von Lyotards Position
konzentrieren, die wiederum auf Probleme im Para- für Habermas’ Arbeit ausbuchstabiert. In einem viel
digma der kommunikativen Vernunft selbst hindeu- zitierten Aufsatz formuliert Rorty in wünschenswer-
ten und denen sich die heutige kritische Gesell- ter Klarheit:
schaftstheorie unabhängig von der speziellen Kon-
stellation Mitte der 1980er Jahre erneut stellen muss. »Wir sehen also, dass Habermas’ französische Kritiker be-
Mir geht es um die folgenden vier Themen: die ethi- reit sind, die liberale Politik zu opfern, um eine universalis-
tische Philosophie zu vermeiden, und dass Habermas an
sche und politische Dimension der Moderne/Post- einer universalistischen Philosophie mit all ihren Proble-
moderne und des Poststrukturalismus; das Problem men festhalten will, um eine liberale Politik zu unterfüt-
des Performativen; das Verhältnis von Subjekt und tern. […] Habermas jedoch glaubt, dass uns, wenn wir die
Macht; sowie die Rolle des Ästhetischen. Idee des ›besseren Arguments‹ im Unterschied zu ›dem Ar-
gument, das ein gegebenes Publikum zu gegebener Zeit
überzeugt‹, fallenlassen, nichts weiter bleibt als eine ›kon-
Moderne/Postmoderne und textabhängige‹ Form von Gesellschaftskritik« (Rorty 1991,
Poststrukturalismus 165).

Eine terminologische Klärung vorweg: Statt ›Post- Für Rorty selbst ist natürlich allein eine kontextab-
moderne‹ und ›Postmodernismus‹ ziehe ich die hängige Kritik berechtigt und mehr auch gar nicht
Wendungen ›Moderne/Postmoderne‹ und ›Moder- erforderlich. Man brauche Habermas’ Programm ei-
nismus/Postmodernismus‹ vor. Die Schrägstrich- ner starken Begründung des normativen Kerns der
12. Verteidigung der Moderne 245

Vernunft durch eine Theorie des kommunikativen Foucault bringt auf diese Art und Weise mit den
Handelns nicht, um die universalistischen Ideale der Mitteln einer Archäologie der modernen Human-
bürgerlichen Demokratie zu verteidigen. »Während wissenschaften und des modernen Subjekts seiner-
Habermas also ›bürgerliche Ideale‹ mit Verweis auf seits nichts anderes als eine neue Metaerzählung der
die in ihnen enthaltenen ›Vernunftelemente‹ lobt, Moderne hervor; allerdings eine, die nicht von
wäre es besser, einfach jene untheoretischen Formen Emanzipation, sondern von Repression spricht, eine,
von narrativem Diskurs zu loben, aus denen die po- die nicht von Freiheit, sondern von der unentwegt
litische Sprache der westlichen Demokratien gebil- wachsenden Macht der Gouvernementalität und
det ist. Es wäre besser, unverhohlen ethnozentrisch schwindender Freiheit handelt. Einig sind sich Lyo-
zu sein« (ebd., 168). Vielleicht mehr noch als im eu- tard und Foucault freilich darin, dass die Philoso-
ropäischen Kontext konzentrierte sich Rortys von phie nicht mehr die Rolle des führenden Legitimati-
Lyotard inspirierte Habermas-Kritik im angloameri- onsdiskurses spielen kann. Sie wird bei Lyotard
kanischen Diskussionszusammenhang auf das Pro- durch eine Art von Wissenssoziologie und bei Fou-
blem, die universalistischen Ideale liberaler Demo- cault durch Archäologie und Genealogie abgelöst.
kratien zu begründen. Rorty hielt es mit Lyotards Noch komplizierter verhält es sich mit Derrida
Überzeugung, dass wir nicht mehr als die ›petits ré- und der Kritik der Metaerzählungen. Ironischer-
cits‹ benötigten, jene ›kleinen Erzählungen‹ unserer weise argumentiert Habermas selbst mitunter im
eigenen, abendländischen kulturellen Überlieferung, Stile Lyotards, wenn er Heidegger und Derrida vor-
eben unsere eigene ethnozentrische Voreingenom- wirft, sich noch im Horizont von Metaerzählungen
menheit, um diese Aufgabe zu lösen. Wir bräuchten zu bewegen. Heideggers im Namen einer vergesse-
keine Verallgemeinerungen, die andere Kontexte nen Geschichte des Seins vollzogene ›Destruktion‹
und Kulturen einbezögen, so Rorty, weil wir damit der Geschichte einer Metaphysik, die das Sein nur in
lediglich die imperialistische und kolonialistische der Form von Seienden vorstellen könne, nivelliere
Politik der westlichen Aufklärung fortführen wür- alles, was ihr in den Weg kommt. Im destruktiven
den. Bereits in den frühen 1980er Jahren konnte und totalitären Wesen des modernen Zeitalters ver-
man in derartigen Formulierungen mithin auf An- möge Heidegger einzig die Verabsolutierung der
klänge dessen stoßen, was gegen Ende des 20. Jahr- modernen Subjektivität zu erkennen (DM, 160). Ha-
hunderts als ›Kritik der postkolonialen Vernunft‹ bermas schreibt:
bekannt wurde (vgl. hierzu Rortys einschlägigen Es- »In der totalen Seinsvergessenheit der Moderne wird das
say »Postmodernist Bourgeois Liberalism« [1983] Negative der Seinsverlassenheit nicht einmal mehr emp-
sowie Spivak 2003 und 2008). funden. Daraus erklärt sich die zentrale Bedeutung einer
Vergleicht man die Argumentation von Lyotard Anamnese der Seinsgeschichte, die sich jetzt als die De-
und Rorty über die Metaerzählungen der Moderne struktion der Selbstvergessenheit der Metaphysik zu erken-
nen gibt. […] Heidegger kann allerdings die Destruktion
mit den Positionen von Foucault und Derrida, dann der Geschichte der Metaphysik nicht als entlarvende Kri-
wird deutlich, wie wenig letztere diese Auffassung tei- tik, die Überwindung der Metaphysik nicht als einen Akt
len. Die poststrukturalistische Vernunftkritik und die der Enthüllung verstehen. […] Also muß das Denken, das
postmoderne Zurückweisung der großen Erzählun- die ontologische Differenz als Leitfaden benützt, eine Er-
gen sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Selbst der kenntniskompetenz jenseits der Selbstreflexion, jenseits des
diskursiven Denkens in Anspruch nehmen« (DM, 163,
Terminus ›Poststrukturalismus‹ ist in diesem Zusam-
Hervorh. i.O.).
menhang eine irreführende Bezeichnung, bezieht er
sich doch lediglich auf ein komplexes Bündel von An- In Habermas’ Augen nimmt der frühe Derrida wie
nahmen über den Status des sprachlichen Zeichens Heidegger »›das Ganze des Okzidents‹ in den Blick
sowie den des erkennenden und handelnden Sub- und konfrontiert es mit seinem Anderen, das sich
jekts, die sich viele französische Theoretiker im Fahr- durch ›radikale Erschütterungen‹ anmeldet – öko-
wasser der Sprachphilosophie Ferdinand de Saus- nomisch und politisch, d. h. vordergründig durch
sures und der Anthropologie Claude Lévi-Strauss’ zu- die neue Konstellation zwischen Europa und der
eigen machten (vgl. hierzu Descombes 1980). Das Dritten Welt, metaphysisch durch das Ende des an-
Subjekt des Wissens wird durch ein System von Struk- thropozentrischen Denkens« (DM, 191). Wo Lyotard
turen, Oppositionen und Differenzen ersetzt, die mit- und Rorty die Kritik der Metaerzählungen nutzen,
nichten als Hervorbringungen einer lebendigen Sub- um aus den universalistischen Ansprüchen des Wes-
jektivität begriffen werden müssen, um intelligibel zu tens die Luft herauszulassen, sieht Habermas Derri-
sein (vgl. Benhabib 1984 und 1995, 228 ff.). das Aneignung von Heideggers Metaerzählung der
246 III. Texte

Selbstdestruktion der modernen Subjektivität auf berale Verfassungsstaat, der die Integrität des Rechts-
eine Umkehrung der Konstellation zwischen dem subjekts respektiert, auch die Unterschiede zwischen
Westen und der Dritten Welt hinauslaufen. Man solchen Lebensformen schützen kann (EA).
kann also folgern, dass es zwar unter den führenden
Denkern der modernen/postmodernen Konstella-
Die Debatte über den Performativ
tion keinen Konsens in der Frage gibt, ob die Kritik
der modernen Vernunft in der Form einer Verab- Das zweite große Thema in Habermas’ Auseinan-
schiedung der Metaerzählungen betrieben werden dersetzung mit Derrida betrifft besonders die
muss, diese epistemologische und methodologische Sprachphilosophie. Martin Jay hat die Debatte über
Frage jedoch unauflöslich mit einer ethisch-politi- den ›Performativ‹ als Scheideweg zwischen kriti-
schen Blickrichtung über den Eurozentrismus und scher Theorie und Poststrukturalismus bezeichnet
den ›bürgerlichen Liberalismus‹ hinaus verbunden (Jay 1989). Mit dieser Debatte ist in erster Linie ein
ist. hitziger Austausch zwischen John Searle und Jacques
Lyotard, Derrida und Foucault (nicht aber Rorty) Derrida über die Sprachphilosophie John L. Austins
stimmen bezeichnenderweise darin überein, dass es gemeint, bei dem Habermas sich auf Searles Seite
erforderlich ist, die universalistischen Ansprüche der stellt. Davon abgesehen führt ein direkter Weg von
westlichen Rationalität zu deflationieren, um die Al- dem Streit über den Performativ, der in den 1980er
terität jener Anderen erscheinen zu lassen, die eine Jahren zwischen der kritischen Theorie und dem
solche Vernunft sonst an den Rand drängt, bestraft, Poststrukturalismus herrschte, zu den nicht minder
ausbeutet oder sogar auslöscht. Für Lyotard geht die erregten Debatten zwischen kritisch-theoretischen
epistemische Festlegung auf die ›kleinen Erzählun- und poststrukturalistischen Feministinnen in den
gen‹ mit einer Nähe zum Denken ›primitiver Völker‹, 1990er Jahren (vgl. Benhabib u. a. 1993).
von Frauen und Anderen einher, während Foucault Kurz gesagt geht es um die Frage, ob das, was John
das Gedächtnis der psychisch Kranken und der Ab- Austin als die performative Kraft von Sprechakten
weichenden, der Gefängnisinsassen und Herm- bezeichnete, charakteristisch für die Sprache insge-
aphroditen zu bergen versucht. Und Derrida sugge- samt ist, oder ob Austin selbst mit seiner Unterschei-
riert in seinem berühmten Essay »Fines Hominis« dung zwischen ›geglückten‹ und ›missglückten‹
im Geiste des Maoismus von 1968 die Einkreisung Sprechakten in den Mythos eines ›gewöhnlichen‹
der Ersten Welt durch die Dritte, der Stadt durch das versus ›parasitären‹ Sprachgebrauchs zurückfällt.
Land. Die ›Epistemologien des Postmodernismus‹ Derrida fragt:
und die Kritik des eurozentrischen Universalismus »Könnte eine performative Aussage gelingen, wenn ihre
gehen Hand in Hand (vgl. Benhabib 1995). Formulierung nicht eine ›codierte‹ oder iterierbare Aus-
In der Auseinandersetzung mit dem Modernis- sage wiederholen würde, mit anderen Worten, wenn die
mus/Postmodernismus steht Habermas mithin vor Formel, die ich ausspreche, um eine Sitzung zu eröffnen,
einer schwierigen Herausforderung: Er muss zeigen, ein Schiff oder eine Ehe vom Stapel laufen zu lassen, nicht
als einem iterierbaren Muster konform identifizierbar wäre,
dass die Ausschließung des Anderen eine Anomalie
wenn sie also nicht in gewisser Weise als ›Zitat‹ identifiziert
der modernen westlichen Rationalität ist und nicht werden könnte? Nicht daß die Zitathaftigkeit hier von der-
deren Vollzug – und dass die Bedürfnisse der Ausge- selben Art wäre wie in einem Theaterstück, einer philoso-
schlossenen mithilfe der Praktiken eines diskursiv phischen Bezugnahme oder einer Gedichtrezitation. Des-
begründeten ethischen Universalismus und der The- halb gibt es eine relative Spezifität, wie Austin sagt, eine ›re-
lative Reinheit‹ von Performativen. Aber diese relative
orie der Demokratie adäquat befriedigt werden kön-
Reinheit erhebt sich nicht gegen die Zitathaftigkeit oder die
nen. Diese Herausforderung hat Habermas auch Iterabilität […]. Wenn diese Iterationsstruktur klar gege-
über den Philosophischen Diskurs der Moderne hin- ben ist, wird die Intention, die die Äußerung beseelt, nie-
aus nicht in Ruhe gelassen; in späteren Werken wie mals sich selbst und ihrem Inhalt durch und durch präsent
Nachmetaphysisches Denken (1988) und Die Einbe- sein. […] Das ›Unernste‹ und die oratio obliqua können
ziehung des Anderen (1996) ist er auf sie zurückge- von der ›gewöhnlichen‹ Sprache [langage] nicht mehr aus-
geschlossen werden, wie es Austin wünschte« (Derrida
kommen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts ist der 2001, 40 f., Hervorh. i.O.).
›Kampf um Anerkennung‹ zu einem zentralen
Thema der kritischen Gesellschaftstheorie gewor- Habermas bemerkt zu dieser Argumentation:
den. Habermas hat zu zeigen versucht, dass die kom- »Offensichtlich setzt Derrida im Argument schon voraus,
munikative Vernunft der großen Variationsbreite was er beweisen möchte: daß jede Konvention, die die Wie-
kultureller Lebensformen gerecht werden und der li- derholung exemplarischer Handlungen erlaubt, nicht nur
12. Verteidigung der Moderne 247

symbolischen, sondern von Haus aus fiktiven Charakter Derrida ›nivelliert‹ die Unterschiede zwischen Phi-
besitzt. Daß sich Spielkonventionen von Handlungsnor- losophie und Literatur, Diskurs und Rhetorik (DM,
men letztlich nicht unterscheiden lassen, müßte erst noch
219 ff.). »Die Ästhetisierung der Sprache, die mit der
gezeigt werden. […] Derrida unternimmt keinen Versuch,
diesen ausgezeichneten Funktionsmodus der Alltagsspra- doppelten Verleugnung des Eigensinns von normaler
che im kommunikativen Handeln zu ›dekonstruieren‹. und poetischer Rede erkauft wird, erklärt auch Derri-
Austin hat in der illokutionären Bindungskraft sprachlicher das Unempfindlichkeit gegenüber der spannungs-
Äußerungen einen Mechanismus der Handlungskoordinie- reichen Polarität zwischen der poetisch-welterschlie-
rung entdeckt, der die normale, in die Alltagspraxis eingelas- ßenden Funktion der Sprache und den prosaischen
sene Rede anderen Beschränkungen unterwirft als die fiktive
Rede, die Simulation und den inneren Monolog« (DM, 230, innerweltlichen Sprachfunktionen […]« (DM, 240 f.,
zweite Hervorh. S.B.). Hervorh. i.O.).
Wie seine einigermaßen ironische und verbitterte
Wie dieses Zitat deutlich macht, erkennt Habermas Replik in Limited Inc. (Derrida 2001) deutlich macht,
in Derridas Austin-Lektüre eine potentielle Subver- hat Derrida Searle und Habermas ihre Kritik nie ver-
sion der »illokutionären Bindungskraft sprachlicher ziehen. In den 1990er Jahren fand kein weiterer Dia-
Äußerungen«, die für ihn einen »Mechanismus der log über dieses Thema statt. Es blieb subtilen Inter-
Handlungskoordinierung« darstellt. Wir sollten uns preten wie Christopher Norris (1996), Richard Bern-
freilich darüber im Klaren sein, dass es nicht Austin stein (1985), David Hoy (1996) und Christoph
ist, der illokutionären Sprechakten dieses Vermögen Menke-Eggers (1988) vorbehalten, den Nachweis zu
zuschreibt, sondern Habermas, der in seiner Theorie führen, dass die Linien dieses Konflikts zu holz-
des kommunikativen Handelns die illokutionäre schnittartig gezeichnet waren und es möglich, ja
Kraft von Sprechakten in das Vermögen von Spre- vielleicht wünschenswert wäre, sich auf halbem
chern und Hörern übersetzt, ihre Handlungen durch Wege entgegenzukommen (»to split the differen-
die Orientierung an Geltungsansprüchen zu koordi- ces«), um mit einem Aufsatztitel von Hoy (1996) zu
nieren. Die illokutionäre Kraft der Rede ist hier das sprechen. Doch sollte es bis zu jenem verhängnisvol-
Potential aller Sprecher einer Sprache, ihre Hand- len September 2001 dauern, als das World Trade
lungen dadurch aneinander auszurichten, dass sie Center angegriffen wurde und sich sowohl Haber-
Geltungsansprüche verstehen. Sofern Derrida be- mas als auch Derrida zufällig in New York aufhiel-
hauptet, dass jede performative Äußerung bereits ten, bis das Eis zwischen beiden schmolz und sie den
eine ›Performance‹ ist und es keinen Unterschied Dialog über Politik und Philosophie in gewisser
zwischen dem Einsatz der Sprache auf der Bühne Form wieder aufnahmen (vgl. Borradori 2004).
und ihrem alltäglichen Gebrauch gibt, missversteht In den frühen 1990er Jahren zog der Begriff des
er nicht nur Austin, sondern untergräbt schlechter- Performativen von den Gestaden der Sprachphiloso-
dings die Theorie des kommunikativen Handelns. phie ins Kernland der Gender-Theorie und der Iden-
Bei der richtigen Interpretation des ›Performativen‹ titätspolitik weiter. Im Mittelpunkt dieser Transfor-
steht also einiges auf dem Spiel. mation stand Judith Butlers einflussreiches Buch Das
Dies war bei weitem nicht die einzige Dimension Unbehagen der Geschlechter (1991). Der Begriff des
einer komplexen Debatte, in der es obendrein um Performativen erhielt nun die Bedeutung, dass sich
die Fragen der Zitierbarkeit, Iterabilität und Intenti- Identitätsbildungsprozesse in der und durch die ite-
onalität von Sprechakten ging und darum, ob Der- rative Re-Inszenierung geschlechtlicher Rollen (gen-
rida in seinen Ausführungen zu Austin types mit to- der roles) vollzogen. Identitäten, einschließlich psy-
kens verwechselt hat. Jedenfalls zeitigt Derridas Zu- chosexueller Identitäten, wurden in und durch itera-
rückweisung von Austins Unterscheidung zwischen tive Performanzen ›konstruiert‹. Von Nietzsche
dem gewöhnlichen, dem standardisierten und dem entlehnte Butler, dass es keinen Täter hinter der Tat,
›parasitären‹ Sprachgebrauch in den Worten von kein Selbst hinter dem Akt gibt (Butler 1991, 49).
Christopher Norris folgende Konsequenz: Das Selbst wurde überhaupt erst in Sozialisations-
»Wie Habermas es sieht, besteht der Kardinalfehler von prozessen und durch diese konstituiert bzw. kon-
Derridas Arbeit darin, diese wesentlichen Unterscheidun- struiert.
gen nicht beachtet und somit die poetische (rhetorische) Butler machte in diesem Zusammenhang vom
Funktion der Sprache dermaßen verallgemeinert zu haben, Konzept des Performativen Gebrauch, um zu zeigen,
dass sie das ganze Feld des kommunikativen Handelns be-
herrscht. Im Ergebnis sieht sich das Denken jener kriti- dass die Bildung der Geschlechtsidentität das Resul-
schen Kraft beraubt, die von einer sachgerechten Trennung tat soziopsychischer Konstruktionsprozesse war und
der Sphären abhängt« (Norris 1996, 103). keiner wie auch immer gearteten tieferen psychoso-
248 III. Texte

matischen Realität entsprach. Getreu der Wendung Macht und Subjekt


Simone de Beauvoirs – ›man kommt nicht als Frau
zur Welt, sondern wird es‹ – war das Performative Während der Austausch zwischen Habermas und
der Prozess, durch den das soziale Geschlecht ent- Derrida anderthalb Jahrzehnte lang zu nichts führte
lang der Achsen Mann/Frau, homo-/heterosexuell und dann eher unter dem Eindruck übermächtiger
entstand. Von Derrida übernahm Butler die zentrale historischer Ereignisse wieder aufgenommen wurde,
Bedeutung der ›Iterationen‹, deren Effekte nicht lässt sich Gleiches von der Auseinandersetzung mit
durch vorhersagbare psychosoziale Kontexte zu kon- Foucault nicht behaupten. Kurz vor seinem frühen
trollieren waren, und von Foucault die These, dass Tod im Jahr 1984 gab Foucault ein Interview, in dem
die Bildung des Subjekts zugleich einen Prozess der er die Affinität seiner Forschungen zur Dialektik der
Unterwerfung darstellte. Es gab kein ›Subjekt‹ als Aufklärung einräumte. Foucaults Machttheorie be-
solches, sondern allein historisch und soziokulturell wegte sich auf dem vertrauteren Terrain einer Theo-
variable Prozesse der Subjektivation und Subjektbil- rie der Gesellschaft und einer Theorie der Moderne.
dung. Habermas zufolge zerfällt Foucaults Werk in zwei
Mag es auf den ersten Blick auch schwer fallen, große Phasen: erstens seine frühen Studien, die mit
den Weg zu rekonstruieren, der von der Debatte um Die Ordnung der Dinge (frz. 1966) ihren Abschluss
illokutionäre Sprechakte bei Austin zu Derridas finden und sich um das »geschichtliche Apriori des
Konzept des Performativen als Performance und Seinsverständnisses« (DM, 303) der Wissenschaften
Butlers Theorie der Geschlechtsidentität als Perfor- der Neuzeit drehen. Die zweite Phase ist durch den
mativität führt, so ist all diesen Theoremen doch Wechsel von einer kritischen Geschichte der moder-
eine zentrale Annahme gemeinsam. Während für nen Humanwissenschaften zu einer Theorie der
Habermas Sprechakte nur als Performative funktio- Macht geprägt. Diese Entwicklung wird durch be-
nieren können, sofern man die »illokutionäre Bin- stimmte interne Schwierigkeiten von Foucaults zu-
dungskraft sprachlicher Äußerungen [als] einen Me- nächst strukturalistischer Theoriebildung erzwun-
chanismus der Handlungskoordinierung« bewahren gen, deren schwerwiegendste im Fehlen eines Me-
kann, setzt gerade dies für Derrida wie für Foucault chanismus besteht, der den Übergang von einer
und Butler voraus, dass das Subjekt und seine Inten- ›Episteme‹ zur anderen erklären könnte. In Fou-
tionen in jedem Sprechakt präsent und manifest caults Konstruktionen werden solche Übergänge zu
sind. Mag er es noch so sehr versuchen, so ihr Argu- ›événements‹, gleichsam Naturereignissen, die durch
ment, so kann Habermas doch den Mythos des in- keine Binnenlogik der Epistemen selbst motiviert
tentionalen Subjekts des Handelns und der Rede sind. Der Wechsel von einer Archäologie des Wissens
nicht aufgeben – mit Nietzsche gesprochen, den Tä- zu einer Genealogie der Macht wird in Habermas’
ter hinter der Tat. Auf die Gegenfrage aber, wie denn Augen durch Foucaults Nietzscherezeption in den
ohne diesen ›Täter‹ Sprechakte ihre illokutionären 1970er Jahren ermöglicht. »Die genealogische Ge-
Funktionen überhaupt erfüllen sollen, dürfte es schichtsschreibung kann die vernunftkritische Rolle
kaum eine Antwort geben. Derrida geht es schwer- einer Antiwissenschaft nur übernehmen, wenn sie
punktmäßig nicht darum, wie Sprache das soziale aus dem Horizont eben jener geschichtlich orientier-
Leben ermöglicht und formt, sondern um Sprache ten Wissenschaften vom Menschen heraustritt, de-
als eine Form von Ur-Schrift, die unendlich iterier- ren hohlen Humanismus Foucault machttheoretisch
bar ist und in einem Prozess, der zu der mysteriösen entlarven möchte« (DM, 293).
Iterabilität oder Zitierbarkeit von Sprache gehört, Mit der genealogischen Methode gehen be-
von einer unendlichen Zahl von anderen gelesen stimmte Anforderungen einher: Geschichte darf
und wiedergelesen werden kann. Für Foucault und nicht so geschrieben werden, als ob die Bedeutung
Butler ist soziales Handeln schlichtweg das Medium, der Vergangenheit einfach darin bestünde, die Ge-
in dem Machtverhältnisse in Szene gesetzt werden. genwart zu ermöglichen; vielmehr muss die Gegen-
Die illokutionären Effekte von Sprechakten gelten wart als das zur Gänze kontingente Resultat einer
ihnen schlechterdings als Machteffekte. Der Begriff Reihe von Verwerfungen und Verlagerungen be-
des Performativen ist nunmehr an den inflationären trachtet werden. Darüber hinaus zielt diese neue his-
Gebrauch des Begriffs ›Macht‹ gekoppelt. torische Methode nicht hermeneutisch auf Verste-
hen, sondern auf die »Destruktion« eines »wirkungs-
geschichtlichen Zusammenhangs« (DM, 294). All
diese Prozesse sind vom Element der Macht durch-
12. Verteidigung der Moderne 249

setzt. »In der Genealogie Foucaults ist ›Macht‹ zu- cault über die moderne Macht: Empirische Einsich-
nächst ein Synonym für diese reine strukturalistische ten und normative Unklarheiten« in ihre 1989 im
Tätigkeit; sie nimmt denselben Platz ein wie bei Der- Original erschienene Aufsatzsammlung Widerspens-
rida die ›Differänz‹. Aber diese diskurskonstitutive tige Praktiken auf, in der sie das Wechselverhältnis
Macht soll gleichzeitig transzendentale Erzeugungs- zwischen sozialem Geschlecht, Macht und Diskurs
und empirische Selbstbehauptungsmacht sein. Wie in den zeitgenössischen Gesellschaften untersucht.
Heidegger nimmt auch Foucault eine Fusion von Beide Autoren bemühten sich darum, Aspekte von
entgegengesetzten Bedeutungen vor« (DM, 300, Her- Foucaults Machttheorie in eine kritische Analyse ge-
vorh. i.O.). Überwachen und Strafen (frz. 1975) zum genwärtiger Gesellschaften zu integrieren, ohne dar-
Beispiel bietet eine empirische Darstellung der Ent- über die sozialen Kämpfe und die Rolle der Subjekti-
wicklung von Disziplinartechnologien, die zugleich vität im Widerstand gegen die Macht preiszugeben
– und in Verbindung mit Techniken der Überwa- oder die Bedeutung normativer Gesichtspunkte so-
chung und Kontrolle – dazu führen, ihre Objekte als wohl für die sozialen Akteure als auch für den Sozi-
Objekte der Manipulation und Kontrolle zu konsti- alkritiker zu schmälern. Die Konfrontation mit Fou-
tuieren. Habermas’ immanente Kritik von Foucault cault hinterließ bedeutende Spuren in der kritischen
versucht zu zeigen, dass diese Doppelstrategie, die Theorie der Gegenwart, und die Aufgabe, eine kom-
die Genealogie von Machtstrukturen analysiert und munikationstheoretische Perspektive auf Sozialisie-
zugleich die Konstitution des Subjekts der Macht vor rung und Individuation mit einer komplexen, der
Augen führt, voller Aporien ist und Foucaults Macht- zeitgenössischen Gesellschaft angemessenen Ana-
theorie sich letztlich durch »Präsentismus«, »Relati- lyse der Machtbeziehungen zu verbinden, bleibt ein
vismus« und »Kryptonormativismus« auszeichnet verlockendes und wichtiges Projekt (vgl. Kelly
(DM, 325 u. 331). 1994).
Trotz dieser harschen Worte kann man sich des
Gefühls nicht erwehren, dass Habermas, insofern Die Rolle der ästhetischen Dimension
Foucault die Philosophie auf eine kritische Untersu-
chung kultureller und gesellschaftlicher Entwicklun- Anlässlich der Verleihung des Adorno-Preises der
gen ausrichtet, eine gewisse Nähe zu diesem Projekt Stadt Frankfurt im Jahr 1980 hielt Habermas eine
verspürt. Im Unterschied zur Heideggerschen De- Rede mit dem Titel »Die Moderne – ein unvollende-
struktion der Moderne in Begriffen einer einseitigen tes Projekt«. Diese Rede bildete die Keimzelle für die
Machtmetaphysik bietet Foucault eine Konzeption 1985 publizierte Vorlesungsreihe. In den Ausfüh-
von Macht, die empirisches Gewicht hat (vgl. rungen von 1980 kam die ästhetische Dimension des
McCarthy 1993, 64 ff.). Nichtsdestotrotz gehen bei Themas Moderne/Postmoderne, oder vielleicht ge-
Foucault »empirische Einsichten und normative Un- nauer gesagt der Zusammenhang zwischen ästheti-
klarheiten« (Nancy Fraser) wild durcheinander, und schen Sensibilitäten und politischen Positionen noch
sein eigener Standpunkt als Gesellschaftskritiker ist deutlicher und pointierter zum Ausdruck. Haber-
höchst selbstwidersprüchlich. Foucaults sozialer mas unterschied hier den Antimodernismus der
Theorie der Macht fehlt die sozialintegrative Dimen- Jungkonservativen vom Prämodernismus der Alt-
sion der Sprache; sie kann daher nicht erklären, dass konservativen und vom Postmodernismus der Neu-
Vergesellschaftung auch einen »Individuierungsef- konservativen.
fekt« ermöglicht (DM, 337). Der Diskurs der Perfor- Als Jungkonservative bezeichnet Habermas jene,
mativität der Macht verschleiert diese tiefgreifenden die im Geiste Nietzsches die Enthüllung einer dezen-
Probleme nur, denen sich eine kritische Gesell- trierten Subjektivität begrüßen und die Barrieren
schaftstheorie indes stellen muss. zwischen Kunst und Alltag durch subversive Akte
Anders als der abrupt beendete ›dialogue des der Imagination und subjektiven Erfahrung zu
sourds‹ zwischen Derrida und Habermas erwies sich durchbrechen suchen. Foucault wie auch Derrida
Habermas’ Auseinandersetzung mit Foucault als und Bataille seien Jungkonservative in diesem
produktiv. Fast unmittelbar nach der Publikation Sinne.
von Der philosophische Diskurs der Moderne erschie- Die Altkonservativen betrachten die ästhetische
nen auf beiden Seiten des Atlantiks wichtige Kom- Moderne mit Argwohn; sie misstrauen der von We-
mentare. 1985 legte Axel Honneth Kritik der Macht. ber diagnostizierten Ausdifferenzierung der Wert-
Reflektionsstufen einer kritischen Gesellschaftstheorie sphären und befürworten in gewissem Maße eine
vor; Nancy Fraser nahm ihren frühen Essay »Fou- Wiedervereinigung der Vernunft mit einem Sinn für
250 III. Texte

objektive Ethik und den Erfordernissen der natürli- heißt manchmal ›ästhetisch-expressive‹ und manch-
chen Welt. In diese Kategorie reiht Habermas Leo mal ›ästhetisch-evaluative‹. Ihr Gegenstandsbereich
Strauss sowie Hans Jonas und Robert Spaemann ein. ist nicht auf dieselbe Weise eindeutig zu bestimmen
Die Neukonservativen begrüßen die Errungen- wie der der anderen Sphären: Affekte und Gefühle,
schaften der Moderne, solange sie kapitalistisches ästhetische und therapeutische Urteile gehören
Wirtschaftswachstum, technischen Fortschritt und ebenso hierher wie ethische Anliegen. Wie für Kant
rationale Verwaltung vorantreiben. Politisch jedoch die Kritik der Urteilskraft auf die Notwendigkeit ver-
sind sie gegen die Überlastung der Politik durch äu- weist, den Ort der reflektierenden und der bestim-
ßerliche moralische und ethische Anforderungen menden Urteilskraft in seiner Moralphilosophie und
und erwarten von der Demokratie keine Schützen- seiner theoretischen Philosophie neu zu durchden-
hilfe für die Lösung der durch die Moderne aufge- ken, so eröffnet diese dritte Domäne auch für Ha-
worfenen Probleme. Stattdessen bevorzugen sie die bermas eine Reihe von Problemen, was die Integra-
elitäre Politik von Ästheten oder starken Führern. tion und das Zusammenspiel des theoretischen, mo-
Habermas ordnet den frühen Wittgenstein, Carl ralischen und evaluativen Gebrauchs der Vernunft
Schmitt in seiner mittleren Periode sowie Gottfried angeht.
Benn dieser Gruppe zu. In Der philosophische Diskurs der Moderne meldet
Diesen zugespitzten und polemischen Charakte- sich diese Problematik im Hinblick auf die Sprach-
risierungen zum Trotz erkennt Habermas den Im- funktion an, die Habermas im Unterschied zu ihrer
puls an, der hinter der Erfahrung der ästhetischen »kommunikativen« und »handlungskoordinieren-
Moderne steht: die Erfahrung einer dezentrierten den« als »welterschließende Funktion der Sprache«
Subjektivität, die sich aus ihren traditionalen Le- bezeichnet. In einer Schlüsselpassage gegen Ende
bensformen losgerissen hat und in den Untiefen der des Buchs schreibt Habermas, dass
Moderne gestrandet ist; die Transzendenz der raum-
»die Sprache den Sinnhorizont erschließt, innerhalb dessen
zeitlich disziplinierenden Strukturen des Alltagsle- die erkennenden und handelnden Subjekte Sachverhalte
bens durch herausfordernde Kunstwerke; das Auf- interpretieren, also Dingen und Menschen begegnen und
brechen routinisierter Wahrnehmungen sowie die im Umgang mit ihnen Erfahrungen machen. Die welter-
Dialektik von Schock und Enthüllung. Die Autono- schließende Funktion der Sprache wird in Analogie zu den
mie des Ästhetischen vermag andere rationalisierte Erzeugungsleistungen des transzendentalen Bewußtseins
gedacht […]. Das sprachliche Weltbild ist ein konkretes
Sphären des Daseins zu transformieren.
und ein geschichtliches Apriori […]« (DM, 371).
In den hoch entwickelten modernen Gesellschaf-
ten ist das Autonomwerden der Kunst jedoch auch Habermas diskutiert an dieser Stelle Cornelius Cas-
mit der Ausbreitung einer Kultur von Experten und toriadis – mit Blick auf Heidegger, Derrida und Fou-
Interpreten sowie einer zunehmenden Distanz zwi- cault. Sein entscheidender Einwand gegen die im Zi-
schen der transformierenden Kraft der Kunst und tat umrissene Sprachkonzeption lautet, dass der
dem Laienpublikum verbunden. Die Starre und kul- Wandel historischer Weltbilder, der Übergang von
turelle Verarmung des rationalisierten Alltags lässt einem bestehenden zu einem neu sich bildenden
sich nicht mithilfe der Gesten einer ästhetischen welterschließenden Sinnhorizont völlig von der all-
Avantgarde überwinden. Nötig wäre vielmehr eine täglichen Praxis der Sprecher und ihrer konkreten
wechselseitige Durchdringung von kognitiven Inter- Erfahrung abgekoppelt zu sein scheint. »Ausge-
pretationen, moralischen Erwartungen sowie affek- schlossen wird jede Interaktion zwischen der welter-
tiv-ästhetischen Expressionen und Bewertungen im schließenden Sprache und den Lernprozessen in der
alltäglichen Leben. Hier stoßen wir auf eine Mehr- Welt« (ebd.).
deutigkeit in Habermas’ Konzeptualisierung dieses Dies ist ein starker Einwand, der Habermas’ Be-
›dritten‹ Bereichs, der Kunst. hauptung wiederholt, dass Foucault sich einer
Vom theoretischen und praktischen Gebrauch Machttheorie zuwenden musste, weil seine ur-
der Vernunft ist die ästhetisch-evaluative Dimension sprüngliche Theorie durch das Ausblenden des Han-
zu unterscheiden. Doch bezieht sich dieser Bereich delns historischer Akteure nicht in der Lage war, den
nicht nur auf eine Wertsphäre, eine kognitive Funk- Übergang von einer Episteme zu einer anderen zu
tion unter anderen – die ›ästhetisch-evaluative‹ Di- erklären. Doch mag es noch eine andere Dimension
mension hat zusätzlich die Metafunktion, den Ton der welterschließenden Funktion von Sprache ge-
für die wechselseitige Durchdringung und die Ko- ben. James Bohman bringt dies auf den Punkt:
existenz aller drei Bereiche anzugeben. Diese Sphäre
12. Verteidigung der Moderne 251

»Erstens erklärt er [Habermas] Welterschließung zu einer traumatischen Erfahrungen auf neue Weise betrach-
der Funktionen der Sprache; und zweitens versucht er ge- ten kann. Auch Prozesse gestörter Kommunikation,
nau diese Funktion philosophisch zu zähmen, indem er sie
die an fehlender Perspektivenübernahme kranken
auf den eingegrenzten kulturellen Bereich von Kunst und
ästhetischer Erfahrung beschränkt. […] Das Problem ist, sowie an dem Unvermögen, den Standpunkt des an-
dass Habermas’ weiter gehenden Konzessionen seine deren einzunehmen, und der Unfähigkeit, neue Vo-
Sprachphilosophie nicht so bereichern, wie sie das tun kabulare und Ausdrucksmöglichkeiten zu finden,
könnten. […] Welterschließung ist nicht mit Kunst ver- sind auf solche Umbau- und Reparaturmechanis-
knüpft, sondern sie hat mit Bedeutung zu tun, also mit den men angewiesen. In ihren besten Momenten verhilft
Bedingungen, um wahre Äußerungen und Aussagen zu
treffen, nicht mit Wahrheit selbst. Ist erst einmal eine kla- uns die Kunst – durch die Verwandlung oder Verklä-
rere Grenzziehung und Verbindung zwischen Geltung und rung des Gewöhnlichen (Arthur C. Danto) – dazu,
Erschließung hergestellt, hat Habermas nichts zu verlieren, etwas in dieser Richtung zu leisten; auch manche
wenn er einige jener allgemeineren Implikationen, die er Formen von Therapie, Tanz, Theater, Musik, Oper
für die Bedeutungstheorie fürchtet, einfach akzeptiert« oder Literatur sind dazu in der Lage. Mit anderen
(Bohman 1996, 198).
Worten: Die kommunikative und die welterschlie-
Die wichtigste dieser allgemeinen Implikationen ist ßende Funktion der Sprache brauchen einander viel-
die, dass Verwendungen von Sprache, wie man sie in leicht mehr und sind zweifellos stärker voneinander
Lyrik, Prosa und Dramatik findet und die Austin als abhängig, als es Habermas’ dreigliedriges Schema
›parasitär‹ gegenüber dem ›normalen‹ Sprachge- des theoretischen, praktischen und ästhetisch-ex-
brauch bezeichnete, eher einem reflexiven Sprachge- pressiven Vernunftgebrauchs vermuten lassen
brauch auf zweiter Stufe zuzuschlagen wären, bei würde. Hier eröffnet die Auseinandersetzung mit
dem einige Beschränkungen der wörtlichen Rede der Postmoderne neue Schauplätze und inspiriert
von kompetenten Sprechern vorübergehend außer künftige Arbeiten in der Tradition der kritischen
Kraft gesetzt und reflexiv modifiziert werden. Dieses Theorie (vgl. Wellmer 1985; J.M. Bernstein 1989 und
Vermögen, »Beschränkungen vorübergehend außer 1992; Seel 1985).
Kraft zu setzen« (Bohman 1996, 208), ähnelt sehr
dem Vermögen, in der Alltagspraxis kognitive Deu- Schluss
tungen mit moralischen Erwartungen und affektiv-äs-
thetischen Expressionen zu verbinden. Dabei ist stets Habermas’ Konfrontation mit dem modernen/post-
eine gewisse Kreativität, Verflüssigung und Auflo- modernen Denken ist einer der nachhaltigsten Ver-
ckerung verhärteter Muster und Strukturen gefor- suche in der Philosophie des 20. Jahrhunderts, sich
dert, die Fähigkeit, neue Konfigurationen zu erken- eine andere Tradition anzueignen, mit ihr ins Ge-
nen und Blockaden zu beseitigen. spräch zu kommen und immanente Kritik an ihr zu
üben. Habermas stellte hier seine außergewöhnli-
»Bei der Erschließung geht es also um den rhetorischen Ef- chen Fähigkeiten als immanenter Kritiker sowie als
fekt, der entsteht, wenn das Bündel alltäglichen Hinter- sorgfältiger und großzügiger, wenn auch streitbarer
grundwissens mit neuen Perspektiven und Annahmen
Leser unter Beweis. Seine Gesprächspartner wie
konfrontiert wird, so dass die Hörer einer Äußerung einen
neuen Interpretationsrahmen erwerben, mit dem sie die Derrida und Foucault waren entweder nicht in der
Starrheiten des alten modifizieren. Sofern ein ausreichen- Lage – wie Foucault, der 1984 starb – oder wie Der-
des Konfliktpotential zwischen diesen neuen Annahmen rida aus Gründen des Temperaments oder des philo-
und den etablierten alten Annahmen besteht, muss die ge- sophischen Stils nicht willens, das Kompliment zu
samte gemeinsame Welt, nicht nur die ursprüngliche Pro- erwidern.
blematik oder Interpretation, repariert oder umgebaut wer-
den« (Bohman 1996, 209). Doch erntete eine ganze Generation von neuen
kritischen Theoretikern die Früchte dieser Begeg-
Diese Umbau- oder Reparaturmaßnahmen von Per- nung und entwickelte sie auf anderen Feldern weiter.
spektiven und Interpretationsrahmen muss man sich Hierzu zählen eine neue Theorie sozialer Macht
nicht diachron als Aufeinanderfolge von einem welt- (Honneth und Fraser), der Feminismus (Benhabib,
erschließenden Bild nach dem anderen vorstellen. Butler, Fraser und Allen), neue Anläufe in der Wis-
Umbau und Reparatur können synchron in Prozes- senschafts- und Sprachphilosophie (McCarthy, Boh-
sen der alltäglichen Kommunikation erfolgen: So man), die Ästhetik (Wellmer, Menke, Seel und J. M.
geht es etwa in der therapeutischen Praxis darum, Bernstein) sowie neue Ansätze in der Demokratie-
das Individuum zu lehren, wie es seine eigene Ge- theorie (Bernstein, Brunkhorst, Benhabib, McCar-
schichte durch die Lockerung von Blockaden und thy).
252 III. Texte

Die späten 1980er Jahre waren durch eine kultu- Literatur


relle und politische Grundstimmung der Fragmen-
Aladjem, Terry K.: »Of Truth and Disagreement: Haber-
tierung, Dezentrierung und Betonung unversöhnli- mas, Foucault and Democratic Discourse«. In: History of
cher Gegensätze geprägt – für die jenes oft miss- European Ideas Jg. 20, 4–6 (Februar 1995), 909–914.
brauchte und missverstandene Wort ›Differenz‹ Allen, Amy R: The Power of Feminist Theory: Domination,
charakteristisch wurde. Doch war diese Konstella- Resistance, Solidarity. Boulder 1999.
tion nicht von Dauer. Der Beginn der 1990er Jahre –: »The Anti-Subjective Hypothesis: Michel Foucault and
the Death of the Subject«. In: Philosophical Forum Jg. 31,
brachte Europa den Bürgerkrieg in Jugoslawien, der 2 (Sommer 2000), 113–130.
die Sprache der ›Differenz‹ plötzlich hohl klingen –: »Systematically Distorted Subjectivity? Habermas and
ließ: Welche Differenzen galt es zu unterstützen, zu the Critique of Power«. In: Philosophy & Social Criticism
vertiefen und zu verteidigen? Und welche Formen 33 (2007), 641–650.
von Differenz führten zu tödlichen Konfrontationen –: The Politics of Our Selves: Power, Autonomy, and Gender
in Contemporary Critical Theory. New York 2008.
mit Andersheit? War die Sprache der Differenz nicht
Appadurai, Arjun: Modernity at Large. Cultural Dimensions
ein Vokabular der Hypertoleranz oder des Hyperli- of Globalization. Minneapolis 2000.
beralismus? Was waren die – moralischen, rechtli- Arendt, Hannah: Das Urteilen. Texte zu Kants politischer
chen und ethischen – institutionellen Voraussetzun- Philosophie. Hg. und mit einem Essay von Ronald Bei-
gen dafür, den Anderen in seiner Andersartigkeit zu ner. München/Zürich 1985.
Ashenden, Samantha/Owen, David (Hg.): Foucault Contra
belassen? Mit Nachdruck kehrte die normative Phi-
Habermas: Recasting the Dialogue between Genealogy
losophie zurück: Eine Theorie der Macht allein and Critical Theory. London 1999.
konnte uns in diesen Fragen keinesfalls weiterhel- Benhabib, Seyla: »Epistemologies of Postmodernism. A Re-
fen. joinder to Jean-François Lyotard«. In: New German Cri-
Die moderne/postmoderne Konstellation, die die tique 22 (1984), 103–126.
Dimension der Fragmentierung und Konfrontation –: Kritik, Norm und Utopie. Die normativen Grundlagen der
Kritischen Theorie. Frankfurt a. M. 1992 (engl. 1986).
insbesondere zwischen der Ersten und der Dritten –: »Zur Epistemologie und Politik der Differenz. Demo-
Welt betont hatte, sah sich nun mit dem Phänomen kratiekonzeptionen im Gefolge der Postmoderne«. In:
der Globalisierung konfrontiert. ›Der Kampf der Christoph Menke/Martin Seel (Hg.): Zur Verteidigung
Kulturen‹ fand vor dem Hintergrund einer wach- der Vernunft gegen ihre Liebhaber und Verächter. Frank-
senden sozioökonomischen, verkehrs- und kommu- furt a. M. 1993.
–: Selbst im Kontext. Kommunikative Ethik im Spannungs-
nikationstechnischen Integration sowie zunehmen- feld von Feminismus, Kommunitarismus und Postmo-
den und intensivierten Kontakten zwischen Natio- derne. Frankfurt a. M. 1995 (engl. 1992).
nen, Kulturen und Völkern statt. Heute sind die – /Butler, Judith/Fraser, Nancy/Cornel, Drucilla: Der Streit
Einsichten und Intuitionen des Postmodernismus um Differenz. Feminismus und Postmoderne in der Ge-
der 1980er Jahre in die kritischen Theorien der post- genwart. Frankfurt a. M. 1993.
Bernstein, J.M.: »The Causality of Fate: Modernity and Mo-
kolonialen Anthropologie und Geschichtsschrei- dernism in Habermas«. In: Praxis International Jg. 8, 4
bung eingeflossen, die vor dem Hintergrund einer (Januar 1989), 407–425.
fragmentierten, aber nichtsdestotrotz globalen Welt –: The Fate of Art: Aesthetic Alienation from Kant to Der-
über die Begegnung mit Andersartigkeit nachden- rida and Adorno. Cambridge 1992.
ken (Spivak 2003 und 2008; Appadurai 2000; Chak- Bernstein, Richard (Hg.): Habermas on Modernity. London
1985.
rabarty 2000). Der philosophische Diskurs der (und –: The New Constellation. The Ethical-Political Horizons of
über die) Moderne ist zu einem globalen Diskurs Modernity/Postmodernity. Cambridge, Mass. 1992.
geworden. Er beschränkt sich nicht mehr auf den Biebricher, Thomas: »Habermas, Foucault and Nietzsche:
europäischen Kontinent, sondern wird von Intellek- A Double Misunderstanding«. In: Foucault Studies Jg. 3
tuellen aus vielen Teilen der Welt geführt, die ihrer- (November 2005), 1–26.
Bohman, James: »Two Versions of the Linguistic Turn. Ha-
seits Erben jener potenten und ambivalenten Tradi- bermas and Poststructuralism«. In: Passerin d’Entrèves/
tion des westlichen Rationalismus sind. Es ist ein Benhabib 1996, 197–220.
Zeugnis der Stärke von Habermas’ Theorie, dass sie Borradori, Giovanna: Philosophie in Zeiten des Terrors. Zwei
einen Weg aufgezeigt hat, wie wir das Vermächtnis Gespräche: Jacques Derrida, Jürgen Habermas. Berlin/
der Aufklärung in einer neuen Welt denken kön- Wien 2004 (engl. 2003).
Butler, Judith: Das Unbehagen der Geschlechter. Frankfurt
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198–209. Faktizität und Geltung (1992)
Seel, Martin: Die Kunst der Entzweiung. Frankfurt a. M.
1985.
Snyder, Jon R.: The End of Modernity. Baltimore 1988. Ausgangspunkte: Entwicklung der politischen
Spivak, Gyatri: A Critique of Postcolonial Reason. Toward a
History of the Vanishing Present. Cambridge, Mass. 2003.
aus der theoretischen Philosophie
–: Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Habermas’ Theorie von Recht und Demokratie muss
Artikulation. Wien 2008.
Stahl, Bernd Carsten: »Whose Discourse? A Comparison zunächst als Teil eines Gesamtwerkes verstanden
of the Foucauldian and Habermasian Concepts of Dis- werden, das Fragen der theoretischen und der prak-
course in Critical IS Research«. In: Proceedings of the tischen Philosophie in einer für die Philosophie des
Tenth Americas Conference on Information Systems (Au- 20. und 21. Jahrhunderts ungewöhnlich intensiven
gust 2004), 4329–4336. Art und Weise integriert. Habermas selbst hat das
Swindal, James: »Comments on Amy Allen’s ›Systemati-
cally Distorted Subjectivity?‹«. In: Philosophy & Social Auseinanderfallen beider Perspektiven in der zuneh-
Criticism Jg. 33, 451 (2007), 456. mend arbeitsteilig operierenden philosophischen
Tate, John W.: »Kant, Habermas and the ›Philosophical Le- Landschaft beklagt (WR, ausdrücklich anders Rawls
gitimation‹ of Modernity«. In: Journal of European Stu- 2005, 374 ff.), aber eben auch mit dem eigenen Werk
dies Jg. 27, 3 (September 1997), 281–323. erfolgreich dementiert. Dabei hat er sich von Anfang
Tong, Shijun: »Habermas and the Chinese Discourse of
Modernity«. In: Dao Jg. 1,1 (2001), 81–105. an für Fragen der politischen Theorie interessiert,
Weber, Max: »Die protestantische Ethik und der Geist des aber ist diese – jenseits seiner ausgreifenden Produk-
Kapitalismus« [1905]. In: Ders: Die Protestantische Ethik tion als politischer Publizist – erst vergleichsweise
I. Eine Aufsatzsammlung. Hg. von Johannes Winckel- spät systematisch angegangen. Das Thema der De-
mann. Tübingen 61972. mokratie erscheint in seinem Werk früh (Habermas/
–: »Wissenschaft als Beruf« [1919]. In: Max Weber. Ge-
samtausgabe. Bd. 17. Hg. von Horst Baier, M. Rainer
Oehler/Friedeburg 1969). Demokratie bezeichnet
Lepsius, Wolfgang J. Mommsen, Wolfgang Schluchter hier aber noch weniger eine Frage angemessener
und Johannes Winckelmann. Tübingen 1992, 49–113. und legitimierter Institutionenbildung als vielmehr
Wellmer, Albrecht: Zur Dialektik von Moderne und Postmo- die politische Emanzipation der Bürgerinnen und
derne. Vernunftkritik nach Adorno. Frankfurt a. M. 1985. Bürger derart, dass diese die institutionellen Ange-
White, Stephen K. (Hg.): The Cambridge Companion to Ha-
bermas. Cambridge 1995.
bote einer demokratischen Ordnung auch zu wirkli-
Seyla Benhabib (Übers. Michael Adrian) cher Selbstbestimmung nutzen können. Demokra-
tietheorie steht im Frühwerk also noch nicht in ei-
nem rechtstheoretischen Zusammenhang.
Ein erster theoretischer Ausgangspunkt von Ha-
bermas’ politischer Theorie ist die materialistische
Gesellschaftstheorie. Aus ihr lässt sich der Anspruch
herleiten, Gesellschaftsanalyse, prima philosophia
und demokratische Rechtstheorie als einheitliches
Projekt zu verstehen. Habermas’ Position im Positi-
vismusstreit, seine Weigerung, sich auf ein »unpoli-
tisches« Wahrheitskriterium wie die empirische Fal-
sifikation Popper’scher Provenienz einzulassen,
wirkt insoweit deutlich bis in die Werkgenese der
späteren Schriften, auch von Faktizität und Geltung,
fort. Dieser Ausgangspunkt führt Habermas zu-
nächst zu einer historischen Aufarbeitung systema-
tischer Fragen: Der Strukturwandel der Öffentlich-
keit vollzieht die historische Untersuchung einer
zentralen systematischen Frage: der gesellschaftli-
chen Bedingungen einer kritischen Öffentlichkeit
als Voraussetzung demokratischer Selbstgesetzge-
bung. Charakteristischerweise ist diese Geschichte
in ihrer Ursprungsversion aus dem Jahr 1962 noch
13. Demokratie und Recht 255

sehr pessimistisch gehalten und gegenüber den Be- nen Elemente erscheint aber der Gesamtzusammen-
dingungen demokratischer Repräsentation seiner hang, in dem seine kommende Theorie politischer
eigenen Zeit sehr skeptisch, als eine Verfallserzäh- Legitimation durch Verfahren deliberativer Theorie
lung unter den Bedingungen eines von Massenme- stehen wird. Sie hat sich zunächst aus dem Kontext
dien geprägten Kapitalismus. Dieser Pessimismus einer Wahrheitstheorie entwickelt, die dann durch
weicht spätestens im Vorwort zur Neuauflage im die Diskurstheorie in eine Theorie moralischen Han-
Jahr 1990 ausdrücklich einer milderen Deutung, die delns überführt wurde. Seine Theorie von Recht und
nunmehr den Institutionen des demokratischen Demokratie erweist sich so als eine Fortsetzung von
Rechtsstaats eine geradezu konstitutive Wirkung für Wahrheits- und Moraltheorien: Habermas’ Theorie
die Verwirklichung legitimer Herrschaft zuweist – demokratischer Politik ist aus der Wahrheitstheorie
und die gerade mit dem Hinweis auf die demokrati- in die Ethik und aus der Ethik in die Demokratiethe-
sche Öffentlichkeit ein diesmal eher positives Ende orie migriert – und sie hat aus diesen Gebieten ent-
findet (FG, 435 ff.). Diese Wandlung lässt sich durch scheidende Elemente beibehalten.
Änderungen in der theoretischen Anlage ebenso er- Auch aus diesem Grund bekommt Habermas’ kri-
klären wie durch die positive Entwicklung einer kri- tische Auseinandersetzung mit der philosophischen
tischen Öffentlichkeit seit den 1960er Jahren in Postmoderne in Der philosophische Diskurs der Mo-
Deutschland. Charakteristisch für die Frühphase derne eine eigene Relevanz für die Entwicklung sei-
seines Werks ist in diesem Zusammenhang auch – ner politischen Theorie: Denn nur die Auseinander-
dies in Übereinstimmung mit dem oben erwähnten setzung mit der grundsätzlichen Rationalitätskritik
Anspruch an eine einheitliche Theoriebildung – die der Franzosen gestattet es, die epistemologischen
Herausarbeitung der politischen Relevanz anderer Voraussetzungen seiner eigenen politischen Theo-
sich vermeintlich ausdifferenzierender gesellschaft- rien zu sichern. Ohne die Möglichkeit der Rechtfer-
licher Bereiche wie beispielsweise der Naturwissen- tigung von Wahrheitsansprüchen kann es für Ha-
schaften und der Technik. Von Beginn an macht Ha- bermas auch keine Legitimation von Herrschaft ge-
bermas deutlich, dass es keinen Bereich der Gesell- ben. Wie immer man sich in dieser theoretischen
schaft gibt, der politischen Legitimationsproblemen Auseinandersetzung auch entscheidet: Schon auf
entgehen kann. den ersten Blick ist Habermas zuzugestehen, dass
Damit ist zugleich der Punkt benannt, in dem sich sich dieser Einwand gewissermaßen ex negativo da-
seine Theorie mit der Tradition des amerikanischen rin bestätigt, dass die postmoderne französischen
Pragmatismus verbinden lässt, die jedenfalls eine ka- Philosophie jedenfalls keinen gleichwertigen kon-
tegoriale Unterscheidung zwischen Fakten und Nor- struktiven Beitrag zur institutionellen politischen
men, damit aber auch zwischen Wahrheitstheorien Theorie zustande gebracht hat. Stattdessen werden –
und Legitimationstheorien in Frage stellt. Seine namentlich im Fall Michel Foucaults – politisches
durch den Pragmatismus stark inspirierte Verarbei- und theoretisches Engagement unverbunden neben-
tung wahrheitstheoretischer Fragestellungen findet einander betrieben, oder – wie im Falle Derridas –
ihre große systematische Formulierung in der Theo- einem aporetischen negativen Gerechtigkeitsidealis-
rie des kommunikativen Handels. Die Theorie des mus überlassen.
kommunikativen Handels enthält aber zumindest
implizit auch eine politische Theorie, die mit der Engerer Kontext: Politische Theorie
Form des kommunikativen Handelns und der Ge-
genüberstellung von System und Lebenswelt wich- Zu Beginn der 1990er Jahre hat Habermas seine ei-
tige Weichenstellungen für den Kontext seiner poli- gene Position in der Diskussionslandschaft der poli-
tischen Theorie enthält. Die Demokratietheorie ist tischen Theorie zu definieren. Diese Positionierung
damit Teil einer umfassenden Gesellschaftstheorie, lässt sich als schlüssige Fortsetzung älterer theoreti-
die nur unter den Bedingungen der Ausdifferenzie- scher Positionen verstehen, namentlich seiner alten
rungen funktionieren kann, wie sie namentlich in Frontstellung gegen einen szientistischen »Positivis-
Talcott Parsons Werk entwickelt und von Habermas mus« einerseits und gegen einen konservativen In-
rezipiert worden ist (FG, 90 ff., zum wichtigsten Ge- stitutionalismus andererseits. Für die Entwicklung
genentwurf, für den Parsons eine noch größere Rolle einer eigentlichen Demokratietheorie in Faktizität
spielt vgl. Luhmann 1993). und Geltung dient namentlich die Auseinanderset-
Vielleicht noch wichtiger für das Verständnis der zung zwischen Liberalismus und Kommunitarismus
Habermas’schen politischen Theorie als diese einzel- in der politischen Theorie der USA als der entschei-
256 III. Texte

dende theoretische Kontext. Es ist charakteristisch Legitimation und Institution: zum kritischen
für Habermas’ Denkstil im Allgemeinen, etwa in der Potential der Theorie
Theorie des kommunikativen Handelns, wie auch für
sein Vorgehen in der politischen Theorie, Positionen In Faktizität und Geltung, seinem politiktheoreti-
aus der Abarbeitung anderer Positionen zu entwi- schen Hauptwerk, beruft sich Habermas ausdrück-
ckeln und den eigenen Standpunkt in einer systema- lich auf Immanuel Kant als zentralen theoretischen
tischen Mittellage zwischen anderen Theorieschulen Gewährsmann. Diese Berufung bezieht sich aber
zu definieren. Für die politische Theorie hat er dies weder auf Kants scharfen normativen Individualis-
in Auseinandersetzung mit dem Liberalismus mus noch auf das weitgehende Fehlen einer eigentli-
Rawls’scher Prägung und dem Kommunitarismus chen Theorie politischer Institutionen in Kants
von Autoren wie Michael Walzer, Charles Taylor und Werk: In beiden Hinsichten geht Habermas augen-
Michael Sandel getan. Die von Habermas entwi- scheinlich anders vor, indem er mit der These der
ckelte Mittelposition grenzt sich einerseits von der Gleichursprünglichkeit der öffentlichen Autonomie
liberalen Unterstellung stabiler individueller Präfe- eine stärkere Rolle gibt als Kant, und indem er sich
renzen ab, die in die demokratische Willensbildung deutlich konkreter zum institutionellen Design des
schlicht eingefügt werden muss. Diese Kritik an ei- demokratischen Rechtsstaats verhält. Vielmehr geht
nem liberalen Empirismus, der demokratische Wil- es Habermas bei seiner Berufung auf Kant zunächst
lensbildung als Aggregation und einzelne Stimmen um die kompromisslose Normativität seines theore-
gewissermaßen als Fakten behandelt, kann gut an tischen Ausgangspunktes: Seine von Beginn an deut-
die Positivismuskritik anschließen. Andererseits liche Wendung gegen jede Selbstzweckhaftigkeit von
wendet sie sich auch gegen einen unmittelbaren legi- Institutionen (in für Habermas’ intellektuelle Ent-
timatorischen Wert von Traditionen und kulturellen wicklung wichtiger Weise etwa formuliert von kon-
Kontexten, gegen die Reifizierung wirklicher oder servativen Autoren wie Arnold Gehlen und Ernst
nur behaupteter kultureller Identitäten. Auch hier Forsthoff) verbindet sich hier mit einer Konzeption
kann Habermas’ alte Kritik an einem institutionalis- von Vernunft, die vielleicht an praktische kognitive
tischen Denken eine bündige Fortsetzung finden. In Grenzen stoßen kann, aber deswegen doch keinerlei
diese Zusammenhänge gestellt, wird bereits jetzt normative Ausnahmen zulassen darf.
deutlich, dass es sich bei der politischen Theorie Ha- Die eigentliche Pointe dieses Zugangs – vielleicht
bermas’ in einem emphatischen und doppelten Sinne aber auch seine prekärste Bruchstelle – besteht in der
um eine Demokratietheorie handelt: zum einen, weil Frage, inwieweit und auf welche Art und Weise eine
sie keine politische Legitimation jenseits demokrati- solche Argumentation in der Lage ist, sich auf fakti-
scher Verfahren anerkennt – und zum anderen, weil sche historische oder politische Entwicklungen ein-
sie eine echte Theorie der eigentlichen demokrati- zulassen. Erkennt man, wie intensiv in der Theorie
schen Willensbildung darstellt, die es ablehnt, demo- des kommunikativen Handels die Fundierung der
kratische Legitimation auf die Addition individuel- Konzeption des kommunikativen Handelns auch aus
ler Beiträge zu reduzieren. Jenseits des systemati- empirischen Einsichten über intersubjektives Kom-
schen Ertrags zeigt dieses Vorgehen auch eine munikationsverhalten geleistet wird, so wirkt der
denkmethodische Konzeption, die für die politische Zugang in Faktizität und Geltung deutlich anders –
Theorie eine eigene Bedeutung hat: Denn die Defi- und weicht auch vom von Habermas beanspruchten
nition einer Mitte zwischen Kommunitarismus und Kantianismus ab. Aus einer politischen Außenper-
Liberalismus wird sich in der wichtigen systemati- spektive scheint der kritische Anspruch, den Haber-
schen These von der Gleichursprünglichkeit privater mas’ Theorie erhebt, auf dem Weg von der Anrufung
und öffentlicher Autonomie fortsetzen, sehen doch der frühen Kritischen Theorie in Theorie des kom-
liberale Theorien regelmäßig individuelle Freiheit munikativen Handels bis zur milde wohlwollenden
als den ursprünglichen Bezugspunkt ihrer Theorie- Beurteilung des demokratischen Rechtsstaats westli-
bildung, während kommunitaristische Theorien ge- cher Prägung in Faktizität und Geltung wie auch im
rade umgekehrt bei der Vergemeinschaftung anset- Vorwort zur Neuauflage von Strukturwandel der Öf-
zen. fentlichkeit einer deutlichen Relativierung unterzo-
gen worden zu sein. Dies ist umso bemerkenswerter,
weil sich diese Entwicklung mit der methodischen
Entwicklung zu überkreuzen scheint: Je normativer
der Zugang, desto gemäßigter das gesellschafts- und
13. Demokratie und Recht 257

institutionenkritische Ergebnis (FG), und umge- Robert Alexy (1983, 1986) und Klaus Günther
kehrt: je empirieoffener der Zugang, desto deutli- (1988).
cher das kritische Potential (TKH). Mit Hilfe dieser Autoren ließe sich eine andere
Liest man aus dieser Sicht Faktizität und Geltung Konzeption von Recht entwerfen, die die normati-
mit einem geschärften Blick, so erscheint die Argu- ven Standards der Diskurstheorie dem juridischen
mentation weniger als die axiomatische Herleitung Diskurs auf eine viel grundsätzlichere Art einbe-
einer politischer Ordnung, wie man sie etwa in Kants schreiben konnte. Mit der »Sonderfallthese« (Alexy
Konstruktion der Gewaltenteilung findet (Kant 1983, 259 ff.), die den juristischen Diskurs als Spezi-
1797, § 45 f.), denn vielmehr als eine Rekonstruktion alfall des allgemeinen praktischen Diskurses ver-
bestehender Institutionen vor der Folie einer auf po- steht, konnten sich die von Habermas entwickelten
litische Prozesse hin ausgebauten Diskurstheorie. diskurstheoretischen Mechanismen der Rechtferti-
Das theoretische Programm von Faktizität und Gel- gung von Geltungsansprüchen unmittelbar in die ju-
tung wird dem demokratischen Rechtsstaat gewis- ristische Argumentation, also in die Auslegung des
sermaßen angetragen. Die Spannung zwischen »Fak- Rechts integrieren lassen: Juristische Argumente
tizität und Geltung« wird damit allerdings in dem funktionieren aus dieser Perspektive nicht mehr al-
gleichnamigen Buch allenfalls punktuell kritisch ab- lein auf Seiten der Systemimperative der Rechtsord-
gearbeitet, wohl noch am ehesten bei der kritischen nung, sondern sie verstehen sich als eine besondere
Analyse der Verfassungsgerichtsbarkeit. So erscheint Form von Rechtfertigungsdiskurs. Das Recht wech-
das Buch in seiner Methode – nicht zuletzt auch selt damit in Habermas’ Werk bis zu einem gewissen
durch den triadischen Stil seiner Argumentation, die Grad die Fronten vom System in Richtung kommu-
die eigene Position zwischen verschiedenen Theo- nikatives Handeln – oder es bewegt sich jedenfalls
riepositionen herausarbeitet – als ein auch Hegel auf dieser Grenze. Recht ist nunmehr »als ein Me-
verpflichtetes Werk – freilich dem Hegel als Philoso- dium [zu] betrachten, über das sich kommunikative
phen der Freiheit, den Habermas selbst als Theoreti- Macht in administrative umsetzt« (FG, 187).
ker der Französischen Revolution gegen Joachim Diese Entwicklung seines Werkes erstaunt nicht,
Ritter verteidigt hat (TP), nicht dem Theoretiker ei- wenn man sich die Konstruktion der Diskurstheorie
ner objektiv gewordenen Sittlichkeit. noch einmal ansieht. Die Diskursbedingungen sind
in der Tat einem rechtlich organisierten Verfahren
sehr ähnlich. Die Struktur eines Verfahrens, in dem
Recht
allen Betroffenen Gehör einzuräumen ist, in dem
Recht spielt in Habermas’ Werk erst sehr spät eine jede Entscheidung durch Gründe plausibel machen
eigenständige Rolle. Noch in der Theorie des kom- muss, dass sie das zu Gehör Gebrachte auch verar-
munikativen Handels erscheint Recht nur knapp als beitet hat, und in dem sich sowohl die geäußerten
ein strategischer Diskurs, also als ein Mittel, das die Geltungsansprüche als auch die Entscheidung über
Offenlegung von Geltungsansprüchen hinter instru- diese am Maßstab einer verallgemeinerbaren Regel
mentellen Mitteln verbirgt. Insoweit ist die Rechts- messen lassen müssen, die ihrerseits in einem sol-
konzeption bis zu diesem Zeitpunkt auch noch stark chen Verfahren entstanden ist, erinnert nicht nur
der Weber’schen Idee des Rechts als eines formalisie- von Ferne an die Tradition des fairen Gerichtsver-
renden Mittels zweckrationaler Organisation ver- fahrens.
pflichtet, freilich – anders als bei Weber – vor dem Die Unterscheidung zwischen Rechtsanwen-
Hintergrund einer Theorie kommunikativen Han- dungs- und Rechtssetzungsdiskursen (Günther
delns, die deutlich anspruchsvollere und normativ 1988) ergänzt die Verknüpfung zwischen Rechts-
gehaltvollere Rationalitätserwartungen zu begrün- form und Diskurstheorie um ein weiteres Element:
den sucht. Diese kritische, aber letztlich auch ver- Mit der Idee des Rechtsanwendungsdiskurses wer-
gleichsweise desinteressierte Beurteilung des Rechts den die Standards der Diskurstheorie in die gericht-
scheint sich im Laufe der 1980er gewandelt zu haben liche Praxis hineingelesen. Das gesetzte Recht wird
und wird in Faktizität und Geltung weitestgehend zu einem Maßstab, der sich aber in seiner Anwen-
revidiert. Hierzu haben sicherlich auch rechtstheo- dung seinerseits einem diskurstheoretischen Stan-
retische Autoren beigetragen, die Habermas’ Bei- dards genügenden Verfahren zu stellen hat. Das so
träge zu Diskurstheorie und kommunikativem Han- erweiterte Modell gestattet es Habermas, zu ver-
deln sogleich für die rechtsphilosophische Diskus- schiedenen theoretischen und praktischen Fragen
sion nutzen wollten: zu nennen sind vor allem der Rechts- und Demokratietheorie eine systema-
258 III. Texte

tisch begründete Antwort zu geben. Die Figur des sich so nicht rechtfertigen. Konsequenterweise be-
Rechtsanwendungsdiskurses erlaubt es der Theorie, handelt Habermas in Faktizität und Geltung die Ver-
auf die problematische Figur der »Urteilskraft« zur fassungsgerichtsbarkeit besonders skeptisch (FG,
Analyse der Regelanwendung zu verzichten. Denn 324 ff.). Bei diesen Überlegungen hat er im Übrigen
mit dem Hinweis, dass eine Regel ihre eigene An- – eine selten hervorgehobene Pionierleistung – die
wendung nicht definieren könne, ist in der Kanti- amerikanische Diskussion zur Legitimation der Ver-
schen Theorie zugleich der Verweis auf einen die fassungsgerichtsbarkeit nach Deutschland impor-
Entscheidung prägenden »Gemeinsinn« (Kant 1790, tiert. Trotzdem stellt sich auch in diesem Zusam-
§ 21) verknüpft, der sich seinerseits nicht in die menhang die Frage, was von der Kategorie des
Habermas’sche Theoriekonzeption einfügen lässt. Grundrechts bleibt, wenn sie nicht zumindest auch
Mit der Figur des Rechtsanwendungsdiskurses soll einen interpretatorischen Eigensinn entfalten kann,
nicht auf die Bindung von Verwaltung und Gerich- der sich jedenfalls im Einzelfall gegen den demokra-
ten an das demokratische Gesetz verzichtet werden, tischen Gesetzgeber richten mag. Ist dieser Eigen-
ganz im Gegenteil spielt die Gesetzesbindung für de- sinn von den meisten demokratischen Verfassungen
ren Legitimation eine zentrale Rolle. relativ eindeutig formuliert, so werden sich seine
Trotzdem kann man auch an dieser Stelle fragen, Wirkungen – bei aller berechtigter Kritik an der
inwieweit die Theorie den eigentlichen Leistungen nicht seltenen Entscheidungsanmaßung von Verfas-
der Rechtsform tatsächlich gerecht werden kann, sungsgerichten – wohl auch nicht vollständig in den
oder ob sie nicht den Eigensinn dieser Form gerade Bahnen der Ermöglichung demokratischer Politik
verfehlt (Lieber 2007). Wenn es nämlich zwischen auflösen lassen, mit denen Habermas die Verfas-
der Anwendung des Rechts und seiner Setzung kei- sungsgerichtsbarkeit zu begrenzen sucht. Aus die-
nen kategorialen Unterschied geben darf, weil beide sem Grund wird man fragen, ob es nicht innerhalb
derselben Verfahrenslogik unterliegen müssen, dann seines Theoriedesigns konsequenter erschiene, wenn
ist nicht wirklich klar, wozu es der formalen Bin- Habermas allein mit dem Begriff des durch das de-
dungswirkung von Recht bedarf, denn im Prinzip mokratische Gesetz garantierten subjektiven Rechts
können alle Fragen, auch die, die das demokratische arbeiten würde, aber auf das Konzept des verfas-
Recht eigentlich bereits entschieden haben sollte, im sungsunmittelbaren Grundrechts verzichten würde
Diskurs wieder thematisiert werden. So bleibt die (Lieber 2007, 197). Schließlich könnte die Privilegie-
Unterscheidung zwischen legislativen und gerichtli- rung einer demokratischen Ausgestaltung subjekti-
chen Verfahren, namentlich die überlieferte Kombi- ver Rechte vor der gerichtlichen Überprüfung eben
nation aus Gesetzesbindung und Unabhängigkeit der demokratischen Gesetzgebung am Maßstab von
von Gerichten letztlich unerklärt. Rechtsanwen- Grundrechten die These von der Gleichursprüng-
dungsdiskurse haben sich an den allgemeinen Krite- lichkeit privater und öffentlicher Autonomie in
rien der Diskurstheorie zu orientieren. Gerichtsver- Frage stellen. Auch hier bleibt der Eigensinn der
fahren funktionieren dann nicht anders als Gesetz- Rechtsform gegenüber politischen Legitimations-
gebungsverfahren im Kleinen. Damit tritt aber auch verfahren ungewiss. Sein strenger, letztlich öffentli-
das für eine positive Rechtsordnung ganz zentrale che Autonomie privilegierender Zugang zur Grund-
Versprechen formaler Gleichheit, wohl der eigentli- rechtsinterpretation steht wohl auch in einem gewis-
che Eigenwert des Rechts, stark in den Hintergrund. sen Widerspruch zu Habermas’ Verständnis von
Ein strukturell ähnlicher Einwand lässt sich mit Rekonstruktion der Konstitutionalisierung der in-
Blick auf Habermas’ Theorie der Grundrechte for- ternationalen Ordnung, die gerade der grundrechtli-
mulieren. Denn Grundrechte sind in Habermas’ chen Perspektive den Vorrang zu geben scheint.
Theorie vielleicht moralisch begründbar (Forst
2007), aber in jedem Fall durch den Gesetzgeber zu
Demokratietheorie
konkretisieren. Sie fungieren als »ungesättigte Platz-
halter« (FG, 160). »Sie müssen von einem politischen Gleichursprünglichkeit privater und öffentlicher Auto-
Gesetzgeber je nach Umständen interpretiert und nomie: Der systematische Ausgangspunkt von Ha-
ausgestaltet werden« (ebd., 159, Hervorh. dort; noch bermas’ Theorie demokratischer Herrschaft ist in
deutlicher Maus 1995). Eine institutionelle Absiche- der Tat kantisch inspiriert. Es ist die von Habermas
rung von Grundrechten durch deren verfassungsge- so bezeichnete »Gleichursprünglichkeit« (der Aus-
richtliche Interpretation, die sich gerade auch gegen druck scheint von Schelling zu stammen) von priva-
den demokratischen Gesetzgeber richten kann, lässt ter und öffentlicher Autonomie. Der Raum priva-
13. Demokratie und Recht 259

ter Freiheit und der Raum öffentlicher Partizipa- dung einzubringen. Erst die Einhaltung der Diskurs-
tion an demokratischer Herrschaft stehen in regeln, erst die Verwendung von verallgemeine-
Habermas’ Konstruktion gleichberechtigt nebenei- rungsfähigen Begründungen konstituiert einen
nander, schließen einander also nicht aus, sondern legitimationsgenerierenden Diskurs. Dies ist freilich
müssen in ein sich wechselseitig verstärkendes Ver- nicht notwendig als eine moralische Pflicht zu einem
hältnis gebracht werden. Dieser Gedanke findet sich bestimmten Verhalten zu verstehen (so aber bei
im Ansatz in der Kantischen Rechtslehre, die mit ih- Forst 2007), sondern erst einmal nur die kognitive
rem einheitlichen Begriff von Freiheit, dem »einzi- Beschreibung eines äußerlich bleibenden normati-
gen Menschenrecht« eben nicht zwischen privater ven Zusammenhangs. Diese Konstruktion stellt sich
und öffentlicher Freiheit unterscheidet. allerdings gegen ein voluntaristisches Modell von
Öffentliche und private Autonomie setzen einan- Demokratie, das demokratische Legitimation nur als
der in Habermas’ Rekonstruktion voraus. Ohne glei- bloße Abgleichung unwandelbarer Interessen und
che politische Beteiligungschancen ist eine sinnvolle Präferenzen versteht, und sich damit leicht einer
private Selbstbestimmung nicht möglich, aber auch ökonomisch inspirierten Kritik öffnet. Es stellt sich
nur aus der Möglichkeit zu dieser kann eine mün- auch gegen ein kollektives voluntaristisches Modell,
dige Teilhabe an der politischen Willensbildung ent- das mit einem starken Begriff kultureller Identität
stehen. Institutionell abgebildet wird dieser Zusam- arbeitet, der in der Habermas’schen Theorieanlage
menhang in der wechselseitigen Verstärkung von in das Reich der ethischer Eigenart gehört, die zwar
individuellen Rechten und demokratischen Wahl- einen gewissen Schutz der demokratischen Gemein-
verfahren. Diese wichtige Einsicht gestattet es, die le- schaft erwarten kann, aber die eigenen weltanschau-
gitimatorischen Grundlagen demokratischer Rechts- lichen Präferenzen nicht ohne Weiteres, jedenfalls
staaten nicht als eine hierarchische Ordnung, son- nicht ohne vermittelnde Begründungsleistung in
dern als einen diskursiven Zirkel zu rekonstruieren den demokratischen Diskurs eingeführt werden
(elegante Darstellung bei Gerstenberg 1997), in dem kann.
die drei Gewalten in einen gleichberechtigten Ar- Auf der anderen Seite hebt sich Habermas’ Theo-
beitszusammenhang eintreten können (Möllers rie aber auch von expertokratischen Demokratie-
2008). Für die staatsrechtliche Seite ist es wichtig zu konzeptionen deutlich ab, die nicht selten gleichfalls
sehen, dass in dieser Rekonstruktion Rechtsstaat- unter dem Label »deliberative Demokratie« operie-
lichkeit und Demokratie nicht in einem Wider- ren: Die Versuchung, aus dem Erfordernis gleicher
spruch zueinander stehen, sondern sich wechselsei- Gründe, eine Konzeption herzuleiten, in der das
tig bedingen und verstärken (EA, 293 ff.). Habermas’ reine »Expertengespräch« demokratische Legitima-
eigene Rekonstruktion der Aufgabe des Rechts, ins- tion stiftet, ist gerade in der Theorie internationaler
besondere der Grundrechte, muss dabei nicht als Beziehungen erkennbar groß, die nicht berechtigte
zwingende Konsequenz aus seiner Gleichursprüng- Berufung auf die Theorie Habermas’ erstaunlich ver-
lichkeitsthese verstanden werden. Mit dieser These breitet (als ein warnendes Beispiel vgl. Slaughter
sind damit nicht nur viele konkretere institutionelle 2004, 203 ff.). Die Notwendigkeit eines Verfahrens
Anschlussmöglichkeiten verbunden. Sie gestattet es öffentlicher Debatte gestattet es nicht, die demokra-
auch, die Mittelposition seiner Theorie zwischen Li- tische Entscheidung durch eine Debatte zu ersetzen,
beralismus und Kommunitarismus überzeugend zu schon gar nicht durch eine solche, an der nicht alle
fundieren. Zugleich schließt die diesem Modell ein- mit gleicher Stimme teilhaben können (zur Rekon-
geschriebene permanente Bewegung und Verfah- struktion des Verhältnisses von Deliberation und
rensbezogenheit jegliche Form von Substantialisie- Demokratie vgl. Lafont 2006).
rung von Legitimation aus. Auch dies wird der The- Trotzdem wird man die Frage stellen können, ob
orie nicht selten zum Vorwurf gemacht (Pfordten die wahrheitstheoretische Provenienz der Haber-
2000). mas’schen Demokratietheorie nicht zu überhöhten
Eine Theorie der Demokratie, die aus der Wahr- Erwartungen an demokratische Institutionen führt
heitstheorie und der Theorie moralischer Rechtferti- und ihnen allzu anspruchsvolle Aufgaben zuweist –
gung kommt, wird auf die Begründbarkeit von poli- und damit zugleich die legitimatorische Bedeutung
tischen Entscheidungen einen besonderen Wert le- einer freien Beteiligung ohne Begründungsleistung
gen. In der deliberativen Demokratietheorie entsteht zu gering achtet. Ein Gedankenexperiment: Wenn
Legitimation durch die gleiche Chance, seine eige- eine Wahl, die im Anschluss an eine deliberative De-
nen Geltungsansprüche in die Entscheidungsfin- batte entschieden wird, aufgrund eines Formfehlers
260 III. Texte

wiederholt wird, und nunmehr, obwohl Zeit zu einer wenn sich solche Kommunikationsformen entwi-
solchen bestanden hätte, ohne jede Debatte anders ckeln, kann es demokratische Öffentlichkeit geben
ausgeht, fehlt es dann dieser zweiten Wahl an Legiti- (FG, 187 ff., 435 ff.). Das bedeutet für Habermas auch
mation? Anders formuliert, wird man zugestehen – und hier kommt der Begriff der ›Zivilgesellschaft‹
müssen, dass die Fähigkeit zum Geben und Nehmen ins Spiel (Cohen/Arato 1992) –, dass die Gesellschaft
von Gründen und der kognitive Nutzen von Begrün- sich in vielfältige asymmetrische Assoziationen glie-
dungen für die Bestimmung und Weiterentwicklung dern muss, innerhalb derer und zwischen denen
eigener und fremder Positionen für die demokrati- Kommunikation ermöglicht wird. Ein reines Gegen-
sche Willensbildung unabdingbar ist, dass diese An- über von atomisiertem Individuum und demokrati-
forderungen aber deutlich schwächer sind als die Er- scher Willensbildung aller ohne Vermittlungsinstan-
wartung eines wirklichen Austauschs von Gründen zen ist praktisch ausgeschlossen und wäre normativ
innerhalb des demokratischen Prozesses. Dienen öf- auch nicht erwünscht. Lebensweltliche Erfahrungen
fentliche Debatten in Medien und Parlamenten tat- können allein durch zivilgesellschaftliche Strukturen
sächlich einem wirklichen Austausch von Argumen- für den demokratischen Prozess aufbereitet werden.
ten, also einem normativen Erfordernis, oder doch Aber die Kommunikation innerhalb der Zivilgesell-
vielleicht nur dem kognitiven Abgleich verschiede- schaft unterliegt auch anderen Logiken, namentlich
ner Positionen, die eben erst einmal öffentlich zur derjenigen des Marktes. Die in der Gleichursprüng-
Kenntnis gebracht werden müssen, bevor über sie lichkeitsthese angelegte doppelte Bedrohung jedes
entschieden werden kann (so wohl Rawls 2005, freiheitlichen Kommunikationsprozesses zeigt sich
385 ff.). Ein emphatischer, gegenüber Vernunft ver- in diesem Zusammenhang namentlich mit Blick auf
selbstständigter Begriff von Politik ist dieser Demo- die Medien. Die private Autonomie kann zu einem
kratietheorie ebenso fremd wie ein Konzept der Pro- Medienmarkt führen, der seine Aufmerksamkeit al-
duktivität andauernder Dissense (Engländer 2002, lein nach wirtschaftlichen Kriterien bemisst. Die
157 ff.). staatliche Ermöglichung öffentlicher Räume macht
Ausgeschlossen sollte es aber auch auf Grundlage diese von den politischen Institutionen abhängig,
dieser Theorie bleiben, Begründungsleistungen als die doch gerade durch Öffentlichkeit kontrolliert
rechtliche Pflichten in die Freiheitsordnung einzu- werden sollen.
bauen. Solche Pflichten würden sowohl die Möglich-
keiten freier Meinungsäußerung als auch demokra- Religion im demokratischen Verfassungsstaat: Nicht
tischer Beteiligung empfindlich verletzen. Denn jede weit entfernt von der These Ernst-Wolfgang Böcken-
Möglichkeit, mit Sanktionen beurteilen zu können, fördes, dass der neutrale-säkulare Staat von Voraus-
was als »guter Grund« für den öffentlichen Diskurs setzungen lebe, die er selbst nicht garantieren könne
zugelassen werden kann, was aber andererseits als (Böckenförde 2007, 43), scheint auch Habermas der
bloße Kundgabe einer Weltanschauung oder als Religion eine zweifache Rolle im demokratischen
bloße Beleidigung auszuschließen ist, würde unwei- Staat zuzuweisen. Auf der einen Seite hat der demo-
gerlich zu einer Verletzung demokratischer Gleich- kratische Staat sich als ein weltanschaulich neutrales
heit führen. Selbstbestimmung mag die Fähigkeit Gemeinwesen aus allen Religionsangelegenheiten
voraussetzen, sich rechtfertigen zu können; aber der herauszuhalten – wie auch umgekehrt religiöse An-
Schutz der Selbstbestimmung muss auch davor sprüche nicht einfach in den demokratischen Wil-
schützen, sich stets rechtfertigen zu müssen. An die- lensbildungsprozess eingespeist werden dürfen. Auf
ser Grenze zwischen moralischer Verpflichtung und der anderen Seite finden sich in der Genesis des de-
rechtlicher Sanktionierung zeigt sich zudem wiede- mokratischen Rechtsstaats auch religiöse Beiträge.
rum der egalitäre Eigensinn der Rechtsform. Es gibt einen positiven Beitrag von Religion, aber
dieser betrifft die kulturelle Unterseite demokrati-
Kommunikative Macht, Zivilgesellschaft, Öffentlich- scher Rechtsordnungen und die Bereitschaft der Be-
keit: Wenn Recht die Verwandlung kommunikativer teiligten, sich auf bestimmte ihrerseits säkulare insti-
Macht in administrative Macht darstellt, dann be- tutionelle Arrangements einzulassen (NR, 106 ff.,
darf es kommunikativer Macht. In Anschluss an 110). Das Erfordernis religiöser Neutralität ist inso-
Hannah Arendts Analyse (Arendt 1970) erkennt Ha- weit eine schlüssige Konsequenz eines deliberativen
bermas gesellschaftliche Macht in gesellschaftlichen Demokratiemodells und der Unterscheidung zwi-
Kommunikationsprozessen, in einer offenen, aber schen Moral und Ethik in Habermas’ Theorie. Wäh-
gemeinsamen Meinungsbildung am Werk. Nur rend die moralischen Gebote der Diskurstheorie
13. Demokratie und Recht 261

nicht nur für die demokratische Willensbildung re- Historisch entstandene Identitäten haben jedenfalls
levant sind, sondern diese geradezu konstituieren, keinen Eigenwert, der keiner weiteren normativen
entziehen sich ethische Imperative der im demokra- Rechtfertigung bedürfte. Andernfalls könnte die Be-
tischen Prozess erforderlichen Begründungsleistung. rufung auf solche Eigenheiten die gleiche Freiheit
Diese können zwar grundrechtlich geschützt wer- anderer Betroffener, die diese Eigenheiten nicht tei-
den, aber sie können keinen eigenständigen Beitrag len, verletzen.
zum demokratischen Diskurs leisten. Diese Relativierung spezifischer kollektiver Iden-
Die Religion bietet freilich ein besonders an- titäten öffnet auch den Begriff der Bürgerschaft (FG,
schauliches Feld für die Frage, wie sich »gute 632 ff.). Denn eine demokratische Gemeinschaft
Gründe« von einer Deliberation fremder Weltan- kann sich dem Anliegen anderer Personen, mit Bür-
schauung genau abgrenzen lassen können. Haber- gerrechten versehen zu werden, nicht einfach unter
mas zieht hier deutliche Grenzen, wenn er etwa aus- Hinweis auf Tradition, kulturelle Identität oder Eth-
schließt, dass sich demokratische Parteien in ihrer nie verschließen. Soweit die Betroffenen dem Herr-
Programmatik auf Religion berufen können (NR, schaftsbereich der demokratischen Gemeinschaft
133 ff.). Ob die Offenheit demokratischer Willens- unterworfen sind, bleibt der Ausschluss prekär. Aber
bildung nicht durch solche Unterscheidungen ge- auch Flüchtlinge und Staatenlose haben einen An-
fährdet würde, würden sie Elemente eines praktisch spruch auf Anerkennung, der eine grundlose Exklu-
wirksamen Entscheidungsprogramms, bleibt jedoch sion verbietet. Mit einer solchen vernünftigen perso-
die Frage. nalen Öffnung des demokratischen Staates öffnen
sich notwendig auch die jeweiligen nationalen de-
Bürgerschaft und Verfassungspatriotismus: Schon vor mokratischen Kommunikationsräume. Demokrati-
der Entfaltung seiner Theorie in Faktizität und Gel- sche Identitäten erweisen sich als wandlungsfähige
tung rezipierte Habermas den Begriff des »Verfas- Gebilde, demokratische Öffentlichkeiten können
sungspatriotismus«, den Dolf Sternberger anlässlich damit beginnen, sich grenzüberschreitend zu orien-
des 30. Geburtstages des Grundgesetzes entwickelt tieren und einen transnationalen Diskursraum zu
hatte (Sternberger 1979/1990; s. Kap. IV.32). Für den bilden (PN, 91, 149 ff.). Die Nation bedarf der offe-
liberalen Konservativen Sternberger stellte sich das nen Republikanisierung (EA, 154 ff.). Dies führt zum
Problem, einen Begriff von Patriotismus, also einer Problem der Demokratie jenseits des Nationalstaats.
affektiven Anhänglichkeit an die politische Ordnung
zu entwickeln, der sich ohne Nationalstaat, konkret:
Demokratie jenseits des Staats
auch angesichts der deutschen Teilung, gebrauchen
ließ. Unter Rückgriff auf historische Formen des vor- Europa (s. Kap. III.14): Getreu seinem Misstrauen in
nationalstaatlichen Patriotismus in Deutschland ent- jeden selbstzweckhaften Anspruch von Institutionen
wickelte er dazu die Konzeption des Verfassungspa- kann Habermas die von ihm entwickelten Legitima-
triotismus, eines bürgerschaftlichen Stolzes, der sich tionsmechanismen nicht einfach an eine bestimmte
nicht auf die nationale Identität, sondern auf die ver- Institution, auch nicht an den Nationalstaat binden.
fassungsrechtliche Ordnung, in diesem Fall das In einer wichtigen Diskussion mit Dieter Grimm
Grundgesetz, beziehe. Habermas übernahm diese (Grimm 1995) über die Demokratiefähigkeit eines
Begriffsbildung (NR, 111), und gab ihr keine völlig vereinten Europas hat Habermas folgerichtig die
andere Bedeutung. Für Habermas ist eine demokra- Entwicklungsmöglichkeiten der europäischen Inte-
tische Verfassungsordnung zunächst einmal Aus- gration betont und herausgestrichen, dass die Form
druck wechselseitiger Achtung der Bürger, die die des Staates keine notwendige Bedingung der Mög-
Verfassung in Kraft gesetzt haben und sich nunmehr lichkeit demokratischer Legitimation darstellt (EA,
mit ihrer Hilfe selbst regieren. Affektive Anhäng- 185 ff.). Die Entstehung einer europäischen Öffent-
lichkeit an diese Verfassung ist die emotionale Seite lichkeit, eines Diskursraumes, innerhalb dessen po-
dieser Anerkennung, die im Begriff der demokrati- litische Entscheidungen auf europäischer Ebene dis-
schen Verfassung enthalten ist. Jeder Republikaner kutiert und kontrolliert werden können, erscheint so
ist in dieser Sicht jedenfalls zunächst ›Vernunftre- als eine Möglichkeit, die auch nicht notwendig mit
publikaner‹. Mit dieser Rekonstruktion ist ein star- bestimmten sozialen Bedingungen wie einer ge-
ker, allein an nationalen Eigenheiten ausgerichteter meinsamen Sprache verbunden sein muss. Gerade
Begriff von Patriotismus ausgeschlossen, wie er etwa umgekehrt kann auch die institutionelle Fortschrei-
auch von manchen Kommunitaristen vertreten wird. bung des Integrationsprozesses Einfluss auf die ge-
262 III. Texte

samteuropäische gesellschaftliche Entwicklung neh- stimmten und nicht selbstbestimmten Staaten zu


men und dazu führen, die gesellschaftlichen Vo- seiner Grundlage macht, setzt er sich eingehend aus-
raussetzungen einer europäischen Demokratie, einander, um sie im Ergebnis zu verwerfen. Eine sol-
insbesondere das Entstehen eines europäischen Par- che offene Politisierung des Völkerrechts erscheint
teiensystems, zu verbessern (PN, 149 ff.). Habermas nicht mit der notwendigen wechselseiti-
Obwohl es für Habermas keine Legitimation von gen Anerkennung der Mitglieder der Staatenge-
Herrschaft ohne demokratische Verfahren geben meinschaft vereinbar zu sein. Zwar setzt die Konsti-
kann, hängt das Entstehen einer europäischen De- tutionalisierung des Völkerrechts auf die Anerken-
mokratie also nicht an irgendwelchen staatstheoreti- nung und schrittweise Ermächtigung des Indivi-
schen Standards gesellschaftlicher »Homogenität« duums, die in den Institutionen des internationalen
(EA, 154 ff.). Die in der staatsrechtlichen Diskussion Menschenrechtsschutzes und des Internationalen
wie auch in der Rechtsprechung des Bundesverfas- Strafgerichtshofs zum Ausdruck kommt – doch be-
sungsgerichts im Namen des Demokratieprinzips deutet dies für Habermas eben nicht, dass die Verlet-
des Grundgesetzes angerufenen Notwendigkeiten zung von Menschenrechten selbst als legitimer In-
staatlicher Souveränität und gesellschaftlicher Ho- terventionstitel verwendet werden dürfte. Konstitu-
mogenität (Kirchhof 1993) halten einer Überprü- tionalisierung bleibt die rechtsförmige Anerkennung
fung an den Maßstäben einer deliberativen De- von Selbstbestimmungsanliegen. Hier führt Haber-
mokratiekonzeption nicht stand. Demokratische mas’ Misstrauen gegen jeden Nationalismus zu ei-
Öffentlichkeit bedarf bestimmter Kommunikations- nem im Vergleich zum innerstaatlichen Recht wohl
bedingungen. Politische Kommunikation aber kann größeren Vertrauen in rechtsförmige Institutionen.
sich auf verschiedene Arten innerhalb unterschied- Auch die Rolle von Menschenrechten, die im inter-
lichster Medien ihren Weg suchen. nationalen Recht ja stets ohne die Konkretisierung
Die Gefahr der Europäisierung wie der Globali- in einem egalitären Gesetzgebungsverfahren aus-
sierung sieht Habermas denn auch weniger in den kommen müssen, wird positiver hervorgehoben (zu
institutionellen Verlusten der Nationalstaatlichkeit einer politischen Menschenrechtskonzeption vgl.
als solcher, denn in der ungleichzeitigen internatio- Brunkhorst 2002; s. auch Kap. IV.22). Das weltbür-
nalen Entwicklung von privater und öffentlicher Au- gerliche Projekt Kants soll sich institutionell vor al-
tonomie. Die private transnationale Freiheitswahr- lem durch eine reformierte, an konstitutionelle Re-
nehmung verläuft schneller als die Internationalisie- geln gebundene und von nationalen Interessen ge-
rung demokratischer Politik. Dies begünstigt ein löste UN und durch die Entstehung regionaler
liberales Verständnis, insbesondere der Wirtschafts- Entscheidungsstrukturen verwirklichen lassen, für
politik, gegenüber sozialstaatlichen Anliegen aber die die europäische Integration als Avantgarde funk-
über Gebühr. Hiergegen dürfte aber auch für Haber- tioniert.
mas nur mehr Demokratisierung der europäischen
und internationalen Politik nutzen: »[…] die Erwei-
Literatur
terung der politischen Handlungsfähigkeit muß
gleichzeitig mit einer Erweiterung der Legitimati- Alexy, Robert: Theorie der juristischen Argumentation.
onsgrundlage der europäischen Integration voran- Frankfurt a. M. 1983.
–: Theorie der Grundrechte. Frankfurt a. M. 1986.
schreiten« (PN, 150).
Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. München 1970.
Konstitutionalisierung des Völkerrechts (s. Kap. Böckenförde, Ernst-Wolfgang: »Die Entstehung des Staates
II.17): Nicht unwichtig für eine politische europäi- als Vorgang der Säkularisierung« [1964]. In: Ders.: Der
sche Identität ist für Habermas die Abgrenzung eu- säkularisierte Staat. München 2007, 43–72.
ropäischer Politik gegenüber der Außenpolitik der Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Frankfurt a. M. 2002.
USA im Besonderen mit Blick auf den Respekt vor Cohen, Jean/Arato, Andrew: Civil Society and Political The-
ory. Cambridge, Mass. 1992.
dem Völkerrecht. Nirgendwo stellt sich der Antago- Engländer, Armin: Diskurs als Rechtsquelle? Tübingen
nismus zwischen »Faktizität und Geltung« so deut- 2002.
lich wie in der internationalen Ordnung dar. Auch in Forst, Rainer: Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt a. M.
seinen Überlegungen zur Konstitutionalisierung des 1993.
Völkerrechts schließt Habermas ausdrücklich bei –: Das Recht auf Rechtfertigung. Frankfurt a. M. 2007.
Gerstenberg, Oliver: Bürgerrechte und deliberative Demo-
Kant an (GW, 113 ff.). Mit der immerhin denkbaren kratie. Frankfurt a. M. 1997.
Konzeption eines aggressiv demokratischen Völker- Grimm, Dieter: »Braucht Europa eine Verfassung?« In: Ju-
rechts, das die Unterscheidung zwischen selbstbe- ristenzeitung 581 (1995), 581–632.
14. Europa und Verfassung 263

Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit. Anwendungs-


diskurse in Moral und Recht. Frankfurt a. M. 1988.
14. Europa und Verfassung
Habermas, Jürgen./Oehler, J.C./Friedeburg, Ludwig v. u. a. »Braucht Europa eine Verfassung?«
(Hg.): Student und Politik. Eine soziologische Untersu- (2001)
chung zum politischen Bewußtsein Frankfurter Studen-
ten. Neuwied 1969.
Kant, Immanuel: Kritik der Urteilskraft [1790]. In: Werke. Europa und seine Verfassung sind für Habermas so-
Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1983. wohl aus theoretischen als auch aus politischen
–: Metaphysik der Sitten, Rechtslehre [1797]. In: Werke. Gründen von großer Bedeutung. Moderne Verfas-
Hg. von Wilhelm Weischedel. Frankfurt a. M. 1983.
Kirchhof, Paul: »Europäische Einigung und der Verfas- sungen mit ihren Grundrechtskatalogen, die unter
sungsstaat der Bundesrepublik Deutschland«. In: Josef jeweils spezifischen nationalen Bedingungen ent-
Isensee (Hg.): Europa als politische Idee und rechtliche standen sind, stellen entscheidende und sogar uner-
Form. Berlin 1993, 63–101. lässliche Momente dafür dar, das Partikulare und das
Lafont, Cristina: »Is the ideal of a deliberative democracy Universelle auf einen gemeinsamen Nenner zu brin-
coherent?« In: Samantha Besson/José Luis Marti (Hg.):
Deliberative Democracy and its discontents. Aldershot gen; daher wurde der Begriff des Verfassungspatrio-
u. a. 2006, 3–25. tismus als Zentrum einer ›Ethik‹ entwickelt, die uni-
Lieber, Tobias: Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit. versale Normen begründen und diesen zugleich ge-
Tübingen 2007. recht werden kann. Die Voraussetzungen dafür
Luhmann, Niklas: Das Recht der Gesellschaft. Frankfurt waren das Recht – und namentlich eine liberale de-
a. M. 1993.
Maus, Ingeborg: »Freiheitsrechte und Volkssouveränität«. mokratische Verfassung – sowie eine politische Kul-
In: Rechtstheorie 26, 293 (1995). tur, die imstande ist, ihre besten Bestrebungen in
Möllers, Christoph: Die drei Gewalten. Weilerswist 2008. dieser normativen Ordnung wiederzuerkennen.
Pfordten, Dietmar v.d.: »Rechtsethische Rechtfertigung – Trotz gelegentlicher Anwandlungen von Optimis-
material oder prozedural?« In: Lorenz Schulz (Hg.): Ver- mus war Habermas offensichtlich nie gänzlich da-
antwortung zwischen materialer und prozeduraler Zu-
rechnung. Stuttgart 2000, 17–44.
von überzeugt, dass die deutsche Tradition sich in
Rawls, John: »A Reply to Habermas«. In: Ders.: Political Li- einer solchen Weise verstehen ließe. Seine Hinwen-
beralism, Expanded Edition. New York 2005, 372–433. dung zu Europa sollte daher nicht so sehr als die Su-
Slaughter, Anne-Marie: The New World Order. Princeton che nach einem ›Ersatz‹ verstanden werden, sondern
2004. als ein Versuch, einen geeigneteren Kontext für die
Sternberger, Dolf: »Verfassungspatriotismus« [1979]. In:
Entwicklung einer genuin staatsbürgerlichen Identi-
Ders.: Schriften. Bd. X. Frankfurt a. M. 1990, 13.
Sunstein, Cass: »Interest Groups in American Public Law«. tät auch in Deutschland zu finden (DNR, 205–224;
In: Stanford Law Review 38 (1985), 29–87. NBR, 165–188; ZÜ, 104–132; PN; AE, 77–131, 138–
Christoph Möllers 191).

Europa und die Wiedervereinigung


Die Vereinigung Deutschlands im Jahr 1990 und
ihre Nachwirkungen stellten eine Kette von Ereig-
nissen dar, die diese Hinwendung zu Europa ent-
scheidend beschleunigten; nach Habermas’ Ansicht
ließen diese Ereignisse das Risiko, in einen traditio-
nellen Nationalismus zurückzufallen, ernstlich an-
steigen. Zu dieser Zeit sah er aber auch eine große
Chance, die Grundlagen für einen erweiterten und
vertieften Verfassungspatriotismus zu legen, doch
die Gelegenheit, der Forderung des Artikels 146 des
Grundgesetzes gerecht zu werden und eine neue
Verfassung auszuarbeiten, wurde in unentschuldba-
rer Weise vertan. Daher mussten die Erhaltung und
eventuelle Entwicklung von Elementen liberaler und
republikanischer politischer Identitäten, die mit ei-
nem multikulturellen und föderalen deutschen Ge-
meinwesen kompatibel sind und sich mit einem
264 III. Texte

multinationalen europäischen Gemeinwesen verein- schaften des demokratischen Wohlfahrtsstaats über


baren lassen, auf indirekteren und komplizierteren ihre ursprünglichen nationalstaatlichen Grenzen hi-
Wegen garantiert werden. Habermas’ sicherer politi- naus ausdehnen – sowohl aus Gründen der Gerech-
scher Sinn überzeugte ihn davon, dass die Staaten tigkeit als auch im elementaren Interesse jener Men-
die primären Einheiten auch einer idealen oder ei- schen, die heute noch über diese Rechtsansprüche
ner projektierten kosmopolitischen Ordnung blei- verfügen. Dies wird eine europaweit einheitliche
ben müssen. Angesichts der dramatischen Ungleich- oder doch wenigstens ›harmonisierte‹ Sozialpolitik
heiten zwischen den Staaten ergab sich hier die For- notwendig machen, und ebenso wird eine gemein-
derung nach einer Vermittlung durch intermediäre schaftliche Steuergesetzgebung erforderlich werden,
Instanzen, die nach beiden Richtungen wirksam auf die sich diese Sozialpolitik stützen kann. Man
werden sollten. Die Europäische Union könnte hier- beachte, dass Habermas mit Vorbedacht das von ihm
für als Modell dienen, insofern sie bereits ›konstitu- favorisierte (und so hauptsächlich auf der Ebene des
iert‹ war, und insofern sie darüber hinaus ›re-konsti- formalen Verfassungsrechts vorgebrachte) europäi-
tuiert‹ oder neu begründet werden könnte. Wie sche Projekt nur als die notwendige Voraussetzung
Habermas ausführte, sind (starke) regionale Zusam- einer neuen Sozialdemokratie beschrieben hat – als
menschlüsse sowohl erforderlich, um den (schwa- eine Voraussetzung, die andere politische Strömun-
chen) Staaten mehr Macht zu geben, als auch, um gen aus verschiedenen Gründen ebenfalls unterstüt-
das relativ erfolgreiche Wirken einer Weltgesell- zen sollten und könnten. Sicherheit und Frieden auf
schaft zu ermöglichen, der nur wenige Zwangsmittel internationalem Niveau zu erreichen, ist der wich-
zur Verfügung stehen (AE, 106). Im Hinblick auf tigste dieser Gründe.
Deutschland könnte die Übertragung des republika-
nischen Erbes des Nationalstaats auf eine rekonstru- Europa im Rahmen einer neuen
ierte Europäische Union – wonach also ein Staat die internationalen Ordnung
Gleichheit anderer Rechtsstaaten anerkennt – ein für
alle Mal dem Wiedererstarken des Nationalismus Nach Habermas könnte allein eine neue internatio-
den Weg versperren. nale Ordnung pazifizierte und verrechtlichte Bezie-
Eben diese Hinwendung zu Europa könnte auch hungen zwischen den Staaten sicherstellen. Die in-
zu weit wirksameren politischen Richtlinien führen, terne Pazifizierung des europäischen Raumes ist
da es hier um andere triftige politische Überlegun- jetzt schon die große Errungenschaft der europäi-
gen geht. Das von den klassischen westeuropäischen schen Integration. Heute können wir uns weder –
Wohlfahrtsstaaten begründete (und zu einem Mo- wie nach dem Irakkrieg deutlich wurde – auf die
dell ökonomischer, politischer und kultureller Inklu- imperiale Dominanz der USA noch – wie seit dem
sion fortentwickelte) Modell gesellschaftlicher Soli- Georgienkonflikt offenkundig wurde – auf das
darität ist nicht tot, auch wenn es von der krisenhaf- Gleichgewicht militärischer Großräume verlassen,
ten Entwicklung dieser Gesellschaftsform, der um auch nur den Status quo zu garantieren; dieser
Integration Osteuropas, der allzu lange währenden Status quo hat über lange Zeit hinweg in dieser Welt-
ideologischen Hegemonie des Neoliberalismus und region für Frieden und ein relativ hohes Maß an
– in jüngster Zeit – den brisanten Problemen der Wohlstand gesorgt. Die einzige europäische Antwort
Einwanderung in angebliche Nicht-Einwanderungs- auf diese neuen Bedrohungen (lokale und asymme-
länder erschüttert wurde. Habermas sieht zu Recht, trische Kriege, Terrorismus, ethnische Säuberungen
dass auf dieses Modell sogar noch gravierendere Ge- und Genozide, explosive Bevölkerungsverschiebun-
fahren zukommen werden: Es basiert auf Umvertei- gen, ökologische Katastrophen) ist es, jenen Typus
lungsmechanismen im Rahmen einer marktwirt- politischer und rechtlicher Institutionen, die Frieden
schaftlichen Rationalität, die er bewahren möchte; es und Sicherheit in Europa bewahren konnten, auf an-
wird aber von einer bestimmten Form der Globali- dere Weltgegenden auszudehnen: sowohl durch die
sierung, die sich auf Deregulierungsmaßnahmen Bildung immer neuer autonomer Weltregionen, als
und die Ausbeutung billiger Arbeitskräfte stützt, be- auch durch deren Integration in reformierte interna-
droht. Sozialdemokratische Politik kann aber – selbst tionale Institutionen. Dies nennt Habermas die
in einer noch so reflektierten erneuerten Form – in- Transformation des klassischen Völkerrechts in eine
nerhalb der Grenzen eines einzelnen Staates nicht Art kosmopolitischer Ordnung (PN). Als ein ernst-
fortgeführt werden. Linke Politik muss jetzt eine re- hafter Akteur einer solchen Entwicklung (der viel-
gionale Basis haben, und sie sollte die Errungen- leicht ein weiterer demokratischer Pol in der Welt-
14. Europa und Verfassung 265

ordnung werden könnte) muss Europa zu einem blieb Brunkhorst (2004) überlassen, expliziter aus-
nachhaltigen und stärker vereinheitlichten außen- zuführen, dass gerade aus diesem gemischten Status
politischem Handeln fähig sein. das Demokratiedefizit des Ganzen herrührt. Es wäre
Um die Europa zugewiesenen Rollen ausfüllen zu für Habermas sehr wichtig gewesen, das gegenwär-
können, werden die Europäer neue Institutionen er- tige Europa als ein unstabiles Hybridgebilde mit
finden oder doch wenigstens alte institutionelle Lö- ernsthaften Legitimationsproblemen zu beschrei-
sungen in innovativer Weise zur Anwendung brin- ben, um eine korrekte Antwort geben zu können,
gen müssen: Angesichts der Vielzahl und Vielfalt der wie über diesen Zustand hinauszukommen sei. Und
Staaten sind die föderalistischen Formeln der Ver- – weit wichtiger noch – scheint er im Blick auf die
gangenheit nicht länger erstrebenswert, aber die pri- Zukunft zwischen zwei Positionen zu schwanken:
mär ökonomisch motivierte, apolitische und funk- Teils bestimmt er den Zielzustand als ›Bund‹ oder als
tionalistische Methode der europäischen Integration Föderation, teils macht er die Idee eines neuen Hy-
und ihre ungute Begrenzung auf – letztlich – eine Si- brids aus ›Bund‹ und föderalem Staat stark, wie es
cherheitsorganisation sind nicht mehr ausreichend. der (eher föderalistischen) Begriff eines ›Staates von
Habermas scheint sich von seinen früheren, am Nationalstaaten‹ andeutet, und wie es auch von der
deutschen Vorbild orientierten Sympathien für ein (inkohärenten, oder wiederum föderalistischen)
föderalistisches Modell (so z. B. in seiner Antwort Idee von Europa als einer Art ›Konföderation‹ (so
auf Grimm 1995; vgl. Grimm 1991a/b und 1995, Brunkhorst 2004) oder als einer Föderation sowohl
später dazu auch Grimm 2004) abgewendet zu ha- von Nationalstaaten als auch von Bürgern nahege-
ben. Selbst schon vor Joschka Fischers berühmter legt wird.
Rede im Jahr 2000, die vermutlich – wenn auch zu-
gleich von Carl Schmitts Idee des Bundes beeinflusst Volkssouveränität in Europa
– von Habermas inspiriert war, schien Habermas das
Modell einer dritten Strukturform, zwischen Konfö- Es dürfte nicht überraschen, dass sich Habermas der
deration und Nationalstaat, übernommen zu haben Verfassungstheorie und dem Projekt einer Konstitu-
(Fischer 2000). Diese nannte er in einer etwas un- tionalisierung Europas in der Absicht zuwendet, Ar-
glücklichen Formulierung ›einen Staat von Natio- gumente für eine stärkere Integration vorzubringen
nalstaaten‹ (in einer englischen Übersetzung wurde und gegen das Demokratiedefizit anzugehen. Im
daraus eine federation of nation states), um sich von Rückgriff auf eine gewisse Dimension der Praxisphi-
Fischers eindeutigerer ›Föderation‹ (im Gegensatz losophie bemerkte er einmal ganz zu recht, dass sich
sowohl zur ›Konföderation‹ als auch zum ›föderalen so etwas wie eine politische Kultur allmählich entwi-
Staat‹) abzusetzen; damit sollte jene Regierungsform ckelt, während Verfassungen ein Gegenstand wil-
in bestmöglicher Weise beschrieben werden, die Eu- lentlicher Bemühungen und bewussten Handelns
ropa entwickeln könnte, um sowohl dem Interesse sind. Wenn er auch nicht wesentlich an der deut-
an einer Vereinigung als auch an der Integrität der schen Verfassungsdebatte von 1990 beteiligt war (sie
Nationalstaaten gerecht zu werden. Leider legte Ha- ging seiner Beschäftigung mit rechtstheoretischen
bermas sich hier nie auf eine eindeutige Formulie- Fragen voraus), war er sehr darüber enttäuscht, dass
rung fest – vielleicht aufgrund seines Bestrebens, der in Artikel 146 GG vorgesehene neue demokrati-
Schmitts Begriff des ›Bundes‹ in seinem Nachdruck sche Prozess in manipulativer und rechtlich dubio-
auf der Homogenität der einzelnen Einheiten zu ver- ser Weise verhindert wurde. Seine Analyse der recht-
meiden; dieser Schmitt’sche Begriff könnte und lichen und politischen Probleme des hochgradig be-
müsste jedoch in dem Sinne neu interpretiert wer- schleunigten Vereinigungsprozesses ist immer noch
den, dass er mit einer liberalen politischen Form gültig, auch wenn sein eigener, auf ein Referendum
ausgestattet werden könnte. Dieser uneindeutige abzielender Vorschlag recht unklar blieb, und auch
Sprachgebrauch führte zu zwei weiteren Unklarhei- wenn (im Vereinigungsvertrag) einige Änderungen
ten: in Hinsicht auf die Gegenwart als auch in Hin- an der Präambel, an Artikel 23 GG (gestrichen) und
sicht auf die projektierte Zukunft. Dieses Problem ist an Artikel 146 GG den Gegenstand seiner größten
nicht vollkommen erforscht, aber Habermas scheint Sorge ausräumten, dass nämlich das Grundgesetz
stillschweigend davon auszugehen, dass die gegen- die Möglichkeit einräumen könnte, in Zukunft wei-
wärtige Struktur ein Hybrid aus einer durch Verträge tere Gebiete zu annektieren. Es ist sehr wahrschein-
geschaffenen Konföderation und einer durch infor- lich, dass nicht nur seine Hinwendung zu Europa,
melle Prozesse gebildeten Föderation darstellt. Es sondern auch sein Interesse an Konstitutionalisie-
266 III. Texte

rungsprozessen sich auf diese Erfahrung zurückfüh- sollte gravierende Folgen haben, sobald Habermas
ren lassen. Leider verpflichtete er sich damit zugleich das, was er hier gelernt hatte, auf Europa anwendete.
auf das klassisch europäische Modell eines souverä- Was Europa angeht, mischte er sich aktiv in die
nen, demokratischen Prozesses der Ausarbeitung ei- Debatte über die Ausarbeitung einer Verfassung ein,
ner Verfassung, wobei die Volkssouveränität durch und er hatte sehr großen Einfluss auf die Ansichten
Referenden zum Ausdruck kommen sollte; die ›freie einiger seiner Diskussionspartner. Interessanter-
Entscheidung des deutschen Volkes‹ wurde in die- weise vertrat Habermas selbst zu Beginn eine mitt-
sem Sinne interpretiert. Dies beruhte auf einer leider lere Position, die jene zwischen den Extremen ver-
weit verbreiteten, aber nach dem Wortlaut des Arti- mittelnde Regierungsform genau widerspiegelte, für
kel 146 GG und nach dessen rechtswissenschaftli- die er im Falle Europas zu plädieren schien. Doch
cher Auslegung (vgl. z. B. Murswiek 1978 oder diese vermittelnde Position wurde hinfällig, sobald
Grimm 1991a/b) keineswegs unumgänglichen Inter- er sein Augenmerk auf ein Europa richtete, in dem
pretation dieses Artikels; diesem wäre z. B. auch sich nicht allein die Staaten, sondern auch die einzel-
durch eine eigens gewählte verfassungsgebende Ver- nen Bürger zu einer Föderation zusammenschließen
sammlung, die unter starken Konsens-Anforderun- sollten. Im Gegensatz zu einigen Rechtstheoretikern
gen zu entscheiden hätte, und/oder durch die Ratifi- in der Tradition Hans Kelsens war er ganz zu Recht
kation von Konventionen durch die einzelnen Bun- der Überzeugung, dass das Verfahren und der ge-
desländer (entsprechend der Ratifikation von samte Prozess einer wirklichen (und nicht nur un-
Konventionen durch die Einzelstaaten der USA) terstellten) Erarbeitung einer Verfassung für deren
oder vielleicht auch durch andere demokratische Legitimation von Bedeutung seien, doch er be-
Verfahren genüge getan worden. Ganz gleich, ob es stimmte – anders als einige seiner Anhänger – das
nun berechtigt war oder nicht – sein weiteres Eintre- angemessene Verfahren zunächst nicht als ein
ten für diese spezielle Maßnahme als einer Alterna- grundlegend deliberatives oder gar als ein vollkom-
tive zu einem Regierungsbeschluss scheint weniger men demokratisches Verfahren, das statt der Staaten
auf seiner eigenen Theorie der ›Volkssouveränität als die einzelnen Bürger zu den einzig maßgeblichen
Verfahren‹ zu beruhen, als auf einer starken Über- Akteuren macht. Tatsächlich würde die Vorstellung
zeugung der damals unterlegenen Seite, was 1990 in einer Föderation von Nationalstaaten sich mit einem
Deutschland das richtige Vorgehen gewesen wäre. Resultat begnügen, nach welchem die Staaten gemäß
Habermas – und vermutlich auch andere – neigten einer Zusatzklausel, die qualifizierte Mehrheiten
aber dazu, die Priorität von Regierungsbeschlüssen vorschreibt, diese Verfassung anerkennen. Um eine
hinsichtlich der Prozeduren und Regeln eines Refe- solche Verfassung zu schaffen (die dem amerikani-
rendums außer Acht zu lassen; bei diesen Beschlüs- schen politischen System vor 1860 gliche), reicht es
sen gibt es stets mehrere mögliche Lösungen, die das aus, dass bereits bestehende Staaten gewillt sind, eine
Ergebnis deutlich beeinflussen, und das gilt auch für Verfassung (oder ursprünglich: einen Verfassungs-
Deutschland zu dieser Zeit, wo die Abstimmung in vertrag) abzuschließen, aber es ist nicht erforderlich,
mindestens drei, wenn nicht in vier verschiedenen dass sich schon ein einheitliches Volk oder eine ge-
Weisen hätte organisiert werden können: (a) die samtstaatliche Bürgerschaft herausgebildet hat.
Länder stimmen ab; (b) die einzelnen Bürger; (c) Doch Habermas hatte den gescheiterten Versuch,
zwei Staaten; oder (d) ein Staat, die DDR, stimmt al- Deutschland eine neue Verfassung zu geben (wenn
lein ab – so Grimms Vorschlag 1991 –, um sich dann nicht das Ergebnis dieses Einigungsprozesses) und
nach Artikel 23 GG der Bundesrepublik anzuschlie- vielleicht auch einige missverstandene amerikani-
ßen, woraufhin dann beide Staaten gemeinsam eine sche Vorbilder (die keine Referenden im europäi-
verfassungsgebende Versammlung wählen, sei es mit schen Sinne einschlossen) vor Augen, und er wollte
oder ohne Referendum zur Ratifikation dieser Ver- gewissen unhaltbaren Einwänden entgegentreten,
fassung, wobei wiederum (a) die Länder oder (b) die wonach eine europäische Verfassung unmöglich sei;
einzelnen Bürger abstimmen könnten. Ebenso daher insistierte er zusehends auf der Rolle, die das
wurde die Rolle der politischen Macht bei diesen Volk im Gegensatz zu den Regierungen in diesem
Entscheidungen von Habermas und anderen außer Prozess zu spielen habe, wobei es den Prozess inter-
Acht gelassen. So konnte die Frage, wie diese Macht gouvernementaler Verhandlungen ergänzen oder
legitimiert werden könne, nicht einmal gestellt wer- sogar erst lostreten sollte. Diese Unterscheidung zwi-
den und wurde tatsächlich durch die referendums- schen dem Volk und der Regierung als solcher
zentrierte Rhetorik verdeckt. Dieses Versäumnis brachte trotz der prozeduralistischen Ausrichtung
14. Europa und Verfassung 267

seines Denkens und trotz zahlloser früherer War- Doch er unterschätzt bei weitem, welchen Auf-
nungen vor einem Modell einer ›verkörperten‹ wand es bedeuten würde, ein Regierungssystem zu
Volkssouveränität die Tendenz mit sich, den leeren etablieren, das sich teilweise auf eine plebiszitäre Le-
Ort des Königs (Claude Lefort) mit dem Mehrheits- gitimität stützen würde – auch wenn sich die damit
entscheid in einer Volksabstimmung zu füllen. einhergehenden strukturellen Änderungen in Gren-
Allerdings wollte Habermas das Referendum zen hielten. Habermas hat sich leider nie auf eine
nicht als den Ausdruck eines Volks von europäi- systematische Erörterung darüber eingelassen, was
schen Bürgern verstanden wissen, sondern er be- es bedeutet, ›eine Verfassung zu haben‹, und er hat
trachtete dieses Verfahren als einen Ausgangspunkt daher nie klar sagen können, ob Europa bereits eine
für die Konstruktion eines solchen Subjekts in einer Verfassung besitzt, die grundlegend reformiert wer-
europaweiten Debatte. Nachdem er sich von der fal- den muss, oder ob es bloß einen Vertrag (oder eine
schen Fährte, ein bereits existierendes und homoge- ›oktroyierte‹ Charta) kennt und daher durch eine
nes Volk anzunehmen, abgewandt hatte, führte er Verfassung neu begründet werden muss. Letzteres
sein mittlerweile berühmt gewordenes zirkuläres könnte – mit oder ohne politische Revolution –
Verfahren ein, wonach das voluntaristisch konstru- leicht als ein rechtlich revolutionärer Akt verstanden
ierte Volk der europäischen Bürger, deren Solidarität werden. Hauke Brunkhorst und die Habermas nahe
an den nationalen Grenzen nicht halt macht, das Re- stehende Arena-Gruppe vertreten eine solche Inter-
sultat – unter anderem – dieser Verfassung und pretation, die auf einem starken Begriff der Volks-
selbst des verfassungsgebenden Prozesses sein sollte souveränität beruht. Doch wenn sich auch Haber-
(ZÜ). Gegen diese Idee und diese Logik ließen sich mas mit Brunkhorst darin einig ist, dass der Vertrag
keinerlei Einwände erheben, wenn Habermas eine von Lissabon nur eine von der Bürokratie betriebene
Verfassung vorgeschlagen hätte, in der alle wichtigen Reform darstellt, möchte er nicht so weit gehen,
politischen Ämter des gemeinsamen europäischen selbst wenn er tatsächlich einen Vorschlag aufgreift,
›Daches‹ sich aus den Wählerstimmen eben dieser in dem die Idee der Volkssouveränität eine solch ge-
Bürger herleiten ließen. Doch da er die Idee eines fö- wichtige Rolle spielt und ein Referendum fordert,
deralen Staates aufgegeben hat, ist er dazu nicht in das – wie zu zeigen sein wird – den Rahmen des in-
der Lage, und baut stattdessen auf die politische Kul- tergouvernementalen Verfahrens sprengt. Er ist ein
tur, die Zivilgesellschaft und eine Reihe von Öffent- sehr zögerlicher Revolutionär. Doch es bleibt ange-
lichkeiten, die sich gerade nicht voneinander ab- sichts seines vergleichsweise unambitionierten Ver-
schotten und damit der Idee eines europäischen Vol- fassungsprogramms unklar, warum er überhaupt
kes mit grenzüberschreitendem Solidaritätsgefühl zum Revolutionär wird, und es bleibt vollends un-
schließlich Substanz verleihen. Doch da aus diesen klar, ob eine derartige Revolution ›ohne Revolution‹
drei Bereichen bestenfalls interpenetrierende Plura- (im Gegensatz zu Deutschland 1990, mit seiner ›sich
litäten entstehen würden, die sich weder auf Gleich- selbst begrenzenden Revolution‹ im Osten) denn
heit noch auf Einheit gründen und in jedem Falle von Erfolg gekrönt sein könnte.
weit hinter der Verfassung zurückbleiben würden, Habermas’ gegensätzliche Standpunkte zum Ver-
ist Habermas’ circulus virtuosus (auf dem seine sich fassungsvertrag, dessen Ratifikation 2005 scheiterte,
selbst erfüllende Prophezeiung basieren sollte) zu und zum Vertrag von Lissabon, der ebenfalls ins
schwach. Sein Funktionieren – und der Beginn des Schlingern geraten ist, veranschaulichen dieses
allgemeinen bürgerschaftlichen Lernprozesses Problem (AE, 96 ff.). Es bleibt recht unklar, warum
gleichberechtigter Bürger – müsste beinahe vollstän- letzterer als das Ergebnis des bisher bürokratischsten
dig durch das europaweite Referendum gesichert Verfahrens bezeichnet wird, während ersterer – von
werden; um dieses Problem zu lösen, forderte Ha- Habermas regelmäßig als ›Verfassung‹ bezeichnet –
bermas in jüngster Zeit zusätzlich die Direktwahl ei- zumindest bis zum Zeitpunkt seines Scheiterns Ha-
nes (vermutlich recht schwachen) europäischen Prä- bermas’ ausdrücklichen Beifall fand. Sicherlich war
sidenten. Wenn dieser letzte Schritt getan ist, läuft der eine sowenig wie der andere das Werk irgendei-
der deliberative Demokrat Gefahr, auf der Suche nes europäischen Volkes, und war auch nicht das Er-
nach einer ›Abkürzung‹ des Verfahrens ein plebiszi- gebnis eines primär partizipatorischen Vorgehens.
tärer solcher zu werden. Habermas’ jüngster Appell Keiner von beiden Verträgen konnte als die endgül-
an die ›schweigende Mehrheit‹ Europas erinnert in tige Blaupause für die europäischen Institutionen
der Tat an ungute Vorbilder aus dem amerikanischen betrachtet werden, zumal keiner von beiden dafür
Präsidialsystem. gesorgt hätte, dass die Vertragspartner diese Verfas-
268 III. Texte

sung mit einer genuin ›konstitutionellen‹, auf ir- zu erwarten, dass sie – bei getrennten Referenden
gendeiner Art von Mehrheitsbeschlüssen basieren- nach unterschiedlichen Regeln – allesamt für ein Eu-
den Revisionsregel übernehmen würden (Grimm ropa stimmen würden, das nicht für das Ziel einer
2004). Wenn auch die zugegebenermaßen neue Me- gemeinsamen Verfassung mobilisiert worden war
thode, einen Verfassungskonvent einzusetzen, trotz und nicht dafür mobilisiert werden kann. Referen-
all ihrer anfänglichen Schwächen und ihrer späteren den bleiben für Habermas zentral, aber ihre Regeln
Deformationen durch den Konventspräsidenten müssen so abgeändert werden, dass sie das jeweils
Giscard d’Estaing dafür sorgte, dass sich die Ausar- von ihm erwünschte Ergebnis begünstigen.
beitung des Verfassungsvertrages von reinem Inter-
gouvernementalismus unterschied, so blieb dieses Kritische Rezeption
Verfahren doch zum Großteil intergouvernementell
und führte zu dem – in seiner Substanz kaum verän- Es bleibt unerklärlich, wie Habermas – gerade auch
derten – Vertrag von Lissabon. Doch keines dieser als Theoretiker der deliberativen Demokratie – Re-
beiden Verfahren der Verfassungsgebung ließ sich ferenden, so wie sie heute praktiziert werden, und
als der Beginn eines zirkulären Prozesses zur Her- selbst wenn sie ausdrücklich von ihrem bonapartis-
stellung einer europäischen Bürgerschaft verstehen. tischen Erbe befreit sind, als besonders demokrati-
Wenn der Verfassungsvertrag auch einer Verfassung sche Instrumente ansehen kann. Zugegebenerma-
im formalen Sinne näher kommt, da er alle Einzel- ßen ist dieses Instrument in der europäischen Praxis
verträge zu einem einzigen Dokument bündelt, so seit dem Zweiten Weltkrieg – seit der vorbildhaften
erfüllt doch keiner der beiden Verträge Habermas’ Verabschiedung der Verfassung der Vierten Repu-
neue Minimalziele – die Harmonisierung der Steu- blik in Frankreich – prozedural ›gereinigt‹ worden
ergesetzgebung, eine gemeinsame Außenpolitik (auch wenn es kurz darauf, zu Beginn der Fünften
(welchen Namen der Chef dieser Außenpolitik auch Republik, von de Gaulle ernstlich missbraucht
tragen mag) und die Direktwahl eines europäischen wurde). Dennoch bleibt das Referendum für die Ent-
Präsidenten –, und erfüllt schon gar nicht ältere Ziel- scheidung über komplexe konstitutionelle Fragen
setzungen: den EU-Ministerrat auf die Rolle einer ein besonders unhandliches Instrument, bei dem
zweiten Kammer zu beschränken, eine wirklich par- ganze Dokumente durch einen aus ganz verschiede-
lamentarische Regierungsform einzuführen und die nen Richtungen kommenden Widerstand gegen ei-
Kommission zu einer mehr oder minder stark abge- nige wenige symbolische Punkte abgelehnt werden
grenzten Exekutive zu machen. können, und es bleibt in dramatischer Weise der po-
Es ist jedoch evident, dass die Möglichkeit, Refe- litischen Manipulation von beiden Seiten ausgesetzt.
renden abzuhalten, von den Architekten des Ver- Es sollte in einer wirklich parlamentarischen Demo-
trags von Lissabon stark eingeschränkt wurde – kratie bestenfalls als ein nebensächliches und rein
nämlich auf Referenden in einzelnen Ländern –, und ergänzendes Verfahren betrachtet werden. Warum
vielleicht denkt Habermas deshalb, dies sei ein büro- sind Referenden demokratischer als die parlamenta-
kratisches Vorgehen – eine seltsame Bezeichnung rische Repräsentation? Warum drücken sie den
für parlamentarische Demokratie! Der Verfassungs- Volkswillen klarer aus als eine Abstimmung der
vertrag zumindest sah mehrere (neun oder zehn) Volksvertreter? Wie sollen wir zwischen verschiede-
nationale Referenden vor, auch wenn seine Verfasser nen Regeln für Referenden wählen? Durch Meta-Re-
nicht den Mut besaßen, (getrennte) Referenden in ferenden? Und zudem: Wie sollen Referenden in
verschiedenen europäischen Staaten an ein und dem- Ländern wie Deutschland, wo sie durch die Verfas-
selben Tag anzuberaumen, wie manche es gewünscht sung ausgeschlossen oder doch sehr stark einge-
hätten. Daher hat Habermas aus den Referenden in grenzt sind, durchgeführt werden? Wenn wir nicht
Frankreich und den Niederlanden nicht (wie andere, – wie Général de Gaulle 1962 – verfassungswidrige
vgl. Dehousse 2006) den Schluss gezogen, dass die- Referenden anordnen wollen, die erst im Nachhin-
ses Mittel kein geeignetes demokratisches Instru- ein legalisiert werden, brauchen wir zuerst eine ›re-
ment für komplexe konstitutionelle Angelegenhei- gierungsamtliche‹ Verfassungsänderung; dies be-
ten sei, sondern dass jene, die die Rolle von Referen- deutete, die grundlegende Rolle der Regierungen auf
den noch stärker betonen wollten, auf der ganzen nationaler Ebene anzuerkennen, diese aber – ganz
Linie recht gehabt hätten. Er kam zu dem Schluss, unlogischerweise – auf europäischer Ebene zu leug-
dass es sinnlos sei, von den Völkern von zehn (oder nen. Und wenn wir schon unwahrscheinliche Szena-
erst recht von siebenundzwanzig) einzelnen Staaten rien vorbringen, warum dann nicht wenigstens auch
14. Europa und Verfassung 269

Fishkins und Ackermans konsultierende Volksbefra- wäre er es gewesen, hätte er Erfolgsaussichten ge-
gung (deliberative polling), auf die Habermas selbst habt. Ohne jeden Zweifel hätte ein Referendum, das
sich beruft (selbst wenn auch dies nicht ganz plausi- in allen Mitgliedsländern an ein und demselben Tag
bel ist), um die Stimmung einer ›schweigenden abgehalten worden wäre, die falsche Politisierung
Mehrheit‹ der europäischen Bevölkerung hinsicht- verhindern können, zu der es in Frankreich und den
lich einer weiterreichenden Integration zu ermitteln Niederlanden kam, und wir können nicht sagen, was
(Fishkin/Luskin 2005)? Und schließlich sollten wir an einem ›Tag des Referendums‹ geschehen wäre –
nach den Erfahrungen der demokratischen Über- selbst wenn die einzelnen Ländern dabei getrennt
gänge – von Polen 1989 bis zu Südafrika 1996 – bes- abgestimmt hätten, wie es die gescheiterten Pläne
ser wissen, wie sich demokratische Legitimation und von 2002/2003 vorgesehen hatten. Habermas dage-
die Verabschiedung einer Verfassung vereinen las- gen würde gerne auf Nummer sicher gehen. Daher
sen, und wie sich gerade auch die gesellschaftliche fordert er (sowohl vor dem neuen Nein der Iren als
Diskussion über eine Verfassung ohne Referenden auch danach) eine radikalere Variante, bei der so-
und Plebiszite organisieren lässt. wohl die Bürger Europas als auch die einzelnen Län-
Es hat den Anschein, dass Habermas Referenden der bei der Auszählung berücksichtigt würden, bei
zunächst aus normativen Gründen in seine Überle- der aber jeweils eine einfache Mehrheit ausreichen
gungen einbezogen hat. Europaweite Referenden – würde (AE). Diese größere Radikalität bürgt aber –
oder die politischen Debatten in ihrem Umfeld – ohne die Rückendeckung eines Verfassungskonvents
sollten zu dem zirkulären Prozess beitragen, der Eu- – nicht unbedingt für den Erfolg.
ropa-Bürger hervorbringen würde. Inzwischen hat In der Tat fällt es – von der strategischen Warte
sich die Argumentation zum Teil auf eine eher poli- aus gesehen – nicht sonderlich schwer, die Unreali-
tische oder sogar strategische Ebene verlagert: Dem- sierbarkeit dieses Vorschlages zu prognostizieren.
zufolge sind ›die Regierungen‹ gescheitert. Und ob- Sein Vorschlag umfasst jetzt im Wesentlichen (1) ei-
wohl das französische und das niederländische nen Plan für die Harmonisierung (oder die Verein-
›Volk‹ (d. h. seltsame Koalitionen aller Art, die keine heitlichung) der europäischen Sozial- und Steuerge-
gemeinsamen positiven Ziele hatten) gegen eine setzgebung (wobei die Details vermutlich noch aus-
›Verfassung‹ stimmten, die Habermas zumindest für gearbeitet werden müssten), (2) die Direktwahl eines
einen guten Anfang hielt, sollen wir jetzt – post fes- Europäischen Präsidenten (der vermutlich die Präsi-
tum – glauben, sie hätten recht gehabt. Und es ist gar dentschaft des Ministerrates und der Kommission in
so einfach, dieser Sichtweise zuzustimmen, da der einer Person vereinigen würde) in einer gesamteuro-
Verfassungskonvent in der Tat weder sehr politisch päischen Wahl (deren Regeln werden – wie üblich –
(über Abstimmungen war ein Bann verhängt, an nicht genauer ausgeführt, obwohl sie doch entschei-
ihre Stelle sollte ein sonderbares Etwas namens Kon- dende Konsequenzen haben könnten!) und (3) den
sens treten) noch besonders mutig war (vor allem neu geschaffenen Posten eines Europäischen Außen-
dann, wenn es um die Ausweitung der Demokratie ministers (dessen Befugnisse im Blick auf den Mi-
ging, oder darum, die Staaten als die sogenannten nisterrat und dessen Abstimmungsregeln nicht nä-
›Herren und Meister‹ der Verfassung vollständig her spezifiziert werden). So weit so gut, und es ist
dem Recht zu unterwerfen), und das Ergebnis des vielleicht auch nicht Habermas’ Aufgabe, hier prä-
Konvents war nicht sehr gut oder konsistent, und es zise Vorschläge auszuarbeiten. Aber er nimmt er-
wurde durch die darauf folgende Regierungskonfe- staunlicherweise die Literatur über die Gefahren ei-
renz noch weiter verwässert. Hätte ein europaweites, nes plebiszitären Präsidialsystems – von Tocqueville
überall an ein und demselben Tag abgehaltenes Re- und Marx angefangen bis hin zu Linz und Stepan –
ferendum diese Schwächen kompensieren können? nicht zur Kenntnis, und jedenfalls sind die meisten
Es wäre angeblich der Ausgangspunkt für den be- Europäer zu Recht Anhänger einer parlamentari-
reits erwähnten zirkulären Prozess des Aufbaus ei- schen Regierungsform. Ein offensichtlicheres Pro-
ner europäischen Bürgerschaft gewesen. Dies war blem ergibt sich daraus, dass Habermas die Regie-
zuvor die Pointe von Habermas’ Argumentation. rungschefs auffordert, einstimmig einem neuen Vor-
Doch eine solche Vorgehensweise hätte auch zum schlag zuzustimmen, der durchaus über den Vertrag
Erfolg dieser Unternehmung beitragen können. von Lissabon hinausgeht, auf den sie sich seinerzeit
Diese Behauptung stellte Habermas später auf, wenn nur mühsam hatten einigen können. Doch die größte
auch nur implizit. Der Verfassungsvertrag scheiterte Schwierigkeit bei all dem hat nun mit der Tatsache
demnach, weil er nicht demokratisch genug war; zu tun, dass das Verfahren zur Umsetzung allein
270 III. Texte

schon dieses Minimalprogramms ein europaweites laut Habermas – noch gar nicht existiert. Letzten En-
Referendum sein würde, das nach einem neuen und des findet also diese europäische Revolution nicht
einheitlichen Wahlmodus (der erst einmal einstim- statt, die von den Eliten im Namen des zukünftigen
mig beschlossen werden müsste!) am selben Tag wie Volkes angeleitet werden könnte, um einen revoluti-
die Europawahlen abgehalten werden müsste, wobei onären Rechtsakt zu unterstützen. Der rechtliche
eine (einfache!) Mehrheit der Staaten und eine (ein- Kunstgriff ist tatsächlich nur zu durchsichtig: Die
fache!) Mehrheit der Stimmberechtigten diesem Entscheidung, das Referendum – trotz aller damit
Plan zustimmen müssten; dieses Referendum wäre verbundenen Risiken – an einem Tag in ganz Europa
nur für jene Staaten bindend, die mit Ja stimmen durchzuführen, beeinflusst schon als solche das Re-
würden. sultat. Georg Jellinek hätte diese anfängliche Ent-
Diese Argumentation hat eine Dimension, die scheidung als den eigentlichen Augenblick der ver-
man ernst nehmen sollte. Wenn sich dieses Schema fassungsrechtlichen Zäsur ausgewiesen. Für die Re-
in die Realität umsetzen ließe, würde dies zu einem gierungen, die diesen Plan ablehnen, wäre der
›Europa der zwei Geschwindigkeiten‹ führen: Zu- Zeitpunkt, ihn zu Fall zu bringen, ganz zu Beginn
nächst würde nur ein ›Kerneuropa‹ dieses neue Ar- gegeben, und nicht während der Referenden. Später,
rangement übernehmen, den Neuankömmlingen aus wenn das Referendum anberaumt würde, bliebe ih-
der Peripherie würde aber ein problemloser Einstieg nen nur noch die Chance, an der Peripherie zu ver-
ermöglicht. Eine Reform mit zwei Geschwindigkei- bleiben; vorher können sie dagegen den gesamten
ten – erstmals im Jahr 2000 von Joschka Fischer als Plan der ›zwei Geschwindigkeiten‹ vereiteln und die
Übergangslösung vorgeschlagen – könnte vielleicht rechtliche Gleichheit der EU-Staaten bewahren.
von einem gewissen Zeitpunkt an unumgänglich Vor der Abstimmung in Irland hoffte Habermas,
sein, da die große Erweiterung der EU unseligerweise die immanenten Beschränkungen dieses Referen-
stattgefunden hatte, bevor die wichtigen institutio- dums durch den Hinweis überwinden zu können,
nellen Fragen geklärt waren. Dieser Vorschlag er- dass eine ›deutsch-lateinische‹ Staatengruppe
möglicht es, den Film noch einmal abzuspielen und (Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien) drohe,
dabei den Fehler zu korrigieren, ohne irgendjeman- die im Vertrag von Nizza enthaltene Regelung über
den von der gesamten EU ausschließen zu müssen eine verstärkte Zusammenarbeit zu nutzen, um de
(AE). Es hängt lediglich von der Macht der maßgebli- facto (durch einen Vertrag dieser vier Staaten) ein
chen Kernstaaten ab, ob dieser Vorschlag praktikabel Kern-Europa mit erhöhtem Integrationstempo zu
ist und nicht von einem ultra-demokratischen Be- bilden, dem andere Staaten dann beitreten könnten.
schluss, bei dem die Legitimation der Vereinbarun- Er wusste natürlich, dass die fraglichen Regierungen
gen zum Teil von ›europäischen‹ Wählern abhinge, keine konkreten Pläne dieser Art hatten, aber es
die nicht zu diesem Kern gehören werden. bleibt auch unklar, wie eine derartige Drohung über-
Warum sollte eine Regierungskonferenz, bei der haupt Wirkung zeigt. Das besagte Referendum
einige Staaten diesen Plan ablehnen, ein Referendum würde erst recht dazu beitragen, dass gewisse Staaten
akzeptieren, das zu einer Lösung der ›zwei Ge- sich zu einem Kernbereich zusammenschließen
schwindigkeiten‹ führen könnte? Habermas denkt würden – und zwar möglicherweise in weit größerer
hier freilich an den Rat der Europäischen Union Zahl, als es auf dem Wege einer verstärkten Zusam-
(den ›Ministerrat‹), der im Gegensatz zur Regie- menarbeit (gemäß dem Vertrag von Nizza) möglich
rungskonferenz ein Organ der EU ist. Doch dieser wäre, und die Zustimmung einer amorphen europä-
stimmt in seiner Zusammensetzung im Wesentli- ischen Mehrheit würde diesem Vorgehen eine zu-
chen mit der Regierungskonferenz überein und wird sätzliche Legitimation verschaffen. Diese Mehrheit
dazu aufgefordert, einen coup d’état gegen sich selbst wäre sicher, wenn vorwiegend große Staaten für ein
– in seiner Eigenschaft als Regierungskonferenz – zu solches Kern-Europa kandidieren würden. Warum
vollziehen. Die Hürde der Einstimmigkeit würde je- sollten die Gegner eines Europas der ›zwei Ge-
denfalls weiterhin bestehen. Und viele Regierungen schwindigkeiten‹ einem großen Integrationsprojekt
– besonders der kleineren Staaten – hätten keinerlei in Kern-Europa den Vorzug geben, und nicht einem
Interesse daran, die Ausarbeitung einer Verfassung kleineren, eher peripheren Projekt dieser Art, durch
irgendeiner anderen Instanz zu übertragen, die nach das sie nicht marginalisiert werden könnten? Sie
dem rein zahlenmäßigen Gewicht der einzelnen dürften ein solches Projekt nur dann akzeptieren,
Staaten entscheidet, die nicht die Macht oder die wenn die Union der vier großen Staaten weit födera-
Mittel besitzt, diese Rolle zu übernehmen und die – listischer organisiert wäre als der geplante ›Staaten-
14. Europa und Verfassung 271

verbund‹ der 27 Staaten; niemand könnte ernstlich Staaten in dem fraglichen Rechtsbereich verbindlich
einen solchen ›Superstaat‹ (ein neues Preußen) mit- sind. Dies würde es vor allem erforderlich machen,
ten in Europa wünschen. Diese machtpolitische Be- die Regelungen über Verfassungsänderungen umzu-
drohung müsste sehr weit hochgeschraubt werden, gestalten, und dies würde darüber hinaus sowohl
um zu funktionieren, doch dann würden bei den dazu beitragen, zukünftige Verfassungsänderungen
kleineren Partnern dieses Projekts verstärkter Zu- in demokratischerer Weise und mit größerer Partizi-
sammenarbeit dieselben Ängste (in diesem Falle: vor pation vorzunehmen, als auch Veränderungen auf
der deutschen oder der deutsch-französischen Vor- diese Weise leichter erreichen. Und in einem solchen
herrschaft innerhalb eines kleineren ›Superstaates‹) Kontext wäre die Drohung mit einer Struktur der
wach werden. So wird die Idee einer verstärkten Zu- ›zwei Geschwindigkeiten‹ aufgrund verstärkter Zu-
sammenarbeit im Rahmen eines Modells der ›zwei sammenarbeit einiger Staaten weitaus wirksamer.
Geschwindigkeiten‹ kein allzu großartiges Projekt Vier oder fünf Staaten könnten eine flexiblere Kör-
abgeben, und daher lässt sich dieses Modell auch perschaft begründen, die weitere Verfassungsände-
nicht als Drohkulisse einsetzen. rungen dann jeweils mit qualifizierten doppelten
Jedenfalls hat Habermas nach dem irischen Nein Mehrheiten beschließen könnte, wenn die Union in
seine Ansicht ein weiteres Mal revidiert. Nun macht ihrer Gesamtheit nicht – um diese Option auszu-
– angeblich – das Scheitern des gouvernementalen schließen – selbst eine derartige Regelung einführen
bzw. bürokratischen Vorgehens eben jenes Verfah- würde. Es würde dann – von dieser qualifizierten
ren erforderlich, das Habermas so dringend befür- Mehrheit abgesehen – kein Limit dafür geben, wie
wortet. Die implizite ›Drohung‹ besteht wiederum stark eine solche Föderation in der Föderation (oder
nur in der Prognose, die EU würde andernfalls ihre vielmehr in diesem Hybridgebilde) werden dürfte.
Funktionsfähigkeit verlieren. Doch dann stellt sich In einem solchen Szenario bestünde für Staaten, die
die Frage, warum das Verfahren mit einem inhaltli- sowohl eine stärkere Integration als auch ein ›Europa
chen Programm verknüpft werden soll, das weder der zwei Geschwindigkeiten‹ ablehnen, ein größerer
zur Debatte steht noch wirklich ausreichend struk- Anreiz, eine ›Revision der Revision‹ zu akzeptieren,
turelle Bedeutung besitzt, um einen grundlegend denn sie könnten Einfluss auf die Mehrheiten neh-
neuen Ratifikationsmodus zu rechtfertigen (sowohl men, die für eine zukünftige Verfassungsänderung
ein Außenminister als auch ein schwacher – wenn erforderlich wären und könnten dadurch bei Verfas-
auch direkt gewählter – Präsident ließen sich in die sungsänderungen weiterhin eine Rolle spielen; dies
derzeitige Hybridstruktur integrieren, auch wenn würde unmöglich, wenn ein Kern-Europa einseitig
diese durch das neue Element plebiszitärer Legitimi- eine Struktur der ›zwei Geschwindigkeiten‹ schaffen
tät vielleicht noch weiter destabilisiert würde). Wenn sollte. Wenn also jene Drohkulisse, die Habermas
diese Argumentation der Realität gerecht werden vorschwebt, jemals zum Einsatz kommen sollte, wäre
soll (da andernfalls nicht einmal ein Minimum es schade, sie wegen demokratischer Erwartungen
durchgesetzt werden kann), dann sollte man das kollabieren zu lassen, die in jedem Falle aussichts-
neue Verfahren auf die Verabschiedung des Vertrags lose Verkürzungen der europäischen Staatsbürger-
von Lissabon selbst anwenden. Warum sollte man schaft darstellen; viel besser wäre es, sich auf das
versuchen, über einen anderen Plan zu verhandeln, wirklich entscheidende Ziel zu konzentrieren, näm-
selbst wenn dieser teilweise mit dem bestehenden lich eine konsistente Struktur der Union zu schaffen,
identisch ist? mit der es möglich ist, diese auf legitime Weise zu
Und wenn das Ziel darin bestehen sollte, der Uto- verändern, ohne dabei länger auf jene informellen
pie einer perfekteren Union – mit Mitteln, die noch internen Umbauprozesse angewiesen zu sein, auf die
zu bestimmen sind – wirklich zu dienen, wäre es wir uns bislang verlassen müssen, die aber zwangs-
dann nicht besser gewesen, sich auf eine strukturelle läufig von der Öffentlichkeit und ihrer Partizipation
Konstitutionalisierung zu konzentrieren und sich weit entrückt sind.
damit zu befassen, was erforderlich ist, um eine kon- Vorerst sollte der Vertrag von Lissabon verab-
sistentere Struktur einer ›Föderation von National- schiedet werden, solange die fraglichen Staaten noch
staaten‹ zu schaffen? Im Gegensatz zu einer Konfö- nicht auf eine verstärkte Zusammenarbeit vorberei-
deration unterstellt eine Föderation die Staaten, die tet sind; angesichts seines großen Rückhalts in ganz
zuvor die Herren und Meister ihrer eigenen Verfas- Europa und angesichts der voraussichtlichen Folgen
sung waren, der Verfassung dieser Föderation, wo- im Falle seines Scheiterns sollte er sogar mit aller
bei für jeden Staat die Entscheidungen der restlichen Kraft durchgepeitscht werden. Anstatt ihn als das
272 III. Texte

Produkt eines rein bürokratischen Kompromisses –: »Ein Lob den Iren«. In: Süddeutsche Zeitung: http://
anzusehen, sollte Habermas ihn in einem gewissen www.sueddeutsche.de/ausland/artikel/310/180753/ (16.
6.2008).
indirekten Sinne sogar als Resultat seiner eigenen
Hoenig, Matthias: »Wacht auf, schlafende Mehrheiten für
Bemühungen und besonders auch des ›Konvents eine Vertiefung der Europäischen Union«. Interview mit
über die Zukunft Europas‹ verstehen; dieser Kon- Jürgen Habermas. In: http://www.perlentaucher.de/arti
vent brach den intergouvernementalen Status quo kel/3795.html (23.3.2007).
auf, wenn er ihn nicht gar zerbrach. Und wir alle Joerges, Christian/Mény, Yves/Weiler, Joseph H. H. (Hg.):
sollten den Vertrag als einen weiteren Schritt auf What Kind of Constitution for What Kind of Polity: Re-
sponses to Joschka Fischer. San Domenico 2000.
dem Weg zu einer perfekteren und hoffentlich de- Leben, Charles: »A Federation of Nation States or a Federal
mokratischeren Union Europas betrachten; dieser State?« In: Joerges/Mény/Weiler 2000, 99–111; im Inter-
Prozess sollte in der Zukunft sogar noch mehr Etap- net unter: www.jeanmonnetprogram.org/papers/00/00f
pen durchlaufen als bisher schon. Verfassungen sind 0301EN.rtf.
in keinem Fall jemals endgültig. Murswiek, Dietrich: Die verfassunggebende Gewalt nach
dem Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland.
Berlin 1978.
Literatur Pensky, Max: »Universalism and the Situated Critic«. In:
Stephen K. White: The Cambridge Companion to Haber-
Brunkhorst, Hauke: »Polity without a State: European Con- mas. Cambridge, UK 1995, 67–119.
stitutionalism between Evolution and Revolution«. In: Weiler, Joseph H. H.: »On the power of the Word: Europe’s
Eriksen/Fossum/Meníndez 2004, 34–59. constitutional iconography«. In: International Journal of
Dehousse, Renaud: »The Unmaking of a Constitution: Constitutional Law 3. 2/3 (2005), 173–190.
Lessons from the European Referenda«. In: Constella- Andrew Arato (Übers. Nikolaus Gramm)
tions 13, 2 (Juni 2006), 234–253.
Eriksen, Erik O./Fossum, John E./Meníndez, Agustín J.:
Developing a Constitution for Europe. London 2004.
Fischer, Joschka: Vom Staatenverbund zur Föderation: Ge-
danken über die Finalität der europäischen Integration.
Frankfurt a. M. 2000 (Nachdruck der Rede an der Hum-
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Fishkin, James S./Luskin Robert C.: »Experimenting with a
Democratic Ideal: Deliberative Polling and Public Opin-
ion«. In: Acta Politica 40 (Sept. 2005), 284–298.
Grimm, Dieter: »Das Risiko Demokratie. Ein Plädoyer für
einen neuen Parlamentarischen Rat«. In: Guggenberger/
Stein 1991a, 261–275.
–: »Zwischen Anschluß und Neukonstitution. Wie aus dem
Grundgesetz eine Verfassung für das geeinte Deutsch-
land werden kann«. In: Guggenberger/Stein 1991b, 119–
130.
–: »Vertrag oder Verfassung? Die Rechtsgrundlage der Eu-
ropäischen Union im Reformprozeß Maastricht II«. In:
Staatswissenschaften und Staatspraxis 6 (1995), 509–522
(wiederabgedruckt in: Ders.: Zur Neuordnung der Euro-
päischen Union: Die Regierungskonferenz 1996/97. Ba-
den-Baden 1997).
–: »Integration durch Verfassung«. In: Leviathan Bd. 32
(2004), 448–463 (wiederabgedruckt in: Walter Hallstein-
Institut für Europäisches Verfassungsrecht (Hg.): Euro-
päische Verfassung in der Krise – auf der Suche nach einer
gemeinsamen Basis für die erweiterte Europäische Union.
Baden-Baden 2007).
Guggenberger, Bernd/Stein, Tine (Hg.): Die Verfassungsdis-
kussion im Jahr der deutschen Einheit. München 1991.
Habermas, Jürgen: »Ist der Herzschlag der Revolution zum
Stillstand gekommen? Volksouveränität als Verfahren«.
In: Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Die
Ideen von 1789. Frankfurt a. M. 1989, 7–39.
–: »Die normativen Defizite der Vereinigung«. In: Ders.:
Vergangenheit als Zukunft: Das alte Deutschland im
neuen Europa? Hg. von Michael Haller. München 1993.
273

15. Religion, Metaphysik mistische Deutung, die in der Säkularisierung einen


Prozess sieht, der »religiöse Denkweisen und Le-
und Freiheit bensformen durch vernünftige, jedenfalls überle-
Glauben und Wissen (2001) gene Äquivalente« ersetzt (GUW, 12 f.). Der Fokus
auf die Möglichkeit einer entgleisenden Säkularisie-
Jürgen Habermas versteht sein Denken als nachme- rung ist dem Enteignungsmodell nicht verpflichtet:
taphysisch (ND). Dass er es nicht einfach als nachre- Das sieht man an den Erwartungen, die Habermas
ligiös versteht, obwohl er sich selbst als ›religiös un- an die religiösen Bürger kulturell moderner Gesell-
musikalisch‹ bezeichnet hat, ist lange vor der De- schaften richtet. Es geht um eine säkulare Einstel-
batte mit dem späteren Papst Benedikt XVI. auf lung im dreifachen Sinn: erstens, dass die religiösen
Interesse gestoßen (Habermas/Ratzinger 2005; NR) Bürger epistemisch offen sind in Bezug auf andere
Ausgangspunkt war Habermas’ Rede über Glauben Religionen und Weltanschauungen, dass sie die
und Wissen, die er anlässlich der Verleihung des kognitive Dissonanz nicht scheuen (GUW, 14; NR,
Friedenspreises des deutschen Buchhandels im Jahr 143); zweitens, dass sie die »Autorität der ›natürli-
2001 hielt (GUW; ZD; vgl. Reder/Schmidt 2008; chen‹ Vernunft« und deren »fehlbare Ergebnisse« in
Langthaler/Nagl-Docekal 2007; zu hier nicht gewür- den »institutionalisierten Wissenschaften« aner-
digten Themen vor allem AG, TP und TK). kennen; drittens, dass sie die »Grundsätze eines uni-
versalistischen Egalitarismus in Recht und Moral«
anerkennen, die dem modernen Verfassungsstaat
Postsäkulare Gesellschaft?
zugrunde liegen (Reder/Schmidt 2008, 27; NR, 143;
Die Bezeichnung ›postsäkulare Gesellschaft‹ lädt zu auch 127–41).
dem Missverständnis ein, dass es statt um das Ende Habermas spricht von einem »Formenwandel
aller Religion als Konsequenz der Aufklärung um des religiösen Bewusstseins«, der in der westlichen
die Wiederkunft der alten Religion am Ende der Mo- Kultur »seit den Tagen von Religion und Aufklä-
derne gehen könnte. Habermas spricht vom »theolo- rung« (NR, 143) stattgefunden habe – eine reflexive
gischen Selbstverständnis der großen Weltreligio- Wendung, die man vielfach affirmativ »Säkularisie-
nen, die als das sperrigste Element aus der Vergan- rung der Religion« genannt hat. Meint Habermas es
genheit« in die Moderne hineinragen (Reder/ so?
Schmidt 2008, 27). Zwar könne es sein, dass es nicht Auch wenn er von der »Säkularisierung in der
Sache der agnostisch bleibenden Philosophie ist, postsäkularen Gesellschaft« spricht (GUW, 12), ver-
eine Apologie des Glaubens mit philosophischen teidigt er die Säkularisierung der Religion. Der
Mitteln zu liefern: »Bestenfalls umkreist sie den opa- Grund hierfür ist, dass die säkularisierte Religion für
ken Kern der religiösen Erfahrung, wenn sie auf die ihn größtenteils Religion geblieben ist und bleiben
Eigenart der religiösen Rede und den Eigensinn des können muss – gerade im Sinne des für das agnosti-
Glaubens reflektiert« (NR, 149 f.). Dieser Kern müsse sche Denken Opaken. Es geht Habermas um die
dem diskursiven Denken »abgründig fremd« blei- Überwindung einer Einstellung, die in religiösen
ben (ebd.). Wenn er aber von einer möglichen »ent- Überlieferungen und Religionsgemeinschaften »ein
gleisenden« Säkularisierung der Gesellschaft im gewissermaßen archaisches, aus vormodernen Ge-
Ganzen« spricht und ein »säkularistisches Bewußt- sellschaften hineinreichendes Relikt« sieht und »die
sein« als beschränkt kritisiert (NR, 106, 146, 145 f., Religionsfreiheit nur als kulturellen Naturschutz für
vgl. 129, 134), könnte man versucht sein zu fragen, aussterbende Arten« (NR, 145) versteht. Auch nicht-
ob das Umkreisen nicht letzten Endes doch auf ei- religiöse Bürger sollen epistemische Offenheit prak-
nen Kniefall vor dem Opaken hinausläuft – auf ein tizieren. »Religiöse Überlieferungen besitzen für
credo quia absurdum ohne Glauben, aber mit dem moralische Intuitionen, insbesondere im Hinblick
kulturkritischen Motiv des Protestes gegen den Ni- auf sensible Formen eines humanen Zusammenle-
hilismus der Moderne. bens, eine besondere Artikulationskraft« (NR, 137),
Das wäre ein Missverständnis. Als Habermas behauptet Habermas. Von daher wird folgende
dies diskutierte, wandte er sich gegen zwei Modelle These verständlich:
der Säkularisierung: einerseits eine verfallstheoreti- »Die Säkularisierung hat weniger die Funktion ei-
sche Deutung, die in der Säkularisierung eine illegi- nes Filters, der Traditionsgehalte ausscheidet, als die
time Enteignung der Religion durch die Welt sieht, eines Transformators, der den Strom der Tradition
andererseits aber auch gegen eine forschrittsopti- umwandelt« (Reder/Schmidt 2008, 30). Der Strom
274 III. Texte

der vorsäkularen Tradition wird umgewandelt, aber Nun kann diese allgemeine Freiheitsordnung in
die selbstreflexiv-säkulare Moderne schiebt nicht einem amoralischen Sinn verstanden werden. Das
einfach die Vergangenheit in die Vergangenheit. Die tat Kant, als er davon sprach, dass auch Teufel einen
säkulare Moderne ist insofern auch postsäkular, als Staat errichten können, sofern sie nur Verstand ha-
das Sperrige der Tradition im Strom des kommuni- ben. Wir können einander aus Klugheitsgründen ge-
kativen Handelns und des Diskurses mitströmt, und genseitig Freiheitsspielräume zugestehen, ohne uns
zwar nicht als Altlast, sondern als Chance. zu achten. Man sieht nur, dass der Andere eine po-
»Eine Säkularisierung, die nicht vernichtet, voll- tentielle Gefahr für die eigene Freiheit ist und kommt
zieht sich im Modus der Übersetzung«, schreibt Ha- dem zuvor – im Sinne eines gegenseitigen Vertrages
bermas 2001 (GUW, 29). Das Postsäkulare am Den- zur Sicherung gleicher Freiräume.
ken solcher Säkularisierung liegt also gerade darin, Wenn Habermas von einer gleichen und unbe-
dass es, um dem Vernichtungspotential einer ent- dingt zu achtenden Würde aller Menschen spricht,
gleisenden Säkularisierung nicht Vorschub zu leis- dann geht es um etwas jenseits einer solch rein kon-
ten, von der Philosophie verlangt, dass sie »ihre Ar- ditionalen Ordnung. Denn selbst wenn eine solche
beit am religiösen Erbe mit größerer Sensibilität als Ordnung so praktiziert wird, dass tatsächlich alle die
bisher fortsetzt« (ZÜ). Es geht um Übersetzungen, gleiche Freiheit genießen, so geht es hier nicht um
die rettend sind, wie Habermas auf Benjamin rekur- die Ordnung einer allgemeinen Achtung der Men-
rierend sagt (PPP) – um eine Übersetzungstätigkeit, schenwürde, sondern nur um die Berücksichtigung
die »den ursprünglich religiösen Sinn zwar transfor- des Anderen zum Zweck des eigenen Freiheits- und
miert, aber nicht ›aufzehrt‹« (NR, 115). Sicherheitserhalts.
Um die Problematik zu beleuchten, gab Haber- Bei Kant dagegen geht es auch um eine Ordnung,
mas 2001 in seiner Preisrede ein Beispiel aus der in der alle eine unveräußerliche innere Würde ha-
Gentechnik, auf das er später weiter einging (LE). ben, die über den relativen Wert eines jeden »Prei-
Seine Beunruhigung kommt in der folgenden Frage ses« hinausgeht – es geht um Zwecke an sich, um
zum Ausdruck: freie Menschen, die sich selbst Zwecke setzen kön-
»Müßte nicht der erste Mensch, der einen anderen Men-
nen und somit zur Selbstbestimmung fähig sind.
schen nach eigenem Belieben in seinem natürlichen Sosein, Kant spricht von Willkürfreiheit, aber schon er weiß,
festlegt, auch jene gleichen Freiheiten zerstören, die unter was Habermas betont: dass unsere Wahl von Zwe-
Ebenbürtigen bestehen, um deren Verschiedenheit zu si- cken und Mitteln im Horizont möglicher Gründe
chern?« (GUW, 30 f.). und Motive stattfindet. Und nicht nur das: er erwei-
tert die Ordnung einer allgemeinen Willkürfreiheit
zur Ordnung allgemeiner Autonomie. Kant spricht
Ebenbildlichkeit als gleiche Würde:
letztlich von der Menschenwürde als der »Würde ei-
Freiheit und Autonomie
nes vernünftigen Wesens, das keinem Gesetze ge-
Habermas geht von der religiösen Idee der Gottes- horcht als dem, das es zugleich selbst gibt« (Kant
ebenbildlichkeit des Menschen aus – der Idee, dass 1968, Bd. VII, 67). Das geht über bloße Selbstfin-
Gott den Menschen nach seinem Ebenbild schuf, als dung und Selbstbestimmung hinaus, da es die Fähig-
freien Menschen. Die rettende Übersetzung, die er keit einschließt, sich einem transindividuellen mo-
im Sinne hat, ist die Übersetzung dieser Gotteseben- ralischen Gesetz aus Einsicht unterzuordnen.
bildlichkeit »in die gleiche und unbedingt zu ach- Kant stellt sich eine moralische Ordnung vor, in
tende Würde aller Menschen« (NR, 115 f.). der autonome Wesen einander in ihrer selbstlegisla-
In dieser Übersetzung werden zwei moderne tiven Würde achten. Kein Mensch soll zum bloßen
Ideen verwendet, die eine liberal, die andere kan- Mittel anderer Menschen herabgesetzt werden, aber
tisch. Nach der ersten Idee geht es um eine Ordnung es soll auch kein Mensch auf dem altruistischen Al-
gleicher Freiheiten oder Freiheitsspielräume, um so tar einer vermeintlich ewigen Ordnung geopfert
viel Freiheit für den Einzelnen, dass sie vereinbar mit werden.
einem gleich großen Freiheitsspielraum der anderen Wenn Habermas von der rettenden »Übersetzung
ist. Der Einzelne muss Einschränkungen seiner Frei- der Gottesebenbildlichkeit des Menschen in die glei-
heit akzeptieren, weil diese zugleich die Bedingun- che und unbedingt zu achtende Würde aller Men-
gen der Möglichkeit einer allgemeinen Freiheit Aller schen« (NR, 115 f.) spricht, dann ist dieser kantische
sind, einer allgemeinen Freiheitsordnung der Eben- Gedanke für ihn ein entscheidendes Element. Des-
bürtigen. halb fragt er, ob der erste Mensch, der die Natur ei-
15. Religion, Metaphysik und Freiheit 275

nes anderen Menschen willkürlich festlegt, nicht die setzen zu operieren oder wie ein Informatiker nach
gleichen Freiheiten zerstören müsste, die unter Regeln eines Codes« (GUW, 30). Er braucht nicht
Ebenbürtigen deren Verschiedenheit sichert. Ande- am Menschen zu ›basteln‹:
rerseits lässt sich fragen: Was ist mit dem einzigen »Die ins Leben rufende Stimme Gottes kommuniziert von
Gott, der die Menschen schuf, dem Allmächtigen, vornherein innerhalb eines moralisch empfindlichen Uni-
der alleine vor der Schöpfung da war? Darf man die- versums. Deshalb kann Gott den Menschen in dem Sinne
sem Gott mehr Vertrauen schenken als den Men- ›bestimmen‹, daß er ihn zur Freiheit gleichzeitig befähigt
schen? und verpflichtet« (ebd., 30 f.).
In gewissem Sinn bejaht Habermas diese Frage. Wenn nun aber ein Mensch am natürlichen Sosein
In der Friedenspreisrede spricht er einfach von dem eines anderen zu basteln beginnt, vielleicht um ihn
Gott, »der die Liebe ist« und »in Adam und Eva freie besser zu machen, stellt er damit nicht nur die Diffe-
Wesen schafft, die ihm gleichen« (GUW, 30). Er be- renz von Schöpfer und Geschöpf in Frage, sondern
tont, dass man das nicht glauben muss, »um zu ver- auch seine eigene Autonomie, und zwar zugunsten
stehen, was mit Ebenbildlichkeit gemeint ist. Liebe einer souveränen Willkür. Er wird dadurch aber
kann es ohne Erkenntnis in einem anderen, Freiheit nicht zu Gott. Die »offensive Selbstbehauptung des
ohne gegenseitige Anerkennung nicht geben« (ebd.). anthropozentrischen gegenüber dem theozentri-
Warum brauchen wir aber die Gottesvorstellung, schen Selbst- und Weltverständnis« ist eine »Schlacht
warum kann sie selbst »einem religiös Unmusikali- von gestern« (NR, 218) – wenigstens im europäi-
schen etwas sagen« (ebd.)? schen Westen. Jetzt drohe Gefahr auf der anderen,
Bei »allem ›Zuvorkommen‹ der Liebe Gottes« der inner-humanen Front: »Bisher sichert die natur-
denkt Habermas das Verhältnis von Gott und wüchsige Struktur unserer Lebensform eine Unver-
Mensch nach dem Modell gegenseitiger Achtung fügbarkeit der eigenen Natur, von der, wie sich nun
und Anerkennung (Langthaler/Nagl-Docekal 2007, herausstellt, die Umgangsformen des individualis-
401). Wenn Gott wirklich frei ist und sich ent- tisch-egalitären Universalismus gezehrt haben«
schließt, einen freien Menschen zu schaffen, dann (ebd.). Dieser Lebensform – dem Erbe des guten
heißt das, er behandelt den Menschen jederzeit als Schöpfergottes – drohe eine »Verletzung der kom-
Zweck, nie nur als Mittel, also so, dass er in Freiheit munikativen Verfassung unserer Lebensform bis in
jene eigene Verschiedenheit bestimmen kann, die moralische Tiefenschichten hinein« (Langthaler/
ihm gebührt. Nagl-Docekal 2007, 401). Der Theologe Magnus
Andererseits heißt »Erweiterung der Freiheit zur Striet erläutert dies am Bild des künftigen Menschen
Autonomie« als »eine[r] säkularisierend rettende[n] als Spielball genetischer Manipulationen »ihm vor-
Dekonstruktion von Glaubenswahrheiten« für ihn angegangener Generationen« (Langthaler/Nagl-Do-
doch die Übersetzung der »Autorität göttlicher Ge- cekal 2007, 272).
bote« in »die unbedingte Geltung moralischer Pflich- Habermas denkt den Menschen, der so handelt,
ten«. Dabei geht Autonomie nicht verloren, es geht nicht wie Gott als ein Wesen der zuvorkommenden,
nur um »das Echo« des göttlichen Ernstes in der den Menschen als Zweck gewidmeten Liebe, er denkt
menschlichen Autonomie. Das kommt auch dadurch ihn nicht einmal als einen, der für seine Eingriffe
zum Ausdruck, dass Kant »die traditionelle Vorstel- »einen Konsens mit dem betroffenen Anderen we-
lung der Gotteskindschaft« zerstört (GW, 23), dass nigstens kontrafaktisch« unterstellt (GUW, 31).
der Begriff des Menschen als eines freien, moralisch Diese Annahme soll offenbar den dystopischen Fall
sich selbst bindenden Wesens nicht »der Idee eines offenhalten, den Habermas in seiner Theorie der so-
anderen Wesens über ihm« bedarf (GUW, 23 f., Fn. 9; zialen Evolution, trotz seiner Kritik an Horkheimer
vgl. Kant 1968, Bd. VIII, 649). Führt das aber nicht und Adorno, nie für unmöglich gehalten hat und der
zur Idee der Ebenbürtigkeit der Menschen mit Gott? auch in seiner Kontroverse mit Niklas Luhmann
Wird damit nicht Gott einfach zum Menschen? mitspielte (vgl. LS, 192 f., TKH I, 461). Der säkularen
Moderne, deren Lebenswelt von systemischen Le-
Trennung von Schöpfer und Geschöpf bensbereichen, von Geld und administrativer Macht
mit ermöglicht wie auch kolonisiert worden ist,
Habermas verneint diese Frage. Es geht ihm gerade droht jetzt eine säkularistische Entgleisung. Denkt
um »die absolute Differenz zwischen Schöpfer und Habermas den Menschen, abgesehen von gesell-
Geschöpf«. Gott, der Schöpfer und Erlöser in einem schaftskritischen Motiven, – anders als Gott, der gut
ist, braucht nicht »wie ein Techniker nach Naturge- ist –, als böse?
276 III. Texte

Durchaus nicht, aber er stellt fest: Habermas stellt sich im kritischen Anschluss an
»Wie der enthemmte Umgang« mit dem »biblischen Erbe Durkheim eine archaische Gesellschaft vor, die auf
heute wieder einmal zeigt, [...] verfügen wir noch nicht Normen beruht, ohne dass diese Normen kritisiert
über einen angemessenen Begriff für die semantische Dif- werden können. Es wird kultisch gehandelt, feierlich
ferenz zwischen dem, was moralisch falsch, und dem, was gesprochen, ein Gefühl der Gemeinsamkeit erzeugt.
zutiefst böse ist« (GUW, 24). Die Normen gelten als heilige Normen. Wie ist das
Der Mensch, der an einem genetisch besseren Men- möglich? Bei einer Norm ist vorausgesetzt, dass man
schen bastelt, droht in den moralischen Strudel der von ihr abweichen kann, denn sonst ist sie nicht
säkularistischen Entgleisung zu geraten. identifizierbar als Norm. Wenn eine Norm gelten
Dagegen stellt sich Habermas den guten Schöp- soll, müssen Abweichungen von der Norm als Ab-
fergott vor, der von der Menschheit verlangt, dass sie weichungen identifiziert und beanstandet werden
sich zwischen einem nietzscheanischen Selbst-Expe- können: In diesem Sinn setzt Normgeltung Kritisier-
riment jenseits von Gut und Böse einerseits und ei- barkeit voraus. Hieraus folgt aber noch nicht, dass
ner Schöpfungsordnung der Verantwortungsethik auch die Normen als Normen kritisiert werden kön-
andererseits entscheidet. Er verbindet diese Alterna- nen.
tiven auf einer Metaebene mit einer Verselbständi- Habermas vereinfacht die Lage weiter, indem er
gung des Kapitalismus, legitimiert durch Philoso- sich mit Durkheim erstens auf archaische vorstaatli-
phien des szientistischen Naturalismus und der Will- che Gesellschaften konzentriert, wo es keine Mono-
kürfreiheit einerseits und der Möglichkeit bewusster polisierung von Mitteln legitimer physischer Gewalt
politischer Entscheidung andererseits, deren Aus- gibt. Außerdem setzt er – bewusst unrealistisch – vo-
gang offen wäre. Er schwächt dies dann ab, weil die raus, dass die Gesellschaft als Ganze »sakral« ist, dass
Komplexität der Fragen und die Unvermeidlichkei- es Ansätze zu profanen Bereichen nicht gibt.
ten der Entwicklung ein solch radikales Entweder- Alle Abweichungen von Normen sind dann ein
Oder unmöglich macht, das moralische Gewicht der Sakrileg. Darunter versteht Habermas etwas, was es
Wahl des »kleineren« Übels steigert und die ganze eigentlich gar nicht geben kann, was dennoch pas-
Lage zu der beunruhigenden Conclusio führt: dass siert und was man identifizieren kann. Um die spä-
wir mit einem Fortbestehen von vernünftigem Dis- tere Sprache der Metaphysik zu verwenden: Die Hei-
sens in der »existentiellen Frage« rechnen müssen, lige Ordnung der Normen ist, das Sakrileg ist nicht;
»wie wir uns als Gattungswesen verstehen sollen« es ist das Nichts. Vorausgesetzt ist, dass die Normen
(Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 402 f.; vgl. NR, 152; nicht als Normen kritisiert werden können, sie sind
Reder/Schmidt 2008, 34). heilig. Weil sie nicht kritisiert werden können, kön-
So argumentiert auch Habermas, allerdings unter nen sie auch nicht begründet werden. Ihre Geltung
der expliziten Voraussetzung, dass das Einsteigen in wird durch Handlungen und Symbole vollzogen,
den »opaken Kern« der Religion für die agnostische aber nicht rational begründet. Erinnern wir nun an
Philosophie einer kommunikativen Vernunft unzu- die Voraussetzung eines fehlenden Monopols physi-
mutbar bleibt (vgl. NR, 252). Striet dagegen, als scher Gewalt. Kommt es unter diesen Bedingungen
Christ, fordert von einer redlichen Theologie, dass zu Abweichungen, dann droht die ganze heilige Ord-
sie sich der Frage stellt, wieso der allmächtige Gott nung im Nichts zu verschwinden. Es gibt keine Ge-
den Menschen eine naturalistische Entgrenzung der genwehr: erstens keine effektive Polizei und zweitens
gemeinsamen moralischen Lebensform erlaube keine Normen, die begründet werden können. Es
(Langthaler/Nagl-Docekal 2007, 274 f.). Habermas, bricht die ›Moralpanik‹ aus. Das Nichts der Abwei-
der von »dem Glutkern, der sich an der Frage der chung kann nicht sein, also muss es ungeschehen ge-
Theodizee immer wieder entzündet« (GUW, 28), macht werden.
spricht, hält sich hier als Vertreter einer agnostischen
Philosophie heraus. Metaphysik
Wir verlassen nun kurz diese archaische Gesellschaft
Die Versprachlichung des Sakralen
und gehen auf eine Analogie zur Metaphysik explizit
Im großen Kapitel V der Theorie des kommunikati- ein. Nach Parmenides gibt es nur das Sein, und zwar,
ven Handels entwickelt Habermas sein Modell einer weil das Nichts nicht ist. Weil Mannigfaltigkeit, Ent-
Genesis der kulturellen Moderne durch die Ver- stehen, Vergehen, ja Veränderung, sogar Ortsverän-
sprachlichung des Sakralen. derung bedeutet zu denken, dass ein Nichts sei (z. B.
15. Religion, Metaphysik und Freiheit 277

der Tisch ist nicht der Boden, ist nicht der Boden). lichkeit wegen ihrer Konsequenzen argumentativ
Unter dieser Voraussetzung gibt es nur das Eine, eine abzuweisen.
gefüllte Kugel des Seins, unveränderlich, unbeweg- Dieser Freiraum des Denkens erscheint zwar – in
lich, einheitlich, ohne Löcher des Nichts, auch gibt diesem Urschritt – denkbar klein, und die Denkbe-
es kein Nichts außerhalb. Die Kugel ist alles, was ist. wegung endet immer in der Annahme nur einer
Das parmenideische Lehrgedicht liefert eine kom- Denkmöglichkeit: dass das Eine ist. Habermas be-
plexere Geschichte als diese und leitet die spätere tont, dass in der Denkbewegung – wie in der Aus-
Metaphysik mit ihren Versuchen zur Bewältigung merzung des Sakrilegs – Angst zum Ausdruck
des Verhältnisses von Einheit und Vielheit ein, die kommt:
Habermas analysiert (vgl. ND, 156 ff.). Der sperrige »Die Negation, die dem Einen das Viele so entgegensetzt
Gedanke der Seinskugel wird schon bei Parmenides wie Parmenides dem Sein das Nicht-Seiende, ist auch Ne-
zum gedanklichen Urkeim der griechischen Lehre gation im Sinne einer Abwehr tiefer Ängste vor Tod und
des gefüllten Sphären-Kosmos, der auch die sublu- Hinfälligkeit, Vereinzelung und Trennung, vor Gegensatz
nare Sphäre umfasst, mit der Erde als geometri- und Widerspruch, Überraschung und Neuerung« (ND,
158).
schem, wenn auch keineswegs als metaphysischem
Mittelpunkt. Eine Vision der Welt wird aufgebaut, Dennoch geht es hier um Einsicht durch Gründe. Im
wo es eine Art Vollkommenheit zweiter Ordnung Vergleich besitzt das Denken in den archaischen Ge-
gibt: die Vollkommenheit einer kontinuierlichen sellschaften nicht die Einheitlichkeit, die im Gedan-
Stufenleiter der Dinge, später »große Kette der We- kenexperiment der reinen heiligen Gemeinschaft
sen« oder »Stufenkosmos« genannt, vom Unvoll- zum Ausdruck kommt. Im mythischen Denken exis-
kommensten, Nichtigsten bis zum absolut Vollkom- tiert eine große Mannigfaltigkeit von Informationen,
menen. Dabei geht es nicht um Evolution, sondern sie wird durch Analogien und Kontrastierungen ge-
um eine ewige Ordnung von oben, bei Plotin als ordnet, die der Welt einen Sinn verleihen, aber auch
Emanation aus dem Einen gedacht. Das Eine, unter- die Erfahrung ausdrücken, dass der Mensch schutz-
schiedslos Gleiche ist dabei schon vollkommen, es los einer von ihm nicht beherrschten Umwelt ausge-
bekommt aber als Emanationsordnung der Stufen liefert ist. So wird die Welt durch unsichtbare Mächte
und Unterstufen, die auch Gleichheit (z. B. der freien erklärt, die zwar in Analogie zu Menschen, aber als
Bürger) und Ungleichheit (z. B. der Sklaven) kombi- ihnen überlegene Übermächte (TKH I, 76–78) ge-
nierbar macht, im Komparativ noch eine zweite dacht werden.
Vollkommenheit.
Bleiben wir aber zunächst bei dem einfachen Mo-
Theoria
dell der Seinskugel. Ähnlich wie Habermas’ Gedan-
kenexperiment einer rein heiligen Gemeinschaft Über diese Übermächte erhebt sich die griechische
können wir die Seinskugel des Parmenides als ein Theoria. In einer »gewaltigen Abstraktion«, die mit
kognitives Komplement zu dieser heiligen Gemein- einem »extramundanen Bezugspunkt [...] – eine Ab-
schaft sehen – oder jedenfalls als erhellende Analo- stand nehmende Perspektive« (ND, 156) gewinnt,
gie. Der Unterschied ist der folgende: Wenn in Aus- bekommt sie das Seiende im Ganzen in den Blick.
einandersetzung mit Parmenides einer ein Nichts Dabei ist die Betrachtung auch als intuitive Vereini-
für ein Sein halten würde, würde er nur argumenta- gung mit diesem Ganzen zu verstehen, und dennoch
tiv bestraft, das heißt: widerlegt. Einerseits scheint es erlaubt der angstfreie Blick auf das ewig Seiende
so, dass, wenn nur einmal der Gedankenfehler ge- auch einen Rückblick, »eine reflexive Selbstverge-
macht und nicht getilgt worden wäre, dann die ganze wisserung« (ND, 157). Schon 1965 hatte Habermas
Kugel des Seins in einem Loch des Nichts verschwin- die Theoria nicht nur als Abwehr von Ängsten, son-
den würde. Andererseits ist dies gerade das Argu- dern auch als Emanzipation verstanden: Er sprach
ment der parmenideischen Widerlegung, das ruhig, von den Göttern, die als »verinnerlichte Dämonen
ja abgeklärt vorgestellt werden kann, eben weil es – in den Bezirk der Seele« verbannt werden. Dadurch
wir setzen es voraus – ein gültiges Argument ist und »gewinnt die Einstellung reiner Theorie, die Reini-
seine Gültigkeit durch den Gedankenfehler eines gung eben von diesen Affekten verspricht, einen
Gegners nicht verliert. Ein diskursiver Freiraum des neuen Sinn: interesselose Anschauung meint dann
Denkens ist erschlossen, es geht nicht länger darum, offensichtlich Emanzipation« (TW, 154 f., vgl. ND,
ein Loch im Sein und die Drohung des Nichts auszu- 158).
merzen, sondern darum, eine hypothetische Mög- Dieses Moment der reflexiven Selbstvergewisse-
278 III. Texte

rung und der Emanzipation fehlt natürlich im Mo- schen Überlegungen zur Struktur des Kosmos, es
dell des archaisch Sakralen: Dort gibt es nur das Mo- gab auch systematisches Sammeln von Empirie und
ment des Außersichseins im Heiligen. Dennoch gibt mathematischer Kompetenz, auch die Verbindung
es eine Parallele: Mit der Gewinnung eines diskursi- dieser Elemente in der Astronomie. Die Theoria war
ven Freiraums wird die Möglichkeit einer freiwilli- zum Teil eine empirische, aber nicht interventionis-
gen Einsicht in Gründe und somit eines diskursiv er- tisch-technologisch angelegte Wissenschaft. Sie war
zielten Konsensus erreicht. Dies bietet aber »[…] das Betrachtung. Wenn sie außerdem noch als intuitive
Modell für alle Geltungsbegriffe, vor allem für die Vereinigung mit der Welt gedacht wurde, so scheint
Idee der Wahrheit« (TKH II, 110). Denn auch im das nicht an dem quasi deskriptiven Sinn des Vor-
»Zustand dunklen Gefühls« (ebd., 111) geht es um gangs zu rütteln. Zwar geht es bei der Vereinigung
eine »Semantik des Sakralen«, die etwas beschreibt, letztlich um den transzendierenden Blick über alles
das die Wirklichkeit »übersteigt« (ebd.): um eine bloß Sinnliche hinaus. Aber die Erfahrung, um die
Vorform der Theoria in Gestalt eines Gefühls des- es geht, ist ja nicht bloß mystisch-religiös, sondern
sen, was es heißt, sub specie aeternitatis zu denken auch argumentativ. Es geht um ein »epistemisches
(ebd., 110). Die Normgeltung des nichtkritisierbaren Ich [...], das sich, frei von Affekten, lebensweltlichen
Sakralen enthält die Vorstellung einer »zeitenthobe- Interessen, Vorurteilen usw., der Anschauung des
nen Unpersönlichkeit« in Form eines »idealisierten Seienden hinzugeben vermag« (TKH I, 295).
Einverständnisses« (ebd., 111) – eines Einverständ- Andererseits war die eine Welt dieser theoreti-
nisses über die Geltung des Heiligen als etwas teils schen Kosmologie nicht nur die unsterblich-ewige
Autoritativen, Distanzierenden, teils aber als etwas, und wahre, sondern auch die gute. Ens et verum et
das erlaubt, außer uns im Heiligen ein Wir zu sein. bonum convertuntur. Sie war auch die schön geord-
Wie entsteht die Idee der Wahrheit aus der Vor- nete Welt, das Schmuckstück eines hierarchisch ab-
stellung einer heiligen, nichtkritisierbaren Normgel- gestuften, einheitlichen Kosmos. Die scheinbare
tung? Man kann, wie oben, den Kontrast zwischen Mannigfaltigkeit wurde nicht als Argument gegen
der Moralpanik anlässlich des Sakrilegs einerseits, ihre Einheit gesehen. Im Gegenteil: Wäre die Welt
der ruhigen Erwägung der Argumente pro et contra nur wahr – also seiend, wirklich und zwar so, dass
andererseits betonen. Habermas sieht mit Durkheim man sie in rein deskriptiven Sätzen à la Hume hätte
aber auch ein Verhältnis der Entlehnung: Das Mo- beschreiben können, wäre sie nicht die wirkliche,
ment der »Harmonie der Geister« im Sakralmodell sondern eine nichtige Welt. Dem epistemischen Sub-
werde einem Moment der »Harmonie mit der Natur jekt der Theoria geht es letztlich um die Differenz
der Sache« hinzugefügt (ebd.). Damit geht eine von Sein und Nichts, nicht um die von Sein und Sol-
grundlegende Transformation einher. Jetzt steht hin- len.
ter der Erkenntnis nicht mehr die moralische Auto-
rität des Sakralen: »Der Wahrheitsbegriff verbindet
Metaphysik und Religion: Hochkulturelle
vielmehr die Objektivität der Erfahrung mit dem
Weltbilder
Anspruch auf intersubjektive Geltung einer entspre-
chenden deskriptiven Aussage, die Vorstellung der Das epistemische Moment der Kontemplation und
Korrespondenz von Sätzen und Tatsachen mit dem der holistisch abgerundete Modus des Geltens übten
Begriff eines idealisierten Konsenses« (ebd.). Es tritt natürlich nicht nur in der griechischen Welt großen
die bannende, zwingende, aber auch füllende, um- Einfluss aus. Es geht Habermas allgemein um den
schließende Kraft des sakralen Konsenses zurück Übergang von archaischen Gesellschaften zu Hoch-
und ein diskursiver Raum wird eröffnet, wo ein kri- kulturen, einschließlich der Entstehung der Weltreli-
tisierbarer Anspruch auf Geltung auftritt. Entspre- gionen. Die Prägung von Augustin durch die neo-
chend ist der idealisierte Konsens nicht mehr ein nur platonische Kontemplation ist bekannt; die mögliche
gefühlter, sondern ein diskursiv erzielter bzw. zu er- Parallele zwischen der Emanationslehre des über-
zielender. Trifft aber diese Analyse schon auf die an- strömenden Einen bei Plotin und dem persönlichen,
tike Theoria zu? Wir hatten sie schon als Freiraum allmächtigen, aber liebenden und Mensch werden-
der ruhigen Erwägung der Argumente beschrieben, den Gott des Christentums wurde historisch wirk-
aber nicht von erfahrungsgestützten Argumenten sam. Habermas spricht von »kulturellen Weltbil-
gesprochen. Haben wir es hier nicht eher mit mo- dern« (vgl. ebd., 91 ff.), die in den nach-archaischen,
derner Wissenschaft zu tun? hochkulturellen Gesellschaften entstehen, die die
Die Theoria bestand nicht nur aus philosophi- Form des Wissens annehmen und zur kosmologi-
15. Religion, Metaphysik und Freiheit 279

schen Legitimation von sozialen Hierarchien die- der subjektiven Welt »als der Gesamtheit der privile-
nen. Es geht um massive Steigerungen der Ungleich- giert zugänglichen Erlebnisse des Sprechers« (TKH I,
heit, ja der »barbarischen Ungerechtigkeit« (ebd., 149). Mit dieser dreifachen Unterscheidung bricht er
281). Es geht andererseits nicht einfach um einen mit der substanzialistisch-einheitlichen Kosmos-
Rückschritt im Vergleich zu egalitäreren archaischen konzeption und der holistischen Geltungsvorausset-
Zuständen: Innovative Erfahrungen der Freiheit und zung der Metaphysik und der hochkulturellen Reli-
der gleichen Freiheit wie die Theoria und die aristo- gionen. Die Unterscheidung von objektiver und
telische Bürgergleichheit bezeugen das, und den- sozialer Welt läuft parallel zur Hume’schen Unter-
noch gibt es die aristotelische Theorie der natürli- scheidung zwischen is und ought, dazu gibt es die
chen Sklaverei im selben Rahmen. Es geht noch Unterscheidung zwischen Wahrheit und normativer
nicht um die allgemeine Idee freier und gleicher In- Richtigkeit als Geltungsansprüchen, und als In-
dividuen im modernen Sinn, die Habermas als säku- stitutionen vor allem Naturwissenschaft und Tech-
larisierende Übersetzung von Ebenbildlichkeit auf- nologie einerseits, Recht andererseits.
fasst. Wie ist diese Idee möglich geworden? Was die objektive Welt angeht, so wird dieses
Das Modell einer Genesis der Moderne ist ein Konzept vor allem mit dem Durchbruch moderner
Modell der Versprachlichung des Sakralen als eines Naturwissenschaft notwendig, die den »Kosmos
zunächst nur »rituell gesicherten normativen Grund- zum Gegenstandbereich nomologischer Wissen-
einverständnisses« (TKH II, 119). Die Verlaufsrich- schaften« (ND, 164) herabsetzte, und das heißt: zum
tung ist die von der »bannenden Kraft des Sakralen zwar theoretisch durchdringbaren, dennoch aber im
zur bindenden Kraft kritisierbarer Geltungsansprü- Hume’schen Sinn bloß deskriptiven Sein der Erfah-
che« (ebd.). Rettet die Versprachlichung das Sakrale? rungswelt. Beim Begriff der sozialen Welt geht es um
Habermas spricht von der rationalen Struktur der die Welt des Sollens. Habermas kann, ohne mit Kant
Versprachlichung (ebd., 118.). Dabei geht es um eine zu brechen, von sozialer und nicht bloß von morali-
Entwicklung in Richtung einer universalistischen scher Welt im Sinne des Moralgesetzes sprechen,
Moral, die ein »moralisches Einverständnis« zum weil die Überprüfung von Handlungsmaximen
Ausdruck bringt, die »immer schon intendiert war: durch den Kategorischen Imperativ eine (jederzeit
die Allgemeinheit des zugrunde liegenden Interes- mögliche) Reflexion über die Bedingungen der Mög-
ses« (ebd., 124.). Die Entwicklung beschreibt er mit lichkeit moralischer Identität durch Vergemein-
Durkheim als Transformation des Kollektivbewusst- schaftung bedeutet. Das typisch Unmoralische be-
seins, die die moralische Verpflichtung nicht auflöst, steht darin, für sich selber eine Ausnahme zu ma-
aber menschlicher und rationaler macht, und zu- chen.
rechnungsfähige Individuen voraussetzt. Durkheim Zu diesen Weltbegriffen kommt noch das formale
spricht von einem »Kult des Individuums« (ebd., Konzept einer »subjektiven Welt«, einer Welt der Er-
130), ohne von seiner These von der sakralen Grund- lebnisse, auch der Wünsche und Gefühle, der Inter-
lage der Moral abzurücken (ebd., 79 f.). Habermas essen hinzu – einer Welt nicht nur des Ich, sondern
nennt »die kommunikativ verflüssigte Moral der auch des Freud’schen Es (TKH II, 152 und 570 f.), ei-
Diskursethik« den Ort der Auflösung des archai- ner Welt des Individuums. Habermas spricht in die-
schen Kerns des Normativen und dessen rationaler sem Kontext vom Geltungsanspruch der Aufrichtig-
Entfaltung. Auch für ihn haftet aber der Moral »noch keit. Für Kant ist die Selbstfindung oder -bestim-
etwas von der penetrierenden Kraft sakraler Ur- mung des Einzelnen in den Freiräumen, die der Ka-
sprungsmächte an« (ebd., 140). tegorische Imperativ offen lässt, sehr wichtig, ob-
wohl er das Phänomen der Individualität oder der
Differenzierung von Weltkonzepten Individuierung durch seine scharfe Trennung zwi-
und Geltungsansprüchen schen intelligibler und empirischer Welt nicht zurei-
chend begreifen kann (vgl. ND, 196 f.). Individuie-
Das Modell der Versprachlichung umfasst eine The- rung wird seit Kierkegaard als kritisch-paradoxe
orie der Differenzierung von formalen Weltkonzep- Übernahme der eigenen, selbstverantwortlichen Le-
ten und Geltungsansprüchen. Habermas unterschei- bensgeschichte begriffen (ebd., 202.). Wenn Haber-
det zwischen der objektiven Welt, »als der Gesamt- mas aber vom »Individualitätsanspruch« (ebd.,
heit aller Entitäten, über die wahre Aussagen möglich 208 f.) spricht, dann nicht, um Individualität als Ei-
sind«, der sozialen Welt »als der Gesamtheit aller le- gentum des Einzelnen zu betrachten. Für ihn ver-
gitim geregelten interpersonalen Beziehungen« und schränken sich subjektive und soziale Welt, weil der
280 III. Texte

Individualitätsanspruch des Einzelnen konstitutiv säkularistischen Gefahr einer vollen Positivierung


von der Anerkennung durch Andere, die einen eben- der menschlichen Natur Einhalt zu gebieten? Wie ist
solchen Anspruch stellen, abhängig ist (ebd.). Ein das moralisch Sakrale, dessen penetrierende Kraft
authentisches Individuum kann man nicht für sich Habermas beschwört, durch die Versprachlichung
allein sein: Schon die Idee entsteht erst in der sozia- hindurch zu retten?
len Welt. Die Prüfung des Anspruchs bestimmt sich Die Gesellschaft wird bei Habermas phänomeno-
erst anhand des kritischen Anblicks Anderer zur logisch zunächst als ein kooperatives Unternehmen
Konsistenz von Absichten und Handlungen. verstanden, das natürlich auch Konflikte und Kon-
Erst durch diese Verschränkung der Konzepte der fliktpotentiale enthält. Dabei verläuft das kommuni-
sozialen und der subjektiven Welt entsteht die kativ-kooperative Handeln meist lebensweltlich un-
Habermas’sche Idee einer durch gegenseitige Aner- problematisch, wenn auch Missverständnisse und
kennung gleichen, dennoch individuell je verschie- Dissense entstehen können. Entstehen im kommu-
denen Freiheit aller Subjekte, die er als ein Säkulari- nikativen Handeln wirklich hartnäckige Dissense,
sat der Ebenbildlichkeitsidee betrachtet. Nun stei- die zu langwierigen Konflikten geraten, kann man
gert Kant seine Einsicht in die unbedingte Struktur sich für eine diskursive ›Aus-Zeit‹ oder ›Rosskur‹
von moralischen Normen oder Kategorischen Impe- (Høibraaten 2001) entscheiden, wo es nur noch um
rativen zu einem Rigorismus – als ob der Kategori- richtige Informationen und überzeugende Argu-
sche Imperativ zum Beispiel nie in Widerspruch zu mente geht. Findet man dann die Lösung oder
dem Gebot, nie zu lügen, geraten könnte. Dahinter Partial-Lösungen, kann das kooperative Handeln
steckt die Vision einer widerspruchsfreien Welt kate- wieder anfangen. Findet man sie nicht, entstehen ty-
gorischer Imperative – eine Art Quasi-Kosmos des pischerweise Parteiungen, die gesellschaftlich pro-
Moralgesetzes ›in mir‹, dem Kant am Ende der Kritik duktiv, aber auch destruktiv sein können. Für Dau-
der praktischen Vernunft auch den Sternenhimmel erkonflikte, die sich nicht totalisieren, gibt es die
›über mir‹ hinzufügt, ohne dass der physische Kos- Möglichkeit der diskursiv aufgemischten Verhand-
mos wieder entsteht, denn einzig das Moralgesetz lungen, wo innerhalb eines Rahmenkonsenses über
gibt hier Selbstvergewisserung. Standards fairer Verfahren mit Sanktionen gedroht
Diese Vision verabschiedet die Habermas’sche werden kann (vgl. FG).
Umformung der Kantischen Ethik im Rahmen einer Die neuzeitliche Herabsetzung des Kosmos zum
Theorie des kommunikativen Handelns und des Gegenstandbereich nomologischer Wissenschaften
Diskurses. Die Diskursethik denkt die Ethik nicht geschah, weil man so die »Sache« präziser in den
mehr vom Einzelmenschen aus, sondern von der Griff bekam. Die Welt wurde zur »objektiven Welt«
faktischen Kommunikation – wobei der Geltungs- der Naturgesetze und manipulierbaren Objekte. Die
anspruch der normativen Richtigkeit immerhin eine Wahrheit über diese Welt schließt tiefgreifende Än-
Art innerweltliche Transzendenz darstellt (vgl. FG, derungen nicht aus, wie das Experimentieren mit
32 ff.). Die kantische moralische Welt wird radikaler den genetischen Grundlagen unserer bisher natur-
als soziale begriffen, und als soziale wird sie dann wüchsigen sozio-kulturellen Lebensform vielleicht
›kommunikativ verflüssigt‹. Was Habermas damit zeigen wird. Im Diskurs der Naturwissenschaften
beabsichtigt, ist klar – politisch vor allem eine Radi- läuft die Versprachlichung des Sakralen auf seine
kalisierung der Theorie des Demokratie und des de- Auflösung hinaus, wenn auch die bindende Kraft
mokratischen Rechtsstaates. kritisierbarer Geltungsansprüche operativ ist.
Ist dies anders in normativen Diskursen der Mo-
ral, des Rechts und in Wissenschaften, wo normative
Kommunikative Entgleisung?
Diskurse mit theoretisch-empirischen einhergehen?
Wenn wir aber von der faktischen Kommunikation Die Übersetzung der Idee der Gottesebenbildlich-
moderner demokratischer Gesellschaften ausgehen: keit des Menschen durch die normative Idee der glei-
Könnte eine Gefahr der säkularistischen Entgleisung chen Freiheit bedeutet, dass eine kommunikativ ver-
nicht gerade in der Verflüssigung liegen? Auch wenn flüssigte, fortwährende Kommunikation über ihren
Habermas weder an eine Naturrechtstheorie noch Sinn entscheidet. Sie führt zu keiner sakralen autori-
an den Rechtspositivismus glaubt, sondern beides tativen Instanz. Insofern kann man sich eine
im Rahmen einer Theorie der kommunikativen Ver- Menschheit vorstellen, die sich selbst genetisch ver-
nunft berücksichtigen will (vgl. FG): Ist die Idee der ändert, allerdings legitimerweise nicht so, wie sich
kommunikativen Verflüssigung dazu geeignet, der Habermas das mit einem Menschen vorstellte, der
15. Religion, Metaphysik und Freiheit 281

einen anderen Menschen genetisch fremdbestimmt deswegen war die ›Gottesaussichtsstelle‹ der Theoria
und »nicht einmal kontrafaktisch einen Konsens mit so schön. Zwar hatte schon Augustin Gott die Mög-
ihm« unterstellt (GUW, 30). Hier geht es ja um das lichkeit zugeschrieben, das Böse zuzulassen, aber
Menschengeschlecht im Ganzen. Alle Menschen dieses Szenario wurde mit der Erbsündenlehre mar-
müssten zustimmen können, und es wäre schon pa- ginalisiert. Nun sollte das Gedankenexperiment der
radox, die zukünftigen Generationen auszuschlie- Ausweitung der Macht Gottes radikal durchgeführt
ßen. Weil aber auch nicht zu erwarten ist, dass alle werden. Wenn aber Hans Blumenberg die Legitimi-
Lebenden zustimmen würden, müsste man sich ei- tät der Neuzeit als humane Selbstbehauptung gegen
nen globalen Konsens über Prozeduren vorstellen den spätmittelalterlichen theologischen Absolutis-
können, wonach eine Mehrheit nach langwierigen mus deutet, dann setzt diese Deutung, sofern sie für
Diskursen mit vielen Revisionsmöglichkeiten eine die Neuzeit wahr sein sollte, ein – produktives –
Entscheidung durchsetzen könnte. Missverständnis dessen voraus, was das nominalisti-
Nehmen wir an, der Prozess sei legitim vorstell- sche Denken des Mittelalters tatsächlich wollte.
bar. Ist dann nicht das Sakrale auch auf normativem Gott als möglichen bösen deus mutabilissimus zu
Wege aufgelöst, falls die Entscheidung zugunsten ei- sehen, dessen Grenzen der Macht etwa seit Johannes
ner Ordnung ausfällt, die einem Teil der Menschheit von Mirecourt (Blumenberg 1988, 224) erschlossen
ihre Autonomie zu rauben droht? werden, heißt doch, wenn man sich Gott nicht ein-
fach als willkürlichen und eher schwachen Tyrannen
in der Zeit vorstellt, ihn als grenzenloses Wesen in
Bild der Rettung
und jenseits von Raum und Zeit in seine Grenzen zu
Vielleicht kann man den Sinn der Habermas’schen weisen. Im Beispiel Mirecourts bedeutet dies, dass
Reflexion über die Religion in folgender historischer man sich des späteren kantischen Gedankens »Sol-
Überlegung als theologische »Verkürzung« darstel- len impliziert Können« bedient, um an Gott zu
len: Die Menschheit ist diskursiv und potentiell ge- demonstrieren, dass er zwar in einem Menschen di-
fährdet, ebenso die »innerweltliche Transzendenz« rekt sozusagen sündhafte Effekte erzeugen kann,
unserer Sprache mit ihrer transsubjektiven, nicht ohne die moralische Zurechenbarkeit des Opfers für
aber absoluten Macht (AE, 53; vgl. ND, 184 f.). Gott diese Implantationen miterzeugen zu können. Wenn
ist für das post-metaphysische Denken letztlich opak man aber die Allmacht Gottes bis in dieses Können
und dennoch ein kritisches Bild der Rettung. Gott ist ausweitet und dennoch auch meint, Gott sei in einen
allmächtig und der Glutkern, der sich nach Haber- Bund mit den Menschen getreten, was bedeutet ein
mas an der Frage der Theodizee immer wieder ent- solcher Schritt in der Geschichte des Denkens?
zündet, bezeugt dieses selbst für den Agnostiker. Der Nominalismus dachte so radikal über Gott
Fragen wir aber dennoch, um nicht einfach bei den nach, dass die Theoria-Position der Philosophie ver-
sakralen Ursprungsmächten zu bleiben, sondern der lorenging, der Glaube an den guten Gott aber blieb.
Theologie näher zu kommen: Wann ist Gott all- Des grenzenlos allmächtigen und guten Gottes
mächtig geworden? Nicht im Alten Testament, son- konnten sich die Nominalisten nicht mehr denkend
dern dazu bedurfte es des Treffens mit der argumen- versichern. Dies aber wurde nicht als Bosheit Gottes
tativen Metaphysik. Zunächst nahmen die christli- verstanden, sondern als Ohnmacht des menschli-
chen Philosophen die Einladung in die Gottesstelle chen Denkens gegenüber der unerforschlich göttli-
der Theoria an. Aber nach und nach, insbesondere chen Macht.
nach den anti-aristotelischen Maßnahmen des Pari- Das nach-metaphysische Denken Habermas’
ser Bischofs im Jahre 1277, wurde der Gedanke ernst »[…] enthält sich […] der rationalistischen Anma-
genommen, dass Gott die Welt mitsamt den Men- ßung, selber zu entscheiden, was in den religiösen
schen aus dem Nichts geschaffen hatte. Die Konse- Lehren vernünftig und was unvernünftig ist« (NR,
quenz daraus war der Nominalismus: Was es gibt, 149). Dem opaken Glutkern religiöser Erfahrung ge-
sind Einzeldinge einschließlich Einzelmenschen, genüber bleibt es abgründig fremd, aber weder feind-
und Gott, der Einzelne, ist also reichsunmittelbar lich noch misstrauisch eingestellt, weil die Weltreli-
(ND, 160 f., 193 f.). gionen, wie die Metaphysik, zur Geschichte und Ge-
Die andere Konsequenz war die, dass Gott unbe- nealogie der Vernunft gehören (NR, 12 f., 147). Von
greiflich mächtig wurde (vgl. Høibraaten 2007; Oak- der penetrierenden moralischen Kraft der sakralen
ley 1984.). Der unpersönliche antike Philosophen- Ursprungsmächte über die theoretisch vernehmbare
gott hatte nicht wirklich mit dem Bösen zu tun, auch Heiligkeit des unpersönlichen Kosmos führt keine
282 III. Texte

logische Linie zu einem tyrannisch allmächtigen 16. Menschliche Natur und


Willkürgott. Die Allmacht Gottes kommt so zum
Ausdruck: »Die ins Leben rufende Stimme Gottes
genetische Manipulation
kommuniziert von vornherein innerhalb eines mo- Die Zukunft der menschlichen Natur.
ralisch empfindlichen Universums« (ebd.). Wenn Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?
Habermas religiösen Überlieferungen für sensible (2002)
Formen eines humanen Zusammenlebens eine be-
sondere Artikulationskraft attestiert, die auf »inten- Die Fortschritte in den Biowissenschaften lösen je
sivere Art gegenwärtig geblieben zu sein« scheine als nach Temperament Begeisterung oder Beunruhi-
die Metaphysik (NR, 149), dann geht es um diesen gung aus und sorgen damit für eine spürbar wach-
persönlichen Gott. sende Nachfrage nach normativer Orientierung. Da-
Kierkegaard, dem Habermas seit seiner Disserta- bei provozieren Gentechnik und Biotechnologie
tion Aufmerksamkeit geschenkt hat, beschrieb ein- nicht nur philosophische Reaktionen im Stil der an-
mal dieses Bild: gewandten Ethik, etwa in Form eines Streits über die
»Das ist das Unbegreifliche, daß Allmacht nicht bloß ver- angemessenen Normen und Regulierungen. Die
mag, das Allerimposanteste, das sichtbare Weltenganze, Diskussionen über die Grenzen der Zulässigkeit von
hervorzubringen, sondern auch das Allergebrechlichste Stammzellenforschung und von Veränderungen
hervorzubringen vermag: ein der Allmacht gegenüber un- menschlichen Erbguts rücken vielmehr die grund-
abhängiges Wesen« (Kierkegaard 1962, 257, zit. nach Ko- sätzliche anthropologische Frage nach der »Zukunft
dalle 1988, 99).
der menschlichen Natur« in den Fokus. Die von Prä-
implantationsdiagnostik (PID) und verbrauchender
Literatur Embryonenforschung ausgelöste grundbegriffliche
Blumenberg, Hans: Die Legitimität der Neuzeit. Frankfurt Provokation besteht Jürgen Habermas zufolge darin,
a. M. 1988. dass die universale Vernunftmoral, die bislang einen
Habermas, Jürgen: The Holberg Prize Seminar 2005. Hol- zuverlässigen Maßstab für normative Konflikte in
berg Prize Laureate Professor Jürgen Habermas: »Religion
in the Public Sphere«. Bergen 2007. pluralistischen Gesellschaften bot, nun in ein neues
– /Ratzinger, Joseph: Dialektik der Säkularisierung. Frei- und differenzierteres Verhältnis zu ethischen Vor-
burg i.Br./Basel/Wien 2005. stellungen über das richtige Leben der menschlichen
Høibraaten, Helge: »Kommunikative und sanktionsge- Gattung gesetzt werden muss.
stützte Macht bei Jürgen Habermas, mit einem Seiten- Es wäre daher unzutreffend, den Status von Ha-
blick auf Hannah Arendt.« In: Bernd Neumann et al.:
»The Angel of History is looking back«. Würzburg 2001. bermas’ Essay Die Zukunft der menschlichen Natur.
–: »Post-Metaphysical Thought, Religion and Secular Soci- Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? (LE) so zu
ety«. In: Habermas 2007. verstehen, als handele es sich dabei ausschließlich
Kant, Immanuel: Werke in zwölf Bänden. Hg. von Wilhelm um eine seiner politisch folgenreichen publizisti-
Weischedel. Frankfurt a.M 1968. schen Interventionen, in denen er in der Rolle des
Kierkegaard, Søren: Die Tagebücher. Hg. von Hayo Gerdes.
Bd. IV. Düsseldorf/Köln 1962 ff. öffentlichen Intellektuellen in aktuelle gesellschaftli-
Kodalle, Klaus M.: Die Eroberung des Nutzlosen. Kritik des che Debatten eingreift. Diese Einschätzung ist sicher
Wunschdenkens und der Zweckrationalität im Anschluss nicht vollkommen unbegründet, greift jedoch zu
an Kierkegaard. Paderborn 1988. kurz. Eine solche Sicht unterschätzt nämlich die in
Langthaler, Rudolf/Nagl-Docekal, Herta (Hg.): Glauben philosophischer Hinsicht erheblichen und bedeu-
und Wissen. Ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien
2007.
tenden grundbegrifflichen Weiterungen und Modi-
Oakley, Francis: Omnipotence, Covenant and Order. Ithaca fikationen der Diskurstheorie, die Habermas in die-
1984. sem Essay vornimmt. Die für seine gesamte Philoso-
Reder, Michael/Schmidt, Josef (Hg.): Ein Bewusstsein von phie charakteristische Verhältnisbestimmung von
dem, was fehlt. Eine Diskussion mit Jürgen Habermas. Moral und Ethik, der Theorie des Gerechten und
Frankfurt a. M. 2008.
Helge Høibraaten
den Lehren des Guten, erfährt hier eine signifikante
Erweiterung. Denn angesichts der anthropologi-
schen Herausforderungen, die durch die neuen Bio-
wissenschaften und die mit ihnen verbundenen
Ideologien ausgelöst werden, thematisiert Habermas
hier auf dezidierte Weise die gattungsethischen Rah-
menbedingungen einer Diskurstheorie der Moral
16. Menschliche Natur und genetische Manipulation 283

und des Rechts. Er behandelt gewissermaßen die Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik?
schwachen metaphysischen Voraussetzungen einer Der Haupttext des Essays
nachmetaphysischen Moral. Dabei geht es ausdrück-
lich nicht um eine Revision der bekannten grundbe- Habermas’ Überlegungen gehen von der Einschät-
grifflichen Unterscheidungen, sondern um eine tie- zung aus, dass die medizinisch-biotechnologischen
fer ansetzende Rekonstruktion ihrer begrifflichen Fortschritte in PID und Stammzellenforschung für
Voraussetzungen. Angesichts der biowissenschaftli- eine Verwirrung grundlegender moralischer Ge-
chen Revolution muss die für die Diskurstheorie fühle und Intuitionen gesorgt haben. Er versteht sei-
zentrale Differenz zwischen partikularen Fragen des nen Essay daher im wörtlichen Sinn als Versuch,
guten Lebens und der universalen Perspektive einer nämlich als Versuch der diskursiven Klärung und
für alle geltenden Moral gleicher Achtung neu jus- damit der Beruhigung der durch den biotechnologi-
tiert und begründet werden, da das Selbstverständ- schen Fortschritt verwirrten und aufgescheuchten
nis der menschlichen Gattung als Ganzes auf dem moralischen Gefühle. Das Phänomen der morali-
Spiel steht. schen Beunruhigung speist sich aus dem Eindruck,
Daher verbinden sich in Habermas’ Essay kon- dass die bisher als fest und verlässlich geltenden Un-
krete, anwendungsbezogene Fragen und zeitdiag- terscheidungen »zwischen der Natur, die wir sind,
nostische Einschätzungen mit prinzipiellen philoso- und der organischen Ausstattung, die wir uns geben«
phischen Fragen, welche die Grundbegriffe und Ge- (44) unscharf geworden sind.
samtarchitektonik der Diskurstheorie berühren. Um Auf diese Beunruhigung wird vielerorts mit Ver-
dieses komplexe Geflecht von Argumenten darzu- suchen einer Moralisierung der menschlichen Natur
stellen und zu würdigen, sollen in einem ersten Ab- reagiert, welche Eingriffe in die genetische Ausstat-
schnitt die argumentativen Schritte rekonstruiert tung des Menschen generell tabuisieren sollen. So
werden, in denen Habermas im Hauptteil des Essays wird häufig ein Konnex hergestellt zwischen morali-
seine diagnostische Stellungnahme zu Gentechnik scher Integrität und natürlicher Unverfügbarkeit der
und PID entwickelt und philosophisch begründet menschlichen Person. Auch Habermas lässt sich in
(»Auf dem Weg zu einer liberalen Eugenik? Der seiner Betrachtung der gegenwärtigen »Diskussion
Haupttext des Essays«). Im zweiten Abschnitt (»Der über den Regelungsbedarf der Gentechnik« (45) von
Streit um das ethische Verständnis der Gattung. Ein- der Frage leiten, welche Bedeutung die Idee der »Un-
wände und Replik«) werden einige der wichtigsten verfügbarkeit der genetischen Grundlagen unserer
Einwände gegen den Essay »Die Zukunft der eigenen leiblichen Existenz für die eigene Lebens-
menschlichen Natur« dargestellt und im Zusam- führung und unser Selbstverständnis als moralische
menhang mit Habermas’ Replik auf diese Einwände Wesen« (44 f.) besitzt. Dabei kommt es Habermas
diskutiert. Dabei beziehe ich mich hauptsächlich, zufolge aber darauf an, das begriffliche Verhältnis
aber nicht ausschließlich, auf die im Schwerpunkt- von Unverfügbarkeit der menschlichen Natur und
thema der Deutschen Zeitschrift für Philosophie ver- der Unantastbarkeit der Person genau zu bestim-
sammelten Einwände und auf Habermas’ Replik, die men. Habermas möchte dem Prinzip der Unantast-
sich im »Postscriptum« findet, das dem Essay ab der barkeit der Person einen von der Vorstellung der Un-
vierten Auflage beigefügt wurde. Im dritten und letz- verfügbarkeit der Natur unterschiedenen und unab-
ten Abschnitt (»Postmetaphysische Antworten auf hängigen Sinn geben. Damit zielt er zum einen auf
die Fragen nach dem ›richtigen Leben‹? Diskursthe- die Zurückweisung einer präferenzutilitaristischen
orie der Moral und Gattungsethik«) wird dann die Reduktion von Unantastbarkeit auf technische Un-
Einbettung dieser Argumente in den weiteren Kon- verfügbarkeit: Alles was gemacht werden kann, darf
text der philosophischen Gesamtposition von Ha- dann im Lichte der Präferenzen der Einzelnen voll-
bermas erörtert. Dabei wird vor allem Bezug genom- zogen werden. Damit ist nicht nur die Bekämpfung
men auf die allgemeinen Vorüberlegungen, die sich genetisch bedingter Behinderungen und Erkrankun-
im Eingangskapitel unter der Überschrift »Begrün- gen gemeint, sondern auch Formen der Steigerung
dete Enthaltsamkeit. Gibt es postmetaphysische Ant- von Potentialen – einschließlich von Doping und
worten auf die Frage nach dem »richtigen Leben«?« technisch induziertem »Enhancement« – die letzt-
(11–33) finden. lich auf eine »transhumane« »Selbsttransformation
der Gattung« (42) zielen. Die utilitaristische Strate-
gie kann aber nicht die tabuanaloge Geltung der Un-
antastbarkeit der menschlichen Person erklären, die
284 III. Texte

das Prinzip der unveräußerlichen Menschenwürde nom handelnde Personen anerkennen können« (49).
artikuliert. Sie kann zudem in ethischer Hinsicht Daher sind sie nicht als Ausdruck eines vormoder-
nicht die starken abwehrenden Gefühle und Intui- nen Projekts der wiederverzaubernden Moralisie-
tionen erklären, jene Gefühle des Ekels und den Ein- rung der Natur zu verstehen. Sie haben vielmehr die
druck der Obszönität, welche die chimärischen We- Funktion, die »Erhaltungsbedingungen des prakti-
sen auslösen, die Resultate bewusster Überschrei- schen Selbstverständnisses der Moderne« (49) zu ga-
tung biologischer Gattungsgrenzen darstellen. rantieren. Das Programm einer »Moralisierung der
Aber auch die umgekehrte »metaphysische« Stra- Natur« muss daher im Sinne eines Reflexivwerdens
tegie der Bindung der Unantastbarkeit der Person an der Moderne verstanden werden. Dies bedeutet, dass
unveränderliche Merkmale der menschlichen Natur die »Unverfügbarkeit der biologischen Grundlage
ist unzureichend. Diese Position unterschätzt zum personaler Identität« (51) nur in einem abgeleiteten
einen in technisch-pragmatischer Hinsicht die tat- oder vermittelten Sinn begründet werden kann. Die
sächliche biotechnisch gegebene Plastizität der Integrität der moralischen Person gründet nicht di-
menschlichen Natur; sie agiert daher politisch naiv, rekt in der biologischen Ausstattung des menschli-
indem sie in gewisser Weise darauf hofft, dass der chen Individuums; substantiell verändernde Ein-
bereits entfesselte Geist des biowissenschaftlichen griffe in dieses naturale Substrat verändern aber das
Fortschritts noch gezähmt werden könnte. Diese Ar- Selbstverständnis der moralischen Person und ihr
gumentation besitzt zudem die erkenntniskritische Verhältnis zu anderen auf dramatische Weise.
Schwäche und Naivität, nicht genügend zu berück- Diese dramatische Sicht scheint in einer liberalen
sichtigen, dass alle substantiellen Vorstellungen über Perspektive wenig einleuchtend. Denn für die Ver-
notwendige natürliche Eigenschaften des Menschen treter einer liberalen Eugenik »erscheinen die neuen
mit jenen metaphysischen Vorstellungen über die Reproduktionstechniken ebenso wie der Organer-
menschliche Person variieren, die unter Bedingun- satz oder das assistierte Sterben als ein Zuwachs an
gen eines weltanschaulichen Pluralismus notwendig persönlicher Autonomie« (51 f.). Die liberale Euge-
in einer irreduziblen Vielfalt auftreten. nik will daher die Entscheidung über die genetische
Die Rettung eines eigenständigen Sinns der mo- Ausstattung den Eltern und anderen Verantwortli-
ralischen Achtung für die Unantastbarkeit der Per- chen überlassen. In einem freien und demokrati-
son muss daher von der Frage nach der Unverfüg- schen Gemeinwesen müsse die Entscheidung über
barkeit der Natur entkoppelt werden. Dieser Sinn die natürliche Ausstattung ihrer Kinder genauso in
kann Habermas zufolge weder auf den subjektiven die Kompetenz der Eltern fallen wie die Entschei-
Entscheidungswillen von Individuen noch auf fest- dung über sozial und kulturell prägende Faktoren
gestellte objektive Wesenseigenschaften der mensch- wie Religionszugehörigkeit, Bildungsweg oder Er-
lichen Natur zurückgeführt werden. Das Plädoyer nährungsgewohnheiten.
für eine »Moralisierung der Natur« ist also in der Für Habermas machen es sich die Vertreter einer
richtigen Weise zu verstehen. Zurückzuweisen ist liberalen Eugenik damit allerdings »zu leicht«. Sie
laut Habermas die Auffassung einer Moralisierung übersehen, dass der Eingriff in das Erbgut weitrei-
der Natur »im Sinne einer fragwürdigen Resakrali- chende moralische Folgen besitzt, insofern die ver-
sierung« (48) der Natur. Das Projekt einer Wieder- trauten Grundlagen moralischen Urteilens und Han-
verzauberung der Natur soll in dieser Perspektive delns in Frage gestellt werden. Denn die »Verschie-
dann zur Errichtung von künstlichen Tabuschran- bung der Grenze zwischen Zufall und freier
ken führen; die archaischen moralischen Gefühle Entscheidung« (54) bringe die »Zusammenhänge
der Abscheu, die sich angesichts von »gentechnisch zwischen unserem moralischen Selbstverständnis
hergestellten Chimären« (49) einstellen, soll dann in und einem gattungsethischen Hintergrund zu Be-
ihrer funktionalen Rolle zur Stabilisierung eines hu- wusstsein« (54). Denn ob »wir uns als verantwortli-
manen Selbstverständnisses durchschaut und aus che Autoren einer eigenen Lebensgeschichte be-
funktionalen Gründen als Tabus zweiter Ordnung trachten und uns gegenseitig als ›ebenbürtige‹ Per-
reflexiv restituiert werden. Die Grenzen, welche die sonen betrachten können, hängt in gewisser Weise
Unantastbarkeit der menschlichen Person markie- davon ab, wie wir uns anthropologisch als Gattungs-
ren, haben aber, recht verstanden, den Sinn, jene Be- wesen verstehen« (54).
dingungen zu artikulieren, unter den wir uns »auch Damit ist die Aufgabe für den weiteren Verlauf
weiterhin als ungeteilte Autoren unserer Lebensge- des Argumentation gestellt, nämlich zu klären, auf
schichte verstehen werden und gegenseitig als auto- welche Weise und in welchem präzisen Sinn unser
16. Menschliche Natur und genetische Manipulation 285

moralisches Selbstverständnis von gattungsethi- scheidungen für das neugeborene und herangewach-
schen Voraussetzungen abhängt. Ein Hauptaugen- sene Kind treffen. Diese Entscheidungen sind aber
merk liegt dabei auf den grundlegenden kategoria- advokatorisch und reversibel. Da die Eltern und die
len Veränderungen, welche die neuen genetischen anderen Verantwortlichen auf die spätere Zustim-
Reproduktionstechnologien herbeiführen. Dazu ge- mung der Nachgeborenen vertrauen, rechnen sie zu-
hört vor allem die Auflösung der terminlogischen gleich logisch mit der Möglichkeit der Ablehnung.
Grenzen zwischen dem Gewachsenen und dem Ge- Konsens als Geltungsbedingung von advokatori-
machten, zwischen Lebewesen und Artefakt (Ka- schen Handlungen setzt logisch die Möglichkeit der
rafyllis 2003). Diese Aufhebung der Unterscheidung Betroffenen voraus, »Nein« sagen zu können. Diese
zwischen dem natürlich Gewordenen und dem tech- Fähigkeit setzt wiederum die unvertretbare Indivi-
nisch Gemachten hat Folgen für die Logik interper- dualität aller Diskursteilnehmer voraus. Zu den Be-
sonalen Handels, welche im Fall der gentechnischen dingungen eines solchen unvertretbaren Selbstsein-
Programmierung eine andere ist als im Fall der na- könnens, das sich in der Fähigkeit manifestiert, zu
türlichen Zeugung. Eingriffe in das Erbgut, die mit Vorgaben und Vorschlägen »Nein« sagen zu können,
dem Ziel einer positiven Merkmalsveränderung vor- gehört Habermas zufolge auch, »[…] dass die Person
genommen werden, können nämlich nicht länger als im eigenen Leib gewissermaßen zu Hause ist« (100).
Ausdruck einer »Logik des Heilens« verstanden wer- Die durch Natur bestimmte leibliche Positionalität
den, als eine therapeutische Unterstützung der Ei- des Individuums ist die Voraussetzung für die dis-
gendynamik und Selbstentfaltung natürlicher Lebe- kursive Setzung von Bestimmtheit qua Negation.
wesen. Die genetisch programmierten Individuen Habermas erläutert diese anthropologische These
werden vielmehr zu Objekten eines technischen Ein- mit Bezug auf Hannah Arendts Begriff der »Natali-
griffs. Im Falle der negativen Eugenik dienen diese tät«. Arendt versteht darunter die Rolle, die das Fak-
Eingriffe der Abwehr von Schäden, Risiken und Be- tum der Natürlichkeit der Geburt im Sinne eines
nachteiligungen, die als »generalisierte Übel« ange- »unverfügbaren Anfangs« (101) für das Selbstver-
sehen werden können. Daher kann im Fall der nega- ständnis eines verantwortlich praktisch Handelnden
tiven Eugenik auch mit guten Gründen eine nach- spielt. Die Geburt setzt den unhintergehbaren Punkt
trägliche Zustimmung der Betroffenen unterstellt der Differenzierung »[…] zwischen dem Sozialisati-
werden. Im Falle einer positiven Eugenik resultieren onsschicksal einer Person und dem Naturschicksal
die angezielten Merkmalsveränderungen jedoch aus ihres Organismus« (103). Im Fall der »natürlichen«
den bloß subjektiven Präferenzen der Eltern, die sich Geburt setzen die Eltern nur den bloßen Differenz-
Kinder mit bestimmten Eigenschaften und Bega- punkt zwischen Natur- und Kulturgeschichte des In-
bungen wünschen. Die kommunikative Situation ist dividuums; es bleibt dann diesem selbst überlassen,
im Fall der positiven Eugenik daher eine gänzlich welche seiner Eigenschaften es als bloß vorgefun-
andere. In diesen Fällen entscheiden die Eltern dene Determinanten hinnimmt und welche es als
»ohne Konsensunterstellung allein nach eigenen Ausdruck der eigenen selbstbewussten Identität in-
Präferenzen […], als verfügten sie über eine Sache« terpretiert. Es ist also gerade die Unverfügbarkeit der
(90). Naturgeschichte, welche den Sozialisationsprozess
Daher muss auch der Unterschied zwischen tech- als etwas Gestaltbares und nicht nur Erlittenes er-
nischen Veränderungen der genetischen Anlagen scheinen lässt. Denn das dialektische Verhältnis ei-
und der pädagogischen Prägung von Einstellungen ner unhintergehbaren Differenz zwischen Natur-
und Verhaltensmustern klar gesehen und benannt schicksal und Sozialisationsprozess – bei gleichzeiti-
werden. Denn die Vertreter einer liberalen Eugenik ger Unterstellung, dass sich das natürliche Schicksal
behaupten, »[…] dass unter moralischen Gesichts- in der eigenen sozialen Geschichte fortsetzt –, er-
punkten kein nennenswerter Unterschied zwischen laubt erst die konstitutive Unterstellung des sponta-
Eugenik und Erziehung besteht« (87). Die Leugnung nen Neuanfangs in jeder Handlung und in jedem
dieses Unterschiedes diene als Argument, um »[…] Urteil. Der genetische Programmierer hingegen ver-
die Erweiterung der grundrechtlich verbürgten Er- wischt diese Grenze, da er bereits »inhaltlich« in die
ziehungsgewalt der Eltern um die eugenische Frei- Naturausstattung des Individuums eingreift wie
heit, die genetische Ausstattung der eigenen Kinder sonst nur Eltern und andere Verantwortliche qua Er-
zu verbessern, rechtfertigen« (88). Habermas ist sich ziehung in den Sozialisationsprozess.
bewusst, dass Eltern und Erzieher auch ohne geneti- Doch sind durch die Natalität wirklich überzeu-
sche Programmierung natürlich weitreichende Ent- gende »moralische Grenzen der Eugenik« gesetzt?
286 III. Texte

Warum soll sich ein »eugenisch programmiertes« metrie scheint die Verfahrensrationalität des Verfas-
Individuum seine durch gentechnischen Eingriff zu- sungsstaates allerdings überfordert. Der für eine sol-
stande gekommenen Eigenschaften nicht genauso che Regelung nötige politische Konsens wäre näm-
selbstbewusst zu Eigen machen können, wie seine lich »[…] entweder zu stark oder zu schwach« (113).
natürlichen Eigenschaften wie Geschlecht, Größe, Denn während ein Konsens über die durch negative
Augenfarbe etc.? Solche Merkmale sind dem Indivi- Eugenik zu vermeidenden generalisierten Übel un-
duum ja auch auf dem bisherigen »natürlichen« terstellt werden kann, würde die Festlegung von kol-
Wege genauso unverfügbar und in der Regel unver- lektiven Gütern, die allgemein verbindliche Ziele ei-
änderlich vorgegeben wie die zukünftig durch gen- ner positiven Eugenik definieren könnten, zu weit in
technische Programmierung erzeugbaren. Der ent- die ethische Autonomie der einzelnen Bürger ein-
scheidende Unterschied besteht Habermas zufolge greifen. In diesem Sinn wäre der benötigte Konsens
darin, dass im Fall der Programmierung das Kind zu stark. Zu schwach wäre ein solcher Konsens ande-
nicht, wie in interaktiven Bildungsprozessen in der rerseits, wenn darunter das bloße formale Recht aller
»Rolle einer zweiten Person« (107) angesprochen Bürger verstanden würde, die Ziele eugenischer Ein-
wird, sondern in der Einstellung der dritten Person griffe gegenüber ihren zukünftigen Kindern selbst
Objekt bleibt. Eine genetische Intervention eröffne definieren zu können. Denn eine solche formale Re-
»[…] nicht den kommunikativen Spielraum, das ge- gelung würde die Eltern nicht von dem Verantwor-
plante Kind als eine zweite Person anzusprechen und tungsdruck entlasten, in die naturale Basis der
in einen Verständigungsprozess einzubeziehen. Aus Selbstinterpretation und der Grundstruktur der so-
der Perspektive des Heranwachsenden lässt sich eine zialen Beziehungen ihres Kindes irreversibel einzu-
instrumentelle Festlegung nicht wie ein pathogener greifen. Habermas gelangt deshalb zu dem skepti-
Vorgang der Sozialisation auf dem Weg der ›kriti- schen Schluss, dass die Praktiken einer positiven,
schen Aneignung‹ revidieren« (107 f.). Solche Ein- verbessernden Eugenik »[…] im Rahmen einer de-
griffe stellen daher eine eklatante Beschränkung der mokratisch verfassten pluralistischen Gesellschaft,
Autonomie der Person dar. Ihr wird auf diese Weise die jedem Bürger das gleiche Recht auf autonome
die Autorschaft über ihr eigenes Leben entzogen; zu- Lebensführung zugesteht, nicht auf legitime Weise
gleich werden aufgrund der bleibenden Asymmetrie »normalisiert« werden können« (114).
zwischen dem Subjekt und dem Objekt des Pro- Damit führt der letzte Schritt der Argumentation
grammierungsvorganges die Voraussetzungen für des Haupttextes des Essays wieder zurück von prin-
eine »[…] gleichmäßige Achtung, die jeder Person zipiellen philosophischen Überzeugungen auf die
in ihrer Eigenschaft als Person überhaupt zukommt« konkrete Frage der normativen Regelung von PID
(98), erschüttert. Denn die Absicht des genetischen und Stammzellenforschung, die einer pluralistischen
Programmplaners kann von seinem humanen Pro- und demokratischen verfassten Gesellschaft ange-
dukt bestenfalls »[…] interpretiert, aber nicht revi- messen erscheint.
diert oder ungeschehen gemacht werden« (111). Gerade an diesem Punkt ist die für Habermas’ Es-
Zwischen der für die Programmierung verantwortli- say charakteristische Verhältnisbestimmung von an-
chen und der programmierten Person herrscht eine gewandter Ethik und moraltheoretischer Grundla-
prinzipielle intersubjektive Asymmetrie, da sie ihre genreflexion von verschiedener Seite kritisiert wor-
sozialen Rollen nicht tauschen können. Damit ent- den. Während einigen Kritikern zufolge Habermas
steht ein vollkommen neuer Typ der sozialen Bezie- im Blick auf die wirklichen Regelungsprobleme me-
hung, der »[…] eine bislang selbstverständliche Vor- taethisch über das Ziel hinausschießt, gehen ande-
aussetzung des moralischen Selbstverständnisses au- ren die Versuche einer metaphysisch enthaltsamen
tonom handelnder und urteilender Personen in Gattungsethik in ontologischer Hinsicht nicht weit
Frage stellt« (110). genug. Dabei bildet die These, dass die Genmanipu-
Warum soll es aber nicht vorstellbar sein, dass die lation »[…] das Selbstverständnis von uns als Gat-
mangelnde interpersonale Reziprozität durch ent- tungswesen« (72) in Frage stelle, den Fokus der Kri-
sprechende demokratisch legitimierte Verfahren re- tik. Während diese Position den Vertretern einer li-
guliert oder ausgeglichen werden kann, wie etwa die beralen Eugenik als ungerechtfertigte Dramatisierung
mit der Gentechnik und der modernen Reproduk- erscheint, werfen Anhänger einer metaphysischen
tionsmedizin verbundenen Probleme distributiver Auffassung von der menschlichen Natur Habermas
Gerechtigkeit. Mit einem solchen Ausgleich der vor, mit seiner Konzeption einer Gattungsethik auf
durch die genetische Manipulation gestörten Sym- halbem Wege stecken zu bleiben.
16. Menschliche Natur und genetische Manipulation 287

Der Streit um das ethische Verständnis Autonomiebewusstseins der Betroffenen führen, die
der Gattung. Einwände und Replik sich eben nicht mehr als souveräne Autoren ihrer ei-
genen Lebensgeschichte und damit als vollständig
Habermas hat sich vor allem zwei Foren der Kritik autonome moralische Personen verstehen könnten.
an seinem Essay zur »Zukunft der menschlichen Na- Die Veränderung durch eine liberale Eugenik könnte
tur« gestellt. Im Herbst 2001 wurden seine Thesen in sich nach Habermas eben vor allem in Gestalt einer
dem von Ronald Dworkin und Thomas Nagel gelei- Veränderung des moralischen Selbstverständnisses
teten Kolloquium »Law, Philosophy and Social The- der betroffenen Person äußern. Habermas unter-
ory« an der Law School der New York University dis- streicht somit erneut seine Befürchtung, dass zwei
kutiert; im ersten Band der Deutschen Zeitschrift für wesentliche Voraussetzungen moralischen Handelns
Philosophie aus dem Jahr 2002 wurde der Essay im und Urteilens, nämlich die elementare Gleichheit
Rahmen eines Schwerpunktthemas von Robert der Interaktionspartner und die individuelle Auto-
Spaemann, Ludwig Siep und Dieter Birnbacher ei- nomie der moralischen Person, durch eine liberale
ner kritischen Würdigung unterzogen (Habermas Eugenik in Frage gestellt werden könnten. Bei den
2002). Seine Reaktion auf die in beiden Kontexten Folgen der liberalen Eugenik handele es sich nicht so
erhobene Kritik hat Habermas wiederum zuerst in sehr um Eingriffe in die Freiheitsrechte einer be-
der Deutschen Zeitschrift für Philosophie veröffent- stimmten Person, sondern vielmehr um Erschütte-
licht (Habermas 2002). Diese »Replik auf Einwände« rungen des Selbstverständnisses dieser Person, sich
ist, abgesehen von einigen wenigen Formulierungen, überhaupt als Trägerin von Rechten begreifen zu
identisch mit dem »Postscriptum«, das ab der vier- können. Nach dieser Bekräftigung zentraler Argu-
ten, erweiterten Auflage (2002) dem Essay beigefügt mente des Haupttextes geht Habermas dezidiert auf
ist. vier Gruppen von Einwänden gegen seine Konzep-
Habermas versteht diese Replik ausdrücklich als tion ein.
Verdeutlichung, nicht als Revision seiner ursprüng- Eine erste Gruppe von Einwänden richtet sich ge-
lichen Intuitionen und Argumente. Im »Postscrip- gen den unterstellten Zusammenhang zwischen
tum« geht Habermas zunächst auf den in dieser De- »Praktiken einer verbessernden Eugenik und einer
batte spürbaren Unterschied zwischen den juristi- wie auch immer indirekten »Fremdbestimmung«
schen und philosophischen Kulturen der USA und der künftigen Person« (134). Einwände dieser Art
Deutschlands ein. So werfen die neuen Technolo- wurden vor allem von Thomas Nagel und Thomas
gien der Biowissenschaften für die »[…] pragmati- McCarthy formuliert. Ein zweiter Einwand, den vor
scher denkenden amerikanischen Kollegen […] allem Ronald Dworkin erhoben hat, gründet sich auf
keine grundsätzlich neuen Probleme auf, sondern denkbare Fälle, in denen partielle Merkmalsverän-
verschärfen nur die alten Fragen distributiver Ge- derungen die moralische Identität der betroffenen
rechtigkeit« (128). Diese Haltung artikuliert Haber- Person intakt lassen und nicht notwendig beschädi-
mas zufolge nicht nur ein »[…] ungebrocheneres gen. Die dritte Art von Einwänden kritisiert, wie
Vertrauen in Wissenschaft und technische Entwick- etwa Robert Spaemann, die grundsätzlichen Voraus-
lung« (128), sondern ist auch Ausdruck einer stärker setzungen einer nachmetaphysischen Moraltheorie
von Locke als von Kant geprägten Tradition des phi- und plädiert für eine stärker ontologische Fundie-
losophischen Liberalismus, der »[…] den Schutz der rung einer humanen Gattungsethik. Viertens und
Wahlfreiheiten der individuellen Rechtsperson ge- schließlich ist der von Ludwig Siep und anderen vor-
gen staatliche Eingriffe ins Zentrum« (128) rückt. gebrachte Einwand zu entkräften, dass die vorgetra-
Vor dem Hintergrund dieser liberalen Kultur er- genen prinzipiellen moralphilosophischen Argu-
scheint es dann nahezu als eine »[…] Selbstverständ- mente nur wenig zur normativen Regelung der hier
lichkeit, Entscheidungen über die Zusammenset- und jetzt anstehenden Entscheidungsprobleme bei-
zung der genetischen Anlagen von Kindern keiner tragen, wie sie aktuell von PID und verbrauchender
staatlichen Regulierung zu unterwerfen, sondern Stammzellenforschung aufgeworfen werden.
den Eltern zu überlassen« (129). Habermas räumt Im Rahmen des Kolloquiums »Law, Philosophy
ein, dass das »[…] um eugenische Eingriffsmöglich- and Social Theory«, das im Herbst 2001 an Law
keiten materiell erweiterte Elternrecht« (131) in der School der New York University stattfand, haben
Tat nicht unmittelbar mit dem Wohl des Kindes Thomas Nagel und Thomas McCarthy gegenüber
noch mit seinen Freiheitsrechten kollidieren muss. Habermas angemerkt, dass sie den Gedanken für
Es kann aber zu mittelbaren Beeinträchtigungen des »kontraintuitiv« (134) halten, die genetische Pro-
288 III. Texte

grammierung greife in einem dramatischeren Sinn ob die kritisierten Schritte – hier die Zulässigkeit von
in die Selbstbestimmung eines Menschen ein als die PID und verbrauchende Embryonenforschung –
biologische Prägung einer »natürlichen« Vererbung. wirklich als Schritte in Richtung eines solchen
Es ließe sich bezweifeln, dass »[…] sich eine heran- Dammbruchs zu bewerten sind. Diese Bewertung ist
wachsende Person nicht in gleicher Weise mit mani- offenkundig umstritten. Habermas verweist selbst
pulierten wie mit angeborenen Anlagen auseinander auf Autoren wie Dworkin, McCarthy und Nagel, die
setzen« (137) könnte. Gegenüber dieser Kritik von zukünftige eugenische Praktiken nicht notwendig
McCarthy und Nagel präzisiert Habermas seine Auf- als Verletzung der Prinzipien autonomer Vernunft-
fassung, dass das Argument der Fremdbestimmung moral interpretieren. Aber auch diejenigen, die eine
als Eingriff in die Autorschaft der moralischen Per- solche eugenische Praxis prinzipiell ablehnen, kön-
son nur greift, »[…] wenn wir davon ausgehen, dass nen anführen, dass gegenwärtig nicht zu erkennen
die aus Alternativen ausgewählte Mitgift den Hori- sei, dass die Zulassung von PID und verbrauchender
zont künftiger Lebensentwürfe einschränkt« (141). Embryonenforschung zwangsläufig zu einem sol-
Aber genau diese Konsequenz, ob ein gentechni- chen moralischen Dammbruch führen werde. In der
scher Eingriff solche einschränkenden Wirkungen Tat müssen die neuen Biotechnologien nicht zu der
besitzen wird, können wir nicht voraussehen. Unser perhorreszierten Entwicklung einer Erosion des Au-
Wissen bleibt fallibel und darf daher nur »in Form tonomiebewusstseins und des egalitären morali-
klinischer Ratschläge an jemanden weitergereicht schen Status von Personen führen. Solche Verände-
werden, den der Ratgeber bereits als ein lebensge- rungen der moralischen Einstellung könnten aber
schichtlich individuiertes Wesen kennen lernt […] durch die eugenischen Praktiken herbeigeführt wer-
Eine nutznießende Person muss die Chance erhal- den. Es sind diese möglichen, ernsthaften Folgen ei-
ten, Nein zu sagen« (148). Dies versteht Habermas ner liberalen Eugenik, vor denen Habermas warnen
auch als eine Antwort auf Dworkin. möchte. Diese Haltung ist in Habermas’ Augen kein
Dieser hatte eingewendet, dass das Argument der Alarmismus, sondern die Antizipation der Folgen
Fremdbestimmung durch genetische Programmie- möglicher Entwicklung, die insofern als Maßstab
rung ins Leere laufe, da ja nur bestimmte Merkmale, der Beurteilung gegenwärtiger Entwicklungen die-
nicht aber die moralisch relevante Identität der Per- nen kann, da sie eben sensibel macht für den Wech-
son als Ganzer durch gentechnische Eingriffe be- sel von Einstellungen, der langfristig zur Erschütte-
stimmt würde. Diesem Einwand gegenüber bekräf- rung unseres bisherigen Selbstverständnisses als
tigt Habermas noch einmal, dass das Argument der Gattung vernünftiger und moralischer Lebewesen
Fremdbestimmung durch genetische Manipulation führt. Damit rückt die These, dass die neuen Bio-
seine Hauptkraft aus dem Umstand zieht, »[…] dass technologien das normative Selbstverständnis der
der Designer nach eigenen Präferenzen eine nicht menschlichen Gattung in Frage stellen, in das Zen-
revidierbare Weichenstellung für Leben und Identi- trum der Diskussion. Sie ist verknüpft mit der Frage,
tät einer anderen Person vornimmt, ohne auch nur wie der Essay über die »Zukunft der menschlichen
kontrafaktisch deren Einverständnis unterstellen zu Natur« im bisherigen Gesamtwerk von Habermas zu
dürfen« (144). verorten ist.
Aber liefern diese prinzipiellen Vorbehalte gegen-
über möglichen moralischen Konsequenzen einer
Postmetaphysische Antworten auf die Fragen
positiven Eugenik überhaupt geeignete Kriterien zur
nach dem »richtigen Leben«? Diskurstheorie
»Bewertung der aktuellen Entscheidungen über die
der Moral und Gattungsethik
Zulässigkeit von PID und verbrauchender Embryo-
nenforschung« (156)? Habermas räumt ein, dass die Der Fortschritt der Biowissenschaften wirft Haber-
angemeldeten Bedenken unter den rechtlichen Vor- mas zufolge die gattungsethische Frage auf, wie wir
aussetzungen eines abgestuften embryonalen Le- unsere humane Kultur insgesamt verstehen wollen.
bensschutzes, wie ihn Siep und andere Vertreter des Ethische Fragen sind laut Habermas’ Terminologie
Nationalen Ethikrates vorschlagen, bestenfalls den von moralischen Fragen der Gerechtigkeit und des
Status von mahnenden »Dammbruchargumenten« gleichen Respekts prinzipiell dadurch unterschie-
(156) besitzen. Das Gewicht solcher Dammbruchar- den, dass sie auf Fragen des als gut und gelungen ein-
gumente hängt in der Regel von der Größe des Scha- geschätzten Lebens antworten. Die Moderne stellt
dens ab, der im hypothetischen Fall eines solchen sich nun als eine Epoche der Ausdifferenzierung der
Dammbruchs eintritt. Vor allem aber ist zu fragen, »Lehren vom guten Leben und der gerechten Gesell-
16. Menschliche Natur und genetische Manipulation 289

schaft« (12) dar, in der substantielle Auffassungen hier nicht aufgehoben werden, denn nur dieser Vor-
über das richtige Leben faktisch im Plural auftreten rang begründet eine allgemeine Vernunftmoral, die
und in dieser Pluralität begrüßt und toleriert wer- alle Personen zu gleichberechtigten Menschen-
den. Allerdings sind moralische Einstellungen, also rechtssubjekten erklärt. Diese Vernunftmoral bleibt
der Wille, sich am Gerechten als dem für alle glei- zwar eingebettet in ein intuitives Einverständnis dar-
chermaßen Guten zu orientieren, auf motivationale über, was »eigentlich« ein menschliches Lebewesen
Voraussetzungen angewiesen, die sich aus geteilten ausmacht; dieses ethische Selbstverständnis ist aber
Werten und Lebensformen und die durch sie ermög- nicht der Grund der Geltung der moralischen
lichten Bildungsprozesse speisen. Die motivationale Rechte, die allen Personen qua Zugehörigkeit zu die-
Frage, »Warum überhaupt moralisch sein?«, kann ser Gattung zukommen. Dieser allgemeine An-
eine prozedurale Theorie, die den Standpunkt der spruch gründet vielmehr in einer moralischen Er-
moralischen, d. h. unparteilichen Betrachtung der fahrung, die prinzipiell von allen autonomen Perso-
Interessen expliziert, nicht zwingend beantworten. nen geteilt werden kann. Insofern sie von allen
Sie kann vernünftige Argumente entwickeln, die zur Personen, d. h. von allen Adressaten moralischer
Einsicht in das für alle gleichermaßen Gute verhel- Pflichten und den Subjekten der Menschenrechte
fen können, die Bindung des Willens an diese Ein- geteilt werden können, besitzt diese Erfahrung uni-
sicht kann sie aber nicht bewirken. Hierzu bedarf es versalen Charakter und stellt den Geltungsgrund
der Einbettung des moralischen Wissens in ein mo- universaler Normen dar. Unter nachmetaphysischen
tivierendes ethisches Selbstverständnis. Über dieses Bedingungen besteht also notwendig eine prekäre
allgemeine Einbettungsverhältnis einer kognitiven Balance zwischen dem Menschenrechtsgedanken
Moral in ethische Selbstinterpretationen hinaus der universalen Vernunftmoral und den allgemeinen
zwingt nun die Entwicklung der Biowissenschaft, starken Intuitionen über die konstitutiven Merkmale
dieses Verhältnis von Moral und Ethik in einem ra- der menschlichen Natur. Diese Balance zeichnet sich
dikaleren Sinn zu verstehen. Der biotechnologische dadurch aus, dass bei aller ethischer Einbettung un-
Fortschritt drängt nämlich »[…] einen öffentlichen serer Vorstellungen über die Wesensmerkmale der
Diskurs über das richtige Verständnis der kulturel- menschlichen Person der kognitive Vorrang des Ge-
len Lebensform als solcher auf« (33). Solche Fragen rechten vor dem Guten gewahrt bleibt. Die nachme-
nach dem richtigen Verständnis einer bestimmten taphysische Vernunftmoral kann ähnlich wie Rawls’
Lebensform sind Habermas zufolge »ethisch« zu freistehende Konzeption der Gerechtigkeit wie ein
nennen, da sie nicht darauf zielen, wie wir angesichts Modul in ethische Kontexte eingebettet werden. Als
eines moralischen Problems urteilen sollen, sondern freistehende Konzeption vernünftiger Moral ist sie
wie wir uns existentiell verstehen wollen. Das Gute von den ethischen Entwürfen des richtigen Lebens
zielt hier nicht auf das moralische Gesollte, sondern jedoch geltungslogisch unabhängig. Zugleich fun-
auf das Gewollte, auf eine Form nicht verfehlten, ge- giert diese Moralkonzeption als kritischer Maßstab
lungenen Lebens der menschlichen Gattung im Gan- für partikulare Ethiken; eine universale Vernunft-
zen. In gattungsethischer Hinsicht erhält die Frage moral ist nicht mit jedem ethischen Kontext kompa-
nach dem richtigen Leben also den Sinn, nach jenem tibel.
allgemeinen menschlichen Selbstverständnis zu fra- Wenn es nun um die gattungsethische Einbettung
gen, in das die von allen vernünftigen Personen ge- der Moral geht, so muss erst recht eine Form von
teilte moralische Lebensform eingebettet ist. Ethik gefunden werden, die mit dem postmetaphysi-
Habermas hält dabei ausdrücklich an der Enthalt- schen Charakter der prozeduralen Vernunftmoral
samkeit fest, »[…] die sich das nachmetaphysische vereinbar ist. Habermas wählt – überraschender-
Denken im Hinblick auf verbindliche Stellungnah- weise – Kierkegaard als Paradigma für eine solche
men zu substantiellen Fragen des guten oder nicht gesuchte postmetaphysische Ethik, die das Selbst-
verfehlten Lebens auferlegt« (9). Er bekräftigt auch verständnis der menschlichen Gattung artikulieren
die zentrale Auffassung der Diskurstheorie, dass nur soll. Kierkegaard erscheint deshalb als geeigneter
solchen Argumenten der Status zwingender morali- Ausgangspunkt einer postmetaphysischen Gat-
scher Gründe zukommen kann, die säkularen Cha- tungsethik, weil er als Erster »[…] die ethische
rakter besitzen und somit »[…] in einer weltan- Grundfrage nach dem Gelingen und Misslingen des
schaulich pluralistischen Gesellschaft vernünftiger- eigenen Lebens mit einem nachmetaphysischen Be-
weise auf Akzeptanz rechnen dürfen« (40). So soll griff des »Selbstseinkönnens« beantwortet hat« (17).
der »Vorrang des Gerechten vor dem Guten« (74) Kierkegaard kann in dieser Hinsicht als Vorläufer
290 III. Texte

des existentiellen Denkens von Heidegger, Jaspers die zugleich fallibilistisch wie antiskeptisch ist. Da-
oder Sartre angesehen werden. Die Antwort auf die her ist auch das richtige gattungsethische Verständ-
Frage nach dem guten Leben findet das moderne so- nis »[…] weder offenbart noch in anderer Weise ›ge-
zialisierte Individuum nicht mehr in Natur und Tra- geben‹. Es kann nur in gemeinsamer Anstrengung
dition vor. Das Gute ist nichts Vorgegebenes, son- gewonnen werden. Aus dieser Perspektive erscheint
dern eine Aufgabe, die das Individuum selbst in das, was unser Selbstsein möglich macht, eher als
freier und einzelner Entscheidung erfüllen muss. transsubjektive denn als absolute Macht« (26).
Kierkegaard entfaltet damit als Erster auf signifi- Die im einleitenden Teil des Essays versammelten
kante Weise einen formalen Begriff des guten Le- Überlegungen zu einer postmetaphysischen Ant-
bens, der dieses nicht an bestimmte Inhalte bindet, wort auf die Frage nach dem richtigen Leben der
sondern an die Form authentischen, unverzerrten menschlichen Gattung gehen auf einen Anfang Sep-
Selbstseinkönnens. tember 2000 gehaltenen und in gekürzter Fassung in
Habermas ist offensichtlich vor allem an Kierke- der Neuen Rundschau veröffentlichten Vortrag zu-
gaards Konzept des Selbstseinkönnens interessiert. rück. Diese Einleitung ist seit der ersten Auflage der
Dieser Begriff bildet das Scharnier zwischen einer gesamten Abhandlung über die »Zukunft der
existentialistischen Individualethik der Authentizi- menschlichen Natur« vorangestellt, gewissermaßen
tät und der gattungsethischen Einbettung einer uni- als Kontextualisierung der Argumentation des
versalen Vernunftmoral egalitären Respekts. Selbst- Haupttextes. Die Frage, wie sich das nachmetaphysi-
seinkönnen bezeichnet jene Eigenschaften, welche sche Denken gleichzeitig kritisierend wie aneignend
die spezifische Eigenschaft der menschlichen Gat- zur religiösen Überlieferung verhalten soll, wurde
tung und ihrer Angehörigen definiert. Dazu gehören von Habermas also bereits vor der Aufsehen erre-
zwei Bedingungen, die eine positive Eugenik syste- genden Friedenspreisrede zum Thema »Glauben
matisch untergraben würde: die Autorschaft über und Wissen« und unabhängig von den Ereignissen
das eigene Leben und die prinzipiell symmetrische des 11. September 2001 erörtert. Habermas versucht
Beziehung zu allen anderen Angehörigen der Spe- dabei stets, die gesuchte postmetaphysische Antwort
zies. Nun ist aber zu beachten, dass Kierkegaards auf die Frage nach dem richtigen Selbstverständnis
Konzept des Selbstseinkönnens zwar im Sinne einer der menschlichen Gattung von den beiden als falsch
formalen »nachmetaphysischen« Ethik verstanden zurückgewiesenen Alternativen abzugrenzen: von
werden kann, aber in letzter Instanz religiös be- einem szientistischen Naturalismus, der in bestimm-
stimmt ist. Seinen letzten Grund und damit die Ga- ten Trends der biowissenschaftlichen Entwicklun-
rantie seines »Selbstseinkönnens« findet das Indivi- gen seinen technologischen Ausdruck findet, und
duum Kierkegaard zufolge nicht in sich, sondern in von metaphysischen und religiösen Lehren, die eine
Gott. Unter pluralistischen und säkularen Bedin- partikulare Auffassung des guten Lebens zu einer
gungen kann aber, so hat Habermas bisher stets ar- allgemein verbindlichen Wertebasis erheben wollen.
gumentiert, ein allgemeines, das Selbstverständnis Szientistischer Naturalismus und metaphysische
der gesamten Gattung betreffendes ethisches Ver- Naturrechtslehren vertreten einen in normativer
ständnis vom gelungenen Selbstseinkönnen nicht Hinsicht zu starken Begriff der Natur. Das nachme-
mehr verbindlich religiös fundiert werden. Die Un- taphysische Denken, so wie Habermas es versteht,
verfügbarkeit und Unbedingtheit, die dem Indivi- leitet aber normative Vorstellungen nicht aus inhalt-
duum erst die Möglichkeit gelungenen Selbstsein- lichen Vorstellungen über die menschliche Natur
könnens eröffnet, kann Habermas zufolge aber nach ab – weder in technologisch-progressiver noch in
der »linguistischen Wende« auch rein weltimmanent konservativ-kulturpessimistischer Perspektive –,
gedacht werden. »Schon in den Kommunikations- sondern aus jenen humanen Praktiken, in denen ra-
formen, worin wir uns miteinander über etwas in tionale Personen Rechenschaft über ihre Überzeu-
der Welt verständigen, begegnet uns eine transzen- gungen und Handlungen ablegen. Das Ziel, die un-
dierende Macht« (25). Transzendenz wird hier streng verminderte Leistungskraft dieser diskurstheoreti-
als immanente Transzendenz (FG, 32–44) verstan- schen Begründung von Recht, Demokratie und
den, im Sinne der subjektiven Unverfügbarkeit einer Moral gegenüber den falschen Alternativen heraus-
intersubjektiv geteilten Sprache und Lebensform. zustellen, hat Habermas nach dem Erscheinen des
Unter dieser Voraussetzung, so scheint es, kann eine Essays zur liberalen Eugenik weiter verfolgt, vor al-
»schwache prozeduralistische Lesart« von Unbe- lem in jenen Arbeiten, die im Band Zwischen Natu-
dingtheit diskurstheoretisch gerechtfertigt werden, ralismus und Religion versammelt sind.
17. Völkerrechtsverfassung und Politik 291

Literatur 17. Völkerrechtsverfassung


Buchanan, Alan et al.: From Chance to Choice: Genetics and
Justice. Cambridge 2000.
und Politik
Dworkin, Ronald: »Playing God: Genes, Clones, and Luck«. »Hat die Konstitutionalisierung
In: Ders.: Sovereign Virtue. Cambridge 2000. des Völkerrechts noch eine Chance?«
Habermas, Jürgen: »Transzendenz von innen: Lebenswelt-
liche und archaische Bewältigung des Dissensrisikos«. (2004)
In: FG, 32–44.
–: »Replik auf Einwände«. In: Deutsche Zeitschrift für Phi- Seit 1999 hat Habermas den Schwerpunkt seiner po-
losophie 50, 2 (2002), 283–298. litischen Philosophie deutlich verlagert: von den
Honneth, Axel: »Symposium zu: Jürgen Habermas: Die Zu- Fragen der Demokratie und Legitimität im national-
kunft der menschlichen Natur«. In: Deutsche Zeitschrift
für Philosophie 50, 1 (2002), 105–126.
staatlichen Rahmen hin zum aufblühenden Bereich
Karafyllis, Nicole C. (Hg.): Biofakte. Versuch über den Men- der internationalen Politik. In einem ersten derarti-
schen zwischen Artefakt und Lebewesen. Paderborn gen Versuch machte sich Habermas Mitte der 1990er
2003. Jahre das ›Kantische Projekt‹ eines ›Ewigen Friedens‹
Sandel, Michael J.: Plädoyer gegen die Perfektion. Ethik im zu eigen; dieses Projekt machte seiner Interpretation
Zeitalter der genetischen Technik. Mit einem Vorwort
zufolge eine kosmopolitische Demokratie erforder-
von Jürgen Habermas. Berlin 2008.
Thomas M. Schmidt lich. In der zweiten Phase, Ende der 1990er Jahre,
wurde sich Habermas allmählich der Schwierigkei-
ten aller Versuche bewusst, demokratische Ideale
unmittelbar auf das internationale System zu über-
tragen, und vertrat daher eine enger gefasste Kon-
zeption eines fairen Verhandlungssystems, das prin-
zipiell keine volle demokratische Legitimität erlan-
gen kann. In der dritten Phase – von 2005 an bis in
die Gegenwart – tritt Habermas für die ›Konstitutio-
nalisierung des Völkerrechts‹ ein und steuert auf
eine Theorie einer mehrstufigen Weltgesellschaft zu;
diese beruht auf den Staaten, auf einer ›Weltinnen-
politik‹ und auf supranationalen Institutionen, die
sich ausschließlich mit den Menschenrechten befas-
sen.
Habermas’ Hinwendung zur internationalen und
kosmopolitischen politischen Theorie setzte in den
frühen 1990er Jahren ein, als Sozialwissenschaftler
und Philosophen allmählich in der Globalisierung
einen transformativen Prozess erkannten, der das
Wesen der Politik stark verändern würde. Insbeson-
dere erkannten mit der Zeit viele Wissenschaftler,
dass die Globalisierung die These in Frage stellte,
wonach unabhängige, souveräne Staaten die primä-
ren Elemente der politischen Analyse und die Träger
der Demokratie seien. Tatsächlich scheinen uns die
Staaten heute zur selben Zeit zu groß und zu klein zu
sein: Zu groß, um jene Loyalität und Legitimität her-
vorbringen zu können, die für das demokratische
Ideal notwendig sind, und zu klein, um Myriaden
globaler sozialer Probleme – von globalen Kapitalbe-
wegungen bis hin zur globalen Erwärmung – lösen
zu können. Mächtige multinationale Unternehmen
entziehen sich der staatlichen Macht, ebenso wie in-
ternationale Finanzinstitutionen in zunehmendem
Maße den geschwächten Staaten die Bedingungen
292 III. Texte

der Zusammenarbeit diktieren. Um freie Märkte eben genannten Bedingungen enthalten ist: dass
und freien Handel zu fördern, delegieren die Staaten nämlich das Subjekt frei von rechtlichen Zwängen
ihre Befugnisse jetzt freiwillig an internationale Kör- ist, gerade weil es der Autor dieser Gesetze ist. Und
perschaften und an private Instanzen. Globalisie- da der globalen parlamentarischen Demokratie ein
rungsgegner stellen solche neoliberalen Politiken oft solcher demos fehlt, ist sie eine Totgeburt. Diese Ar-
im Namen lokaler Kontrolle und lokaler Demokratie gumentation ließe sich als eine Fortführung von Ha-
in Frage. Diese verschiedenen Phänomene stimmen bermas’ Auffassung sehen, dass die Demokratie un-
darin überein, dass sie alle eine Tendenz zu Formen ter den Bedingungen von Pluralismus und Komple-
politischer Autorität zeigen, für die die Mitwirkung xität ›dezentriert‹ werden müsse. Wenn dies schon
des Volkes und die Kontrolle durch das Volk nicht auf den modernen Staat zutrifft, so würde sich diese
mehr unbedingt ein verbindlicher Maßstab sind – Tendenz sicherlich in der kosmopolitischen Demo-
doch dies ist eine der notwendigen, wenn auch nicht kratie noch weiter verstärken. Auch in der Diskus-
hinreichenden Bedingungen für jegliche Form der sion ›postnationaler‹ Legitimität macht Habermas
Demokratie. die Selbstbestimmung durch einen singulären demos
In seinem Aufsatz »Kants Idee des Ewigen Frie- offenkundig zum grundlegenden normativen Kern
dens – aus dem historischen Abstand von 200 Jah- seines demokratischen Ideals – wie unerreichbar
ren« (1995; auch in EA, 192 ff.) zeigt sich Habermas dies ohne einen abgrenzbaren demos auch sein
optimistisch und sieht gute Aussichten dafür, dass möge.
die auf den Menschenrechten basierende Form der Angesichts dieser Probleme mit den bestehenden
Demokratie, die für Nationalstaaten typisch ist, in politischen Kategorien hat Habermas durchgängig
einer globalen politischen Ordnung ihre Fortsetzung die Auffassung vertreten, dass diese sich am besten
finden werde. In den zu diesem Zwecke reformier- im Kontext des ›Kantischen Projekts‹ der Schaffung
ten Vereinten Nationen könne die Demokratisierung eines ›weltbürgerlichen Zustandes‹ verstehen und
ihren Abschluss finden, indem diese ihre Institutio- behandeln ließen: nach diesem Projekt sollen der
nen so organisierten, dass die parlamentarische De- Rechtsstaat und die institutionelle Absicherung von
mokratie auf globalem Maßstab reproduziert wer- Frieden und Freiheit über den einzelnen Staat hi-
den könne – mit der Vollversammlung als Legisla- naus ausgedehnt werden. Kant hatte schon die Ent-
tive, verschiedenen internationalen und globalen stehung einer globalen Öffentlichkeit für möglich
Gerichten als Judikative und dem Sicherheitsrat als gehalten, in der Verletzungen der Menschenrechte
ihrer Exekutive. Habermas erkannte bald, dass es »an einem Platz der Erde an allen gefühlt werden«
nicht so einfach ist, die Demokratie über den einzel- (Kant 1983, 216, Hervorh. i. O.). Wenn auch eine sol-
nen Staat hinaus auszudehnen und der kosmopoliti- che allmählich entstehende globale Öffentlichkeit
schen Ordnung eine überstaatliche Legitimations- eine notwendige Bedingung für eine politische Ord-
grundlage zu verschaffen – und dies gerade auch in nung jenseits des Staates darstellt, ist sie keinesfalls
Anbetracht der spezifischen Konzeption der Demo- das zentrale Anliegen des Kantischen Projekts: die-
kratie, die er in Faktizität und Geltung entwickelt ses besteht – mit Habermas zu sprechen – in der
hatte. Habermas verwirft daher die kosmopolitische Konstitutionalisierung des Völkerrechts. ›Konstituti-
Demokratie und kommt zu dem Schluss, dass das onalisierung‹ bezieht sich hier auf die Transforma-
moderne Demokratieverständnis, wonach die Bür- tion bestehender Machtverhältnisse durch das Recht.
ger Autoren und Adressaten des Rechts sind, nicht Im Falle des Weltbürgerrechts besteht diese in der
über eine begrenzte politische Gemeinschaft freier Transformation des staatlichen Rechts in ein Recht,
und gleicher Bürger hinaus ausgedehnt werden demzufolge die Individuen als Träger von Men-
kann. Das nationalstaatliche Demokratiemodell ver- schenrechten die Adressaten des Völkerrechts sind.
bindet drei zentrale Ideen: (1) Die eigentliche politi- Seit 1999 hat Habermas das Kantische Projekt der
sche Gemeinschaft ist begrenzt; (2) sie verfügt über Transformation des Völkerrechts in ein Weltbürger-
die letztgültige politische Autorität; und (3) diese recht von den Fragen der Demokratie und der de-
Autorität ermöglicht politische Autonomie, so dass mokratischen Legitimität geschieden. Stattdessen
die Mitglieder des demos über die Bedingungen ih- schlägt er eine ›mehrstufige politische Weltgesell-
res Zusammenschlusses selbst frei entscheiden und schaft‹ vor, in der die Funktionen auf die Ebenen des
sich selbst Gesetze geben können. Der normative Nationalen, des Transnationalen und des Supranati-
Kern dieses Demokratiebegriffes liegt in der Frei- onalen verteilt werden. Anstelle der Konstitution ei-
heitskonzeption beschlossen, die in der dritten der nes globalen demos, der selbst Autor und Adressat
17. Völkerrechtsverfassung und Politik 293

des Rechts ist, geht es bei der Konstitutionalisierung in den Mittelpunkt gerückt werden; oder sie kann
jetzt um die wechselseitige Begrenzung der eine politische Ordnung sein, insofern sie sich insbe-
Machtausübung auf verschiedenen Ebenen – ein- sondere auf rechtliche und politische Institutionen
schließlich der Macht demokratischer Staaten, die einschließlich des Bürgerstatus konzentriert. Haber-
aufgrund der Verantwortlichkeit des Volkes und der mas’ Position in dieser Debatte ist eine moderate. Sie
Öffentlichkeit dennoch die Legitimationsquelle der ist nicht so minimalistisch wie Rawls’ ›Recht der Völ-
›Weltinnenpolitik‹ (wie Habermas sie nennt) dar- ker‹, das die Notwendigkeit einer starken rechtlichen
stellt; dabei wird die exklusive Aufgabe, die Men- oder politischen (oder gar einer demokratischen)
schenrechte und die Sicherheit der Menschen zu be- Ordnung auf internationaler Ebene schlichtweg ab-
fördern, offiziellen und juridischen globalen Institu- streitet. Sie ist aber auch keine streng demokratische
tionen überlassen. Von der Frage »Wie und in Position, wie etwa David Helds Version einer kos-
welcher Form kann die Demokratie jenseits des Staa- mopolitischen Ordnung. Jedoch treffen sich Haber-
tes verwirklicht werden?« gehen wir über zu der mas und Held darin, dass sie beide das Entstehen ei-
Frage »Welche Form oder welche Formen der Legiti- nes internationalen öffentlichen Rechts als zentrale
mität sind – von der Demokratie abgesehen – einer Bedingung für eine gerechte globale politische Ord-
mehrstufigen und pluralistischen Weltgesellschaft nung hervorheben.
angemessen?«. Habermas verwirft Helds parlamentaristische
In seinem Bestreben, ein konsistenteres und gang- Darstellung der Konstitutionalisierung, insofern
bareres Kantisches Projekt auszuarbeiten, hat Ha- diese einer pluralistischen und mehrstufigen Welt-
bermas drei verschiedene Versionen vorgeschlagen: gemeinschaft nicht gerecht wird: Ihre Hierarchie
Eine erste Interpretation, die in der Begrifflichkeit verschiedener Rechtsformen und Souveränitäten ak-
eines Ideals der kosmopolitischen Demokratie for- zeptiert implizit, dass es eine letzte demokratische
muliert war; eine zweite Version, derzufolge die De- Begründung der Ausübung politischer Macht geben
mokratie allein im Nationalstaat verankert ist, so müsse. Wenn wir die Probleme betrachten, denen
dass auf internationaler Ebene nur noch ein System ein postnationales Gemeinwesen gegenübersteht,
fairen Verhandelns möglich bleibt; und schließlich könnte die Demokratie sicherlich eine legitimatori-
eine Kantische Darstellung einer mehrstufigen poli- sche Rolle spielen, aber sie muss nicht auf allen Ebe-
tischen Weltgesellschaft, derzufolge die Konstitutio- nen zum Tragen kommen; in der Tat gibt es unter-
nalisierung des Völkerrechts das wichtigste Ziel ist. schiedliche Legitimationsformen für die verschiede-
nen Ebenen einer pluralistischen Weltgesellschaft:
die nationale, die transnationale und die supranatio-
Das Kantische Projekt I:
nale Ebene. Jede dieser Ebenen verfügt über ihre ei-
Die kosmopolitische Demokratie
gene, spezifische Legitimationsform, die mehr oder
Um Habermas’ spezifische Position in der Debatte minder demokratisch sein kann, die aber nur auf na-
über eine mögliche weltbürgerliche politische Ord- tionaler oder subnationaler Ebene unbedingt demo-
nung zu verstehen, sollten wir die wichtigsten Opti- kratisch sein muss.
onen politischer Legitimität durchgehen: Der gegen- Diese Debatten spiegeln in mancher Hinsicht
wärtige Diskussionsstand lässt sich anhand von vier Kants eigene Entwicklung wider – von der Idee der
Hauptachsen rekonstruieren: politisch oder sozial, Konstitutionalisierung des Völkerrechts in einer
institutionell oder nicht-institutionell, demokratisch Weltrepublik hin zu einer stärker dezentralisierten
oder nicht-demokratisch, transnational oder kos- und pluralistischeren Konzeption einer immer wei-
mopolitisch. In diesem frühen Stadium macht sich ter expandierenden Föderation von Staaten, in der
Habermas eine Position zu eigen, die politisch, insti- die Pluralität der Rechtsordnungen jedoch erhalten
tutionell, demokratisch und kosmopolitisch ist und bleibt. Die anfängliche Auffassung orientiert sich am
somit derjenigen von David Held (1995) sehr nahe- Gesellschaftsvertrag und lässt sich als die Fortset-
steht. Verschiedene Theorien dieser Art sind von zung jenes Konstitutionalisierungsprozesses verste-
Hintergrundannahmen hinsichtlich der Natur und hen, der in den Einzelstaaten begonnen hatte. Doch
des Geltungsbereichs der kosmopolitischen Ord- sie geht von einem kontinuierlichen Prozess und ei-
nung beeinflusst: Sie kann eine moralische Ordnung ner über alle Ebenen hinweg einheitlichen Form der
sein, insofern sie mit allen Individuen und ihren Le- Institutionalisierung aus. Die spätere Version ver-
benschancen befasst ist; sie kann eine soziale Ord- sucht – wenn auch vergebens – die Alternative einer
nung sein, insofern Assoziationen und Institutionen pluralistischen Weltgesellschaft zu formulieren, in
294 III. Texte

der jeder Person dennoch der moralische und politi- versucht Habermas, einen weiter gefassten instituti-
sche Status zu Teil wird, den wir heute als die Men- onellen Pluralismus in das Kantischen Projekt zu in-
schenrechte bezeichnen. Habermas führt nun nicht tegrieren. Dennoch kann er nicht beides zugleich
die erste, sondern die zweite Version des Kantischen haben. Wenn er verschiedene disaggregierte und de-
Projekts fort. Dies bringt eine ganze Reihe von zentralisierte Formen einer transnationalen politi-
Schwierigkeiten mit sich; dazu gehört auch die Ent- schen Ordnung betrachtet, beschreibt er sie in einer
wicklung einer politischen Legitimität, bei der die nicht-demokratischen Begrifflichkeit als ›Verhand-
Demokratie eine bestenfalls indirekte Rolle spielt. lungssysteme‹, die auf fairem Verhandeln beruhen.
Während manche Pluralisten (wie z. B. Anne-Marie Der Demokratiebegriff wird noch weiter einge-
Slaughter 2004) die Rolle der Demokratie sogar noch schränkt, da Habermas fordert, dass jegliche denk-
weiter abschwächen möchten, könnten andere ver- bare ›postnationale Demokratie‹ eine gemeinschaft-
suchen, diese über die Ebene der Einzelstaaten hi- liche und daher partikulare politische Identität er-
naus auszudehnen, insofern Demokratie sich in eine werben müsse, ohne die wir es, wie Habermas
Form transformieren lässt, die den nationalstaatli- ausführt, allein mit einer ›moralischen‹, nicht aber
chen demos hinter sich lässt. Habermas’ Lösung for- mit einer ›staatsbürgerlichen‹ Solidarität zu tun hät-
muliert eine dritte Option: das Entstehen einer ten. Selbst wenn eine solche politische Gemeinschaft
›Weltinnenpolitik‹, die sich nicht auf politische Netz- sich auf die universellen Prinzipien einer demokrati-
werke, sondern auf die gemeinsame Deliberation schen Verfassung stützt, so bildet sie nach Habermas
von Vertretern der einzelnen nationalen Demokra- »eine kollektive Identität in der Weise aus, dass sie
tien stützt. diese Prinzipien im Lichte ihrer Geschichte und im
Kontext ihrer Lebensform auslegt und implemen-
tiert« (PN, 161). Dieser Kontext ist in einem postna-
Das Kantische Projekt II:
Von der Demokratie zur Verhandlung tionalen Gemeinwesen nicht gegeben. Ohne eine
solche gemeinsame ethische Basis – so seine These –
In der zweiten Version seines Kantischen Projekts müssen die überstaatlichen Institutionen nach einer
führt Habermas das ›Regieren‹ als Gegensatz zur de- »weniger anspruchsvollen Legitimationsgrundlage
mokratischen ›Regierung‹ ein, so dass seine Sicht in den nicht-staatlichen Organisationsformen inter-
nun sozial, institutionell, nicht-demokratisch und nationaler Verhandlungssysteme« suchen (ebd.,
transnational ist. Um diese Veränderungen zu ver- 164); deren deliberative Prozesse werden verschie-
stehen, sollte man seine damalige Position in Rela- denen Öffentlichkeiten und Organisationen der in-
tion zu einer Reihe von Theorien betrachten, die seit ternationalen Zivilgesellschaft zugänglich sein. In
seiner ersten Erörterung des Kantischen Weltbür- dieser postnationalen Version des Kantischen Pro-
gerrechts entwickelt wurden. Als ein Vertreter des jekts dienen regionale Organisationen wie die Euro-
Kantischen Projekts kann Habermas hinsichtlich der päische Union dazu, eine höherstufige politische In-
politischen Institutionen oberhalb der nationalstaat- tegration zu ermöglichen, wenn diese erforderlich
lichen Ebene keine derart minimalistische Position ist. Dieser weniger anspruchsvolle Legitimitätsstan-
vertreten wie z. B. Rawls oder Buchanan. Wenn poli- dard schließt aber die Möglichkeit nicht ein, über
tische Legitimität irgendeine Rolle spielen soll, dann jene Regeln zu beraten, die der politischen Autorität
im Dienste einer Reihe von fundamentalen Rechten; des Verhandlungssystems selbst zugrunde liegen.
jedoch geben die institutionellen und politischen Habermas’ Position ist hier sicherlich transnational,
Grundlagen einer solchen Ordnung keinerlei Aus- aber letzten Endes nicht-demokratisch, gerade weil
kunft über die Grundlagen für jegliche Verantwort- sie ihre überaus tragfähige Konzeption deliberativer
lichkeit. Wenn stärkere Begriffe wie z. B. Helds ›kos- Demokratie auf das Niveau des Nationalstaats ein-
mopolitische Demokratie‹ versagen, stellt sich die schränkt. Somit kommen stärkere Demokratiekrite-
Frage, welche Alternative hier bleibt. Wenn wir da- rien außerhalb des Nationalstaats nicht zur Anwen-
von ausgehen, dass Demokratie gerade in der Selbst- dung; dort ist das Regieren nur ein indirekt demo-
gesetzgebung besteht, derzufolge das Volk sowohl kratisches, es wird an Verhandlungsrunden und
Autor als auch Adressat des Rechts ist, so muss die politische Netzwerke übertragen. Solche Verhand-
›postnationale‹ Demokratie sich aus einer anderen lungssysteme erreichen nicht das Niveau einer ›Welt-
Quelle herleiten. innenpolitik‹, da sie noch nicht mit einer mehrstufi-
Sowohl in Die postnationale Konstellation als auch gen und funktional dezentralisierten politischen
in jüngeren Aufsätzen über die Europäische Union Weltgesellschaft verknüpft sind. An solchen Ver-
17. Völkerrechtsverfassung und Politik 295

handlungssystemen nehmen nicht Bürger, sondern chen Rahmen‹ stellt eine grundlegende Kontinuität
Staaten – mit all ihren Partikularinteressen – teil. zwischen der Demokratie innerhalb und außerhalb
Held dagegen löst dieses Problem im Rahmen sei- des Nationalstaats her. Doch der Preis dafür ist hoch.
nes mehrstufigen Systems globalen Regierens nicht Erstens führt sie einen Unterschied zwischen Fragen
direkt, durch einen Appell allein an die legislative zweiter Ordnung, die den Rahmen betreffen, und
Aktivität des Weltparlaments, sondern dadurch, dass Fragen erster Ordnung ein; diese Fragen zweiter
er den globalen politischen Rahmen als politisches Ordnung müssen unparteiisch geklärt werden, sie
Subjekt dem Willen und der Zustimmung des Vol- sind in gewissem Sinne dem Gerangel alltäglicher
kes unterstellt. Hat es erst einmal seine Legitimation demokratischer Konflikte enthoben. Internationale
erhalten, entsteht dieses politische Subjekt innerhalb Politik auf höherer Ebene ist so eher adjudikativ als
einer ›gemeinsamen Struktur des politischen Han- deliberativ. Obgleich Held in jüngster Zeit in Soziale
delns‹, die es Individuen und Gruppen ermöglicht, Demokratie im globalen Zeitalter (2007) das mehr-
ihre individuellen und kollektiven Projekte voranzu- stufige polyzentrische Regieren kurz- und mittelfris-
treiben. Der Rahmen selbst übernimmt eher die tig als weit notwendiger erachtet als globale parla-
Rolle eines Quasi-Souveräns als jene eines dezentra- mentarische Institutionen, bezieht er sich weiterhin
lisierten Prozesses der Willensbildung, da die Souve- auf eben diese Konzeption der kosmopolitischen
ränität jetzt ›ein Attribut des demokratischen öffent- Selbstgesetzgebung als Grundlage einer langfristigen
lichen Rechts‹ darstellt. Um die Weltgemeinschaft demokratischen Weltordnung. Kurz gesagt: In einer
wieder als Souverän einsetzen zu können, stellt Held Zeit, in der selbst die innerstaatliche Demokratie
die These auf, dass die demoi sich letzten Endes dem zersplittert und dezentriert ist, ist die kosmopoliti-
Willen des globalen demos unterwerfen müssten: sche Demokratiekonzeption nicht weit genug trans-
»das Weltbürgerrecht fordert die Unterwerfung regi- formiert und läuft daher Gefahr, die Probleme der
onaler, nationaler und lokaler Souveränitäten unter Herrschaft durch Juridisierung eher zu verstärken
einen alles überwölbenden rechtlichen Rahmen« als zu mindern. Während Habermas jetzt eindeutig
(Held 1995, 234). Um alles zu überwölben, muss die- die Idee zurückweist, dass eine – wenn auch modifi-
ser Rahmen eine Hierarchie der Autoritäten bein- zierte – Demokratie das Organisationsprinzip aller
halten. Um demokratisch zu sein, muss der gemein- Konstitutionalisierung darstellen solle, hat er noch
same Rahmen den kollektiven Willensbildungs- und keine Alternative zur kosmopolitischen Demokratie
Diskussionsprozess seiner Bürger durchlaufen, wo- aufgezeigt, die eine ausreichend tragfähige Basis für
durch auf dem globalen Niveau das kontraktuelle die politische Legitimität dieser Konstitutionalisie-
Moment eines fest umrissenen, sich gegenseitig seine rung abgeben könnte – nicht einmal für ihre rechtli-
Rechte garantierenden ›Volkes‹ wiedererschaffen chen Institutionen, die den Menschenrechten Gel-
wird. Bei der Verabschiedung des allgemeinen Rah- tung verschaffen sollen. Ohne ein solches Alterna-
mens kann der exakte Charakter der Rechte und tivmodell kann die Konstitutionalisierung den
Pflichten, die die gemeinsame politische Handlungs- Einsatz politischer Macht in Institutionen, die nur
struktur mit sich bringt, nicht vollständig bestimmt indirekt demokratisch sind, nicht legitimieren. Die
werden. Um jedoch zugleich auch durchsetzbar zu bloße Zustimmung zu der globalen Basisstruktur
sein, müssen diese Rechte und Pflichten in gewisser reicht nicht aus, da die indirekte Legitimation durch
Weise von einer mit dieser Kompetenz ausgestatte- die bereits bestehenden Demokratien keine Antwort
ten autoritativen Institution näher bestimmt werden, auf die Fragen gibt, über welche Mechanismen das
und daher muss diese Institution sowohl als Legisla- Volk auf postnationaler Ebene Kontrolle ausüben
tive als auch als Judikative agieren. Das Dilemma oder zu politischem Einfluss gelangen könnte. Die
lässt sich folgendermaßen beschreiben: Wenn glo- funktionale Differenzierung der Aufgaben erübrigt
bale Institutionen als Judikative agieren, erscheint das Problem der Legitimation nicht, und es gibt auch
dies undemokratisch; wenn sie aber als Legislative keine einfache Lösung für dieses Problem, da die
agieren, haben sie keinen besonderen demokrati- Entscheidungsprozesse vieler Institutionen in einer
schen Status, der sie über die besser legitimierten mehrstufigen Weltgesellschaft nicht demokratisch
und politisch konstituierten demokratischen Ge- sind. Zudem wird jede Lösung dadurch weiter er-
setzgebungsprozesse der einzelnen Staaten hinaus- schwert, dass das Völkerrecht nicht in derselben
höbe. Weise wie das nationale Recht jurisgenerativ ist. Für
Helds Forderung nach demokratischer Kontrolle Habermas bedeutet dies, dass das Kantische Projekt
über den ›alles überwölbenden allgemeinen rechtli- der Konstitutionalisierung komplementär, doch
296 III. Texte

nicht analog zur Konstitutionalisierung innerhalb höfe einschließlich des Internationalen Strafgerichts-
der Staaten angelegt ist. Sehr zum Nachteil ihrer hofs; beide müssen gestärkt und auch von den
Theorien globaler Politik halten Held und andere zahlreichen anderen Spezialorganisationen der Ver-
kosmopolitische Demokraten weiterhin an dieser einten Nationen in ihrer derzeitigen Form weiter ab-
falschen verfassungstheoretischen Analogie fest. gekoppelt werden.
Doch es gibt eine weitere Möglichkeit: Wenn sie, wie Diese selektiv gestärkten Weltorganisationen wür-
Habermas betont, zwar nicht analog, aber doch kom- den sich selbst auf zwei – und nur auf zwei – Aufga-
plementär zur innerstaatlichen Ordnung angelegt ben beschränken: den Frieden zu sichern und die
ist, so schließt die globale politische Ordnung die Menschenrechte zu fördern und durchzusetzen. Alle
Möglichkeit einer Demokratie anderer Art nicht aus: anderen globalen politischen Fragen delegiert Ha-
einer Demokratie der ›demoi‹, nicht des einen ›de- bermas weiterhin an die transnationale Ebene, an
mos‹. ein System fairer Verhandlungen der relevanten Ak-
teure und Betroffenen, und dazu gehören auch sol-
che regionale Regierungssysteme wie die Europäi-
Das Kantische Projekt III: Die Konstitutionali-
sche Union. Der Zweck dieser Institutionen, die
sierung des Völkerrechts ohne Demokratie
funktional auf ihre jeweiligen Probleme und Aufga-
Habermas hat einen dritten Versuch unternommen, ben zugeschnitten werden müssen, wird darin beste-
eine systematische Version des Kantischen weltbür- hen, eine ›Weltinnenpolitik‹ zu begründen; diese
gerlichen Projekts in einer mehrstufigen ›politisch Struktur wird so eine genuin transnationale sein und
verfassten Weltgesellschaft‹ auszuarbeiten. Diese nicht mehr allein mit Fragen der außenpolitischen
Version stellt eine Synthese der besten Elemente der Beziehungen zwischen den Staaten befasst sein. Ha-
vorigen Versionen dar; im Zentrum dieser Version bermas sieht voraus, dass die Staaten sich dadurch
steht jetzt das grundlegende Ziel, das Völkerrecht auch stärker in der Horizontalen integrieren werden:
und sein Rechtssubjekt zu transformieren. In einer in verschiedenen Netzwerken und Regierungssyste-
solchen mehrstufigen Ordnung haben die Staaten men, die derartige Politiken hervorbringen werden
eine entscheidende Rolle als ›die wichtigsten Ak- und die weiterhin für den Einfluss und die Debatten
teure und letzten Schiedsrichter‹ zu spielen, gerade der Öffentlichkeiten ›von unten‹ offen sein werden.
weil sie das Problem legitimer Macht gelöst haben, Somit bringt die transnationale Ebene eine ›pluralis-
indem sie das Recht an die reale Umsetzung der Frei- tische‹ und mehrstufige Weltgesellschaft hervor, in
heit gekoppelt haben. Doch selbst hier werden die der das Regieren auf verschiedene Netzwerke (von
normativen Ressourcen der Staaten der Aufgabe Staaten, staatlichen Akteuren und allmählich entste-
nicht mehr gerecht, die vielen durch die Globalisie- henden Formen der Zivilgesellschaft) verteilt ist, –
rung entstehenden Probleme zu lösen – einschließ- die aber auch die Bürde einer Weltinnenpolitik ein-
lich verschiedener Gefahren, die sich durch grenz- schließlich der Entwicklungsproblematik auf sich
überschreitende Finanztransaktionen und Migra- nimmt.
tionsbewegungen ergeben. Es sind Institutionen auf Diese Unterscheidung von nationaler, transnatio-
mindestens zwei weiteren Ebenen erforderlich, um naler und supranationaler Ebene macht deutlich,
diese große Zahl von Problemen zu lösen; denn den dass die Last der Legitimation arbeitsteilig über die-
Staaten fehlen selbst dann die Ressourcen, mit die- ses gesamte System verteilt ist. Die Legitimität auf
sen Problemen fertigzuwerden, wenn sie legitime nationaler Ebene ist demokratisch und ethisch, sie
Macht ausüben können. Jenseits des Staates gibt es hängt von der Durchsetzung demos-schaffender
die transnationale und die supranationale Ebene; in Prozeduren ab und ermöglicht die Entfaltung einer
beiden Fällen ist hier schon eine Institutionalisie- öffentlich-politischen Kultur. Auf transnationaler
rung eingetreten. Habermas ist der Ansicht, die ›su- Ebene ist die Legitimität grundsätzlich eine Frage
pranationale Ebene‹ erschöpfe sich in jenen exekuti- der Politik und des Verhandelns, so dass offensicht-
ven und judikativen Aspekten der Vereinten Natio- lich all jene auf die komplexen Vereinbarungen und
nen, die diese zu einer vollständig inklusiven politischen Maßnahmen Einfluss nehmen können,
›Weltorganisation‹ machten. Die zentralen institu- die von der Lösung bestimmter Probleme betroffen
tionellen Errungenschaften der Vereinten Nationen sind oder auf diese hinwirken. Die supranationale
als einem Modell supranationaler Institutionalisie- Ebene dagegen übernimmt und transformiert – so
rung sind exekutiver und judikativer Art: der Sicher- Habermas – die ›klassische Agenda des Völker-
heitsrat und die verschiedenen globalen Gerichts- rechts‹: die Beförderung von Frieden, Sicherheit und
17. Völkerrechtsverfassung und Politik 297

Freiheit. Doch dies bedeutet, dass es diesem Vor- weiter auszudehnen, und das heißt: »die friedenssi-
schlag zufolge eine sehr starke Unterscheidung zwi- chernde Funktion des Rechts« auf das globale Ni-
schen Recht und Politik geben muss, wobei die Ent- veau auszudehnen, auch wenn »die friedenssi-
wicklung des Völkerrechts »der eigensinnigen Logik chernde Funktion des Rechts begrifflich mit der
der Entfaltung und Explikation von Menschenrech- Freiheit konstituierenden und sichernden Funktion
ten folgt«. Und daher »fallen auf supranationaler eines Verfassungszustandes, den die Bürger als legi-
Ebene Aufgaben von eher juristischer als politischer tim anerkennen«, verschränkt bleibt (ebd.). Auch
Natur an«, so Habermas (NR, 356). Gemäß der Auf- wenn es den Anschein haben könnte, dass die kos-
fassung von Recht und Demokratie in seinen frühe- mopolitische Demokratie hier nochmals stark ge-
ren Schriften gehen Recht und Politik notwendiger- macht werden soll, ist die Argumentation doch weit
maßen getrennte Wege, solange sich keine demokra- bescheidener. Eine über den Staat hinausgehende
tische Praxis etabliert hat, und sie vereinen sich erst Konstitutionalisierung ist der einzig gangbare Weg,
in den demokratischen Staaten mit ihrem Ideal der auf dem das internationale System demokratische
Volkssouveränität und ihren demokratischen Ver- Formen des Regierens stärken kann, anstatt ihnen
fahrensweisen. Die supranationale Ebene ist in Er- Abbruch zu tun. Dies gilt, da konstitutionalisierte
mangelung einer solchen Ordnung vorrangig mit supranationale Institutionen den Menschenrechten
der »Rechtsdurchsetzung« beschäftigt; dahinter »tre- kraftvoll Nachdruck verleihen können und somit fä-
ten politisch gestaltende Aufgaben zurück« (GW, hig sind, die strukturelle Basis für demokratische Le-
173). Dass die Menschenrechte als unumstritten be- gitimität auf jedem Niveau zu gewährleisten. Damit
trachtet werden und daher nur die entsprechenden ist nicht gesagt, dass die Form der Verfassung auf al-
institutionellen Werkzeuge für ihre Durchsetzung len Ebenen dieselbe sei, sondern nur, dass die spezi-
benötigen, führt dazu, dass die Legitimationsanfor- fische Funktion der Konstitutionalisierung des Völ-
derungen hier tatsächlich niedriger sind als bei kerrechts in der Sicherung der Freiheit besteht – und
transnationalen Verhandlungen; diese führen zu nicht, wie im Falle der Verfassungen, in der Begrün-
Entscheidungen, die »einen höheren Legitimations- dung der Freiheit für die demokratische Selbstge-
aufwand, also eine fester institutionalisierte Beteili- setzgebung.
gung der Bürger verlangen« (ebd., 173). Habermas’ Diese Verschiebung wirft eine grundsätzliche
Ansicht zufolge bedeutet dieser Unterschied der Le- Frage auf: Welche Form der Demokratie soll eine
gitimationsanforderungen, dass bezüglich der inter- derartige Verfassung etablieren? Habermas’ Zurück-
nationalen Politik das letzte Wort noch nicht gespro- weisung der beiden stärkeren Formen der kosmopo-
chen ist. Angesichts der ›bescheidenen Agenda‹ der litischen Demokratie demonstrierte uns jedoch, dass
supranationalen Institutionen dürfte es jedoch wahr- gerade diese Konzeption in Faktizität und Geltung
scheinlicher sein, dass sie ihre judikative Aufgabe er- der Leitfaden seiner Darstellung der Demokratie als
füllen können und die Menschenrechte »als negative einer jurisgenerativen war. Aus diesem Grunde
Pflichten einer universalistischen Gerechtigkeitsmo- sprach sich Habermas in Die postnationale Konstella-
ral« durchsetzen können (ebd., 142). Diese Legitimi- tion gegen jeden Ansatz aus, die Demokratie über
tät wird durch die periodisch – in den Reaktionen den Staat bzw. über regionale Organisationen hinaus
der Weltöffentlichkeit auf schwere Menschenrechts- auszudehnen; er hielt an der Hoffnung fest, dass die
verletzungen – entstehende weltbürgerliche Solida- Europäische Union sich noch eine Verfassung geben
rität gesteigert. könne, die einen europäischen demos und eine euro-
Trotz dieses Appells an spezifische Funktionen päische Öffentlichkeit begründen würde. Habermas
der transnationalen und der supranationalen Ebene, hat seine Position noch einmal modifiziert und ver-
die beide im Vergleich zu Nationalstaaten nur nied- tritt jetzt die Auffassung, dass die zu schaffende
rige Legitimationsanforderungen zu erfüllen haben, überstaatliche konstitutionelle Ordnung nicht in
stellt Habermas nun die These auf, dass »mit dem dem Sinne republikanisch sein würde, wonach ein
Erfolg dieses Projekts [der politischen Konstitution sich selbst Gesetze gebender demos die rechtmäßig
einer Weltgesellschaft] nichts weniger auf dem Spiel hervorgebrachte Macht begründen würde; die Ver-
steht als die demokratische Substanz der heute noch fassungstradition ist hier ›liberal‹ und nicht etwa re-
möglichen Formen politischer Vergesellschaftung« publikanisch-demokratisch. Demnach begründet die
(NR, 325). Damit stellt er fest, dass die weitere Reali- Verfassung die Macht nicht, sondern begrenzt sie, in-
sierbarkeit der Demokratie davon abhängt, den ur- dem sie sie in rechtliche Kanäle leitet. So sehr auch
sprünglichen Bereich der Konstitutionalisierung Bellamy (2008) und andere zeitgenössische Vertreter
298 III. Texte

des Republikanismus davon ausgehen, dass moderne nicht so sehr von den alten ›vertikalen‹ Systemen
Verfassungen auf der Gewaltenteilung beruhen, ver- unterscheiden, da die Teilnehmer solcher multilate-
tritt Habermas die Auffassung, dass die Konstitutio- ral-globaler Regulierungsprozesse von der Exeku-
nalisierung des Völkerrechts keine Identität zwi- tive ihres jeweiligen Staates delegiert werden. Der –
schen Herrschern und Beherrschten begründet. Eine von Teubner (2004) und anderen Rechtspluralisten
republikanische (oder, nach Habermas’ Sprachge- verfochtene – Versuch, die transnationale Funktion
brauch: ›liberale‹) Verfassung gewährleistet vielmehr des Privatrechts zu stärken, krankt aber daran, dass
»die gedankliche Trennung der Elemente von Ver- er noch weit größere Verantwortlichkeitsdefizite er-
fassung, Staatsgewalt und Staatsbürgerschaft« (NR, zeugt. Stärker formalisierte transnationale Organi-
328). Gemäß einer derartigen Darstellung der ver- sationen unterliegen anderen Einschränkungen, da
fassungsmäßigen Ordnung werden also die Funktio- sie nicht über die Autorität verfügen, Rechtsnormen
nen des Staates zwischen formellen und informellen zu revidieren oder neu aufzustellen. Andererseits
internationalen Organisationen aufgeteilt; diese Or- sind die supranationalen Organisationen allein an
ganisationen sind nicht-staatlicher Art und berufen universalen negativen Pflichten (im Zusammenhang
sich nicht auf den Willen der Bürger, um ihre Macht mit den Menschenrechten und ihrer Durchsetzung)
zu legitimieren. Wenn der Erfolg dieser sich jetzt ab- als den Rechtfertigungsgrundlagen ihrer Entschei-
zeichnenden Konstitutionalisierung darin besteht, dungen orientiert. Während die jüngsten Entwick-
die Realisierbarkeit der Demokratie in jeder Form – lungen in den Vereinten Nationen eine expansivere,
einschließlich der staatlichen – zu erklären, wie Ha- auch die globale Umverteilung einschließende Si-
bermas fordert, so ist dies nur möglich, wenn die cherheitskonzeption notwendig machen, kann ein
verbleibenden normativen Konzeptionen der De- solches Programm von den Vereinten Nationen in
mokratie nicht mehr über alle unterschiedlichen ihrer derzeitigen Struktur nicht umgesetzt werden,
Ebenen der Weltgesellschaft hinweg identisch sind. da diese sich nicht an den konstruktiven Aufgaben
Dieser Ansicht zufolge bringt die Demokratie nicht globaler Politik und globaler Verhandlungen beteili-
mehr die Bedingungen ihrer Realisierung hervor. gen können. Habermas weist tatsächlich solche poli-
Wenn diese Version einer mehrstufigen, politisch tischen Funktionen supranationaler Institutionen
organisierten Weltgesellschaft nicht hinter der ausdrücklich zurück, da sie diese überlasten und bei
Summe ihrer Teile zurückbleiben will, stellt sich die ihrer eigentlichen Aufgabe der Konstitutionalisie-
Frage, wie die Legitimität der Institutionen gewähr- rung der Menschenrechte möglicherweise delegiti-
leistet werden kann. mieren könnten. Das Ziel dieser Arbeitsteilung be-
Wenn Demokratie auf überstaatlicher Ebene steht darin, die Legitimität der supranationalen
nicht realisierbar ist, fragt man sich aber, woher die Ebene dadurch zu stützen, dass diese ausschließlich
Legitimität kommen soll. Es bleiben nur zwei Mög- auf die Menschenrechte und ihre Durchsetzung ver-
lichkeiten: Die Legitimationsquelle muss entweder pflichtet wird.
transnational oder supranational sein. Das erste Hilft uns die Rekonstruktion dieser Argumenta-
›Horn‹ dieses Dilemmas führt uns schnell auf die tion bezüglich des Legitimationsdefizits, einen Aus-
immanenten normativen Schwächen der Weltinnen- weg aus diesem Problem ausfindig zu machen? De-
politik. Der Neoliberalismus macht sich dieses Horn mokratie ist nötig, um einerseits die den supranatio-
des Dilemmas zu nutze und gründet sich auf dieses nalen Institutionen zugrundeliegenden Auffassung
Legitimationsdefizit, indem er die Regelung der glo- von Sicherheit auszuweiten, und um andererseits die
balen Märkte den Managern und Executives der gro- redistributiven Elemente der Weltinnenpolitik zu
ßen Unternehmen überlässt, während die Probleme garantieren. Aber jene Form der Demokratie, die
der politischen Legitimität und der Umverteilung dies ermöglichen könnte, steht uns auf keiner dieser
gänzlich den Staaten überantwortet werden. beiden Ebenen zur Verfügung. Gibt es also einen
Rechtspluralisten wie Anne-Marie Slaughter (2004) Ausweg? Nach Habermas’ Ansicht besteht die ein-
sehen die Aufsplitterung staatlicher Souveränität als zige Lösung, die unter den in absehbarer Zukunft
eine Gelegenheit, die alten, auf ›vertikaler‹ Macht geltenden Bedingungen denkbar ist, in einer inter-
beruhenden Abhängigkeiten durch ›horizontale‹ In- nationalen Arbeitsteilung, die die erforderlichen Le-
teraktionen und funktionale Verknüpfungen in Poli- gitimitätsformen für das Institutionensystem in sei-
tiknetzwerken zu ersetzen, die de facto heute schon ner Gesamtheit hervorbringen würde, ohne sich aus-
viele verbindliche Entscheidungen treffen. Das Pro- schließlich auf eine einzige Legitimitätsform zu
blem besteht aber darin, dass sich diese Netzwerke stützen.
17. Völkerrechtsverfassung und Politik 299

Kann die Unterscheidung verschiedener Ebenen Thomas Risse (1999) und andere gezeigt haben;
das Problem lösen? Ja, aber nicht einfach in der dazu gehören auch die Überzeugungsarbeit und die
Weise, dass jede Ebene ihre eigene Legitimitätsform Dialoge, die zu nachhaltigem Wandel innerhalb ei-
hervorbringt. Vielmehr gehen wir davon aus, dass nes Landes führen. Habermas’ Ansicht nach sollte
die Legitimitätsformen der einzelnen Ebenen sich das Menschenrechtsinstrumentarium nicht als Basis
wechselseitig verstärken. Betrachten wir die Kanti- für solche Forderungen dienen, die in den Bereich
sche Fragestellung, warum das Recht die Lösung des der Weltinnenpolitik fallen. Ein derartiges Pro-
Friedensproblems ist: Frieden lässt sich nur dann er- gramm würde nämlich eine effektive Verhandlungs-
reichen, wenn die Ziele des internationalen Systems lösung für das Problem weltweiter Armut eher er-
und der republikanischen Staaten sich gegenseitig schweren als begünstigen. Wir dürfen keine von den
stützen, und zu diesem Zwecke bringt die Konstitu- Nationalstaaten bis zur Weltorganisation verlau-
tionalisierung den Staat von dem sich selbst verei- fende ›ununterbrochene Legitimationskette‹ erwar-
telnden Versuch ab, die Abwesenheit von Fremd- ten. Es bleiben nicht allein Lücken, sondern auch die
herrschaft zuhause durch die Herrschaft über andere Form der Legitimation ist nicht über alle Ebenen
jenseits seiner Grenzen zu gewährleisten. Solche sich hinweg dieselbe.
gegenseitig bestärkenden Beziehungen können auch Mit dieser mehrstufigen Darstellung wendet sich
andernorts in der politisch organisierten Weltgesell- Habermas von seinem anfänglichen Verständnis der
schaft angetroffen werden. Mit der Errichtung des Konstitutionalisierung der Weltbürgergesellschaft
Internationalen Strafgerichtshofs hat die diffuse glo- ab. Die Rolle der Verfassung einer pluralistischen
bale Öffentlichkeit eine »autoritative Stimme« für Weltgesellschaft besteht nicht darin, die Individuen
solche Fälle erhalten, in denen sie durch die morali- zu Autoren und Adressaten des Rechts zu machen,
schen Reaktionen auf politische Verbrechen und un- so dass alle legitime Macht sich aus dem Willen des
gerechte Regimes wachgerüttelt wird (NR, 355). Von Volkes ableiten ließe; die Verfassung der pluralisti-
einer eher strukturellen Warte aus betrachtet, schaf- schen Weltgesellschaft ist laut Habermas vielmehr
fen die Öffentlichkeiten der Bürger und ihrer ge- eine ›liberale‹, insofern sie darauf abzielt, der Macht
wählten Vertreter in den demokratischen Staaten durch die Schaffung eines Rechtsstaats Schranken
eine Grundlage für eine verantwortliche Weltinnen- aufzuerlegen, der – ohne Rücksicht auf deren demo-
politik. Sie könnten z. B. die globale Erwärmung mit kratische Herleitung – zur »Verrechtlichung […] be-
größerem Nachdruck auf die Agenda der Weltin- stehender Machtverhältnisse« beitragen (GW, 137)
nenpolitik setzen. und die Ausübung politischer Macht in rechtliche
Zugleich vertritt Habermas die Ansicht, dass diese Kanäle überführen kann. Entgegen Habermas’ Über-
Legitimitätsformen nicht allzu weit ausgedehnt wer- zeugung ist eine derartige Verfassung jedoch nicht
den sollten; so sollten z. B. Menschenrechtsorganisa- bloß liberal, sondern auch zutiefst republikanisch.
tionen nicht dafür eingesetzt werden, die Armutsbe- Da sie die wechselseitige Beschränkung der Gewal-
kämpfung als ein Menschenrecht zu propagieren. ten auf der Ebene der institutionellen Arbeitsteilung
Wenn er auch zwangsläufig zugestehen muss, dass betont, beruht sie stark auf der Vorstellung einer
der Begriff der Sicherheit über seine gegenwärtigen ebenen-übergreifenden Repräsentation: Repräsenta-
Grenzen hinaus ausgedehnt werden muss, ist Haber- tion in einem demokratischen Staat, durch den man
mas der Meinung, dass eine solcher Schritt nicht Akteur in einem Verhandlungssystem und zugleich
rechtlich durchgesetzt werden kann, sondern durch individuelles Subjekt des Weltbürgerrechts ist. Selbst
eine koordinierte Übereinkunft auf transnationaler in diesem mehrstufigen System ist es nicht ausge-
Ebene eingeleitet werden muss. Kritiker wie Lafont macht, dass die von der supranationalen Ebene ge-
(2008), Scheuerman (2008) und Flynn (2009) for- währten Schutzmechanismen für das eigentliche
dern eine unmittelbarere Anwendung der Men- Ziel der Konstitutionalisierung ausreichen werden:
schenrechte auf die Probleme bitterer Armut und dass nämlich jeder einzelne das Subjekt des Völker-
Entbehrung und stellen die Behauptung auf, dass rechts ist. Ein hartnäckiges globales Problem ergibt
Habermas’ Sorge um die Überlastung supranationa- sich daraus, dass Millionen politisch nicht repräsen-
ler Organisationen vielmehr zu Legitimationsdefizi- tierter Menschen nicht über grundlegende Freiheits-
ten der Menschenrechtsinstitutionen selbst führt. rechte verfügen und keinen rechtlichen Status besit-
Selbst wenn wir die institutionelle Arbeitsteilung ak- zen; viele von ihnen leben als Migranten oder Haus-
zeptieren, haben Menschenrechtsinterventionen besetzer in der Illegalität. Menschenrechte können
zwangsläufig auch eine politische Dimension, wie nicht allein als liberale Rechte konstitutionalisiert
300 III. Texte

oder ausschließlich auf jene Rechte eingegrenzt wer- Flynn, Jeffrey: »Human Rights, Transnational Solidarity,
den, die Gewalt und grobe Menschenrechtsverlet- and Duties to the Global Poor«. In: Constellations (2009)
[im Druck].
zungen wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit
Held, David: Democracy and the Global Order: from the
verhindern sollen – ganz unabhängig davon, ob die Modern State to Cosmopolitan Governance. Stanford
Demokratie über den Staat hinaus ausgedehnt wer- 1995.
den kann oder nicht. Die bloße Tatsache, dass Milli- –: Soziale Demokratie im globalen Zeitalter. Frankfurt a. M.
onen von Menschen Tag für Tag ohne Freiheitsrechte 2007 (engl. The Global Convenant. Cambridge 2004).
und Rechtsstatus leben müssen, sollte einen eindeu- Kant, Immanuel: Werke in Sechs Bänden. Hg. von Wilhelm
Weischedel. Bd. 6. Darmstadt 1983.
tigen Verstoß gegen rechtsstaatliche Prinzipien dar- Lafont, Cristina: »Alternative Visions of a New Global Or-
stellen und die Notwendigkeit verdeutlichen, repu- der: What Should Cosmopolitans Hope for?« In: Ethics
blikanische Forderungen auf allen Ebenen zu erhe- & Global Politics Jg. 1, Bd. 1–2 (2008), 1–20.
ben. Nicht die Rechtsinstitutionen allein, sondern Risse, Thomas/Sikkink, Kathryn: »The Socialization of Hu-
auch die notwendigermaßen über alle Ebenen hin- man Rights Norms into Domestic Practices«. In: Tho-
mas Risse/Stephen C. Ropp/Kathryn Sikkink (Hg.): The
weg institutionalisierten politischen Ordnungen Power of Human Rights: International Norms and Domes-
könnten – und zwar nur gemeinsam – das Recht ga- tic Change. Cambridge, Mass. 1999, 1–38.
rantieren, Rechte zu haben. Diese Aufgabe wird jetzt Scheuerman, William: »Global Governance without Global
noch komplizierter, da dieses ›Recht auf Rechte‹ es Government?« In: Political Theory Bd. 36 (2008), 133–
erforderlich macht, dass jeder über mehrfache Zuge- 151.
Slaughter, Anne-Marie: A New World Order. Princeton
hörigkeiten verfügt, als Staatsbürger, als Mitglied 2004.
von globalen Öffentlichkeiten und als das individu- Teubner, Gunther: »Societal Constitutionalism: Alterna-
elle Subjekt des Völkerrechts. tives to State-Centred Constitutional Theory«. In: Chris-
tian Joerges/Inger-Johanne Sand/Gunther Teubner (Hg.):
Literatur Transnational Governance and Constitutionalism. Ox-
ford 2004.
Bellamy, Richard: »Republicanism, Democracy and Con- James Bohman (Übers. Nikolaus Gramm)
stitutionalism«. In: Cécile Laborde/John Maynor (Hg.):
Republicanism and Political Theory. London 2008.
Bohman, James: Democracy across Borders: from Dêmos to
Dêmoi. Cambridge, Mass. 2007.
301

IV. Begriffe

1. Deliberation Stützung kommunikativen Handelns durch seine


Einbettung in das moderne Recht, die zweite die
konsequente Prozeduralisierung legitimer Herr-
Mit ›Deliberation‹ werden grundsätzlich politische schaft. Wenn sich nämlich legitime Entscheidungen
Argumentationsprozesse gekennzeichnet. In einem nicht mehr auf geteilte substanzielle Wertvorstellun-
normativen Verständnis von Deliberation, wie es gen stützen können, so müssen diese Legitimations-
Jürgen Habermas entwickelt, werden deliberative leistungen nunmehr von Verfahren getragen wer-
Verfahren als Mechanismus legitimer Herrschaft den, deren Eigenschaften die Vermutung begrün-
verstanden. Daher tritt qualifizierend hinzu, dass die den, dass ihre Ergebnisse vernünftig sind (EA, 326).
Argumentationsprozesse prinzipiell öffentlich sind An dieser Stelle tritt nun die deliberative Politik auf,
und allen Entscheidungsbetroffenen die gleichen die sich – sogleich demokratisch gewendet –, durch
Partizipationschancen zukommen. eben diese Verknüpfung von Diskurs und Rechts-
Den Ausdruck »deliberative Politik« verwendet form konstituiert: »Das Herzstück deliberativer Poli-
Habermas erst seit Faktizität und Geltung von 1992. tik besteht nämlich aus einem Netzwerk von Diskur-
Er steht dort im Zentrum der Demokratietheorie. sen und Verhandlungen, das die rationale Lösung
Habermas schließt damit an einen neuen politischen pragmatischer, moralischer und ethischer Fragen er-
Begriff und eine breite amerikanische Debatte an, möglichen soll – eben jene Probleme einer andern-
die durch seine eigene Diskurstheorie angeregt wor- orts versagenden funktionalen, moralischen oder
den sind (vgl. Cohen 1989), und deren Produkte er ethischen Integration der Gesellschaft« (FG, 388 f.).
jetzt zur Weiterverarbeitung in die eigene Theorie Legitime Herrschaft ist in der deliberativen De-
reimportiert. Aufbauend auf seiner Diskurstheorie mokratie das Ergebnis diskursiver Meinungs- und
führt Habermas deliberative Politik als Ausdruck Willensbildung in Form von rationalen Diskursen
institutionalisierter, diskursiv strukturierter Bera- und damit verschränkter fairer Verhandlungen (s.
tungs- und Beschlussverfahren innerhalb des rechts- Kap. IV.28). Legitimität erhalten die Ergebnisse
staatlich verfassten politischen Systems ein. Gegen- durch zwei miteinander verschränkte Eigenschaften
stand seiner rechts- und demokratietheoretischen der Verfahren: Ihre Rationalität und ihre Partizipati-
Schriften ist nicht mehr primär die Frage nach den vität. Erstere ergibt sich aus dem epistemischen Cha-
Grundlagen und Reproduktionsbedingungen sozia- rakter der argumentativen Auseinandersetzung, die
ler Ordnungen per se, sondern die konkrete Frage, Reflexionsprozesse erzeugt und damit Lernvorgänge
wie legitime Herrschaft in modernen Gesellschaften hervorbringt und verstetigt. Diese Leistungen kön-
rekonstruiert werden kann, wenn, wie Habermas an- nen deliberative Verfahren gleichwohl nur erbrin-
nimmt, durch Rationalisierungsschübe die gesell- gen, wenn sichergestellt ist, dass sie gegen alternative
schaftlichen Handlungssphären einerseits unwider- Steuerungsmechanismen, wie Macht und sozialen
ruflich auseinandertreten, und sich andererseits die Einfluss, abgeschirmt sind, d. h. dass es allein die auf
Reste eines sittlichen Ethos in eine Vielzahl indivi- Basis konvergierender Situationsdeutungen der Teil-
dueller Werte und Weltanschauungen auflösen. Un- nehmer hervorgebrachten Argumente sind, aus de-
ter diesen Bedingungen gerät das kommunikative nen sich das Ergebnis herausschält. Darüber hinaus
Handeln, dem Habermas die Hauptlast der sozialen müssen die Verfahren hinreichend öffentlich sein,
Integration aufbürdet, von innen wie außen in Be- damit sich die potenziell Betroffenen auch daran be-
drängnis. Von innen durch die Abnahme gemeinsa- teiligen und ihre unterschiedlichen Perspektiven
mer Bewertungen und Verständnisse, wie sie mit der gleichberechtigt und zwanglos in den diskursiven
Individualisierung einhergehen, von außen durch Austausch einbringen können. Solchermaßen struk-
das Eindringen alternativer Steuerungsmechanis- turierte Verfahren nötigen ihre Teilnehmer dazu,
men, wie Macht und Geld in die Lebenswelt (s. Kap. ihre Interessen zu hinterfragen und gegebenenfalls
III.10). Habermas gibt auf dieses Problem eine zwei- zu revidieren, um zu erreichen, dass nur jene Inter-
stufige Antwort. Die erste Stufe ist die institutionelle essen in die Beschlussfassung eingehen, die alle kri-
302 IV. Begriffe

tischen Einsprüche überstehen und damit im Inter- koppelt sind, einmal die institutionalisierten, im en-
esse aller (im Gemeinwohl) liegen können. Legitime geren Sinne deliberativen Verfahren in entschei-
Ergebnisse beruhen mithin auf zweierlei, der Delibe- dungsprogrammierten starken Öffentlichkeiten des
rativität und der universellen Inklusion des Verfah- Zentrums des politischen Systems (parlamentarische
rens, um zu gewährleisten, dass sich alle Betroffenen Körperschaften, Gerichte, Verwaltung), zum ande-
darin hinreichend zur Geltung gebracht haben. ren die informelle Meinungsbildung in autonomen
Unter den Bedingungen komplexer, individuali- Öffentlichkeiten der gesellschaftlichen Peripherie
sierter Gesellschaften und unter Zeit- und Pro- des politischen Systems, die insbesondere durch Or-
blemdruck ist es unvermeidlich, dass sich diese ide- ganisationen der Zivilgesellschaft getragen werden
alen Momente nur hinreichend in realen politischen (FG, 228 f.). Es sind letztere, die auf das das Zentrum
Entscheidungsprozessen zur Geltung bringen kön- einwirken und auf Umsetzung ihrer Forderungen
nen, wenn die Verfahren der politischen Meinungs- drängen. Erst durch das Zusammenspiel beider
und Willensbildung so institutionalisiert werden, Sphären kann sich eine deliberative Selbstbestim-
dass sich die kommunikative Vernunft in den Ver- mungspraxis ergeben, die genuin demokratische
fahren verkörpert. Durch die positivrechtliche Ob- Züge trägt:
jektivierung der kommunikativen Vernunft in juris-
tischen Verfahrensnormen werden die Bürger von »Die informelle Meinungsbildung mündet in institutiona-
lisierten Wahlentscheidungen und legislative Beschlüsse,
dem erheblichen kognitiven und motivationalen durch die kommunikative erzeugte Macht in administra-
Aufwand entlastet, den eine kooperative Wahrheits- tive verwendbare Macht transformiert wird« (EA, 288).
suche durch Argumentationsprozesse erfordern
würde, die wie in der Wissenschaft bloß informell Der Idealismus der Diskurstheorie wird aber nicht
geregelt sind. Deliberative Politik ist jedoch nicht auf nur durch die doppelte Trennung und Verknüpfung
Wahrheitssuche spezialisiert, sondern auf die Ver- von Diskurs und Entscheidung, Zentrum und Peri-
bindung von wahrheitsfunktionalen Problemlö- pherie dezentriert, sondern darüber hinaus wird die
sungsdiskursen mit praktischen Entscheidungsver- kommunikative Vernunft ethischer und moralischer
fahren. Solche Entscheidungen können (möglicher- Diskurse mit den Alltagsroutinen technischer Politik
weise unauflösliche, jedenfalls immer wieder neu vermittelt. In den großen und kleinen Krisen der Po-
hervorbrechende) Interessengegensätze nicht (oder litik, in denen die gemeinsamen Angelegenheiten
nur selten) zum Konsens führen, sondern müssen in nicht mehr nur verwaltet, sondern öffentlich werden,
der Regel (und nach fairen Verhandlungen) mit der wird die kommunikative Vernunft regelmäßig zur
(reversiblen) Unterwerfung von minoritären durch »Waffe der Kritik« (Marx; auch FG, 433 f.). Werden
majoritäre Interessen, also mit (insoweit unaufheb- Krisen aber systemisch verdrängt und der öffentli-
barer) demokratischer Herrschaft enden. Darin, Dis- che Gebrauch kommunikativer Vernunft durch ef-
kurse zu institutionalisieren und sie so mit egalitären fektive technokratische Politik, durch die Medien
Entscheidungsverfahren zu verkoppeln, dass die Be- administrativer Macht und ökonomischen Tausch-
gründungsleistung des Diskurses sich auf die Ent- werts dauerhaft substituiert, zwanghaft latent gehal-
scheidung überträgt und ihr eine allgemeine, über ten und kolonialisiert (TKH), dann kommt es mit
die bloß partikulare und voluntaristische Mehrheits- wachsender Wahrscheinlichkeit zu Legitimations-
entscheidung weit hinausschießende Legitimation krisen.
und Akzeptierbarkeit verschafft, sieht Habermas die Welche Charakteristika zeichnen abschließend
evolutionäre Innovationsleistung demokratischer Habermas’ Deliberationsbegriff aus? Es handelt sich
Verfassungen (FG, 208–237). erstens um einen rein prozeduralen Begriff. Haber-
Um die egalitäre Verkoppelung von inklusivem mas geht es nicht um die Inhalte oder Ergebnisse von
Diskurs mit egalitären Entscheidungen, von Delibera- Deliberation, sondern allein um deren prozedurale
tion mit Herrschaft soziologisch weiter zu konkreti- Eigenschaften, von deren Wirksamkeit die Legitima-
sieren, (FG, 374), greift Habermas auf Bernhard Pe- tion der Ergebnisse allein abhängt (FG, 368). Zwei-
ters Schleusenmodell zurück (etwa Peters 2001). Es tens ist Habermas Modell der deliberativen Verge-
soll erklären, wie sich die kommunikative Macht, die sellschaftung begrenzt. Es beschränkt sich auf den
in jenen Deliberationen erzeugt wird, faktisch in ad- Vergesellschaftungsmodus des rechtsstaatlich ver-
ministrative Macht übersetzt (s. Kap. IV.20). Das fassten politischen Systems, nicht die Steuerung der
Schleusenmodell zeichnet zwei deliberative Sphären Gesellschaft im Ganzen (FG, 366). Das dritte Merk-
aus, die über das Rechtssystem eng miteinander ver- mal ist schließlich die explizite Verknüpfung zwi-
2. Diskurs 303

schen institutionalisierten Verfahren der Delibera- gen Habermas und die Theorie der internationalen Politik.
tion mit den informellen ›frei flottierenden‹ Kom- Frankfurt a. M. 2007, 321–349.
Cohen, Joshua: »Deliberation and Democratic Legitimacy«.
munikationsströmen autonomer Öffentlichkeiten.
In: Alan Hamlin/Philip Pettit (Hg.): The Good Polity.
Das Modell deliberativer Politik hat Habermas in Normative Analysis of the State. Oxford 1989, 17–34.
Reaktion auf Kritik weiterentwickelt. Hat er in Fakti- Gerhards, Jürgen: »Politische Öffentlichkeit. Ein system-
zität und Geltung noch dem epistemischen Charak- und akteurstheoretischer Bestimmungsversuch«. In:
ter von Deliberation bzw. dem diskursiven Niveau Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie
der Beschlussfassung den zentralen Stellenwert sei- (Sonderheft 34) 46 (1994), 77–105.
Habermas, Jürgen: »Kommunikative Rationalität und
nes Modells beigemessen (FG, 369), so sieht er dies grenzüberschreitende Politik: eine Replik«. In: Peter
später erheblich kritischer. Grundlage dafür war die Niesen/Benjamin Herborth (Hg.): Anarchie der kommu-
Kritik, dass mit der Prämierung des epistemischen nikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die Theorie der
Charakters von Deliberation Rationalität zu leicht internationalen Politik. Frankfurt a. M. 2007, 406–459.
gegen Partizipativität ausgespielt würde. Die häufig Peters, Bernhard: »Deliberative Öffentlichkeit«. In: Lutz
Wingert/Klaus Günther (Hg.): Die Vernunft der Öffent-
zitierte Passage, dass deliberative Verfahren weniger lichkeit und die Öffentlichkeit der Vernunft. Frankfurt
direkt partizipativ, sondern epistemisch in dem a. M. 2001, 655–677.
Sinne zu verstehen seien, dass sie ihre Legitimität Nicole Deitelhoff
eher aus der »allgemeinen Zugänglichkeit eines deli-
berativen Prozesses ziehen, dessen Beschaffenheit
die Erwartung auf rational akzeptable Ergebnisse be-
gründet« (PN, 166), macht diese Problematik augen-
scheinlich. Je radikaler die Prozeduralisierung von
2. Diskurs
Volkssouveränität gedacht wird, desto eher besteht
die Neigung, die tatsächliche Partizipation der Bür- Unter den zentralen Begriffen der Theorie des kom-
ger zu vernachlässigen. Dies kann nur dann über- munikativen Handelns ist der des Diskurses nicht
zeugen, wenn nachgewiesen werden kann, dass in- nur einer der prominentesten, sondern zugleich
nerhalb eines solchen Prozesses die wesentlichen auch der strittigste und von einer Vielzahl von Miss-
Argumente und Perspektiven der Betroffenen tat- verständnissen belastete. Dies gilt vor allem für den
sächlich thematisiert werden. Diese Vermutung wird Ausdruck »herrschaftsfreier Diskurs«. Die gängigen
von einer Reihe von Autoren mit empirischen Argu- Fehlinterpretationen setzen den Diskurs gleich mit
menten bestritten (vgl. Gerhards 1994). Andere kri- Gerede, mit endlosen Debatten wie in einem akade-
tisieren vor allem eine in der Habermas-Rezeption mischen Seminar oder in Gremien unter der »Dikta-
erkennbare Ideologisierung der deliberativen De- tur des Sitzfleisches«, mit Harmonie und Händchen-
mokratie, die dadurch zustande kommt, dass Deli- halten unter Gesprächspartnern, die einander
beration von egalitären Entscheidungen entkoppelt freundlich gesonnen sind und einander nur Gutes
und dann zur Verklärung technokratischer Politik wollen, bereitwillig nach einem Einverständnis su-
verkommt (z. B. Brunkhorst 2007, 334). Habermas chend und ängstlich jeden Konflikt vermeidend.
hat diese Kritik zwischenzeitlich aufgenommen und Verständigungsorientiert solle man sein, also kom-
bezieht die Legitimität des demokratischen Verfah- promissbereit, friedfertig und nicht streitsüchtig.
rens nunmehr deutlicher als zuvor auf zwei Eigen- Daran schließt sich das Missverständnis an, Dis-
schaften: die epistemische Qualität einer deliberativ kurse würden wegen ihrer endlosen Dauer nicht
gesteuerten Beratungs- und Beschlussfassung und – zum konkreten Handeln führen, dem Zeit- und
untrennbar damit verbunden – die gleichmäßige po- Handlungsdruck ausweichen, um jede Entscheidung
litische Beteiligung der Bürger, die gewährleisten immer wieder aufzuschieben. Vor jeder Entschei-
soll, dass sich die Adressaten der Gesetze zugleich als dung müsse immer erst ein Diskurs geführt werden,
deren Autoren verstehen können (NR, 126; Haber- mit dem man aber dann nicht zur Entscheidung
mas 2007, 433–435). komme. Schließlich sei ein Diskurs im Widerspruch
zu seinem inklusiven Anspruch eine exklusive Ver-
Literatur anstaltung, von der alle ausgeschlossen würden, die
nicht gesprächsbereit seien oder verständigungsori-
Brunkhorst, Hauke: »Zwischen transnationaler Klassen-
herrschaft und egalitärer Konstitutionalisierung. Euro- entiert handeln wollten – umgekehrt sehe sich jeder,
pas zweite Chance«. In: Peter Niesen/Benjamin Her- ob er wolle oder nicht, einem ständigen Generalver-
borth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jür- dacht für alles und jedes und einem unablässigen
304 IV. Begriffe

Rechtfertigungsdruck ausgesetzt. Wegen seiner ide- ander in Ruhe oder findet einen modus vivendi. Aber
alisierenden Unterstellung, dass alle Betroffenen es gibt Situationen, in denen man weiter kooperieren
dem Ergebnis rational motiviert zustimmen können will oder muss, und sei es nur um des eigenen Vor-
müssten, seien Diskurse unter den gegebenen histo- teils willen, in denen die Kooperation jedoch an dem
risch-existentiellen Bedingungen nicht oder nur ein- vorhandenen Dissens zu scheitern droht, in denen
geschränkt realisierbar. der Dissens den Beteiligten nicht gleichgültig und
Der Diskurs ist eine spezielle Form der Kommu- für die jeweils eigenen Pläne und Absichten relevant
nikation, mit der die Beteiligten auf spezifische Stö- ist.
rungen ihrer Kommunikation reagieren, eine Refle- Um einen Dissens zu überwinden, können die
xionsform kommunikativen Handelns oder ein re- Beteiligten zwischen verschiedenen Möglichkeiten
flexives Medium (TKH I, 40; McCarthy 1980, 330 ff.; wählen: Einen Kompromiss schließen, die wider-
Schnädelbach 1977, 135 ff.). Fast jede kommunika- strebende Seite überreden, ihr einen Vorteil in Aus-
tive Sequenz lässt zwischen den Teilnehmern Miss- sicht stellen und gewähren, sie weniger oder mehr
verständnisse, Irritationen, Irrtümer, Verzerrungen, manipulieren, täuschen, sanften Druck mit der An-
Fehldeutungen, latente oder manifeste Dissense ent- drohung eines geringfügigen Nachteils auf sie aus-
stehen – ja, vielleicht ist das Nicht-Verstehen sogar üben, mit der Androhung eines massiven Übels er-
eine Bedingung für das Verstehen (Wilhelm von pressen, Gewalt anwenden, foltern. Wer diese Mittel
Humboldt). Aber in den meisten Fällen haben sol- wählt, nimmt den Dissens als ein Hindernis für die
che Störungen keine gravierenden Folgen oder las- eigenen Pläne und Absichten wahr und sucht nach
sen sich schnell beheben. Es gibt Routinen, mit de- Mitteln, den anderen auch gegen seinen Willen zur
ren Hilfe man zurechtkommt, also weiter kommuni- Unterwerfung unter die eigenen Interessen zu bewe-
zieren kann, spontane Ordnungen, die nicht weiter gen. Die Chance, diese Mittel erfolgreich einzuset-
in Frage gestellt werden, weil und sofern sie laufende zen, hängt indes von Art und Umfang der Ressour-
soziale Kooperationen stabilisieren, Anschlüsse er- cen ab, auf die man zurückgreifen kann: Überre-
möglichen oder neue initiieren, in die Lebenswelt dungskunst, Vermögen, Gewaltmittel oder die
eingebettete »Selbstverständlichkeiten« (TKH II, Möglichkeit, den Getäuschten von denjenigen abzu-
189). Einige dieser Routinen sind so erfolgreich, dass schirmen, die die Wahrheit kennen. Kooperieren
sie sich aus der alltäglichen Kommunikation ausdif- wird der andere jedoch nur solange, wie das asym-
ferenzieren und ihre eigene Funktionslogik entwi- metrische Machtverhältnis aufrechterhalten werden
ckeln. So lassen sich langwierige und riskante Ver- kann. Nun gibt es aber eine Art von Dissensen, die
handlungen über den Willen, eine Sache zu einem sich mit solchen Mitteln nicht überwinden lassen:
bestimmten Preis zu veräußern, und die Bereitschaft wenn die Wahrheit einer Behauptung kontrovers ist
des Empfängers zu einer Geldleistung in Höhe des oder die Verbindlichkeit einer Norm. Wahrheit kann
geforderten Preises (Kauf) dadurch routinisieren, man nicht kaufen und die Bereitschaft zur Befolgung
dass die eine Seite eine Ware gegen Geld anbietet eines Gesetzes lässt sich zwar durch Gewaltandro-
und die andere Seite die geforderte Geldzahlung leis- hung einigermaßen sicherstellen – aber wenn sie auf
tet. In einfachen Fällen dieser Art braucht man gar nichts anderem als der Furcht vor Gewalt beruht,
nicht miteinander zu reden – man zeigt auf die Ware wird sie auch nur so lange anhalten, wie die Gewalt
und legt das Geld auf die Theke. Wo diese Art von tatsächlich in jedem Fall einer drohenden oder ge-
spezialisierter und routinisierter Kommunikation schehenen Verletzung erfolgreich zuschlägt. Hier
nicht funktioniert, gibt es eingespielte Reparaturme- zählen nicht (nur) Ressourcen, sondern (auch) Ein-
chanismen, notfalls hilft die Androhung von Sankti- sichten – und Einsichten lassen sich nicht erzwin-
onen, die sich wiederum auf institutionalisierte Ver- gen, befehlen, kaufen oder manipulieren.
fahren der Exekution von Zwang stützen. Also nicht Einsichten (vgl. dazu Rehg 1994) werden aus
immer und überall, sondern nur dort, wo Kommu- überzeugenden und rechtfertigenden Gründen ge-
nikation unter dem Eindruck eines latenten oder wonnen. Wenn diese nicht von selbst unmittelbar
manifesten Dissenses nicht fortgesetzt werden kann, einleuchten, müssen sie ihre überzeugende Kraft
wo ihr Abbruch droht, bedarf es einer Thematisie- und ihre rechtfertigende Wirkung in einem Prozess
rung ihrer Störung. Auch ein Abbruch der Kommu- der kritischen Überprüfung erweisen, also auf dem
nikation ist nicht in jedem Fall problematisch – viel- Weg einer Argumentation. Der rationale Diskurs
leicht hat man sich nichts mehr zu sagen und geht »[…] ist der Name für ein solches Durchlaufen des
seiner Wege, zuckt mit den Schultern und lässt ein- Weges zu Einsichten an der Kette von Gründen«
2. Diskurs 305

(Wingert 2002, 352). Der argumentative Weg zu Ein- und potentiellen Beteiligten orientiert ist, wird ihr
sichten muss zwar von jedem Einzelnen für sich be- Dissens für sie so virulent, dass sie ein Motiv für
schritten werden, er ist deswegen aber kein Privat- seine diskursive Überwindung haben, anstatt ihn
weg, sondern ein öffentlicher. Eine theoretische oder bloß als eine Tatsache zu beobachten, auf die man
praktische Wahrheit verdient ihren Namen nicht, sich strategisch einstellen muss. Erst die Suche nach
wenn ihre rechtfertigenden Gründe nicht auch von einem durch jeweils individuelle Einsicht getrage-
jedem kritisch überprüft werden können, wenn sie nen Einverständnis veranlasst sie dazu, einander als
nicht von jedem, der den argumentativen Weg Personen anzuerkennen, die aus eigener Überzeu-
durchläuft, eingesehen werden kann, und wenn je- gung sprechen und deshalb für ihre Äußerungen
der, den der Wahrheitsanspruch einer Behauptung einstehen. Die wechselseitige Achtung der Autono-
oder der Verbindlichkeitsanspruch einer Norm nicht mie im Sprechen und Handeln generiert systema-
überzeugt, Zweifel äußern, Gründe verlangen und tisch Dissense über alles, was dieser Autonomie
Gründe geben kann. Deshalb kann um der Wahrheit nicht genügt, mobilisiert zugleich aber auch Gründe
selbst Willen niemand von diesem Prozess ausge- und Gegen-Gründe – weil Argumentation das ein-
schlossen werden. Diskurse gehen also nicht nur aus zige Medium ist, mit dem sich Überzeugungen so re-
Dissensen der Alltagskommunikation hervor, son- vidieren und korrigieren lassen, dass die Autonomie
dern sie ermöglichen auch erst das Explizit-Machen der Beteiligten dabei nicht verletzt wird. Soweit die
von Dissensen und erhöhen das Dissens-Risiko so- Beteiligten ihre Überzeugungen durch Einsicht in
gar noch, indem sie jedem Teilnehmer einen Raum bessere Gründe ändern, sind Diskurse Lernprozesse.
für Ja-/Nein-Stellungnahmen gegenüber einer be- Ein Konsens ist daher stets ein im Medium der
haupteten Wahrheit oder einem Verbindlichkeitsan- Gründe überwundener Dissens, und zwar auf dem
spruch eröffnen. Wer widerspricht, erscheint nun Wege wechselseitiger und öffentlicher kritischer
nicht bloß als ein Hindernis für die Verwirklichung Prüfung der einander widerstreitenden Äußerungen
der je eigenen Pläne und Absichten, sondern als eine Die Art des Diskurses und die Weise seines Ver-
Person, die Rechtfertigungen geben und verlangen laufs richten sich nach der Art des bestrittenen An-
kann, die ein »Recht auf Rechtfertigung« hat und der spruchs, mit dem ein Sprecher/eine Sprecherin ge-
der andere Rechtfertigung schuldet (Forst 2007). genüber dem/der bestreitenden Hörer/Hörerin auf
Wenn es so etwas wie eine Tugend der Diskursteil- ein rational motiviertes Einverständnis zielt, sowie
nehmer gäbe, dann bestünde sie nicht in Nachgie- nach der Art der Gründe und der Argumentations-
bigkeit, Kompromissbereitschaft oder dem Streben regeln, mit denen der Anspruch erhoben, bestritten,
nach Harmonie, sondern in der Leidenschaft für den revidiert oder erwiesen werden kann. Neben dem
Dissens, in der hartnäckigen Weigerung, sich auf al- auf Wahrheit gerichteten theoretischen und dem auf
les einzulassen, was der kritischen Überprüfung praktische Wahrheit gerichteten moralischen Dis-
nicht standhält oder entzogen wird. Umgekehrt ver- kurs treten ethische und politische Diskurse, in de-
langt der Diskurs von jedem Teilnehmer und jeder nen es um die Angemessenheit eines individuellen
Teilnehmerin nicht mehr aber auch nicht weniger, oder kollektiven Selbstverständnisses geht (ED, 100–
als jedem anderen und jeder anderen das gleiche 118). Praktische Diskurse müssen zudem fortlau-
Recht zur freien Stellungnahme einzuräumen, ohne fend zwischen Begründungs- und Anwendungsdis-
dass derjenige bzw. diejenige befürchten müsste, kursen wechseln, weil man bei der Begründung ei-
deswegen missachtet, gemieden, oder anderweitig ner Norm nicht alle Fälle ihrer Anwendung
sanktioniert zu werden. Das ist mit jenem kontrafak- vorhersehen kann (Günther 1988).
tisch unterstellten Moment der Herrschaftsfreiheit Wegen seiner dynamischen, auf die systematische
gemeint, mit dem die Beteiligten über ein Kriterium Generierung von Dissensrisiken gerichteten Natur
verfügen, um bessere von schlechteren öffentlichen ist der Diskurs »keine Institution, er ist Gegeninsti-
Wegen der kritischen Überprüfung zu unterschei- tution schlechthin« (Habermas 1971, 201). In ihm
den. Auf die Ermöglichung einer solchen inklusiven kommt der »anarchische Kern« des Potentials »ent-
und selbstkritischen Prozedur beziehen sich die Dis- fesselter kommunikativer Freiheiten« (FG, 10) voll-
kursregeln (Alexy 1991, 233 ff.; 1978). ständig zur Geltung. Soziale Wirksamkeit können
Die Leidenschaft für den Dissens entzündet sich Diskurse in größerem Umfang erst dann entfalten,
an der kooperativen Suche nach Wahrheit. Nur in wenn sie institutionalisiert werden. Freilich weben
dem Maße, wie kommunikatives Handeln auch an Diskurse in das Geflecht von Institutionen, welche
dem Ziel der Verständigung zwischen den aktuellen Entscheidungen unter Bedingungen knapper Zeit
306 IV. Begriffe

und Handlungszwängen ermöglichen, Organisatio- 3. Diskursethik


nen errichten, Kompetenzen und Kompetenz-Kom-
petenzen generieren sowie externe Motive für die
Befolgung von Normen bereitstellen, jenen Faden Der Begriff ›Diskursethik‹ steht für die von Jürgen
der inklusiven kommunikativen Selbstbezüglichkeit Habermas in Kooperation mit Karl-Otto Apel (1973,
und Selbstkritik ein. Diskurse sind daher nur in der 1988) entwickelte Konzeption einer Theorie der Mo-
Weise einer rechtsförmig organisierten demokrati- ral in der kantischen Tradition. Ihr wichtigstes Merk-
schen Rechtserzeugung realisierbar (FG, 151 ff.; Lie- mal ist die Ersetzung der reflexiven Prüfung morali-
ber 2007). Umgekehrt können die gesellschaftlichen scher Maximen nach der Vorgabe des Kategorischen
Verhältnisse Diskurse mehr oder weniger gut er- Imperativs durch eine argumentative Einlösung der
möglichen; sie sind auf entgegenkommende Lebens- Geltungsansprüche moralischer Normen in einem
welten angewiesen, in denen neben den rechtsförmi- praktischen Diskurs. Methodisch wird aus der tran-
gen Bedingungen auch die sozialen, kulturellen und szendentalen Selbstreflexion der praktischen Ver-
individuellen Bedingungen für die Entfesselung des nunft im Sinne Kants eine pragmatische Rekon-
anarchischen Potentials kommunikativer Freiheiten struktion der normativen Implikationen der kom-
gegeben sind. Dazu zählen unter anderem die öf- munikativen Rationalität (KHDV). Diese Theorie
fentliche Sichtbarkeit (Honneth 2003) des/der Ein- der Moral steht in vielfältigen Beziehungen zu Ha-
zelnen als in seiner/ihrer Autonomie anerkannte bermas’ Philosophie der Sprache (bzw. der Theorie
Person sowie performative Macht, aus der jeder/jede unterschiedlicher Geltungsansprüche), seiner Theo-
Einzelne den Mut zur öffentlichen und freien Stel- rie der Entwicklung des »postkonventionellen« mo-
lungnahme schöpft (Günther 1998). ralischen Bewusstseins (in der Nachfolge Lawrence
Kohlbergs), seiner Erkenntnistheorie (bezüglich der
Literatur Wahrheitsfähigkeit praktischer Fragen) sowie seiner
Philosophie des Rechts und der Demokratie (in de-
Alexy, Robert: Theorie der juristischen Argumentation nen praktische Diskurse eine zentrale Rolle spielen).
[1978]. Frankfurt a. M.1991.
–: »Eine Theorie des praktischen Diskurses«. In: Willi Oel-
Die wichtigsten Texte, in denen das diskursethische
müller (Hg.): Normenbegründung und Normendurchset- Programm entfaltet wird, sind »Diskursethik – Noti-
zung. Paderborn 1978, 22–58. zen zu einem Begründungsprogramm« (DE, in:
Forst, Rainer: Das Recht auf Rechtfertigung. Frankfurt a. M. MKH, 53–126) und die Erläuterungen zur Diskurs-
2007. ethik (ED).
Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit. Frankfurt
Habermas hebt in seiner Charakterisierung der
a. M. 1988.
–: »Die Sprache der Verstummten: Gewalt und performa- Diskursethik deren deontologischen, kognitivisti-
tive Entmachtung«. In: Klaus Lüderssen (Hg.): Aufge- schen, formalistischen und universalistischen Cha-
klärte Kriminalpolitik oder Kampf gegen das Böse? Bd. 2. rakter hervor (ED, 11 f.). Ersteres bedeutet, dass die
Baden-Baden 1998, 120–146. Theorie einem engen Moralbegriff folgt, der sich auf
Habermas, Jürgen: »Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
Normen des richtigen bzw. gerechten Handelns be-
technologie? Eine Auseinandersetzung mit Niklas Luh-
mann«. In: Ders./Niklas Luhmann (Hg.): Theorie der schränkt und sich nicht gleichermaßen auf Fragen
Gesellschaft oder Sozialtechnologie? Frankfurt a. M. 1971, des »guten Lebens« bezieht. Dazu dient Habermas
142–290. die terminologische Unterscheidung zwischen »Mo-
Honneth, Axel: »Unsichtbarkeit«. In: Ders.: Unsichtbarkeit. ral« und »Ethik«, oder genauer: zwischen morali-
Frankfurt a. M. 2003, 10–27. schen Normen und ethischen Werten (dazu Forst
Lieber, Tobias: Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit.
Tübingen 2007. 2007, Kap. 3). Erklärt werden soll die strikte, katego-
McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse. rische Geltung moralischer Normen, die wechselsei-
Frankfurt a. M. 1980. tig und allgemein bindend und einforderbar sind,
Rehg, William: Insight and Solidarity. Berkeley/Los Angeles während ethische Werte einen anderen Anspruch
1994. auf Geltung erheben, der stärker in Bezug auf eine
Schnädelbach, Herbert: Reflexion und Diskurs. Frankfurt
a. M. 1977. jeweilige Lebensform und auch individuelle Lebens-
Wingert, Lutz: »Jürgen Habermas Faktizität und Geltung – geschichten einzulösen ist. Der Universalisierungs-
Der Prozeß des Rechts in den Satzungen der Macht«. In: grundsatz »U«, der an die Stelle des Kategorischen
Reinhard Brandt/Thomas Sturm (Hg.): Klassische Werke Imperativs rückt, stellt eine Argumentationsregel für
der Philosophie. Leipzig 2002, 345–378. die Begründung moralischer Geltungsansprüche dar
Klaus Günther
und nennt als Bedingung für gültige Normen, dass
4. Egalität 307

»die Folgen und Nebenwirkungen, die sich jeweils salistischer Natur ist und sich entsprechend einlösen
aus ihrer allgemeinen Befolgung für die Befriedigung lassen muss. Das bedeutet auf der Ebene der Rekon-
der Interessen eines jeden Einzelnen (voraussicht- struktion des Diskursprinzips, dass dieses einen kul-
lich) ergeben, von allen Betroffenen akzeptiert (und turübergreifenden Status beansprucht und entspre-
den Auswirkungen der bekannten alternativen Re- chend eine allgemeine Struktur der Moral auf den
gelungsmöglichkeiten vorgezogen) werden können« Begriff bringt. Und für die Normen, die in prakti-
(DE, 75 f., Hervorh. i.O.). Dieser Grundsatz legt, so schen Diskursen dieser Art gerechtfertigt werden
Habermas, »einen Schnitt« zwischen »das Gute« und sollen, heißt dies, dass sie in substanzieller Form
»das Gerechte« (DE, 113), wobei Gerechtigkeit im stets nur einen Vorgriff auf allgemeine Akzeptabili-
Sinne moralischer Richtigkeit verstanden werden tät darstellen können und sich jederzeit dem diskur-
muss. siven Test aussetzen müssen. So sehr die Diskurs-
Moralische Normen erheben, so besagt das Cha- ethik somit einerseits die Notwendigkeit der Durch-
rakteristikum des Kognitivismus, einen »wahrheits- führung realer praktischer Diskurse betont, so sehr
analogen Geltungsanspruch« (ED, 11). Dies ist die zieht damit doch eine Idealität in das Verfahren ein,
Bedingung dafür, dass sie in praktischen Diskursen das ein entsprechendes Maß an moralischer Sensibi-
mit der (idealen) Voraussetzung einer »richtigen« lität und Vorstellungskraft seitens der moralisch Re-
Begründung diskutiert werden können. Wesentli- flektierenden voraussetzt.
ches Kriterium dabei ist die Verallgemeinerungs-
fähigkeit bzw. »ideal gerechtfertigte Akzeptabilität« Literatur
(WR, 285). Dass diese in Diskursen, unter anderem Apel, Karl-Otto: »Das Apriori der Kommunikationsge-
durch Bedürfnis- und Interessensreinterpretationen meinschaft und die Grundlagen der Ethik«. In: Ders.:
und die Reflexion auf die Ansprüche anderer, erst Transformation der Philosophie. Bd 2. Frankfurt a. M.
hergestellt wird, unterstreicht deren konstruktivisti- 1973, 358–436.
schen Charakter, so dass der praktische Diskurs die –: Diskurs und Verantwortung. Frankfurt a. M. 1988.
Forst, Rainer: Das Recht auf Rechtfertigung. Frankfurt a. M.
»Erzeugung einer Welt von Normen« bedeutet, die
2007.
»Anerkennung verdienen« (WR, 309). Habermas, Jürgen: »Diskursethik – Notizen zu einem Be-
Die Diskursethik ist insofern eine formalistische gründungsprogramm«. In: Ders.: Moralbewusstsein und
oder prozeduralistische Ethik, als sie sich darauf be- kommunikatives Handeln. Frankfurt a. M. 1983, 53–126.
schränkt, ein Verfahren der moralischen Argumen- Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog. Frankfurt a. M. 1986.
Rainer Forst
tation auszuzeichnen, das den einzigen Grundsatz
»D« enthält, wonach »nur diejenigen Normen Gel-
tung beanspruchen dürfen, die die Zustimmung al-
ler Betroffenen als Teilnehmer eines praktischen
Diskurses finden könnten« (ED, 12). Im Unterschied 4. Egalität
zu Kants Auffassung des Sittengesetzes und auch
zu Apels »transzendentalpragmatischem« Ansatz
schreibt Habermas diesem Prinzip selbst keine mo- Auch wenn Habermas sich nur selten explizit zu Fra-
ralische oder »letztbegründete« Geltungskraft zu, gen der Egalität geäußert hat, zieht sich dieses Ideal
sondern nur die des »›Muß‹ einer schwachen tran- ganz offensichtlich durch große Teile seines Den-
szendentalen Nötigung«, die nicht dem »präskripti- kens hindurch. Dies dürfte freilich kaum überra-
ven ›Muß‹ einer Handlungsregel« (ebd., 191; dazu schen, da die Vorstellung einer ›Assoziation, worin
Wellmer 1986) entspricht. Das diskursethische Ver- die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für
fahren ist eines der Normengenerierung, und so- die freie Entwicklung aller ist‹, ein Ideal ist, das für
wohl die Motivation zur Beachtung dieses Verfah- die Tradition des westlichen Marxismus – und damit
rens wie auch die Befolgung solcher Normen bedarf auch für Habermas als eine zentrale Figur dieser Tra-
»entgegenkommender Lebensformen« (ebd., 25), in dition – von großer Bedeutung ist. Es ist jedoch
denen sich postkonventionelle Moralvorstellungen wichtig, sich Klarheit darüber zu verschaffen, in wel-
ausgebildet haben, so dass die Einsicht in das mora- cher Weise Habermas aus den Fehlern des marxisti-
lisch Gebotene von Vorstellungen des Guten gestützt schen Denkens und anderer Theorien der Egalität
wird (WR, 316 f.). gelernt hat. Für seine Konzeption der ›radikalen De-
Der diskursethische Ansatz hält daran fest, dass mokratie‹ ist die Idee der egalitären öffentlichen und
der Geltungsanspruch moralischer Normen univer- privaten Autonomie der Bürger von zentraler Be-
308 IV. Begriffe

deutung; diese Konzeption dürfte die Debatte über (so in »Moralbewußtsein und kommunikatives Han-
das richtige ›Maß‹ der Gleichheit (Sozialleistungen, deln«). Dieses Prinzip fängt laut Habermas die mo-
Ressourcen, Begabungen [capabilities] etc.) nicht be- ralische Intuition einer ›postkonventionellen Mora-
enden, aber sie stellt einen umfassenden und anre- lität‹, die jedem Individuum gleiche Bedeutung zu-
genden gedanklichen Rahmen bereit, in dem diese spricht und gleiche Achtung zukommen lässt, am
Auseinandersetzung fortgesetzt werden könnte (vgl. besten ein und ist daher den gängigen utilitaristi-
Baynes 2008). schen und deontologischen Alternativen vorzuzie-
Das Ideal der Gleichheit ist in Habermas’ Werk hen; Habermas hat dieses Prinzip kürzlich als eine
auf drei verschiedenen, wenn auch miteinander ver- Norm des »egalitären Universalismus« bezeichnet
bundenen Ebenen wirksam. Erstens steht – im Kon- (»Kulturelle Gleichbehandlung und die Grenzen des
text seiner Theorie des kommunikativen Handelns postmodernen Liberalismus«, NR, 279 ff.). Haber-
und auf deren fundamentalstem Niveau – eine mas stellt zugleich die Behauptung auf, dass dieses
Konzeption der Gleichheit im Zentrum seiner Kon- Prinzip logisch aus den pragmatischen Präsuppositi-
zeption kommunikativer Vernunft. Mit ihren Äuße- onen des Sprechens – d. h. aus dem gerade erwähn-
rungen machen die Sprecher verschiedene Geltungs- ten Begriff ›rationaler Gleichheit‹ – hergeleitet wer-
ansprüche – auf Wahrheit, Richtigkeit und Wahrhaf- den kann, wenn diese mit einer verhältnismäßig we-
tigkeit – für ihre Äußerungen geltend, und es steht nig umstrittenen Idee der Normenbegründung
dem Hörer frei, diese mit Gründen anzuerkennen kombiniert werden. Wenn diese Ableitung gelingen
oder zurückzuweisen. Zumindest im Falle ›institu- sollte, wäre damit eine rationale Begründung eines
tionell ungebundener Sprechakte‹ (d. h. solcher anspruchsvolleren Moralprinzips gegeben. Andere
Sprechakte, deren illokutionäre Kraft oder deren haben hier jedoch – ähnlich wie in Hegels Kantkritik
Sinn nicht von speziellen institutionellen Kontexten – eingewandt, dass der Egalitarismus dieses Prinzips
wie etwa einem Gerichtsverfahren abhängt) steht es recht formal und abstrakt bleibe und nur im Kontext
allen Hörern gleichermaßen frei, die Geltungsan- spezifischer gesellschaftlicher Institutionen einen
sprüche, die hier erhoben werden, in Frage zu stel- genauer bestimmten Gehalt annehmen könne. Ha-
len. Dieses Ideal der fundamentalen Gleichheit von bermas bringt diesem Einwand Verständnis entge-
Sprecher und Hörer beim Austausch von Argumen- gen und weist zugleich darauf hin, dass Moraldis-
ten über ihre Handlungsinterpretationen steht im kurse im Allgemeinen vor dem Hintergrund speziel-
Zentrum seines Modells kommunikativen Handelns lerer ethischer und politischer Interpretationen
und somit auch seiner Vorstellung der Hand- geführt werden (so in Habermas 1986). Dies leitet
lungskoordination mittels eines Verständigungspro- zur dritten Konzeption der Gleichheit über.
zesses. Der fragile und fallible Konsensus, der durch Schließlich lässt sich auch auf der politischen
den Austausch von Argumenten – durch die Aner- Ebene ein Gleichheitsbegriff finden, der mit Haber-
kennung und/oder die Zurückweisung der im Spre- mas’ Überlegungen zur ›Gleichursprünglichkeit‹ von
chen erhobenen Geltungsansprüche – erreicht wird, öffentlicher und privater Autonomie der Bürger in
ermöglicht eine rationale Handlungskoordination, Zusammenhang steht. Ein angemessenes Verständ-
die ihrerseits von dieser grundlegenden Gleichwer- nis der Freiheit und Gleichheit der Bürger – von Ha-
tigkeit von Sprecher und Hörer abhängig ist. Man bermas mit ›radikaler Demokratie‹ gleichgesetzt –
könnte diese erste Konzeption der Gleichheit ›ratio- setzt nicht nur voraus, dass den Bürgern (wie bei
nale Gleichheit‹ nennen, da diese Gleichheit von der Rawls) ein egalitäres System grundlegender Freihei-
Vernunft selbst gefordert wird und für diese konsti- ten garantiert wird. Es setzt zugleich voraus, dass alle
tutiv ist. Bürger gleichermaßen eine wirkliche Gelegenheit
Zweitens hat Habermas in einer Aufsatzsamm- erhalten, ihre ›öffentliche Autonomie‹ auszuüben,
lung über den Begriff der Diskursethik auch die und das heißt: sich an jenen Prozessen beteiligen zu
These aufgestellt, dass ein fundamentaler Begriff können, die zur Ausarbeitung der für sie geltenden
›moralischer Gleichheit‹ am besten durch ein Uni- Gesetze führen. Diese These von der Gleich-
versalisierungsprinzip erfasst wird. Das ›Prinzip U‹ ursprünglichkeit öffentlicher und privater Autono-
legt fest, dass eine Norm dann (und nur dann) mora- mie legt eine weit robustere Konzeption politischer
lisch gerechtfertigt ist, wenn die voraussichtlichen Gleichheit nahe, als sie gemeinhin im liberalen Den-
Konsequenzen, die sich aus der allgemeinen Befol- ken üblich ist, obgleich sie dem Rawls’schen Begriff
gung dieser Norm ergeben würden, von allen Be- der ›Gleichheit der (politischen) Freiheit‹ wohl recht
troffenen gleichermaßen akzeptiert werden könnten nahe kommt. Es ist dazu nicht erforderlich, dass die
5. Erkenntnisinteresse 309

Gesetze und die politischen Maßnahmen eines poli- 5. Erkenntnisinteresse


tischen Regimes gleiche Auswirkungen auf die Le-
benschancen jedes einzelnen Bürgers haben, aber es
ist nötig, dass die Institutionen und Prozeduren der Der Begriff des ›Erkenntnisinteresses‹ steht im Mit-
Gesetzgebung und der politischen Steuerung in dem telpunkt von Erkenntnis und Interesse (1968). Dieser
Sinne ›rational‹ sind, dass sie auf die vernünftige Zu- Band stellt den Höhepunkt von Habermas’ frühen
stimmung aller Betroffenen zählen könnten. Und es Bemühungen um eine erkenntniskritische Begrün-
ist erforderlich, dass allen Bürgern gleichermaßen dung der kritischen Gesellschaftstheorie dar; diesen
reale Gelegenheiten zu einer wirklichen Partizipa- Ansatz gab er auf, als er in den 1970er Jahren die lin-
tion in diesen Institutionen gegeben sind. Habermas guistisch-pragmatische Wende vollzog (s. Kap. III.4).
wies 2005 darauf hin, dass dieses Verständnis politi- Unter dem Einfluss von Karl-Otto Apel entwickelte
scher Gleichheit eine Dialektik von ›Faktizität und Habermas den Begriff des ›Erkenntnisinteresses‹
Geltung‹ zur Folge hat, die neue Formen gesell- und hoffte damit die Reflexionsphilosophie neu zu
schaftlicher Lernprozesse und umfassendere Inter- begründen, die im Deutschen Idealismus ihren Gip-
pretationen des Sinns von ›bürgerlicher Gleichheit‹ fel erreicht hatte. Habermas wollte insbesondere die
ermöglicht. In gewissen Kontexten können – als ein kritisch-emanzipatorischen Ziele der Reflexion in
Mittel, um die Freiheit und Gleichheit aller Bürger in einer Weise wiederbeleben, die sich gegen die sozio-
effektiver Weise zu garantieren – auch begrenzte logische und geschichtliche Forschung nicht ab-
Sonderrechte für bestimmte Gruppen erlaubt sein schottete. Zu diesem Zwecke suchte er nach einem
(vgl. den bereits erwähnten Aufsatz »Kulturelle systematischen Rahmen, der hinlänglich transzen-
Gleichbehandlung und die Grenzen des postmoder- dental war, um als Grundlage der Kritik zu dienen,
nen Liberalismus«, NR, 279 ff.). der sich aber nicht auf die Leistungen des transzen-
Ebenso wie der moralische Gleichheitsbegriff be- dentalen Ichs oder die Geschichte des absoluten
wahrt auch dieser politische Gleichheitsbegriff eine Geistes stützte, um die Kritik nicht von den Anre-
entfernte, doch immer noch bedeutsame Beziehung gungen der methodischen Wissenschaften abzu-
auf die ›rationale Gleichheit‹ der Akteure, im Blick schneiden. Die Lösung bestand in einer kritischen
auf die vorgebrachten Sprechakte mit Ja oder Nein Reflexion auf die Bedingungen möglichen Wissens
zu antworten. Eine ›rationale‹ politische Ordnung in den empirischen und den Geisteswissenschaften.
wird eine angemessene Balance hinsichtlich der öf- Diese beiden Formen wissenschaftlicher Forschung
fentlichen und privaten Autonomie der Bürger errei- stützen sich, so Habermas, auf zwei tiefverwurzelte
chen müssen – ein politisches Ideal, das seinerseits Interessen des Menschen, die prädeterminieren, was
im Zusammenhang der Ideale moralischer Gleich- in ihren jeweiligen Forschungsbereichen als Er-
heit der Individuen und der rationalen Gleichheit kenntnis gilt. Das reflexive Verständnis dieser bei-
gesellschaftlicher Akteure überprüft werden muss. den Interessen ist seinerseits von einem emanzipato-
rischen Erkenntnisinteresse abhängig, das Haber-
Literatur mas einerseits mit der Philosophie, andererseits mit
der Psychoanalyse und der Ideologiekritik in Zu-
Baynes, Kenneth: »Democratic Equality and Respect«. In:
Theoria 55. Jg., 117 (2008), 1–25. sammenhang brachte.
Habermas, Jürgen: »Moralität und Sittlichkeit. Treffen He- Betrachten wir zunächst die empirischen Wissen-
gels Einwände gegen Kant auch auf die Diskursethik schaften, die Habermas als ›empirisch-analytische‹
zu?« In: Wolfgang Kuhlmann (Hg.): Moralität und Sitt- bezeichnet: die Naturwissenschaften und gewisse
lichkeit: Das Problem Hegels und die Diskursethik. Frank-
Formen der sozialwissenschaftlichen Forschung, die
furt a. M. 1986, 16–37.
Kenneth Baynes (Übers. Nikolaus Gramm) an die Überprüfung von Hypothesen gebunden sind.
Für dieses Verständnis der Methodologie der empi-
rischen Wissenschaften berief sich Habermas auf
C. S. Peirce und auf Karl Popper: Wissenschaftliche
Aussagen werden nur dann als verlässliches Wissen
anerkannt, wenn sie aus kontrollierten Experimen-
talprozessen hervorgehen, bei denen allgemeine (ge-
setzesförmige) Hypothesen an der empirischen Be-
obachtung überprüft werden. Somit ist der epistemi-
sche Zugang zur objektiven Wirklichkeit von der
310 IV. Begriffe

effektiven technischen Kontrolle externer Ereignisse her, so dass jeder der beiden Aspekte das Verständ-
(kontrollierte Eingriffe im Labor, Feldstudien usw.) nis des jeweils anderen Aspekts korrigieren kann, bis
abhängig, und das erworbene Wissen korreliert mit Teile und Ganzes übereinstimmen. Der Ausgangs-
der möglichen Kontrolle von Gegenständen des je- punkt ist der Hintergrund bzw. der ›Horizont‹ von
weiligen Gebiets – wobei ›Kontrolle‹ sich hier nicht Vorverständnissen, den der jeweilige Interpretie-
nur auf die technischen Anwendungsmöglichkeiten rende einbringt. Der hermeneutische Prozess entfal-
bezieht, sondern viel allgemeiner auf die verlässliche tet sich so als eine Art Dialog zwischen Interpretie-
Vorhersage zukünftiger Ereignisse (und vermutlich rendem und Interpretandum, der – mit Gadamer zu
auch auf die zutreffende Herleitung vergangener Ge- sprechen – zu einer ›Horizontverschmelzung‹ führt.
schehnisse). So trägt die Forschungsarbeit dieser Aus dem eben Gesagten folgt, dass die Geistes-
Wissenschaften methodische Disziplin in eine viel wissenschaften dieselben Formen hermeneutischer
grundlegendere Fähigkeit des Menschen hinein: in Kompetenzen in Anspruch nehmen, auf die sich so-
unsere kollektive Fähigkeit nämlich, erfolgreich in ziale Akteure bei ihrer alltäglichen Interaktion stüt-
die Natur einzugreifen, – in die ›gesellschaftliche Ar- zen. Im Anschluss an Dilthey erkennt Habermas den
beit‹, um es kurz zu sagen. Da die Reproduktion der Ursprung solcher Kompetenzen in der normalen
Gattung von unserer Fähigkeit zu gesellschaftlicher Sprache. Als eine Ressource gegenseitigen Verste-
Arbeit abhängig ist, verknüpft Habermas die Arbeit hens umfasst die Sprachkompetenz nicht allein die
mit einem grundlegenden Interesse des Menschen Beherrschung von Lexikon und Syntax, sondern
an der technischen Naturbeherrschung. Insofern es auch die Fähigkeit, sprachliche Ausdrücke mit
die menschliche Aktivität steuert, ist dieses Interesse Handlungen und nicht-verbalen Begleitumständen
in einem weiten Sinne ein praktisches Interesse; in- des Sprechens in einer dem Kontext angemessenen
sofern es die Kenntnis natürlicher Vorgänge und die Weise zu integrieren. Als eine dialogische Fähigkeit,
Fähigkeit einschließt, den Ablauf der Ereignisse und die eigene Sprache und das eigene Handeln ebenso
die Konsequenzen kausaler Eingriffe vorherzusagen, wie die Sprache und das Handeln der anderen zu
ist dieses Interesse zugleich ein kognitives. Genauer verstehen und damit eine stabile soziale Koopera-
gesagt, haben wir es hier mit einem erkenntnisleiten- tion zu ermöglichen, sind diese kommunikativen
den Interesse zu tun, das die Bedingungen für eine Kompetenzen sowohl für die individuelle Sozialisa-
spezielle Zugangsweise zu möglichen Erkenntnis- tion als auch für die fortlaufende soziale Reproduk-
gegenständen festlegt. Um es von dem den Geistes- tion von grundlegender Bedeutung. So basieren die
wissenschaften zugrunde liegenden Interesse zu un- Geisteswissenschaften in einer den empirischen
terscheiden (das in einem engeren, an Aristoteles’ Wissenschaften analogen Weise ebenfalls auf einem
praxis erinnernden Sinne ›praktisch‹ ist), nannte Ha- tiefverwurzelten menschlichen Interesse – nämlich
bermas dieses der Arbeit zugrunde liegende Inter- dem ›praktischen Erkenntnisinteresse‹, zwischen-
esse das ›technische Erkenntnisinteresse‹. menschliche Irritationen zu überwinden und gegen-
Habermas’ Verständnis der Geisteswissenschaf- seitiges Verständnis zu erreichen, um stabile inter-
ten stützte sich hauptsächlich auf Dilthey und Ga- subjektive Beziehungen aufrechtzuerhalten. Dies ein
damer. Geschichtsschreibung, Kulturanthropologie, erkenntnisleitendes Interesse zu nennen, bedeutet,
Religionswissenschaften, vergleichende Literatur- dass die Realität als ein Gegenstand möglicher Er-
wissenschaften, die Ethnographie und andere inter- kenntnis in den Geisteswissenschaften nur insofern
pretierende Formen der Soziologie sind wesensmä- in Erscheinung treten kann, als sich Wissenschaftler
ßig hermeneutisch und auf die Interpretation von an hermeneutischen Prozessen jener Art beteiligen,
Diskursen und menschlichen Lebensformen ausge- die für jegliche allgemeinverständliche Intersubjek-
richtet. Ihre Gegenstandsbereiche sind immer schon tivität überhaupt notwendig sind und für die die
symbolisch vermittelt, von Sinn durchdrungen und Menschen sich interessieren müssen, wenn sie sich
mit der normalen Sprache verwoben. Um einen be- als soziale Akteure verstehen wollen.
stimmten Text (oder eine bestimmte Biographie, Bevor wir fortfahren, sollten wir einige potentielle
Kultur, Tradition usf.) zu verstehen, muss man sich Missverständnisse ausräumen, die sich aus dem Be-
daher in die Lebensform oder die individuelle Le- griff des ›erkenntnisleitenden Interesses‹ ergeben
bensgeschichte hineinversetzen, in der dieser Text könnten. Erstens bezieht sich dieser Begriff weder
verortet ist; man bewegt sich dann zwischen seinem auf die individuellen Motive der Wissenschaftler
anfänglichen Sinnverständnis des Textes als einer noch auf apriorische Strukturen eines transzenden-
Ganzheit und der Interpretation seiner Teile hin und talen Ichs, sondern auf die transzendentalen Voraus-
5. Erkenntnisinteresse 311

setzungen der Entwicklung der menschlichen Gat- das sogenannte ›emanzipatorische Erkenntnisinter-
tung. Genauer gesagt sind die Erkenntnisinteressen esse‹ – voraus. Dieses Interesse ist, wie Habermas be-
»Grundorientierungen«, die in der gesellschaftli- tont, ein Interesse, das der Vernunft selbst inne-
chen Arbeit und in der Interaktion als den beiden wohnt, denn es ist das Interesse, das die Vernunft
Dimensionen der Reproduktion der menschlichen daran setzt, sich von Irrtümern zu befreien und sich
Gattung vorausgesetzt werden; diese Reproduktion als eine gleichermaßen kognitive wie praktische sol-
ist nicht allein eine biologische, sondern sie vollzieht che zu verstehen.
sich über einen soziokulturellen Lernprozess, der In einem – bald als problematisch erkannten –
von Habermas als »Bildungsprozess« oder als Schachzug (s. Kap. III.4) wandte Habermas den Aus-
»Selbstkonstituierung« bezeichnet wird (EI, 242, druck ›Selbstreflexion‹ nicht allein auf die philoso-
240). Diese Grundorientierungen sind in die gesell- phische Analyse invarianter Strukturen menschli-
schaftlich-materiellen Praktiken eingelassen, die die cher Erkenntnis, sondern auch auf die Freud’sche
Forschung in den Natur- und Geisteswissenschaften Psychoanalyse und die Ideologiekritik an, die sich
formal strukturieren; diese Wissenschaften sind zu mit Individuen bzw. mit einzelnen Gesellschaften
einem wesentlichen Element der soziokulturellen beschäftigen. In der Psychoanalyse fand Habermas
Entwicklung geworden. Zweitens beabsichtigt Ha- das einzige klare Beispiel einer Erkenntnismethodo-
bermas mit der Verknüpfung von Erkenntnis und logie, die grundlegend auf Selbstreflexion beruht: In
›Interessen‹ keine »naturalistische Zurückführung der psychoanalytischen Situation arbeiten Analyti-
von transzendentallogischen Bestimmungen auf em- ker und Patient gemeinsam daran, eine Einsicht zu
pirische« (EI, 241). Da Erkenntnisinteressen die For- gewinnen, mit deren Hilfe der Patient sich jene As-
men strukturieren, nach denen wir Gegenstände pekte seiner selbst und seiner Lebensgeschichte wie-
empirischer Forschung erfassen, muss ein angemes- deraneignen kann, die als ein fremdes ›Anderes‹ ›ab-
senes Verständnis dieser Interessen stets auch das gespalten‹ wurden, dessen Kommunikationsformen
menschliche Subjekt einbegreifen, und das heißt: von einer undurchsichtigen Privatsemantik gezeich-
dieses Verständnis muss Selbstreflexion einschlie- net sind und pathologische Verhaltensformen her-
ßen. Habermas bezeichnet seine Position nun als ei- vorbringen. Eine erfolgreiche Analyse ist nur dann
nen ›weichen Naturalismus‹: Auch wenn man eine möglich, wenn der Patient an der Selbsterkenntnis
Kontinuität zwischen der natürlichen Evolution der interessiert ist und eine ›Leidenschaft für die Kritik‹
Gattung und der kulturellen Entwicklung postulie- mitbringt, mit der er pathologische Selbstmissver-
ren kann, vollzieht sich letztere in einem sprachlich- ständnisse durchschaut und sich von diesen frei
reflexiven Medium, das ihre Reduktion auf rein na- macht – kurz gesagt: wenn er von einem ›emanzipa-
turale, kulturunabhängige und vollständig von den torischen Erkenntnisinteresse‹ angetrieben ist. Als
empirischen Wissenschaften zu erklärenden Pro- eine methodisch instruierte Erkenntnisform hat die
zesse ausschließt (s. Kap. III.4). Freud’sche Psychologie mit den Geisteswissenschaf-
Der Verweis auf die Reflexion führt uns auf das ten die hermeneutische Orientierung gemeinsam,
dritte Erkenntnisinteresse hin. Habermas assoziiert doch verfeinert sie ihre Interpretationen nicht
Reflexion in erster Linie mit Erkenntniskritik, und schrittweise im Dialog, sondern unterwirft sie einem
insbesondere mit der philosophischen Analyse der einzigen Test – nämlich der reflexiven Selbstanwen-
Wissenschaften als rationalen Forschungsprozessen, dung durch den Patienten (s. Kap. III.4).
die zu den Bildungsprozessen der Menschengattung Um die Ideologiekritik zu einer selbstreflexiven
beitragen. Habermas verleiht Fichte eine sozial-ma- Wissenschaft werden zu lassen, entwickelte Haber-
terialistische Wendung und behauptet, dass eine der- mas Freuds Zivilisationstheorie im Lichte Marx’ fort.
artige Reflexion als ein Prozess der Explikation der Freud versteht die Entwicklung der Kultur als einen
Voraussetzungen der Forschung eine emanzipatori- Prozess institutionell und familiär vermittelter Un-
sche Selbstreflexion der Wissenschaften einschließt. terdrückung grundlegender psychischer Triebe. Zu
Im Zuge dieser Selbstreflexion erfasst das Forscher- den Instrumenten dieser Unterdrückung zählen ge-
subjekt den Forschungsgegenstand in Beziehung auf sellschaftliche Zwangsnormen, religiöse Weltan-
sein Interesse an der Erkenntnis. Es lässt damit einen schauungen und gesellschaftliche Ideale und Werte
trügerischen Objektivismus hinter sich, der ganz – die ›Illusionen‹ der Zivilisation, die die bestehen-
naiv ein kontemplatives, wertfreies Ideal der reinen den Autoritäten als rational erscheinen lassen, in-
Theorie unterstellt. Selbstreflexion setzt somit ein dem sie diese vor Kritik schützen und die Menschen
Interesse an emanzipatorischer Selbsterkenntnis – mit dem Verzicht auf Triebbefriedigung versöhnen.
312 IV. Begriffe

Obgleich alle Angehörigen einer Gesellschaft sol- 6. Europäische


chen Repressionen unterworfen sind, bekommen
die unteren Klassen deren Auswirkungen weit hefti-
Staatsbürgerschaft
ger zu spüren. Aufgrund des technischen Fortschritts
und der steigenden Möglichkeiten der Triebbefriedi- Bürgerschaft (citizenship) ist ein viele Disziplinen
gung erscheinen die bestehenden Formen der Re- übergreifender, sie aber nicht ohne Weiteres verbin-
pression als überflüssig, und dies gilt insbesondere dender Begriff. Im Folgenden wird von Diskrepan-
für die unteren Klassen. Dadurch eröffnet sich ein zen zwischen dem im positiven Europarecht vor-
Spielraum für die Ideologiekritik. Auch wenn Ha- herrschenden Verständnis dieses Terminus und sei-
bermas’ Darstellung nur skizzenhaft ist, verwirft eine ner Bedeutung in den Arbeiten von Jürgen Habermas
solche Kritik die Weltanschauungen und Normen die Rede sein. Dabei soll sich zweierlei erschließen:
nicht tout court, sondern klagt vielmehr die Verwirk- die konzeptionelle Verankerung europarechtlicher
lichung ihres utopischen Gehalts ein; dies erscheint Diskurse in neoliberalen Visionen und die sozial-
insofern ein gangbarer Weg zu sein, als die bestehen- kritische Dimension des Habermas’schen Engage-
den Mittel gesellschaftlicher Kontrolle obsolet bzw. ments für Europa.
zu einer überflüssigen ›Repression‹ geworden sind. Das institutionalisierte Europa ist nach seiner
So wurden z. B. mit dem Übergang zur Moderne die Selbstbeschreibung und dem herrschenden wissen-
religiösen Ideale der Gleichheit vor Gott in Forde- schaftlichen Sprachgebrauch kein »Staat«, sondern
rungen nach der Abschaffung der Sklaverei, nach bloß eine »Union«. Was bedeutet dies für seine Bür-
gleichen staatsbürgerlichen Rechten usw. übersetzt. ger? Das Europarecht ist um Antworten auf diese
Ebenso wie die Psychoanalyse ist auch die Ideolo- Frage nicht verlegen. Der Vertrag von Maastricht
giekritik von einem emanzipatorischen Erkenntnis- (1992) hat mit der neuen Dachinstitution der
interesse abhängig. An manchen Stellen scheint Ha- »Union« in den EG-Vertrag die »Unionsbürger-
bermas dieses dritte Interesse als für die beiden an- schaft« eingeführt. Ihr Kerngehalt, die Freizügigkeit,
deren gleichermaßen grundlegend anzusehen, wenn gewann dann über die ursprüngliche Marktbürger-
er behauptet, die soziale Reproduktion vollziehe sich schaft hinausweisende Dimensionen vor allem da-
durch Arbeit, Interaktion und Macht. Doch lässt sich durch, dass der Europäische Gerichtshof sie mit Dis-
diese Position nur schwerlich aufrechterhalten, und kriminierungsverbot und den europäischen Grund-
Habermas sprach schließlich, um seine Auffassung rechten verklammerte. Wie geschieht dies? Das
zu klären, dem emanzipatorischen Interesse einen Recht bildet sich höchst konkret fort, in Europa vor
abgeleiteten Status zu: Es komme in Situationen in- allem in den Rechtssachen des Europäischen Ge-
stitutionalisierter, durch verzerrte Kommunikation richtshofs. Berühmtheit erlangt hat hier in jüngerer
kaschierter Herrschaft ins Spiel. Zeit insbesondere die Öffnung österreichischer me-
dizinischer Fakultäten für deutsche Studierende, die
Literatur zu Hause am Numerus clausus gescheitert wären, so-
wie die Verpflichtung Großbritanniens, Kosten für
Adorno, Theodor W. et al.: Der Positivismusstreit in der
deutschen Soziologie. Neuwied/Berlin 1969. eine medizinische Behandlung im Ausland zu tra-
Apel, Karl-Otto: »Szientistik, Hermeneutik, Ideologiekri- gen, wenn und weil die betroffene Patientin die ihr
tik. Entwurf einer Wissenschaftslehre in erkenntnisan- vom National Health Service zugemuteten Wartezei-
thropologischer Sicht« [1968]. In: Apel et al. 1971, 7–44. ten abzukürzen suchte.
– et al.: Hermeneutik und Ideologiekritik. Frankfurt a. M.
Solche Fälle sind Legion und geben nicht leicht zu
1971.
McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse: erkennen, wie das Recht die Unionsbürgerschaft vo-
Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1980 ranbringt. Mit deren Aufnahme in die Verträge ver-
(engl. 1978). banden sich zwei weitreichende Vorstellungen. Es
William Rehg (Übers. Nikolaus Gramm) ging zum einen um die Förderung einer europäi-
schen Identität und zum anderen um eine Aufwer-
tung der bloßen »Marktbürgerschaft« der Europäer.
Beides, so nahm man an, müsse in Angriff genom-
men werden, damit eine Transformation der Wirt-
schaftsgemeinschaft in eine Polity gelingen könne.
Indessen blieb das Verhältnis von Anspruch und
Einlösung dieser Programmatik stets prekär (Ever-
6. Europäische Staatsbürgerschaft 313

son 1995). Die »Herren der Verträge« waren nicht historischer Prozesse mit systematischen Überle-
gewillt, die für eine Realisierung sozialer Rechte er- gungen betont (z. B. PN, 135ff; EA, 128 ff.; ZÜ, 116 ff.;
forderlichen Kompetenzen abzugeben, das Ensem- s. Kap. IV.33).
ble der Voraussetzungen, die nach der Diskurstheo- Wer sich diese Zusammenhänge bewusst macht,
rie des Rechts die Prozesse einer legitimen Konkreti- wird sich von dem Einwand, der Verfassungspatrio-
sierung solcher Positionen tragen sollten, hatte sich tismus sei zur Bezeichnung der Voraussetzungen des
nicht wesentlich verbessert. Wegen der Verhaftung Zusammenhalts moderner Gesellschaften soziolo-
von Solidaritätsgeboten in Freizügigkeitsrechten gisch zu »dünn«, er abstrahiere zu spröde von der
bleibt das europäische System der Rechte der neo- sozialen, politischen und kulturellen Einbettung real
liberalen Programmatik verpflichtet; und dies gilt existierender Bürger, nicht beeindrucken lassen. Der
ebenso für seine Antidemokratisierungsgebote, so- Nationalstaat, der deutsche zumal, ist für Habermas
lange diese nur auf Gleichbehandlung zielen können eine ambivalente Errungenschaft mit einer proble-
(Somek 2009). matischen Vergangenheit. Wenn sich dabei schließ-
Wer solche Abhängigkeiten nicht nur offenlegen, lich die Republik im Nationalstaat, die Staatsnation
sondern auch überwinden möchte, muss dafür nach gegen die Volksnation durchgesetzt hat, so geschah
alternativen Bezugsrahmen für die Unionsbürger- dies nach »einem schmerzlichen Prozess der Ab-
schaft suchen. Entsprechende Bemühungen gibt es straktion, der lokale und dynastische Loyalitäten
im europäischen Konstitutionalismus durchaus schließlich in dem Bewusstsein demokratischer de-
(etwa Weiler 1999; Schönberger 2005). Er trifft sich mokratischer Staatsbürger, zur selben Nation zu ge-
darin immerhin methodologisch mit dem Verfas- hören, aufgehoben hat« (ZÜ, 128). Die Solidarität,
sungspatriotismus von Jürgen Habermas und seiner die sich in derart artifiziell und im Allgemeinen mit
Verteidigung von Errungenschaften des staatsbür- durchaus gewaltsamer Beihilfe hergestellt hat, darf
gerschaftlichen Status im nationalen Verfassungs- man nicht als substantielle Vorgegebenheit vorstel-
staat. len oder diese gar mit einer normativen Eigen-Di-
1. Diese beiden Kategorien hat er bereits in sei- gnität ausstatten. Der demokratische Nationalstaat
nem im Jahre 1991 publizierten Essay in die europä- verdankt seine normative Dignität vielmehr der
ische Debatte hineingetragen, dabei ihre Begriffsge- Qualität eben jener Rechtsverfassung, die es den
schichten und Interdependenzen rekonstruiert, um Staatsbürgern ermöglicht, sich als Verfasser des für
auf diesem Hintergrund die Herausforderungen der sie geltenden Rechts zu begreifen. Die Idee des Ver-
europäischen Konstellation für seine Demokratie- fassungspatriotismus zeichnet sich gerade dadurch
und Rechtstheorie zu diskutieren, die ein Jahr später aus, dass sie sich von substantiellen Identitätsvorstel-
erscheinen sollte. Die Interdependenz beider Kate- lungen löst – und damit den Bedingungen multikul-
gorien ist für seine europäischen Perspektiven kon- tureller Gesellschaften ebenso Rechnung trägt, wie
stitutiv; im allgemeinen und im Europadiskurs ha- dem Entscheidungsbedarf, den moderne Gesell-
ben sie sich verselbständigt. schaften mit sich selbst ausmachen müssen (EA,
Beachtung fand vor allem die Idee des »Verfas- 142).
sungspatriotismus«, die in ihrer Übertragung auf die Umstandslos lässt sich die Idee des Verfassungs-
europäische Ebene zu einem Schlüsselbegriff der patriotismus gewiss nicht auf die europäische Ebene
Debatten um die europäische Identität und Unions- reproduzieren. Wie sollte sich denn je ein Rahmen
bürgerschaft avancierte (systematisch Müller 2007) für eine europäische Polity verbindlich definieren
Habermas hat den Begriff von Dolf Sternberger lassen, wenn alle europäischen Gesellschaften ihre
([1982]/1999) übernommen, zu einem integralen jeweiligen historisch-kulturellen Prägungen für sa-
Bestandteil seiner Theorie des Verfassungsstaates krosankt erklären würden. Der Verfassungspatrio-
entwickelt, um ihn dann in den europäischen Ver- tismus lässt sich als eine Programmatik begreifen, in
fassungsdiskurs einzuführen. Der Topos des Verfas- der die Pluralität Europas nicht in Homogenisierun-
sungspatriotismus reflektiert einen spezifischen gen, sondern in wechselseitigen Anerkennungsver-
historischen Kontext – den der frühen Bundesrepu- hältnissen aufgehoben werden soll. Es geht ihm da-
blik. Es ging Sternberger und sodann Habermas um rum, die geglückte Formel von Artikel I,8 des verun-
Deutschlands Vergangenheit und Deutschlands Re- glückten Verfassungsvertrages aufzugreifen und
zivilisierung, um seine politisch-kulturelle Transfor- damit um die Einheit in der Vielfalt Europas (EA,
mation. Immer wieder, gerade auch in den Arbeiten 142 f.; NR, 111). Die praktische Chance dieser Per-
zur Lage Europas, hat Habermas die Verschränkung spektive mag schwer zu bestimmen sein. Sie ist aber
314 IV. Begriffe

gewiss größer als die der europarechtlichen Prokla- täuschung und nach der dann einsetzenden Rück-
mationen einheitlicher Rechtsverhältnisse. Ebenso kehr in den Modus der Intergouvernementalität
ist sie allen Versuchen überlegen, die Integration seine Kritik an der Praxis der europäischen Politik
durch eine »Identitätspolitik« voranzutreiben, die formuliert (AE, 96). Er hat dabei sein Engagement
dem Beispiel der Nationenbildung nacheifern für das Projekt Europa nicht aufgekündigt, sondern
würde. politische Empfehlungen und institutionelle Vorstel-
2. Der Verfassungspatriotismus ist eine Brücke lungen entwickelt, die aus der derzeitigen Sackgasse
nach Europa. Vergegenwärtigt man sich aber, dass er hinausführen sollen. Drei Entwicklungen, die sei-
die Vielheit Europas nicht beseitigen soll, so stellen nem Projekt einer Europäischen Rekonstituierung
sich zwei Anschlussschwierigkeiten Die eine betrifft der Staatsbürgerschaft im Wege stehen, hat er indes-
die Organisation von Verständigungsprozessen, in sen kaum berücksichtigt: (1) Die Proklamation
denen die Europäer ihre Rechte wahrnehmen kön- staatsbürgerlicher Rechte ohne Verwirklichungs-
nen. Dabei geht es ja nicht bloß um einen Abgleich chance, mit der die europäische Politik das soziale
von Traditionen, sondern um die Auseinanderset- Defizit Europas schönredet. (2) Die Karriere »sanf-
zung mit Interessengegensätzen, die in politischen ter Methoden des Regierens«, in der die Rechtsstaat-
und sozio-ökonomischen Differenzen begründet lichkeit Europas aufs Spiel gesetzt wird, ohne dass
sind und sich im Zuge der Osterweiterung wesent- mit dem sozialstaatlichen Gewinn, den diese Manö-
lich verschärft haben. Gewiss ist in der Integrations- ver erbringen sollen, wenigstens wahrscheinlich
geschichte die Idee eines europäischen Föderalismus wäre. (3) Die Tendenz des EuGH, unter Berufung
lebendig geblieben, an die auch Habermas anknüpft auf die wirtschaftlichen Freiheitsrechte Europas die
(ZÜ, 129 ff.). Sie würde die politische Entscheidungs- Arbeits- und Sozialverfassungen der Mitgliedstaaten
kraft Europas formell stärken, ohne dass man abse- außer Kraft zu setzen und so einer transnationalen
hen kann, ob sie mit den komplexen Konfliktlagen Privatrechtsgesellschaft den Weg zu bereiten. Ange-
der Föderation zurechtkäme. sichts all dessen stellt sich die Frage nach den Über-
Die zweite Schwierigkeit ergibt sich aus den Er- lebenschancen staatsbürgerlicher Errungenschaften
wartungen, die Habermas mit der Vertiefung der In- neu. Bevor diese Errungenschaften in Europäisie-
tegration verbindet. Europa müsse, so hat er in im- rungsprozessen weiter erodieren, dürfte es darauf
mer neuen Formulierungen postuliert, ankommen, auf ihre Anerkennung durch die nach
wie vor sozialstaatlich inkompetente Union zu drin-
»die großen Errungenschaften des europäischen National-
staates über dessen nationale Grenzen hinaus in einem an- gen, um so die Form der Demokratie zu bewahren,
deren Format zu bewahren […]. Bewahrt werden müssen die im alten Europa Anerkennung gefunden hat, und
die materiellen Lebensbedingungen, die Chancen zu Bil- deren nachholende Entwicklung im neuen Europa
dung und Muße, die sozialen Gestaltungsspielräume, die eine reale Option werden müsste.
der privaten Autonomie erst ihren Gebrauchswert verlei-
hen und dadurch demokratische Partizipation möglich
machen« (ZÜ, 105). Literatur
Entschiedener können der Einspruch gegen die Pro- Everson, Michelle: »The Legacy of the Market Citizen«. In:
grammatik einer von Wirtschaftsbürgern bevölker- Jo Shaw/Gillian More (Hg.): New Legal Dynamics of Eu-
ropean Union. Oxford 1995, 73–89
ten transnationalen »Privatrechtsgesellschaft« und Haltern, Ulrich: Europarecht. Tübingen 2007, 599–556.
die Forderung nach einer Bewahrung staatsbürgerli- Müller, Jan-Werner: Constitutional Patriotism. Oxford
cher Rechte in der postnationalen Konstellation 2007.
kaum ausfallen. Die Sozialstaatlichkeit ist für ihn Schönberger, Christoph: Unionsbürger. Europas föderales
nicht einfach eine verfassungspolitische Option, die Bürgerrecht in vergleichender Sicht. Tübingen 2005.
Somek, Alexander: »Idealisation, De-politicization and
sich in Westeuropa nach einem kontingenten Ge-
Economic due Process: System Transition in the Euro-
schichtsverlauf durchgesetzt hätte. Sie ist eine Bedin- pean Union«. In: Bogdan Iancu (Hg.): The Law/Politics
gung der sozialen Integration nationalstaatlich orga- Distinction in Contemporary Public Law Adjudication.
nisierter Gesellschaften, der Versöhnung von Kapi- Utrecht 2009 (im Druck).
talismus und Demokratie ebenso wie der »Solidarität Sternberger, Dolf: »Verfassungspatriotismus. Rede bei der
25-Jahr-Feier der Akademie für Politische Bildung in
zwischen Fremden« (EA, 143).
Tutzing am 29.6.1982«. In: Marie-Luise Recker (Hg.):
Um die Verfassung Europas ist es schlecht bestellt. Politische Reden 1945–1990. Frankfurt a. M. 1999, 702–
Klar und nachdrücklich hat Habermas nach den Re- 719.
ferenden gegen den Verfassungsvertrag seine Ent- Weiler, Joseph H.H.: »To be a European Citizen: Eros and
7. Evolution 315

Civilisation«. In Ders.: The Constitution of Europe. »Do tionelle, die konventionelle und die postkonven-
the new clothes have an Emperor?« and other essays on tionelle.
European Integration. Cambridge 1999, 324–355.
Für Habermas hängt der kognitive und morali-
Christian Joerges
sche Reifeprozess eng mit der »fortschreitenden De-
zentrierung des Weltverständnisses« in drei ausdif-
ferenzierte Weltbezüge der objektiven, sozialen und
subjektiven Welt (MKH, 146 ff. u. 180), der Unter-
7. Evolution scheidung der Handlungstypen des strategischen
und kommunikativen Handelns sowie mit der Aus-
differenzierung von Diskurs und kommunikativem
Wie Talcott Parsons und Niklas Luhmann ist auch Handeln zusammen.
für Habermas die soziale Evolution auf Steigerung Ebenso wie die ontogenetische beinhaltet die phy-
der Systemkomplexität angewiesen (vgl. TKH II, logenetische Entwicklung drei Niveaus des Moralbe-
240–57). Anders als seine berühmten Kollegen aber wusstseins der Gesellschaften: ein präkonventionel-
behauptet er, die Vermittlung des jeweiligen Kom- les, ein konventionelles und ein postkonventionelles.
plexitätswachstums der Gesellschaft geschehe durch Freilich wird die ontogenetische Entwicklung nicht
eine »Entwicklungslogik«, deren Struktur den Stu- mit der phylogenetischen gleichgesetzt:
fen des moralischen Bewusstseins entspreche (TKH »Das individuelle Bewußtsein und die kulturelle Überliefe-
II, insbes. 257 ff.; RHM, 9–48, 63–91 u. 129–43; rung können in ihren Inhalten übereinstimmen, ohne daß
MKH). Gegenüber Luhmanns Systemtheorie kehrt sie dieselben Bewußtseinsstrukturen ausdrücken. [...] Nicht
Habermas den Vektor beim Determinieren des Evo- alle Individuen sind für den Entwicklungsstand ihrer Ge-
lutionsprozesses um, indem er argumentiert, dass sellschaft gleichermaßen repräsentativ: so hat in modernen
Gesellschaften das Recht eine universalistische Struktur,
die Komplexitätssteigerung und die entsprechende obwohl viele Mitglieder nicht in der Lage sind, prinzipien-
soziale Differenzierung von »Lernmechanismen« geleitet zu urteilen. Umgekehrt hat es in archaischen Ge-
abhängen. In diesem Sinne behauptet er, dass die sellschaften Individuen gegeben, die formale Denkoperati-
Differenzierungsprozesse sowohl »Anzeichen von onen beherrschten, obgleich das kollektiv geteilte mythi-
Evolutionsprozessen« als auch Ursachen der evolu- sche Weltbild einer niedrigeren Stufe entsprochen hat«
(RHM, 16).
tionären Stagnation sein können (RHM, 133 f., 230;
TKH II, 258 f.). Ebenso kehrt er den Vektor hinsicht- Außerdem betont Habermas, dass das kollektive
lich des Marxismus um, indem er hervorhebt, dass Moralbewusstsein nur für Erwachsene gilt, so dass
der evolutionsbestimmende Fokus nicht in der »ontogenetisch frühe Stufen unvollständiger Inter-
»Entwicklungsdynamik« der Produktivkräfte liegt, aktion« keine Entsprechung in den ältesten Gesell-
sondern in der »Entwicklungslogik« der intersub- schaften finden: in den gesellschaftlichen Beziehun-
jektiven, normativ orientierten Beziehungen (RHM, gen mit der Familie gab es von Anbeginn die
insbes. 35, 139 f., 144–99). Die Entwicklung der komplementäre Verknüpfung generalisierter Verhal-
Produktionstechniken und die Steigerung der Sys- tenserwartungen, d. h. »vollständige Interaktion«
temkomplexität stellen für Habermas Bedingungen (ebd.). Trotz dieser und anderer Vorbehalte behaup-
der sozialen Evolution dar, während die Entwick- tet Habermas die Existenz von Homologien und
lung der normativen Strukturen ihren Grund bil- zieht eine Parallele zwischen den beiden Entwick-
det. lungsmodellen, indem er Analogien in den »Sequen-
Habermas rekonstruiert im Rahmen der Theorie zen von Grundbegriffen und von logischen Struktu-
des kommunikativen Handelns und der Diskurs- ren« sieht (ebd., 17 ff., 97 ff. u. 133 ff.; TKH II, 259;
ethik das von Piaget formulierte und von Kohlberg Eder 1980); er hält allerdings vor allem die Analogie
entwickelte Modell der ontogenetischen Entwick- »zwischen Weltbildern und dem System der Ich-Ab-
lung (des Individuums) und überträgt es auf den Be- grenzungen« für relevant (RHM, 18).
reich der phylogenetischen Evolution (der Gesell- Erst mit dem Ende des symbiotischen Stadiums
schaft) (MKH; RHM, 13 ff., 63–91, 133 ff. u. 232 f.; des noch im Übergang zum Paläolithikum vorherr-
TKH II, insbes. 259 ff.; ED, 49–99). Auf dem Weg der schenden ritualisierten Verhaltens der Primatenhor-
kognitiven Psychologie werden – nicht nur auf der den, also »erst mit der Umformung primitiver Ruf-
individuellen Ebene, sondern auch in Bezug auf die systeme in eine grammatisch geregelte, propositio-
Gesellschaftstypen – drei Entwicklungsstufen des nal ausdifferenzierte Sprache ist der soziokulturelle
Moralbewusstseins unterschieden: die präkonven- Ausgangszustand erreicht, wo sich das (nur zu be-
316 IV. Begriffe

schreibende) ritualisierte Verhalten in (zu verstehen- Gruppe sprechen, die schließlich äußeren Natur-
des) rituelles Handeln verwandelt« (TKH II, 287). kräften zugerechnet werden.
Von diesem Ausgangszustand an lassen sich drei ge- In den ›Hochkulturen‹ ist – selbst im sakralen
sellschaftliche Stufen hinsichtlich der Entwicklung Handlungsbereich – die Differenzierung zwischen
des Moralbewusstseins unterscheiden: Den archai- objektiver, sozialer und subjektiver Welt bereits zu
schen Gesellschaften, den Hochkulturen und der beobachten. Interne Sinn- und externe Sachzusam-
modernen Gesellschaft entsprechen jeweils die prä- menhänge werden voneinander unterschieden. Die
konventionelle, die konventionelle und die postkon- Handlung wird nicht nur in ihren Ergebnissen be-
ventionelle Stufe (vgl. THK II, 285–93; RHM, 18–20, rücksichtigt. Aber im sakralen Bereich – obwohl sich
135 u. 97 ff.) eine Differenzierung zwischen erfolgs- und verstän-
Kennzeichnend für die archaischen Gesellschaf- digungsorientierten Einstellungen schon feststellen
ten ist die unzureichende Unterscheidung zwischen lässt – verhalten sich die einen holistischen Gel-
objektiver, sozialer und subjektiver Welt. Normative tungsbegriff einschließenden religiösen und meta-
Strukturen werden im Licht mythischer Naturbilder physischen Weltbilder »gegenüber jedem Versuch,
interpretiert. Die Handlungen werden nicht unter die Aspekte des Wahren, Guten und Vollkommenen
Berücksichtigung der Intentionen des Akteurs be- zu trennen, resistent« (ebd.). In diesem Bereich
wertet, sondern eher in Anbetracht ihrer Ergebnisse. bleibt also das Syndrom von Wahrheits-, Richtig-
Das Fehlen einer deutlichen Unterscheidung von keits- und Wahrhaftigkeitsansprüchen gesichert. Je-
Kultur und Natur, Normativem und Kognitivem, In- doch sind die religiösen Weltbilder »mehr oder we-
dividuum und Gesellschaft drückt sich auf der sa- niger dichotomisch ausgeprägt; sie errichten eine
kralen Ebene durch Rituale und Mythen aus. Die Hinterwelt und überlassen das entmythologisierte
Verschmelzung verschiedener Dimensionen, die Diesseits oder die desozialisierte Welt der Erschei-
sich in der rituellen Praxis äußert, wird durch die nungen einer entzauberten Alltagspraxis« (ebd.).
Mythen als Weltbilder kontrolliert und gesichert. Dementsprechend gibt es im profanen Hand-
Die mythische Weltdeutung konfundiert »interne lungsbereich eine Auflösung des holistischen Gel-
Sinn- mit externen Sachzusammenhängen« und tungsbegriffs (ebd.). Auf der Ebene des kommunika-
kann so »die rituelle Praxis davor bewahren, daß das tiven Handelns differenzieren dann die Teilnehmer
ununterscheidbar aus Kommunikation und Zweck- »zwischen einzelnen pragmatischen Grundeinstel-
tätigkeit produzierte Gewebe zerreißt« (TKH II, 288). lungen«, nämlich zwischen der objektivierenden,
Das impliziert, dass auf der profanen Ebene – ob- der normkonformen und der expressiven Grundein-
wohl eine gewisse Differenzierung zwischen erfolgs- stellung, und damit unterscheiden sich Wahrheits-,
und verständigungsorientierten Einstellungen schon Richtigkeits- und Wahrhaftigkeitsansprüche vonei-
vorhanden ist – Wahrheits-, Wahrhaftigkeits- und nander. Die staatlich organisierte Gesellschaft mit
Richtigkeitsansprüche noch ein Syndrom bilden konventionellen Rechtsinstitutionen verlangt vom
(ebd., 289). Diese Verschmelzung von objektiver, so- Individuum Gehorsam gegenüber einer legitimen
zialer und subjektiver Welt, die in den Weltbildern Ordnung. Diese Einstellung muss sowohl von der
verankert ist, umfasst eine Konfundierung von indi- objektivierenden Einstellung gegenüber der äußeren
viduellen und kollektiven Handlungen, so dass das Natur als auch von der expressiven Einstellung ge-
Individuum nur als Mitglied einer auf Verwandt- genüber der inneren Natur differenziert werden
schaftsbeziehungen beruhenden Gruppe (Familie, können (ebd., 290). In diesem Zusammenhang wird
Sippe, Stamm) seine Identität behauptet. Die in den die Identität des Individuums nicht mit der seiner
Ritualen praktisch ausgedrückte und in den Mythen Gruppe gleichgesetzt. Sie unterscheidet sich von der
reflektierte Gleichsetzung von individueller und kollektiven Identität, die nicht mehr auf Verwandt-
Gruppenlebensführung hängt mit einem Muster schaftsbeziehungen beruht, sondern auf einer terri-
präkonventioneller Moral zusammen. Außerdem torial gebundenen Organisation, deren Einheit auf
verhindert die Wahrnehmung der Ereignisse und eine Herrscherfigur bezogen wird (vgl. RHM, 26).
Dinge als unmittelbarer und bindender Evidenzen Nur so wird Gehorsam und folglich abweichendes
die Unterscheidung zwischen Verhalten und etab- Verhalten zur klaren Vorstellung des Alltags.
lierten Konventionen. In diesem Kontext ist vor al-
»Das kommunikative Handeln kann sich auf dieser Stufe
lem die Vorstellung von abweichendem Verhalten von partikularistischen Kontexten freimachen, bleibt aber
als Teil des Gemeinschaftslebens undenkbar; viel- an den Spielraum gebunden, der durch traditionsfeste
mehr kann man von externen Angriffen gegen die Handlungsnormen umschrieben ist« (TKH II, 290).
7. Evolution 317

Obwohl infolge des argumentativen Umgangs mit sen Bedingungen der Ausdifferenzierung bzw. Auto-
Texten die Unterschiede zwischen kommunikativem nomie der Geltungssphären – Bedingungen, in die
Handeln und Diskurs schon zu Bewusstsein kom- die Entkopplung von System und Lebenswelt mit
men, differenzieren sich die verschiedenen Gel- einbezogen ist (s. Kap. IV.31) – bietet Habermas eine
tungsansprüche nur auf der Handlungsebene aus: Diagnose der Moderne, die sowohl den fragmentä-
»Geltungsspezifische Formen der Argumentation ren Modellen als auch den ideologiekritischen Para-
treten noch nicht auf« (ebd.). Daraus resultieren als digmen entgegentritt, denn er setzt eine den System-
allgemeine Charakteristika die diskursive Unbe- imperativen nicht untergeordnete Diskursrationali-
streitbarkeit der Institutionen sowie die stetige und tät in reflexive Beziehung zum kommunikativen
wechselseitige Überlagerung von Wahrheitsdiskurs (verständigungsorientierten) Handeln; letztlich eine
und Richtigkeitsdiskurs. Diagnose, die entgegen den vorherrschenden Ten-
In der frühen Moderne bildet sich ein spezifischer denzen die Präsenz einer postkonventionellen bzw.
Geltungsanspruch (Wahrheit) in der Wissenschaft. universalistischen Moral als Kennzeichnen der mo-
Aber die Moral, das Recht und die Kunst lösen sich – dernen Gesellschaft hervorhebt.
trotz differenzierter Wertsphären – nicht ganz vom
Sakralbereich, so dass ihnen ein eindeutig spezifi- Literatur
scher Geltungsanspruch fehlt (ebd., 291). Das heißt: Brunkhorst, Hauke: Habermas. Leipzig 2006.
eine ausreichende Ausdifferenzierung der Diskurse Eder, Klaus: Die Entstehung staatlich organisierter Gesell-
und ihrer jeweiligen Geltungsansprüche tritt noch schaften: Ein Beitrag zu einer Theorie sozialer Evolution.
nicht auf. Da allerdings die Formen moderner Reli- Frankfurt a. M. 1980.
giosität mit dem Dogmatismus brechen, in dem hie- Günther, Klaus: Der Sinn für Angemessenheit: Anwendungs-
diskurse in Moral und Recht. Frankfurt a. M. 1988 (ins-
rarchisch und dichotomisch das profane Diesseits
bes. »Das Problem der Anwendung von Normen in der
der Transzendenz, die Welt der Erscheinungen ei- Entwicklung des Moralbewusstseins«, 101–215).
nem zugrundeliegenden Wesen gegenüberstellt Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.): Beiträge zu Jürgen Haber-
wird, »können sich in den profanen Handlungsbe- mas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«. Frankfurt
reichen Strukturen ausbilden, die durch eine unein- a. M. 22002.
Kohlberg, Lawrence: »Moral Stages and Moralization: The
geschränkte Ausdifferenzierung der Geltungsan-
Cognitive-Developmental Approach«. In: Thomas Li-
sprüche auf der Ebene von Handlung und Argumen- ckona (Hg.): Moral Development and Behavior: Theory,
tation bestimmt sind« (ebd.). Research, and Social Issues. New York 1976, 31–53.
Nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die –: »Appendix. The Six Stages of Moral Judgment«. In:
Kunst, die Moral und das Recht lösen sich vom Sa- Ders.: The Philosophy of Moral Development: Moral Sta-
kralbereich. Die »Profanisierung der bürgerlichen ges and the Idea of Justice (Essays on Moral Development,
Bd. I). New York 1981, 409–12.
Kultur« führt zu einer scharfen Trennung der kultu- Luhmann, Niklas: »Evolution und Geschichte«. In: Ders.:
rellen Wertsphären, die sich nun autonom, d. h. Soziologische Aufklärung 2: Aufsätze zur Theorie der Ge-
»nach Maßgabe eines geltungsspezifischen Eigen- sellschaft. Opladen 1975, 150–69.
sinns« entwickeln (ebd., 292). –: Die Gesellschaft der Gesellschaft. Bd. 1. Frankfurt a. M.
Diese Entsakralisierung ermöglicht insofern die 1997.
Neves, Marcelo: Zwischen Themis und Leviathan: eine
Entstehung kritischer Diskurse selbst gegen die be- schwierige Beziehung – Eine Rekonstruktion des demokra-
stehenden Institutionen, als »die hypothetische Er- tischen Rechtsstaates in Auseinadersetzung mit Luhmann
örterung normativer Geltungsansprüche institutio- und Habermas. Baden-Baden 2000.
nalisiert wird« (ebd., 291). Während sich die insti- Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kind. Frankfurt
tutionalisierte Normativität von den metaphysischen a. M. 1973.
Marcelo Neves
und religiösen Weltbildern löst, wird die (erfolgs-
orientierte) Zwecktätigkeit radikal »von normati-
ven Kontexten freigesetzt« und verbindet sich enger
mit dem Wissenschaftssystem, dem sie objektive
Informationen zur Entwicklung von Techniken und
Strategien entnimmt. Sie erweist sich als von der
verständigungsorientierten Tätigkeit entbundenes,
»sittlich neutralisiertes zweckrationales Handeln«,
das grundsätzlich wissenschaftliche Technologien
und Strategien nutzt (ebd., 286 u. 292). Unter die-
318 IV. Begriffe

8. Gesellschaft duktion, sondern die (sprachlich bzw. symbolisch


vermittelte) Interaktion bildet für Habermas nun die
Basis aller Gesellschaft. In dieser Umstellung von
Die Analyse eines soziologischen Gesellschaftsbe- den Produktions- auf die Interaktionsverhältnisse
griffes kann entlang dreier Fragedimensionen ent- inspirierte Habermas in der Tat auch andere nam-
faltet werden (vgl. Rosa/Strecker/Kottmann 2007): hafte Vertreter der Kritischen Theorie, etwa seinen
(1) Was ist eine Gesellschaft, d. h. woraus und worin Schüler Axel Honneth (1994).
konstituiert sie sich, was bildet ihre Basis oder ihre Gesellschaft besteht damit für Habermas zunächst
grundbegriffliche Einheit? (Synthesis). (2) Wodurch und zuerst aus einem ›Gewebe kommunikativer
und auf welche Weise verändert sich Gesellschaft, Handlungen‹, das gemeinsame Deutungen und dar-
welches sind die Antriebsmotoren ihres Wandels? über eine geteilte soziale Wirklichkeit – die Lebens-
Gibt es Gesetzmäßigkeiten ihrer Entwicklung? (Dy- welt – konstituiert und reproduziert:
namis). (3) Lassen sich Gesellschaften in ihrer Ent-
wicklung durch die handelnden Akteure (intentio- »Die Gesellschaft stellt sich aus der Binnenperspektive der
Lebenswelt als Netz kommunikativ vermittelter Kooperati-
nal, d. h. insbesondere: politisch) steuern, kontrollie- onen dar… Was […] die vergesellschafteten Individuen an-
ren oder wenigstens beeinflussen? (Praxis). einander bindet und die Integration der Gesellschaft si-
Auch der in Jürgen Habermas’ philosophischem chert, ist ein Gewebe kommunikativer Handlungen, die
und soziologischem Denken nach und nach entfal- nur im Lichte kultureller Überlieferungen gelingen können
tete Gesellschaftsbegriff, der in der Theorie des kom- […]. Die Lebenswelt, die die Angehörigen aus gemeinsa-
men kulturellen Überlieferungen konstruieren, ist mit Ge-
munikativen Handelns seine reifste und entwickeltste sellschaft koextensiv« (TKH II, 223 f.).
Gestalt findet, lässt sich entlang dieser Fragen rekon-
struieren. Obwohl Habermas seiner Gesellschaftstheorie da-
1. Im Hinblick auf die grundbegriffliche Einheit mit eine handlungstheoretische Basis gibt, folgt er
oder Basis der Gesellschaft vollzieht Habermas spä- nicht einfach einem methodologischen Individualis-
testens mit Erscheinen der Theorie des kommunika- mus: Die Gesellschaft wird nicht einfach durch Indi-
tiven Handelns eine fundamentale Umstellung, mit viduen bzw. durch deren Handeln und Kommuni-
der er einen Paradigmenwechsel für die Kritische zieren gebildet, sondern das Gegenteil gilt ebenso:
Theorie und die marxistisch inspirierte Gesell- Die letzteren werden auch durch das kommunika-
schaftstheorie überhaupt einzuleiten glaubt: Für tive Gewebe der Gesellschaft hervorgebracht; Sub-
Marx und die Kritische Theorie der sogenannten jektivität und Intersubjektivität sind ›gleichursprüng-
›ersten Generation‹ (also etwa für Horkheimer, lich‹. Als Lebenswelt erfüllt Gesellschaft damit also
Adorno oder Marcuse) waren es die gesellschaftli- drei essentielle Funktionen: Sie produziert Sinn
chen Produktionsverhältnisse und/oder die durch sie (›Kultur‹), erzeugt Solidarität (›Gesellschaft‹ im en-
bestimmten Tauschverhältnisse, welche die Basis der geren Sinne sozialer Integration) und Ichstärke bzw.
Gesellschaft bildeten und ihre Form bestimmten. Handlungsfähigkeit (›Persönlichkeit‹).
Danach liegt der Ursprung der Gesellschaft letztlich Allerdings erweist sich Habermas – stark beein-
in der kollektiven Bearbeitung der stofflichen Natur flusst durch die Systemtheorie Niklas Luhmanns
begründet. In dem Maße, wie sich die Produktiv- und durch seine Auseinandersetzung mit ihr (Ha-
kräfte entwickeln, verändert sich auch die Gestalt bermas/Luhmann 1974) – als höchst sensibel für die
der Gesellschaft (Dynamis). Schon in Habermas’ systemischen Verselbständigungstendenzen moder-
Frühschriften deutet sich Kritik an dieser einseitigen ner Gesellschaften: Er anerkennt, dass die materielle
Reduktion der Gesellschaft auf ihre ökonomische Reproduktion der modernen Gesellschaft einer eige-
Basis an; sie kulminiert in der Theorie des kommuni- nen Logik folgt, die der Kontrolle lebensweltlicher
kativen Handelns, in der Habermas nun die Kommu- Verständigung weitestgehend entzogen ist. In Staat
nikations- bzw. Verständigungsverhältnisse an ihre und Wirtschaft sieht er mächtige, ausdifferenzierte
Stelle setzt: Sprache, Kommunikation und Verstän- ›systemische‹ Funktionszusammenhänge, in denen
digung bilden nach seiner Auffassung die Grundlage Handlungen nicht durch sprachliche Verständigung,
jeglicher gesellschaftlicher Formation und Repro- sondern über die Steuerungsmedien Macht/Recht
duktion, sie konstituieren erst eine symbolisch ver- bzw. Geld koordiniert werden. Der gewaltige wis-
fasste, geteilte Lebenswelt, welche die Voraussetzung senschaftlich-technische und instrumentelle Erfolg
auch für die Formen der kollektiven Produktion und moderner Gesellschaften beruht für ihn auf eben
des ökonomischen Tausches darstellt. Nicht die Pro- dieser Leistung, die Funktionsbereiche materieller
8. Gesellschaft 319

Reproduktion von den Erfordernissen (permanen- Tradition übersehene Seite der geschichtlichen
ter) kommunikativer Verständigung entlastet zu ha- Triebfeder sozialer Veränderungen, deren Potential
ben. Dies führt ihn zu der folgenreichen Unterschei- insbesondere in der modernen Gesellschaft sichtbar
dung von ›System‹ und ›Lebenswelt‹: Die letztere ist wird: In der beobachtbaren Tatsache, dass sich in
kommunikativ verfasst und gesteuert und sichert die Kultur und Lebenswelt der Moderne (s. Kap. IV.31)
symbolische Reproduktion der Gesellschaft, wäh- die Geltungsansprüche des (wissenschaftlich) Wah-
rend die Systeme ›Wirtschaft‹ und ›(Verwaltungs-) ren, des (moralisch oder politisch) Guten bzw. Rich-
Staat‹ über nicht-sprachliche Steuerungsmedien ko- tigen und des (ethisch oder ästhetisch) Schönen bzw.
ordiniert werden und für die materielle Reproduk- Wahrhaftigen nicht nur ausdifferenzieren – wie sich
tion zuständig sind. Beide zusammen bilden erst die an den je eigenen Geltungskriterien von Wissen-
Einheit der Gesellschaft. schaft, Moral und Recht oder Kunst beobachten lässt
Wenngleich sich in der Moderne also systemische – sondern auch ›kommunikativ verflüssigen‹ (d. h.
Funktionszusammenhänge aus der Lebenswelt aus- sie können von jedermann und öffentlich in Frage
differenziert und sich dieser gegenüber so verselb- gestellt werden und unterliegen kommunikativen
ständigt haben, dass sie zu eigenständigen Entitäten Rechtfertigungspflichten), erkennt Habermas die
wurden, bleiben sie doch an diese rückgebunden Entfaltung einer kommunikativen Vernunft. Moder-
und letztlich in sie eingebettet; sie bilden gleichsam nisierung heißt daher für ihn nicht einfach nur die
stabile strukturelle ›Verhärtungen‹ der Lebenswelt. Entfaltung der instrumentellen oder zweckrationa-
So bestimmt Habermas Gesellschaften schließlich len Vernunft, sondern ebenso sehr kommunikative
als »systemisch stabilisierte Handlungszusammen- Rationalisierung: Die Strukturen der Lebenswelt
hänge sozial integrierter Gruppen« (TKH II, 228) werden hinterfragbar und aushandelbar im Blick auf
und plädiert »für den heuristischen Vorschlag, die die in ihnen stets und meist implizit erhobenen nor-
Gesellschaft als eine Entität zu betrachten, die sich mativen, evaluativen und sachlichen Geltungsan-
im Verlauf der Evolution sowohl als System wie als sprüche. Diesem Veränderungsprozess liegt nach
Lebenswelt ausdifferenziert« (ebd.). Er diagnosti- Habermas großem theoretischen Entwurf der Theo-
ziert dabei die Gefahr einer wachsenden ›Koloniali- rie des kommunikativen Handelns letztlich die im-
sierung der Lebenswelt‹ durch (gegenüber lebens- manente Logik der Sprache selbst zugrunde. Sprache
weltlichen Verständigungsprozessen immune) ver- oder genauer: Sprechakte, das heißt der kommunika-
waltungsstaatliche Vorschriften und ökonomische tive Gebrauch der Sprache, zielt von sich aus immer
Zwänge (Kneer 1990). In dem darauf folgenden schon auf Verständigung bzw. die kommunikative
rechtstheoretischen Werk Faktizität und Geltung Abklärung der in jeder sprachlichen Äußerung un-
(1992) formuliert er dagegen jedoch die Hoffnung, vermeidlich erhobenen Geltungsansprüche mit dem
dass auch die ausdifferenzierten Systeme Wirtschaft Ziel einer Konsensfindung. Weil die normativen,
und Bürokratie über die Mittel der demokratischen epistemischen und expressiven Strukturen der Le-
Selbststeuerung und Gesetzgebung – also über Recht benswelt stets kommunikativ reproduziert werden
und Politik – lebensweltlich eingeholt und kommu- müssen, sind sie im Prinzip stets hinterfragbar und
nikativ rückgebunden werden können. unterliegen einem potentiellen Rechtfertigungs-
2. Der ›Paradigmenwechsel‹ in der Bestimmung zwang, der überall dort auf Veränderung drängt, wo
der grundbegrifflichen Einheit (Synthesis) der Ge- keine zustimmungsfähigen Gründe formuliert wer-
sellschaft zeitigt unmittelbare Konsequenzen auch den können. Damit identifiziert Habermas also in
für die Analyse der treibenden Veränderungskräfte der Logik der Sprache bzw. der Verständigung selbst
(Dynamis): Während Marx letztlich im stetigen An- ein geschichtlich wirksames, treibendes Verände-
wachsen der Produktivkräfte, das Veränderungen rungsprinzip. Allerdings ist er sich darüber im Kla-
der Produktions- und Gesellschaftsformationen er- ren, dass diese immanente dynamische Kraft nicht
zwingt, die zentrale geschichtliche Triebfeder er- zu allen Zeiten und in allen Gesellschaftsformatio-
blickt, die dann von Adorno, Horkheimer oder auch nen wirksam wird: Die Verständigungsverhältnisse
Georg Lukács im Anschluss an Max Webers Begriff können so verzerrt, ›eingefroren‹ oder ideologisch
der Zweckrationalität als progressive geschichtliche überformt sein, dass eine kommunikative Verflüssi-
Entfaltung der instrumentellen Vernunft bestimmt gung der Geltungsansprüche unmöglich wird (Stre-
wurde, deutet Habermas diese Form der gesellschaft- cker 2009). Er postuliert also keineswegs einen not-
lichen Rationalisierung als einseitig oder ›halbiert‹. wendigen geschichtlichen Entwicklungsprozess. Was
Er identifiziert eine zweite, in der soziologischen den weiteren Fortgang des Modernisierungsprozes-
320 IV. Begriffe

ses anbelangt, hängt für Habermas daher alles davon sellschaft herausgelesen werden«, betont Habermas
ab, wie sich die beiden Rationalisierungsformen – und bemerkt weiter: »Wir werden den Herausforde-
Steigerung der technisch-instrumentellen und Ent- rungen der Globalisierung nur auf vernünftige Weise
faltung der kommunikativen Vernunft – in ihrem begegnen können, wenn es gelingt, in der postnatio-
Verhältnis weiterentwickeln. Verstärken sich die nalen Konstellation neue Formen einer demokrati-
Tendenzen einer ›einseitigen‹, systemisch gesteuer- schen Selbststeuerung der Gesellschaft zu entwi-
ten, instrumentellen (oder zweckrationalen) Ratio- ckeln« (PN, 93 u. 134).
nalisierung, so ist das auf die Entfaltung der kom-
munikativen Vernunft zielende ›Projekt der Mo- Literatur
derne‹ gefährdet (MUP). Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Gesellschaftstheorie
3. Weil Habermas ein wesentliches dynamisches oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemforschung?
Prinzip gesellschaftlicher Entwicklung in der Logik Frankfurt a. M. 1974.
der Verständigung entdeckt, kann er das große ›Pro- Honneth, Axel: Kampf um Anerkennung. Zur moralischen
jekt der Moderne‹ letztlich als eines der demokrati- Grammatik sozialer Konflikte. Frankfurt a. M. 1994.
Kneer, Georg: Die Pathologien der Moderne. Zur Zeitdia-
schen Selbststeuerung der Gesellschaft bestimmen:
gnose in der ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ von
Dort, wo die Verständigungsverhältnisse nicht durch Jürgen Habermas. Opladen 1990.
einseitige Machtverteilungen verzerrt und wo die Rosa, Hartmut/Strecker, David/Kottmann, Andrea: Sozio-
Strukturen der Lebenswelt kommunikativ ›verflüs- logische Theorien. Konstanz 2007.
sigt‹ sind, ist eine Kontrolle oder sogar Steuerung Strecker, David: Logik der Macht. Zum Ort der Kritik zwi-
schen Theorie und Praxis. Weilerswist 2009.
der sozialen Entwicklung im Modus der ›deliberati-
Hartmut Rosa
ven Demokratie‹ nach Habermas prinzipiell mög-
lich. Obwohl er etwa in Erkenntnis und Interesse
meint, ein quasi-anthropologisches Verlangen nach
Emanzipation oder Aufdeckung und Befreiung von
ungerechtfertigten Machtansprüchen identifizieren 9. Historischer Materialismus
zu können, ist der Prozess gesellschaftlicher Evolu-
tion damit nicht generell (intentional) steuerbar oder
auch nur beeinflussbar, sondern nur unter ganz spe- Der historische Materialismus ist eine von Marx und
zifischen historisch-kulturellen Bedingungen, wel- Engels entwickelte Theorie, die darauf zielt, gesell-
che die kollektive Entfaltung der kommunikativen schaftliche Zustände als Ergebnisse eines gerichteten
Vernunft erlauben. So bemerkt er etwa im Anklang historischen Prozesses zu verstehen, der sich unter
an Luhmann: »Bevor eine Gesellschaft politisch auf Bezug auf die Kategorien der Produktivkräfte, der
sich selbst einwirken kann, muß sich ein Teilsystem Produktionsverhältnisse und des Überbaus erklären
ausdifferenzieren, das auf kollektiv bindende Ent- und gegebenenfalls sogar in seinem weiteren Verlauf
scheidungen spezialisiert ist« (PN, 97). Diese Entfal- prognostizieren lässt. Das Strukturmodell des histo-
tung ist heute (s.o. 1.) insbesondere durch die Ent- rischen Materialismus lässt sich in Anlehnung an
kopplung und Immunisierung der bürokratischen Marx’ Schrift Zur Kritik der politischen Ökonomie
und insbesondere der kapitalistischen Systemimpe- (Marx 1985) wie folgt beschreiben: Die Produktiv-
rative gegenüber lebensweltlich begründeten Gel- kräfte, das heißt, die Arbeitskraft der in der Produk-
tungsansprüchen, aber auch durch neue Ideologien tion tätigen Personen, das ihre Arbeit leitende Wis-
– etwa des ›Neokonservatismus‹ – gefährdet. Den- sen, die von ihnen genutzten Arbeitsmittel sowie die
noch hält Habermas an der grundsätzlichen Mög- Instrumente ihrer Qualifikation und Koordination
lichkeit einer solchen Selbststeuerung über Recht bestimmen die Institutionen und Mechanismen, die
und Politik fest (FG); ja er sieht in ihrer Verwirkli- festlegen, wer auf welche Weise Zugang zu den Pro-
chung sogar eine Grundbedingung weiterer gesell- duktionsmitteln hat (etwa wer sie besitzt) und wie
schaftlicher Evolution. »Der juristische Begriff der der gesellschaftlich erzeugte Reichtum verteilt wird
Selbstgesetzgebung muss eine politische Dimension (die Produktionsverhältnisse). Phänomene wie das
gewinnen und zum Begriff einer demokratisch auf Recht und die Moral wiederum dienen dazu, die je-
sich selbst einwirkenden Gesellschaft erweitert wer- weils spezifischen Produktionsverhältnisse zu recht-
den. Dann erst kann aus den existierenden Verfas- fertigen und als notwendig auszuzeichnen und neh-
sungen das reformistische Projekt der Verwirkli- men deswegen häufig einen ideologischen Charakter
chung einer ›gerechten‹ oder ›wohlgeordneten‹ Ge- an (so werden sie zum Überbau). Eine historische
9. Historischer Materialismus 321

Dynamik gewinnt dieses Modell in dem Augenblick, In den Augen mancher Interpreten wird Marx da-
in dem davon ausgegangen wird, dass sich die Pro- mit von den Füßen auf den Kopf gestellt (Tomberg
duktivkräfte entfalten, ohne dass sich die ihnen zu- 2003, 84). Gleichwohl hält Habermas am Modell des
nächst entsprechenden Produktionsverhältnisse historischen Materialismus fest, und zwar aus zwei
ebenfalls wandeln. Diese Verhältnisse werden dann Gründen: Zum einen geht er davon aus, dass die
zu »Fesseln« der Produktivkräfte, woraus sich soziale normativen Strukturen zwar in »logischer« Hinsicht
Revolutionen ergeben können, die zur Überwindung einer autonomen Entwicklung folgen, aber zumin-
der überkommenen Produktionsverhältnisse führen. dest in ihrer spezifischen kapitalistischen »Entwick-
Vor allem in den 1970er Jahren hat Habermas die- lungsdynamik« sieht er sie sehr wohl als Reaktionen
ses materialistische Modell der geschichtlichen Ent- auf »ökonomisch« bedingte Systemprobleme (RHM,
wicklung unter Verwendung neuer Begrifflichkeiten 12). An welchen Punkten also das in Weltbildern
rekonstruiert und damit zugleich modifiziert. We- verdichtete moralisch-praktische Bewusstsein seine
sentlich für diese modifizierende Rekonstruktion ist produktivkraftsteigernde Rolle spielen kann, ent-
dabei die Annahme einer von der Produktivkraftent- scheidet sich an den jeweiligen ökonomischen He-
faltung unabhängigen Entwicklung des »moralisch- rausforderungen, für die Lösungen gefunden werden
praktischen Bewußtseins«, die einer »eigenen Lo- müssen: »Kultur bleibt«, so Habermas, »ein Über-
gik« folge (RHM, 163). Überbauphänomene wie die bauphänomen« (ebd.). Zum anderen nimmt Haber-
Moral und das Recht werden damit aus ihrer Abhän- mas an, dass jede Deutung der Gegenwartsgesell-
gigkeit von ökonomisch-materiellen Prozessen be- schaft und ihrer möglichen Wandlungen nur dann
freit und verlieren damit letztlich ihren bloß die je empirisch triftig sein kann, wenn sie weiß, auf wel-
aktuellen Verteilungsverhältnisse legitimierenden che historischen Herausforderungen diese Gesell-
ideologischen Charakter. Ist diese grundsätzliche schaft reagiert hat, was impliziert, dass alle Aussagen
Abkehr von einer wesentlichen marxistischen Dok- über die Gegenwartsgesellschaft an einer »instruk-
trin erst einmal vollzogen, kann Habermas in einem tiven Theorie der gesellschaftlichen Entwicklung«
nächsten Schritt seiner Rekonstruktion sogar die kontrolliert werden müssen (RHM, 41). Um ein sol-
»normativen Strukturen« als »Schrittmacher der so- ches Entwicklungsmodell zu gewinnen, kombiniert
zialen Evolution« bezeichnen (RHM, 35), weil die Habermas Annahmen des strukturalistischen Mar-
Fortschritte des technisch-instrumentellen Wissens, xismus (Godelier 1973), des soziologischen Struk-
die sich im Schoße der Produktivkraftentfaltung turfunktionalismus (Habermas/Luhmann 1971) und
»endogen« ergeben, erst dann implementiert wer- der ontogenetischen Erkenntnispsychologie (Piaget
den können, wenn sie auf einen institutionellen Rah- 1973). Das typische evolutionäre Szenario sieht dann
men treffen, in dem die mit ihnen einhergehenden wie folgt aus: Im Basisbereich der Gesellschaft (der
potentiell effizienteren Arbeitsweisen rechtlich und erst im Kapitalismus ausschließlich ökonomisch
moralisch abgesichert werden. So können bestimmte strukturiert ist) entstehen Probleme, die im Rahmen
klassenstrukturierte Rollenverteilungen, die nötig der gegebenen Ordnung nicht mehr gelöst werden
sind, um Arbeitsvorgänge zu optimieren (die einen können. So mag eine an Ackerbau orientierte Ge-
bedienen die Instrumente, die anderen überwachen meinschaft aus kontingenten Gründen ein Bevölke-
sie, wieder andere sind Eigentümer der Instru- rungswachstum erleben, das zu einer Verknappung
mente), nur dann gelingen, wenn eine Herrschafts- der Lebensmittel führt. Dieses Problem wird von
position eingerichtet und als legitim anerkannt wird, Habermas als bestandsgefährdendes krisenhaftes
die über die militärischen und juristischen Mittel »Systemproblem« bezeichnet, das nach Neuerungen
verfügt, um mögliche Konflikte zwischen den Klas- im Bereich der Produktivkräfte und der sozialen In-
sen zu schlichten. Erst in dem Maße also, in dem sich tegration verlangt. Sowohl das Produktivkraftwissen
Konfliktschlichtung über allgemein anerkannte und als auch das moralisch-praktische Wissen haben sich
nicht an kontingente Machtdifferentiale gekettete je unabhängig voneinander entfaltet, indem etwa
Rechtsnormen vollzieht, können die gegebenenfalls zunächst einzelne Subjekte auf kreative Weise Prob-
unabhängig gewonnenen Verbesserungen des tech- lemlösungen entwickelt haben, die zwar in kollek-
nisch-instrumentellen Wissens praktisch folgenreich tive Wissensstrukturen eingehen können, aber erst
umgesetzt werden, so dass die reale Steigerung der unter dem Druck einer konkreten ökonomischen
Produktivkräfte aus institutionalisierten Wandlun- Herausforderung und, wie gesehen, unter Leitung
gen des moralisch-praktischen Bewusstseins »resul- des moralisch-praktischen Wissens tatsächlich zur
tiert« (RHM, 162). Lösung vorhandener Bestandsgefährdungen heran-
322 IV. Begriffe

gezogen werden. Ist dies aber der Fall, haben Gesell- lerweile vollzogene Akzeptanz des Kapitalismus als
schaften »gelernt«, mit einer Herausforderung um- alternativloses System der materiellen Reproduktion
zugehen und können folglich beanspruchen, ein hö- die ursprüngliche Theorie des historischen Materia-
heres Entwicklungsniveau erreicht zu haben. lismus ihres teleologischen Stachels (Sozialismus als
Mit dieser begrifflich neu gefassten Rekonstruk- Endstadium) beraubt zu haben. Andererseits werfen
tion des historischen Materialismus glaubt sich Ha- empirisch beobachtbare Prozesse wachsender öko-
bermas vom »geschichtsphilosophischen Ballast« nomischer Ungleichheit im nationalen und interna-
der Kritischen Theorie der 1930er Jahre verabschie- tionalen Bereich, die Entrechtlichung der Kriegsfüh-
den zu können (TKH II, 562). Je stärker Autoren wie rung etc. ein düsteres Licht auf die These evolutionär
Horkheimer, Adorno oder Marcuse das überlieferte notwendiger Fortschritte. Sie wird selbst von Haber-
Vernunftpotential der bürgerlichen Kultur unter mas kaum noch offensiv vertreten, ohne dass deut-
dem Einfluss totaler Bürokratien und wachsender lich würde, was daraus für die kritische Analyse der
Ökonomisierungen schwinden sehen, desto gerin- Gegenwartsgesellschaft folgt. Mit Blick auf das nor-
ger werden die Chancen, dieses Vernunftpotential mative Bewusststein als »Schrittmacher« der sozia-
überhaupt noch empirisch auszuweisen (ebd., 561). len Evolution ergibt sich eine eigentümliche Span-
Habermas’ Theorie der sozialen Evolution dagegen nung zur gleichzeitig konstatierten Kolonialisierung
setzt von Anfang an auf ein höheres Abstraktions- der Lebenswelt. Je weiter diese Kolonialisierung vor-
niveau, indem die Sprache von Lernprozessen zu- anschreitet, desto unklarer muss werden, in welchem
nächst nicht an konkrete geschichtliche Bewegungen Maße ökonomisch induzierte Systemkrisen durch
gebunden wird und indem mit Hilfe eines funktio- Implementierung autonom erzielter Lernfortschritte
nalistischen Vokabulars die jeweiligen Herausforde- der Moral und des Rechts abgefedert werden kön-
rungen oder Systemprobleme der Gesellschaften nen (Allen 2008). Wenn das kommunikative Poten-
nicht zwangsläufig ökonomistisch verengt werden tial der Vernunft, das abstrakt jederzeit rekonstruiert
müssen. Auch wenn für den organisierten Kapitalis- werden kann, empirisch seinen Ort verliert, droht
mus westlicher Provenienz das Wirtschaftssystem die Theorie in eine Art Nostalgie der Rekonstruk-
und die in ihm erzeugten Krisen eine gewisse evolu- tion zu verfallen.
tionäre Führungsrolle beanspruchen, gilt das nicht
für den bürokratischen Sozialismus. Hier ist es eher Literatur
das Unvermögen der staatlichen Apparate, ein be- Allen, Amy: »Empowering the Lifeworld?« In: Dies.: The
stimmtes Anspruchsniveau der Bevölkerung zu er- Politics of Our Selves. Power, Autonomy, and Gender in
füllen, das Krisen nach sich ziehen kann (ebd., Contemporary Critical Theory. New York 2008, 96–122.
563 ff.). Godelier, Maurice: Ökonomische Anthropologie. Untersu-
Mit der Einführung der Lebensweltkategorie in chungen zum Begriff der sozialen Struktur primitiver Ge-
sellschaften. Hamburg 1973 (frz. 1973).
der Theorie des kommunikativen Handelns kompli-
Habermas, Jürgen/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesell-
ziert sich das Analyseraster, aber Habermas hält am schaft oder Sozialtechnologie. Was leistet die Systemfor-
evolutionären Modell der Gesellschaftsentwicklung schung? Frankfurt a. M. 1971.
und auch an den marxistischen Begriffen ›Basis‹ und Marx, Karl: Zur Kritik der politischen Ökonomie. In: Ders./
›Überbau‹ fest. Die evolutionären Impulse für sozia- Friedrich Engels: Werke. Bd. 13. Berlin 1985.
len Wandel, etwa für die Ausdifferenzierung des Piaget, Jean: Das moralische Urteil beim Kinde. Frankfurt
a. M. 1973 (frz. 1930).
Wirtschafts- und des Herrschaftssystems, gehen Tomberg, Friedrich: Habermas und der Marxismus. Zur
»vom Bereich der materiellen Reproduktion« aus Aktualität einer Rekonstruktion des historischen Materia-
(TKH II, 251). Mehr noch, in dem Maße, in dem öko- lismus. Würzburg 2003.
nomische und herrschaftszentrierte Imperative in Martin Hartmann
die Lebenswelt, die sie auf der Grundlage ihrer Rati-
onalisierung erst ausdifferenziert hat, eindringen,
wird es möglich, unter dem Stichwort einer »Para-
doxie der gesellschaftlichen Rationalisierung« eine
Art Selbstwidersprüchlichkeitsthese für den Kapita-
lismus zu skizzieren (ebd., 277). Trotz dieser Bezüge
auf das marxistische Erbe aber lässt die Reformulie-
rung des historischen Materialismus durch Haber-
mas viele Fragen offen. So scheint einerseits die mitt-
323

10. Ideologie Im Rahmen der methodologischen Auseinander-


setzungen mit Psychoanalyse (EI, 262–352; TW, 158)
und Hermeneutik (LSW 1982, 331–366) gelingt es
Der Begriff der Ideologie besetzt eine mehrdeutige Habermas, die ideologiekritische Frage als Untersu-
Stelle im Gesamtbild der Schriften von Habermas. chung der »Bedingungen systematisch verzerrter
Prominent ist er als eine der zentralen Kategorien Kommunikation« (ebd., 359) zu reformulieren. Die-
der Theoriegeschichte des Marxismus und vor allem ses Projekt wird von ihm bekanntlich in der Form ei-
der Schriften der frühen Kritischen Theorie in den ner großangelegten, zugleich sprachphilosophisch
frühen Arbeiten. Zentral bleibt er im Zusammen- wie sozialtheoretisch fundierten Theorie des kom-
hang der Auseinandersetzungen um den ›Spätkapi- munikativen Handelns eingelöst, in welcher dann –
talismus‹ und die Frage nach einer angemessenen gewissermaßen nach der reinigenden ›Rekonstruk-
politisch-soziologischen Zeitdiagnose. Im Zuge der tion des Historischen Materialismus‹ – der Ideolo-
kommunikationstheoretischen Transformation und giebegriff keine explanatorische Rolle mehr spielt.
Reformulierung des Programms einer kritischen Der subjektphilosophische Ballast und die vielfach
Theorie der Gesellschaft verliert sich seine Spur al- beschworene »Brüchigkeit der geschichtsphiloso-
lerdings zunehmend; und in den späten Schriften phischen Grundlagen« (TKH II, 561) der Ideologie-
bleibt sein Gebrauch sporadisch und eher okkasio- und Kulturkritik der älteren Kritischen Theorie le-
nell (vgl. Habermas 2008). gen es für Habermas nahe, an deren Stelle eine The-
Die frühen Aufsätze zum Marxismus, zur politi- orie der Krisen und Pathologien der ›Lebenswelt‹ zu
schen Theorie und Sozialphilosophie (etwa in Theo- setzen. In diesem Sinne ›pathologisch‹ wären jene
rie und Praxis) referieren sachlich den Traditionsbe- zunächst verständnisorientierten Kommunikatio-
stand der marxistischen Ideologienlehre. Aber schon nen (und Selbstverständnisse) zu nennen, die von
in der Habilitationsschrift korrigiert Habermas – wie strategischen Interaktionen (und Selbstverhältnis-
schon Horkheimer, Adorno und Marcuse in den sen) überformt werden (ebd., 275–279, 470–488,
Gründungstexten der Kritischen Theorie in den 520–522).
1930er Jahren – die vulgärmarxistische Reduktion In Habermas’ Werk bleibt also die ideologiekriti-
bürgerlicher Ideale auf reine Klasseninteressen. sche Problematik, nämlich der kritische Hinweis auf
Schon das in den bürgerlich-aufklärerischen Gesell- die möglichen Spuren der Macht im Wissen und im
schaften nur partiell realisierte Prinzip der Öffent- Selbstverstehen, in einer neuen Beschreibung erhal-
lichkeit ist »Ideologie und zugleich mehr als bloße ten. Es ist allerdings fraglich, welche Folgen die in
Ideologie« (SÖ 1990, 159). Im Titel des berühmten dieser kommunikationstheoretischen Transforma-
Aufsatzes »Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹« tion impliziten und starken rationalitätstheoreti-
von 1968 sind die Anführungszeichen entscheidend: schen Annahmen bezüglich der kommunikativen
Der traditionelle Ideologiebegriff kann wegen der er- Kompetenzen moderner Subjekte haben. Die Erfas-
folgreichen Rationalisierung und veränderten Ge- sung einer systematischen Tiefenverzerrung ganzer
stalt der spätkapitalistischen Gesellschaften »nicht Vokabulare und Sichtweisen und der ›Einschrei-
mehr umstandslos angewendet werden« (TW, 84); bung‹ von Heteronomie in Subjektivitäten schließt
eine »neue Ideologie« stellt sich weniger als strate- dieser Rahmen eher aus. Außerdem scheint die Mög-
gisch von einer Klasse indiziertes ›falsches Bewusst- lichkeit, dass quasi-ideologische Verhärtungen und
sein‹ dar, wie es Marcuse noch vorgeschlagen hatte, Fixierungen sogar mit aktiver Beteiligung der Sub-
denn als entpolitisierende Unterwerfung des gesell- jekte affektiv besetzt und in erhaltungsfähige Le-
schaftlichen Lebens unter die »verdinglichten Mo- bensformen überführt werden können, aus dieser
delle« (ebd., 91) des wissenschaftlich-technischen Perspektive kaum mehr erläuterbar; und schließlich
Wissens. »Das legitimatorische System« (LS, 54) des dürfte sich eine solche Möglichkeit radikaler ideolo-
Spätkapitalismus gerät nicht zuletzt deshalb in eine gischer Verstrickung der theorieimmanent strikten
schwere Krise, weil »Traditionsbestand« und »Kern- Dichotomie zwischen Macht und Geltung nur
bestandteile der bürgerlichen Ideologie« (ebd., 71) schwer fügen.
ihre apologetische Rolle nicht mehr spielen können. Habermas’ philosophischem, dem Vernunftpessi-
Auch die moderne »Leistungsideologie« (ebd., 113) mismus der Vertreter der älteren Kritischen Theorie
steht zu offensichtlich im Widerspruch zu den fakti- (DM, 130–157; ND, 35–60) dezidiert entgegengesetz-
schen gesellschaftlichen Erfolgsbedingungen, als dass ten Optimismus der kommunikativen Vernunft ent-
sie unbefragte Glaubwürdigkeit erlangen könnte. spricht in seiner politischen Theorie ein Vertrauen
324 IV. Begriffe

auf die vernunftverbürgende Kraft pluralistischer Das Habermas’sche Werks teilt trotz seiner Verab-
demokratischer Öffentlichkeiten. Die Diskurstheo- schiedung von der Ideologiekritik mit jenen Varian-
rie der Demokratie rechnet mit »der höherstufigen ten eines ›Post-Marxismus‹ den grundlegenden Rah-
Intersubjektivität von Verständigungsprozessen« men einer Theorietradition, die sich dem Denken
(EA, 288), da demokratische Politik »in einem inter- mit und nach Marx verpflichtet weiß.
nen Zusammenhang mit den Kontexten einer entge-
genkommenden, ihrerseits rationalisierten Lebens- Literatur
welt« (ebd., 292) steht. Aber diese Vernünftigkeit der Allen, Amy: The Politics of Our Selves: Power, Autonomy,
modernen Lebensformen ist offensichtlich bloß vor- and Gender in Contemporary Critical Theory. New York
ausgesetzt. Dass Öffentlichkeit als eine »Kommuni- 2008.
kationsstruktur, die über ihre zivilgesellschaftliche Biebricher, Thomas: Selbstkritik der Moderne. Foucault und
Basis in der Lebenswelt verwurzelt ist« (FG, 435), Habermas im Vergleich. Frankfurt a. M./New York 2005.
Bohman, James: »Formal Pragmatics and Social Criticism:
verstanden werden muss, könnte auch heißen, dass
The Philosophy of Language and the Critique of Ideo-
auf diesem Weg gerade alle Parteilichkeiten und Un- logy in Habermas’s Theory of Communicative Action«.
versöhnlichkeiten des Sozialen ins Politische trans- In: Philosophy & Social Criticism 11. Jg., 4 (1986), 331–
poniert werden. Es könnte also sein, dass die politi- 353.
sche Form der Demokratie gerade keinen Ausweg Celikates, Robin: Kritik als soziale Praxis. Gesellschaftliche
Selbstverständigung und kritische Theorie. Frankfurt
aus der immer aufs Neue verzerrenden und zerrei-
a. M./New York 2009.
ßenden Dynamik politischer Artikulation bietet und Cooke, Maeve: Re-Presenting the Good Society. Cambridge/
dass die demokratische Auseinandersetzung als sol- London 2006.
che immer auf eine gewisse Weise ›ideologisch‹ Habermas, Jürgen: »Überlegungen zur Kommunikations-
bleibt. pathologie« [1974]. In: Ders.: Vorstudien und Ergänzun-
So bleibt die Frage, ob sich eine solche Theorie gen zur Theorie des kommunikativen Handelns. Frank-
furt a. M. 1984, 226–270.
der gelingen könnenden Moderne einem grundsätz- –: »Nach dem Bankrott«. Interview von Thomas Assheuer.
lichen Zweifel an der Herrschaftsfreiheit der ver- In: DIE ZEIT Nr. 46, im Internet unter: http://www.zeit.
nünftigen Kommunikation nicht stellen will oder ob de/2008/46/Habermas (6.11.2008).
sie befürchten muss, sich ihn nicht leisten zu kön- Iser, Mattias: Empörung und Fortschritt. Zur Idee einer
nen. Die zunehmende Marginalisierung des Ideolo- rekonstruktiven Gesellschaftskritik. Frankfurt a. M./New
York 2008.
giebegriffs könnte ein Symptom dafür sein, dass ihm Jaeggi, Rahel: »Was ist Ideologiekritik?« In: Dies./Tilo We-
eine grundsätzlich vergröbernde – vielleicht selbst sche (Hg.): Was ist Kritik? Frankfurt a. M. 2009, 266–
›ideologische‹ – Kraft zugesprochen wird, mit der 295.
sich diese Theorie nicht belasten will, der sie selbst Laclau, Ernesto: On Populist Reason. London 2005.
aber wiederum nur um den Preis komplexer – und Žižek, Slavoj (Hg.): Mapping Ideology. London 1994.
Martin Saar
ebenfalls ›ideologischer‹ – Operationen entkommen
kann.
Habermas’ negative Fixierung auf die totalisieren-
den Varianten der Ideologiekritik, wie er sie vor al-
lem ausgehend von Motiven der älteren Kritischen 11. Intellektuelle
Theorie und dem strukturalistischen Marxismus
prominent geworden sieht, hat zudem seine Ausein-
andersetzung mit neueren Varianten der Subjekt- Der Intellektuelle hat, motiviert durch bestimmte
und Ideologietheorie systematisch verhindert, wie normative Überzeugungen, gleichzeitig einen Sinn
sie etwas im Anschluss an Gramsci und Althusser für das, was ist und für das, was anders sein könnte.
von Fredric Jameson und Slavoj Žižek, aber auch – Er verbindet, in anderen Worten, was Robert Musil
mit deutlichen Implikationen für eine Theorie der »Wirklichkeitssinn« und »Möglichkeitssinn« nennt
›radikalen Demokratie‹ – von Chantal Mouffe, Er- (Musil 1984, 16). Zwar hat jeder Intellektuelle einen
nesto Laclau und Judith Butler entwickelt wurden. Sinn für das, was der Fall ist und was anders sein
Den Preis dieser verpassten Gelegenheit könnte man könnte, aber nicht jeder findet eine Balance zwi-
unterschiedlich bewerten. Er besteht aber nicht zu- schen beiden: Während der eine als selbsterklärter
letzt darin, dass diese fehlenden Bezugnahmen und Realist zuviel Wirklichkeitssinn besitzt, verfügt der
die darin impliziten Abgrenzungen unkenntlich ge- andere als weltfremder Idealist über zuviel Möglich-
macht haben, worin die Gemeinsamkeiten bestehen: keitssinn.
11. Intellektuelle 325

Jürgen Habermas gehört zu den wenigen Philoso- pus des Intellektuellen, der diesem Ideal nicht ge-
phen und Soziologen, die sowohl in ihren Schriften recht wird. Der Idealtypus zeichnet sich durch ein
über Intellektuelle als auch in ihren intellektuellen fallibilistisches Bewusstsein und einen Spürsinn für
Interventionen zwischen Wirklichkeitssinn und relevante Themen aus. Beides erfordert bestimmte
Möglichkeitssinn eine Balance suchen – und meis- Tugenden:
tens auch finden. Habermas versteht unter einem In-
»Eine argwöhnische Sensibilität für Versehrungen der nor-
tellektuellen jemanden, der sich an die Öffentlich- mativen Infrastruktur des Gemeinwesens; die ängstliche
keit richtet, um »sich mit rhetorisch zugespitzten Ar- Antizipation von Gefahren, die der mentalen Ausstattung
gumenten für verletzte Rechte und unterdrückte der gemeinsamen politischen Lebensform drohen; den
Wahrheiten, für fällige Neuerungen und verzögerte Sinn für das, was fehlt und ›anders sein könnte‹; ein biß-
Fortschritte« einzusetzen (ASA, 29). Auf der Basis chen Phantasie für den Entwurf von Alternativen; und ein
wenig Mut zur Polarisierung, zur anstößigen Äußerung,
universalistischer Werte, allen voran demokratischer
zum Pamphlet« (AE, 84).
Prinzipien und Menschenrechte, beurteilt der Intel-
lektuelle, was in der gegebenen Wirklichkeit verän- Der Idealtypus des Intellektuellen fungiert als eine
dert werden muss und kann. Art Platzhalter universalistischer Werte, die den nor-
In den meisten Fälle machen Intellektuelle als mativen Gehalt der Moderne ausmachen und als
Staatsbürger ungefragt »von ihrem beruflichen Wis- Grundlage für Kritik am status quo dienen. In
sen jenseits ihrer Profession einen öffentlichen Ge- Deutschland trat dieser Typus erst nach 1945 all-
brauch« (AE, 80). Auch Staatsbürger, die nicht über mählich in Erscheinung. Als radikaler Aufklärer war
professionelles Wissen verfügen, können sich in der Heinrich Heine, wie Habermas zeigt, ein einsamer
Öffentlichkeit kritisch zu Wort melden. Da es gegen- Vorläufer dieses Intellektuellen: Er wurde ins franzö-
wärtig in öffentlichen Debatten meist um hochkom- sische Exil getrieben und fiel in einer Weise der Zen-
plexe Sachfragen und mindestens ebenso schwierige sur zum Opfer, dass er fast gar keinen Einfluss auf
normative Fragen geht, ist es de facto eher selten, eine in Deutschland noch kaum entwickelte Öffent-
dass Laien medienwirksam Stellung nehmen kön- lichkeit nehmen konnte.
nen. Obwohl Laien zu schwierigen normativen Fra- Vor 1945 wird der Begriff des Intellektuellen in
gen (wie Stammzellenforschung, Sterbehilfe, usw.) Deutschland vorwiegend abwertend verwendet,
engagiert Stellung nehmen, findet ihre Stimme in weshalb Intellektuelle sich meistens als ›Geistige‹ be-
den von Experten und Politikern dominierten öf- zeichneten (Bering 1978). Zwischen den Weltkrie-
fentlichen Debatten nur wenig Gehör. Daher gibt es gen tritt durch eine Entgegensetzung von Geist und
ein ernstzunehmendes Spannungsverhältnis zwi- Macht der Typus des Intellektuellen auf, der es nicht
schen Expertokratie und Demokratie. sein will und der wiederum durch fünf Gruppierun-
Ein Wissenschaftler, der ausgestattet mit professi- gen repräsentiert wird (ASA, 33 f.). Zunächst sind die
onellem Wissen, in eine öffentliche Kontroverse ein- Unpolitischen unter den Schriftstellern und die
greift, erfüllt nach Habermas eine andere Rolle als Mandarine unter den Gelehrten der Meinung, dass
ein Wissenschaftler, der sich nur in spezialistische Geist und Macht so voneinander getrennt sind, dass
Debatten unter Kollegen einmischt. Habermas un- Intellektuelle mit der Politisierung des Geistes einen
terscheidet ausdrücklich zwischen der Rolle des In- Willen zur Macht an den Tag legen, der zum Verrat
tellektuellen und der des Wissenschaftlers. Während an Kreativität und Bildung führt. Andere, wie zum
ein Wissenschaftler sich mit seinen Kollegen darü- Beispiel Max Weber, meinen, dass Berufspolitiker
ber verständigt, wie ein bestimmter Teil der Wirk- mit ihrer auf fachlicher Kompetenz beruhenden
lichkeit zu deuten oder zu erklären ist, versucht der Macht durch die Inkompetenz der Repräsentanten
Intellektuelle, nicht nur auf Basis seines Wissens, des Geistes, allen voran Philosophen und Schriftstel-
sondern auch seiner normativen Überzeugungen auf ler, behindert werden. Drittens gibt es Aktivisten
die Meinungs- und Willensbildungsprozesse einzu- und Expressionisten, die sich vermittelt durch ihren
wirken. Wer beide Rollen nicht klar auseinanderhält, bildungselitären Zugriff auf das Geistesleben als po-
riskiert, so Habermas, seine wissenschaftliche Repu- litische Avantgarde sehen und eine eigene Machtpo-
tation. sition innerhalb der Politik beanspruchen, die weit
Habermas verfolgt mit seinen Reflexionen über von egalitären Idealen entfernt ist. Demgegenüber
Intellektuelle sowohl präskriptive als auch deskrip- beanspruchen viertens Parteiintellektuelle keine ei-
tive Ziele; er skizziert nicht nur den Idealtypus des gene Machtposition, sondern ordnen sie sich dem
Intellektuellen, sondern er beschreibt auch jenen Ty- Parteiapparat unter, weil sie im Sonderstatus des In-
326 IV. Begriffe

tellektuellen einen Klassenverrat sehen. Und schließ- schung von Diskurs und Selbstdarstellung hat die
lich sehen Rechtsintellektuelle in Intellektuellen die- Entdifferenzierung und Angleichung der Rollen von
jenigen, die Verrat am Geist des Volkes begehen, den Politikern und Intellektuellen zur Folge, d. h. die
sie zu repräsentieren, nicht aber zu kritisieren ha- Verwechslung einer auf Images beruhenden politi-
ben. schen Macht und des diskursiv herbeigeführten in-
Abgesehen von Intellektuellen, die es gar nicht tellektuellen Einflusses (AE, 83). Der Spielraum von
sein wollen, spricht Habermas noch von Gegenin- Intellektuellen wird auch durch Auswüchse der Me-
tellektuellen. Der Typus des Gegenintellektuellen dienmacht bedroht, d. h. die Macht der Akteure, in-
zeichnet sich vor allem dadurch aus, dass er »die be- nerhalb der Medien durch Auswahl und Präsenta-
reits institutionalisierte Rolle des Intellektuellen [als] tion politisch relevanter Themen die Meinungs- und
gesellschaftliche Pathologie darstellt« (ASA, 50). Da- Willensbildung einseitig zu gestalten.
mit ist gemeint, dass sich der Intellektuelle im Kon- Trotz einer durch das Internet induzierten Frag-
text eines entwickelten modernen Verfassungsstaa- mentierung der Öffentlichkeit, der Entdifferenzie-
tes für die Meinungs- und Willensbildung engagiert. rung der Rolle von Politikern und Intellektuellen
Mit intellektuellen Mitteln machen Gegenintellektu- und der Auswüchse der Medienmacht sieht Haber-
elle, wie zum Beispiel Helmut Schelsky und Kurt mas für Intellektuelle durchaus Einflussmöglichkei-
Sontheimer, den Intellektuellen ihren Platz in einer ten. Selbst wenn die Gegner der Intellektuellen stra-
demokratischen Öffentlichkeit streitig, da ohne sie tegisch handeln und ihre Medienmacht ausschöp-
die Gesellschaft besser funktionieren würde. Sie ma- fen, kommen sie, wenn sie effizient sein wollen, nicht
chen Intellektuelle dafür verantwortlich, dass sie mit umhin, sich auf bestimmte Spielregeln einzulassen:
ihrer öffentlichen Kritik die Legitimationslasten der »Sie müssen zur Mobilisierung wichtiger Themen,
Regierung vergrößern und den sozialen Zusammen- handfester Tatsachen und überzeugender Argu-
halt unnötig gefährden (Brunkhorst 1987, 133–157). mente beitragen, die ihrerseits kritischer Überprüfung
Um tatsächlich Einfluss auf die Meinungs- und ausgesetzt sind« (AE, 177).
Willensbildung ausüben zu können, sind Intellektu- Im Zuge der Globalisierung hat sich allmählich
elle »auf eine resonanzfähige, wache und informierte eine noch sehr prekäre transnationale Öffentlichkeit
Öffentlichkeit angewiesen« (AE, 80). Vor diesem entwickelt, die es Intellektuellen ermöglicht, über
Hintergrund wirft Habermas die Frage auf, was der nationale Grenzen hinaus ihre kritische Aufmerk-
›Strukturwandel der Öffentlichkeit‹, der durch die samkeit auf Probleme zu richten, von denen viele
immer größer werdende Bedeutung von Medien wie Weltbürger betroffen sind (Beispiel Irakkrieg oder
dem Fernsehen und dem Internet die klassischen Islam in Europa). Auch wenn nicht alle Intellektuelle
Medien wie das Buch, die Zeitung und das Radio Kosmopoliten sind, hat sich dennoch eine Kosmo-
verdrängt, für Intellektuelle bedeutet. politisierung des Intellektuellen vollzogen. Intellek-
Das Internet hat den Spielraum für Intellektuelle tuelle sind unweigerlich sowohl in einer lokalen oder
nicht nur mit interaktiven Elementen erweitert, son- regionalen Gesellschaft und in der Weltgesellschaft
dern ist auch durch »die Entstehung von Millionen eingebunden. Ein Engagement für die von Haber-
von weltweit zerstreuten chatrooms und weltweit mas befürwortete Weltinnenpolitik hieße, dass man
vernetzten issue publics« (AE, 162) fragmentiert. sich mit mindestens zwei Aufgaben auseinander-
Durch diese Fragmentierung geht den nationalen setzt: Zum einen müssten extreme Wohlstandsge-
und transnationalen Öffentlichkeiten gerade jenes fälle der stratifizierten Weltgesellschaft überwun-
Potential verloren, für das das World Wide Web die den, ökologische Ungleichgewichte umgesteuert und
Hardware liefert: die zentripetale Kraft der klassi- kollektive Gefährdungen abgewehrt werden. Zum
schen Öffentlichkeit, die dafür sorgt, dass aus einer anderen sollte eine interkulturelle Verständigung
Vielzahl von Stellungnahmen, die durch ein diffuses mit dem Ziel einer effektiven Gleichberechtigung im
Massenpublikum hervorgebracht wird, öffentliche Dialog der Weltzivilisationen herbeigeführt werden
Meinungen destilliert werden. Für das Fernsehen (NR, 346).
gilt diese Diagnose jedoch nicht in gleicher Weise. Auf den ersten Blick ist kein Begriff des Intellek-
Als Medium, das etwas sichtbar macht, verführt das tuellen dem hier rekonstruierten so entgegengesetzt
Fernsehen Intellektuelle unweigerlich dazu, sich wie der von Michel Foucault. So wird oft suggeriert
nicht nur mit Rede und Antwort diskursiv an Talk- (Tully 1998, 116; Maes 2002, 223; Bühl 2003), Ha-
shows und Kulturprogrammen zu beteiligen, son- bermas’ Idealtypus des Intellektuellen entspräche
dern sich auch selbst darzustellen. Diese Vermi- dem von Foucault aufs Abstellgleis gesetzten univer-
11. Intellektuelle 327

sellen Intellektuellen, der im Besitz der Wahrheit ist etablieren sollte. Zweitens findet bei Foucault eine
und sich im Namen von universellen Werte als Für- Einebnung zwischen Wahrheit und Macht statt, mit
sprecher für die Rechte unterprivilegierter und mar- dem Ergebnis, dass beide Begriffe einen Teil ihres
ginalisierter Menschen einsetzt. Foucault zufolge hat kritischen Stachels verlieren. Der späte Foucault kor-
sich dieser Typus des Intellektuellen überholt, da rigiert sich diesbezüglich mit einem Plädoyer für die
sich nach dem Zweiten Weltkrieg der von ihm favo- Praxis der Parrhesia: die Freimütigkeit, denjenigen,
risierte spezifische Intellektuelle herausgebildet hat, die die Macht haben, die Wahrheit zu sagen (Fou-
d. h. der Experte, der sein spezifisches Wissen für cault 1988).
den Machtkampf innerhalb seines eigenen Arbeits- Auf diese Weise nähert sich Foucault dem
felds einsetzt (1978, 46). In einer Gesellschaft, die Habermas’schen Idealtypus des Intellektuellen stär-
von Machtverhältnissen durchdrungen ist, ist es ker an, als ihm wahrscheinlich lieb ist – zumal Par-
Aufgabe der Intellektuellen, eine Gegenmacht zu bil- rhesia für ihn bedeutet, dass man den Machtsmiss-
den. Im Gegensatz zu Intellektuellen à la Sartre, die brauch kritisiert (Eribon 1991, 400). Auch teilen
sich ›in Dinge einmischen, die sie nichts angehen‹, beide den Gedanken, dass Kritik darin besteht, Mög-
maßt der spezifische Intellektuelle sich nicht an, im lichkeiten für andere Verhältnisse aufzuspüren. Den-
Namen von Wahrheit und Gerechtigkeit zu urteilen. noch würde Foucault den von Habermas vorgenom-
Die Irreflexivität des universellen Intellektuellen be- menen Unterschied zwischen Einfluss und Macht
steht nach Foucault darin, dass er meint, seine Ideen nicht unterschreiben. Nach Habermas sollte man die
von Wahrheit und Gerechtigkeit seien nicht von der Einflussnahme auf die Öffentlichkeit von der Verfü-
Macht kontaminiert. Dahingegen geht der spezifi- gung über politische Macht unterscheiden (ASA, 35).
sche Intellektuelle selbstreflexiv davon aus, dass Ein Intellektueller handelt kommunikativ und nicht
seine öffentlichen Interventionen immer eine Form strategisch, möchte durch den öffentlichen Ge-
der Machtausübung sind. brauch der Vernunft die kommunikative Rationali-
Obwohl des Öfteren suggeriert, entspricht Haber- tät zur Geltung bringen und strebt nicht eine Macht-
mas’ Begriff des Intellektuellen keineswegs Foucaults position innerhalb des politischen Systems an.
universellen Intellektuellen. Erstens verbietet Haber- Zwar gibt es gute Gründe, die Angleichung von
mas’ Diskurstheorie der Wahrheit davon auszuge- Einfluss und Macht zu kritisieren, es wäre jedoch
hen, dass ein Intellektueller im ›Besitz‹ der Wahrheit verkehrt, die öffentlichen Interventionen von Intel-
sein kann. Nicht der Status einer Person ist Krite- lektuellen auf eines von beiden zu beschränken. Der
rium für die Einlösung eines Wahrheitsanspruches, Unterschied zwischen Einfluss und Macht geht auf
sondern ihre diskursive Einlösbarkeit. Zweitens eine kategoriale Trennung zwischen kommunikati-
schließen Habermas’ radikaldemokratische Ansich- vem und strategischem Handeln zurück. Aber kann
ten aus, dass ein Intellektueller ein Fürsprecher für immer klar ausgemacht werden, ob eine bestimmte
Andere ist. Als Fürsprecher würde ein Intellektueller intellektuelle Intervention verständigungsorientiert
zu sehr an dem überholten Begriff des mit einem oder zweckorientiert ist? Sind Einflussnahme und
Erkenntnisprivileg ausgestatteten Philosophen erin- Machtsausübung nicht einfach zwei Perspektiven,
nern, der die Rolle des Platzanweisers für Andere unter denen das Engagement von Intellektuellen
einnimmt. Sogar Sartre kann nicht eindeutig als analysiert werden kann? Geht es nicht um einen gra-
universeller Intellektueller bezeichnet werden duellen statt einen kategorialen Unterschied?
(Brunkhorst 1990). Diese Ambivalenz ist darauf zu- In öffentlichen Debatten verschränken sich
rückzuführen, dass er Intellektuellen einerseits einen durchwegs das kommunikative und strategische
privilegierten, an Platons Konzeption des Philoso- Handeln von Intellektuellen, und es lassen sich Ein-
phenkönigs erinnernden Zugang zur Wahrheit zu- fluss und Macht nur schwer voneinander trennen.
schreibt, andererseits jedoch davon ausgeht, dass je- Außerdem geht es in diesen Debatten eher um ein
der Mensch als ein zur Freiheit verurteiltes Wesen verständigungsorientiertes als um einverständniso-
sein Leben autonom gestalten soll. rientiertes Handeln, und so verstehen die Kontra-
Foucaults Konzeption des Intellektuellen ist in henten,
zweierlei Hinsicht problematisch. Erstens, so führt
Habermas in Der philosophische Diskurs der Mo- »daß der andere im Lichte seiner Präferenzen unter gege-
benen Umständen für die erklärte Absicht gute Gründe
derne aus, bleibt der Grund für eine Gegenmacht im hat, d. h. Gründe, die für ihn gut sind, ohne daß sich der an-
Dunkeln (DM, 333). So bleibt unklar, auf Basis wel- dere diese Gründe im Lichte eigener Präferenzen zu eigen
cher Normen ein Intellektueller eine Gegenmacht machen müsste« (WR, 116 f., Hervorh. i. O.).
328 IV. Begriffe

Habermas ist der Meinung, dass in dieser schwachen Habermas: Recasting the Dialogue between Genealogy
Form von kommunikativem Handeln sich die kom- and Critical Theory. London 1998, 90–142,
René Gabriëls
munikative Rationalität mit der Zweckrationalität
verschränkt. Aber überbrückt er damit nicht die
Kluft, die er zwischen Einfluss und Macht sieht?
Letztendlich ist Habermas’ Idealtypus des Intel-
lektuellen in gewissem Sinne dem des Philosophen 12. Kolonialisierung
ähnlich (MKH, 9–28). Wenn ein Intellektueller bei
seiner Einflussnahme auf die Öffentlichkeit für sei-
nen Standpunkte gute Gründe anbietet, ist er ein Art Das Leitmotiv, das der Kolonialisierungsthese zu-
Platzhalter der Vernunft, verkörpert die kommuni- grunde liegt, bestimmt bereits Habermas’ frühe
kative Rationalität. Vor dem Hintergrund der Aus- Schriften. Stets geht es ihm um jene sozialen Patho-
differenzierung kultureller Sphären ist der Intellek- logien und politischen Blindheiten, die sich ergeben,
tuelle auch ein kritischer Interpret wissenschaftli- wenn instrumentelle Orientierungen, verkörpert vor
cher, moralischer und ästhetischer Ansichten (s. allem in den Strukturen des Kapitalismus, die prak-
Kap. III.9). Was das in der Praxis heißt, hat Haber- tische – oder später: kommunikative – Vernunft ver-
mas als Intellektueller nicht nur in der Bonner und zerren oder gar verdrängen.
Berliner Republik, sondern weit darüber hinaus un- Bereits im Strukturwandel der Öffentlichkeit ver-
ter Beweis gestellt. Ob Historikerstreit, die Debatte steht Habermas den intervenierenden Sozialstaat als
über die Wiedervereinigung oder die Kontroverse Reaktion auf die Funktionsdefizite der kapitalisti-
über den Irakkrieg, jedes Mal hat Habermas gezeigt, schen Wirtschaftsordnung. Die Zweck-Mittel-Ratio-
was mit dem öffentlichen Vernunftgebrauch gemeint nalität, welche die Ökonomie wie auch den Staat
ist. Als Soziologe ist er sich stets bewusst, dass ein In- prägt, unterhöhlt die Bedingungen jener menschli-
tellektueller seine Rolle nur unter bestimmten gesell- chen Redepraxis, die auf Verständigung über Werte
schaftlichen Bedingungen gut erfüllen kann. Somit und Normen abzielt und in den bürgerlichen Öffent-
halten sich bei ihm ›Möglichkeitssinn‹ und ›Wirk- lichkeiten, etwa literarischen Salons, zum ersten Mal
lichkeitssinn‹ die Waage. Das schützt Habermas, im gesellschaftlich relevant wurde. Dieses Motiv setzt
Gegensatz zu vielen anderen Intellektuellen, vor ei- sich in der kritischen Diskussion der in den 1960er
nem bornierten Zynismus ebenso wie vor einem Jahren prominent gewordenen Technokratiethese
weltabgewandten Moralismus. fort. Hier nun spricht Habermas in (vorerst loser)
Anlehnung an die Systemtheorie vom Dominant-
Literatur werden jener »Sub-Systeme zweckrationalen Han-
delns« (TW, 65), die sich aus der Notwendigkeit er-
Bering, Dietz: Die Intellektuellen. Geschichte eines Schimpf-
geben, die materielle Reproduktion der Gesellschaft
wortes. Stuttgart 1978.
Brunkhorst, Hauke: Der Intellektuelle im Land der Manda- durch Arbeit zu gewährleisten. Diese Systeme sollen
rine. Frankfurt a. M. 1987. Habermas zufolge in den normativ geregelten insti-
–: »Ohne Mandat – Sartres Theorie des Intellektuellen«. In: tutionellen Rahmen der Gesellschaft bzw. der Inter-
Ders.: Der entzauberte Intellektuelle. Hamburg 1990, 99– aktion »eingebettet« (ebd.) bleiben.
125.
Erst im Schlussteil der Theorie des kommunikati-
Bühl, Achim: »Die Habermas-Foucault-Debatte neu gele-
sen«. In: Prokla 130 (2003), 256–287. ven Handelns findet sich jedoch die ausgefeilte Ver-
Eribon, Didier: Michel Foucault. Eine Biographie. Frankfurt sion dieser Zeitdiagnose. Die These einer »Koloniali-
a. M. 1991. sierung der Lebenswelt« soll nicht nur die Marx’sche
Foucault, Michel: Dispositive der Macht. Über Sexualität, Verdinglichungskritik aktualisieren, sondern zu-
Wissen und Wahrheit. Berlin 1978. gleich die gegenaufklärerische Auffassung widerle-
–: Das Wahrsprechen des Anderen: Zwei Vorlesungen von
1983/84. Frankfurt a. M. 1988. gen, dass die modernen Pathologien durch den Pro-
Maes, Michael: Diskurs, Macht und Geschichte. Foucaults zess der Rationalisierung selbst verursacht werden
Analysetechniken und die historische Forschung. Frank- (TKH II, 222; DM, 390 ff.). Vielmehr sollen diese Pa-
furt a. M. 2002. thologien von einem Überhandnehmen jener funk-
Musil, Robert: Der Mann ohne Eigenschaften. Gesammelte tionalistischen (und eben nicht nur instrumentellen)
Werke, Bd. 1. Hamburg 1984.
Tully, James: »To Think and Act Differently. Foucault’s Four Rationalität herrühren, die in den Systemen der
Reciprocal Objections to Habermas’ Theory«. In: Sa- staatlichen Bürokratie und der Ökonomie verkörpert
mantha Ashenden/David Owen (Hg.) Foucault contra ist. Innerhalb der Systeme werden Handlungen nicht
12. Kolonialisierung 329

mehr über kommunikatives (und auch nicht über eines rein konsumorientierten (ebd., 480, 583 f.) Le-
strategisches) Handeln koordiniert, sondern über bensstils bedeutet aber nicht nur ein erstarrtes und
Geld und administrative Macht als »entsprach- verarmtes Selbstverhältnis, sondern geht auch mit
licht[en] Kommunikationsmedien« (ebd., 230). dem Verlust jener Kompetenzen und Tugenden ein-
Diese beiden Medien stabilisieren »nicht-intendierte her, die für politische Problemanalysen und -lösun-
Handlungszusammenhänge über die funktionale gen erforderlich sind.
Vernetzung von Handlungsfolgen« (ebd., 226). Diese Dies markiert auch das grundlegende Problem
Form der ›Entsprachlichung‹ ist Habermas zufolge der Kolonialisierung durch die Bürokratie. Die zen-
prinzipiell legitim, da sie aufgrund ihrer Effektivität trale emanzipatorische Rolle kommt nicht – wie
für alle vorteilhaft ist. Zugleich muss sie durch demo- noch bei Marx – dem Arbeiter zu, sondern dem Bür-
kratisch erzeugtes Recht eingehegt werden, weil den ger, der als Autor rechtlicher Regelungen die Ver-
systemischen Mechanismen die Gefahr innewohnt, fasstheit der ökonomischen Sphäre bestimmen soll.
sich zu verselbständigen. In diesem Fall bedrohen sie Weil aber das Recht zugleich das Medium ist, über
die symbolische Reproduktion der Lebenswelt, also das der – angesichts ökonomischer Krisen zur Inter-
die Weitergabe von Sinn (Kultur), die Wahrung soli- vention gezwungene – Sozialstaat auf die privaten
darischer Beziehungen (Gesellschaft) und die Sozia- Lebensumstände der Bürgerinnen und Bürger ein-
lisation ich-starker Individuen (Persönlichkeit). Die wirkt, wächst durch die Ausweitung der Staatsaufga-
Systeme unterminieren dann die kommunikativen ben nicht nur der Korpus des Rechts an, sondern
Grundlagen eben jener Lebenswelt, aus der sie her- auch der Umfang der Verwaltung. Angesichts dieser
vorgegangen sind. Habermas stellt der (rationalisier- Verrechtlichung weist Habermas auf den bürokrati-
ten) Lebenswelt, die das spezifisch moderne Übel schen Vollzug und die monetäre Einlösung der ge-
nicht in sich enthalten soll, also einen externen ›Ver- währten sozialen Hilfen hin. Dieser sozialstaatliche
ursacher‹ in Form der Systeme gegenüber. Paternalismus sei es, der aktive Bürger in passive Kli-
Die Kolonialisierung der Lebenswelt verläuft ent- enten verwandle (ebd., 534). Behörden und Gerichte
sprechend der beiden Subsysteme auf zwei Gleisen, behandeln die Betroffenen oftmals nur als Objekte
nämlich Monetarisierung durch die Ökonomie und und gehen aufgrund überverallgemeinernder Nor-
Bürokratisierung durch den Staat. Weil das ökono- men und mangelnder Kompetenz nicht mehr sensi-
mische System mit dem zentralen Mechanismus des bel auf den jeweiligen Kontext ein (ebd., 544).
Marktes Handlungen über das Geldmedium koordi- Möglich wird dieser Verdinglichungsprozess
niert, wird auch Arbeit notwendigerweise in Geld überhaupt erst (und bleibt auch in der Folge uner-
abgegolten. Nun schränkt ein defizitäres Verhältnis kannt) durch die kulturelle Verarmung der Lebens-
zwischen dem tätigen Subjekt und seinem Produkt welt. Infolge der Ausdifferenzierung der Sphären
den für Habermas zentralen Prozess der symboli- von Wissenschaft, Recht/Moral und Kunst haben
schen Reproduktion keineswegs ein, weil er der Ar- sich zunehmend Expertenkulturen ausgebildet, die
beit keine identitätskonstitutive Rolle zuspricht. In sich nicht mehr produktiv aufeinander beziehen
der Sphäre der materiellen Reproduktion sind nut- können. Zudem wächst die Distanz der Experten-
zenrationale Handlungs- und Denkweisen durchaus kulturen zur Alltagswelt der Bürger. Somit fehlt ein
angebracht, ja, erforderlich. Sicherlich wird die Le- angemessenes Verständnis der Moderne und des
benswelt hierdurch beeinflusst, sie wird technisiert Zusammenhangs der in ihr verkörperten Vernunft-
oder ›mediatisiert‹. Problematisch wird es für Ha- momente. Mit der Sprachlosigkeit, die sich aus solch
bermas allerdings erst, sobald die entsprachlichten einem fragmentierten Alltagsbewusstsein ergibt,
Medien auf die intern normativ organisierte Sphäre versiegt aber auch der Strom der Argumente, der für
der Lebenswelt übergreifen und sie so beschädigen, die Konstruktion von Sinn, Legitimationen und
dass die symbolische Reproduktion darunter leidet. Identitätsentwürfen nötig ist. Damit tritt das »frag-
Wenn das Individuum nämlich sein gesamtes Leben mentierte« Bewusstsein an die theoretische Stelle je-
mit jenen Kategorien zu betrachten beginnt, mit de- nes »falschen« Bewusstseins, welches Habermas zu-
nen es innerhalb des Arbeitsprozesses operieren folge in einer rationalisierten Lebenswelt immer un-
muss, wird seine Selbstwahrnehmung, seine Weise wahrscheinlicher wird. Habermas führt mit dieser
zu denken und zu kommunizieren, defizitär. Erst Diagnose folglich die klassische Ideologiekritik mit
durch eine solche Vereinseitigung der Vernunft anderen Mitteln fort (Strecker 2009, Teil III).
kommt es auf der sozialen Ebene zu Sinnverlust, Verwehrt das fragmentierte Bewusstsein den Sub-
Anomie und Psychopathologien. Die Ausbreitung jekten, den Prozess der Kolonialisierung zu durch-
330 IV. Begriffe

schauen, so zerstört die fortschreitende Technisie- die wirtschaftlichen und politischen Ordnungen
rung der Lebenswelt eben jene kommunikativen nicht mehr als (unter Umständen illegitimes) Resul-
Potenziale, die allein zur Erneuerung einer Gesamt- tat von Kämpfen zwischen sozialen Gruppen kriti-
perspektive beitragen könnten. Wie die Stammes- siert werden (so u. a. Honneth 1986, 290, 331). An-
gesellschaft, die sich dem Eindringen der Kolonial- dererseits geriete auch die Lebenswelt gar nicht mehr
herren nicht zu widersetzen weiß, weil deren Macht in den Fokus der Kritischen Theorie, weil sie als an-
ihrem archaischen Bewusstsein unverständlich blei- geblich rationalisierte keine Ideologien mehr zu-
ben muss, ist das fragmentierte Alltagsbewusstsein lasse. So erschwere es diese Trennung, die aus einer
der verdinglichenden Kraft der Systemimperative analytischen Unterscheidung letztlich doch zwei es-
schutzlos ausgeliefert (ebd., 522). sentiell verschiedene Objektbereiche mache, etwa
Die Aufgabe der kritischen Gesellschaftstheorie Fragen der Geschlechtergerechtigkeit angemessen
besteht folglich darin, die Ursachen für die selbster- zu thematisieren. Frauen würden nämlich nicht nur
zeugten Gefährdungen durchsichtig zu machen und innerhalb der Wirtschaft diskriminiert, sondern
somit die kognitiven Voraussetzungen dafür zu auch in der lebensweltlichen Familie. Folglich spie-
schaffen, dieser Bedrohung praktisch entgegentreten gele die Unterscheidung von System und Lebenswelt
zu können. Als Adressaten hat Habermas Anfang die zu überwindende Trennung von Lohn- und
der 1980er Jahre insbesondere die neuen sozialen Hausarbeit in unkritischer Weise bloß wider (Fraser
Bewegungen vor Augen, die jenseits des sozialstaat- 1994, 173 ff.).
lich pazifizierten Klassenkonflikts ein besonderes Habermas hat demgegenüber darauf beharrt, die
Gespür für die Verdrängung politischer Probleme Kolonialisierungsthese solle gar nicht alle gesell-
durch angebliche ›Sachzwänge‹ aufweisen sollen. schaftlichen Missstände aufdecken, sondern nur je-
In Faktizität und Geltung wird dieses Szenario et- nes Verdinglichungsphänomen, das sich am hartnä-
was optimistischer dargestellt. Hier sollen sich die ckigsten der Kritik entzieht. Aktualisiert hat er die
entmündigenden Effekte des Rechts durch die ver- Kolonialisierungsthese in der Folgezeit nicht. Unter-
stärkte Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger an schwellig begleitet sie jedoch seine Schriften zur
der Rechtssetzung und -anwendung zumindest der Globalisierung. Hier moniert Habermas das immer
Möglichkeit nach verhindern lassen. Erscheint der stärkere Primat der Ökonomie gegenüber einer ohn-
Prozess der Verrechtlichung in der Theorie des kom- mächtigen (nationalen) Politik ebenso wie jene
munikativen Handelns als ein grundsätzlich ambiva- politischen Maßnahmen, die die Bürger für den Ar-
lenter, so werden dessen ›dunkle‹ Seiten nun einem beitsmarkt ›fit‹ machen wollen, indem sie ihnen ein
defizitären Verständnis des Rechts angelastet – näm- Verständnis ihrer selbst als eigenverantwortliche
lich einem, das dem sozialstaatlichen und nicht dem ›Arbeitskraftunternehmer‹ oder ›Ich-AG’s‹ nahele-
prozeduralen Rechtsparadigma folgt (FG, 516 ff.). gen, damit aber zur weiteren Ökonomisierung der
Habermas illustriert dies insbesondere an den Pro- Lebenswelt beitragen (ZÜ, 96). Auch heute verfügt
blemen einer Politik der Gleichstellung von Frauen die Kolonialisierungsthese also noch über einiges an
(ebd., 501 ff.; EA, 244). Damit verschiebt sich die Di- Anregungspotenzial für all jene, die die Verdingli-
agnose von einer Kritik an der Verrechtlichung (und chungskritik zeitgemäß reformulieren wollen (so
damit der Freiheit, sich nicht mehr rechtfertigen zu auch Celikates/Pollmann 2006, 110 f.).
müssen) als einer Entsprachlichung des Sozialen hin
zu einer Kritik an den verzerrten Prozeduren der Literatur
Rechtsetzung und einer inhaltlichen Kritik an der Celikates, Robin/Pollmann, Arnd: »Baustellen der Ver-
überverallgemeinernden Bestimmung von Rechten nunft. 25 Jahre Theorie des kommunikativen Handelns«.
(zu dieser Unterscheidung genauer Iser 2008, In: Westend 3, 2 (2006), 97–113.
122 ff.). Fraser, Nancy: Widerspenstige Praktiken. Frankfurt a. M.
Kritisiert wurde an der Kolonialisierungsthese, 1994 (am. 1989).
Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kri-
dass die Unterscheidung von Mediatisierung und
tischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1986.
Kolonialisierung nicht hinreichend klar werde – /Joas, Hans (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu
(Kneer 1990, 123–186), vor allem aber, dass sie auf Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Han-
der dichotomischen Entgegensetzung von System delns« [1986]. Frankfurt a. M. 22002.
und Lebenswelt aufruhe und damit bestimmte Be- Iser, Mattias: Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer
kritischen Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a. M./New
reiche dem kritischen Zugriff der Theorie entzogen
York 2008.
würden (Honneth/Joas 1986). Einerseits könnten
13. Kommunikative Anthropologie 331

Kneer, Georg: Die Pathologien der Moderne. Zur Zeitdia- hinsichtlich ihrer inhaltlichen Implikationen ein
gnose in der ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ von konservativ-restauratives Unterfangen dar. Die Ge-
Jürgen Habermas. Opladen 1990.
Strecker, David: Logik der Macht. Zum Ort der Kritik zwi-
fahr derartiger Begründungsfiguren besteht für Ha-
schen Theorie und Praxis. Weilerswist 2009. bermas dann auch in der Verdeckung politischer
Mattias Iser Absichten. Und spätestens bei Gehlen führe die Phi-
losophische Anthropologie zu einer »Dogmatik mit
politischen Konsequenzen, die um so gefährlicher
ist, wo sie mit dem Anspruch wertfreier Wissen-
schaft auftritt« (KK, 108).
13. Kommunikative Vor dem Hintergrund dieser fundamentalen Kri-
Anthropologie tik am anthropologischen Denken mag es daher er-
staunen, dass Habermas nur wenige Jahre später ei-
nen eigenständigen Versuch der Normfundierung
Die Beschäftigung mit Fragen der Anthropologie unter Rückgriff auf menschliche Universalien unter-
reicht bis in die Studienjahre von Habermas zurück nommen hat: das Programm einer Erkenntnisan-
und ist zunächst skeptischer Natur, zumindest wenn thropologie.
man unter Anthropologie die Suche nach unverän- Es ist das begrifflich-konzeptionelle Problem des
derlichen Konstanten der menschlichen Natur ver- Nachweises eines Interesses an Mündigkeit, das Ha-
steht. Einen seinerzeit viel beachteten Niederschlag bermas in seiner Frankfurter Antrittsvorlesung und
haben Habermas’ Überlegungen zur Anthropologie den daran anschließenden Arbeiten mit erkenntnis-
in einem Lexikonartikel aus dem Jahr 1958 gefun- anthropologischen Mitteln zu beantworten versucht.
den. Folgt man Otfried Höffe, ist es zu einem guten Ausgangspunkt ist die Annahme, dass für den Men-
Teil diesem Lexikonaufsatz zuzuschreiben, dass es schen grundlegende Handlungsweisen und mit die-
bis in die 1990er Jahre zu einer Hegemonie »nachan- sen korrespondierende Erkenntnisinteressen in ei-
thropologischen Denkens« (Höffe 1992, 7) in den nem kulturübergreifenden Sinne existieren: »Die
Humanwissenschaften gekommen ist. Der Form Leistungen des transzendentalen Subjekts haben ihre
entsprechend bietet der Beitrag zunächst einen ein- Basis in der Naturgeschichte der Menschengattung«
führenden Überblick in Geschichte und wesentliche (TW, 161). Habermas zufolge lassen sich genau drei
Konzeptionen anthropologischen Denkens, er ent- dieser anthropologisch verankerten Erkenntnisin-
hält jedoch im zweiten Teil dezidiert kritische An- teressen nachweisen. Neben den gattungsgeschicht-
merkungen zum Programm einer Philosophischen lichen Prinzipien der Arbeit und der Interaktion
Anthropologie. Laut Habermas lässt sich ein Wesen einerseits und den mit diesen korrespondierenden
des Menschen nicht bestimmen, da der Mensch in empirisch-analytischen sowie hermeneutischen Wis-
die Geschichte verwoben ist. Es sei schlichtweg eine senschaften andererseits nennt er das Interesse an
»Tatsache, daß der Mensch Geschichte hat und geschicht- Kritik und die damit verbundenen kritischen Wis-
lich erst wird, was er ist. Eine beunruhigende Tatsache für senschaften. Es existiere mithin unter gattungsge-
eine Anthropologie, die es mit der ›Natur‹ des Menschen, schichtlichen Gesichtspunkten nicht nur die Notwen-
mit dem, was allen Menschen jederzeit gemeinsam ist, zu digkeit des instrumentellen Handelns und der sym-
tun hat« (KK, 107). bolischen Interaktion, sondern darüber hinaus auch
Doch es ist nicht allein das Insistieren auf den ge- das Interesse an Mündigkeit. Mit dieser These hat
schichtlich-gesellschaftlichen Charakter des Men- sich Habermas freilich erhebliche Beweislasten auf-
schen, womit sich Habermas gegen die Philosophi- geladen, und dies in doppelter Hinsicht. So muss er
sche Anthropologie wendet. Daneben findet sich diejenigen Wissenschaften benennen, denen eine kri-
auch der Verweis auf die Perspektivität des jeweili- tische Funktion essentiell zukommt. Als paradigma-
gen anthropologischen Blicks. Es sind immer auch tisches Vorbild für eine derartige kritische Wissen-
gesellschaftlich bestimmte Erkenntnisinteressen, die schaft sieht er die Psychoanalyse an, deren Vorge-
den Blick auf den Menschen in eine spezifische Rich- hensweise er in Erkenntnis und Interesse auf die
tung lenken. Entsprechend gelte es, eine soziologi- Pathologien komplexer Gesellschaften zu übertragen
sche Aufklärung der Anthropologie zu liefern. Eine versucht. Mag man sich mit dieser Zuordnung viel-
genuin politische Anthropologie mit dem Ziel einer leicht noch anfreunden können, so wird die zweite
Fundierung von Normen und Institutionen stellt für Frage, wie denn dieses Interesse an Mündigkeit nun
Habermas nicht nur der Form nach, sondern auch anthropologisch hergeleitet werden könne, letztlich
332 IV. Begriffe

nicht beantwortet. Insbesondere bleibt Habermas den sequenzen einer genuin anthropologischen Moral-
Nachweis schuldig, dass das Interesse an Emanzipa- begründung zurückzuschrecken, mag jedoch ande-
tion den gleichen fundamentalen Stellenwert besitzt rerseits angesichts der gentechnologischen Heraus-
wie instrumentelles und kommunikatives Handeln. forderung auch nicht gänzlich auf dieses Unterfangen
Es sind wohl diese Bedenken gewesen, die ihn verzichten.
dazu geführt haben, die Rede von einem gattungsge-
schichtlich fundierten Interesse an Mündigkeit kurz Literatur
nach der Veröffentlichung von Erkenntnis und Inter- Fahrenbach, Helmut: »Zum anthropologischen Bezugsrah-
esse fallen zu lassen. men der ›Theorie des kommunikativen Handelns‹ von
In den 70er Jahren hat Habermas mit der Univer- J. Habermas«. In: Willem van Reijen (Hg.): Rationales
salpragmatik einen alternativen Weg zur Fundierung Handeln und Gesellschaftstheorie. Bochum 1984, 81–
113.
einer kritischen Gesellschaftstheorie eingeschlagen. Habermas, Jürgen: »Nach dreißig Jahren. Bemerkungen zu
Dabei sind anthropologische Motive immer mehr Erkenntnis und Interesse«. In: Stefan Müller-Doohm
verblasst, ohne dass sie freilich völlig verschwunden (Hg.): Das Interesse der Vernunft. Frankfurt a. M. 2000,
wären. Mit der Formulierung einer an Kant anschlie- 12–20.
ßenden Diskursethik ist es dann zu einer weitgehen- Höffe, Otfried: »Wiederbelebung im Seiteneinstieg«. In:
Ders. (Hg.): Der Mensch – ein politisches Tier? Essays zur
den Verabschiedung anthropologischer Denkmotive politischen Anthropologie. Stuttgart 1992, 5–13.
gekommen. Doch auch hier lässt sich mit Axel Hon- Honneth, Axel: »Anerkennungsbeziehungen und Moral.
neth die Frage stellen, ob es sich nicht auch bei einer Eine Diskussionsbemerkung zur anthropologischen Er-
deontologischen Moraltheorie, wie sie die Diskurs- weiterung der Diskursethik«. In: Reinhard Brunner/Pe-
ethik zu sein beansprucht, um »ein Stück verschäm- ter Kelbel (Hg.): Anthropologie, Ethik und Gesellschaft.
Für Helmut Fahrenbach. Frankfurt a. M./New York 2000,
ter Anthropologie in philosophischer Absicht« 101–111.
(Honneth 2000, 104) handelt. –: »Halbierte Rationalität. Erkenntnisanthropologische
In Die Zukunft der menschlichen Natur treten an- Motive der Frankfurter Schule«. In: Joachim Fischer/
thropologische Motive wieder explizit hervor. Die Hans Joas (Hg.): Kunst, Macht und Institutionen. Studien
Möglichkeit einer positiven Eugenik, also die gen- zur Philosophischen Anthropologie, soziologischen Theo-
rie und Kultursoziologie der Moderne. Frankfurt a. M./
technologische Einwirkung auf den menschlichen New York 2003, 58–74.
Phänotyp, sprengt Habermas zufolge nicht nur die Jörke, Dirk: »Anthropologische Motive im Werk von Jür-
Grenzen der konventionellen Vorstellungen über die gen Habermas«. In: Archiv für Rechts- und Sozialphiloso-
menschliche Natur, sie verweist auch auf bisher un- phie 92 Jg., 3 (2006), 304–321.
thematisierte Voraussetzungen deontologischer Mo- Lepenies, Wolf: »Anthropologie und Gesellschaftskritik.
Zur Kontroverse Gehlen – Habermas«. In: Ders./Helmut
ralkonzeptionen. Es ist insbesondere dieses Einge-
Nolte: Kritik der Anthropologie. München 1971, 77–102.
ständnis von Habermas, das den Text so bemerkens- Nolte, Helmut: »Kommunikative Kompetenz und Leib-
wert erscheinen lässt. Aufschlussreich ist auch die apriori. Zur philosophischen Anthropologie von Jürgen
Antwort, die er auf diese neuartige Herausforderung Habermas und Karl-Otto Apel«. In: Archiv für Rechts-
zu geben versucht, nämlich das Konzept einer an- und Sozialphilosophie 70. Jg., 4 (1984), 518–539.
thropologisch hergeleiteten Gattungsethik, die einer Dirk Jörke
– deontologisch verstandenen – Moral erst ihren
weltlichen Halt gibt.
Es ist nicht nur die Rede von der Gattungsethik,
die diesen Text als anthropologisch gehaltvoll aus- 14. Kommunikatives Handeln
zeichnet. Darüber hinaus greift Habermas auf die
Unterscheidung Helmuth Plessners zwischen ›Leib
sein‹ und ›Körper haben‹ zurück. Diese Unterschei- Der Begriff des kommunikativen Handelns ist
dung soll die Grenze festlegen, die durch eine gen- schlicht der Zentralbegriff von Habermas’ Gesamt-
technologische Manipulation nicht überschritten werk. Mit dem Ausdruck ›kommunikatives Han-
werden darf (vgl. LE, 101). Allerdings wird das Ver- deln‹ bezeichnet Habermas nicht etwa alle Handlun-
hältnis zwischen dem »gattungsethischen Wegwei- gen, die Kommunikation erfordern oder aus Sprech-
ser« und der diskursethischen Vernunftmoral handlungen bestehen. Das entscheidende Merkmal
ebenso wenig geklärt wie der Status, der anthropolo- kommunikativen Handelns ist vielmehr, dass die da-
gischen Argumenten im Rahmen der Gattungsethik ran Beteiligten ihre je eigenen Handlungspläne auf
zukommt. Habermas scheint einerseits vor den Kon- der Grundlage einer kommunikativ erzielten Ver-
14. Kommunikatives Handeln 333

ständigung aufeinander abzustimmen versuchen. In munikativer Vernunft ist (s. Kap. III.5), steht die
diesem technischen Sinne bezieht sich der Ausdruck zweite im Mittelpunkt seiner Gesellschaftstheorie (s.
›kommunikatives Handeln‹ nur auf diejenigen Kap. III.10).
sprachlich vermittelten Interaktionen, für die der
verständigungsorientierte Gebrauch der Sprache Kommunikatives vs. strategisches Handeln: Um den
eine handlungskoordinierende Rolle übernimmt genauen Gehalt des Begriffs ›kommunikatives Han-
(NR, 58). Angesichts der Tatsache, dass kommunika- deln‹ besser fassen zu können bietet es sich daher an,
tives Handeln sogar innerhalb der Klasse sozialer ihn in Entgegensetzung zum Begriff ›strategisches
Handlungen nur eine Handlungsart unter anderen Handeln‹ zu entwickeln bzw. auf Habermas’ These
darstellt, ist es wichtig, sich zu vergegenwärtigen aus näher einzugehen, dass kommunikatives Handeln
welchen Gründen Habermas diese Handlungsart für nicht auf der Grundlage des für die Erklärung strate-
so bedeutsam hält. gischen Handelns ausreichenden Modells instru-
Durch all die zahlreichen Verfeinerungen, Erläu- menteller Rationalität erklärt werden kann (TKH I,
terungen und Verbesserungen hindurch, die er an 197 f. und ND, 68 ff.). Habermas zufolge besitzt in-
seinem Gesamtansatz im Laufe der vergangenen terpersonale Kommunikation die dreifache Struktur
Jahrzehnte in vielerlei Schriften angebracht hat, hat des sich/mit jemandem/über etwas in der Welt Ver-
Habermas an einer weitgehend unveränderten ständigens. Somit stellt Kommunikation einen Pro-
Grundkonzeption kommunikativen Handelns fest- zess dar, der auf Kenntnisse entlang zumindest dreier
gehalten. Dieser zufolge besteht das Besondere an Dimensionen zugreift, nämlich solche in Bezug auf
sprachlichen Verständigungsprozessen darin, dass die Sprecherin, auf den Hörer und auf die Welt. So
ihr Erfolg von den jeweiligen Überzeugungen aller wird ein Satz, indem er innerhalb einer Kommuni-
Beteiligten abhängig ist. Überzeugungen wiederum kationssituation geäußert wird, in Bezug gesetzt zu
können aus begrifflichen Gründen nicht (z. B. durch (1) einem bestimmten Sachverhalt, (2) einer Spre-
Täuschung oder Gewalt) erzwungen werden. Viel- cherintention, und (3) einer bestimmten interperso-
mehr hängen sie von der ungezwungenen, rational nalen Beziehung zum Hörer. Damit wird er unter
motivierten Zustimmung aller Beteiligten ab. Genau Geltungsansprüche gestellt, die er als nicht-situierter
deshalb ist kommunikatives Handeln eine besondere Satz, als reines grammatisches Gebilde, weder erfül-
Art sozialen Handelns, die nicht auf strategisches len muss noch kann. Wenn es beim Kommunizieren
Handeln (im Rahmen dessen ja Täuschung oder Ge- nun um den Informationserwerb mittels der Sprech-
walt mögliche Mittel der Herbeiführung des Hand- akte anderer geht, müssen die Beteiligten also fähig
lungserfolgs sind) reduziert werden kann. Aus dieser dazu sein, das entlang dieser drei Dimensionen ver-
Idee speisen sich zwei zentrale Annahmen der mittelte Wissen miteinander zu teilen. Um die
Habermas’schen Theorie kommunikativen Han- Sprechakte anderer zu verstehen, müssen die Ver-
delns. Die erste Grundannahme derselben besagt, ständigungspartner demzufolge zunächst an dem im
dass Kommunikation nicht im Rückgriff auf ledig- propositionalen Gehalt des Sprechakts impliziten
lich strategisches Handeln erklärt werden kann. Wissen teilhaben und somit den Wahrheitsanspruch
Kommunikative Praktiken sind vielmehr auf eine im der Äußerung beurteilen können. Ferner müssen sie
kommunikativen Handeln verkörperte Rationali- ebenfalls zur Teilhabe an den normativen Präsuppo-
tätsart angewiesen, die unvereinbar mit der instru- sitionen fähig sein, die der im illokutionären Be-
mentellen Rationalität strategischen Handelns ist. standteil des Sprechakts hergestellten persönlichen
Die zweite Grundannahme von Habermas’ Theorie Beziehung unterliegen und somit in der Lage sein,
kommunikativen Handelns besagt, dass in kommu- den Richtigkeitsanspruch des Sprechakts zu beurtei-
nikativem Handeln erzielte sprachliche Verständi- len. Schließlich müssen sie auch die Wahrhaftigkeit
gung eine Weise der Handlungskoordination dar- beurteilen können, mit der der Sprecher den Sprech-
stellt, für die es kein funktionales Äquivalent gibt. akt vollzogen hat. Kommunikation ist dann erfolg-
Aus beiden Gründen kann eine soziologische Hand- reich, wenn der Hörer sich von den im Vollzug des
lungstheorie ohne Rekurs auf den Begriff kommuni- Sprechakts erhobenen Wahrheits-, Richtigkeits- und
kativen Handelns, bzw. eine nur auf Grundlage des Wahrhaftigkeitsansprüchen überzeugt hat und da-
Begriffs strategischen Handelns operierende Gesell- mit das Sprechaktangebot akzeptiert.
schaftstheorie nicht erklären, wie soziale Ordnung Wie bereits erwähnt lassen sich Überzeugungen
möglich ist. Während die erste Grundannahme von jedoch aus begrifflichem Grunde nicht (durch Täu-
zentraler Bedeutung für Habermas’ Theorie kom- schung oder Gewalt) erzwingen. Sie entstehen viel-
334 IV. Begriffe

mehr nur auf dem Boden der rational motivieren- Zwei Sorten kommunikativen Handelns: Selbst wenn
den Kraft von Gründen. Deswegen kann ein Sprech- man die Intuition grundsätzlich akzeptiert, dass
aktangebot nur dadurch bindende Kraft entwickeln, kommunikatives Handeln von einer Art Rationalität
dass der Sprecher mit seinem Geltungsanspruch zu- geleitet wird, die mit der instrumentellen Rationali-
gleich eine glaubhafte Gewähr dafür übernimmt, tät strategischen Handelns unvereinbar ist, bleibt
diesen erforderlichenfalls mit der richtigen Sorte dennoch die Frage offen, wie stark der für die Erläu-
von Gründen einlösen zu können. Genau deswegen, terung kommunikativen Handelns konstitutive Be-
weil ein Sprecher eine solche Gewähr dafür über- griff der Verständigung sein muss, damit er zur Er-
nimmt, erforderlichenfalls Gründe für die Gültigkeit klärung der Möglichkeit der Kommunikation aus-
der Sprechhandlung beizubringen, ist der Hörer zu reicht. Diese Grundlagenfrage hat von Anfang an
einer rational motivierten Stellungnahme herausge- den Kern der kritischen Diskussion über den Begriff
fordert. Erkennt umgekehrt der Hörer den Geltungs- ›kommunikatives Handeln‹ gebildet (s. Kap. III.5).
anspruch des Sprechers an und akzeptiert somit das Denn der Begriff sprachlicher Verständigung ist
Sprechaktangebot, so wird vorausgesetzt, dass er sei- durchaus mehrdeutig. Er reicht von der Minimalbe-
nerseits den Anteil der interaktionsfolgenrelevanten deutung, in der er lediglich markiert, dass Sprecher
Verbindlichkeiten übernimmt, die sich für ihn aus und Hörer einen grammatisch wohlgeformten Satz
dem semantischen Gehalt der Äußerung für alle Be- identisch verstehen, bis zu der Maximalbedeutung,
teiligten ergeben (ND, 71). Selbstverständlich kön- in der er von Sprecher und Hörer verlangt, dass beide
nen sich diese intersubjektive Verständigung ermög- ein auf dieselben Gründe gestütztes Einverständnis
lichenden normativen Voraussetzungen in jedem über das Gesagte erreichen. Es dürfte kaum zu
Einzelfall und zu jedem beliebigen Zeitpunkt als Irr- bestreiten sein, dass der Verständigungsbegriff in
tum erweisen. Doch wenn sich die Beteiligten ge- seiner Minimalbedeutung nicht zur Erklärung inter-
genseitig auf solche sprachimmanenten Gewährleis- subjektiver Kommunikation ausreicht. Wenn Kom-
tungen und interaktionsfolgenrelevanten Verbind- munikation unter der Zielsetzung des Informations-
lichkeiten prinzipiell nicht verlassen könnten, erwerbs mittels der Sprechakte anderer stattfindet,
würden ihre kommunikative Praktiken überhaupt reicht es einfach nicht, dass die Beteiligten ihre je-
keinen Sinn haben, da die darin vollzogenen Sprech- weiligen Äußerungen grammatisch gleich verstehen.
akte schlicht ohne bestimmte Bedeutung blieben. Es muss ihnen darüber hinaus auch prinzipiell mög-
Wie Habermas erläutert, hätten solche Sprechakte lich sein zu beurteilen, ob sie das Gesagte unter den
wie Befehle, Versprechen oder Behauptungen kei- gegebenen Umständen akzeptieren können; andern-
nerlei Sinn, wenn beispielsweise das Akzeptieren ei- falls bleibt der Äußerungsgehalt partiell unbestimmt.
nes Befehls oder das Aussprechen eines Verspre- Doch damit wird zugleich eine Orientierung an der
chens nicht beinhaltete, diese auszuführen, oder Gültigkeit des Gesagten für die Informationsbestim-
wenn das Akzeptieren einer Behauptung nicht die mung unerlässlich. Selbst dann bleibt noch offen,
Übernahme der darin enthaltenen Überzeugung welche und wie viele Geltungsdimensionen allge-
und die damit verbundene Verhaltensmodifikation mein und unvermeidlich für das Gelingen von Kom-
beinhaltete. Sowie eine verallgemeinerte instrumen- munikation vorausgesetzt sind.
telle oder strategische Einstellung gegenüber der Habermas’ formalpragmatischer Erklärung kom-
Kommunikation das Vertrauen von Sprechern in munikativen Handelns entsprechend findet Kom-
ihre gegenseitige Zurechnungsfähigkeit zermürbte, munikation immer in Form einer Triangulation von
würden ihre Sprechakte sinnlos. Wenn diese Vermu- Sprecher, Hörer und Welt statt. Kommunikativer Er-
tung zutrifft, dann ist der instrumentelle oder stra- folg ist somit zumindest von der Verständigung der
tegische Sprachgebrauch notwendigerweise dem Beteiligten untereinander entlang der entsprechen-
kommunikativen (d. h. verständigungsorientierten) den drei Dimensionen anhängig: der Wahrhaftigkeit
Sprachgebrauch gegenüber parasitär, ohne den keine des Sprechers, der Wahrheit des im Sprechakt (im-
dauerhafte Kommunikationspraxis möglich wäre plizit oder explizit) übermittelten Wissens über die
(TKH I, 388; WR, 128). Diese im kommunikativen eine von allen geteilte objektive Welt, sowie der nor-
Handeln verkörperte Rationalität ist nun ihrerseits mativen Richtigkeit der von den Beteiligten durch
eine Art der intersubjektiven Zurechnungsfähigkeit den Vollzug des Sprechakts eingegangenen interper-
(NR, 41–43) und deswegen nicht auf die im strategi- sonalen Beziehung. Doch selbst wenn man an-
schen Handeln verkörperte instrumentelle Rationa- nimmt, dass der Kommunikationserfolg von der
lität reduzierbar. Verständigung der Beteiligten in allen drei genann-
14. Kommunikatives Handeln 335

ten Dimensionen abhängt, besteht immer noch eine gener Präferenzen zu eigen machen müsste. Ver-
unübersehbare Asymmetrie zwischen der jeweils in schiedene Aktoren können ganz offensichtlich des-
den Fällen der Wahrheit des propositionalen Gehalts wegen unterschiedliche Gründe für die Anerken-
und der Richtigkeit der mit dem Sprechakts angebo- nung der Richtigkeit derselben Handlung haben,
tenen interpersonalen Beziehung möglichen Ver- weil sie sich in je verschiedenen Situationen befin-
ständigungsart. Denn unter der Voraussetzung einer den und unterschiedliche legitime Präferenzen ha-
einzigen objektiven Welt kann die Tatsache, dass die ben können. Dass eine Hörerin beispielsweise voll-
Beteiligten sich über die Wahrheit des im propositi- kommen damit einverstanden ist, dass der Sprecher
onalen Gehalt der Sprechhandlung enthaltenen Wis- beste Gründe für einen Umzug nach China oder ein
sens verständigen, ausschließlich im starken Sinne Medizinstudium hat, heißt noch lange nicht, dass sie
eines Einverständnisses aus denselben Gründen ver- (oder sonst jemand) deshalb auch nach China um-
standen werden. Denn das Akzeptieren des vom ziehen oder Medizin studieren sollte. Die in dieser
Sprecher in der Aussage ›p‹ erhobenen Wahrheitsan- Einsicht vorgenommene Unterscheidung zwischen
spruchs von Seiten der Hörerin kann nur heißen, aktorenrelativen und aktorenunabhängigen Grün-
dass sie ›p‹ genauso für wahr hält wie er. Solange sie den hat kein Äquivalent im Falle der Wahrheit von
dagegen nicht mit den vom Sprecher zur Stützung Aussagen bezüglich objektiver Tatsachen. Dieser
von ›p‹ angeführten Gründen einverstanden ist, Unterschied macht es erforderlich, zwischen einem
bleibt die diskursive Einlösung des Geltungsan- starken und einem schwachen Sinn von Verständi-
spruchs dahingestellt, bis ein Einverständnis über gung bezüglich der Art interpersonaler Beziehungen
dieselben Gründe zu erzielen ist; vorher hat die Hö- zu unterscheiden, auf die Kommunikationsteilneh-
rerin schlicht keine ausreichenden Gründe, die mer mit ihren Sprechakten abzielen können.
Überzeugung des Sprechers zu übernehmen. Anders Habermas hat eine entsprechende Unterschei-
verhält es sich jedoch im Falle der Richtigkeit der dung zwischen einem starken und einem schwachen
mit der Sprechhandlung angebotenen interpersona- Sinn kommunikativen Handelns eingeführt, um
len Beziehung. In Fällen wie ›nackten‹ Imperativen, den in solchen Fällen wirksamen Unterschieden
einseitigen Ankündigungen oder Beleidigungen Rechnung zu tragen (WR, 102–137). Im schwach-
(z. B. »Setz‹ dich«, »Ich werde morgen abreisen«, kommunikativen Handeln orientieren sich die Kom-
»Du bist ein Schwein«) ist die Annahme höchst kon- munikationsteilnehmer allein an Wahrheits- und
traintuitiv, dass ein Sprecher mit dem Vollzug eines Wahrhaftigkeitsansprüchen, im stark-kommunika-
solchen Sprechakts irgendeinen ›Konsens‹ herbei- tiven Handeln orientieren sie sich darüber hinaus
führen möchte, d. h. auf Verständigung im zuvor auch an intersubjektiv anerkannten Richtigkeitsan-
ausgeführten starken Sinne eines Einverständnisses sprüchen hinsichtlich der Normen und Werte, die
über die normative Richtigkeit des Sprechakts ab- die jeweiligen Handlungen rechtfertigen sollen.
zielt. Sicher muss der Sprecher auch in solchen Fäl- Diese Revision des Begriffes kommunikativen Han-
len auf den Erfolg sprachlicher Verständigung im delns ist trotz der scheinbar bloß differenzierenden
Sinne der rationalen Zustimmung der Hörerin ab- Unterscheidung grundsätzlicher Natur. Denn sie
zielen, wenn die Äußerung seines Sprechakts über- wirft die Frage auf, inwieweit der Status der normati-
haupt sinnvoll sein soll. ven Richtigkeit als ein für das Verstehen jeglicher
Doch der Erfolg dieser Kommunikationsabsich- Sprechhandlung im selben Sinne wie Wahrheit und
ten hängt nur von der Anerkennung von Geltungs- Wahrhaftigkeit notwendiger Geltungsanspruch
ansprüchen wie ›Wahrheit‹ und ›Wahrhaftigkeit‹, noch aufrechterhalten werden kann. Bei dieser An-
nicht jedoch vom Einverständnis mit den Gründen nahme handelt es sich jedoch um den Kernbestand
für die Richtigkeit der interpersonalen Beziehung von Habermas’ Formalpragmatik (Kap. III.5). Die
ab. Eine Ankündigung oder Drohung kann als auf Beantwortung dieser Frage wird die weitere Diskus-
rationale Zustimmung der Hörerin zielend verstan- sion des Begriffs kommunikativen Handelns sicher-
den werden, wenn bloß die Gründe des Sprechers lich maßgeblich mitbestimmen.
der Hörerin keinen Anlass für Zweifel an der Ernst-
haftigkeit der Sprecherabsicht oder an der Durch- Literatur
führbarkeit der angekündigten Handlung bieten. Cooke, Maeve: Language and Reason: A Study of Habermas’s
Selbst wenn die Hörerin die Gründe des Sprechers in Pragmatics. Cambridge, Mass. 1994.
diesem Sinne als rational akzeptiert, heißt das noch Heath, Joe: Communicative Action and Rational Choice.
lange nicht, dass sie sich diese Gründe im Lichte ei- Cambridge, Mass. 2001.
336 IV. Begriffe

Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.): Kommunikatives Handeln. duum« (ebd., 106) plädiert, bereitet er die Grundli-
Frankfurt a. M. 1986. nie seiner Auseinandersetzung mit konservativem
Honneth, Axel/McCarthy, Thomas/Offe, Claus u.a (Hg.):
Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der Aufklärung.
Denken vor. Gesellschaftstheoretisch und philoso-
Frankfurt a. M. 1992. phiegeschichtlich musste sich diese Intention Hegel
Lafont, Cristina: The Linguistic Turn in Hermeneutic Philo- als dem systematischen Kritiker Kants und der Fran-
sophy. Cambridge, Mass. 1999. zösischen Revolution stellen. Anders als Edmund
Cristina Lafont Burke, dem Begründer des modernen konservativen
Denkens, sei es Hegel darum gegangen, die Revolu-
tion zum Prinzip seiner Philosophie zu erheben, ge-
nauer: »[…] die Revolutionierung der Wirklichkeit
15. Konservatismus unter Abzug der Revolution selbst vor dem Begriff
zu legitimieren« (TP, 130) und so den »großartigen
Versuch« zu unternehmen, »die Verwirklichung des
Konservatives Denken in seinen verschiedenen abstrakten Rechts als einen objektiven Vorgang zu
Schattierungen beschäftigte und beschäftigt Jürgen begreifen« (ebd., 132). Im Blick auf die Entwicklung
Habermas seit seinen soziologischen und philoso- von Hegels politischem Denken zeigt sich dann frei-
phischen Anfängen. 1963 verfasste Habermas den lich, dass Hegel nicht in der Lage war, die Autorität
Beitrag »Kritische und konservative Aufgaben der des modernen Rechts als selbsttragende Grundlage
Soziologie«, in dem er unter Bezug auf die schotti- einer modernen Gesellschaft zu verstehen, sondern
sche Moralphilosophie, zumal David Hume als kon- zu deren Stützung in seiner Theorie der Sittlichkeit,
servatives Moment der entstehenden Soziologie, fest- wie sie in der Rechtsphilosophie entfaltet ist, ständi-
stellt, dass sie »Tradition als ruhige Grundlage einer sche Autoritäten forderte und damit den Vollzug sei-
kontinuierlichen Entwicklung genau deshalb schätze, nes eigenen Gedankens revozierte: Nämlich einen
weil sie die Naturwüchsigkeit des Fortschritts nicht gesellschaftlich-politischen Zustand, in dem das im
in Frage« stelle und insofern konservativ sei. Haber- modernen Privatrecht zum Ausdruck kommende
mas’ dialektische Auseinandersetzung mit dem Kon- Prinzip moderner Subjektivität endlich doch hal-
servativismus aller Schattierungen arbeitet sich von biert wird, indem es von demokratischer Legislation
Anfang an David Humes Aussage ab: »Liberty is the ausgeschlossen bleibt (ebd., 168).
perfection of civil society: but authority must be ack-
nowledged essential to its very existence« (TP, 293). Eigendynamik moderner Gesellschaften: Freilich steht
Habermas fasst den Geist der entstehenden So- die von Hegel erstmals diagnostizierte Eigendyna-
ziologie in einer Weise zusammen, die man getrost mik moderner Gesellschaften mit ihrer Ausdifferen-
als Motto seines eigenen Vorgehens nehmen kann: zierung abstrahierender Subsysteme wie ›Recht‹,
»Die Tradition des Fortschritts gilt es ebenso gegen den ›Wissenschaft‹ und ›Ökonomie‹ mit individualisier-
voreiligen Abbau sozial nützlicher Autoritäten zu konser- ten Formen moderner Intersubjektivität keineswegs
vieren, wie auch kritisch abzusichern gegen die blinde Be- im automatischem Einklang. Vielmehr kann eine di-
hauptung der historisch überfälligen Autoritäten«(ebd., alektisch verfahrende, vereinseitigenden Tendenzen
294). der modernen Gesellschaften kritisch gegenüberste-
Philosophische Anthropologie und Hegels Theorie der hende Theorie des kommunikativen Handelns gar
Französischen Revolution: Dem ging eine unter dem nicht anders, als ihrerseits schutzwürdige Bereiche,
Titel »Der Zerfall der Institutionen« erschienene die zu bewahren sind, zu benennen:
Studie zu Arnold Gehlen und dessen Theorie der In- »Es geht darum, Lebensbereiche, die funktional notwendig
stitutionen in Urmensch und Spätkultur voraus, in auf eine soziale Integration über Werte, Normen und Ver-
dem dessen schon in der Schrift Der Mensch aus dem ständigungsprozesse angewiesen sind, davor zu bewahren,
Jahr 1940 entfaltete Anthropologie eines instinktent- den Systemimperativen der eigendynamisch wachsenden
bundenen, antriebsüberschüssigen und weltoffenen Subsysteme Wirtschaft und Verwaltung zu verfallen und
über das Steuerungsmedium Recht auf ein Prinzip der Ver-
Wesens ebenso akzeptiert wird wie Gehlens »kluge, gesellschaft ungestellt zu werden, das für sie dysfunktional
erfindungsreiche und präzise Ableitung der Institu- ist« (TKH 2, 547).
tion selbst« (PPP, 102). Indem Habermas hier gegen
Gehlen das Recht der modernen Individualität be- Konservativ ist dabei der funktionalistisch begrün-
hauptet und wiederum gegen Gehlen für eine »ba- dete Widerstand gegen eine Tendenz zur »Koloniali-
lancierte Vermittlung von Institution und Indivi- sierung der Lebenswelt« (ebd., 522):
15. Konservatismus 337

»Die Imperative der verselbständigten Subsysteme drin- Aufspreizung des Individuums dort systematisch
gen, sobald sie ihres ideologischen Schleiers entkleidet mit dem Ziel überschreiten, sich selbst als »Neue
sind, von außen in die Lebenswelt – wie Kolonialherren Klasse« auf Kosten der arbeitenden Bevölkerung il-
in eine Stammesgesellschaft« ein und erzwingen die Assi-
milation« (ebd., 522). legitime Vorteile zu verschaffen.
Zweitens werden diese als hypertroph gekenn-
Unter diesen Umständen entstehen neue soziale Be- zeichneten Ansprüche für objektiv erledigt erklärt
wegungen, denen Habermas als möglichen Instan- und mittels philosophischer Reflexion als vermeint-
zen einer revitalisierten kommunikativen Lebens- liche Überbleibsel eines sachlich unausgewiesenen
welt seine Sympathie nicht absprechen will: Humanismus und Humanitarismus erkannt, der un-
»Die Aufwertung des Partikularen, Gewachsenen, Provin-
rettbar in den längst systematisch überwundenen
ziellen, der überschaubaren sozialen Räume, der dezentra- Positionen der Subjektphilosophie steckengeblieben
lisierten Verkehrsformen und entspezialisierten Tätigkei- sei und – in einer ganz anderen Hinsicht und auf ei-
ten, der segmentierten Kneipen, der einfachen Interaktio- nem anderen Feld, nämlich zunächst der Architek-
nen und entdifferenzierten Öffentlichkeiten soll die tur, dann der Philosophie und Literaturwissenschaft
Revitalisierung verschütteter Ausdrucks- und Kommuni-
kationsmöglichkeiten fördern. In diesen Zusammenhang
– von der »Postmoderne« überwunden worden sei.
gehört auch der Widerstand gegen reformerische Eingriffe, Drittens werden tatsächlich vorkommende, un-
die sich ins Gegenteil verkehren, weil die Mittel ihrer Im- bezweifelbare soziale Konflikte aller Art nicht aus
plementierung den erklärten sozial-integrativen Zielen zu- Klassenherrschaft und Disparitäten beim Zugang zu
widerlaufen« (ebd., 580 f.). materiellen und politischen Ressourcen heraus er-
klärt, sondern als Ausdruck einer »geistig-morali-
Neokonservativismus und Postmoderne: Es ist diese schen Krise« gedeutet (NU, 44).
Konstellation, in der die Rationalisierung der Le-
benswelt nicht mehr von der Komplexitätssteigerung Der philosophische Diskurs der Moderne: Systemati-
des Gesellschaftssystems unterschieden wird, in der sches Gewicht kann diese politische Zurückweisung
ein neuer, jungkonservativer Antimodernismus in des Neokonservativismus und der ihm nach Haber-
vermeintlichem Widerstreit mit einer neokonserva- mas’ Überzeugung korrespondierenden Postmo-
tiven Verteidigung der Postmoderne, »[…] die mit derne erst im Rahmen einer noch einmal neu aufge-
sich selbst zerfallene Moderne ihres vernünftigen nommenen philosophischen Theorie der Moderne
Gehalts und ihrer Zukunftsperspektive beraubt« gewinnen, wie sie Habermas 1985 in seinen zwölf
(ebd., 583). Als zentrales Argumentationsreservoir Vorlesungen, die unter dem Titel Der philosophische
eines erneuerten Konservativismus kann nach Ha- Diskurs der Moderne vorgelegt hat. In eindringlichen
bermas’ Überzeugung in jenen Jahren der sich selbst Untersuchungen zu Nietzsche, Heidegger, Derrida,
so bezeichnende, in den USA entstandene Neokon- Bataille, Foucault und Luhmann geht es dort im er-
servativismus (Kristol 1995; Dorman 2001) gelten, neuten Anschluss an den jungen Hegel und dessen
der der Präsidentschaft Ronald Reagans mehr als Geschichtsphilosophie um die Frage, ob sich die
Pragmatismus, nämlich eine theoretische Perspek- Engführungen einer selbst noch subjektphiloso-
tive gegeben habe, eine theoretische Perspektive, bei phisch geführten Philosophie der Subjekte durch die
der sich schließlich vom Lauf der Geschichte ent- Umstellung auf eine Theorie der Intersubjektivität
täuschte radikale Linke aus den USA mit dem Den- so beheben lässt, dass am Ende der »normative Ge-
ken antidemokratischer Wissenschaftler und Publi- halt der Moderne« gerettet werden kann (DM, 390).
zisten der deutschen Zwischenkriegszeit treffen. In Unter dieser Bedingung ist es nämlich möglich, dass
der Sache stimmen deutsche, technisch aufgeschlos- die Gesellschaft, wenngleich vermittelt im Rahmen
sene, aber antidemokratisch gesonnene Autoren wie einer höherstufigen Öffentlichkeit, dennoch reflexiv
Joachim Ritter, Ernst Forsthoff, Arnold Gehlen, Carl auf sich einwirkt und zwar so, dass der resignativ
Schmitt oder Ernst Jünger mit ehemaligen Trotzkis- hingenommene Selbstlauf der Subsysteme, wie ihn
ten wie Norman Podhoretz, Irving Kristol oder Da- die jungkonservativen Theoretiker schon des techni-
niel Bell in wesentlichen drei Punkten zusammen: schen Staates, die philosophischen Destrukteure und
Erstens einer systematischen Kritik der Intellektuel- Dekonstrukteure der Subjektivität und eine die äs-
len, die in dem Vorwurf gipfelt, dass sie die Grenzen thetische Erschöpfung feiernde Postmoderne, an-
zwischen einer wirtschaftlich und politisch kompen- nehmen, aus der Sache heraus abweisbar wird. »Selbst-
satorisch befriedeten Moderne hier und den ästhe- organisierte Öffentlichkeiten müßten die kluge
tisch hypertrophen, im Bereich der Kunst duldbaren Kombination von Macht und intelligenter Selbstbe-
338 IV. Begriffe

schränkung entwickeln, die erforderlich ist, um die und Festhaltenwollens ein. Seien doch »die meisten
Selbststeuerungsmechanismen von Staat und Wirt- von uns« auch nach der Auszehrung religiöser und
schaft gegenüber den zweckorientierten Ergebnissen metaphysischer Weltbilder weder zu Zynikern noch
radikaldemokratischer Willensbildung zu sensibili- zu indolenten Relativisten geworden: »[…] weil wir
sieren« (ebd., 423). Der selbst noch subjektphiloso- am binären Code von richtigen und falschen Urtei-
phische Gedanke eines Einwirkens der Gesellschaft len festgehalten haben und festhalten wollen« (ebd.,
auf sich selbst muss dann aber so modifiziert wer- 125). Habermas erwägt, dass sich der auch von ihm
den, dass an die Stelle der »Selbsteinwirkung« das selbst bei sich beobachtete »Widerstand gegen eine
Modell »eines von der Lebenswelt unter Kontrolle Veränderung der Gattungsidentität« (ebd.) aus ähn-
gehaltenen Grenzkonflikts zwischen ihr und den lichen Motiven rechtfertigen lasse. Es ist die Autori-
beiden an Komplexität überlegenen, nur sehr indi- tät dieses biblisch angelegten, in der Aufklärungs-
rekt beeinflußbaren Subsystemen« (ebd.) tritt. philosophie vor allem von Kant entfalteten Men-
schenbildes, das gegen »den voreiligen Abbau sozial
Eine konservative Gattungsethik: Doch beruht auch nützlicher Autoritäten zu konservieren« ist.
dieser gegenüber den sozialkritischen und revolutio-
nären Ansprüchen der frühen politischen Moderne Literatur
doch sehr zurückgenommene Anspruch auf einer Dorman, Joseph: Arguing the World. The New York Intellec-
nun freilich unter keinen Umständen aufgebbaren, tuals in Their Own Worlds. Chicago/London 2001.
tatsächlich anthropologischen Bedingung, die zu be- Gehlen, Arnold: Der Mensch. Hamburg 1940.
wahren und verteidigen Habermas in seinen letzten, –: Urmensch und Spätkultur. Bonn 1956.
nun auch auf Religion und Theologie Bezug neh- Kristol, Irving: Neoconservativism. The Autobiography of an
Idea. Chicago 1995.
menden Publikationen angetreten ist: Nämlich der
Micha Brumlik
anthropologischen Voraussetzung einer nicht nur
sprach- und kommunikationsfähigen, sondern auch
einer sich ihrer absoluten Einzigartigkeit gewissen
Individualität.
In seiner Auseinandersetzung mit einer liberalen 16. Kontrafaktische
Eugenik, die sowohl verbrauchende Embryonenfor- Voraussetzungen
schung als auch das Klonen von Menschen zu vertei-
digen sucht, unternimmt Habermas den Versuch ei-
ner Gattungsethik, der es nicht mehr nur um Fragen Beim Begriff der unvermeidlichen idealisierenden
der Verallgemeinerbarkeit und Gerechtigkeit geht, Unterstellungen pragmatischer Art aus dem späte-
sondern substantiell um eine basale Voraussetzung ren Werk handelt es sich um eine Begriffsentwick-
des Guten, nämlich einer Konzeption der Person, die lung, mit der Habermas den missverständlichen Be-
auf der Überzeugung beruht, dass sie etwas Gewach- griff der »idealen Sprechsituation« aus dem mittle-
senes und nicht etwas Gemachtes ist, sie sich also ei- ren Werk präzisiert und ersetzt hat. Schließlich, im
nem Zufall und nicht den planvollen Intentionen an- Nachgang zu Faktizität und Geltung, begreift Haber-
derer Menschen verdankt. Unter Bezug auf Kants mas den Begriff »kontrafaktischer Voraussetzungen«
Tugendlehre, wie sie in der »Metaphysik der Sitten« bzw. des »Vokabulars des Als ob« explizit als »einen
entfaltet wird, erweist sich dann, dass geplante Ein- Nervpunkt meines ganzen theoretischen Unterneh-
griffe ins menschliche Genom dem Postulat wider- mens« (EA, 354). Insbesondere in den Sozialwis-
sprechen, dass der Mensch dem Mensch jederzeit senschaften ist diese Begriffsentwicklung von der
auch Zweck sein soll. Geplante Eingriffe ins Genom idealen Sprechsituation zu den unvermeidlichen
erschüttern damit die gewachsene Überzeugung kontrafaktischen Voraussetzungen nur wenig zur
vom »Selbst-Sein-Können« menschlicher Personen, Kenntnis genommen worden, weshalb dieser »Nerv-
die sich doch bisher als »ungeteilte Autoren ihres Le- punkt« der Habermas’schen Theorie eines der am
bens verstehen« konnten (LE, 124). meisten missverstandenen Theorieelemente über-
Mit dieser Verteidigung einer zufallsgesteuerten haupt darstellt.
Entstehung neuer Menschen durch die genetische Die idealisierenden Unterstellungen wohnen
Lotterie des Geschlechtsverkehrs als Garantie einer nicht der Sprache per se, sondern der kommunikati-
menschenwürdigen Lebensform reiht sich Haber- ven Verwendung sprachlicher Ausdrücke inne (WR,
mas selbst in eine konservative Front des Bewahrens 110 ff.). Eine erschöpfende Liste der idealisierenden
16. Kontrafaktische Voraussetzungen 339

Unterstellungen, die in der Argumentationspraxis Sprechsituation den »Vorschein einer Lebensform«


unvermeidlich sind, findet sich nicht, aber in seinem andeute, wie er es zuvor formulierte (Habermas
späteren Werk nennt Habermas die folgenden als die 1982, 261 f.). Ende der 1980er Jahre ließ Habermas
»vier wichtigsten Präsuppositionen« (NR, 54 f.): (1) den Begriff der idealen Sprechsituation vollends fal-
Öffentlichkeit und Inklusion: die Unterstellung, dass len und präzisierte die zugrundeliegende Vorstellung
niemand, der einen relevanten Beitrag machen 1992 in Faktizität und Geltung, mit Hilfe einer zen-
könnte, von der Teilnahme ausgeschlossen wird; (2) tralen Begriffsunterscheidung zwischen der ideali-
kommunikative Gleichberechtigung: die Unterstel- sierenden Unterstellung als unvermeidlicher pragma-
lung, dass allen die gleiche Chance gegeben wird, tischer Voraussetzung der Diskurspraxis einerseits
sich zur Sache zu äußern; (3) Ausschluss von Täu- und der idealen Kommunikationsgemeinschaft als
schung und Selbsttäuschung: die Unterstellung, dass Modell reiner kommunikativer Vergesellschaftung
die Teilnehmer meinen, was sie sagen und dement- im Sinne einer methodischen Fiktion andererseits.
sprechend kritisierbare Geltungsansprüche der Schon Mitte der 1980er Jahre kam Habermas zum
Wahrheit, der normativen Richtigkeit oder der Schluss, dass der Begriff der idealen Sprechsituation
Wahrhaftigkeit erheben; (4) zwangloser Zwang des (VE; TKH) »ein etwas zu konkretistischer Ausdruck
besseren Arguments: die Unterstellung, dass die Ja/ für die Menge der allgemeinen und unvermeidlichen
Nein-Stellungnahmen zu kritisierbaren Geltungsan- Kommunikationsvoraussetzungen« ist, die »jedes
sprüchen allein durch die Überzeugungskraft besse- sprach- und handlungsfähige Subjekt immer dann
rer Gründe motiviert sind und nicht durch äußere machen muss, wenn es ernsthaft an einer Argumen-
oder innere Zwänge; dass nur eine Rolle spielt, was tation teilnehmen möchte« (NU, 229). Es geht
gesagt wird, nicht wer etwas sagt (EA, 62; NR, 54 f.). Habermas vielmehr um das »intuitive Wissen« von
Die letzte der vier Unterstellungen verweist auf die Argumentationsvoraussetzungen, über das »jeder
triadische Struktur der Argumentationspraxis. Im kompetente Sprecher« verfügt (NU, 228 f.). Dement-
Wettbewerb um das bessere Argument beziehen sich sprechend kritisiert Habermas die von Peirce und
die Diskursteilnehmer auf etwas Drittes jenseits der später von Apel vorgebrachte Vorstellung einer idea-
Beteiligten selbst, d. h. auf die Autorität der Vernunft len Kommunikationsgemeinschaft ebenso wie seine
bzw. auf die Logik der Rechtfertigung. In strategi- eigene frühere Rede von der idealen Sprechsituation
schen Verhandlungen hingegen, in denen die Präfe- als Beispiele einer »fallacy of misplaced concrete-
renzen der Beteiligten als fix angesehen werden und ness. Diese Bilder sind konkretistisch, weil sie einen
es bloß um den Ausgleich dieser Interessen im Rah- in der Zeit erreichbaren Endzustand suggerieren,
men einer gegebenen Machtkonstellation geht, fehlt der nicht gemeint sein kann« (NBR, 152 f.).
diese Bezugnahme auf etwas Drittes (Habermas Trotz dieser Selbstkritik betont Habermas, die un-
2007, 415 f.). begrenzte Kommunikationsgemeinschaft zu keinem
Wer sich ernsthaft an einer Argumentation betei- Zeitpunkt von einer notwendigen Unterstellung zu
ligt, macht faktisch diese idealisierenden Unterstel- einem Ideal in der Wirklichkeit hypostasiert zu ha-
lungen unvermeidlicherweise. Allerdings bedeutet ben. Bereits vor Faktizität und Geltung zögerte Ha-
dies nicht, dass die Diskursteilnehmer die kontrafak- bermas ausdrücklich, die ideale Kommunikations-
tische Natur dieser Voraussetzungen während des gemeinschaft bzw. die ideale Sprechsituation »eine
Argumentationsprozesses notwendigerweise verges- regulative Idee im Sinne Kants zu nennen, weil sich
sen und sich mit Haut und Haaren von ihrem Enga- der Sinn einer ›unvermeidlichen idealisierenden Vo-
gement konsumieren lassen würden. Wovon sie in raussetzung pragmatischer Art‹ dem klassischen Ge-
objektivierender Einstellung, als nicht beteiligte gensatz von ›regulativ‹ und ›konstitutiv‹ nicht fügt«
Diskursanalytiker, ein thematisches Wissen haben (DNR, 131 ff.). Habermas geht insofern über den
könnten, kann ihnen auch in performativer Einstel- Kant’schen Antagonismus von regulativen und kon-
lung intuitiv vieles gegenwärtig bleiben. In der Argu- stitutiven Ideen hinaus. Wer in den idealisierenden
mentationspraxis kommt dieses intuitive Wissen von Unterstellungen »nur die unerlaubte Vergegenständ-
der Kontrafaktizität aber erst bei wahrgenommenen lichung einer regulativen Idee« erkennt, dessen Per-
Inkonsistenzen, die den Verdacht erwecken, »dass spektive ist noch durch diesen Kant’schen Antago-
hier gar nicht argumentiert wird«, richtig ins Spiel nismus geprägt. Es verhält sich vielmehr so, dass wir
(NR, 55 f.). die Unterstellungen, obwohl sie idealisierend sind,
Bereits zu Beginn der 1980er Jahre distanzierte faktisch machen müssen, wenn wir überhaupt in
sich Habermas von der Annahme, dass eine ideale eine Argumentation eintreten wollen. Gleichzeitig
340 IV. Begriffe

haben diese faktischen Unterstellungen auch empiri- schaftlicher Komplexität sichtbar wird. In diesem
sche Effekte: »Jeder faktisch erhobene Geltungsan- unverfänglichen Sinne bietet sich die ideale Kom-
spruch [...] schafft mit der Ja- oder Nein-Stellung- munikationsgemeinschaft als Modell ›reiner‹ kom-
nahme des Adressaten eine neue Tatsache« (ebd.). munikativer Vergesellschaftung an« (ebd.). Als ein-
Damit ist für Habermas »die Zwei-Reiche-Lehre [...] ziges Mittel zur Selbstorganisation dieser ›reinen‹
ohne Rest überwunden. Die Struktur des verständi- Kommunikationsgemeinschaft gilt jenes der diskur-
gungsorientierten Sprachgebrauchs verlangt von den siven Meinungs- und Willensbildung. Damit ver-
kommunikativ Handelnden idealisierende Unter- weist diese methodische Fiktion auch auf Habermas’
stellungen, aber diese fungieren als gesellschaftliche Arbeiten zur Öffentlichkeit (s. Kap. IV.24). Die Vor-
Tatsachen [...]« (Habermas 1986, 367). stellung einer unlimitierten epistemischen bzw.
Die Begriffsentwicklung von der idealen Sprech- selbstkorrektiven Kapazität der Öffentlichkeit fun-
situation zu den kontrafaktischen Voraussetzungen giert in Habermas’ späterem Werk als methodische
findet ihren Abschluss in Faktizität und Geltung, wo- Fiktion. Habermas verwendet den Begriff der me-
rin Habermas unter Bezugnahme auf Hauke Brunk- thodischen Fiktion, um gegen ein »idealistisches
horst einerseits und Bernhard Peters andererseits Missverständnis von gesellschaftlicher Integration,
eine klärende Grundunterscheidung vollzieht: die das manche Leute mir fälschlich zuschreiben, Be-
kontrafaktische, idealisierende Unterstellung als denken vorzutragen« (NBR, 152).
unvermeidliche pragmatische Voraussetzung der Davon ist, wie erwähnt, der Begriff der kontrafak-
Diskurspraxis gilt es zu unterscheiden von der me- tischen Voraussetzungen strikt zu unterscheiden.
thodischen Fiktion der idealen Kommunikationsge- Die ihm zugrundeliegende allgemeine Vorstellung,
meinschaft als Modell reiner kommunikativer Ver- das Vokabular des »Als ob« und die damit verbunde-
gesellschaftung. nen empirischen Effekte, ist aber nicht etwa auf Ha-
»Ein Entsprechungsverhältnis oder ein Vergleich zwischen bermas beschränkt. So hat etwa bereits C. Wright
Idee und Realität kommt [...] bei den idealisierenden Unter- Mills in The Sociological Imagination (1959) deutlich
stellungen, die wir immer schon vornehmen müssen, wenn auf dieses Phänomen hingewiesen. Durch »acting as
wir uns überhaupt verständigen wollen, gar nicht ins Spiel« if we were in a fully democratic society […], we are
(Brunkhorst 1993, 345). attempting to remove the ›as if‹.« Diese Praktiken
Mit diesem Begriff der idealisierenden Unterstellun- des »Als ob« können faktisch »help build a democra-
gen verhält es sich also »anders als beim Entwurf von tic polity« (Mills 2000, 189).
Idealen, in deren Licht wir Abweichungen identifi- Habermas hat in seinem mittleren und späteren
zieren können« und die »annäherungsweise ver- Werk die Bedingungen herausgearbeitet, unter de-
wirklicht« werden können (FG, 392). Bei der regula- nen dies nicht nur möglich, sondern unvermeidlich
tiven Idee im Sinne von Kant bzw. bei deren metho- sei. Wann immer wir in einen verständigungsorien-
dologischen Übersetzungen wie etwa Webers tierten Diskurs eintreten, machen wir unvermeidli-
Idealtypus handelt es sich um eine Frage der Annä- cherweise idealisierende Unterstellungen – in Form
herung, bei den idealisierenden Unterstellungen des der eingangs erläuterten vier wichtigsten Präsuppo-
»Als ob« aber genau nicht (Habermas 2007, 426). sitionen. Wir unterstellen, dass »nur der zwanglose
In Anlehnung an Bernhard Peters bezeichnet Ha- Zwang des besseren Arguments« (DNR, 131) die Dis-
bermas seine methodologische Übersetzung der re- kursteilnehmer zu Ja- oder Nein-Stellungnahmen
gulativen Idee als methodische Fiktion. Das Ideal- motiviert und nicht etwa ein der Sache nach äußerli-
modell dient als »Folie, um empirische Abweichun- cher Zwang.
gen vom fiktiven Idealzustand hervorzuheben und Diese kontrafaktischen Voraussetzungen sind, als
zu beschreiben – um also im Kontrast bestimmte Unterstellungen, Tatsachen. Die Unterstellungen
Züge der Realität sichtbar zu machen« (Peters 1993, sind faktisch wirksam und kontrafaktisch zugleich.
240). Dabei wird die »Idee der Selbstorganisation auf Sie sind der kommunikativen Praxis immanent und
die Gesellschaft im ganzen projiziert«. Der Begriff transzendieren diese zur gleichen Zeit (McCarthy
der idealen Kommunikationsgemeinschaft stellt eine 1994, 38 f.). Habermas hat dieses Phänomen auch als
»Projektion« dar, die »für ein Gedankenexperiment« »Transzendenz von innen« (TK) bezeichnet (Rizvi
genutzt werden soll (FG, 392 ff.). »Das essentialisti- 2007).
sche Missverständnis kann zu einer methodischen »Mit dem normativen Gehalt solcher idealisierenden und
Fiktion entschärft werden, um eine Folie zu gewin- doch unvermeidlichen Kommunikationsvoraussetzungen
nen, auf der das Substrat unvermeidlicher gesell- einer faktisch geübten Praxis findet die Spannung zwischen
16. Kontrafaktische Voraussetzungen 341

dem Intelligiblen und dem Empirischen Eingang in die reichte Vereinbarung auf verständigungsorienterte
Sphäre der Erscheinungen selber. Kontrafaktische Voraus- oder strategische Aktoreinstellungen zurückgeht, ist
setzungen werden zu sozialen Tatsachen – dieser kritische
nicht einfach zu ermitteln. Da sich die Aktoreinstel-
Stachel sitzt einer sozialen Realität, die sich über verständi-
gungsorientiertes Handeln reproduzieren muss, im Fleisch« lungen direkter Beobachtung entziehen und einer
(ND, 55). Befragung nur indirekt erschließen, sind kostspie-
lige mäeutische Erhebungsmethoden nötig (Haber-
Die kontrafaktischen Voraussetzungen sind damit mas 2007, 417, 421 f.).
auch die Grundlage dessen, was Habermas als nach- Während die Ermittlung der Aktoreinstellungen
metaphysisches Denken (s. Kap. IV.23) bezeichnet. und der entsprechend Handlungstypen und damit
Darauf angesprochen, warum er in der Theorie des die Ermittlung der genauen Wirksamkeit der ideali-
kommunikativen Handelns immer von »quasi-tran- sierenden Unterstellungen verständigungsorientier-
szendental« spreche und damit nicht eine zu schwa- ten Handelns im sozialen Leben methodologisch
che Version von transzendentaler Begründung ver- nicht einfach ist – dass diese Unterstellungen immer
trete, soll Habermas einmal geantwortet haben: »Die wieder faktisch gemacht werden und zu einem ge-
schwächste ist die beste!« In diesem Sinne kann Ha- wissen Grade operativ wirksam sind, ist für Haber-
bermas’ Denkweg auch als Herausarbeitung der mas gewiss. Dies ist begründet durch den Umstand
schwächst möglichen Variante von Transzendental-
»daß die vergesellschafteten Individuen gar nicht umhin
philosophie verstanden werden. Dieses Leitmotiv können, in der kommunikativen Alltagspraxis auch einen
des Habermas’schen Werkes wird an der Begriffsent- verständigungsorientierten Gebrauch zu machen […]. Es
wicklung von der idealen Sprechsituation zu den un- ist ganz simpel: immer wenn wir meinen, was wir sagen, er-
vermeidlichen kontrafaktischen Unterstellungen be- heben wir für das Gesagte einen Anspruch, daß es wahr
sonders deutlich. oder richtig oder wahrhaftig ist; damit bricht ein Stück Ide-
alität in unseren Alltag ein« (VZ, 133 f.).
Wie wirksam diese Unterstellungen im sozialen
Leben sind und ob sie sich in unseren Institutionen Zwar kann sich der Einzelne jederzeit dazu ent-
verkörpern, so dass das »Wirkliche vernünftig wird« schließen, andere zu manipulieren oder offen strate-
(Hegel 1983, 51) und ob die Entwicklungslogik der gisch zu handeln. Allerdings können sich nicht alle
Vernunft sich in der Entwicklungsdynamik der Evo- jederzeit so verhalten. In diesem Falle würde näm-
lution (s. Kap. IV.7) bzw. im geschichtlichen Prozess lich etwa der Begriff der Lüge hinfällig, und mit ihm
tatsächlich durchsetzt (zur Unterscheidung vgl.: würde das gegenwärtige Begriffsnetz der Sprache zu-
RHM, insbes. 35, 139 f., 144–199), ist eine völlig of- sammenbrechen. Ebenso würden so etwas wie Tra-
fene empirische Frage. Habermas gesteht ein, dass er ditionsaneignung bzw. Sozialisation unmöglich. Um
in der Forschungspraxis die damit verbundene Me- in einer Welt der totalen Manipulation bzw. des offe-
thode der rationalen Rekonstruktion (s. Kap. IV.27) nen strategischen Handelns leben und daran partizi-
nur ungenügend entwickelt hat (Habermas 2007, pieren zu können, bräuchte es andere Begriffe. Ge-
425). Allerdings betont er gleichzeitig, dass ein Pro- mäß Habermas ist das gegenwärtige Begriffsnetz der
blem der Forschungsmethode bzw. der Erhebungs- Sprache damit nicht kompatibel (ebd.).
technik nicht ohne Weiteres dem theoretischen An- Im Unterschied zu den informellen Praktiken
satz angelastet werden darf (Habermas 2007, 421 f.). bzw. der schwach institutionalisierten kommunika-
Nach der Jahrtausendwende hat Habermas begon- tiven Alltagspraxis ist es auf der Ebene formal orga-
nen, sich vertieft den empirischen Evidenzen der nisierten Handelns bzw. institutionalisierter Verfah-
faktischen Wirksamkeit kontrafaktischer Unterstel- ren methodologisch etwas leichter zu erfassen, wie
lungen zu widmen (Habermas 2005; AE, 138–191; kommunikative Vernunft (s. Kap. III.5) in der Mei-
Habermas 2007). nungs- und Willensbildung zum Zuge kommt. Da
Besonders in informellen Praktiken bzw. in der formale Bedingungen von Fall zu Fall eine relative
schwach institutionalisierten kommunikativen All- Entkoppelung des Kommunikationsmodus von den
tagspraxis erfordert die empirische Zuordnung von Einstellungen der beteiligten Aktoren fördern, lässt
Äußerungen zu Aktoreinstellungen einen vergleichs- sich hier die faktische Wirksamkeit kontrafaktischer
weise hohen Interpretationsbedarf. Verständigungs- Unterstellungen gemäß Habermas auch ohne Rekurs
orientierte und strategische Aktoreinstellungen und auf die verständigungsorienterte Einstellung einzel-
die entsprechenden Handlungstypen können hier ner Teilnehmer beobachten (Habermas 2007, 417).
schnell wechseln und bringen oft gemischte »Texte« Auf den kontrafaktischen Unterstellungen beruht
hervor. Zu welchen Teilen eine im Einzelfall er- überdies auch die Faktizität des Normativen (s. Kap.
342 IV. Begriffe

IV.8). Im Unterschied zu Philosophen wie etwa Sprachanalyse ersetzt. Diese Behauptung beruht auf
Rawls zielt Habermas genau nicht auf eine norma- einem zweifachen Missverständnis. Zum einen han-
tive Theorie ab, welche die Grundnormen einer für delt es sich gemäß Habermas nicht um Sprachana-
wohlgeordnet gehaltenen Gesellschaft am Reißbrett lyse per se, sondern um die rekonstruktive Analyse
konstruiert. Bei den pragmatisch unvermeidlichen der kommunikativen Verwendung sprachlicher Aus-
idealisierenden Unterstellungen handelt es sich drücke (WR, 110 ff.). Zum anderen ist die Fokusver-
»nicht um Ideale, die der einsame Theoretiker gegen- schiebung von der historisch-soziologischen Struk-
über der Wirklichkeit, wie sie nun einmal ist, auf- turanalyse zur rekonstruktiven Analyse nicht etwa
richtet; ich beziehe mich nur auf die in unseren Prak- grundsätzlicher, sondern bloß forschungsprakti-
tiken angetroffenen normativen Gehalte« (VZ, 135). scher Art. So etwa äußerte Habermas zu Beginn der
Das Normative sitzt der sozialen Realität mit dem 1980er Jahre die Absicht, nochmals eine Studie zum
kritischen Stachel der kontrafaktischen Unterstel- Strukturwandel der Öffentlichkeit zu verfassen (NU,
lungen im Fleisch. 208). Dies zeigt, dass die Verschiebung des For-
Habermas hat den methodischen Ansatz der rati- schungsfokusses nicht als Grundsatzveränderung,
onalen Rekonstruktion zum ersten Mal eingeführt sondern eher als das Ergebnis der zeitlich begrenz-
im Nachwort der Taschenbuchauflage von 1973 von ten Forschungskapazität anzusehen ist. Die sozio-
Erkenntnis und Interesse (EI). In jenem Nachwort wie historische Öffentlichkeitsanalyse wird nicht hinfäl-
auch im Rückblick 30 Jahre später (Habermas 2000) lig, sondern bloß ergänzt durch den rekonstruktiven
führt Habermas aus, dass in der ersten Auflage von Ansatz, begründet durch die Notwendigkeit, »die
1968 die Konzeption von Erkenntnis und Interesse normativen Grundlagen der kritischen Theorie tie-
an einer Konfusion von zwei verschiedenen Bedeu- fer zu legen« (Habermas 1990, 34). Habermas ver-
tungen von »Selbstreflexion« litt. Dahingegen muss steht diese zusätzliche, »tiefer« ansetzende Analyse-
man unterscheiden ebene als komplementär, nicht als gegensätzlich.
Trotz der ungemein klärenden Entwicklung sei-
»zwischen der kritischen Auflösung von Selbsttäuschun-
gen, die das erlebende Subjekt auch in seinen Erkenntnis-
nes Werks in diesem »Nervpunkt meines ganzen
leistungen einschränkt, und dem Explizitmachen jenes in- theoretischen Unternehmens«, insbesondere der
tuitiven Wissens, das unser normales Sprechen, Handeln erläuterten Begriffsentwicklung von der idealen
und Erkennen erst möglich macht. [...] Die analytische Be- Sprechsituation zu den pragmatisch unvermeidli-
freiung von selbst erzeugten Pseudogegenständlichkeiten chen, idealisierenden Unterstellungen, resümierte
verlangt offensichtlich ein anderes Vorgehen als die ratio-
Habermas selbst im Nachgang zu Faktizität und Gel-
nale Nachkonstruktion eines allgemeinen, aber impliziten
Wissens« (Habermas 2000, 14). tung: »Hier bleibt noch viel zu tun« (EA, 354).

Mit dieser falschen Weichenstellung erklärt Haber- Literatur


mas, weshalb er damals und insgesamt in seinem
Brunkhorst, Hauke: »Zur Dialektik von realer und idealer
Frühwerk Ideologiekritik für das zentrale neue Mus- Kommunikationsgemeinschaft«. In: Andreas Dorschel/
ter einer kritischen Gesellschaftstheorie hielt (ebd.). Matthias Kettner/Wolfgang Kuhlmann/Marcel Niquet
Umgekehrt formuliert bedeutet dies: Indem Haber- (Hg.): Transzendentalpragmatik: Ein Symposion für Karl-
mas diese falsche Weichenstellung seit seinem mitt- Otto Apel. Frankfurt a. M. 1993, 342–358.
Habermas, Jürgen: »A Reply to my Critics«. In: John B.
leren Werk zu korrigieren begonnen hat, begab er
Thompson/David Held (Hg.): Habermas – Critical De-
sich auf den Pfad der Herausarbeitung einer neuen bates. Cambridge, Mass. 1982, 219–283.
Grundlage der kritischen Gesellschaftstheorie, näm- Habermas, Jürgen: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans
lich der rationalen Rekonstruktion der kontrafakti- Joas (Hg.): Kommunikatives Handeln: Beiträge zu Jürgen
schen Voraussetzungen als des kritischen Stachels Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«.
im Fleisch der sozialen Realität. Frankfurt a. M. 1986, 327–405.
–: »Vorwort zur Neuauflage 1990«. In: Ders.: Strukturwan-
Dieser forschungsintensive Pfad mag auch die del der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie
thematische bzw. disziplinäre Fokusverschiebung er- der bürgerlichen Gesellschaft [1962]. Mit einem Vorwort
klären, die das Habermas’sche Werk erfahren hat. zur Neuauflage. Frankfurt a. M. 1990, 11–50.
Besonders in den englischsprachigen Sozialwissen- –: »Nach dreißig Jahren: Bemerkungen zu Erkenntnis und
schaften hat diese Fokusverschiebung zuweilen zur Interesse«. In: Stefan Müller-Doohm (Hg.): Das Interesse
der Vernunft: Rückblicke auf das Werk von Jürgen Haber-
Behauptung geführt, Habermas habe die sozio-his- mas seit »Erkenntnis und Interesse«. Frankfurt a. M. 2000,
torische Analyse der Öffentlichkeit seines Frühwer- 12–20.
kes später grundsätzlich durch philosophische –: »Concluding Comments on Empirical Approaches to
17. Legale und legitime Kriege 343

Deliberative Politics«. In: Acta Politica 40, Nr. 3 (2005), schon den voll institutionalisierten weltbürgerlichen
384–392. Zustand, den zu befördern die Absicht ist« (Haber-
–: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende mas 2000, 63).
Politik: eine Replik«. In: Peter Niesen/Benjamin Her-
borth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit: Jür- In normativer Perspektive auf die internationale
gen Habermas und die Theorie der internationalen Poli- Politik zeigt sich Habermas als klarer Verfechter ei-
tik. Frankfurt a. M. 2007, 406–459. nes Kantischen Projekts der Konstitutionalisierung
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Philosophie des Rechts. des Völkerrechts, d. h. der langfristigen Transforma-
Frankfurt a. M. 1983. tion des Völkerrechts als eines Staatenrechts in eine
McCarthy, Thomas: »Philosophy and Critical Theory: A
Reprise«. In: Ders.: Critical Theory. Oxford, UK/Cam- weltbürgerliche Verfassung (GW, 123, 147, 158; s.
bridge, Mass. 1994, 5–100. Kap. II.17). Auch wenn er Kants begriffliche Eng-
Mills, C. Wright: The Sociological Imagination [1959]. New führung auf eine Weltrepublik ablehnt, bildet der
York 2000. Fluchtpunkt der konsequenten Verrechtlichung der
Peters, Bernhard: »Intentionale und nichtintentionale Ver- internationalen Beziehungen den normativen Maß-
gesellschaftung«. In: Ders.: Die Integration moderner Ge-
sellschaften. Frankfurt a. M. 1993, 229–248. stab auch für Habermas’ politische Deutung der
Rizvi, Ali Muhammad: Habermas’ Conception of »Tran- Kriege seit 1990. Desungeachtet ist eine gewisse Er-
scendence from within«: An Interpretation. Diss. La Trobe nüchterung über die Fortschritte des Konstitutiona-
University. Bundoora, Victoria (Australia) 2007. lisierungsprojekts erkennbar, die sich in zunehmend
Andreas Koller schärferer Kritik an den USA manifestiert:
Kritisierte Habermas bereits während des Golf-
kriegs 1991 die Tendenz der westlichen Supermacht,
aus der gerechtfertigten »Polizeiaktion« einen »ganz
17. Legale und legitime normalen Krieg« zur Durchsetzung ihrer eigenen
Ordnungsinteressen im Nahen Osten zu machen
Kriege (Habermas 1991), bemerkte er im Kosovokrieg deut-
licher das unterschiedliche Verständnis von Men-
Als öffentlicher Intellektueller hat sich Jürgen Ha- schenrechtspolitik zwischen Amerikanern und
bermas stets auch in Kontroversen um aktuelle poli- (Kontinental-)Europäern. Letztere neigten demnach
tische Ereignisse eingemischt; in seinen politischen zur Förderung der weiteren Verrechtlichung der in-
Betrachtungen sparte er ein Thema nicht aus, das in ternationalen Beziehungen, erstere zur weltweiten
liberal-demokratischen Öffentlichkeiten wie in der Durchsetzung der Menschenrechte als nationale
liberalen politischen Theorie besonders heikel ist: Mission einer Weltmacht (Habermas 2000, 61). Im
die Rechtfertigung von Kriegen. Seit Ende des Kal- Irak-Krieg 2003 kulminiert diese normative Ent-
ten Krieges hat Habermas in politischen Essays, Zei- zweiung schließlich in der »Spaltung des Westens«,
tungskommentaren und Interviews zu drei Kriegen für die Habermas im Wesentlichen die USA verant-
westlicher Staaten ausführlicher Stellung genommen wortlich macht (GW).
– Golfkrieg 1991, Kosovokrieg 1999 und Irak-Krieg Während er die beiden aus westlicher Sicht zen-
2003 –, zum anhaltenden Afghanistan-Einsatz äu- tralen Kriege der 1990er Jahre, Golfkrieg und Koso-
ßert er sich dagegen sehr zurückhaltend (Habermas vokrieg, für gerechtfertigte »Polizeiaktionen« hielt
1991, 2000; Derrida/Habermas 2004; GW). und sie trotz seiner Kritik an der Art sowie den Ne-
Den stärksten und kritischsten Widerhall in Pu- benfolgen der Kriegführung prinzipiell der Beförde-
blizistik und Wissenschaft fand seine Verteidigung rung eines weltbürgerlichen Zustandes dienlich sah
des umstrittenen, nicht UN-mandatierten Kosovo- (Habermas 1991, 2000), verurteilte er den von den
krieges als »Vorgriff« auf einen künftigen kosmopo- USA seit 2001 ausgerufenen sog. ›Krieg gegen den
litischen Zustand in einem bis heute viel zitierten Terrorismus‹, inklusive des Afghanistan-Krieges, so-
Zeit-Artikel vom 29. April 1999, »Bestialität und wie den Irak-Krieg 2003 als »ruinöse Rückschläge«
Humanität«. Auch wenn Habermas betont, dass die auf dem Weg zu einer Konstitutionalisierung der in-
Selbstermächtigung der Nato nicht zum Regelfall ternationalen Beziehungen (GW, 146; Derrida/Ha-
werden dürfe und zahlreiche Bedenken äußert, zeigt bermas 2004): »Statt der Polizeiaktionen, auf die wir
er Verständnis für die »Unvermeidlichkeit eines vor- während des Kosovo-Krieges gehofft hatten, gibt es
übergehenden Paternalismus« und reformuliert das wieder Kriege – Kriege auf dem neuesten techni-
Dilemma der Menschenrechtspolitik in einer Zeit schen Stand, aber im alten Stil« (GW, 13).
des Übergangs, »so handeln zu müssen, als gäbe es Den Begriff ›Krieg‹ expliziert Habermas in seinen
344 IV. Begriffe

Kommentierungen zu Krieg und Terror nicht weiter. das internationale Recht; schließlich stellten die In-
In seiner Kritik an dem von US-Präsident Bush pro- stitutionalisierung von Verfahren zur Feststellung
klamierten »War on Terror« wird jedoch zumindest und Ahndung von Regelverstößen in der Verfassung
deutlich, dass Habermas den Kriegsbegriff an Ge- der Vereinten Nationen einen ganz entscheidenden
waltanwendung zwischen Staaten bindet (GW, 96). Schritt in der Konstitutionalisierung der Weltpolitik
Die Rede vom ›Krieg‹ gegen den Terror hält er nor- dar: »Seitdem gibt es keine gerechten und ungerech-
mativ wie pragmatisch für einen »schweren Fehler«, ten Kriege mehr, sondern nur noch legale oder ille-
da diese Bezeichnung Terroristen zu Kriegsverbre- gale, also völkerrechtlich gerechtfertigte oder unge-
chern aufwerte und es unmöglich sei, gegen ein rechtfertigte Kriege« (GW, 101, Hervorh. i.O.).
kaum greifbares Netzwerk Krieg zu führen (GW, 22, Habermas grenzt sich mit dieser Bestimmung so-
97). In seiner eigenen philosophischen Perspektive wohl von John Rawls als auch von Michael Walzer
des Konstitutionalisierungsprojekts lässt Habermas ab, die an der Lehre eines »gerechten Krieges« fest-
den Begriff des »Krieges« fallen und stellt stattdessen halten. Während Rawls einer liberalen Staaten-
semantisch auf »Polizeiaktionen« um. Denn in der Avantgarde Urteil und Entscheidung über die ge-
Langfristperspektive einer globalen Rechtsordnung waltsame Durchsetzung internationaler Gerechtig-
nehmen kriegerische Auseinandersetzungen »die keit überlassen wolle, sehe Walzer hier eher die
Qualität von Gefahrenabwehr und Strafverfolgung einzelnen beteiligten Staaten als urteilsbefugt, ob de-
an« (GW, 122). mokratisch oder nicht (GW, 100). Walzers Konzep-
Problematisch ist für diese Deutung von militäri- tion eines »gerechten Krieges« ist für Habermas vor
schen Interventionen als »Polizeigewalt«, dass sich allem deshalb problematisch, weil die Beurteilung
die internationalen Beziehungen in einem Übergang der Materie hier nicht an inklusive und unparteili-
vom klassischen Völkerrecht zu einem weltbürgerli- che Verfahren der Erzeugung und Anwendung von
chen Zustand befinden, dessen Ambivalenzen im- Normen gebunden wird. Nur solche Verfahren nö-
mer klarer zu Tage treten. Das Grundproblem be- tigten jedoch zur gegenseitigen Perspektivenüber-
steht in dem enormen Machtgefälle zwischen der le- nahme und zur Interessenberücksichtigung (s. Kap.
gitimierenden, aber relativ schwachen Autorität der IV.1; IV.3). Die Kriterien für »gerechte Kriege« seien
Vereinten Nationen und den militärisch handlungs- wesentlich ethisch-politischer Natur, weshalb ihre
fähigen Nationalstaaten, die ihre eigenen Interessen Anwendung der Klugheit und dem Gerechtigkeits-
verfolgen und als »Partei« agieren (vgl. Habermas sinn von Nationalstaaten vorbehalten bleibe (GW,
2000, 63). Die supranationale Ebene der Weltorgani- 103).
sation, die sich in Habermas’ Entwurf nicht-selektiv Habermas’ Positionen zum Irak-Krieg und zum
auf Friedenssicherung und Menschenrechtspolitik Kosovokrieg geraten hier allerdings an einigen Stel-
beschränken sollte, ist realiter unterinstitutionali- len in Widerspruch zueinander: Der Kosovokrieg,
siert und ressourcenschwach. Dies beschädigt nicht der gerade in Deutschland wegen des Fehlens eines
nur die Glaubwürdigkeit der UNO, sondern erlaubt expliziten UN-Mandats und der erstmaligen Teil-
die Selbstermächtigung interventionsbereiter Staa- nahme der Bundeswehr an einem Kampfeinsatz im
ten – mit der Folge, dass die »vermeintliche Polizei- engeren Sinne umstritten war (z. B. Lutz 1999/2000),
aktion […] dann nämlich von einem stinknormalen wurde von einigen Befürwortern zwar als illegal be-
Krieg nicht zu unterscheiden« ist (GW, 27). zeichnet – aufgrund des fehlenden Mandats –, aber
Den illegalen Irak-Krieg 2003 verurteilte Haber- doch als moralisch legitimiert verteidigt – wegen der
mas scharf. Er stellt für ihn einen »offensichtlichen« Abwendung einer humanitären Katastrophe – und
Bruch des Völkerrechts dar, der ohne Rechtfertigung damit im Lichte der »gerechten Kriegs«-Lehre dis-
und ohne Beispiel gewesen sei (GW, 85). Die Ent- kutiert (vgl. Mayer 1999). Der Kriegsbeginn war von
wicklung, die zu diesem Krieg führte, diagnostiziert einem stark moralisierenden Diskurs begleitet, und
Habermas als Kehrtwende im Völkerrecht, da das die Nato-Staaten hielten sich als Bündnis demokrati-
Verhalten der USA zumindest die Frage aufwerfe, ob scher und rechtsstaatlicher Staaten – die Türkei gnä-
sie die Verrechtlichung der internationalen Politik dig einschließend – für durchaus legitimiert, zu han-
durch eine Ethisierung der Weltpolitik ersetzen und deln.
eine Weltordnung auf Basis eines hegemonialen Li- Habermas (2000) hat dieser Sichtweise westlicher
beralismus errichten wollte (GW, 115). Im Zusam- Regierungen seinerzeit mit seiner Deutung vom
menhang mit dem Irak-Krieg betont Habermas die »Vorgriff« eine positive Würdigung verliehen, an-
notwendige strikte Bindung von Militäraktionen an statt einen Bruch des Völkerrechts anzuklagen. In
18. Legalität, Legitimität und Legitimation 345

Teilen bestätigte er diese Sicht auch in späteren Äu- Literatur


ßerungen (GW, 35, 86). Das heißt: Im Falle des Ko- Derrida, Jacques/Habermas, Jürgen: Philosophie in Zeiten
sovokrieges gibt er die strikte Bindung an das Man- des Terrors. Zwei Gespräche, geführt, eingeleitet und kom-
dat des UN-Sicherheitsrats preis, auf die er im Falle mentiert von Giovanna Borradori. Berlin 2004 (engl.
des Irak-Kriegs besteht. Nicht zuletzt wiederholt er 2003).
den heiklen Punkt, dass sich die Legitimation des Habermas, Jürgen: »Wider die Logik des Krieges«. In: Die
ZEIT, 15.2.1991.
Kosovokrieges unter anderem auf den Umstand des
–: »Bestialität und Humanität«. In: Reinhard Merkel (Hg.):
»unbestritten demokratischen und rechtsstaatlichen Der Kosovo-Krieg und das Völkerrecht. Frankfurt a. M.
Charakter[s] aller Mitgliedsstaaten des ersatzweise 2000, 51–65 (zuerst in: Die ZEIT, 29.4.1999).
handelnden Militärbündnisses« habe gründen kön- Lutz, Dieter (Hg.): Der Kosovo-Krieg. Rechtliche und rechts-
nen (GW, 35). Hier ist bemerkenswert, dass Haber- ethische Aspekte. Baden-Baden 1999/2000.
Mayer, Peter: »War der Krieg der NATO gegen Jugoslawien
mas im Falle des Irak-Kriegs auch aus epistemischen
moralisch gerechtfertigt«? In: Zeitschrift für Internatio-
Gründen die Bindung des demokratischen Hege- nale Beziehungen 6. Jg., 2 (1999), 287–321.
mons an inklusive diskursive Verfahren als zwin- Shaw, Martin: The New Western Way of War. London 2005.
gend ansieht (GW, 184), im Falle des Kosovokrieges Walzer, Michael: Erklärte Kriege – Kriegserklärungen. Ham-
jedoch die exklusive Deliberation im Kreis westli- burg 2003.
cher Staaten offenbar für ausreichend legitimierend Anna Geis
erachtet. Unterliegen nicht auch 19 Nato-Staaten ko-
gnitiven Beschränkungen? Die epistemische Privile-
gierung einer Gruppe von Demokratien vermag
nicht zu überzeugen, zumal dies an jüngere Versu- 18. Legalität, Legitimität
che US-amerikanischer Völkerrechtler erinnert, eine und Legitimation
politische, rechtliche und moralische Privilegierung
von Demokratien in die internationale Politik einzu-
ziehen – was Habermas’ eigenen Zielsetzungen des Einen gehaltvollen, sozialphilosophisch geprägten
Kantischen Projekts widersprechen muss. Begriff von Legitimität entwickelt Habermas erst-
Jenseits von Kosovo- und Irak-Krieg ist schließ- mals anfangs der 1970er Jahre in Auseinanderset-
lich unklar, wie der Unterschied zwischen Polizeige- zung mit der Herrschaftssoziologie Max Webers und
walt und Militärgewalt faktisch vorzustellen ist – die im Kontext seiner Diskussion der marxistisch inspi-
Rolle von Streitkräften bleibt seltsam blass. Haber- rierten Kapitalismuskritik (LS; RHM): Legitimität
mas fordert zwar die Weiterentwicklung des ius in bedeutet die »Anerkennungswürdigkeit einer politi-
bello zu einem Interventionsrecht, das den inner- schen Ordnung« (RHM, 271). Ausgangspunkt in Le-
staatlichen Polizeirechten ähnlich sehen sollte, sowie gitimitationsprobleme im Spätkapitalismus (LS) ist
eine engmaschige Reglementierung der erforderli- die Sinnproduktion (und Sinnkrise) des kapitalisti-
chen Gewalt (GW, 99). Als entgegenkommende Ten- schen Systems: Die Administration kann zwar die
denz sieht er hier z. B. die Entwicklung von Präzisi- ökonomische Krise schultern, aber die Sinnproduk-
onswaffen (GW, 173). Jedoch wird auch durch diese tion nicht selbst übernehmen (LS, 98 f.). Max Webers
kurzen Andeutungen nicht erkennbar, wie die Ef- Analyse der Legitimität rationaler Herrschaft ver-
fekte und Nebenfolgen konkreter (Polizei-)Gewalt- heißt keinen Ausweg; nach Weber ist die Legitimität
handlungen für die Zivilisten wesentlich abgemil- eine empirische Erscheinung, so dass, wie Habermas
dert werden könnten. Die Art der Kriegführung formuliert, bei Weber lediglich zwei Voraussetzun-
(einschließlich des Einsatzes von ›Präzisionswaffen‹) gen erfüllt sein müssen:
des Westens im Kosovo- wie im Irak-Krieg lässt
»a) die normative Ordnung muß positiv gesetzt sein, und
kaum die Erwartung zu, dass der Schutz gegneri- b) die Rechtsgenossen müssen an ihre Legalität, d. h. an das
scher Zivilisten Vorrang vor dem Schutz der eigenen formal korrekte Verfahren der Rechtsschöpfung und
Soldaten gewinnen würde (vgl. Shaw 2005). Haber- Rechtsanwendung glauben. Der Legitimitätsglauben
mas blendet hier die Frage aus, die in der Diskussion schrumpft zum Legalitätsglauben: es genügt die Berufung
zum »gerechten Krieg« wichtig ist: ob interventions- auf das legale Zustandekommen einer Entscheidung« (LS,
134 f.).
fähige Staaten im Rahmen einer »Polizeiaktion« be-
reit wären, eigene Opfer und größere Risiken zu- Dagegen setzt Habermas ein Konzept, das von einer
gunsten der Schonung von Zivilisten hinzunehmen »Wahrheitsabhängigkeit des Legitimitätsglaubens«
(vgl. Walzer 2003, 88 f.). ausgeht. Hieraus folgt: Das Verfahren der Rechtsset-
346 IV. Begriffe

zung bzw. Rechtsanwendung »[…] kann nicht als chen Atemzug die »geschriebenen bürgerlichen Ver-
solches Legitimation erzeugen, vielmehr steht die fassungen« einem Ideologieverdacht unterwirft (LS,
Prozedur der Satzung selbst unter Legitimations- 138 f.) und die entscheidende Ursache für Legitima-
zwang« (LS, 135). tionsdefizite in der Klassenstruktur der Gesellschaft
Aus der Perspektive des modernen Parlamenta- verortet (RHM, 320). Die Theorie des kommunikati-
rismus und eines an der Volkssouveränität orientier- ven Handelns (1981) wiederum enthält noch keinen
ten Denkens ist ein gehaltvoller Begriff der Legitimi- vertieften Gegenentwurf zu Dezisionismus und Na-
tät freilich in der Tendenz rückwärtsgewandt, weil er turrechtslehre, sondern problematisiert den moder-
der parlamentarischen Legalität im Namen einer nen Wohlfahrtsstaat, dessen Sozialpolitik eine Am-
»höheren« Autorität entgegengesetzt werden und bivalenz von Freiheitsverbürgung und Freiheitsent-
diese überspielen kann. Carl Schmitt, mit seinem zug anhaftet, und dessen Verrechtlichungstendenzen
unübertroffenen Sinn für Überholtes, hat dies in sei- zu einer »Kolonialisierung der Lebenswelt« führen
ner Verfassungslehre (1928) auf den Punkt gebracht, (TKH II, 522).
indem er die Legalität, d. h. die Positivität des Rechts, Erst in der Rechtstheorie in Faktizität und Geltung
gegen die Legitimität ausspielt: Die Legalität sei nur (1992) erfolgt eine folgenreiche Verschiebung von
deshalb legitim, weil sie Ausdruck einer »politischen den Legitimationsbedingungen spätkapitalistischer
Existenz« sei, die ihrerseits einer Rechtfertigung Herrschaft zu den Bedingungen einer Produktion
nicht fähig oder zugänglich sei. Die politische Ein- legitimen Rechts. Der bereits 1986 als Tanner-Lec-
heit existiert, und »[s]ie bedarf keiner Rechtferti- ture gehaltene Essay »Wie ist Legitimität durch Le-
gung an einer ethischen oder juristischen Norm, galität möglich?« (FG, 541 ff.) markiert einen Wen-
sondern hat ihren Sinn in der politischen Existenz. depunkt, indem Habermas sich nunmehr dem Recht
Eine Norm wäre gar nicht imstande, hier irgend et- selbst zuwendet und aus dem Diskursprinzip ein
was zu begründen« (Schmitt 1928, 87). In scharfer prozedurales Konzept der Legitimität entwickelt:
Abgrenzung von dieser Position und von Luhmanns
Verfahrensbegriff, der ebenfalls von einer nicht wei- »Das prozeduralistische Rechtsverständnis zeichnet also
die Kommunikationsvoraussetzungen und Verfahrensbe-
ter rational begründbaren Beliebigkeit, jedenfalls
dingungen der demokratischen Meinungs- und Willensbil-
aber von einer Wahrheitsunabhängigkeit ausgeht dung als einzige Legitimationsquelle aus. Mit der platoni-
(vgl. Luhmann 1975, 20–25), verwirft Habermas (LS, schen Vorstellung, daß das positive Recht seine Legitimität
135) diese Positionen als Dezisionismus. Hinter- aus höherem Recht schöpfen kann, ist das ebenso unver-
grund der Diskussion ist zum einen die überhitzt ge- einbar wie mit der empiristischen Leugnung jeder, über die
Kontingenz der gesetzgeberischen Entscheidungen hinaus-
führte Debatte über die Legitimität des positiv ge-
reichenden, Legitimität« (FG, Nachwort zur 4. Auflage,
setzten Rechts, die im Labor von Weimar entstand 664).
(insbesondere die Auseinandersetzungen zwischen
Carl Schmitt, Hans Kelsen und Hermann Heller, vgl. Zwar kommt auch das nachmetaphysische, prozedu-
dazu Dyzenhaus 1997), und zum anderen die Frage rale Rechtskonzept nicht ohne komplementäre
einer Legitimationsfähigkeit von Unrechtsherr- Rechte aus; diese Rechte sind allerdings nicht quasi-
schaft: In seinem Vorwort zur Neuauflage seines Bu- naturrechtlich vorgeformt, sondern müssen – als
ches Legitimität durch Verfahren sah sich Luhmann System der Rechte – im Prozess der Selbstgesetzge-
sogar genötigt, sich gegen den Vorwurf zu wehren, bung erst ausbuchstabiert werden (FG, 151 ff.).
sein Konzept ermögliche die Legitimation von Kon- Rechtsstaat und Demokratie sind daher intern ver-
zentrationslagern (Luhmann 1975, 1 f.). knüpft und können nicht gegeneinander ausgespielt
Habermas setzt dem Dezisionismus keine Natur- oder getrennt voneinander gesehen werden. Damit
rechtslehre oder materielle Wertethik entgegen, weil ist Legitimität nicht durch eine beliebige Legalität,
diese Versuche einer Bestimmung materialer Grund- sondern nur durch eine Rechtssetzung im Rahmen
normen gescheitert sind (LS, 137), sondern verweist des demokratischen Rechtsstaats möglich, weil »die
auf die Diskurstheorie, also die diskursive Begründ- Legitimitätsbedingungen für das demokratische Ge-
barkeit von Handlungsnormen (LS, 138 f.) und führt setz in der Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens
ein Konzept der prozeduralen Legitimität ein (vgl. selbst aufgesucht werden müssen« (FG, 559). Durch
insbes. RHM, 277–279), das auf kritisierbaren Gel- diese Engführung auf das demokratische Gesetzge-
tungsansprüchen beruht (vgl. RHM, 329). Der sozi- bungsverfahren (und auf ein rationales gerichtliches
alphilosophische Begriff der Legitimität bleibt aber Verfahren) nähert sich der prozedurale Rechtsbe-
noch seltsam unentschieden, weil Habermas im glei- griff freilich dem systemtheoretischen Begriff der
19. Lernprozesse 347

Legitimation durch Verfahren an, auch wenn der Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren. Frankfurt
Systemtheorie ein eigener Begriff von Demokratie a. M. 1975.
Nickel, Rainer: »Verwaltungsrecht und Rechtsverwaltung
fehlt und sie nur einen rein faktischen Begriff nor-
in der Weltgesellschaft«. In: Hauke Brunkhorst (Hg.):
mativer Wirksamkeit kennt. Die in Habermas’ frü- Soziale Welt. Sonderheft: Demokratie in der Weltgesell-
heren Schriften zentralen, kritischen Perspektiven schaft. Baden-Baden 2009, 143–158.
auf die potenziell zerstörerische Kraft der Vermach- Schmitt, Carl: Verfassungslehre. Köln 1928.
tung der Öffentlichkeit und die Verdinglichung und Weber, Max: Wirtschaft und Gesellschaft. Köln 1964.
Kolonialisierung der Sozialbeziehungen weichen ei- Rainer Nickel
nem abstrakten Modell der Legitimation, das dem
bundesrepublikanischen Verfassungsmodell des de-
mokratischen Rechtsstaates verblüffend ähnlich
sieht. 19. Lernprozesse
Kaum ist ein schlüssiger Legitimitätsbegriff für
den Nationalstaat gewonnen, zerrinnen allerdings
dessen Entstehungsbedingungen. Was sich im natio- Anders als genetisch determinierte Veränderungen
nalen Kontext noch passgenau zusammenfügt, will durch Reifung sind Veränderungen durch Lernen
in der postnationalen Konstellation nicht mehr auf- Ergebnis von Erfahrung. Dabei unterscheiden sich
gehen. Das für den Nationalstaat konzipierte, wohl- Lernprozesse schon vom Begriff her durch ihre län-
geordnete prozedurale Legitimationskonzept bricht gerfristige Verlaufsform von punktuellen Lernvor-
sich an den fehlenden Strukturen einer starken su- gängen (z. B. Prägung). Im Habermas’schen Sprach-
pra- oder transnationalen Weltöffentlichkeit, und gebrauch beziehen sie sich nicht auf den Erwerb mo-
die von Habermas vorgeschlagene Konstitutionali- torischer Fähigkeiten (z. B. Schwimmen), einfacher
sierung des Völkerrechts (GW, 113–193) verfügt Kulturtechniken oder eng umgrenzter Wissenssys-
über andere Legitimationsparameter als der demo- teme (z. B. Lesen und Schreiben oder mathematische
kratische Rechtsstaat: Die Bürde der Legitimation Expertise), sondern auf die Ausbildung von (kogni-
rechtlicher Regelungen wird nunmehr von einer tiver oder moralischer) Urteilsfähigkeit. Anders als
Verfassung »des liberalen Typs« getragen, die in ei- bei den im Behaviorismus und in der psychoanalyti-
ner bislang allerdings von Habermas nur undeutlich schen Theorietradition untersuchten Lernmechanis-
skizzierten Form an die Legitimationsstrukturen des men der klassischen oder operanten Konditionie-
Nationalstaats angeschlossen sein muss (GW, 138 f.). rung und der Introjektion oder der kulturellen Über-
Die Tragfähigkeit dieses Legitimationsansatzes ist formung der Bedürfnisstruktur geht es nicht um die
allerdings fraglich. Den weitgehend exekutiv ver- passive Übernahme vorgegebener Verhaltensweisen
selbständigten Regelungsstrukturen der Weltgesell- oder Werte, sondern um prinzipiell bewusstseinsfä-
schaft steht eine bislang nur schwach ausgeprägte hige selbstgesteuerte Konstruktionen des Subjekts.
Weltöffentlichkeit gegenüber (Brunkhorst 2002), Dabei stehen nicht inhaltliche Orientierungen, son-
und die nationalstaatlichen Parlamente scheinen an- dern Urteilsstrukturen im Fokus. Lernprozess ist ein
gesichts einer Wissens- und Entscheidungsüber- normatives Konzept: Mit Gründen halten nicht nur
macht der Exekutive hoffnungslos überfordert (vgl. der Aktor, sondern auch der Beobachter die neu er-
Lübbe-Wolff 2009; Nickel 2009). Das prozedurale worbene Sicht für angemessener als die vorauslau-
Legitimationskonzept muss sich bei der Suche nach fende. Es entstammt den entwicklungslogischen
Parametern für eine supra- und transnationale Ver- Theorieansätzen von Piaget und Kohlberg, wurde
rechtlichung, die den Ansprüchen einer gehaltvollen aber dann von der Individualebene auch auf die Kol-
Legitimation gerecht werden soll, in der postnatio- lektivebene übertragen. Zwei Fragen stellen sich:
nalen Konstellation erst noch bewähren. Was sind die Bewertungskriterien? Was treibt die
Lernprozesse voran?
Literatur
Individuelle Lernprozesse: Die normative Idee der
Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Frankfurt a. M. 2002. Höherentwicklung sei an der Erweiterung der Fä-
Dyzenhaus, David: Legality and Legitimacy. Oxford 1997. higkeit zur Rollenübernahme illustriert. Jüngere
Lübbe-Wolff, Gertrude: »Die Internationalisierung der Po-
litik und die Machtverluste der Parlamente«. In: Hauke Kinder glauben, die Welt sei so, wie sie selbst sie se-
Brunkhorst (Hg.): Soziale Welt. Sonderheft: Demokratie hen; dann erkennen sie, dass Andere die Welt anders
in der Weltgesellschaft. Baden-Baden 2009, 127–142. sehen, und später auch, dass Personen wechselseitig
348 IV. Begriffe

um die Unterschiedlichkeit ihrer Weltsicht wissen Kollektive Lernprozesse: Gesellschaftliche Evolu-


können. Erst ab der Adoleszenz lernen Heranwach- tion ist für Habermas nicht allein Ergebnis blinder
sende die Systemperspektive einzunehmen: Nun Zufallsvariationen, sondern stets auch geschichtli-
können sie nicht nur die Intentionen der je konkret cher Lernprozesse. So etwa rekonstruiert er den
Beteiligten, sondern auch die Funktionserforder- Wandel der institutionalisierten Form der Kon-
nisse des gesellschaftlichen Zusammenlebens in fliktregelung, des Rechts, entsprechend der entwick-
Rechnung stellen. Die ›prior-to-society-Perspektive‹ lungslogischen Stufenabfolge der individuellen
der höchsten Entwicklungsstufe schließlich erlaubt, Form, der Moral: Die Orientierung an Handlungs-
vorfindliche gesellschaftliche Arrangements aus der folgen und Vergeltung in vorhochkulturellen Gesell-
Perspektive aller vernünftigen Wesen zu hinterfra- schaften wird in archaischen Hochkulturen von ei-
gen. Unstrittig ermöglicht die Einsicht in die Stand- ner Orientierung an Intentionen und Strafe, dann
ortgebundenheit der eigenen Wahrnehmungen die von einem traditionalistisch gerechtfertigten Rechts-
Erarbeitung einer realitätsgerechteren Weltsicht. sprechungssystem und in der frühen Moderne durch
Insbesondere aber ist dieser Lernprozess konstitutiv ein rational-naturrechtlich begründetes Formalrecht
für ein säkulares Moralverständnis, nach dem Nor- und eine prinzipalistische Privatmoral abgelöst
men nicht mehr aus Vorgegebenem – aus Gottes (RHM, 135). Deren Universalitätsanspruch gerät mit
Wort, geheiligten Traditionen, naturrechtlichen Vor- der immer noch an Einzelstaaten gebundenen öf-
stellungen – abgeleitet werden, sondern gültig sind, fentlichen Moral in Konflikt – den Konflikt zwischen
wenn alle Betroffenen frei zustimmen könnten, weil dem Kosmopolitismus des ›Menschen‹ und den Lo-
sie gleichermaßen in ihrer aller rationalem Interesse yalitäten des Staatsbürgers. Die Lösung erfordert ei-
liegen. Nach diesem Kriterium sind Lösungen mora- nen neuerlichen Lernprozess. Nötig wäre, dass »die
lischer Dilemmata um so angemessener, je höher die Dichotomie zwischen Innen-/Außenmoral ver-
Rollenübernahmefähigkeit der Beteiligten, also je schwindet, der Gegensatz zwischen moralisch und
umfassender der Kreis potentiell Betroffener ist, de- rechtlich geregelten Bereichen relativiert und die
ren Interessen sie verstehen und berücksichtigen Geltung aller Normen an die diskursive Willensbil-
können. dung der potentiell Betroffenen gebunden wird«
Kinder entfalten ihre kognitiven und soziokogni- (ebd., 327). Dieser anstehende Lernprozess zielt auf
tiven Fähigkeiten in der Auseinandersetzung mit der eine Fortführung des Kantischen Projekts (NR, 326).
physischen und der sozialen Welt. Die Entwicklung Spätere Rechtsformen sind ›besser‹, sofern zuneh-
wird gefördert durch die Erfahrung von Widerstän- mend mehr Menschen zunehmend erweiterte
digkeit der physischen Umwelt und Widerspruch in Grundrechte zugestanden werden. So wird die bloße
sozialen Interaktionen (insbesondere unter Gleich- Machtbegrenzung zunächst durch eine ›Herrschaft
altrigen, zumal unter Freunden), durch Dilemma- der Gesetze‹, dann durch nationalstaatlich demokra-
diskussionen, durch Verantwortungsübernahme. tische Selbstbestimmung abgelöst und schließlich
Die höchsten Stufen – formal-operationales Denken wird – potentiell – ein »Weltbürgerrecht als ein Recht
und die kritische Reflexion auf herrschende Normen der Individuen« erreicht (ebd., 326). Und die Staats-
im Blick auf ihre Universalisierbarkeit – werden nur bürger- und Menschenrechte, die zunächst nur ne-
in komplexen Gesellschaften mit einem formalen gative Abwehrrechte umfassten, werden ergänzt um
Bildungssystem erworben. In diesen wird die Rede politische, dann um soziale, wirtschaftliche und kul-
über Abwesendes systematisch eingeübt und die Er- turelle Rechte.
fahrung von Normkonflikten (in ausdifferenzierten Angestoßen werden solche kollektiven Lernpro-
Teilsystemen und Subkulturen) erzwingt, dass Sub- zesse durch eine Mischung aus intentionalem Han-
jekte auf einer Metaebene nach universell rechtfer- deln und systemischem Wachstum (NR, 330). Auf
tigbaren Lösungen suchen. In diesem Sinne spricht früheren Stufen findet man eine vorauslaufende Ent-
Habermas etwa von ›universitären Lernprozessen‹, wicklung individueller (und in Weltbilder umgesetz-
bei denen es nicht allein um akademische Ausbil- ter) Lernkapazitäten, auf die soziale Systeme im Falle
dung, sondern auch um die Befreiung von »Einsei- einer Überforderung ihrer Steuerungskapazität zu-
tigkeit« (ASA, 83) und die »Produktivkraft eines dis- rückgreifen (RHM, 36 ff.). Beim Übergang zur Welt-
kursiven Streits« (ebd., 96) geht sowie – und das lei- gesellschaft nimmt die Entwicklung ihren Ausgang
tet zur kollektiven Ebene über – »um kulturelle von der Institutionalisierung einer Rechtssetzung,
Selbstverständigung und öffentliche Meinungsbil- die dann die Bewusstseinsveränderungen der Adres-
dung« (ebd., 80). saten bewirkt. Es handelt sich um einen »konstruktiv
20. Macht 349

ausgelösten und zirkulär selbstbezüglichen Lernpro- Literatur


zess« (NR, 333). Dessen Motor sind argumentativ Brunkhorst, Hauke: Einführung in die Geschichte politischer
verfahrende, inklusive, öffentliche Diskurse, die frei Ideen. München 2000.
von äußeren und inneren Zwängen verlaufen (FG, Buckel, Sonja: »Feministische Erfolge im transnationalen
370). Dabei stellt sich dann allerdings nicht erst auf Recht«. In: Leviathan 36, 1 (2008), 54–75.
der internationalen, sondern bereits auf der nationa- Kluge, Alexander: Lernprozesse mit tödlichem Ausgang.
Frankfurt a. M. 1973.
len Ebene die Frage, ob es auch in Massengesell- Moore, Barrington: Ungerechtigkeit. Die sozialen Ursachen
schaften noch wahrheitsorientierte öffentliche Dis- von Unterordnung und Widerstand. Frankfurt a. M.
kurse gibt (AE). Die Ablösung von realen Interak- 1987.
tionen und die asymmetrische Struktur der Gertrud Nunner-Winkler
Massenmedien mache aus Diskursteilnehmern, die
sich Fragen und Einwänden stellen müssen, Zu-
schauer und Konsumenten und aus mit Geltungsan-
sprüchen erhobenen Überzeugungen bloße Meinun- 20. Macht
gen. Letztlich ist die Frage nur empirisch zu beant-
worten. Gleichwohl begründet Habermas die
Vermutung, dass die möglichst ungesteuerte Zirku- Für eine kritische Theorie der Gesellschaft ist der
lation öffentlicher Meinungen einen Rationalisie- Begriff der Macht von zentraler Bedeutung. Inner-
rungsdruck erzeugt, der die Qualität politischer Ent- halb der akademischen Diskussion wird mit »Macht«
scheidungen verbessert. Dies gilt allerdings nur, allerdings ganz Verschiedenes bezeichnet, weshalb
wenn die Unabhängigkeit eines selbstgeregelten Me- oftmals zwischen jenen Theorien unterschieden
diensystems und Rückkoppelungen zwischen den wird, die eher vom Phänomen der Macht über an-
informierten Elitediskursen und einer aufnahmebe- dere Personen oder Gruppen ausgehen (power over),
reiten Zivilgesellschaft gesichert sind. und jenen, die von »Macht, etwas zu tun oder zu er-
Andere Autoren fokussieren bei der Erklärung reichen« sprechen (power to). Habermas versucht
kollektiver Lernprozesse stärker auf Erfahrungen nun, im Rahmen seiner Gesellschaftstheorie die
und Kämpfe der Akteure. Um einige Beispiele anzu- wichtigsten und traditionell konkurrierenden Kon-
führen: Die bessere Behandlung von Sklaven im al- zeptionen der Macht nicht nur in systematischer
ten Israel im Vergleich zur antiken Welt gründet in Weise zueinander ins Verhältnis zu setzen, sondern
der »ständig präsenten ›Contra-Erinnerung‹ an das auch, ihre normative Hierarchie zu klären. Hierzu
›ägyptische Sklavenhaus‹« (Brunkhorst 2000, 69). unterscheidet er kommunikative, administrative
Die Erweiterung ihrer materiellen Teilhaberechte und soziale Macht. Bei der Frage nach der Legitimi-
verdanken die Arbeiter ihren massenhaften Aufstän- tät politischer Prozesse kommt es dann zentral dar-
den in den Jahren nach dem ersten Weltkrieg, die auf an, in welcher Weise die drei genannten Formen
aus der Empörung über die im Industrialisierungs- der Macht zusammenwirken. Dabei soll die »illegi-
prozess verschärfte und als menschengemacht er- time Verselbständigung von administrativer und so-
kannte soziale Ungleichheit gespeist waren (Moore zialer Macht gegenüber demokratisch erzeugter
1987). Das Wahlrecht für Frauen wurde durch inten- kommunikativer Macht« (ebd., 434) verhindert wer-
sive Proteste der Frauenbewegung erst zu Beginn des den. Allerdings stellt sich angesichts dieses Synthese-
20. Jahrhunderts erkämpft. Und die Definition von versuchs die Frage, ob es sich überhaupt um eine
Gewalt gegen Frauen als Menschenrechtsverletzung Theorie der Macht handelt oder nicht vielmehr um
wurde erst in den 1990er Jahren auf massiven Druck eine Subsumtion ganz verschiedener Phänomene
transnationaler Frauennetzwerke durchgesetzt (Bu- unter einen Begriff. Wie also hängen diese drei Kon-
ckel 2008). zeptionen der Macht zusammen?
Diese Beispiele bezeugen normativen Fortschritt. »Kommunikative« Macht nennt Habermas im
Eine Gewährleistung liefern sie nicht. Es gibt auch Anschluss an, aber auch mit wichtigen Verschiebun-
›Lernprozesse mit tödlichem Ausgang‹ (Kluge 1973). gen gegenüber, Hannah Arendt die motivierende
Den schmerzlichen Abbruch des ungewöhnlich dis- Kraft einer gewaltlosen Konsensbildung (PPP, 228 ff.;
kursiv gestalteten ›Starnberger Projekts‹ mag man FG, 188). Arendt rückt das gemeinsame Handeln im
als Illustration hierfür lesen. Sinne einer gesteigerten kollektiven »power to« in
den Vordergrund und begreift das öffentliche Spre-
chen zugleich als einen Akt der Offenbarung des ei-
350 IV. Begriffe

genen Selbst gegenüber anderen Subjekten. Demge- tivationale Ebene müssen die (demokratisch be-
genüber betont Habermas das kognitive Moment schlossenen) Gesetze gegenüber potentiell egoisti-
(auch Canovan 1983). Kommunikative Macht be- schen Individuen – notfalls auch gewaltsam – durch-
steht nicht bloß in der faktischen Handlungsmäch- gesetzt werden (ebd., 166). Dies ist seitens des Staa-
tigkeit einer kooperierenden Gruppe, deren Legiti- tes »power over« gegenüber den Bürgerinnen und
mität bereits durch den Ursprung eines freien Zu- Bürgern, ermöglicht und befördert aber zugleich
sammenschlusses gewährleistet wird. Vielmehr geht auch die Handlungsmächtigkeit des gesamten Kol-
es Habermas um die (schwach motivierende) lektivs, also »power to«. Erst an dieser Stelle kommt
»Macht« diskursiv ermittelter Einsicht (FG, 183). das spezifische Steuerungsmedium »Macht« zum
Dem Grundgedanken seiner Diskurstheorie ent- Zuge, das Habermas als »entsprachlichtes Kommu-
sprechend markiert kommunikative Macht den nikationsmedium« versteht. Anders als die rationale
Quell aller Legitimität: Alle Stimmen (und damit Motivation durch Argumente basiert die Effektivität
auch alle Argumente) sollen Gehör finden können. des Machtmediums auf der Inanspruchnahme em-
Deshalb vertraut Habermas – anders als Arendt – pirischer Motive (TKH II, 271 f.), insbesondere des
auch nicht darauf, dass sich kommunikative Macht Wunsches nach Sanktionsvermeidung. Auf dieser
immer wieder spontan einstellt, sondern fordert eine Grundlage lassen sich bürokratische Machthierar-
zweifache institutionelle Absicherung. Erstens be- chien etablieren. Weil aber Anordnungen nur dann
darf die zivilgesellschaftlich basierte Öffentlichkeit wirksam sind, wenn eine vermeintliche Autorität
bestimmter Grundrechte (und darüber hinaus einer hinter ihnen steht – und Gewalt nur als Ausfallbürg-
vitalen politischen Kultur, um als Sensorium für all- schaft fungieren kann – weist das Medium der Macht
tägliche Problemlagen und als Reservoir überzeu- letztlich doch einen internen Bezug zu Fragen der
gender Gründe fungieren zu können). Zweitens Geltung auf (McCarthy 1986). Die administrative
müssen die in der Öffentlichkeit artikulierten Argu- Macht verlangt nach einer normativ anspruchsvol-
mente noch durch »Schleusen« (ebd., 430) bzw. Rati- len Verankerung, letztlich in der kommunikativen
onalisierungsfilter hindurch, die sicherstellen, dass Macht, also dem (rationalen) Konsens der Bürger/-
die vorgeschlagenen Lösungen auch wirklich im innen. Der Gefahr einer Verselbständigung dieser
gleichmäßigen Interesse aller Betroffenen sind. Die administrativen Macht muss nicht nur durch eine vi-
kommunikative Macht formiert sich nämlich erst tale Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit entgegenge-
durch das angemessene Zusammenspiel von infor- wirkt werden, sondern auch durch strikte Gesetzes-
mellen und formellen politischen Öffentlichkeiten, bindung und Gewaltenteilung. Gewaltenteilung ver-
wobei für letztere zunächst das Parlament steht. Die- steht Habermas angesichts der Rechtsfortbildung
ses sollte sich von jenen Gründen positiv irritieren jenseits des Parlaments aber nicht mehr institutio-
lassen, die in den öffentlichen Diskussionen vorge- nell, sondern funktional. Kommunikative Macht
bracht werden, aber es darf keinesfalls durch die so- muss sich überall durchsetzen können, wo über-
ziale Macht partikularer Gruppen programmiert haupt Recht im Zuge seiner vorgeblichen Implemen-
werden. In diesem Sinne gewährleistet das Verfahren tation oder Interpretation fortgeschrieben und da-
der allgemeinen, freien und gleichen Wahl, dass ei- mit auch gesetzt wird.
ner jeden Bürgerin und einem jeden Bürger der glei- Drittens bezeichnet Habermas als »soziale« Macht
che Einfluss auf die politische Zusammensetzung der die Fähigkeit zur erfolgreichen Durchsetzung eigener
legislativen Versammlung zukommt. Zudem lassen Interessen – ob durch Personen oder partikulare
sich im Parlament – anders als in der Öffentlichkeit – Gruppen (FG, 432) – auch gegen den Willen anderer
prozedurale Standards etablieren, z. B. das Verbot, Personen oder Gruppen. Dies entspricht der Macht-
religiöse Argumente anzuführen, von denen klar ist, definition von Max Weber. Von dieser erbt der Be-
dass sie nicht von allen geteilt werden können. griff der »sozialen Macht« aber zugleich eine gewisse
Die kommunikative Macht bedarf aber nicht nur Vagheit. Der paradigmatische Fall (illegitimer) »sozi-
einer institutionellen Rahmung und Absicherung aler Macht« besteht wohl in der Drohung oder dem
durch das Recht, sondern auch der »administrati- Versprechen seitens eines überlegenen Akteurs, der
ven« Macht als Mittel. Moderne Gesellschaften sind auf empirische Motive abzielt. Nicht so klar ist dies
laut Habermas auf das Medium des sanktionsbe- beim Phänomen des Einflusses, der sich aus dem An-
wehrten Rechts angewiesen, um die kognitiven, sehen bzw. dem Prestige einer Person speist. Handelt
motivationalen und organisatorischen Defizite der es sich hierbei überhaupt um soziale Macht? Einer-
Moral auszugleichen. Vor allem in Bezug auf die mo- seits erhofft man sich von der Orientierung am Ver-
20. Macht 351

halten des Statusträgers empirische Vorteile, z. B. deln angewiesen sei und sich durch eine vorbehalt-
Gunstbezeigungen. Andererseits kondensiert sich in lose Verständigungsbereitschaft auszeichne. Diese
dem Vertrauensvorschuss, der den Aussagen der ein- Lesart verkennt jedoch, dass das Medium der admi-
flussreichen Personen entgegengebracht wird, auch nistrativen Macht nur eine Form der Macht darstellt.
sprachliche Verständigung. Es handelt sich folglich Zwar rückt Habermas innerhalb seiner Gegenwarts-
um eine Spezialform »kommunikativer Macht«, in- diagnose diese Form in den Vordergrund, aber sein
soweit man den Statusträgern überlegene Einsicht Machtbegriff ist umfassender. Ansonsten müssten
zuspricht (TKH II, 270 f.). In den Phänomenen des »alle vormodernen Gesellschaften als machtfrei be-
(sozialen) Ansehens und Einflusses sind die beiden schrieben werden« (Habermas 1986, 371).
Aspekte des erfolgs- und des verständigungsorien- Allerdings bleibt insgesamt eher offen, was jen-
tierten Handelns zumeist noch verschmolzen, was seits der durchaus interessanten Verhältnisbestim-
sich paradigmatisch an den vormodernen Rollen des mung genau das Verbindende der drei Formen der
Häuptlings oder des Priesters zeigt (FG, 173 ff.). Macht ausmacht. So stellt sich noch stärker als bei
Mit der Rationalisierung der Lebenswelt sollen Arendt die Frage, warum man im Fall der kommuni-
sich nach Habermas empirische Drohpotentiale und kativen Macht überhaupt von Macht sprechen sollte
rational einsehbare Reputation immer stärker vonei- – und nicht schlicht von »kollektiver Einsicht« oder
nander differenzieren (TKH II, 410). Zugleich be- »politischer Autonomie«. Macht dürfte hier wohl am
zeichnet diese analytische Unterscheidung die ehesten als »power to« zu verstehen sein, als Gewinn
Grenze zwischen illegitimer und legitimer sozialer kollektiver Handlungsfähigkeit. Aber auch innerhalb
Macht. So manifestiert sich die Gefahr illegitimer der modernen, angeblich rationalisierten Lebens-
Einflussnahme sozialer Macht auf den politischen welt bleibt zu vage, wie das Verhältnis von sozialer
Prozess in Habermas’ Demokratietheorie insbeson- und kommunikativer Macht zu konzipieren ist.
dere in jenen Lobbygruppen, die durch Versprechen Letztlich soll die kommunikative Macht uns erst er-
oder Drohungen informell und hinter verschlosse- möglichen, zwischen legitimen und illegitimen Er-
nen Türen auf die Mitglieder des Parlaments und scheinungsformen sozialer und administrativer
seiner Ausschüsse, die staatliche Bürokratie oder die Macht zu unterscheiden. Generell gilt wohl, dass
Justiz einwirken. Hiermit umgehen sie den rechts- diese legitim sind, wenn sie die Quellen und Struk-
staatlich regulierten »Machtkreislauf« (FG, 429 ff.). turen kommunikativer Macht sowie die von ihr an-
Aber nicht jede soziale Macht ist illegitim, weil sie visierten Ziele befördern. Illegitim sind sie, wenn sie
sich eben auch auf rational motivierte Akzeptanz diese – wie allzu oft in der sozialen Realität – be-
stützen kann, die implizit erhobenen Geltungsan- schränken und verzerren (FG, 215 f.). Auf diesen
sprüche von den sozial »Mächtigen« also auch ein- letzteren Fall zielt dann eine Kritik der Macht. Die
gelöst werden mögen. Bezeichnung als Macht präjudiziert innerhalb der
Gleichwohl verhärten sich in solchen Machtbezie- Habermas’schen Theorie also noch nicht die Frage
hungen Verständigungsverhältnisse, weil sie es ten- der Legitimität (so auch Strecker 2009).
denziell erschweren, soziale und politische Regelun-
gen in Frage zu stellen. So spricht Habermas bereits Literatur
in Erkenntnis und Interesse davon, dass »die Macht
Canovan, Margaret: »A Case of Distorted Communication.
einer sozialen Klasse über eine andere« (EI, 70) sozi- A Note on Habermas and Arendt«. In: Political Theory
ale Gewalt darstelle. Gegen solche Verhärtungen 11, 1 (1983), 105–116.
richtet sich denn auch der frühe Habermas, wenn er Habermas, Jürgen: »Entgegnung«. In: Axel Honneth/Hans
das emanzipatorische Erkenntnisinteresse als eines Joas (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu Jürgen
begreift, das überflüssige Herrschaft beseitigen will. Habermas’ »Theorie des kommunikativen Handelns«.
Frankfurt a. M. 1986, 327–405.
Weil in der Sekundärliteratur zu Habermas diese Honneth, Axel: Kritik der Macht. Reflexionsstufen einer kri-
interne Differenzierung des Machtbegriffs allzu oft tischen Gesellschaftstheorie. Frankfurt a. M. 1986.
nicht hinreichend beachtet worden ist, wurde Ha- McCarthy, Thomas: »Komplexität und Demokratie – die
bermas immer wieder vorgeworfen, er verliere Versuchungen der Systemtheorie«. In: Axel Honneth/
Machtphänomene innerhalb der viel zu harmonis- Hans Joas (Hg.): Kommunikatives Handeln. Beiträge zu
Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen Han-
tisch konzipierten Lebenswelt aus dem Blick (u. a.
delns«. Frankfurt a. M. 1986, 177–215.
Honneth 1986, 290, 331). Macht dringe entspre- Strecker, David: Logik der Macht. Zum Ort der Kritik zwi-
chend der Kolonialisierungsthese nur von außen in schen Theorie und Praxis. Weilerswist 2009.
jene Lebenswelt ein, die auf kommunikatives Han- Mattias Iser
352 IV. Begriffe

21. Massenkultur wird sofort übersprungen, indem die Masse in die-


sem Modell immer nur gedacht werden kann als eine
Art formlose Materie, die der Formung bedarf, also
›Massenkultur‹ ist für Habermas ein Begriff, den er entweder zur Klasse etc. oder zur Institution. Beide
noch mit Adorno teilt. ›Massenkultur‹ ist demnach Male verschwindet die Masse damit in der Form. Zu
nicht die von den Massen hervorgebrachte Kultur den semantischen Überschüssen des Begriffs zählt
der Massen, sondern die Kultur, die massenhaft pro- aber das Überleben in den kompositen Begriffen wie
duziert wird. Während die liberale bürgerliche Kul- ›Massenmedien‹, ›Massendemokratie‹, ›Massen-
tur von und für das Bürgertum produziert wird, kommunikation‹ etc.
Konsumenten und Produzenten also zwar nicht Die Entfaltung des Begriffs der politischen Öffent-
identisch sind, sich aber im selben sozialen Bereich lichkeit berührt dieses Problem. Zuerst wird sie nach
zu einer Öffentlichkeit formieren, findet diese topo- dem Muster des kunsträsonierenden Publikums ent-
graphische Transformation unter den Bedingungen wickelt, nach einem Modell interner Partizipation
der Massendemokratie nicht mehr statt. Massenkul- also. Mit der Entwicklung der modernen Gesell-
tur adressiert die Massen nur als Konsumenten und schaft, in der sich soziale Sphären gegeneinander
damit in der atomisierten Form des Privateigentums schließen, wird wiederum auf Adorno zurückgegrif-
ohne die liberalen Gratifikationen. Es ist gerade die fen: Die Kunst wird autonom um des Preises der Ein-
anonymisierte Produktionsweise, die Massenkultur und Abkapselung, in der kritische Distanz zur Ge-
weitgehend zu einem Medium des Privateigentums sellschaft überhaupt erst möglich wird. Die Massen-
macht. In der Massendemokratie werden Interessen kultur hingegen verfällt den ökonomischen und
sozialstaatlich verwaltet und nicht mehr in der Öf- stabilisierenden Modi herrschaftsichernder Affirma-
fentlichkeit gleichgestellter Privateigentümer ausge- tion. Allerdings wird nun in der Theorie des kommu-
handelt. Dieses ohnehin idealisierte und ideologisch nikativen Handelns die »differenziertere Einschät-
verengte Modell verliert als Öffentlichkeit in den so- zung des komplexen und widersprüchlichen Charak-
zialstaatlichen Massendemokratien den Grund, es ters sowohl der Integrationsformen postliberaler
ist ein Strukturwandel der Öffentlichkeit zu verzeich- Gesellschaften wie der familiären Situation und der
nen. Es tritt nun eine »Art ›Refeudalisierung der Öf- Massenkultur« (TKH II, 558) historisch im Anschluss
fentlichkeit‹« ein. Organisationen handeln ihre Inte- an Walter Benjamin und im Rekurs auf systemtheo-
ressen hinter verschlossenen Türen aus und »müs- retische und soziologische Massenkommunikations-
sen sich aber durch Entfaltung demonstrativer theorien betont. Gemäß der Aufteilung in ›System‹
Publizität bei der Masse der Bevölkerung wenigs- und ›Lebenswelt‹ werden auch die Massenmedien
tens plebiszitärer Zustimmung versichern.« (»Öf- funktional aufgeteilt. Sie werden nicht den ›Steue-
fentlichkeit. Ein Lexikonartikel« (1964), in: KK, 68. rungsmedien‹ zugeschlagen, sondern als ›generali-
Dort sind Aufsätze versammelt, die sich zwischen sierte Formen der Kommunikation‹ zur Geltung ge-
den Arbeiten zum SÖ und der TKH verorten lassen). bracht (TKH II, 573). Im Wechsel von ›Massenkultur‹
Die Masse wird also weder, wie von Marx entwor- zu ›Massenmedien‹ liegt ein weitgehender Bedeu-
fen, zur agierenden Klasse transformiert noch zum tungswechsel. Der von Adorno und Horkheimer in
Souverän, sie fällt quasi zurück in ein fremdverwal- der Dialektik der Aufklärung eingeführte Begriff der
tetes Konglomerat von Gruppen (Arbeitnehmer, Kulturindustrie, der dem ersten Begriff von ›Massen-
Steuerzahler, Schulpflichtige etc.), deren Konsens zu kultur‹ noch zugrunde zu liegen schien, wird in einer
den einzelnen Verwaltungsakten plebiszitär adres- Art Rochade zusammen mit einem allgemeinen Pa-
siert wird. Die Massenkultur bezeugt gewisserma- radigmenwechsel umgestellt, dem zur System- und
ßen die Leerstelle, die zwischen den partizipieren- Kommunikationstheorie. Innerhalb dieses theoreti-
den Öffentlichkeiten früherer Zeiten und den neu zu schen Rahmens wird das Modell einer herrschaftszen-
schaffenden Öffentlichkeiten der Organisationen trierten Sender-/Empfängerstruktur ersetzt durch
der sozialstaatlichen Massendemokratie klafft. Es ist das Modell einer plastischen und dynamisch offenen
freilich die Lücke, in die der Begriff der Masse selbst Netzstruktur, die jeweils lebensweltliche Kontexte,
verschwunden ist. Denn die Auflösung der Masse in regionale Eigenheiten, die sich vom Horizont der Le-
Klassen bzw. in sozialstaatliche Organisationen, benswelt nicht ablösen lassen, in einer Form von Öf-
kann nicht darüber hinweghelfen, dass der Eindruck fentlichkeit präsentieren, die gleichzeitig diesen Ho-
entsteht, dass der Begriff ›Masse‹ tautologisch zum rizont sowohl räumlich wie zeitlich erweitert. Zwar
Verschwinden gebracht wird. Denn die Leerstelle gibt es keine starre Ordnung vorgegebener Art mehr,
22. Menschenrechte 353

aber die Richtung der ›Kommunikationsflüsse‹ kann die »Negativität der modernen Kunst« vermeidet.
auch hierarchisch und kontrollierend sein, aber ih- Erst wo »das Triviale« sich dem radikal Unverfügba-
nen ist ein ›emanzipatorisches Potential‹ eingebaut, ren gegenüber brechen lässt, würde der affirmative
das verhindert, dass sich das gesamte Netz aller Be- Zug gesprengt. Habermas lässt es offen, ob er sich
teiligten quasi gleichschalten lässt von einer einzel- eine ›Massenkultur‹ vorstellen kann, die in dieser
nen Interessengruppe. Die ›Massenmedien‹ sind also Konfrontation bestehen könnte. Das kritische Po-
mindestens ›ambivalent‹, schließen ›emanzipatori- tential der Kunst zur radikalen Verneinung nimmt
sche Potentiale‹ ein und sind als solche prinzipiell hier Züge eines Gegenbegriffs an, der noch einmal
und empirisch nachgewiesen für soziale Gruppen, die dialektischen Grenzen von Aufklärung und
Minderheiten, soziale Bewegungen wie die Frauen- Emanzipation an der Kultur durchspielt. Offen bleibt
bewegung, die Bürgerrechtsbewegung etc. offen. diese Frage auch deswegen, weil es keine Analysen
›Massenkultur‹ ist also eine der ›Massenmedien‹, die gibt, die eine methodisch kontrollierbare Antwort zu
gar nicht jenseits dieser vorkommt. Zwar wird gegen- geben versuchen; vereinzelt hat Habermas zwar über
über den Schriften der 1960er Jahre nun stärker auf Kunstwerke geschrieben, aber über Objekte der
die kommunikativ verankerte Offenheit dieser neuen Massenkultur gibt es seit seinen frühen Jahren, wo er
Form der Öffentlichkeit verwiesen und damit an die vereinzelt im Feuilleton auch auf Filme verwiesen
politische Theorie Hannah Arendts und deren Be- hat, keine elaborierten Texte. In neueren politischen
griff der Macht angeschlossen, den Habermas als Kommentaren wird vor allem auf die politischen
kommunikative Macht bezeichnet, im Unterschied Konsequenzen verwiesen, die aus der fortschreiten-
zum administrativen Machtbegriff bei Parsons. Die den Kommodifizierung und Monopolisierung so-
eigensinnige Leerstelle, die die ›Masse‹ definitorisch wohl der öffentlichrechtlichen Medien wie der un-
eingenommen hatte, wird aber nach wie vor opak abhängigen Tageszeitungen resultieren.
bleiben. Auch in der differenzierten Theorie massen-
medial vermittelter Kommunikation zerfällt die Literatur
Masse unter der Hand in lebensweltlich formierte Craig Calhoun (Hg.): Habermas and the Public Sphere.
und generierte Gruppen. Die vielversprechende Folge Cambridge 1992.
der ständigen Horizonterweiterungen könnte eine Bernhard Peters: Der Sinn von Öffentlichkeit. Mit einem
neue Definition der ›Masse‹ nach sich ziehen, bleibt Vorwort von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 2007.
aber unausgeführt. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Son-
derheft 34/1994 zu Öffentlichkeit, öffentliche Meinung,
Das mag zusammenhängen mit der Koppelung,
soziale Bewegungen.
die der Begriff der ›Massenkultur‹ mit der Frage der Gertrud Koch
›Kulturkritik‹ eingegangen ist. Entweder erscheint
die ›Massenkultur‹ als ein Gegenstand der ›Kultur-
kritik‹ ob nun marxistisch, konservativ oder liberal
getönt, also als Zerstörer der kritischen Potenziale
z. B. der bürgerlichen Familie und Kunst, oder als af- 22. Menschen rechte
firmative Feier Aller von Allem. Auch der Versuch,
das ›emanzipatorische‹ oder ›kritische‹ Potenzial der
›Massenkultur‹ in der Form der Öffentlichkeit, die Das Verhältnis zwischen Menschenrechten und De-
durch ›Massenmedien‹ entsteht, zu benennen, läuft mokratie wird meistens als Spannungsverhältnis be-
darauf hinaus, nicht die ›Masse‹ selbst als kritische schrieben (vgl. etwa Gosepath 1998, 209 ff.; Michel-
Größe zu sehen, sondern sie erst in der Transforma- man 1999, 52–66; Wellmer 2000). Menschenrechte
tion in einzelne Gruppierungen für kritikfähig zu geben dem Volkssouverän moralische Vorgaben, die
halten. In diesem Kontext wird am Begriff der ›Mas- dessen Entscheidungsfreiheit einschränken. Auf der
senkultur‹ in Faktizität und Geltung noch einmal anderen Seite können Ergebnisse demokratischer
eine Akzentverschiebung vorgenommen, die aller- Prozesse den bestehenden Menschenrechtsvorstel-
dings die Differenzierungsleistung aus der Theorie lungen zuwiderlaufen und ihre Einhaltung entspre-
des kommunikativen Handels weniger revidiert als chend unterminieren.
noch einmal akzentuiert im Nachdruck auf die Gel- Jürgen Habermas’ deliberative Menschenrechts-
tungsansprüche von Kunst und Religion. Die »Nüch- theorie hält sich jedoch von liberalen wie von repu-
ternheit einer profanen, vorbehaltlos egalitären Mas- blikanischen Theorien gleich weit entfernt und inte-
senkultur« (FG, 630) bleibt affirmativ, insofern sie griert wichtige Aspekte beider Theorien in der
354 IV. Begriffe

deliberativen Begründung von Menschenrechten rechte aus, würde sich die Aufgabe des Gesetzgebers
und Demokratie. Zum einen richtet sich der Ansatz darauf beschränken, moralische Normen in die
gegen Vertreter der liberalen Tradition, die in der Form positiven Rechts zu gießen, und zwar ohne
Regel von einem Vorrang ›klassischer‹ Menschen- dass es zu einer öffentlichen wechselseitigen Zuer-
rechte, das heißt einem Vorrang der subjektiven kennung und zur inhaltlichen Ausgestaltung der
Freiheitsrechte vor den politischen Teilnahme- Rechte kommen könnte (EA, 222).
rechten ausgehen. Zum anderen kritisiert die delibe- Der interne Zusammenhang zwischen Menschen-
rative Menschenrechtstheorie die Tradition des auf rechten und Volkssouveränität, die kontrafaktische
Aristoteles und Arendt zurückgehenden Republika- Annahme, dass Menschenrechte und Demokratie
nismus, der politischen Teilnahmerechten als wich- jeweils sowohl Voraussetzung für- als auch Resultat
tigem Bestandteil des guten Lebens Priorität vor den voneinander sind, liegt, so beschreibt es Habermas,
individuellen Freiheitsrechten einräumt. »im normativen Gehalt eines Modus der Ausübung
Während sowohl in der liberalen wie auch in der politischer Autonomie« (FG, 133, Hervorh. i.O.).
republikanischen Tradition Menschenrechte und Nun sind Menschenrechte in der Habermas’schen
Volkssouveränität in Konkurrenz zu einander stehen Rechtstheorie ihrer Struktur nach jedoch keine mo-
(FG, 155), will die deliberative Menschenrechtstheo- ralischen Normen, sondern »von Haus aus juridi-
rie zeigen, dass das Verhältnis komplementärer Art scher Natur« (EA, 222, Hervorh. i.O.). Sie können
ist. Dabei ist eine begriffliche Unterscheidung von zwar im politischen Prozess ausschließlich durch
zentraler Bedeutung. Als moralische Menschen- moralische Argumente begründet werden, aber sie
rechte haben Menschenrechte den Charakter von können nicht außerhalb eines demokratischen Ver-
moralisch begründeten Handlungsnormen und fahrens gerechtfertigt werden. Sie sind auf bereits in-
formulieren Ansprüche, die für alle Menschen gel- stitutionalisierte politische Verfahren angewiesen,
ten. Als Grundrechte oder juridische Rechte sind sie um überhaupt den Status eines Menschenrechts zu
einklagbare Verfassungsnormen und behalten zwar erlangen.
ihren universellen Geltungsanspruch, können aber Die Annahme, Menschenrechte seien juridischer
de facto nur innerhalb einer bestimmten Rechtsge- Natur und basierten auf einer Verschränkung von
meinschaft eingefordert werden (FG 1994, 671) Rechtsform und Diskursprinzip, geht jedoch für ei-
Der ›Verweisungszusammenhang‹ zwischen nige zu schnell über die moralische Dimension der
Menschenrechten und Demokratie zeigt sich daran, Menschenrechte hinweg (Michelman 1999). Men-
dass zum einen juridische Menschenrechte in Ge- schenrechte, so der Einwand, sind nicht nur Rechte,
stalt von subjektiven Rechten eine notwendige Be- die sich Bürger eines Staates wechselseitig zugeste-
dingung des demokratischen Prozesses sind. Eine hen. Ihre Besonderheit liegt gerade darin, dass sie
Einigung der Bürger über faire Verfahren politischer über eine nationalstaatliche Mitgliedschaft hinaus-
Partizipation setzt nämlich bereits die wechselseitige weisen und auf universelle Gültigkeit zielen (Forst
Anerkennung als freie und gleiche Bürger voraus. 1999, 94 ff.).
Die Freiheitsrechte, wie der Schutz der Unversehrt- Auf der anderen Seite wird betont, dass gerade
heit der Person und der Privatsphäre, müssen dabei der juristische Charakter der Menschenrechte ge-
als Voraussetzungen, die es den Bürgern überhaupt währleistet, dass sie Anschluss an die gesetzgebe-
ermöglichen, ihre politischen Rechte auszuüben, rischen Instanzen und die »verwalteten Ohren der
institutionell gesichert werden (Günther 1994; Gers- Berufspolitiker« erhalten (Brunkhorst 2002, 211).
tenberg 1997). Menschenrechte sind gerade wegen ihres ambivalen-
Zugleich sind Menschenrechte nicht nur Bedin- ten moralisch-rechtlichen Charakters »Platzhalter«
gung von Demokratie, sondern sie sind in normati- demokratischer Legitimation, die eine »Öffentlich-
ver Hinsicht von einem fairen demokratischen Pro- keit-im-Werden« konstituiert (ebd.).
zess abhängig. Erst durch demokratische Verfahren Die Menschenrechtskultur bildet den gemeinsa-
werden moralische Menschenrechte von den Bür- men »normativen Nenner«, auf den verschiedene
gern thematisiert, interpretiert und, mit Zwangsbe- Rechtskulturen auch unterhalb der Schwelle gesetz-
fugnissen versehen, institutionalisiert. Damit grenzt geberischer Ausgestaltung und juristischer Konkre-
sich Habermas von der traditionellen Unterschei- tisierung übereinkommen können (Möllers 2001,
dung zwischen Naturrecht und gesetztem Recht ab, 49). Und für die Zivilgesellschaft, die sich für das
die er für nicht überzeugend hält: Ginge man von ei- Aufdecken von Menschenrechten ohnehin auf eine
ner naturrechtlichen Auffassung der Menschen- »Politik des Appells« (ebd.) beziehen muss, ist die
22. Menschenrechte 355

moralische Seite der Menschenrechte ein Trumpf sich entwickelnde Konstitutionalisierung des Völ-
beim Aufdecken und Publikmachen von Menschen- kerrechts (s. Kap. II.17) auf Basis fundamentaler
rechtsverletzungen. Im Gewand des Rechts jedoch Menschenrechte vertraut. Den normativen Bezugs-
werden Menschenrechte nicht nur einklagbare Ver- rahmen bildet eine deliberative Theorie der De-
fassungsrechte, sondern zum Baustein neuer For- mokratie, die für die transnationale Institutio-
men transnationaler Rechtsbildung, wie sie seit 1945 nalisierung funktionale Äquivalente für den de-
im Rahmen der Vereinten Nationen etabliert wur- mokratisch organisierten Entscheidungsprozess
den. bereithält.
Der prozedurale Menschenrechtsbegriff mag Habermas hat sich mit den zahlreichen Einwän-
auch mit ein Grund dafür sein, dass soziale Men- den auseinandergesetzt, die im internationalen Men-
schenrechte nicht als Menschenrechte mit ›eigenem schenrechtsdiskurs vorgebracht werden (PN, 170–
Wert‹, sondern nur ›in Relation zu‹ Freiheitsrechten 194). Für viele Kritiker sind die Menschenrechte eine
und politischen Rechten begründet werden. Offen- ›westliche‹ Errungenschaft, die auf einer rein ›okzi-
sichtlich liegt Habermas’ Ablehnung eines Rechts- dentalen‹ Vorstellung von Vernunft beruhen, die
prinzips, das sozialen Rechten den Status eines Men- längst nicht überall in der Welt geteilt wird. Dem
schenrechts einräumen würde, darin begründet, Vernunftskeptiker hält Habermas entgegen, dass,
dass sich aus der Anwendung des Diskursprinzips selbst wenn die Idee des Vernunftgebrauchs zuerst in
auf die Rechtsform kein soziales Rechtsprinzip er- ›westlichen‹ Gesellschaften aufkam, die Praxis der
gibt, das notwendigerweise im Verfahren der Rechts- vernunftgemäßen Begründung ein integraler Be-
begründung enthalten sein müsste (Kreide 2008). standteil kommunikativen Handelns ist, das selbst
Das System der Rechte enthält »genau die Rechte wiederum auf der Vorstellung reziproker Kommuni-
[...], die Bürger einander zuerkennen müssen, wenn kationsverhältnisse beruht. Im internationalen Men-
sie ihr Zusammenleben mit Mitteln des positiven schenrechtsdiskurs müssen sich die Beteiligten ver-
Rechts legitim regeln wollen« (FG, 155). Hierunter schiedener kultureller Herkunft, wenn sie sich über
versteht Habermas in erster Linie solche Rechte, die eine Interpretation verständigen wollen, von be-
Voraussetzung für eine legitime Rechtssetzung, für stimmten Präsuppositionen leiten lassen (PN, 192).
Verfahren nach Maßgabe des Demokratieprinzips Dazu gehört, dass zwischen den Beteiligten symme-
sind (ebd., 159). Aus der Perspektive einer verfah- trische Beziehungen bestehen, die sich unter ande-
renstheoretischen Begründung von Menschenrech- rem in gegenseitiger Anerkennung, wechselseitiger
ten gelangen soziale Rechte nur als Voraussetzung Perspektivenübernahme und der geteilten Bereit-
für die Nutzung anderer Rechte durch die Bürger in schaft ausdrücken, die eigene Tradition aus Sicht der
den Blick. Als rechtlicher Bestandteil des Verfahrens Anderen zu sehen. Vor diesem Hintergrund lassen
selbst sind sie nicht von Bedeutung (zur Kritik sich einseitige Lesarten und politische Instrumenta-
vgl. Frankenberg 1996; Replik in Habermas 1996, lisierungen kritisieren; sie nämlich unterlaufen die
1628 ff.; Lohmann 1999). normativen Voraussetzungen, die gegeben sein müs-
Die ›gleichursprüngliche‹ Begründung von Men- sen, um zu einer vernünftigen Übereinkunft über
schenrechten und Demokratie ist zwar in Faktizität Menschenrechtsstandards zu gelangen.
und Geltung auf den demokratisch verfassten Nati-
onalstaat bezogen, aber Habermas’ Begründungs- Literatur
ansatz schließt die demokratische Legitimation ei- Brunkhorst, Hauke: Solidarität. Von der Bürgerfreundschaft
ner transnationalen Verfassung keinesfalls aus. Die zur globalen Rechtsgenossenschaft. Frankfurt a. M. 2002.
Abstraktheit des Verfassungsbegriffs, der den Staat –: Habermas. Leipzig 2006.
und andere gesellschaftliche Institutionen der Ver- Forst, Rainer: »Das grundlegende Recht auf Rechtferti-
fassung unterwirft, lässt es zu, statt von einer Staats- gung. Zu einer konstruktivistischen Konzeption von
Menschenrechten«. In: Hauke Brunkhorst/Wolfgang R.
verfassung von einer Gesellschaftsverfassung zu Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Recht auf Men-
sprechen (Brunkhorst 2006, 112), die zum normati- schenrechte. Menschenrechte, Demokratie und internatio-
ven Maßstab aller internationalen Rechtsgebilde nale Politik. Frankfurt a.M 1999, 66–106.
der politischen Weltgesellschaft werden kann (NR, Frankenberg, Günter: »Why Care? The Trouble with Social
345). Damit zielt der Vorschlag nicht auf eine Welt- Rights«. In: Cardozo Law Review (Schwerpunkt: Haber-
mas on Law and Democracy: Critical Exchanges, Part I
republik, sondern orientiert sich an einer »Weltin- and II), Vol. 17, Nr. 4–5 (März 1996), 1365–1390.
nenpolitik ohne Weltregierung« (PN, 165), die Gerstenberg, Oliver: Bürgerrechte und deliberative Demo-
durch die Bürger getragen wird und die auf eine kratie. Frankfurt a. M. 1997.
356 IV. Begriffe

Gosepath, Stefan: »Das Verhältnis von Demokratie und gen drei Aspekte metaphysischen Denkens: Gegen
Menschenrecht«. In: Hauke Brunkhorst (Hg.): Demo- »das Einheitsmotiv der Ursprungsphilosophie«, ge-
kratischer Experimentalismus. Frankfurt a. M. 1998, 201–
gen »die Gleichsetzung von Sein und Denken«, und
241.
Günther, Klaus: »Diskurstheorie des Rechts oder liberales gegen »die Heilsbedeutung der theoretischen Le-
Naturrecht in diskurstheoretischem Gewande?« In: Kri- bensführung, kurz:« gegen »Identitätsdenken, Ide-
tische Justiz Jg. 27 (1994), 470–487. enlehre und starken Theoriebegriff« (ND, 36). Als
Habermas, Jürgen: »Kants Idee des ewigen Friedens – aus deskriptive Bezeichnung verwendet ihn Habermas
dem historischen Abstand von 200 Jahren«. Zitiert nach zunächst für eine Reihe von Strömungen der Philo-
EA, 192–237.
–: »Replik auf Beiträge zu einem Symposion der Benjamin sophie nach Hegel. Als Bezeichnung seines eigenen
N. Cardozo School of Law«. In: Cardozo Law Review Denkstils verteidigt das ›nachmetaphysische Den-
(Schwerpunkt: Habermas on Law and Democracy: Cri- ken‹ »als Platzhalter« (PI) einen universellen Begriff
tical Exchanges, Part I and II), Vol. 17, Nr. 4–5 (März von Rationalität, der in den kommunikativen Struk-
1996), 1559–1644. turen der Lebenswelt gegeben ist (ND, 46).
Kreide, Regina: Globale Politik und Menschenrechte. Macht
und Ohnmacht eines politischen Instruments. Frankfurt Habermas verwendet den Begriff zum ersten Mal
a. M. 2008. in seiner Auseinandersetzung mit Dieter Henrich
Lohmann, Georg: »Soziale Rechte und die Grenzen des So- (Habermas 1985; ND, 267 ff.), der seit seinem Wech-
zialstaates«. In: Wolfgang Kersting (Hg.): Politische Phi- sel nach München (1981) den »Anspruch der Meta-
losophie des Sozialstaates. Frankfurt a. M. 1999, 351– physik zu erneuern« versuche (ND, 267). Vor dem
372.
Michelman, Frank: »Bedürfen Menschenrechte demokrati- Hintergrund einer Skizze von »Rehabilitierungsver-
scher Legitimation?«. In: Hauke Brunkhorst/Wolfgang suchen« der Metaphysik und kontrastierenden nach-
R. Köhler/Matthias Lutz-Bachmann (Hg.): Recht auf metaphysischen Strömungen der Philosophie im 20.
Menschenrechte. Menschenrechte, Demokratie und inter- Jahrhundert kennzeichnet er Henrichs Deutungen
nationale Politik. Frankfurt a. M. 1999, 52–66. des »bewussten Lebens« als den bewusstseinstheore-
Möllers, Christoph: »Globalisierte Jurisprudenz«. In: Ar-
chiv für Rechts- und Sozialphilosophie Beiheft 79 (2001),
tisch fundierten Versuch, der Philosophie wieder die
41. Macht der Metaphysik als einer fundierenden »inte-
Wellmer, Albrecht: »Der Streit um Wahrheit. Pragmatis- grierenden« Selbstbeschreibung bewussten Lebens
mus ohne regulative Ideen«. In: Mike Sandbothe (Hg.): mit einer gegen den Naturalismus der Naturwissen-
Die Renaissance des Pragmatismus. Aktuelle Verflech- schaften sich behauptenden »abschließenden« Deu-
tungen zwischen analytischer und kontinentaler Philoso-
phie. Weilerswist 2000, 253–270.
tung zuzusprechen (Henrich 1982 und 1987).
Regina Kreide Die kritische Auseinandersetzung mit Henrichs
Versuch einer Metaphysik in der Moderne ist für
Habermas zugleich Anlass, sich über die »Motive
nachmetaphysischen Denkens« (ND, 35–60) zu ver-
gewissern. Auf die historisch seit dem 17. Jahrhun-
23. Nachmetaphysisches dert einwirkenden Erschütterungen der im obigen
Denken Sinne gekennzeichneten Metaphysik durch »letztlich
gesellschaftlich bedingte Entwicklungen« (ND, 41)
antwortet das ›nachmetaphysische Denken‹ durch
Mit dem Begriff ›nachmetaphysisches Denken‹ neue Lösungswege: durch »Verfahrensrationalität«,
kennzeichnet Habermas Weisen des Philosophie- »Situierung der Vernunft«, durch die »linguistische
rens, die heute einzig noch möglich sind. Dabei ver- Wende« und durch eine »Deflationierung des Au-
wendet er ihn in zweierlei Hinsicht, einmal als kri- ßeralltäglichen« (ebd.). Diese allgemeinen Aspekte
tisch-negativen Gegenbegriff zu einer diagnostizier- des ›nachmetaphysischen Denkens‹ sind nun kei-
ten »Rückkehr zur Metaphysik«, zum anderen als neswegs in sich unproblematisch, und Habermas
positive Umschreibung für ein nach der Metaphysik verteidigt seine Weise des ›nachmetaphysischen
noch mögliches philosophisches Denken, das den Denkens‹ aus der Perspektive des »kommunikativen
Anspruch einer umfassenden Rationalität nicht auf- Handels« gegen konkurrierende Versionen.
gibt. Historisch gesehen steht das ›nachmetaphysi- Gegen den metaphysischen Anspruch einer Ein-
sche Denken‹ »immer noch« in der Tradition der heit von Denken und Welt setzen die modernen Na-
Junghegelianer (DM, 67 ff.; ND, 36, 277), und es wen- turwissenschaften und der Formalismus in Moral
det sich als kritischer Gegenbegriff zur Metaphysik, und Recht auf die »Vernünftigkeit der Prozeduren«
die Habermas von Platon bis zu Hegel verortet, ge- der Wissensgewinnung, auf die Ausdifferenzierung
23. Nachmetaphysisches Denken 357

von Natur- und Geisteswissenschaften und den Fal- wenn das ›nachmetaphysische Denken‹ den »klassi-
libilismus wissenschaftlicher Theorien (ND, 42 ff.). schen Vorrang der Theorie« vor der Praxis preisgibt
Die Philosophie sollte in diesen Prozessen sich frei- (siehe auch WR, 319 ff.) und dabei die Philosophie
lich weder an einzelne Wissenschaften assimilieren, neben, nicht über den Wissenschaften verortet. Die-
noch in direkte Opposition zu den Wissenschaften ses auf die lebensweltliche Praxis sich beziehende
sich begeben. Habermas sieht seine eigene Version ›nachmetaphysische Denken‹ soll zwei Gefahren ab-
›nachmetaphysischen Denkens‹ durch einen Rück- wehren. Vor einem Abgleiten in einen defätistischen
bezug zur kommunikativen Alltagspraxis ermög- Skeptizismus der Vernunft schützt es die Kritik an
licht. In den Verfahren rationaler Nachkonstruktio- der Logoszentrierung der abendländischen Ver-
nen des intuitiven Wissens »kompetent sprechender, nunftkonzeptionen. Und ebenso muss das ›nachme-
handelnder und urteilender Subjekte« kann die Phi- taphysische Denken‹ die Gefahr abwehren, zu einer
losophie ihre universalistische und auf das Ganze Bewertung einer Lebensform im Ganzen sich aufzu-
ausgerichtete Fragestellung beibehalten, ohne »eine werfen. Weil die nachmetaphysische Philosophie
eigene Methode, einen eigenen Gegenstandsbereich »[…] ihren außeralltäglichen Status eingebüßt« (ND,
oder auch nur einen eigenen Stil der Intuition (zu) 60) hat, kann sie auf der einen Seite als kritische Ins-
beanspruchen« (ND, 45 f.). Das ›nachmetaphysische tanz nur mehr zwischen Lebenswelt und Wissen-
Denken‹ bleibt so in seinen Rollen als Platzhalter schaften vermitteln, auf der anderen Seite »[…] ko-
und Interpret kritisch sowohl gegen den common- existiert […] das nachmetaphysische Denken noch
sense der Alltagspraxis wie gegen den ausgreifenden mit einer religiösen Praxis« (ND, 60). In dieser Hin-
Anspruch einzelner Wissenschaften. sicht bleibt die Philosophie in ihrem Verhältnis zur
Das nachmetaphysische Motiv einer Situierung Religion auf eine »rettende Kritik« (W. Benjamin)
der Vernunft bewegte zuerst die Idealismuskritik der verpflichtet, deren Aufgabe Habermas in der Ȇber-
Junghegelianer (DM, 65 ff.), wird nach Habermas setzung« religiöser Gehalte »in begründende Dis-
aber angemessener aufgenommen von den Versu- kurse« (ebd.) sieht.
chen des Historismus, der Lebensphilosophie und In den Diskussionen, die Habermas seit einiger
der Phänomenologie, die Grundbegriffe der kanti- Zeit mit den Religionen führt, ist das ›nachmetaphy-
schen Transzendentalphilosophie zu detranszenden- sische Denken‹ besonders prominent geworden (NR;
talisieren (ND, 48 ff.). Erst aber der Paradigmen- Habermas 2008; vgl. auch Forum für Philosophie
wechsel von der Bewusstseinsphilosophie zur 1999). Weil die nachmetaphysische Philosophie von
Sprachphilosophie ermöglicht es nach Habermas, der metaphysischen Sinngebung von Natur und Ge-
diese Situierung der Vernunft (vgl. Habermas 2001) schichte sich verabschiedet hat, muss sie die gefähr-
in die kommunikative Praxis einer gemeinsamen Le- deten und schwindenden motivationalen Ressour-
benswelt angemessen zu begreifen. cen praktischer Solidarität durch eine rettende
Freilich bedarf dafür auch die linguistische Wende, »Übersetzung« religiöser Gehalte zu kompensieren
die die vielfältige sprachphilosophische Kritik an der versuchen (Reder/Schmidt 2008, 30 f.). In anderer
Bewusstseinsphilosophie hervorbringt, noch einer Sicht freilich glaubt Habermas das ›nachmetaphysi-
formalpragmatischen Transformation. Erst hier sche Denken‹ selbstmächtig genug: Im Kampf der
kann das zunächst von der Sprachphilosophie un- modernen Vernunft mit sich selbst, gegen die Ge-
lösbare Problem der Individualität in Angriff ge- fahren eines postmodernen Defätismus und eines
nommen werden: Die »Analyse der allgemeinen wissenschaftsgläubigen Naturalismus vertraut er auf
Präsuppositionen, die erfüllt sein müssen, damit die die unaufgeregte nachmetaphysische Vernunft (vgl.
Kommunikationsteilnehmer sich über etwas in der DM; NR). Kritik haben diese Bestimmungen ›nach-
Welt verständigen können« (ND, 55; vgl. auch WR, metaphysischen Denkens‹ häufig gefunden, zu-
65 ff.), macht deutlich, dass »alles Verstehen […] im- nächst von Dieter Henrich selbst (Henrich 1987),
mer zugleich ein Nicht-Verstehen« (Humboldt) ist, dann von zahlreichen Kritikern, die bezweifelt ha-
und die formalpragmatisch rekonstruierten Bedin- ben, dass erstens der »Nicht-Titel« (Henrich) Meta-
gungen sprachlicher Verständigung daher »Verge- physik so verstanden werden muss, wie Habermas es
sellschaftung und Individuierung« zugleich ermög- vorschlägt, und zweitens Habermas selbst in Nach-
lichen (ND, 187 ff.). metaphysisches Denken eben jene metaphysischen
Das vierte nachmetaphysische Motiv lässt sich als Annahmen implizit machen muss, die er zu verab-
Konsequenz der voraus genannten verstehen: Zu ei- schieden glaubte (Langthaler 1997; D. C. Henrich
ner Deflationierung des Außeralltäglichen kommt es, 2007). Gleichwohl ist dieses ›nachmetaphysische
358 IV. Begriffe

Denken‹, das eine selbstkritische Herabstimmung gitimationsgrundlage politischer Entscheidungen.


des Geschäfts der Philosophie auf die Rekonstruk- Eine solche Öffentlichkeit dient laut Habermas als
tion der vernünftigen Potentiale einer vorgefunde- normativer Maßstab zur Kritik an der gesellschaftli-
nen Lebenswelt mit dem beibehaltenen universellen chen Realität und zugleich als real wirksames Me-
und ideellen Anspruch der Vernunft verbindet, Leit- dium kollektiven Lernens. Methodisch entspricht
motiv des Habermas’schen Denkens überhaupt, des- dem Begriff der Öffentlichkeit die philosophische
sen »Sache […] überhaupt den Status einer Wirk- Analyse, die stets zugleich auch die sozialen und kul-
samkeit hat, die ein Mittleres ist zwischen faktischem turellen Strukturen (und Anomien) im Blick hat.
Dasein und bloßem Ideal« (Theunissen 1981, 52). Habermas’ ideologiekritischer Ansatz: Ziel von
Strukturwandel der Öffentlichkeit ist es, den Idealty-
Literatur pus bürgerlicher Öffentlichkeit aus den historischen
Kontexten der gesellschaftlichen Entwicklung in
Forum für Philosophie Bad Homburg (Hg.): Nachmetaphy-
sisches Denken und Religion. Würzburg 1999. Deutschland, England und Frankreich des 18. und
Habermas, Jürgen: »Rückkehr zur Metaphysik – Eine Ten- 19. Jahrhunderts herauszuarbeiten. Bis zu dieser Zeit
denz in der deutschen Philosophie?«. In: Merkur H. kennzeichnet die Politisierung des gesellschaftlichen
439/440 (Oktober 1985). Zit. n. ND, 267–279. Lebens, der Aufstieg von Presse, Buchproduktion
–: Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte
und Vereinswesen, der Kampf gegen Zensur und für
Vernunft. Stuttgart 2001.
Henrich, Daniel C.: »Jürgen Habermas: Philosoph ohne Meinungsfreiheit den Funktionswandel einer expan-
metaphysische Rückendeckung?« In: Zeitschrift für Phi- dierenden Öffentlichkeit. Grundlage bürgerlicher
losophie 55,3 (2007), 389–402. Öffentlichkeit ist die Trennung von Staat und Gesell-
Henrich, Dieter: Fluchtlinien. Frankfurt a. M. 1982. schaft, von Öffentlichem und Privatem. Nachdem
–: »Was ist Metaphysik – was Moderne?«. In: Merkur die bürgerliche Öffentlichkeit im späten 19. Jahr-
439/440 (Oktober 1985), 898 ff.; und in: Merkur 442
(Juni 1986), 494 ff. (Zitiert nach Ders.: Konzepte. Frank- hundert ihren höchsten Entwicklungsstand erreicht
furt a. M. 1987, 11–43). hat, werden diese Trennungen infolge sozialstaatli-
Langthaler, Rudolf: Nachmetaphysisches Denken? Berlin cher Transformationen sukzessive aufgehoben. Da-
1997. mit beginnt die Auflösung der bürgerlichen Öffent-
Reder, Michael/Schmidt, Josef (Hg.): Ein Bewusstsein von lichkeit und mit dem Aufstieg der Kulturindustrie
dem, was fehlt. Ein Gespräch mit Jürgen Habermas.
Frankfurt a. M. 2008. überdies der Zerfall der »literarischen Öffentlich-
Theunissen, Michael: Kritische Theorie der Gesellschaft. keit« (SÖ 1990, 257). Die Massenmedien vermögen
Zwei Studien. Berlin/New York 1981. nur eine Scheinöffentlichkeit zu erzeugen, da das
Georg Lohmann Publikum tendenziell verstummt: Die kritische Öf-
fentlichkeit verkümmert ebenso wie die (in formaler
Hinsicht) demokratisierte Politik.
Während die erste Auflage von Strukturwandel
24. Öffentlichkeit der Öffentlichkeit in die Zeit der Adenauer-Ära fällt,
in der das emanzipatorische Potenzial bürgerlicher
Öffentlichkeit als normatives Leitbild kritische Im-
Der Begriff der Öffentlichkeit wird im deutschen pulse für eine Repolitisierung der Öffentlichkeit be-
und anglo-amerikanischen Raum bestimmt vom reithält, gewinnt die Neuauflage von 1990 Aktualität
Werk Jürgen Habermas’. Seine Habilitationsschrift durch die »nachholende Revolution« in den osteuro-
Strukturwandel der Öffentlichkeit (1961) legt die päischen Ländern. Erst in dieser Zeit wird das Buch
wichtigsten Annahmen dar, die später vor allem in ins Englische übersetzt und findet eine folgenreiche
der rechts- und demokratietheoretischen Abhand- Rezeption in der amerikanischen sozialwissenschaft-
lung Faktizität und Geltung (1992) systematisch aus- lichen Diskussion. Die Denkmotive von Struktur-
gearbeitet werden. Habermas versteht ›Öffentlich- wandel der Öffentlichkeit werden in den späteren Ar-
keit‹ als Raum des vernünftigen kommunikativen beiten von Habermas immer wieder aufgegriffen: in
Umgangs miteinander, als Medium der kollektiven der Entwicklung der Sprach- und Handlungstheorie
Selbstverständigung. Unter den Bedingungen mo- und der damit verbundenen Rationalitätskonzep-
derner Gesellschaften gewinnt insbesondere die po- tion als »öffentlicher Vernunftgebrauch« ebenso wie
litische Öffentlichkeit des demokratischen Gemein- in den gesellschaftstheoretischen, politik- und
wesens eine zentrale Bedeutung für die Integration rechtstheoretischen Untersuchungen.
der Gesellschaft. Öffentliche Debatten bilden die Le- Der Begriff der Öffentlichkeit in der deliberativen
24. Öffentlichkeit 359

Demokratietheorie: Habermas’ Studien zur Rolle dis- nungs- und Willensbildung die Schleuse für die dis-
kursiver Öffentlichkeit lösten im deutschen und an- kursive Rationalisierung der politischen Entschei-
glo-amerikanischen Raum vielfältige Diskussionen dung sind. Nur so kann verhindert werden, dass die
zu den Konzeptionen deliberativer Demokratie aus. administrative oder die soziale Macht der interme-
In dieser Debatte profiliert Habermas seine Konzep- diären Strukturen gegenüber der kommunikativen
tion von Öffentlichkeit als dritten Weg zwischen ei- Macht, die sich im parlamentarischen Komplex bil-
nem liberalen und einem radikal deliberativen Mo- det, die Oberhand gewinnt.
dell. Schon in der Neuauflage von Strukturwandel Habermas gibt diesem soziologischen Schleusen-
der Öffentlichkeit nimmt er Abstand von der Idee ei- modell eine normative Wendung. Dem Diskursbe-
nes der politischen Öffentlichkeit innewohnenden griff der Demokratie entspricht die Idee der Volks-
Potenzials zur gesellschaftlichen Selbstorganisatio- souveränität als kommunikativ erzeugte Macht, die
nen, also der Vorstellung einer im Ganzen delibera- aus der Interaktion zwischen rechtsstaatlich institu-
tiv gesteuerten Gesellschaft. Außerdem schließt er tionalisierter Willensbildung und mobilisierter Öf-
die (nach innen weit differenzierte) massenmediale fentlichkeit entspringt. Die Volkssouveränität hat
Öffentlichkeit explizit in sein Konzept von Öffent- ihre Grundlage in der organisierten Zivilgesellschaft,
lichkeit ein, da nur sie eine hinreichende Inklusion deren Aufgabe es ist, gesellschaftliche Problemlagen
aller Bürger gewährleisten könne. In seiner normativ an die politische Öffentlichkeit weiterzuleiten. Aus
angelegten Demokratietheorie wird die »politische rein praktischen Gründen ist aber in komplexen Ge-
Öffentlichkeit« zum »Inbegriff derjenigen Kommu- sellschaften die Anbindung aller politischen Ent-
nikationsbedingungen, unter denen diskursive Mei- scheidungen an die Meinungs- und Willensbil-
nungs- und Willensbildung eines Publikums von dungsprozesse der Peripherie nicht möglich. Rele-
Staatsbürgern zustande kommen kann« (SÖ 1990, vant ist vielmehr, dass im Konfliktfall Entscheidungen
38). im politischen Zentrum an den öffentlichen Mei-
In Faktizität und Geltung (1992) entwickelt Ha- nungs- und Willensbildungsprozess rückgekoppelt
bermas das Konzept einer »zweigleisig« verlaufen- werden. Daher lässt sich »[…] der Zustand der De-
den deliberativen Politik, die zwischen dem (auf kol- mokratie«, so Habermas, »am Herzschlag ihrer poli-
lektiv bindenden Entscheidungen spezialisierten) tischen Öffentlichkeit abhorchen« (NR, 25). Es be-
politischen System und der (vom Entscheidungs- steht aber die Gefahr, dass überregionale Tages- und
druck entlasteten) autonomen Öffentlichkeit unter- Wochenzeitungen infolge von Umorganisation und
scheidet. Er knüpft dabei an Bernhard Peters’ sozio- Einsparungen ihren eigenen journalistischen Stan-
logisches Schleusenmodell an, das die Kommunika- dards nicht mehr gerecht werden, und damit ihre
tions- und Entscheidungsprozesse des politischen Rolle als »Leitmedien« im Bereich der politischen
Systems auf einer Achse zwischen »Zentrum« und Kommunikation nicht mehr erfüllen können. Daher
»Peripherie« anordnet (Peters 1993). Während der müsse der Staat das öffentliche Gut der Qualitäts-
Kernbereich des politischen Systems aus dem parla- presse vor dem Marktversagen schützen (AE, 137).
mentarischen Komplex, der Regierung und Verwal- »Öffentlichkeit« in der neueren empirischen For-
tung sowie dem Gerichtswesen besteht, wird der schung: Habermas’ Überlegungen zur politischen
periphere Bereich durch eine zivilgesellschaftliche Öffentlichkeit haben zwei neue Forschungsfelder
Infrastruktur gebildet. Dazwischen gelagert sind maßgeblich beeinflusst: zum einen empirische For-
komplexe Netzwerkstrukturen zwischen öffentlicher schungen, die bestimmte Erwartungen von Konzep-
Verwaltung und privaten Organisationen, Interes- tionen öffentlicher Deliberation überprüfen (z. B.
sengruppen, Verbänden und Lobbyisten, die in un- die Arbeiten von Gerhards/Neidhardt/Rucht 1998
terschiedlichem Maße Kooperationsbeziehungen und Daele/Neidhardt 1996) und zum anderen de-
eingehen und Koordinationsfunktionen bei der Um- mokratietheoretische Arbeiten, die sich auf transna-
setzung öffentlicher Funktionen haben. Zudem fin- tionale Ordnungen beziehen (EU, global gover-
den sich – gewissermaßen in der äußersten Periphe- nance). Letztere befassen sich mit der Frage, ob sich
rie – intermediäre Strukturen, die weniger die Im- deliberative Politik als ein Medium für die Übertra-
plementierung beschlossener Politik als vielmehr gung nationalstaatlicher Legitimationspotentiale auf
deren Formulierung und die Artikulation von Pro- Entscheidungsprozesse jenseits nationaler Grenzen
blemen als ihre Aufgabe ansehen. Die Idee des eignet (z. B. die Beiträge in Niesen/Herborth 2007).
Peters’schen Modells ist, dass Verfahren und Kom- Die empirischen Befunde geben zwar häufig zu skep-
munikationsbedingungen der demokratischen Mei- tischen Vorbehalten Anlass, aber sie sprechen auch
360 IV. Begriffe

dafür, dass es Ansätze zu einer entstehenden Weltöf- Fraser, Nancy: »Die Transnationalisierung der Öffentlich-
fentlichkeit im Sinne einer sich selbst organisieren- keit. Legitimität und Effektivität der öffentlichen Mei-
nung in einer postwestfälischen Welt«. In: Niesen/Her-
den Weltzivilgesellschaft gibt. So bedienen sich bei-
borth 2007, 224–253.
spielsweise global handelnde Nichtregierungsorga- Gerhards, Jürgen: »Diskursive versus liberale Öffentlich-
nisationen bestehender Medienstrukturen. Sie keit«. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsy-
machen die Politiken der Internationalen Organisa- chologie 49 (1997), 1–34.
tionen (z. B. der Welthandelsorganisation) transpa- – /Neidhardt, Friedhelm/Rucht, Dieter (Hg.): Zwischen
renter und stellen zugleich eine Rückkoppelung zwi- Palaver und Diskurs. Strukturen öffentlicher Meinungs-
bildung am Beispiel der deutschen Diskussion zur Abtrei-
schen den Regierungsvertretern und den jeweils bung. Opladen 1998.
mobilisierten Teilen der organisierten Zivilgesell- Göhler, Gerhard (Hg.): Macht der Öffentlichkeit – Öffent-
schaft her (Nanz/Steffek 2007). Was allerdings fehlt, lichkeit der Macht. Baden-Baden 1995.
ist die kontinuierliche Beobachtung und Kommen- Nanz, Patrizia/Steffek, Jens: »Zivilgesellschaftliche Partizi-
tierung transnationaler Entscheidungsprozesse pation und die Demokratisierung internationalen Re-
gierens«. In: Niesen/Herborth 2007, 87–110.
durch eine europäische bzw. globale Öffentlichkeit Negt, Oskar/Kluge, Alexander: Erfahrung und Öffentlich-
sowie die gleichmäßige Einbeziehung der Bürger in keit. Zur Organisationsanalyse bürgerlicher und proletari-
den Entscheidungsprozess. Von Strukturwandel der scher Öffentlichkeit. Frankfurt a. M. 1972.
Öffentlichkeit bis zu Faktizität und Geltung waren alle Neidhardt, Friedhelm (Hg.): Öffentlichkeit, öffentliche Mei-
Konzeptionen von Öffentlichkeit auf die souveräne nung und soziale Bewegungen (Sonderheft 34 der Kölner
Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Opladen
Macht des Nationalstaats bezogen. Es ist schwer vor- 1994.
stellbar, wie öffentliche Meinung als kritische Kraft Niesen, Peter/Herborth, Benjamin (Hg.): Anarchie der
in einer »postnationalen Konstellation« effektiv sein kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die The-
kann, in der Betroffenheit und politische Zugehörig- orie der internationalen Politik. Frankfurt a. M. 2007.
keit immer weniger identisch sind (Fraser 2007, Peters, Bernhard: Die Integration moderner Gesellschaften.
Frankfurt a. M. 1993.
249). Es wird letztlich darauf ankommen, ob sich im Wingert, Lutz/Günther, Klaus (Hg.): Die Öffentlichkeit der
Horizont einer Weltgesellschaft nationale Medienöf- Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift
fentlichkeiten füreinander öffnen und von ihren für Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 2001.
Themen und Beiträgen gegenseitig Kenntnis neh- Patrizia Nanz
men, damit transnationale Kommunikationsge-
meinschaften von Bürgern entstehen. Es wird also in
Zukunft nicht um den Aufbau einer supranationalen
(europäischen oder globalen) Öffentlichkeit gehen,
sondern um die »Transnationalisierung der beste- 25. Pragmatische Wende
henden nationalen Öffentlichkeiten« (AE, 191), die
von ihren Beiträgen zu europäischen oder globalen
Themen gegenseitig Kenntnis nehmen und die je- Robert Brandom beschreibt den Pragmatismus »als
weiligen politischen Stellungnahmen und Kontro- eine Bewegung, die auf den Primat des Praktischen
versen gegenseitig übersetzen. ausgerichtet ist« (Brandom 2002, 40). Dieser Primat
des Praktischen über die Theorie manifestiert sich in
Habermas’ Schriften auf zweierlei Weise. Erstens
Literatur zeigt er sich in Habermas’ lebenslangem Insistieren
Arato, Andrew/Cohen, Jean (Hg.): Civil Society and Politi- auf dem Primat des Wissens-wie (das er häufig intui-
cal Theory. Cambridge 1992. tives Wissen nennt) über das Wissen-dass. Dies ist
Benhabib, Seyla: »Modelle des öffentlichen Raums: Han- eine heideggerianische Schlüsselunterscheidung, auf
nah Arendt, die liberale Tradition und Jürgen Haber-
die Habermas in seinen theoretischen Analysen und
mas«. In: Soziale Welt 41 (1991), 147–165.
Calhoun, Craig (Hg.): Habermas and the Public Sphere. seiner Formalpragmatik ebenso wie bei der Entwick-
Cambridge, Mass. 1992. lung seiner Gesellschaftstheorie zurückgreift. Zwei-
Cohen, Joshua: »Deliberation and Democratic Legitimacy«. tens manifestiert dieser Primat sich in Habermas’
In: Alan Hamlin/Philip Pettit (Hg.): The Good Polity. Ablehnung dessen, was er das ›Beobachter-Modell‹
Normative Analysis of the State. Cambridge 1989, 17–34.
des Wissens nennt, und in seinem Beharren darauf,
Daele, Wolfgang van den/Neidhardt, Friedhelm (Hg.):
Kommunikation und Entscheidung. Politische Funktionen dass das Handeln ›kognitive‹ Bedeutung hat, oder in
öffentlicher Meinungsbildung und diskursiver Verfahren. anderen Worten: dass unsere Weise des Handelns
WZB-Jahrbuch 1996. Berlin. zugleich auch unsere Weise der Welterkenntnis ist.
25. Pragmatische Wende 361

Auch dies ergibt sich aus Heideggers Begriff des ›In- wir diese Aporie überwinden. Habermas vertritt die
der-Welt-Seins‹. Auffassung, dass wir uns dazu eine – wie er es nennt
Habermas ist in diesen beiden gerade erwähnten – ›nicht-klassische‹ Form des Realismus zu eigen
Weisen stets Pragmatist gewesen, doch nach Er- machen müssen.
kenntnis und Interesse (1968) kümmerte er sich we- Bei der Entwicklung seiner Formalpragmatik und
nig um Fragen der theoretischen Philosophie; daher seiner Theorie des kommunikativen Handelns ver-
wollte er mit Wahrheit und Rechtfertigung (1990) sucht Habermas anfangs, über das repräsentionalis-
hier Abhilfe schaffen. In diesem Band greift er den tische Modell der Erkenntnis dadurch hinauszuge-
›schwachen Naturalismus‹ wieder auf, den er in Er- langen, dass er das zweipolige Modell der Repräsen-
kenntnis und Interesse vertreten hatte, und er zielt tation durch ein dreipoliges ersetzt, in dem ein
damit auf zwei Dinge ab: Erstens will er sein theore- Akteur versucht, sich mit einem anderen Akteur
tisches Vorhaben sowohl mit seiner Formalpragma- über etwas in der Welt zu verständigen. Ebenso kon-
tik als auch mit seiner Theorie des kommunikativen zeptualisiert Habermas in seiner Theorie des kom-
Handelns verknüpfen. Zweitens will er gewisse Di- munikativen Handelns Objektivität als eine erfolg-
lemmata und Aporien hinter sich lassen, denen sich reiche Verständigung von zwei oder mehr Ge-
seine Theorien des kommunikativen Handelns und sprächsteilnehmern. Diese Theorie der Objektivität
der sozialen Evolution ausgesetzt sahen. Sein erneu- lässt sich aber kaum mit unseren eigenen realisti-
ter Nachdruck auf pragmatische Themen ist für schen Intuitionen über die Welt vereinbaren, und
diese beiden Aufgaben von grundlegender Bedeu- daher veranlasst Habermas’ erneute Betonung des
tung. Pragmatismus ihn dazu, dieses Modell zu überden-
In Erkenntnis und Interesse versucht Habermas, ken und zu überarbeiten. Die Welt ist nicht nur eine
den kantischen Transzendentalismus mit einem Na- Bedingung gegenseitigen Verstehens, sondern auch
turalismus (im weitesten Sinne) zu versöhnen, in- etwas, auf das wir stoßen, wenn wir Handlungen
dem er eine Unterscheidung zwischen ›subjektiver/ ausführen. Wir erfahren den Widerstand der Reali-
objektiver Natur‹ und ›Natur an sich‹ aufrechterhält. tät, wenn unsere Pläne scheitern; wir erleben, dass
Dies führt – so Habermas und seine Kritiker – in die Welt mit uns kooperiert, wenn es uns gelingt, un-
eine Aporie, die jener ähnelt, der sich Kant gegen- sere Pläne im Handeln umzusetzen.
übersah, als er die ›Phänomena‹ von den ›Noumena‹ Die Welt, die wir erleben, wenn wir unsere mate-
unterschied. Die Aporie ist folgende: Um die Unter- riellen Ziele verfolgen, lässt sich nicht objektivieren
scheidung zwischen ›subjektiver/objektiver Natur‹ (da die Objektivierung den ›Geist‹ und nicht das ›In-
und ›Natur an sich‹ aufrechtzuerhalten, erscheint es der-Welt-Sein‹ als solches voraussetzt), und daher
erforderlich, einen »Blick hinter die Kulissen des können wir einen ›Blick‹ in die Existenz und Realität
menschlichen Geistes« zu werfen (WR, 32). Doch einer Welt jenseits unserer ›Objektivierungen‹ wer-
würde dies gegen die Grundthese des nachmetaphy- fen – allerdings durch unsere Handlungen, und nicht
sischen Denkens verstoßen – was Habermas um je- mit Hilfe unseres Geistes. Diese Welt, die jenseits der
den Preis vermeiden möchte. In Wahrheit und Recht- Welt unserer Objektivierungen liegt, ist nichts ande-
fertigung beabsichtigt Habermas jedoch den Nach- res als die ›Natur an sich‹. So erhalten wir – nach die-
weis, dass die oben genannte Aporie weniger dem sem Modell – nicht auf der Ebene der geistigen Per-
Versuch geschuldet ist, einen transzendentalphiloso- zeptionen Zugang zur ›Natur an sich‹, sondern durch
phischen Ansatz mit einem Naturalismus zu verbin- die ›welterschließenden Wirkung‹ des Handelns.
den, sondern dass sie sich aus einem Repräsentatio- Dies wiederum verhilft uns dazu, die oben genannte
nalismus ergibt, der unter dem Ansturm des Prag- Aporie zu überwinden und einen »Blick hinter die
matismus aufgegeben werden muss. Der Reprä- Kulissen des menschlichen Geistes zu werfen« (WR,
sentationalismus begreift das Wissen nach dem 32), ohne die Unterscheidung zwischen subjektiver
Muster einer wechselseitigen Beziehung zwischen Welt, objektiver Welt und Natur an sich preisgeben
Subjekt und Objekt, derzufolge der Zugang zu dem, zu müssen. Diese Unterscheidung ist auf der Ebene
was jenseits des Objektes ist, als ein Blick hinter den des Geistes angemessen, aber auf der Ebene des Han-
Aufbau des menschlichen Geistes gedacht werden delns erfahren wir etwas, das jenseits dieser Unter-
muss. Wenn aber das Wissen in pragmatischen Be- scheidungen liegt, die aber innerhalb der Grenzen
griffen betrachtet wird, wenn wir folglich das reprä- unseres Geistes und unserer Sprache unverzichtbar
sentationalistische Modell hinter uns lassen und den sind. Hier dagegen überwältigt uns die Welt in ge-
kognitiven Wert des Handelns anerkennen, können wissem Sinne, und wir erfahren ihren Widerstand
362 IV. Begriffe

und ihre Mitwirkung auf unmittelbare, direkte und –: »Experience the World«. In: Ders.: Reason and Nature:
unvermittelte Weise. Lecture and Colloquium in Münster 1999. Hg. von Mar-
cus Willaschek. Münster 2000.
Der Widerstand (oder die Mitwirkung) der Welt,
–: »Towards Rehabilitating Objectivity«. In: Robert Bran-
der uns auf pragmatischer Ebene begegnet, muss dom (Hg.): Rorty and his Critics. Malden 2000, 109–123.
auch Rückwirkungen auf unseren sprachlichen und Renn, Joachim: »One World is Enough. On: Jürgen Haber-
geistigen Apparat haben. Dies deutet darauf hin, dass mas, Wahrheit und Rechtfertigung«. In: European Jour-
auch unsere geistigen und sprachlichen Apparate nal of Social Theory 3, 4 (2000), 485–49.
sich unter den Zwängen der Realität entwickelt ha- Swindal, James: »Habermas’s ›Unconditional Meaning
Without God‹: Pragmatism, Phenomenology, and Ulti-
ben, selbst wenn diese Zwänge indirekter Art sind. mate Meaning«. In: Ultimate Reality and Meaning 26, 2
Damit ergibt sich ein Ausweg aus dem Kontextualis- (2003), 126–149.
mus, der jede ernsthafte Form des Transzendentalis- Ali M. Rizvi (Übers. Nikolaus Gramm)
mus und der linguistischen Wende heimsucht. Ha-
bermas stellt jetzt folgende Behauptung auf: Wenn
unser konzeptueller Apparat sich unter den Zwän-
gen der Realität entwickelt hat – die sich als eine Re-
alität erwiesen hat, die uns mit Widerstand begegnet
und die jenseits der Launen und Capricen unseres 26. Radikaler Reformismus
individuellen oder kollektiven Begehrens angesiedelt
ist –, dann müssen wir die fortdauernde Funktions-
fähigkeit unseres Begriffsrepertoires als den Beweis So wie der Buchtitel Theorie des kommunikativen
der Objektivität dieser Zwänge verstehen. Damit ist Handelns für das gesamte bisherige Werk von Ha-
jeglichem Kontextualismus der Boden entzogen. bermas steht, so die Formel vom radikalen Reformis-
Dies führt jedoch nicht zu einer Rückkehr zum Be- mus für dessen Einstellung zur politischen Praxis
griffsrealismus, da der auf unserem konzeptuellen und die praktischen Implikationen seiner Theorie.
Apparat wirkende Zwang ein indirekter ist und es In einer langen Einleitung zu einer ersten Sammlung
daher eine gewisse Distanz zwischen den Zwängen von Aufsätzen, Denkschriften und Diskussionsbei-
der Realität einerseits und der Funktionsweise unse- trägen zur Hochschulreform und zur studentischen
rer Sprache und unserem konzeptuellen Apparat an- Protestbewegung, die Habermas im Winter 1969 ge-
dererseits gibt – Habermas nennt dies ›Halbtrans- schrieben hat, setzt er sich eingehend mit Intentio-
zendenz‹. In dieser Hinsicht spielt der Pragmatismus nen, theoretischen Selbstrechtfertigungen, Erfolgen,
in Habermas’ ›später‹ theoretischer Philosophie eine Reaktionen und der – überall ähnlichen – Herkunft
entscheidende Rolle, insofern er zum einen Trans- der ersten globalen Protestbewegung auseinander.
zendentalismus und Naturalismus und zum anderen Sie endet mit Lenins berühmter Frage, »Was tun?«.
Realismus und Transzendentalismus miteinander Habermas weist am Schluss das »Kategorienpaar
verbindet. ›Reform‹ und ›Revolution‹« mit der Begründung zu-
rück, dass es nicht mehr »trennscharf« zwischen »al-
ternativen Strategien der Veränderung« unterscheide
Literatur (Habermas 1969, 49; im Folgenden: PH). Er distan-
Aboulafia, Mitchell/Bookman, Myra/Kemp, Cathy (Hg.):
ziert sich gleichermaßen polemisch vom revolutio-
Habermas and Pragmatism. London 2001. nären Aktionismus wie vom bloßen Reformismus.
Brandom, Robert: »Pragmatics and Pragmatisms«. In: Hi- Gegen den revolutionären Aktionismus wendet er
lary Putnam: Pragmatism and Realism. Hg. von James ein, dieser übersehe, dass er es in Ländern wie der
Conant und Urszula M. Zeglen. London 2002, 40–58. Bundesrepublik, Frankreich oder den USA mit »ei-
Habermas, Jürgen: »Nachwort« zur Taschenbuchausgabe
nem Institutionensystem« zu tun habe, das selbst be-
von Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1973.
–: On the Pragmatics of Communication. Hg. von Maeve reits eine wie immer unvollkommene Verkörperung
Cooke. Cambridge, Mass. 1998. »vergangener Emanzipationsprozesse« darstelle und
–: »The Language Game of Responsible Agency and the deshalb nicht einfach ohne Not »übersprungen« und
Problem of Free Will: How Can Epistemic Dualism Be preisgeben werden könne und dürfe (PH, 43). Mit ei-
Reconciled with Ontological Monism?« In: Philosophical
nem am Marxismus geschulten Vokabular verurteilt
Explorations: An International Journal of the Philosophy
of Mind and Action 10, 1 (March 2007). Habermas diesen Aktionismus in scharfen Worten,
McDowell, John: Geist und Welt. Paderborn 1998 (engl. mal als »utopischen Sozialismus« und »linken Fa-
1996). schismus« (PH, 146 ff.), mal als »Schaugeschäft der
26. Radikaler Reformismus 363

Revolutionsdarsteller« (PH, 50) und »Scheinrevolu- zum Engagement für ein europäisches Verfassungs-
tion« (PH, 188 ff.). Ähnlich scharf fällt seine, Benja- projekt, von dem Habermas wusste, dass es ein Mus-
min, Marcuse und Adorno verpflichtete Kritik am terbeispiel des schlechten Sozialdemokratismus der
»bloßen Reformismus« aus, der »sich seiner als etablierten Parteien und Führungskader Europas
Selbstzweck« nur allzu »gewiß« sei und »heute schon war, von denen sich niemand nach demokratischer
das Versprechen für die Erhaltung des Status quo Legitimation und Kontrolle sehnte (Habermas 2007,
von morgen« gebe, »ohne ihn zu kennen«. Ein sol- 458 f.). Aber er wusste auch, dass »Namen« wie ›Ver-
cher Reformismus setzt an die Stelle der blinden und trag über eine Verfassung Europas‹, wenn sie in ju-
unbestimmten Negation des Aktionismus lediglich ristischen Dokumenten auftauchen, nicht nur
die ebenso blinde und unbestimmte Affirmation des »Schall und Rauch« (Goethe) sind, sondern beim
Bestehenden: »Die vorweggenommene Affirmation Wort genommen werden und zurückschlagen kön-
schlägt auf das Beginnen zurück und verdirbt die nen (vgl. Müller 1997, 54) – und sei es in der negati-
notwendige Radikalität des unbeirrbaren Untersu- ven Gestalt eines abstimmungsberechtigten Volkes,
chens wie des vernünftigen Wollens. Der traditions- das noch weiß, welche »vergangenen Emanzipati-
reiche Vorwurf des ›Sozialdemokratismus‹ trifft da- onsprozesse« in einer wirklichen Verfassung verkör-
ran das Moment vorwärtsgewandter Rückversiche- pert sind und deshalb aus der »homogenen und lee-
rung zu Recht« (PH, 50). Scheinrevolution und ren Zeit« des transnationalen Bonapartismus das
Sozialdemokratismus sind zwei Seiten ein und der- constitutional moment einer »mit Jetztzeit gelade-
selben Medaille. Während der aktionistische Protest ne[n] Vergangenheit« heraussprengt hat (Benjamin
der einen das schlechte Bestehende, das er verän- 1966, 276), auch wenn die Sprengsatz nach hinten
dern möchte, gar nicht erst erreicht, hat sich dem losging. Aber eine Politik der »Rückversicherung«,
Reformismus der andern jede Perspektive auf eine in der nichts »auf dem Spiel steht« (PH, 50), gerät
Welt jenseits »verselbständigter« »Verwaltungsappa- leicht in Gefahr, eines Tages alles zu verlieren.
rate«, des »autoritären Wohlfahrtsstaats« und der Schon in den ständig wiederkehrenden und im
»entpolitisierten« Öffentlichkeit längst verschlossen ganzen Werk präsenten Metaphern des kommuni-
(PH, 43). kativen Verflüssigens und des Sprengsatzes, der An-
Eine Strategie politischer Veränderung, die den archie kommunikativer Freiheit und der unbezähm-
affirmativen Reformismus vermeiden und trotzdem baren Öffentlichkeit ist das Moment einer Radikali-
das historisch in demokratischen Institutionen ver- tät wirksam, die nichts, keinen noch so heiligen
körperte Emanzipationspotential nicht verspielen Verfassungsartikel und kein noch so bewährtes in-
will, muss die Radikalität revolutionärer Praxis des- stitutionelles Arrangement gegen die einzige Quelle
halb im institutionellen Rahmen der »Verfassung« der Legitimation, die modernen Gesellschaft geblie-
der »sozialstaatlichen Massendemokratie« und des ben ist, immunisiert: die egalitäre Selbstbestimmung
»liberalen Rechtsstaats« und »unter geltender Ver- eines frei kommunizierenden Publikums. Noch in
fassungsnormen« zur Geltung und zu »Willen und der abgeschwächtesten Form ist dieser Radikalis-
Bewusstsein« bringen (PH, 43). Noch an der »Pose« mus, ohne den jeder Reformismus, jedes »intelli-
der »Revolutionsdarsteller« des Jahres 1968 kann gente Handeln« »bodenlos und ohne Folgen« bliebe,
Habermas deshalb auch nicht nur nachgeahmte Ra- das treibende Motiv nicht nur der intellektuellen
dikalität, sondern die »ernst« zu nehmende Einsicht Praxis, sondern auch der akademischen Theorie:
erkennen, dass »politische Veränderungen […] »Wenn ich mir einen Rest Utopie bewahrt habe,
nichts« »ändern«, »wenn nicht mit den Kategorien dann ist es allein die Vorstellung, daß Demokratie –
des greifbaren Unheils, dem sie wehren sollen, auch und der offene Streit um ihre besten Formen – den
die subtileren Befreiungen, Beglückungen, Befriedi- Gordischen Knoten der schier unlösbaren Probleme
gungen auf dem Spiel stehen«. Ein radikaler Refor- zerhauen kann« (VZ, 128). Das ist eine empirische
mismus bestünde genau darin, »dieses Wissen nicht These, die heute kaum noch jemand ernsthaft ver-
preiszugeben und dennoch politisch zu handeln ver- tritt und die nicht nur von solchen Leuten in Zweifel
suchen« (PH, 50). gezogen wird, die mit fliegenden Fahnen zu den
Der letzte Satz steht als Maxime hinter fast allen ›neuen Eliten‹ übergelaufen sind. Aber sie scheidet
politischen Stellungnahmen, Interventionen und auch heute noch rechts und links. Rechts, das sind
Äußerungen seines Autors, von der schonungslosen diejenigen, die glauben, dass es eine Lösung der glo-
Kritik am hilflosen Reformismus der Regierung balen Klima- und Umweltprobleme, des ethnischen
Brandt über Terrorismus- und Historikerstreit bis und religiösen Rassismus, des non-gouvernementa-
364 IV. Begriffe

len und des gouvernementalen Terrorismus, des –: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende
Weltfriedens und der Drogenkriminalität, des neuen Politik«. In: Peter Niesen/Benjamin Herborth (Hg.):
Anarchie der kommunikativen Freiheit. Frankfurt a. M.
Sklavenhandels und der gegenwärtigen und kom-
2007.
menden Weltwirtschaftskrisen nur geben kann jen- Marks, Susan: The Riddle of all Constitutions. Oxford 2000.
seits der institutionellen Kombination aus inklusiver Müller, Friedrich: Wer ist das Volk? Eine Grundfrage der De-
Diskussion (deliberation; s. Kap. IV.1) und egalitärer mokratie, Elemente einer Verfassungstheorie VI. Berlin
Dezision und für die (auf Nationalstaat und Parla- 1997.
mentarismus beschränkte) low-intense deomcracy Hauke Brunkhorst
(Marks 2000) bestenfalls so lange gut ist, wie sie es zu
besseren und effektiveren Lösungen (und ›besseren‹
Eliten) in einem von philosophischen Experten fest-
gestellten Allgemeininteresse bringt. Links sind die 27. Rationale Rekonstruktion
andern, die mit Dewey, Rorty und Habermas glau-
ben, dass gegen die Krankheiten der Demokratie nur
more democracy (Dewey) hilft und auch die genann- Die Methode der rationalen Rekonstruktion, zu der
ten, »schier unlösbaren Probleme« sich am Ende, Habermas erst über zwei werkgeschichtliche Vorstu-
wenn überhaupt, nur durch eine globale und globa- fen, nämlich die Ideologiekritik und die Erkenntnis-
lisierte Demokratie werden lösen lassen; eine Demo- anthropologie gelangt (1), soll drei Aufgaben erfül-
kratie, die sich nicht a priori auf nationale und parla- len. Erstens und vor allem antwortet sie auf die Not-
mentarische Bahnen einschränken lässt und deshalb wendigkeit, die normativen Maßstäbe einer
imstande wäre, jede sich bildende Hegemonie von kritischen Theorie der Gesellschaft zu begründen
Experten und Philosophen, von Kapital und Berufs- (2). Zweitens soll sie die gesellschaftliche Entwick-
politik, von sozialer und administrativer Hegemoni- lung von der Vormoderne zur Moderne als Fort-
almacht zwar kaum je ohne Kampf und Niederlagen, schrittsprozess ausweisen und zumindest partiell
aber doch jederzeit und überall und immer wieder auch erklären (3). Schließlich sollen gegenwärtige
aufzulösen, oder doch mit Auflösung effektiv zu be- Widerstandspotentiale diagnostiziert werden (4).
drohen und ihre Zentren öffentlich zu »belagern« Obgleich dieses Projekt niemals vollständig verwirk-
(FG). licht wurde, enthält die Methode der rationalen Re-
Der Ort des radikalen Reformismus in der Theo- konstruktion aufgrund ihrer Verbindung von Philo-
rie und die Klammer zwischen Theorie und Praxis sophie und Einzelwissenschaften auch weiterhin er-
ist – vergleichsweise orthodox marxistisch – die hebliches Anregungspotential (5).
Krise des Systems. Die Krise, die nur, so die These, 1. Noch im Strukturwandel der Öffentlichkeit ge-
durch einen radikalen Reformismus überwunden winnt Habermas das Ideal der Herrschaftsfreiheit
werden kann, hat viele Erscheinungsformen. Sie er- ideologiekritisch aus dem Selbstverständnis der bür-
scheint in Krisen der demokratischen Legitimation gerlichen Gesellschaft. Bald schon sieht er jedoch
und des globalisierten Kapitals, in Pathologien der ein, dass dieser immanente Maßstab der Kritischen
verödeten Lebenswelt und der entpolitisierten Öf- Theorie entgleiten muss, wenn sich eine offen re-
fentlichkeit. Solche Krisen werden durch unkontrol- pressive Gesellschaft auch des letzten Schleiers der
lierte Funktionsimperative und legitimationsferne Legitimität selbstbewusst entledigt. Habermas zu-
Herrschaftsverhältnisse, kurz: durch die Repression folge hatte etwa das NS-Regime »die bürgerlichen
und Destruktion demokratischer Selbstbestimmung Ideale eingezogen«, das Bewusstsein war »zynisch«
systemnotwendig erzeugt. Das ist die zentrale empi- geworden (Habermas 1990, 34).
rische These der Theorie, die letztlich nur durch die Daher will Habermas in den 1960er Jahren zei-
erfolgreiche oder scheiternde Praxis eines »demo- gen, dass die normativen Maßstäbe seiner Theorie
kratischen Experimentalismus« überprüft werden sehr viel grundlegender in der menschlichen Le-
kann. bensform verankert sind. In Erkenntnis und Interesse
entwickelt er in Auseinandersetzung mit dem Positi-
Literatur vismus die Vorstellung, die instrumentelle Vernunft
sei lediglich die Reflexionsform eines von drei an-
Benjamin, Walter: Ausgewählte Schriften. Bd. 2. Frankfurt
a. M. 1966. thropologisch tiefsitzenden Erkenntnisinteressen,
Habermas, Jürgen: Protestbewegung und Hochschulreform. nämlich des technischen. Diesem stellt er das prakti-
Frankfurt a. M. 1969. sche sowie das emanzipatorische Erkenntnisinteresse
27. Rationale Rekonstruktion 365

gleichberechtigt zur Seite. Diese drei Erkenntnisin- Regeln des Sprachgebrauchs untersucht. Mit einer
teressen sollen sich aus den funktionalen Erforder- Sprechhandlung reden wir ja nicht nur über Sach-
nissen menschlichen Zusammenlebens ergeben. Ge- verhalte, sondern wir tun auch etwas: Wir erheben
sellschaften sind nicht nur darauf angewiesen, ihre Geltungsansprüche und versprechen damit implizit,
Umwelt effektiv zu bearbeiten, um sich materiell zu die Aussage gegenüber den Einwänden des Gegen-
reproduzieren, sondern bedürfen auch gelingender über rechtfertigen zu können und auch zu wollen.
Formen symbolischer Reproduktion, vor allem der Dieses implizite Versprechen erzeugt den Bindungs-
Weitergabe von und der Einsozialisierung in Traditi- effekt des kommunikativen Handelns. Demnach
onen. Schließlich müssen die eigenen inneren An- wissen wir eigentlich immer schon, dass wir uns bei
triebe geformt werden, weil diese nicht nur die moti- einer Problematisierung unserer Aussagen auf einen
vationale Energie für die instrumentelle Bearbeitung Diskurs einlassen müssen, in dem weder Zwang an-
der Natur liefern, sondern auch mit den herrschen- gewandt noch jemand ausgeschlossen werden darf.
den Normen vereinbar sein müssen. Der menschli- Durch diese Analyse des Erhebens von Geltungsan-
chen Lebensform soll nun das Interesse eingeschrie- sprüchen gewinnt Habermas im Rahmen seiner Dis-
ben sein, diese Herrschaft nicht über das notwendige kurstheorie das Ideal der Herrschaftsfreiheit als nor-
Maß hinauswachsen, also irrational werden zu las- mativer Grundlage einer kritischen Theorie der Ge-
sen. Dieses emanzipatorische Erkenntnisinteresse sellschaft.
reflektiert in den kritischen Wissenschaften auf sich 3. Die rationale Rekonstruktion anonymer Regel-
selbst. Hier soll die Selbstreflexion zur Einsicht in systeme soll für alle konkreten Kontexte gleicherma-
und Befreiung von unverstandenen Zwängen füh- ßen gelten. Deswegen kann sie zudem als Grundlage
ren, und zwar in der Psychoanalyse für das einzelne einer Theorie der Entwicklungslogik moralischen
Individuum sowie in der kritischen Theorie für die und politischen Fortschritts dienen. Dabei muss die-
Gesellschaft. ser anspruchsvolle Begriff der Rekonstruktion ein-
2. Habermas reagiert auf die Kritiken an diesem deutig unterschieden werden von jenem viel triviale-
Werk mit dem Eingeständnis, die Idee einer Selbst- ren Verständnis, in dem Habermas in seiner Rekon-
reflexion der Gesellschaft oder gar der Gattung, also struktion des Historischen Materialismus eine
von Großsubjekten, vernachlässige, dass stets die ge- vorliegende Theorie »auseinandernimmt und in
lingende Verständigung zwischen Subjekten im Zen- neuer Form wieder zusammensetzt, um das Ziel, das
trum stehen muss. Deshalb differenziert Habermas sie sich gesetzt hat, besser zu erreichen« (RHM, 9).
in der Folge genauer zwischen der rationalen Nach- Zugleich basiert diese Rekonstruktion im schwäche-
oder Rekonstruktion universaler (kommunikativer) ren Sinne auf der anspruchsvolleren Konzeption.
Kompetenzen einerseits und der Selbstreflexion im Demnach sollen sich im Zuge der Veränderung von
Sinne einer Kritik an historisch überflüssigen Herr- »Weltbildern, Moralvorstellungen und Identitätsfor-
schaftsverhältnissen andererseits (WR, 187, 214). mationen« (ebd., 12) historisch immer stärker die
Während die rationale Rekonstruktion implizite Vo- drei Vernunftdimensionen der Wahrheit, Richtigkeit
raussetzungen der Verständigung, also deren Tiefen- und Wahrhaftigkeit ausdifferenzieren. Damit aber
struktur, artikulieren soll, kommt der Kritik nun- tritt nach Habermas auch jene Idee immer deutli-
mehr die nachgeordnete Aufgabe zu, vor der Folie cher zutage, die er in seiner Universalpragmatik zu
dieser Rekonstruktion die Defizite realer Verständi- fassen versucht: dass alle menschlichen Regelungen
gungsprozesse in konkreten Situationen offenzule- auf dem fragilen Konsens der Betroffenen basieren.
gen. In Bezug auf moralische Lernprozesse rekurriert Ha-
Die rationale Rekonstruktion soll das universell bermas insbesondere auf Lawrence Kohlbergs Theo-
verfügbare, aber unreflektiert verwendete Regelwis- rie der moralischen Entwicklung, dessen ontogene-
sen, unser know how, in ein explizites know that tisches Stufenschema er auf die Phylogenese der
transformieren. Dabei orientiert sich Habermas me- menschlichen Gattung überträgt. Der Übergang von
thodisch vor allem an der Universalgrammatik von vormodernen zu modernen Gesellschaften weist
Noam Chomsky, die generative Regeln zum Gegen- demzufolge Strukturähnlichkeiten zu einem Jugend-
stand hat, und Jean Piagets strukturalistischer Ent- lichen auf, der in der Adoleszenz beginnt, die über-
wicklungstheorie, die kognitive Schemata unter- kommenen Traditionen kritisch zu hinterfragen
sucht. Allerdings zielt er im Anschluss an John L. (MKH, 137). Mit Max Weber spricht Habermas hier
Austins und John R. Searles Sprechakttheorie auf ebenso von einer ›Entzauberung‹ traditioneller Welt-
eine Universalpragmatik, welche die allgemeinen bilder wie mit Emile Durkheim von einer »Ver-
366 IV. Begriffe

sprachlichung des Sakralen« (TKH II, 69 ff.). In ex- sondern dem Kapitalismus zudem die motivationa-
pliziter Abgrenzung von der orthodoxmarxistischen len Zufuhren abschneiden. Die rationale Rekon-
Tradition geht Habermas also davon aus, dass sich struktion universaler Kompetenzen soll somit auch
die entscheidenden Lernprozesse keineswegs nur im die Potentiale gegenwärtigen Widerstands prognos-
Bereich der instrumentellen, sondern auch in jenem tisch erhellen können. So sieht Habermas das post-
der praktischen Vernunft abspielen. konventionelle Bewusstsein nicht nur in der Studen-
Anders als diese Logik der Rationalisierung speist tenrevolte, sondern auch in den neuen sozialen Be-
sich die Dynamik des gesellschaftlichen Fortschritts wegungen der 1980er Jahre am Werke.
aus einer Dialektik der beiden menschlichen Grund- 5. Sicherlich hat Habermas dieses ambitionierte
tätigkeiten von Arbeit (materielle Reproduktion) Theorieprogramm nur umrissen. Die auch von ihm
und Interaktion (symbolische Reproduktion): Erst geforderte empirische Überprüfung und Konkreti-
ungelöste Systemkrisen im Bereich der materiellen sierung durch die Einzelwissenschaften ist niemals
Reproduktion sollen zu der Einsicht führen, dass für durchgeführt worden. Zugleich wurde der behaup-
die weitere Steigerung der Produktivkräfte eine neue teten Logik der moralischen Entwicklung ihre Uni-
Form der Arbeitsorganisation notwendig ist. Hierzu versalität empirisch abgesprochen. Dies hat wiede-
muss man jedoch auf Neuerungen in der normati- rum den Vorwurf provoziert, die normative Kritik
ven Sphäre der symbolischen Reproduktion zurück- werde hier in falscher Weise abhängig von empiri-
greifen können. Zwei Bedingungen müssen Haber- schen Befunden, was ihr Fundament nicht stärke,
mas zufolge also für einen evolutionären Schritt er- sondern schwäche. Dem ist jedoch entgegenzuhal-
füllt sein: erstens »ungelöste Systemprobleme, die ten, dass die Behauptung unhintergehbarer Erwar-
Herausforderungen darstellen«, und zweitens »neue tungen erstens empirisch fallibel bleibt und zweitens
Lernniveaus, die auf der Ebene der Weltbilder schon die normative Begründung gar nicht ersetzen soll.
erreicht sind und latent bereitstehen, die aber den Vielmehr sollen Philosophie und Sozialtheorie
Handlungssystemen noch nicht einverleibt sind« fruchtbar miteinander verbunden werden. Mit solch
(RHM, 36). Der Übergang von der Stammesgemein- einer rekonstruktiven Gesellschaftskritik, die auch
schaft zur staatlich organisierten Gesellschaft in den Axel Honneth innerhalb seiner Anerkennungstheo-
archaischen Hochkulturen markiert demnach rie in veränderter Form fortgeführt hat, beerbt Ha-
ebenso die Ablösung eines Organisationsprinzips bermas die linkshegelianische Vorstellung, die prak-
durch ein anderes wie die Entkopplung der Ökono- tische Vernunft erschöpfe sich nicht in einem bloßen
mie und des Verwaltungsstaates von der Lebenswelt Sollen, sondern sei innerhalb der sozialen Wirklich-
beim Übergang von der Vormoderne zum moder- keit bereits wirksam (Iser 2008).
nen Staat.
4. Obgleich diese Analyse retrospektiv und theo- Literatur
retisch verfährt, soll sie auch einem prognostisch-
Habermas, Jürgen: »Vorwort zur Neuauflage 1990«. In:
praktischen Ziel dienen (McCarthy 1989, 302 f.).
Ders.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen
Systemkrisen werden von Habermas nämlich nicht zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Frank-
primär als innersystemische, rein ökonomische Kri- furt a. M. 1990, 11–50.
sen beschrieben. Vielmehr unterliegt ein jedes Sys- Iser, Mattias: Empörung und Fortschritt. Grundlagen einer
tem deswegen »innere[n] Beschränkungen« (TKH II, kritischen Theorie der Gesellschaft. Frankfurt a. M./New
227, Hervorh. i.O.), weil es auf die Dispositionen der York 2008.
McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse.
Subjekte, also motivationale Zufuhren aus der Le- Zur Theorie von Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 1989
benswelt angewiesen ist. Die Art der benötigten Mo- (engl. 1978).
tivationen variiert wiederum historisch mit dem je- Mattias Iser
weiligen Entwicklungsstand der Vernunft. Insofern
kann man Habermas zufolge auch dann von einer
Systemkrise sprechen, wenn die subjektiven Motiva-
tionen zu einer herrschenden Stufe der Produktions-
verhältnisse nicht mehr passen, sie aufgrund der
invarianten Entwicklungslogik aber nicht einfach
erzeugt werden können. Die moderne, postkonven-
tionelle Form der symbolischen Reproduktion soll
nicht nur einen (moralischen) Fortschritt darstellen,
367

28. Rationalität und zustande, der soziale Kommunikationen von diskur-


Rationalisierung siven Begründungsleistungen abhängig macht. Eine
Äußerung verstehen bedeutet für Habermas deshalb,
die Gründe kennen, die sie wahr machen oder ein-
Niklas Luhmann bemerkt in seiner frühen Studie fach: wissen, was sie wahr macht (s. Kap. III.5). Der
zur Soziologie der Grundrechte einleitend, es gelte Bezug auf das »Geben und Nehmen von Gründen«
die alteuropäische Vernunft des Vernehmens durch (Brandom) im kommunikativen Streit ist für die
eine Vernunft des Vergleichs zu ersetzen (Luhmann Theorie der kommunikativen Rationalität wesent-
1965, 8). Er folgt damit der Spur eines von ihm im- lich. Hier liegt auch der Unterschied zu Luhmann,
mer wieder zitierten Buchtitels Cassirers, der mit mit dem Habermas die kommunikative Wende der
dem Buch von 1910, Substanzbegriff und Funktions- Soziologie teilt, und hier liegt auch der Unterschied
begriff, genau diesen Übergang von der vernehmba- zu Foucault, mit dem er die (auf der vorhergehenden
ren Substanz zur vergleichbaren Funktion (funktio- aufsitzende) diskursive Wende der Geschichts- und
nale Äquivalenz) bezeichnet hatte (Cassirer 1910). Gesellschaftstheorie teilt. Nur durch den Bezug je-
Obwohl Habermas sich meines Wissens nie auf die des Sprechakts auf universelle (unvermeidliche)
zitierte Stelle von Grundrechte als Institution direkt Wahrheitsansprüche ist es den Akteuren als Han-
bezogen hat, könnte seine Antwort nur lauten: Rich- delnden möglich, nicht nur willkürlich (Luhmann)
tig, aber die Vernunft des Vernehmens muss nicht und machtvoll (Foucault), sondern autonom zu han-
nur durch die beobachtende Vernunft des Vergleichs, deln und im ununterbrechbaren Fortgang des Han-
sondern überdies und zuerst durch die partizipie- delns wahr und falsch, zwanglose Zwänge der Argu-
rende Vernunft der Verständigung abgelöst werden. mentation von den kausalen Folgen kommunikati-
So wie Luhmanns These missverstanden wäre, ver Operationen und diskursives Wissen von
verstünde man sie rein technokratisch als Erschlie- Diskurs-Macht zu unterscheiden – und zwar inmit-
ßung der via moderna durch die intelligente Kombi- ten von alles durchdringender Evolution: von Kausa-
nation von Beobachtung und Außensteuerung, so lität, Funktion und Macht. Weil sie genau diese Mög-
wäre die Habermas hier unterstellte Vernunft der lichkeit der kommunikativen Autonomie (nicht: der
Verständigung missverstanden, verstünde man sie Subjektivität) bestreiten, müssen sich Luhmann und
als Hermeneutik wahrheitsentlasteter Gesprächskul- Foucault mit der Vernunft des Vergleichs begnügen
turen. Luhmann und Habermas haben nämlich und die Vernunft, die sich selbst zur Vernunft brin-
beide die kommunikative Wende der Gesellschafts- gen könnte, entschwindet im Reich der alteuropäi-
theorie gleichzeitig, wenn auch auf sehr verschiede- schen »Illusion« (Freud). Was Habermas jedoch mit
nen Wegen vollzogen (Brunkhorst 2006). Während beiden verbindet, ist Hegels berühmter Aphorismus:
jedoch für Luhmann die Autokatalyse der sozialen »Die Vernunft ohne Verstand ist nichts, der Verstand
Evolution durch eine gewaltige »Massierung« (Luh- doch etwas ohne Vernunft. Der Verstand kann nicht
mann 1981, 48) kommunikativer Negationsleistungen geschenkt werden« (Hegel 1970, 551). Man muss
(doppelte Kontingenz) zustande kommt, die sich so- hier nur die reflexiv solitäre »Vernunft« durch die
fort zu komplexen sozialen Systemen verdichten und kommunikative »Vernunft der Verständigung« und
dann nur noch durch sich selbst (einschließlich des »Verstand« durch die reflexiv systemische »Vernunft
soziologischen Beobachters zweiter Ordnung) und des Vergleichs« ersetzen. So wie mit Vergleich und
mit prinzipiell unberechenbaren Folgen beobachtet Verständigung verhält es sich auch mit System und
und beschrieben werden können, sind die Eini- Lebenswelt (s. Kap. IV. 31): Das System kann nicht
gungsversuche der sozialen Akteure konstitutiv für geschenkt werden (Nassehi 2006).
eine evolutionär neue Form kommunikativer Auto- Was der von Habermas in der Diskussion mit
nomie, die den einzelnen Akteur und seine soziale Luhmann vorgeschlagene Buchtitel für die gemein-
Lebenswelt gegen den unvermittelten Durchgriff same Publikation: Sozialtechnologie oder Theorie der
systemischer Imperative immunisiert, weil sie den Gesellschaft? (Habermas/Luhmann 1971) zum Aus-
Akteuren ermöglicht, Negation in Kritik zu verwan- druck bringen sollte, lässt sich jetzt präzisieren. Der
deln und sich die geschichtlichen Folgen ihres kom- Einwand von Habermas, bei Luhmanns Systemtheo-
munikativen Handelns wenigstens kontrafaktisch rie handele es sich um die »Hochform technokrati-
zuzurechnen. Diese zweite Form der sozialen Evolu- schen Bewusstseins« (s. Kap. II.11), müsste dahinge-
tion kommt durch die kontingente Emergenz eines hend präzisiert werden, dass diese »Hochform« in
unverfügbaren Wahrheitsbezugs (Geltungsbezugs) der Beobachtung besteht, dass Technokratie nicht
368 IV. Begriffe

funktioniert und regelmäßig kontraproduktiv ist, zu begreifen, wohl aber als Zerstörung der kommuni-
und wenn man das weiß, kann man sich zur »Vor- kativen Rationalität der sozialen Lebenswelt, die sich
handenheit« (Heidegger) der Dinge dadurch auch dann in Krisen und Pathologien (= chronifizierte
technisch effektiver verhalten, dass man es lässt und und repressiv latent gehaltene Krisen) Ausdruck ver-
auf die höhere Weisheit der Evolution vertraut (oder schafft. Damit hatte er zwei Fliegen mit einer Klappe
auch nicht). Begründete der Verstand das unreflek- geschlagen: Er war den von Adorno bis Derrida, von
tiert technokratische, so die Vernunft des Vergleichs der kritischen Theorie bis zu den postcolonial studies
ein negativ technokratisches Bewusstsein oder einen zu Recht kritisierten Imperialismus der Vernunft
sozialtechnologischen Negativismus. Der riskante losgeworden, ohne dafür den viel zu hohen Preis ei-
Versuch von Habermas, den reflexiv (negativ ver- ner jung-, alt-, oder neukonservativen Kulturkritik
nünftig) gewordenen Verstand noch einmal einer zahlen zu müssen (s. Kap. III. 8).
›vernünftigen‹ Theorie der Gesellschaft und einer
Gesellschaft, die eine vernünftige Identität ausbildet, Literatur
zu integrieren (Habermas 1974), muss jedoch einen Brunkhorst, Hauke: »Contemporary German Social The-
weiteren Preis zahlen und auch noch den alteuro- ory«. In: Gerard Delanty (Hg.): Handbook of Contem-
päischen Begriff der Vernunft, den Luhmann (wie porary European Social Theory. London/New York 2006,
Adorno) noch negativ (in endlosen Spiralen reflexi- 51–68.
ver Iteration) festgehalten hatte, verabschieden und Cassirer, Ernst: Substanz und Funktion. Leipzig 1910
Habermas, Jürgen: »Können komplexe Gesellschaften eine
durch den der kommunikativen Rationalität erset-
vernünftige Identität ausbilden?«. In: Ders./Dieter Hen-
zen. Er umfasst alle Momente von Rationalität, auch rich: Zwei Reden. Frankfurt a. M. 1974.
die rein instrumentellen und lässt damit jede Hierar- –/Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
chisierung von Vernunft und Verstand, die noch in technologie – Was leistet die Systemforschung? Frankfurt
den negativistischen Vernunftbegriffen Luhmanns a. M. 1971.
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich: Werke. Bd. 2. Frankfurt
und Adornos nachhallt, mit der Unterscheidung von
a. M. 1970.
Vernunft und Verstand hinter sich. Erst in der sprö- Luhmann, Niklas: Grundrechte als Institution. Berlin 1965.
den Gestalt kommunikativer Rationalität wäre die –: »Subjektive Rechte. Zum Umbau des Rechtsbewußtseins
Vernunft vollständig demokratisiert (s. Kap. III. 9). für die moderne Gesellschaft«. In: Ders.: Gesellschafts-
Auch in diesem Punkt kann Habermas an eine struktur und Semantik. Bd. 2. Frankfurt a. M. 1981.
Denkbewegung anschließen, die die Soziologie des Nassehi, Armin: Der soziologische Diskurs der Moderne.
Frankfurt a. M. 2006.
20. Jahrhunderts mit der von Weber vorgenomme- Weber, Max: Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie I
nen Ablösung des Begriffs der (geschichtlichen) Ver- [1920]. Tübingen 1978.
nunft durch den der Rationalisierung (Weber 1978) Hauke Brunkhorst
schon selbst vollzogen hatte, freilich erst nachdem
Talcott Parsons Webers Begriff der Rationalisierung
aus dem historistischen Korsett der Gesellschaftsge-
schichte befreit und der Theorie der sozialen Evolu-
tion einverleibt hatte. Habermas hat diesen Schritt in
den Studien Zur Rekonstruktion des historischen Ma- 29. Sozialpathologie
terialismus (RHM) nachvollzogen und in neomarxis-
tische Bahnen gelenkt. Das Hauptgeschäft der Theo-
rie des kommunikativen Handels (TKH) bestand da- Der Begriff der Pathologie stammt aus der antiken
nach nur noch darin, den soziologischen Begriff der Medizin und beschreibt dort die Lehre von den Ar-
Rationalisierung im Licht des philosophisch explizit ten und Ursachen der Krankheiten. Nach Galen gilt
gemachten Begriffs kommunikativer Rationalität zu als pathologisch, was vom »normalen Gang der Na-
rekonstruieren (TKH I) und einer System und Le- tur« abweicht (Seidler 1989, 183). Die Rede von So-
benswelt übergreifenden Theorie der Gesellschaft zu zialpathologien entspringt einer zumeist metaphori-
integrieren. Nur so war es möglich, die als Koloniali- schen Übertragung des medizinischen Begriffs auf
sierung der Lebenswelt (s. Kap. IV.12) neu interpre- soziale Zusammenhänge, die wie Organismen be-
tierten (neo-)marxistischen Begriffe der Entfrem- handelt werden, die krank oder gesund sein können.
dung, Verdinglichung und Kommodifizierung als Stilbildend für die Entwicklung des Pathologiebe-
Zerstörung zwar nicht mehr der alles beherrschen- griffs im Werk von Habermas ist die Freud-Rezep-
den und deshalb herrschaftlichen Vernunft (Lukács) tion in Erkenntnis und Interesse. Das in diesem Kon-
29. Sozialpathologie 369

text entfaltete Pathologiekonzept beruht auf der tungsansprüche brechen. Die Ehefrau etwa, die ih-
Linguistifizierung oder Versprachlichung des Unbe- rem Ehemann ihre Zuneigung gesteht, obgleich sie
wussten (Whitebook 1995), das immer dann für die ihn untergründig längst verabscheut, bricht mit dem
Person unverstandene (neurotische) Symptome frei- Anspruch auf Wahrhaftigkeit (VE, 250). Solche kom-
setzt, wenn sie sich (zumeist in früher Kindheit) auf munikativen Pathologien können auch nur zur Gel-
der Grundlage vorhandener sozialer Repressions- tung kommen, weil die Subjekte mit Hilfe der schein-
mechanismen nicht in der Lage sieht, Bedürfnisse bar ungestört fortlaufenden Kommunikation über
und Wünsche öffentlich zu kommunizieren und ein Mittel verfügen, das es ihnen erlaubt, vorhan-
stattdessen die diese Bedürfnisse und Wünsche sym- dene Konflikte (Wünsche, Aggressionen etc.) vor an-
bolisierenden Sprachelemente verdrängt und »priva- deren zu verbergen. In diesem Sinne ist die normale
tisiert«. Diese verdrängten Impulse machen sich Kommunikation mit ihren Geltungsansprüchen Vo-
fortan in Form von verhaltensauffälligen Sympto- raussetzung für das Zustandekommen pathologi-
men bemerkbar, die dem Subjekt in ihrer (sprachli- scher Verhaltensweisen und Kommunikationsfor-
chen) Bedeutung unverständlich bleiben und damit men. »Systematisch« werden solche Kommunikati-
das bedingen, was als eine »Kommunikationsstö- onspathologien in Kontexten (Habermas denkt vor
rung« des Subjekts mit sich selbst erfasst wird (EI, allem an Familien), in denen der Preis, einen ver-
279). Eine solche nach innen gerichtete kommuni- meintlichen Konsens zu brechen, als besonders hoch
kative Entfremdung verhindert nicht, dass das be- erachtet wird und in denen »metakommunikative«
troffene Subjekt ungestört mit anderen kommuni- Verständigungsmuster fehlen (»Symptomfamilien«),
zieren kann, so dass der »Schein der Intersubjektivi- die dabei helfen könnten, vorhandene Differenzen
tät zwanglosen kommunikativen Handelns« nicht kommunikativ zu bearbeiten (VE, 261).
berührt wird (ebd.). Über die Normalität der Kom- In der Theorie des kommunikativen Handelns
munikation mit anderen täuscht sich das Subjekt da- schließlich erhält der Pathologiebegriff eine gesell-
rüber hinweg, wie eigentümlich die in seinen Symp- schaftstheoretische Wendung und wird entlang der
tomen (Versprecher, Formen des Vergessens, Ver- verschiedenen Strukturmomente des Lebensweltbe-
schreibens, Verlesens oder Vergreifens etc.) zum griffs aufgefächert. Wo Habermas es als Aufgabe der
Ausdruck kommenden Intentionen sind (EI, 268). Lebenswelt betrachtet, Verständigungsressourcen
Nur im Austausch mit einem Therapeuten können zur Verfügung zu stellen, die dazu dienen, kulturel-
diese Symptome überhaupt entschlüsselt werden. les Wissen zu tradieren und zu erneuern (Kultur),
Damit sind alle Elemente des für Habermas rele- legitime (institutionalisierte) Handlungskoordinie-
vanten Pathologiebegriffs versammelt: Pathologien rungen zu ermöglichen, die der Herstellung sozialer
werden als interne Kommunikationsstörungen bei Integration dienen (Gesellschaft) und Sozialisations-
fortlaufender äußerer Kommunikation gefasst, die leistungen zu übernehmen, die stabile personale
dem Subjekt in ihrer Bedeutung zumeist undurch- Identitäten schaffen (Persönlichkeit), da gibt es für
sichtig bleiben und deren Quelle die Verinnerli- jede dieser lebensweltlichen Ressourcen und Leis-
chung äußeren Drucks ist. Damit derartige Patholo- tungen eine entsprechende Pathologie, die genau
gien konstatiert und bearbeitet werden können, be- dann entsteht, wenn die Subjekte ihr überliefertes
darf es eines Therapeuten, der dem Subjekt auf der Wissen nicht länger in orientierender Absicht nut-
Basis der vorhandenen Symptome dabei hilft, die in- zen (Sinnverlust), wenn sie ihr Handeln nicht länger
ternen Kommunikationsblockaden zu durchbre- unter Bezug auf gemeinsam akzeptierte Normen ko-
chen. ordinieren (Anomie) oder wenn sie einander nicht
In Überlegungen zur Kommunikationspathologie länger als zurechnungsfähige Individuen begegnen
von 1974 (in: VE, 226–270) werden diese Überlegun- können (Psychopathologie) (TKH II, 212 f.). Der Pa-
gen fortgeführt und auf die von Habermas mittler- thologiebegriff gewinnt auf diese Weise einen funk-
weile ausgearbeitete Theorie kommunikativer Gel- tionalistischen und formalen Einschlag und verliert
tungsansprüche bezogen. Die mit sprachlichen Äu- in der Dimension individueller Psychologie deutlich
ßerungen verbundenen Geltungsansprüche der an Schärfe.
Verständlichkeit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit Pathologien werden nun gemessen an der funkti-
sind dann auf pathologische Weise »systematisch« onal beschreibbaren Reproduktion oder Selbsterhal-
verzerrt, wenn die miteinander sprechenden Sub- tung der Lebenswelt in ihren verschiedenen Facet-
jekte auf für sie selbst unbemerkte Weise die mit ih- ten. Dennoch thematisiert sie Habermas auch in
ren sprachlichen Äußerungen verbundenen Gel- diesem Kontext als Ergebnis eines nach innen umge-
370 IV. Begriffe

lenkten äußeren Problemdrucks. Während nämlich meidenden sozialstaatlichen Kompensationsleistun-


Funktionsstörungen der Gesellschaft als »Krisen« gen ohne Bewusstsein des damit einhergehenden
bezeichnet werden, die sich etwa darin ausdrücken, Verlustes an kommunikativer Freiheit akzeptieren.
dass die Bürger den wohlfahrtsstaatlichen Versor- Dadurch aber droht der Pathologiebegriff den sub-
gungsapparaten oder den ökonomischen Institutio- jektiven Index zu verlieren, der auf vermittelte Weise
nen Legitimität absprechen, weil sie die ihnen zuge- wohl auch noch im Begriff des sich subjektiv auf-
schriebenen Leistungen (Entschärfung des Klassen- drängenden Symptoms gegenwärtig ist. Entspre-
konflikts, Sicherung allgemeinen Wohlstands) nicht chend blass bleibt etwa der Entfremdungsbegriff der
angemessen erfüllen, zeitigt der erfolgreiche Versuch Theorie des kommunikativen Handelns. Als fragwür-
der Verlagerung dieser Krise in die (kulturelle und dig stellt sich auch die Annahme heraus, wonach die
persönlichkeitsbildende) Lebenswelt hinein patho- die Gesellschaft betreffenden Systemkrisen in der
logische Konsequenzen, nämlich Entfremdung und Regel einer Logik der Güterverteilung folgen, so dass
Verunsicherung kollektiver Identitäten. Anomische drohende Ungleichgewichte (durch Legitimations-
Krisen werden so um den Preis lebensweltlicher Pa- und Motivationsentzug) allein mit Hilfe von Geld-
thologien entschärft oder vermieden, die sich damit ressourcen kompensatorisch vermieden werden
ihrerseits als Ergebnis problemverschiebender Kri- können. Was ist, wenn die Ansprüche der Bürger an
senbewältigung deuten lassen (TKH II, 566). So geht die politischen Institutionen auch die stärker imma-
Habermas davon aus, dass sozialstaatlich gewährte terielle Dimension der »Verteilung kultureller und
Rechtsansprüche auf finanzielle Transferleistungen psychischer Lebenschancen« umfassen (Honneth
in bestimmten Versicherungsfällen (Alter, Krank- 2000, 126)? Aus einer solchen Erweiterung der sozi-
heit) einerseits zwar die Stellung des Arbeitnehmers alen Konfliktlogik könnte sich die Möglichkeit erge-
stärken und somit als Freiheitsgewinn verbucht wer- ben, sozial verursachte Pathologien zu identifizie-
den können, andererseits aber einen individualisie- ren, die über die Störung des Kommunikationsver-
renden Effekt haben, durch den traditionelle subsi- mögens hinausgehen (Honneth 1994), so dass der
diäre Solidargemeinschaften aufgelöst werden und Pathologiebegriff wieder eine in psychologischen
der Zugriff staatlicher Bürokratien auf vormals in- Termini beschreibbare subjektiv und therapeutisch
formell strukturierte Lebensbereiche unmittelbarer erfahrbare Seite bekommt. Darüber hinaus muss ge-
wird (TKH II, 532). Hinzu kommt, dass die Verlage- fragt werden, ob es ausreicht, die politische und öko-
rung von gesellschaftlichen Systemkrisen in die Le- nomische Kolonialisierung der Lebenswelt einzig als
benswelt hinein genau dann pathologische Konse- »Raubbau« (TKH II, 566) an den lebensweltlichen
quenzen zeitigt, wenn sie an die Stelle kommunikati- Ressourcen zu fassen. Andere Gesellschaftstheorien
ver Koordinations- und Legitimationsmechanismen etwa gehen davon aus, dass der Kapitalismus die kul-
mediengesteuerte Interaktionsformen setzt (Macht, turellen Ressourcen der Lebenswelt nicht bloß zer-
Geld), durch die Prozesse kommunikativer Konsens- stört, sondern braucht, um sich selbst ethisch zu
suche erübrigt werden. Insofern behält der Patholo- rechtfertigen (Boltanski/Chiapello 2003). Das Aus-
giebegriff an diesem Punkt den Aspekt der von au- bleiben manifester sozialer Anomie erklärt sich dann
ßen induzierten Kommunikationsstörung. Anderer- nicht durch die erfolgreiche Verlagerung des sozia-
seits verliert er offensichtlich das Element des len Konflikts in Kultur und Persönlichkeit hinein,
»Scheins« der fortlaufenden Kommunikation, der in sondern durch die motivationale Attraktivität der
den frühen Fassungen für das Zustandekommen pa- kapitalistischen Handlungslogik selbst. Die aus die-
thologischer Effekte wesentlich war. Nicht der Ab- ser Konstellation entstehenden widersprüchlichen
bruch oder die Entstellung der Kommunikation und paradoxen Effekte lassen sich nicht mehr ange-
selbst gelten nun als pathologisch, sondern eher die messen im Rahmen der Trennung von Lebenswelt
Folgen dieses Abbruchs. und System erfassen (Hartmann/Honneth 2004).
Etwas undeutlich bleibt entsprechend, durch wel- Die Kategorie der Pathologie lässt sich in diesem Zu-
che Mechanismen die Subjekte daran gehindert wer- sammenhang verwenden, wenn sich ein empirisch
den, die sie betreffenden Pathologien – und sei es verifizierbarer Leidensdruck mit dem systematisch
mit Hilfe des therapeutischen Blicks – an sich zu produzierten Unvermögen paart, die Quellen dieses
konstatieren. Der Freiheitsentzug und der Formali- Leidens als solche zu benennen.
sierungsschub, den die Kolonialisierung der Lebens-
welt mit sich bringen, können offenbar nur dann
unbemerkt bleiben, wenn die Subjekte die krisenver-
30. Spätkapitalismus 371

Literatur technische Dimension sozialer Entwicklung beziehe.


Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalis- Zur Schärfung des Begriffs ›Spätkapitalismus‹ trägt
mus [1999]. Konstanz 2003 (frz. 1999). dieser Vortrag weniger bei, Hinweise liefern allein
Hartmann, Martin/Honneth, Axel: »Paradoxien des Kapi- die Kontrastierung zum »liberalen Kapitalismus«
talismus«. In: Berliner Debatte Initial 15. Jg., 1 (2004), und die These, dass der Staatsinterventionismus
4–17. nicht als systemfremdes Element des Kapitalismus,
Honneth, Axel: »Pathologien des Sozialen. Tradition und
Aktualität der Sozialphilosophie«. In: Ders.: Pathologien sondern als dessen »Konstituens« zu werten sei – das
des Sozialen. Die Aufgaben der Sozialphilosophie. Frank- Telos des Kapitalismus (bzw. seines Zusammen-
furt a. M. 1994, 9–69. bruchs) bestehe im Übergang »zu Herrschaft unab-
–: »Moralbewußtsein und Klassenherrschaft. Einige hängig vom Marktmechanismus« (Adorno 1979,
Schwierigkeiten in der Analyse normativer Handlungs- 368).
potentiale« [1981]. In: Ders.: Das Andere der Gerechtig-
keit. Aufsätze zur praktischen Philosophie. Frankfurt a. M.
Seit 1968 findet sich der Begriff ›Spätkapitalis-
2000, 110–129. mus‹ häufiger in Habermas’ Schriften. In der Ausei-
Seidler, Eduard: »Pathologie«. In: Joachim Ritter et al. nandersetzung mit Herbert Marcuse – dieser hatte
(Hg.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 7. in Der eindimensionale Mensch als Bezeichnung für
Darmstadt 1989, 182–185. die Gegenwartsgesellschaften meist den Ausdruck
Whitebook, Joel: Perversion and Utopia. A Study in Psycho-
»fortgeschrittene Industriegesellschaften« benutzt
analysis and Critical Theory. Cambridge/London 1995.
Martin Hartmann (Marcuse 1967) – spricht Habermas vom »System
des Spätkapitalismus« (TW, 84; vgl. 1968, 12) und
hält 1968 einen Vortrag über die »Bedingungen für
eine Revolutionierung spätkapitalistischer Gesell-
schaften« (KK, 70–86). Auch im Vorwort zur Neu-
30. Spätkapitalismus ausgabe von Theorie und Praxis (TP, 7) wird der Be-
griff selbstverständlich und ohne nähere Explikation
verwendet.
Zentrale Bedeutung erhält der Begriff ›Spätkapitalis- Den Terminus ›Spätkapitalismus‹ prägte Werner
mus‹ im Werk von Jürgen Habermas durch die 1973 Sombart in seinem Werk Der moderne Kapitalismus.
erschienenen Legitimationsprobleme im Spätkapita- In der völlig neu geschriebenen zweiten Auflage
lismus. In dieser skizzenhaften Entfaltung einer um- (1916–1927, 1. Aufl. 1902) entwickelte Sombart die
fassenden Gesellschaftstheorie findet sich zwar eine Phaseneinteilung des Kapitalismus in Früh-, Hoch-
Beschreibung der besonderen Merkmale dieser und Spätkapitalismus, wobei der Begriff ›Spätkapi-
Phase des Kapitalismus, doch verwendet Habermas talismus‹ die Konnotation von Niedergang (des
den Begriff ›Spätkapitalismus‹ immer mit einer ge- kapitalistischen Geistes) aufwies. ›Frühkapitalismus‹
wissen Zurückhaltung. Habermas spricht oft lieber – ein Terminus, den Habermas ebenso wie ›Hochka-
vom »staatlich geregelten« oder »organisierten Kapi- pitalismus‹ gerade im Strukturwandel der Öffentlich-
talismus«. Selbst dort, wo in der Überschrift ein keit verwendet – bezeichnete dabei die Entwicklung
»Deskriptives Modell des Spätkapitalismus« ver- privatwirtschaftlicher Unternehmen und marktmä-
sprochen wird, beziehen sich die Erläuterungen vor- ßiger Ordnungen vom 14. Jahrhundert bis zur In-
rangig auf den »organisierten Kapitalismus« (LS, dustriellen Revolution (ca. 1760), Hochkapitalismus
50). die Entfaltung und endgültige Durchsetzung kapita-
Die Verwendung des Begriffs ›Spätkapitalismus‹ listischer Produktion im 19. Jahrhundert. ›Spätkapi-
bei Habermas steht im Kontext des 16. Soziologen- talismus‹ stand dagegen für den Aufstieg der Sozial-
tags 1968 in Frankfurt, der mit Bezug auf den 150. politik und öffentlicher Unternehmen sowie für die
Geburtstag von Karl Marx und unter dem Einfluss Veränderung der zyklischen Bewegungen des Kapi-
von Theodor W. Adorno unter dem Titel »Spätkapi- tals durch wachsende staatliche Intervention nach
talismus oder Industriegesellschaft?« stand. Adorno 1914 (vgl. Pribram 1998, 432–434, 700–709). Abge-
plädiert in seinem Einleitungsvortrag für die Ver- sehen von vereinzelten Wiederaufnahmen, so bei
wendung marxistischer Theorieelemente: Ange- der polnischen Ökonomin Natalie Moszkowska
sichts der Vorherrschaft der kapitalistischen Pro- (1943), fand der Begriff selbst bei Ökonomen, die
duktionsverhältnisse über die Produktivkräfte könne den Niedergang oder gar das Ende des Kapitalismus
man nicht einen Begriff wie ›Industriegesellschaft‹ erwarteten, so z. B. Joseph A. Schumpeter, keine Ver-
zur Kernkategorie erheben, der sich allein auf die wendung. Weitaus prominenter wurde Rudolf Hil-
372 IV. Begriffe

ferdings Begrifflichkeit aus dem Jahre 1910. Er ana- als Sicherungsinstanz der rechtlichen Voraussetzun-
lysierte die Konzentrationsprozesse und die Domi- gen des Marktverkehrs benötigt. Der Staat ist gerade
nanz des Finanzkapitals als Ablösung des nicht institutioneller Kern dieser Gesellschaftsfor-
»Konkurrenzkapitalismus« durch den »Monopolka- mation, sondern bloße Komplementäreinrichtung
pitalismus« (Hilferding 1968). eines selbstregulativen Marktverkehrs. Der Spätka-
Nach dem Soziologentag 1968, der den Begriff ins pitalismus dagegen ist politisch geformt, die Produk-
Zentrum der politischen und theoretischen Ausei- tionsverhältnisse sind repolitisiert, die destruktiven
nandersetzungen stellt, gibt vor allem Claus Offes Kräfte des Marktes staatlich gebändigt, die ökono-
Versuch, einen prononcierten Begriff des Spätkapi- mischen Klassenkonflikte sozialstaatlich eingehegt
talismus zu entfalten (»Spätkapitalismus – Versuch (LS, 41–60). Der Spätkapitalismus ist ein politischer
einer Begriffsbestimmung«, in: Offe 1972, 7–25), der Kapitalismus, in ihm sind Staat und Markt eine der-
weiteren Diskussion Auftrieb. Das selbstadaptive Po- art enge Verbindung eingegangen, dass beide nicht
tential des Kapitalismus sei »kategorial erschöpft«, ohne einander existieren können. Insbesondere zwei
weil keine Dimensionen (staatlicher Regulierung) Phänomenbereiche kennzeichnen ihn, die Organi-
mehr erkennbar sei, in der »neue Mechanismen der sierung der Märkte im Gefolge von Konzentrations-
Selbstperpetuierung des kapitalistischen Systems« prozessen und weitreichende staatliche Interventio-
gefunden werden könnten, die sich mit seinem Be- nen (LS, 50 f.). Dem Begriff ›Spätkapitalismus‹
stand vereinbaren lassen (ebd., 24). Wenn aber nur kommt die theoriepolitische Funktion zu, wesentli-
noch Neukombinationen bereits entwickelter An- che Kategorien Marx’scher Analyse durch Verweis
passungsstrategien zur Verfügung stehen, sei ein Zu- auf eine veränderte Gestalt des ökonomischen Pro-
stand erreicht, der es erlaube, in einem »nicht bloß zesses zurückzuweisen: Die Anwendung des Wert-
losen Sprachgebrauch den Begriff Spätkapitalismus gesetzes verbietet sich, da es im Spätkapitalismus ge-
einzuführen« (ebd.). Damit wird der Begriff unmit- lingt, das Muster zyklischer Krisen durch staatliche
telbar auf eine Krisentheorie ausgerichtet: Das Präfix Intervention zugunsten eines stabilen Systemzustan-
»spät-« steht für ein mögliches Ende des Kapitalis- des zu überwinden (vgl. Blanke/Jürgens/Kastendiek
mus – jedoch nicht auf ein Ende durch die revolu- 1975, 392/3). Ökonomische Krisen können daher
tionäre Zuspitzung von Klassenkämpfen, sondern politisch verhindert werden, der Staat ist nicht bloß
durch ein Versiegen weiteren Entwicklungspotenti- Vollzugsorgan des Wertgesetzes (LS, 74 f.). Der These
als. von der Fortgeltung des Wertgesetzes, wie sie bei-
Eine krisentheoretische Zuspitzung, freilich mit spielsweise Ernest Mandel in seiner Spätkapitalis-
einer etwas anderen Ausrichtung, übernimmt Ha- mustheorie (1972) vertritt, stellt Habermas die Be-
bermas in Legitimationsprobleme im Spätkapitalis- hauptung eines Bruches mit der rein ökonomischen
mus (1973), seiner Hauptschrift zur Explikation des Logik zugunsten der politischen Affizierung der ge-
Spätkapitalismus-Begriffs. Die in diesem Werk zen- samten Produktionsverhältnisse gegenüber. Kapita-
trale Gegenüberstellung von »liberalem Kapitalis- listische Strukturen sind für ihn von ökonomischen
mus/Liberalkapitalismus« und »Spätkapitalismus« Prozesslogiken und politischer Gegensteuerung ge-
findet sich – in dieser Terminologie – bereits 1968 in prägt. Der spätkapitalistische Staat greift in gleich
der Auseinandersetzung mit Herbert Marcuse (Ha- vierfacher Hinsicht in die Marktökonomie ein (LS,
bermas 1968, 74). Die Zwei-Phasen-Theorie des Ka- 77–79): Er schafft die konstitutiven Voraussetzun-
pitalismus ist sogar älter, sie prägt die Habilitations- gen durch Recht, Rechtsschutz, die Gewährleistung
schrift Zum Strukturwandel der Öffentlichkeit 1962, innerer und äußerer Sicherheit und sorgt zudem für
wo der Übergang von der bürgerlichen Öffentlich- die notwendigen marktkomplementären Anpassun-
keit in liberalen Gesellschaften zur Öffentlichkeit gen des Rechtssystems. Das war bereits im Liberal-
unter »Bedingungen der Verschränkung von öffent- kapitalismus so, intensiviert sich aber nun. Wirklich
licher Sphäre und privatem Bereich« analysiert wird. neu sind die dritte und vierte Form der Staatstätig-
Hier ist im Unterschied zu Legitimationsprobleme im keit, die Markt substituierenden Handlungen in Re-
Spätkapitalismus auch angegeben, wann die Phase aktion auf Schwächen des ökonomischen Systems
des liberalen Kapitalismus ihr Ende fand, nämlich und die Kompensation dysfunktionaler Folgen ins-
bereits nach der großen Depression in den 1870er besondere durch die Schaffung des Sozialstaates.
Jahren (SÖ, § 16). Der Liberalkapitalismus wird bei Damit entstehen auch neue Machtkonstellationen.
Habermas durchgehend als reiner Markt- und Wett- Mit dem Ausbau von Bildungssystem und For-
bewerbskapitalismus gedeutet, der Staatlichkeit nur schungssektor entwickeln sich Bereiche jenseits der
30. Spätkapitalismus 373

Tauschwertlogik, die Lohnstruktur wird zum Ergeb- anders als in Legitimationsprobleme im Spätkapitalis-
nis von Verhandlungen zwischen Großverbänden mus hält Habermas auch in der Theorie des kom-
und die moderne Massendemokratie gibt auch For- munikativen Handelns an der Kritik der Marx-
derungen eine Chance, die dem Kapital nicht dienst- Orthodoxie fest. Eine rein ökonomisch ansetzende
bar sind. Eine Reduktion des Politischen auf ein Krisentheorie ist angesichts des Umfangs der Staats-
Überbauphänomen verbietet sich daher (LS, 80–83). intervention, die allerdings nie die Investitionsho-
Trotz dieser gewachsenen Flexibilität steuert der Ka- heit der Unternehmen ablöst, unangemessen, Kri-
pitalismus auf eine Krise zu: Dem politischen Sys- sentendenzen verlagern sich ins administrative Sys-
tem im Spätkapitalismus kann es prinzipiell nicht tem. Die marxistische Werttheorie kann aber die
gelingen, die infolge des Staatsinterventionismus ge- Kolonialisierung der Lebenswelt, insbesondere die
stiegenen Legitimationsbedürfnisse zu bedienen. Da systemische Gefährdung der Öffentlichkeit, nicht er-
das kulturelle System im Zuge von Modernisierungs- fassen (TKH II, 514). Die Theorie des Spätkapitalis-
prozessen nur universalistische Normen und diskur- mus wird in der Theorie des kommunikativen Han-
siv reflektierte Motivation als angemessene Form delns im System-Lebenswelt-Paradigma reformuliert
praktischer Orientierung erzeugt, lassen sich politi- – mit einer noch klareren Absage an die politische
sche Anforderungen und Ansprüche der Bürger Bedeutsamkeit von Klassenkämpfen und Vertei-
nicht mehr zur Deckung zu bringen. Habermas hält lungskonflikten. »Klassenunspezifisch ausgelöste
den Begriff ›Spätkapitalismus‹ nur deshalb für be- Verdinglichungseffekte« (TKH II, 513) werden nun
rechtigt, weil sich die Legitimationskrise als zwin- zu Kristallisationspunkten der neuen Konflikte, die
gende Konsequenz der kapitalistischen Entwicklung sich an »Fragen der Grammatik von Lebensformen«
herleiten lässt (LS, 72). (ebd., 576) entzünden und auf Eindämmung der
In den Folgeschriften tritt die krisentheoretische verselbständigten Systeme von Staat und Ökonomie
Deutung jedoch bald zurück. Schon die amerikani- gerichtet sind – so Habermas mit Verweis auf die
sche Übersetzung von Legitimationsprobleme im neuen sozialen Bewegungen der späten 1970er Jahre.
Spätkapitalismus verzichtet auf die Nennung des Eine Legitimationskrise des gesamten kapitalisti-
Spätkapitalismus im Titel des Buches (Legitimation schen Systems folgt daraus nicht. Grund dafür ist die
Crisis) und übersetzt Spätkapitalismus ganz über- Herausbildung eines funktionalen Äquivalents für
wiegend mit dem weniger krisentheoretisch aufgela- bürgerliche Ideologien: das fragmentierte Alltagsbe-
denen Begriff »advanced capitalism« (vereinzelt wusstsein, das die Anforderungen der kulturellen
auch »late capitalism«; Habermas 1976). Und in der Moderne, Universalismus und Diskursivität, durch
Theorie des kommunikativen Handelns von 1981 seine diffuse Gestalt unterläuft (ebd., 521 f.).
wird das Konzept der Legitimationskrise zugunsten Da es sich derart zeigt, dass die Anpassungsmög-
einer Theorie der »Pathologien der Lebenswelt« fal- lichkeiten des Kapitalismus keineswegs erschöpft
len gelassen, weil die systemische Durchdringung sind, erweist sich »Spätkapitalismus« – wie Claus
der Lebenswelt kein Protestpotential mehr zu erzeu- Offe es jüngst ausgedrückt hat – »als ein terminolo-
gen vermag, das systemsprengende Wirkung entfal- gischer Missgriff« (Offe 2006, 194). Seit Mitte der
ten kann. Dennoch findet der Begriff ›Spätkapitalis- 1980er verwendet Habermas diesen Begriff auch
mus‹ in der Theorie des kommunikativen Handelns nicht mehr. Sowohl in den zentralen politiktheoreti-
weiterhin Verwendung. Allerdings wird der Gegen- schen Schriften Faktizität und Geltung und Die Ein-
begriff aus Legitimationsprobleme im Spätkapitalis- beziehung des Anderen als auch in den kleineren po-
mus, der Liberalkapitalismus, ohne Einführung ei- litischen Schriften nach 1985 geht mit der Deutung
ner Ersatzbegrifflichkeit aufgegeben. Das Interesse der ökonomischen Realität als einer »alternativlo-
richtet sich allein auf den »modernen«, »entwickel- sen« (gleichwohl »regelungsbedürftigen«) kapitalis-
ten« oder »organisierten« Kapitalismus, wobei zwi- tischen Modernisierung der Verzicht auf das Präfix
schen der »staatskapitalistischen« Variante als Be- »spät-« einher (Habermas 2007, 428). Da eine Aus-
zeichnung für die kommunistischen Regime und der stiegsoption aus dem Kapitalismus nicht existiert,
»privatkapitalistischen« Variante des Westens unter- kann es auch im »neuen Stadium« des »politisch ent-
schieden wird. Systematisch wird Spätkapitalismus fesselten« Kapitalismus nur um dessen Zähmung,
über die drei Elemente staatliche Intervention, Mas- Abfederung oder politische Gestaltung gehen (ZÜ,
sendemokratie und Wohlfahrtsstaat bestimmt, wo- 109, 179, 195). Neuere Debatten über die angemes-
bei die Befriedung des Klassenkonflikts der Sozial- sene Deutung und Bezeichnung der heutigen Gestalt
staatlichkeit zugerechnet wird (TKH II, 505). Nicht des Kapitalismus – Postfordismus und »schumpete-
374 IV. Begriffe

rian competition state« in der Regulationsschule 31. System und Lebenswelt


(vgl. Jessop 2002), Finanzmarkt-Kapitalismus (Win-
dolf 2005) oder »neuer«, »projektbasierter Kapitalis-
mus« (Boltanski/Chiapello 2003) – haben bei Ha- In der Theorie des kommunikativen Handelns steht
bermas noch nicht zu Umbauten in der Theorie- die Differenz von System und Lebenswelt im Mittel-
architektur, zu einer erneuten Zuwendung zur punkt. Die Gesellschaft wird weder in einer strikten
Kapitalismusanalyse oder zu Veränderungen in der systemischen Perspektive betrachtet noch aus-
Theoriesprache geführt. schließlich als Lebenswelt aufgefasst. Habermas kon-
zipiert sie »gleichzeitig als System und Lebenswelt«
(TKH II, 183 u. 223 ff.). Die soziale Evolution selbst
Literatur
wird als Differenzierung beider Dimensionen defi-
Adorno, Theodor W.: »Spätkapitalismus oder Industriege- niert (ebd., 229 ff.).
sellschaft? Einleitungsvortrag zum 16. Deutschen Sozio- Die Lebenswelt in Habermas’ Modell wird »als
logentag«. In: Ders.: Soziologische Schriften I. Frankfurt
der Horizont, in dem sich die kommunikativ Han-
a. M. 1979, 354–370.
Blanke, Bernhard/Jürgens, Ulrich/Kastendiek, Hans: Kritik delnden ›immer schon‹ bewegen«, dargestellt (ebd.,
der Politischen Wissenschaft. Analysen von Politik und 182). Mit anderen Worten: sie wird als der »Hinter-
Ökonomie in der bürgerlichen Gesellschaft. 2 Bde. Frank- grund kommunikativen Handelns« aufgefasst (VE,
furt a. M./New York 1975. 593). Dementsprechend bildet der Begriff der Le-
Boltanski, Luc/Chiapello, Ève: Der neue Geist des Kapitalis- benswelt einen »Komplementärbegriff zum kommu-
mus. Konstanz 2003 (frz. 1999).
Habermas, Jürgen: »Zum Geleit«. In: Ders. (Hg.): Antwor- nikativen Handeln« (TKH II, 182; VE, 546; kritsch
ten auf Herbert Marcuse. Frankfurt a. M. 1968, 9–16. dazu Apel 1989). Die Lebenswelt reproduziert sich
–: Legitimation Crisis. Cambridge 1976 (1996). über kommunikatives, an der intersubjektiven Ver-
–: »Kommunikative Rationalität und grenzüberschreitende ständigung orientiertes Handeln (FG, 43 Anm. 18).
Politik: eine Replik«. In: Peter Niesen/Benjamin Her- »Daraus folgt natürlich nicht, daß in der Lebenswelt
borth (Hg.): Anarchie der kommunikativen Freiheit. Jür-
gen Habermas und die Theorie der internationalen Poli- keine strategischen Interaktionen auftreten können«
tik. Frankfurt a. M. 2007, 406–459. (ebd.). Aber der lebensweltliche Hintergrund »wird
Hilferding, Rudolf: Das Finanzkapital. Eine Studie über die dann in seiner handlungskoordinierenden Kraft
jüngste Entwicklung des Kapitalismus [1919]. Frankfurt neutralisiert« (ebd.). In diesem Fall liefert er »keinen
a. M. 1968. Konsensvorschuß, weil dem strategisch Handelnden
Jessop, Bob: The Future of the Capitalist State. Cambridge
2002. die institutionellen Gegebenheiten wie die anderen
Mandel, Ernest: Der Spätkapitalismus. Frankfurt a. M. 1972 Teilnehmer nur noch als soziale Tatsachen begeg-
Marcuse, Herbert: Der eindimensionale Mensch. Frankfurt nen« (ebd.). Nach Habermas’ Theoriemuster lässt
a. M. 1967 (engl. 1964). sich also die Lebenswelt als der symbolische Bezugs-
Moszkowska, Natalie: Zur Dynamik des Spätkapitalismus. rahmen des kommunikativen Handelns begreifen,
Zürich 1943.
Offe, Claus: Strukturprobleme des kapitalistischen Staates.
obwohl sich deren materielles Substrat über instru-
Frankfurt a. M. 1972. mentelle Handlungen reproduziert (VE, 546; TKH II,
–: »Erneute Lektüre: Die »Strukturprobleme« nach 33 Jah- 209 f.).
ren«. In: Ders.: Strukturprobleme des kapitalistischen Habermas teilt nicht den auf Husserl zurückge-
Staates. Veränderte Neuausgabe hg. und eingel. von Jens henden kulturalistischen Lebensweltbegriff (Husserl
Borchert und Stephan Lessenich. Frankfurt a. M./New
York 2006, 181–196.
1982; Berger/Luckmann 1967; Schütz/Luckmann
Pribram, Karl: Geschichte des ökonomischen Denkens. 2 1975; Luckmann 1980; vgl. auch Luhmann 1975, 70–
Bde. Frankfurt a. M. 1998. 73), den er für einseitig hält (TKH II, 210 ff.). Zudem
Sombart, Werner: Der moderne Kapitalismus. Historisch- qualifiziert er die auf Durkheim(1977) zurückge-
systematische Darstellung des gesamteuropäischen Wirt- hende Konzeption (Parsons 1966), nach der das Le-
schaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart
bensweltkonzept auf den Aspekt der (normativen)
[21916–1927]. München 1987.
Windolf, Paul (Hg.): Finanzmarktkapitalismus. Analysen gesellschaftlichen Integration verkürzt ist, als partiell
zum Wandel von Produktionsregimen. (Sonderheft 45 (TKH II, 211 f.). Schließlich weist er die auf Mead
der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsycholo- (1968) zurückgehende Tradition, in deren Rahmen
gie). Wiesbaden 2005. der Lebensweltbegriff auf den Aspekt der Vergesell-
Frank Nullmeier
schaftung von Individuen reduziert wird, als einsei-
tig zurück (TKH II, 212). Dem Habermas’schen Mo-
dell entsprechend, bilden Kultur, Gesellschaft und
31. System und Lebenswelt 375

Persönlichkeit die strukturellen Komponenten der und Ereignissen, über die man Aussagen macht, die
Lebenswelt. sich als wahr oder falsch erweisen können. Die sozi-
ale Welt wird aus den legitim geregelten intersubjek-
»Kultur nenne ich den Wissensvorrat, aus dem sich die tiven Interaktionen gebildet, auf welche die Teilneh-
Kommunikationsteilnehmer, indem sie sich über etwas in
mer mit Anspruch auf (normative) Richtigkeit Be-
einer Welt verständigen, mit Interpretationen versorgen.
Gesellschaft nenne ich die legitimen Ordnungen, über die zug nehmen. Schließlich bringen die kommunikativ
die Kommunikationsteilnehmer ihre Zugehörigkeit zu so- Handelnden im Horizont der Lebenswelt ihre Erleb-
zialen Gruppen regeln und damit Solidarität sichern. Unter nisse zum Ausdruck und beziehen sich dabei auf
Persönlichkeit verstehe ich die Kompetenzen, die ein Sub- ihre innere (subjektive) Welt mit Anspruch auf
jekt sprach- und handlungsfähig machen, also instandset-
Wahrhaftigkeit (vgl. z. B. TKH I, 427 ff.; MKH, 147 ff.;
zen, an Verständigungsprozessen teilzunehmen und dabei
die eigene Identität zu behaupten« (ebd., 209). VE, 588 f., 137 ff., 426 f. u. 462 ff.). »So kann sich Ein-
verständnis in der kommunikativen Alltagspraxis
Die Rationalisierung der Lebenswelt hängt mit ihrer gleichzeitig auf ein intersubjektiv geteiltes propositi-
strukturellen Differenzierung, d. h. mit der Differen- onales Wissen, auf normative Übereinstimmung
zierung ihrer drei strukturellen Komponenten zu- und auf reziprokes Vertrauen stützen« (MKH, 147).
sammen (ebd., 219 f.). Diese drei Komponenten der Die Rationalisierung der Lebenswelt impliziert über
Lebenswelt korrespondieren jeweils mit den Vor- die Differenzierung von Kultur, Gesellschaft und
gängen der kulturellen Reproduktion (in der seman- Persönlichkeit hinaus die Dezentrierung des Welt-
tischen Dimension von Bedeutungen oder Inhalten), verständnisses und die Unterscheidung zwischen
der sozialen Integration (in der Dimension des sozi- den jeweiligen Geltungsansprüchen. Eine Entspre-
alen Raums) und der Sozialisation (in der Dimen- chung zwischen Differenzierung der Lebenswelt und
sion der historischen Zeit – der aufeinanderfolgen- Weltbezügen lässt sich in Habermas’ Theoriemuster
den Generationen) (ebd., 209). Die Kultur, die Ge- feststellen. Während sich Kultur (Wissensvorrat),
sellschaft und die Persönlichkeit werden nicht auf Gesellschaft (legitime Ordnungen) und Persönlich-
Teilsysteme des »allgemeinen Handlungssystems« keit differenzieren, differenzieren sich ebenfalls die
beschränkt, erweisen sich also nicht als Umwelten Bezüge auf die objektive, die soziale und die subjek-
füreinander (ebd., 229). Sie sind für das kommuni- tive Welt. Es ist aber anzumerken, dass das kommu-
kative Handeln strukturierend und reproduzieren nikative Handeln, über das sich die Lebenswelt re-
sich gleichzeitig über dieses. Das kommunikative produziert, in diesen drei Dimensionen an Verstän-
Handeln dient der Tradition und der Erneuerung digung orientiert ist. In dessen Rahmen gilt »die
kulturellen Wissens unter dem funktionalen Aspekt Regel, daß ein Hörer, der einem jeweils thematisier-
der Verständigung; der sozialen Integration und der ten Geltungsanspruch zustimmt, auch die beiden
Herstellung von Solidarität unter dem Aspekt der anderen, implizit erhobenen Geltungsansprüche an-
Handlungskoordinierung; der Ausbildung von per- erkennt; andernfalls muß er seinen Dissens erklä-
sonalen Identitäten unter dem Aspekt der Sozialisa- ren« (TKH II, 184).
tion (ebd., 208). Der Konsens kommt nicht zustande, wenn der
Die Lebenswelt wird nicht mit der Welt als Refe- Hörer die Wahrheit einer Behauptung akzeptiert,
rentenzusammenhang der kommunikativ Handeln- aber die Wahrhaftigkeit des Sprechers oder die nor-
den gleichgesetzt (vgl. ebd., 191 ff.; MKH, 146 ff.). mative Angemessenheit seiner Äußerung in Zweifel
Diese zieht; ebenso besteht kein Konsens, wenn der Hörer
der normativen Gültigkeit eines Befehles zustimmt,
»bewegen sich stets innerhalb des Horizonts ihrer Lebens-
welt; aus ihm können sie nicht heraustreten. Als Interpre- aber die Existenz der objektiven Bedingungen für
ten gehören sie selbst mit ihren Sprechhandlungen der Le- dessen Durchführung bezweifelt oder der Ernsthaf-
benswelt an, aber sie können sich nicht ›auf etwas in der tigkeit der jeweiligen Willensäußerung misstraut
Lebenswelt‹ in derselben Weise beziehen wie auf Tatsachen, (ebd., 184 ff.); dasselbe geschieht, wenn er an die
Normen oder Erlebnisse« (TKH II, 192; vgl. auch TKH I,
Wahrhaftigkeit des Sprechers glaubt, aber gleichzei-
107).
tig dessen Aussage für falsch oder dessen Befehl für
Die Welt erweist sich als Bezugssystem der kommu- unrichtig hält. Folglich involviert die Konzeption der
nikativ Handelnden (MKH, 146 f.). Mit der sozialen Lebenswelt als Hintergrund des kommunikativen
Evolution differenzieren sich die objektive, die sozi- Handelns bei Habermas eine konsensuelle Überlas-
ale und die subjektive Welt voneinander (s. Kap. tung für die kommunikativen Handelnden.
IV.7). Die objektive Welt besteht aus den Zuständen Gerade in dieser Perspektive analysiert Habermas
376 IV. Begriffe

die »Beiträge der Reproduktionsprozesse zur Erhal- gen eines selbstgeregelten Systems lassen sich als
tung der strukturellen Komponenten der Lebens- Quasihandlungen so verstehen, als ob sich darin die
welt« sowie die »Krisenerscheinungen bei den Re- Handlungsfähigkeit eines Subjekts äußerte« (RHM,
produktionsstörungen (Pathologien)« (ebd., 212 ff.; 261). Aber es ist unleugbar, dass in Habermas’ Werk
vgl. auch VE, 562 ff.). Die kulturelle Reproduktion der Systembegriff mit dem der Zweckrationalität
bietet konsensfähige Deutungsschemen (gültiges und folglich mit den Konzepten des instrumentellen
Wissen) im Bereich der Kultur selbst, legitimierende und des strategischen Handelns verknüpft ist (vgl.
Elemente für die Gesellschaft und bildungswirksame z. B. TW, 63–65; TKH II, 269 u. 273; RHM, 261; VE,
Verhaltensmuster bzw. Erziehungsziele in Bezug auf 578 f.). Das System lässt sich als Zusammenhang von
die Persönlichkeit an. Im Fall von Krisenerscheinun- zweckrationalen Handlungen definieren, die durch
gen versagen die Beiträge der kulturellen Reproduk- Geld und Macht als entsprachlichte Medien vermit-
tion hinsichtlich der drei strukturellen Komponen- telt werden (vgl. TKH II, 271 ff.). Kraft dieser Ver-
ten der Lebenswelt, und daraus folgen jeweils Sinn- mittlung werden die Intentionen der ins Systemnetz
verlust, Legitimationsentzug und Orientierungs- und einbezogenen Handelnden neutralisiert. Habermas’
Erziehungskrise. Die Beiträge der sozialen Integra- Systembegriff ist eng, er beschränkt sich auf die
tion bestehen in Obligationen im Kulturzusammen- Wirtschaft und auf die »administrative Macht« (vgl.
hang, in legitim geordneten interpersonellen Bezie- ebd., 229 ff. u. 522 ff.). Die Wissenschaft, die Reli-
hungen für die Gesellschaft selbst und in sozialer gion, die Kunst, die Erziehung und teilweise das
Zugehörigkeit hinsichtlich der Persönlichkeit. Bei Recht sowie die Politik als demokratische Form der
der Entstehung von Krisen versagen die Beiträge der diskursiven Willensbildung (kommunikative Macht)
sozialen Integration in den drei Lebensweltdimensi- stellen keine Systeme dar, sondern reflexive instituti-
onen, und daraus ergeben sich jeweils Verunsiche- onelle Ebenen der symbolischen Reproduktion der
rung der kollektiven Identität, Anomie und Ent- Lebenswelt (vgl. ebd., 220 f.). In diesen Fällen sind
fremdung. Die Sozialisation liefert Interpretations- die entsprechenden Generalisierungsmedien sprach-
leistungen (für die Kultur), bietet Motivationen für lich gebildet. Nach diesem engen Systembegriff führt
normenkonforme Handlungen (in der Gesellschaft) Habermas das Konzept der Kolonialisierung der Le-
an und befördert schließlich die Interaktionsfähig- benswelt ein (vgl. ebd., 489 ff.). Hier dringen Wirt-
keit, ist also für die Konstruktion der personalen schaft und Politik als selbstgeregelte Systeme de-
Identität determinierend. In Krisensituationen ver- struktiv in die Lebenswelt ein, stören deren Repro-
sagen die Beiträge der Sozialisation in den drei Le- duktionsprozesse und gefährden so die Erhaltung
bensweltmomenten, und dies führt jeweils zu Tradi- ihrer Komponenten. Die Kolonialisierung der Le-
tionsabbruch, Motivationsentzug und Psychopatho- benswelt ist mit drei der obengenannten Krisener-
logien. Die einzelnen Reproduktionsprozesse bzw. scheinungen, mit Sinnverlust, Anomie und Persön-
die entsprechenden Krisenerscheinungen »können lichkeitsstörung, direkt verknüpft (VE, 565). Dem-
nach Maßgabe der Rationalität des Wissens, der Soli- nach wirkt die Systemintegration destruktiv auf die
darität der Angehörigen und der Zurechnungsfähig- kulturelle Reproduktion, die soziale Integration und
keit der erwachsenen Persönlichkeit bewertet wer- die Sozialisation ein.
den« (TKH II, 216). Aber in allen Fällen ist für die Kurzum: Die Lebenswelt wird sowohl durch die
Diagnose des Krisenzustandes entscheidend, dass interne Differenzierung ihrer strukturellen Kompo-
sich Hindernisse für die Möglichkeiten des kommu- nenten als auch durch die Differenzierung der Welt-
nikativen, verständigungsorientierten Handelns er- bezüge (Dezentrierung des Weltverständnisses) und
geben. der jeweiligen Geltungsansprüche rationalisiert. Au-
Der Krisenbegriff steht bei Habermas mit der In- ßerdem ist diese Rationalisierung von der Unter-
teraktion zwischen System und Lebenswelt in engem scheidung zwischen Handlungstypen sowie zwi-
Zusammenhang (VE, 565 f.). Das System lässt sich in schen Handlungs- und Diskursebene nicht zu tren-
einer ersten Annäherung als selbstgeregelte Sphäre nen. Aber die Rationalität der Lebenswelt ist mit
der Vermittlung zweckrationalen Handelns auffas- deren externer Differenzierung gegenüber dem Sys-
sen. Diese Formulierung ist allerdings unpräzise, tem verknüpft: Dieses kann, wenn es komplexer
weil in Habermas’ Modell sich der System- und der wird, deren materieller Reproduktion dienen und so
Handlungsbegriff sehr deutlich unterscheiden sowie zur Rationalität des Wissens, zur Solidarität der Ge-
von Systemrationalität nur in einem übertragenen sellschaftsangehörigen und zur Autonomie der Per-
Sinn gesprochen werden kann: »Zustandsänderun- son beitragen. Jedoch führt die Hypertrophie des
32. Verfassungspatriotismus 377

Systems zu dessen Eindringen in die Lebenswelt mit 32. Verfassungspatriotismus


destruktiven Folgen für die Kultur, die Gesellschaft
und die Persönlichkeit vor allem in dem Maße, wie
sie »Sinnverlust«, Anomie und Psychopathologien Eine zentrale Stellung und inhaltliche Bestimmung
hervorruft. Es ist zum Schluss zu betonen, dass die hat der Verfassungsbegriff bei Habermas erst im
Frage der Rationalität der Lebenswelt mit der Er- Spätwerk erfahren, im Zuge der Entfaltung seiner
möglichung konsensueller Situationen verknüpft ist. Rechtstheorie. Während insbesondere bei der Ana-
Diese Interpretation der Lebenswelt in Zusammen- lyse der Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus
hang mit dem strikten Begriff des kommunikativen, die »bürgerlichen Verfassungen« noch unter Ideolo-
an Konsens orientierten Handelns reduziert die ana- gieverdacht standen (LS, 138 f.) und gegenüber der
lytische Fähigkeit des Habermas’schen Beitrags zum Analyse spätkapitalistischer Verhältnisse zweitran-
Verständnis der heutigen hochkomplexen Weltge- gig erschienen, deutete sich in der Theorie des kom-
sellschaft und des demokratischen Rechtsstaates. munikativen Handelns bereits ein verändertes Inter-
esse an (verfassungs-)rechtlichen Strukturen an. Im
Literatur rechtstheoretischen Hauptwerk Faktizität und Gel-
tung entfaltet Habermas schließlich eine Art idealty-
Apel, Karl-Otto: »Normative Begründung der ›Kritischen pische Phänomenologie des demokratischen Rechts-
Theorie‹ durch Rekurs auf lebensweltliche Sittlichkeit?
Ein transzendentalpragmatisch orientierter Versuch, mit staats, in dessen Zentrum die Gleichursprünglich-
Habermas gegen Habermas zu denken«. In: Axel Hon- keit des Demokratieprinzips und des Systems der
neth u. a. (Hg.): Zwischenbetrachtungen: Im Prozeß der Rechte steht (FG, 151–165). Eine Verfassung ist da-
Aufklärung – Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag. mit auch mehr als eine bloße evolutionäre Errungen-
Frankfurt a. M. 1989, 15–65 schaft, die als Bindeglied und Trennlinie zwischen
Berger, Peter L./Luckmann, Thomas: The Social Construc-
tion of Reality. London 1967.
Recht und Politik fungiert, aber mit der Auflösung
Brunkhorst, Hauke: Habermas. Leipzig 2006. dieser Trennung auch wieder verschwinden kann
Detel, Wolfgang: »System und Lebenswelt bei Habermas«. (Luhmann 1990): Sie ist vielmehr notwendige Be-
In: Stefan Müller-Doohm (Hg.): Das Interesse der Ver- dingung für die Produktion legitimen Rechts.
nunft: Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit Dieses Basismodell einer Verfassung muss aller-
»Erkenntnis und Interesse«. Frankfurt a. M. 2000, 175–
197.
dings im demokratischen Prozess ausbuchstabiert
Durkheim, Emile: Über die Teilung der sozialen Arbeit. werden. Insbesondere die im System der Rechte auf-
Frankfurt a. M. 1977. gelisteten fünf Rechtspositionen (gleiche subjektive
Honneth, Axel/Joas, Hans (Hg.): Kommunikatives Handeln: Handlungsfreiheiten; Mitgliedschaftsstatus; An-
Beiträge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikati- spruch auf Rechtsschutz; politische Teilnahmerechte;
ven Handelns«. Frankfurt a. M. 32002.
soziale Rechte) sind lediglich »ungesättigte Platzhal-
Husserl, Edmund: Die Krisis der europäischen Wissenschaf-
ten und die transzendentale Phänomenologie. Hg. von ter«, deren Inhalt nicht abstrakt vorherbestimmt
Elisabeth Ströker. Hamburg 21982. werden kann, sondern im demokratischen Willens-
Luckmann, Thomas: Lebenswelt und Gesellschaft: Grund- bildungsprozess aufgefüllt werden muss (FG, 159 f.).
strukturen und geschichtliche Wandlungen. Paderborn Der demokratische Rechtsstaat ist daher an univer-
u. a. 1980.
salistischen Verfassungsprinzipien orientiert, erfährt
Luhmann, Niklas: Macht. Stuttgart 1975.
Mead, George Herbert: Geist, Identität und Gesellschaft aus aber in concreto eine ethische (und nicht: ethnische)
der Sicht des Sozialbehaviorismus. Frankfurt a. M. 1968. Imprägnierung, da jede Rechtsordnung »[…] auch
Parsons, Talcott: Societies: Evolutionary and Comparative der Ausdruck einer partikularen Lebensform, nicht
Perspectives. Englewood Cliffs/New Jersey 1966. nur Spiegelung der universellen Gehalte der Grund-
Schütz, Alfred/Luckmann, Thomas: Strukturen der Lebens- rechte« ist (Habermas 1993, 164–171, Zitat 167).
welt. Neuwied/Darmstadt 1975.
Marcelo Neves Dennoch sah sich Habermas – wie schon zuvor
Kant, auf dessen Republikanismus die prozedurale
Rechts- und Verfassungstheorie aufruht – umge-
hend der Kritik ausgesetzt, seine Theorie sei zu ab-
strakt und allgemein; er vertrete eine idealistische
Verfassungsidee, die nicht zeit- oder ortsgebunden
und im Ergebnis wurzellos sei, also eine blutleere
Abstraktion, die unterschlägt, dass sie von gemein-
samen Überzeugungen und dem Gemeinschaftsge-
378 IV. Begriffe

fühl der Bürger abhängt (vgl. z.B die Darstellung bei mokratischen Willensbildung und den Rechtsgaran-
Michelman 2001 und die tendenziöse Kritik bei tien der Verfassung, die »[…] auf die Bedingungen
Isensee 2006 über die unpatriotische »Hegemonial- des Zusammenlebens und der Kommunikation zwi-
kultur der Linken«). Die Kritiken basieren zumeist schen verschiedenen, gleichberechtigt koexistieren-
auf der Annahme, eine Verfassung sei von vorpositi- den Lebensformen« abzielen (ASA, 173).
ven, nicht im Verfassungstext enthaltenen Voraus- Auch in der nachfolgenden Berliner Republik
setzungen abhängig, die der Verfassungstext auch bleibt der Verfassungspatriotismus ein Konsensbe-
nicht generieren oder garantieren könne, wie etwa griff für eine liberale Öffentlichkeit, die der nationa-
»[…] die moralische Substanz des einzelnen und die len Töne überdrüssig ist. Die gesellschaftsthreoreti-
Homogenität der Gesellschaft« (Böckenförde 1976, sche Basis des Begriffs eröffnet zugleich eine zweite
60). Perspektive auf den postnationalen Staat: Sie ermög-
Schon vor Erscheinen der Rechtstheorie im Jahr licht die Neudefinition der Grundlagen einer vielfäl-
1992 hatte Habermas freilich in der Endphase der tigen, multikulturellen Republik, die auf die Vorstel-
Bonner Republik einen Begriff geprägt, der zugleich lung von einer vorstaatlichen Schicksalsgemein-
die Grundzüge des Verfassungskonzepts vorweg- schaft oder eines imaginären kulturellen Kerns
nahm und dieses gegen essentialistische und natio- verzichten muss. In der Auseinandersetzung mit
nalistische Einwände abschirmte. Im Windschatten dem kommunitaristisch geprägten Ansatz von
des Historikerstreits griff Habermas 1987 das von Charles Taylor (1993) führt Habermas aus, dass
dem Politikwissenschaftler Dolf Sternberger einge-
führte Stichwort vom Verfassungspatriotismus »[…] in komplexen Gesellschaften die Gesamtheit der Bür-
ger nicht mehr durch einen substantiellen Wertekonsens
(Sternberger 1979) auf und nahm eine folgenreiche zusammengehalten werden kann, sondern nur noch durch
semantische Verschiebung vor. Während Sternber- einen Konsens über das Verfahren legitimer Rechtsetzung
ger noch den Patriotismus als eine Variante der »Va- und Machtausübung. […] Der Universalismus der
terlandsliebe« zu retten suchte, indem er die Verfas- Rechtsprinzipien spiegelt sich in einem prozeduralen Kon-
sung als Ausdruck einer nationalen Wertegemein- sens, der freilich in den Kontext einer jeweils historisch be-
stimmten politischen Kultur sozusagen verfassungspatrio-
schaft und den Staat als »Freundschaftsverband« tisch eingebettet sein muß« (Habermas 1993, 179).
verstand, führte Habermas das Modell eines postna-
tionalen Patriotismus ein, der jegliche Bezugnahme Von konservativer Seite hingegen wird noch immer
auf kulturelle Wertsubstrate, Schicksalsgemeinschaf- der Verlust des Patriotismusbegriffs betrauert und
ten oder homogene Bevölkerungen abschneidet und der Multikulturalismus als Kampfbegriff einer lin-
auch keine aristotelische Tugendlehre als Stütze be- ken Hegemonialkultur diffamiert (vgl. insbesondere
nötigt. Denjenigen Patrioten, die einem deutschen Isensee 2006, 13). Habermas’ prozeduraler Rechts-
Nationalismus nachtrauern, der nicht vom National- und Verfassungstheorie wird sogar der vermeintlich
sozialismus überschattet ist, hielt er entgegen: drohende Verlust der gesellschaftlichen Einheit an-
»Der einzige Patriotismus, der uns dem Westen nicht ent- gelastet, weil sie einem zu permissiven Multikultura-
fremdet, ist ein Verfassungspatriotismus. Eine in Überzeu- lismus Vorschub leiste (nachdrücklich und ebenso
gungen verankerte Bindung an universalistische Verfas- nachdrücklich verfehlt, Ladeur/Augsberg 2007). In
sungsprinzipien hat sich leider in der Kulturnation der diesem Diskurs bestätigt sich freilich – wenn auch
Deutschen erst nach – und durch – Auschwitz bilden kön- ungewollt – die These von den nie endenden Aner-
nen« (ASA, 135).
kennungskämpfen im demokratischen Rechtsstaat.
Für Habermas ist der Verfassungspatriotismus zu- Die Erfolgsgeschichte des gesellschafts- und
dem Ausdruck eines historischen Lernprozesses, der rechtstheoretisch angereicherten Begriffs des Verfas-
den Nationalstaat alter Prägung im Zuge der Diffe- sungspatriotismus reicht weit über die Grenzen der
renzierung von Kultur und staatlicher Politik hinter Bundesrepublik hinaus. Insbesondere in Spanien
sich lässt (ASA, 173). Der neue, postnationale Staat und Kanada, aber auch in den USA wurden Begriff
taugt nicht für eine ekstatische emotionale Bindung. und Konzept breit rezipiert (vgl. z. B. Michelman
Schon der ehemalige Bundespräsident Gustav Hei- 2001; Müller 2007; Müller/Scheppele 2008), und im
nemann hatte bekanntlich auf die Frage, ob er Kontext der Diskussionen über eine EU-Verfassung
Deutschland liebe, geantwortet: »Ich liebe nicht den wurde und wird der Begriff häufig bemüht, um einer
Staat, ich liebe meine Frau.« In der postnationalen verbreiteten tiefen Skepsis gegenüber einem europä-
Konstellation verwandelt sich der Staatspatriotismus ischen Verfassungsprojekt entgegenzuwirken (vgl.
in eine Loyalität gegenüber den Verfahren der de- Lacroix 2002; Bellamy/Castiglione 2004). Habermas
33. Weltbürgergesellschaft 379

selbst hatte schon in den 1990er Jahren die Ablösung Isensee, Josef: »Plädoyer für eine Wiederkehr der Gemein-
des Verfassungsbegriffs vom Nationalstaat gefordert schaft – Verdrängung und Wiederentdeckung der Reali-
tät«. In: Die Politische Meinung. Monatsschrift der Kon-
und in seiner Auseinandersetzung mit Dieter Grimm rad-Adenauer-Stiftung 440 (Juli 2006), 6–14.
über die Voraussetzungen und Folgen einer europäi- Lacroix, Justine: »For a European Constitutional Patrio-
schen Verfassung nachdrücklich betont, dass die tism«. In: Political Studies 50 (2002), 944–58.
Bürde der sozialen Integration »[…] nicht von den Ladeur, Karl-Heinz/Augsberg, Ino: Toleranz, Religion,
Ebenen der politischen Willensbildung auf vorpoli- Recht. Tübingen 2007.
Luhmann, Niklas: »Verfassung als evolutionäre Errungen-
tisch gegebene Substrate verschoben werden« darf.
schaft«. In: Rechtshistorisches Journal 9 (1990), 176–220.
Eines wie auch immer gearteten homogenen euro- Michelman, Frank I.: »Morality, Identity and ›Constitutio-
päischen Volkes bedarf es daher nicht, weil die »[…] nal Patriotism‹«. In: Ratio Juris 14 (2001), 253–271.
soziale Integration erforderlichenfalls in den recht- Müller, Jan-Werner: Constitutional Patriotism. Princeton,
lich abstrakten Formen der politischen Teilhabe und N.J. 2007.
- /Scheppele, Kim Lane: »Constitutional Patriotism: An In-
des auf demokratischem Wege substantiell ausge-
troduction«. In: International Journal of Constitutional
bauten Staatsbürgerstatus« gesichert wird (EA, 189). Law 6,1 (2008), 67–71.
Die Forderung nach einer Konstitutionalisierung Sternberger, Dolf: Verfassungspatriotismus. Schriften Bd. X.
des Völkerrechts (GW) treibt die Abstraktion einer Frankfurt a. M. 1990, 13.
Bindung an universelle Rechtsprinzipien erneut ei- Taylor, Charles: »Multikulturalismus und die Politik der
Anerkennung«. In: Amy Gutmann (Hg.): Multikultura-
nen Schritt weiter. Doch schon die Verfassungsdis-
lismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt a. M.
kussion in der EU hat gezeigt, dass die notwendige 1993, 13–78.
»ethische Imprägnierung«, also die Ausformung des Rainer Nickel
Systems der Rechte im demokratischen Prozess, auf
supranationaler Ebene an Systemgrenzen stößt, weil
eine starke europäische Öffentlichkeit, die diesen
Prozess vorantreiben und bestimmen könnte, nur
ansatzweise existiert. Der Verdichtungsprozess im 33. Weltbürgergesellschaft
Völkerrecht, der eine Weltrechtsgesellschaft hat ent-
stehen lassen, ist noch viel weiter entfernt von einer In einem Essay (Habermas 1995) zum zweihunderts-
sozialintegrativen Kraft öffentlicher Verständigungs- ten Jahrestag von Kants »Zum ewigen Frieden«
prozesse. Trotz aller Bemühungen von Habermas, kommt Habermas auf Kants Forderung nach einem
einer Weltrechtsverfassung Konturen zu verleihen ›weltbürgerlichen Zustand‹ zu sprechen, der den
(vgl. zuletzt Habermas 2008), erscheint ein weniger kriegerischen ›Naturzustand‹ zwischen National-
hierarchischer Ansatz in Gestalt eines Verfassungs- staaten definitiv beenden würde. In diesem Aufsatz
Konfliktrechts, das die Vielgestaltigkeit lokaler und weist Habermas darauf ihn, dass Kant in seiner Ge-
regionaler Verfassungen ernst nimmt, ein aussichts- genüberstellung einer globalen konstitutionellen
reicherer Kandidat für eine rechtfertigungsfähige Ordnung bzw. einer ›Weltrepublik‹ und einer –
Konkretisierung des globalen Systems der Rechte zu schwächeren – freiwilligen Föderation souveräner
sein. Staaten sich nicht so eindeutig für letztere aussprach,
wie gemeinhin angenommen wird. Einerseits sind
die notwendigen kulturellen und gesellschaftlichen
Literatur Voraussetzungen für eine legitime Weltrepublik
Bellamy, Richard/Castiglione, Dario: Lacroix’s European nicht gegeben, und daher zeichnen sich die Gefah-
Constitutional Patriotism. In: Political Studies 52 (2004), ren eines globalen Despotismus ab; doch wenn an-
187–193. dererseits die Staaten einem einklagbaren Recht un-
Böckenförde, Ernst-Wolfgang: Staat, Gesellschaft, Freiheit.
terliegen und nicht allein an (weitgehend wirkungs-
Frankfurt a. M. 1976.
Grimm, Dieter: Braucht Europa eine Verfassung? München lose) moralische Normen gebunden sind, wird eine
1995. lose Föderation nicht ausreichen. In seiner ersten
Habermas, Jürgen: »Anerkennungskämpfe im demokrati- Stellungnahme zu diesem Problem unterstützte Ha-
schen Rechtsstaat«. In: Amy Gutmann (Hg.): Multikul- bermas vorsichtig die Forderungen nach einer ›kos-
turalismus und die Politik der Anerkennung. Frankfurt
mopolitischen Demokratie‹, zu der auch reformierte
a. M. 1993, 147–196.
–: »The Constitutionalisation of International Law and the und gestärkte Vereinte Nationen – einschließlich ei-
Legitimation Problems of a Constitution for World Soci- nes ›Weltparlaments‹ – gehören (EA, 218). Die Ver-
ety«. In: Constellations 15 (2008), 444–455. änderungen der internationalen Szenerie seit Kants
380 IV. Begriffe

Zeiten verleihen dieser utopischen Vision größere Ähnlich stützt auch seine These, es habe bestenfalls
Dringlichkeit und lassen sie zugleich auch realisti- eine historische (und keine notwendige) Konvergenz
scher erscheinen: Die Vielzahl von Phänomenen, die zwischen dem politischen demos und einer relativ
in jüngster Zeit unter der Überschrift ›Globalisie- homogenen Nation bzw. einem relativ homogenen
rung‹ zusammengefasst wurden, wirft gewichtige Volk gegeben, die These, dass ersterer nicht auf den
Fragen hinsichtlich der Realisierbarkeit der Demo- traditionellen (territorialen) Begriff des National-
kratie innerhalb des begrenzten Rahmens des Natio- staats beschränkt werden kann. Zugleich hat Haber-
nalstaats auf. Die steigende Zahl und der wachsende mas auch sein anfängliches Eintreten für eine ›Welt-
Einfluss multinationaler Unternehmen, die Zu- republik‹ revidiert und spricht mittlerweile lieber
nahme der internationalen Ströme von Kapital und von einer ›Konstitutionalisierung des Völkerrechts‹
Arbeitskraft, der Anstieg der Migrationsbewegun- ohne eine Weltregierung (GW, 145 ff.); er distanziert
gen und großräumige ökologische Gefahren stellen sich nun auch von den Ansichten einiger Anhänger
auf neue Weise – und sogar nach innen hin – die Le- einer ›kosmopolitischen Demokratie‹ (NR, 331). In
gitimation des Nationalstaats in Frage. Kurz gesagt: diesen späteren Aufsätzen befürwortet Habermas
Kann der Nationalstaat angesichts seiner augen- ein ›mehrstufiges föderales System‹, das drei globale
scheinlich verringerten Handlungsfähigkeit seine Akteure hinsichtlich ihrer jeweiligen Funktionen
Legitimität gegenüber den wachsenden Forderun- unterscheidet: Eine supranationale politische Kör-
gen der Bürgerschaft aufrechterhalten? Zugleich las- perschaft, die sich auf die Friedenssicherung und
sen die zunehmende (wenn auch fragile) Anerken- den Schutz fundamentaler Menschenrechte be-
nung der Menschenrechte, die aktivere Rolle der schränkt (eine reformierte UN mit bescheidenerem
Vereinten Nationen und anderer internationaler Or- Auftrag); eine mittlere Ebene, die sich aus regionalen
ganisationen und eine sich entwickelnde globale ›Zi- Körperschaften zusammensetzt, die sich der ›Welt-
vilgesellschaft‹ (einschließlich der weltweiten Kom- innenpolitik‹ – einschließlich einer großräumigen
munikationsmedien) es sinnvoll erscheinen, wenigs- Wirtschafts- und Umweltpolitik – annehmen; und
tens die Frage zu stellen, ob nicht eine ›postnationale die Nationalstaaten, deren Souveränität einge-
Konstellation‹ im Entstehen begriffen ist, in der der schränkt wurde, die aber weiterhin auf der globalen
Schauplatz der Demokratisierung nicht mehr aus- Bühne die wichtigste Rolle spielen (GW, 174 f.). In
schließlich im territorialen Nationalstaat zu finden diesem Zusammenhang hat sich Habermas dafür
ist. ausgesprochen, die Rolle der Vereinten Nationen zu
In mehreren anderen wichtigen Aufsätzen, die er stärken (auch wenn diese sich nun auf friedenserhal-
nach Faktizität und Geltung veröffentlichte, hat Ha- tende Maßnahmen und den Schutz der Menschen-
bermas diese Idee eines ›weltbürgerlichen Zustan- rechte konzentrieren sollen) und einen internationa-
des‹ im Zusammenhang mit der Idee eines ›globalen len Strafgerichtshof aufzubauen, der zumindest kras-
Regierens ohne Weltregierung‹ (so in GW) weiter- seste Menschenrechtsverletzungen verhindern soll.
verfolgt. Tatsächlich gibt es in seinem ›zweigleisigen‹ Zugleich zweifelt er stärker als manche Verfechter
Demokratiemodell (mit der Unterscheidung von der kosmopolitischen Demokratie daran, ob sich auf
›schwachen‹ und ›starken‹ Öffentlichkeiten) viele globalem Maßstab jene ›staatsbürgerliche Solidari-
Hinweise darauf, dass dies möglich sein könnte. Ei- tät‹ (als eine ›Solidarität zwischen Fremden‹) errei-
nerseits gibt es keinen immanenten Grund dafür, chen lässt, die seiner Ansicht nach eine unerlässliche
dass sein Begriff einer schwachen Öffentlichkeit Bedingung für eine robuste deliberative Politik dar-
nicht im Kontext einer ›globalen Zivilgesellschaft‹ stellt. In dieser Hinsicht stimmt er innerhalb gewis-
verstanden werden kann, und andererseits gibt es ser Grenzen seinen eher an einer republikanischen
auch einige Gründe dafür, seine diskursive Darstel- Staatsbürgerschaft orientierten Kritikern wie Charles
lung starker Öffentlichkeiten – der formalisierten Taylor oder Benjamin Barber zu.
Institutionen der Entscheidungsfindung – mit der Sein eigener konstruktiver Vorschlag richtet sich
Idee einer mehrstufigen und dezentralen Auffassung (neben der Befürwortung einer europäischen Ver-
der Souveränität und der damit verwandten Idee der fassung) auf die Entwicklung dessen, was er als ›in-
›Subsidiarität‹ zusammenzubringen und weiter aus- ternationale Verhandlungssysteme‹ bezeichnet; dort
zubauen. Er meint jetzt, dass wir abstrakter und zu- würden verschiedene Akteure (darunter National-
gleich einfallsreicher denken müssen, um eine Un- staaten, regionale Regierungskörperschaften und
terscheidung zwischen ›Staat‹ und ›Verfassung‹ ein- Nichtregierungsorganisationen) die Rolle eines
zuführen, die es bei Kant nicht gab (GW, 130). ›starken Publikums‹ übernehmen, während Bürger
33. Weltbürgergesellschaft 381

mit kosmopolitischem Bewusstsein, die in verschie- schlag tatsächlich noch von anderen Vorschlägen für
denen Weisen in einer kosmopolitischen Zivilgesell- eine eher staatsförmige globale Ordnung unterschei-
schaft aktiv sind, eine ›schwache Öffentlichkeit‹ dar- det (vgl. Niesen/Herborth 2007; Scheuerman 2008).
stellen würden. Ebenso wie bei dem zweigleisigen Kann eine – freilich gestärkte – UN auch nur die
Modell, das auf der Ebene des Nationalstaats be- grundlegendsten Menschenrechte wirksam schüt-
schrieben wurde, ist auch hier ein einfallsreicher in- zen, ohne einige Züge eines Staates im traditionellen
stitutioneller Entwurf gefragt, der eine ›starke Öf- Sinne anzunehmen? Und wie soll sie sonst dem ge-
fentlichkeit‹ herstellen würde, die reaktionsfähiger stiegenen Legitimationsbedarf gerecht werden?
und verantwortungsbewusster wäre, als es die heuti- Doch im Gegensatz zu den Positionen anderer Kriti-
gen, rein nationalstaatlichen Öffentlichkeiten sind. ker ist es wenigstens klar, dass Habermas mit seinem
Dennoch bleibt die Grundstruktur dieses Vorschla- Modell eines ›weltbürgerlichen Zustandes‹ keines-
ges für eine kosmopolitische Demokratie dieselbe: wegs bloß vor dem Neoliberalismus resigniert (wie
Eine dynamische Arbeitsteilung zwischen einer lose z. B. Pheng Cheah), sondern versucht, diesen durch
organisierten Öffentlichkeit, die als eine Art ›Rezep- Vorschläge für eine ›realistische Utopie‹ (nach John
tor‹ für die Identifikation und Thematisierung ge- Rawls) in Frage zu stellen.
sellschaftlicher Probleme fungiert (und gewährleis-
tet, dass diese auf die politische Tagesordnung ge-
setzt werden), und den eher formal organisierten Literatur
(wenn auch mehrstufigen und dezentralen) starken Habermas, Jürgen: »Kants Idee des Ewigen Friedens. Aus
Öffentlichkeiten, die die öffentlich entwickelten Ar- dem historischen Abstand von 200 Jahren«. In: Kritische
gumente – mit Hilfe rechenschaftspflichtiger Ver- Justiz 28. Jg (1995), 293–319 (auch in: EA, 192–236).
waltungsapparate – in gesellschaftlich wirksame po- Niesen, Peter/Herborth, Benjamin (Hg.): Anarchie der
litische Maßnahmen ›übersetzen‹ sollen. Dies ist si- kommunikativen Freiheit. Jürgen Habermas und die The-
orie der internationalen Politik. Frankfurt a. M. 2007.
cherlich ein hochabstraktes (und spekulatives)
Scheuerman, William E.: »Global Governance without
Demokratiemodell, und viele seiner spezielleren ins- Global Government?« In: Political Theory 36. Jg., 1 (Feb-
titutionellen Details stehen noch aus. Einigen Kriti- ruar 2008), 133–151.
kern zufolge ist es unklar, inwieweit sich dieser Vor- Kenneth Baynes (Übers. Nikolaus Gramm)
383

V. Anhang

1980–1981 Direktor am Max-Planck-Institut für Sozial-


1. Zeittafel wissenschaften, Starnberg
Seit 1983 Professor für Philosophie in Frankfurt am
18.6.1929 Geburt in Düsseldorf Main (1994 Emeritierung)
1949 Abitur in Gummersbach 1985 Geschwister-Scholl-Preis
1949–1954 Studium der Philosophie, Psychologie, deut- 1985–1987 Historikerstreit
schen Literatur und Ökonomie in Göttingen, 1987 Sonning-Preis, Kopenhagen
Zürich und Bonn 1889 Ehrendoktor der Hebrew University Jerusa-
1954 Promotion in Bonn bei Erich Rothacker: Das lem
Absolute und die Geschichte: Von der Zwiespäl- Seit 1989 Mehrfach an der New York University, Law
tigkeit in Schellings Denken School (als Teilnehmer am Kolloquium von
1954–1956 Freier Journalist; Assistentenstipendium der Ronald Dworkin und Thomas Nagel)
Deutschen Forschungsgemeinschaft Seit 1994 Permanent Visiting Professor, Northwestern
1955 Heirat mit Ute Wesselhoeft (Kinder: Tilmann University, Evanston, IL
1956, Rebekka 1959, Judith 1967) 1995 Jaspers-Preis der Stadt Heidelberg
1956–1959 Forschungsassistent am Institut für Sozialfor- 1995 Ehrendoktor der Universität Tel Aviv
schung, Frankfurt am Main 1995/1996 Kontroversen mit Ronald Dworkin und John
1957–1959 Arbeit an der Untersuchung des Instituts für Rawls um Recht und Demokratie
Sozialforschung über »Student und Politik« Seit 1996 Mehrere China-Reisen
1959–1961 Habilitationsstipendium der Deutschen For- 1997 Ehrendoktor der Sorbonne, Paris (St. Denis-
schungsgemeinschaft Vincennes)
1961 Habilitation, Universität Marburg (Struktur- Seit 1998 Kontroversen über Klonen, Autonomie und
wandel der Öffentlichkeit) Gen-Technologie
1961–1964 Außerordentlicher Professor für Philosophie 1999 Theodor-Heuss-Preis
an der Universität Heidelberg Seit 2000 Professor for Global Law, New York Univer-
1964–1971 Ordentliche Professur für Philosophie und So- sity, Law School
ziologie an der Universität Frankfurt am Main; 2001 Friedenspreis des Deutschen Buchhandels
Kontroversen über Hermeneutik, Ideologie- Seit 2001 Kontroversen über den öffentlichen Gebrauch
kritik und Positivismus der Religion; Beginn der fortlaufenden De-
1968–1969 Kontroversen in der Studentenbewegung um batte über den gespaltenen Westen, Kerneu-
Reform und Revolution, politisches Mandat ropa und die USA
und Hochschulreform 2003 Prinz-von-Asturien-Preis für Sozialwissen-
1970/1971 Kontroverse mit Niklas Luhmann über Sys- schaften
tem- und Gesellschaftstheorie 2004 Kyoto-Preis für Philosophie; Kontroverse mit
1971–1980 Direktor am Max-Planck-Institut zur Erfor- Kardinal Ratzinger über metaphysische Diffe-
schung der Lebensbedingungen der wissen- renzen und operative Gemeinsamkeiten zwi-
schaftlich-technischen Welt, Starnberg schen katholischem Glauben und nachmeta-
1974 Hegel-Preis der Stadt Stuttgart physischem Denken
1975–1982 Honorarprofessor für Philosophie an der Uni- Seit 2004 Kontroversen über Naturalismus und Freiheit
versität Frankfurt am Main; die Universität 2005 Holberg-Preis
München hatte Habermas zuvor eine Hono- 2006 Staatspreis des Landes Nordrhein-Westfalen
rarprofessur verweigert 2009 Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf
1976 Sigmund-Freud-Preis Bänden
1977–1979 Streit um Terrorismus, Staatsnotstand und
Neokonservatismus; Briefe zur Verteidigung
der Republik (Hg. von Freimut Duve, Heinrich
Böll, Klaus Staeck 1977)
1980 Adorno-Preis der Stadt Frankfurt am Main;
Vortrag über »Das unvollendete Projekt der
Moderne«; seitdem vielfältige Kontroversen
um Postmoderne, Poststrukturalismus und
Jungkonservatismus
1980 Ehrendoktor der New School for Social Re-
search, New York
384 V. Anhang

2. Bibliographie – »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«. In: Philoso-


phisch-politische Aufsätze 1977–1990. Leipzig 1990
[MUP].
– Texte und Kontexte. Frankfurt a. M. 1991 [TK].
2.1 Primärtexte und Siglen – Erläuterungen zur Diskursethik. Frankfurt a. M. 1991
[ED].
– Das Absolute und die Geschichte: Von der Zwiespältigkeit – Faktizität und Geltung. Beiträge zur Diskurstheorie des
in Schellings Denken. Diss. Bonn 1954 [AG]. Rechts und des demokratischen Rechtsstaats. Frankfurt
– Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu ei-
a. M. 1992 (um ein Nachwort erweiterte Ausgabe 1994)
ner Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied/
[FG].
Berlin 1961 (wiederabgedruckt und mit einem neuen – Vergangenheit als Zukunft. Das alte Deutschland im
Nachwort. Frankfurt a. M 1990) [SÖ]. neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller. Mün-
– Theorie und Praxis. Neuwied/Berlin 1963 (Frankfurt
chen 1993 [VZ].
a. M. 1968; erweiterte Neuauflage mit Einleitung »Einige
– Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine politische
Schwierigkeiten beim Versuch, Theorie und Praxis zu
Schriften VIII. Frankfurt a. M. 1995 [NBR].
vermitteln«. Frankfurt a. M. 1971) [TP]. – Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politischen
– Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹. Frankfurt a. M
Theorie. Frankfurt a. M. 1996 [EA].
1968 [TW].
– Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Ausdruck.
– Erkenntnis und Interesse. Frankfurt a. M. 1968 (2. Auf-
Frankfurt a. M. 1997 [SESA].
lage mit neuem Nachwort Frankfurt a. M. 1973) [EI].
– Die postnationale Konstellation. Politische Essays. Frank-
– Protestbewegung und Hochschulreform. Frankfurt a. M.
furt a. M. 1998 [PN].
1969 (wiederabgedruckt in KPS, 1981, 265–303).
– Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Aufsätze.
– Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien. Frank-
Frankfurt a. M. 1999 (erweiterte Auflage 2004) [WR].
furt a. M. 1970 (erweiterte Auflage 1982) [LSW].
– Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX. Frank-
– »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie des
furt a. M. 2001 [ZÜ].
kommunikativen Handelns«. In: Jürgen Habermas/Ni-
– Glauben und Wissen. Frankfurt a. M. 2001 [GUW].
klas Luhmann: Theorie der Gesellschaft oder Sozialtech-
– Kommunikatives Handeln und detranszendentalisierte
nologie. Frankfurt a. M. 1971, 101–141 [VB].
Vernunft. Stuttgart 2001 (wiederabgedruckt in: NR, 27–
– /Luhmann, Niklas: Theorie der Gesellschaft oder Sozial-
83) [KHDV].
technologie. Frankfurt a. M. 1971.
– Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg zu ei-
– Philosophisch-politische Profile. Frankfurt a. M. 1971 (er-
ner liberalen Eugenik? Frankfurt a. M. 2001 (erweiterte
weiterte Auflagen 1981 u. 1987) [PPP].
Auflage 2002) [LE].
– Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus. Frankfurt
– Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980–2001. Frankfurt a. M.
a. M. 1973 [LS].
2003 [ZD].
– Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze. Frankfurt a. M.
– Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X.
1973 [KK].
Frankfurt a. M. 2004 [GW].
– Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus.
– Zwischen Naturalismus und Religion. Frankfurt a. M.
Frankfurt a. M. 1976 [RHM].
2005 [NR].
– Kleine Politische Schriften I–IV. Frankfurt a. M. 1981
– Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI. Frankfurt
[KPS].
a. M. 2008 [AE].
– »Die Philosophie als Platzhalter und Interpret« (Vortrag
– Philosophische Texte. Studienausgabe in fünf Bänden.
auf dem Hegel-Kongress 1981, abgedruckt in MKH,
Frankfurt a. M. 2009.
9–28) [PI].
– Theorie des kommunikativen Handelns. 2 Bde. Frankfurt
a. M. 1981 [TKH]. Siglen
– »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungspro- AE Ach, Europa. Kleine Politische Schriften XI, 2008.
gramm«. In: Moralbewußtsein und kommunikatives Han- AG Das Absolute und die Geschichte: Von der Zwiespäl-
deln. Frankfurt a. M. 1983, 53–126 tigkeit in Schellings Denken, 1954.
– Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln. Frank- ASA Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische
furt a. M. 1983 [MKH]. Schriften VI, 1987
– Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kommuni- DE »Diskursethik – Notizen zu einem Begründungs-
kativen Handelns. Frankfurt a. M. 1984 [VE]. programm«. In: Moralbewußtsein und kommunika-
– Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesun- tives Handeln. Frankfurt a. M. 1983, 53–126
gen. Frankfurt a. M. 1985 [DM]. DM Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vor-
– Die neue Unübersichtlichkeit. Frankfurt a. M. 1985 [NU]. lesungen, 1985.
– Eine Art Schadensabwicklung. Kleine Politische Schriften DNR Die nachholende Revolution. Kleine politische
VI. Frankfurt a. M. 1987 [ASA]. Schriften VII, 1990.
– Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Aufsätze. EA Die Einbeziehung des Anderen. Studien zur politi-
Frankfurt a. M. 1988 [ND]. schen Theorie, 1996.
– Die nachholende Revolution. Kleine politische Schriften ED Erläuterungen zur Diskursethik, 1991.
VII. Frankfurt a. M. 1990 [DNR]. EI Erkenntnis und Interesse, 1968.
2. Bibliographie 385

FG Faktizität und Geltung, Beiträge zur Diskurstheorie 2.2 Auswahlbibliographie


des Rechts und des demokratischen Rechtsstaats,
1992, 1994.
GUW Glauben und Wissen, 2001. Bibliographien und Nachschlagewerke
GW Der gespaltene Westen. Kleine politische Schriften X, Douramanis, Demetrios: Mapping Habermas, 1952–1995,
2004. A Bibliography of Primary Literature. Sidney 1995, auch
KHDV Kommunikatives Handeln und detranszendentali- im Internet unter: http://www.swif.uniba.it/lei/filosofi/
sierte Vernunft, 2001. autori/HABERMAS-BIB.pdf.
KK Kultur und Kritik. Verstreute Aufsätze, 1973. Görtzen, René: Jürgen Habermas. Eine Bibliographie seiner
KPS Kleine Politische Schriften I–IV, 1981. Schriften und der Sekundärliteratur 1952–1981. Frank-
LE Die Zukunft der menschlichen Natur. Auf dem Weg furt a. M. 1981.
zu einer liberalen Eugenik?, 2001. Görtzen, René: Jürgen Habermas: A Bibliography. In: David
LS Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus, 1973. M. Rasmussen: Reading Habermas. Oxford 1990, 114–
LSW Zur Logik der Sozialwissenschaften. Materialien, 140.
1970, 1982. Habermas, Jürgen: Bibliografia de 1981–1990. In: Scripto-
MKH Moralbewußtsein und kommunikatives Handeln, rum Victoriense 39 (1992), 126–172.
1983. http://www.habermasforum.dk
MUP »Die Moderne – ein unvollendetes Projekt«. In:
Philosophisch-politische Aufsätze 1977–1990, 1990.
NBR Die Normalität einer Berliner Republik. Kleine poli- Einführungen und übergreifende Monographien
tische Schriften VIII, 1995.
ND Nachmetaphysisches Denken. Philosophische Auf-
zu Leben und Werk
sätze, 1988. Brunkhorst, Hauke: Habermas. Stuttgart 2006.
NR Zwischen Naturalismus und Religion, 2005. Gripp, Helga: Jürgen Habermas. München 1984.
NU Die neue Unübersichtlichkeit, 1985. Horster, Detlef: Habermas – Zur Einführung. Hamburg
PI »Die Philosophie als Platzhalter und Interpret«, 2006 (überarbeitete Neuausgabe).
1981. –: Jürgen Habermas. Stuttgart 1991.
PN Die postnationale Konstellation. Politische Essays, Iser, Mattias/Strecker, David: Jürgen Habermas zur Einfüh-
1998. rung. Hamburg 2009.
PPP Philosophisch-politische Profile, 1971. McCarthy, Thomas: Kritik der Verständigungsverhältnisse.
RHM Zur Rekonstruktion des Historischen Materialismus, Frankfurt a. M. 1980.
1976. Outhwaite, William: Habermas: A Critical Introduction.
SESA Vom sinnlichen Eindruck zum symbolischen Aus- Oxford 1994.
druck, 1997. Pinzani, Alessandro: Jürgen Habermas. München 2007.
SÖ Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen Reese-Schäfer, Walter: Jürgen Habermas. Frankfurt a. M.
zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, 2001.
1961, 1971, 1990. Wiggershaus, Rolf: Jürgen Habermas. Hamburg 2004.
TK Texte und Kontexte, 1991.
TKH Theorie des kommunikativen Handelns, 2 Bde.,
1981. Einzelne Aspekte des Werkes
TP Theorie und Praxis, 1963, 1968, 1971. Baynes, Kenneth: The Normative Grounds of Social Criti-
TW Technik und Wissenschaft als ›Ideologie‹, 1968. cism: Kant, Rawls and Habermas. Albany 1992.
VB »Vorbereitende Bemerkungen zu einer Theorie des Benhabib, Seyla: Kritik, Norm und Utopie: Die normativen
kommunikativen Handelns«, 1971. Grundlagen der Kritischen Theorie. Frankfurt a. M. 1992.
VE Vorstudien und Ergänzungen zur Theorie des kom- Bernstein, Richard: Habermas and Modernity. Cambridge
munikativen Handelns, 1984. 1985.
VZ Vergangenheit als Zukunft. Das alte Deutschland im Brunkhorst, Hauke: Jürgen Habermas. In: Franco Volpi
neuen Europa? Ein Gespräch mit Michael Haller, (Hg.): Großes Werklexikon der Philosophie. Bd. 1: A-K.
1993. Stuttgart 1999, 603–610.
WR Wahrheit und Rechtfertigung. Philosophische Auf- Cooke, Maeve: Language and Reason. Cambridge 1994.
sätze, 1999. Dallmayr, Winfried: Materialien zu Habermas’ ›Erkenntnis
ZD Zeitdiagnosen. Zwölf Essays 1980–2001, 2003. und Interesse‹. Frankfurt a. M. 1974.
ZÜ Zeit der Übergänge. Kleine politische Schriften IX, Heath, Joe: Communicative Action and Rational Choice.
2001. Cambridge 2001.
Holub, Robert C.: Jürgen Habermas. Critic in the Public
Sphere. London 1991.
Lafont, Cristina: The Linguistic Turn in Hermeneutic Philo-
sophy. Cambridge 1999.
Lieber, Tobias: Diskursive Vernunft und formelle Gleichheit.
Zu Demokratie, Gewaltenteilung und Rechtsanwendung
in der Rechtstheorie von Jürgen Habermas. Tübingen
2007.
386 V. Anhang

McCarthy, Thomas: Ideals and Illusions: On Reconstruction White, Stephen (Hg.): The Cambridge Companion to Ha-
and Deconstruction in Contemporary Critical Theory. bermas. Cambridge 1995.
Cambridge 1991. Wingert, Lutz/Günther, Klaus (Hg): Die Öffentlichkeit der
Neves, Marcelo: Zwischen Themis und Leviathan. Baden- Vernunft und die Vernunft der Öffentlichkeit. Festschrift
Baden 2000. für Jürgen Habermas. Frankfurt a. M. 2001.
Rehg, William: Insight and Solidarity: The Discourse Ethics
of Jürgen Habermas. Berkeley 1994.
–: Cogent Science in Context: the Science Wars, Argumenta-
tion Theory, and Habermas. Cambridge, Mass. 2009.
Wellmer, Albrecht: Ethik und Dialog. Elemente des morali-
schen Urteils bei Kant und in der Diskursethik. Frankfurt
a. M. 1986.
Zurn, Christopher F.: Deliberative Democracy and the insti-
tution of Judicial Review. Cambridge 2007.

Sammelbände und Zeitschriften-Sonderbände


Arato, Andrew/Rosenfeld, Michel: Habermas on Law and
Democracy: Critical Exchanges. Berkeley 1998.
Benhabib, Seyla/Dallmayr, Fred A. (Hg.): The Communica-
tive Ethics Controversy. Cambridge 1990.
Calhoun, Craig (Hg.): Habermas and the Public Sphere.
Cambridge 1992.
Constellations Bd. 15, Nr. 4, 2008: The Constitutionalization
of International Law (mit Beiträgen von Jean L. Cohen,
William E. Scheuerman und Hauke Brunkhorst).
Dews, Peter (Hg.): Habermas: A Critical Reader. Oxford
1999.
German Law Journal (Special Edition) Bd. 10, Nr. 1, 2009:
The Kantian Project of International Law: Engagements
with Jürgen Habermas’ The Divided West (mit Beiträgen
von Armin von Bogdandy, Sergio Dellavalle, Thomas
Giegerich und Regina Kreide).
Held, David/Thompson, John B. (Hg.): Habermas: Critical
Debates. London 1982.
Honneth, Axel/Joas, Hans: Kommunikatives Handeln. Bei-
träge zu Jürgen Habermas’ »Theorie des kommunikativen
Handelns«. Frankfurt a. M. 1986.
Honneth, Axel/McCarthy, Thomas/Offe, Claus/Wellmer,
Albrecht (Hg.): Zwischenbetrachtungen. Im Prozeß der
Aufklärung. Jürgen Habermas zum 60. Geburtstag.
Frankfurt a. M. 1989.
Langthaler, Rudolf/Nagl-Docekal, Herta (Hg.): Glauben
und Wissen – ein Symposium mit Jürgen Habermas. Wien
2006.
Müller-Doohm, Stefan (Hg.): ›Das Interesse der Vernunft‹,
Rückblicke auf das Werk von Jürgen Habermas seit ›Er-
kenntnis und Interesse‹. Frankfurt a. M. 2000.
Nagl-Docekal, Herta: Viele Religionen – eine Vernunft?
Wien 2008.
Niesen, Peter/Herborth, Benjamin (Hg.): Anarchie der
kommunikativen Freiheit. Frankfurt a. M. 2007.
Passerin d’Entrèves, Maurizio/Benhabib, Seyla (Hg.): Ha-
bermas and the Unfinished Project of Modernity: Critical
Essays on »Tthe Philosophical Discourse of Modernity«.
Cambridge 1997.
Outhwaite, William (Hg.): The Habermas Reader. Oxford
1996.
Rasmussen, David/Swindal, James (Hg.): Jürgen Habermas.
4 Bde. London 2002.
Schomberg, René von/Baynes, Kenneth (Hg.): Discourse
and Democracy: Essays on Habermas’s Between Facts and
Norms. Albany 2002.
387

3. Die Autorinnen und Autoren Anna Geis ist Vertretungsprofessorin für Internationale
Beziehungen und Weltordnungspolitik an der Goethe-
Universität Frankfurt am Main (IV.17 Legale und legi-
Amy Allen ist Professor of Philosophy and Women’s and time Kriege).
Gender Studies am Dartmouth College, USA (II.21 Post- Klaus Günther ist Professor für Rechtstheorie, Strafrecht
strukturalismus). und Strafprozessrecht an der Goethe-Universität Frank-
Andrew Arato ist Dorothy Hart Hirshon Professor in Poli- furt am Main (II.14 Juristische Diskurse; IV.2 Diskurs).
tical and Social Theory an der New School for Social Re- Martin Hartmann ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
search, New York, USA (III.14 Europa und Verfassung). Institut für Philosophie der Goethe-Universität Frank-
Amy R. Baehr ist Associate Professor of Philosophy an der furt am Main (IV.9 Historischer Materialismus; IV.29
Hofstra University, Hempstead, NY, USA (II.22 Femini- Sozialpathologie).
stische Diskurse). Helge Høibraaten ist Henrik-Steffens Professor am Nord-
Kenneth Baynes ist Professor of Philosophy and Political europa-Institut, Humboldt-Universität zu Berlin und an
Science, Syracuse University, NY, USA (II.8 Nachmeta- der Norwegischen Technisch-naturwissenschaftlichen
physisches Denken; IV.4 Egalität; IV.33 Weltbürgerge- Universität Trondheim, Norwegen (III.15 Religion, Me-
sellschaft). taphysik und Freiheit).
Seyla Benhabib ist Eugene Meyer Professor of Political Sci- Axel Honneth ist Professor für Sozialphilosophie an der
ence and Philosophy an der Yale University, USA (III.12 Goethe-Universität Frankfurt am Main (II.1 Geschichts-
Verteidigung der Moderne). philosophie, Anthropologie und Marxismus; II.2. Frank-
Richard J. Bernstein ist Vera List Professor of Philosophy, furter Schule).
New School for Social Research, New York, USA (II.23 Mattias Iser ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut
Neopragmatismus). für Politikwissenschaft der Goethe-Universität Frank-
James Bohman ist Danforth Professor of Philosophy and furt am Main (IV.12 Kolonialisierung; IV.20 Macht;
Professor of International Studies, Saint Louis Univer- IV.27 Rationale Rekonstruktion).
sity, Saint Louis, USA (III.17 Völkerrechtsverfassung Rahel Jaeggi ist Professorin für Praktische Philosophie,
und Politik). Rechts- und Sozialphilosophie an der Humboldt-Uni-
Micha Brumlik ist Professor für Erziehungswissenschaften versität Berlin (III.3 Technik und Verdinglichung).
an der Goethe-Universität Frankfurt am Main (II.24 Jü- Christian Joerges ist Professor für Deutsches und Europä-
dische Philosophie; IV.15 Konservatismus). isches Privat- und Wirtschaftsrecht, Internationales Pri-
Hauke Brunkhorst ist Professor für Soziologie an der Uni- vatrecht an der Universität Bremen (II.18 Europäische
versität Flensburg (I. Intellektuelle Biographie; III.9 Verfassung; IV.6 Europäische Staatsbürgerschaft).
Platzhalter und Interpret; IV.26 Radikaler Reformismus; Dirk Jörke ist Politikwissenschaftler an der Universität
Greifswald (IV.13 Kommunikative Anthropologie).
IV.28 Rationalität und Rationalisierung).
Matthias Kettner ist Professor für Philosophie an der Uni-
Robin Celikates ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ex-
versität Witten/Herdecke (II.4 Pragmatizismus).
zellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnun-
Thomas Khurana ist wissenschaftlicher Mitarbeiter im Ex-
gen« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
zellenzcluster »Die Herausbildung normativer Ordnun-
(III.3 Technik und Verdinglichung).
gen« an der Goethe-Universität Frankfurt am Main
Jean L. Cohen ist Professor of Political Theory, Department (II.20 Dekonstruktivistische Diskurse).
of Political Science an der Columbia University, NY, Gertrud Koch ist Professorin für Filmwissenschaft an der
USA (II.17 Völkerrechtsverfassung). Freien Universität Berlin (IV.21 Massenkultur).
Felmon John Davis ist Associate Professor of Philosophy Andreas Koller ist Research Fellow am Social Science Re-
am Union College, Schenectady, NY, USA (II.25 Mono- search Council und an der New York University, New
theismus). York, USA (IV.16 Kontrafaktische Voraussetzungen).
Nicole Deitelhoff ist Professorin im Exzellenzcluster »Die Regina Kreide ist Vertretungsprofessorin für Politische
Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe- Theorie und Ideengeschichte an der Justus-Liebig-Uni-
Universität Frankfurt am Main (IV.1 Deliberation). versität Gießen (II.19 Gerechtigkeit und Rawls; IV.22
Klaus Eder ist Professor für Professor für vergleichende Menschenrechte).
Strukturanalyse an der Humboldt Universität Berlin Cristina Lafont ist Professor of Philosophy an der North-
(II.12 Evolutionstheorie). western University, Evanston, USA (II.5 Hermeneutik
Rainer Forst ist Professor für Politische Theorie und Philo- und linguistic turn; III.5 Kommunikative Vernunft; IV.14
sophie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main Kommunikatives Handeln).
(III.11 Diskursethik der Moral; IV.3 Diskursethik). Georg Lohmann ist Professor für Philosophie an der Otto-
Manfred Frank ist Professor für Philosophie an der Eber- von-Guericke Universität Magdeburg (II.16 Moral-Dis-
hard Karls Universität Tübingen (III.1 Schelling, Marx kurse; IV.23 Nachmetaphysisches Denken).
und Geschichtsphilosophie). Ingeborg Maus ist em. Professorin für Politische Theorie
Nancy Fraser ist Henry A. & Louise Loeb Professor of Phi- und Ideengeschichte an der Goethe-Universität Frank-
losophy and Politics New School for Social Research, furt am Main (II.9 Recht und Kant).
NY, USA (III.2 Theorie der Öffentlichkeit). Thomas McCarthy ist Professor Emeritus of Philosophy an
René Gabriëls ist Dozent am Institut für Philosophie an der Northwestern University und William H. Orrick
der Universität Maastricht, Niederlande (IV.11 Intellek- Visiting Professor an der Yale University, New Heaven,
tuelle). USA (III.7 Geschichte und Evolution).
388 V. Anhang

Christoph Menke ist Professor im Exzellenzcluster »Die choanalytic Studies Program, NY, USA (II.7 Psychoana-
Herausbildung normativer Ordnungen« an der Goethe- lyse).
Universität Frankfurt am Main (III.8 Aporien der kultu-
rellen Moderne).
Christoph Möllers ist Professor für Öffentliches Recht,
Staatsrecht, Rechtsvergleichung und Verfassungstheorie
an der Georg-August Universität Göttingen (III.13 De-
mokratie und Recht).
Stefan Müller-Doohm ist em. Professor für Soziologie mit
dem Schwerpunkt Interaktions- und Kommunikations-
theorien an der Carl von Ossietzky Universität Olden-
burg (I. Intellektuelle Biographie).
Patrizia Nanz ist Professorin am Institut für Interkulturelle
und Internationale Beziehungen (InIIS), Universität
Bremen (IV.24 Öffentlichkeit).
Marcelo Neves ist Professor für Staatstheorie an der Uni-
versität São Paulo, Brasilien (II.11 Systemtheorie; IV.7
Evolution; IV.31 System und Lebenswelt).
Rainer Nickel ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut
für Öffentliches Recht an der Goethe-Universität Frank-
furt am Main (IV.18 Legalität, Legitimität und Legitima-
tion; IV.32 Verfassungspatriotismus).
Andreas Niederberger ist Privatdozent und Wissenschaft-
licher Mitarbeiter am Institut für Philosophie der Goe-
the-Universität Frankfurt am Main (II.13 Macht-Dis-
kurse).
Peter Niesen ist Professor für Politische Theorie und Ideen-
geschichte an der Technischen Universität Darmstadt
(II.6 Sprechakttheorie).
Frank Nullmeier ist Professor für Politikwissenschaft an
der Universität Bremen (III.6 Spätkapitalismus und Le-
gitimation; IV.30 Spätkapitalismus).
Gertrud Nunner-Winkler war Leiterin der Arbeitsgruppe
für Moralforschung am Max Planck Institut für Kogniti-
ons- und Neurowissenschaft, München (II.10 Kognitive
Entwicklungspsychologie; IV.19 Lernprozesse).
William Rehg ist Associate Professor of Philosophy an der
Saint Louis University, Saint Louis, USA (III.4 Erkennt-
niskritik als Gesellschaftstheorie; IV.5 Erkenntnisinter-
esse).
Ali M. Rizvi ist Lecturer für Critical and Creative Thinking
an der University of Brunei Darussalam, Brunei (IV.25
Pragmatische Wende).
Hartmut Rosa ist Professor für Allgemeine und theoreti-
sche Soziologie an der Friedrich-Schiller-Universität
Jena (IV.8 Gesellschaft).
Martin Saar ist Wissenschaftlicher Assistent am Institut für
Philosophie der Goethe-Universität Frankfurt am Main
(IV.10 Ideologie).
William E. Scheuerman ist Professor of Political Science
and West European Studies an der Indiana University,
Bloomington, USA (II.3 Staatsrecht).
Rainer Schmalz-Bruns ist Professor für politische Ideen-
geschichte und Theorien der Politik an der Leibniz-Uni-
versität Hannover (II.15 Demokratie).
Thomas Schmidt ist Professor für Religionsphilosophie an
der Goethe-Universität Frankfurt am Main (III.16
Menschliche Natur und genetische Manipulation).
David Strecker ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Insti-
tut für Soziologie der Friedrich-Schiller-Universität Jena
(III.10 Theorie der Gesellschaft).
Joel Whitebook ist Director of Columbia University Psy-
389

4. Personenregister Bühler, Karl 37


Burke, Edmund 336
Bush, George W. 152, 344
Abendroth, Wolfgang 2, 3, 21, 23, 72, 75, 79, 96 Butler, Judith 5, 115, 247, 248, 251, 324
Ackerman, Bruce 269
Adenauer, Konrad 1, 3, 358 Calhoun, Craig 150
Adler, Max 4 Cassirer, Ernst 367
Castoriadis, Cornelius 243, 250
Adorno, Theodor W. 2, 3, 4, 5, 11, 17–21, 39, 40, 41, 57, Cheah, Pheng 381
106, 121, 124, 125, 144, 157, 165, 197, 205, 209, 217, 218, Chomsky, Noam 218, 365
219, 228, 241, 242, 275, 318, 319, 322, 323, 352, 363, 368, Clayton, Philip 130
371 Cohen, Hermann 121, 122, 126
Albrecht, Ernst 7 Cohen, Jean 113, 114, 227
Alexy, Robert 73, 74, 257 Cohen, Joshua 75, 80, 81
Allen, Amy 113, 114, 115, 251 Cooke, Maeve 130, 223
Althusser, Louis 324 Coole, Diana 113
Altvater, Elmar 193 Critchley, Simon 107
Anderson, Perry 23
Apel, Karl-Otto 10, 26, 27, 28, 105, 167, 181, 222, 234, 237, Dahrendorf, Ralf 1, 2, 3
239, 306, 307, 309, 339, 374 Danto, Arthur C. 251
Arendt, Hannah 2, 9, 69, 70, 121, 123, 125, 219, 260, 285, Danz, Christian 129
349, 350, 353, 354 Davidson, Donald 36, 38, 214
Aristoteles 82, 119, 156, 218, 279, 354 Dean, Jodi 113, 114
Assheuer, Thomas 131 Derrida, Jacques 5, 36, 38, 43, 44, 95, 104–107, 109, 110,
Austin, John L. 35, 37, 38, 178, 246, 247, 248, 251, 278, 111, 121, 126, 211, 216, 218, 243, 245, 246, 247, 248, 249,
281, 365 250, 251, 255, 337, 368
Descartes, René 41, 120, 138, 242
Baader, Franz Xaver von 136 Dewey, John 26, 116, 118, 119, 216, 364
Bächtiger, Andre 186 Dews, Peter 23, 31
Bakunin, Michail 134, 136, 137, 144 Dilthey, Wilhelm 168, 169, 170, 217, 310
Barber, Benjamin 380 Döbert, Rainer 188, 202
Bataille, Georges 217, 243, 244, 249, 337 Döllinger, Johann Joseph Ignaz von 136
Beauvoir, Simone de 248 Dummett, Michael 179
Becker, Oskar 1, 133 Durkheim, Émile 65, 218, 276, 278, 365, 374
Beckett, Samuel 40, 244 Dutschke, Rudi 6
Bellamy, Richard 297 Dworkin, Ronald 73, 74, 287, 288
Bell, Daniel 337
Benhabib, Seyla 84, 101, 113, 114, 115, 150, 238, 251 Edelman, Murray 193
Benjamin, Walter 121–124, 127, 133, 144, 206, 219, 352, Eder, Klaus 188, 202
363 Eisenstadt, Schmuel N. 226
Benn, Gottfried 250 Eley, Geoff 150
Bennington, Geoffrey 126 Enfantin, Prosper 134
Berger, Johannes 227 Engels, Friedrich 136, 137, 320
Bergson, Henri 124 Enzensberger, Hans Magnus 1, 2, 7
Bernstein, J. M. 251
Bernstein, Richard 244, 247, 251 Fassbender, Bardo 88
Birnbacher, Dieter 287 Feuerbach, Ludwig 41, 136, 138, 141
Bloch, Ernst 21, 122–124, 133, 144 Fichte, Johann Gottlieb 45, 137, 139, 142, 170, 219,
Blumenberg, Hans 281 311
Böckenförde, Ernst-Wolfgang 260 Fischer, Joschka 265, 270
Bohman, James 153, 250, 251 Fishkin, James S. 269
Böhme, Jakob 135, 141, 143 Fleming, Marie 112, 113
Bourdieu, Pierre 221, 225, 232 Flynn, Jeffrey 299
Brandom, Robert S. 116, 119, 120, 360, 367 Forsthoff, Ernst 2, 21, 24, 72, 77, 96, 97, 256, 337
Brandt, Willy 7 Forst, Rainer 84, 86, 101, 235, 258, 305, 306, 354
Brecht, Bertolt 244 Foster, Hal 209
Brunkhorst, Hauke 14, 18, 62, 88, 90, 102, 153, 155, 206, Foucault, Michel 5, 10, 11, 43, 69–71, 104, 109, 110, 111,
226, 251, 262, 265, 267, 303, 326, 340, 347, 349, 354, 355, 216, 218, 219, 221, 225, 242, 243, 244, 245, 246, 248, 249,
367 250, 251, 255, 326, 327, 337, 367
Buber, Martin 122 Fraenkel, Ernst 2, 22
Bubner, Rüdiger 173 Frank, Hans 1
Buchanan, James 294 Fraser, Nancy 112, 113, 114, 153, 227, 229, 249, 251
390 V. Anhang

Frege, Gottlob 35 Jay, Martin 246


Freud, Sigmund 39, 41, 42, 170, 171, 174, 218, 279, 311, Jencks, Charles 212
367, 368 Joas, Hans 227
Freyer, Hans 2 Jodl, Alfred 1
Friedrich Wilhelm IV., König von Preußen 135 Johnson, Pauline 112, 114
Frug, Jerry 73 Jonas, Hans 250
Fuhrmans, Horst 135 Jünger, Ernst 2, 337

Gadamer, Hans-Georg 33, 34, 42, 167, 200, 217, 310 Kaltenbrunner, Ernst 1
Galen 368 Kant, Immanuel 4, 25, 26, 41, 47–57, 75, 79, 82, 83, 84, 88,
Gaulle, Charles de 268 89, 90, 99, 109, 116, 118, 119, 120, 128, 129, 138, 139,
Gehlen, Arnold 2, 15, 16, 157, 197, 256, 336, 337 140, 144, 166, 210, 214, 215, 216, 217, 219, 236, 250, 256,
Gert, Bernard 61 257, 258, 259, 262, 274, 275, 279, 280, 287, 292, 293, 294,
Gidden, Anthony 221 296, 299, 306, 307, 338, 339, 348, 379, 380
Gilligan, Carol 100, 101, 237 Kautsky, Karl 137
Giscard d’Estaing, Valéry 268 Keat, Russell 172
Globke, Heinrich 3 Keitel, Wilhelm 1
Goethe, Johann Wolfgang 123 Kelsen, Hans 2, 24, 73, 93, 266
Göring, Herrmann 1 Kennedy, Duncan 73
Görres, Johann Joseph von 136 Kierkegaard, Søren 86, 133, 134, 135, 137, 139, 219, 279,
Gramsci, Antonio 150, 324 282, 289, 290
Grass, Günther 1, 2, 3 Kirchheimer, Otto 22, 23, 24, 75, 79
Grice, H. Paul 36, 38 Klinger, Claudia 115
Grimm, Dieter 261, 266, 379 Kluge, Alexander 1, 2, 148, 149, 150, 349
Günther, Klaus 83, 88, 101, 237, 257 Kneer, Georg 229
Kogon, Eugen 2
Hart, H. L. A. 73 Kohlberg, Lawrence 41, 58, 59, 60, 85, 100, 140, 195, 202,
Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 2, 4, 11, 23, 39, 42, 48, 82, 234, 235, 236, 237, 306, 315, 347, 365
83, 84, 119, 122, 133, 134, 135, 136, 137, 139, 141, 144, Kohl, Helmut 1, 12
145, 146, 156, 167, 168, 214, 215, 216, 218, 219, 242, 243, Kreide, Regina 103, 355
244, 257, 336, 337, 356, 367 Kristol, Irving 337
Heidegger, Martin 2, 3, 5, 15, 29, 30, 31, 32, 44, 45, 46, 109, Kuhn, Thomas S. 165
110, 126, 133, 138, 139, 157, 158, 217, 219, 243, 244, 245,
249, 250, 290, 337, 368 Laclau, Ernesto 324
Heine, Heinrich 134, 136, 325 Lafont, Cristina 92, 299
Held, David 153, 293, 294, 295, 296 Landes, Joan 113, 114
Heller, Hermann 21, 75, 79, 96, 97 Langthaler, Rudolf 129
Hennis, Wilhelm 197 Lasaulx, Ernst von 135
Henrich, Dieter 45, 141, 210, 356, 357 Le Corbusier (eigtl. Charles Jeanneret) 211
Heß, Moses 134 Lefort, Claude 267
Hess, Rudolf 1 Leibniz, Gottfried Wilhelm 137
Hilferding, Rudolf 371 Lenin (eigtl. Uljanow), Wladimir Iljitsch 137, 139,
Hitler, Adolf 1, 133 362
Hobbes, Thomas 224 Leroux, Pierre 134, 136
Höffe, Otfried 331 Lessing, Gotthold Ephraim 142
Honneth, Axel 163, 198, 227, 232, 238, 249, 251, 318, 332, Lévinas, Emmanuel 111, 126
366 Lévi-Strauss, Claude 245
Horkheimer, Max 2, 4, 5, 11, 17–21, 39, 40, 41, 124, 127, Lewis, David 44
157, 197, 228, 241, 242, 275, 318, 319, 322, 323, 352 Linz, Juan 269
Hoy, David 247 Locke, John 242, 287
Humboldt, Wilhelm von 304 Lorenzen, Paul 217, 234, 235
Hume, David 83, 196, 242, 278, 279, 336 Lorenzer, Alfred 170
Husserl, Edmund 31, 138, 374 Löwenthal, Leo 4
Huyssen, Andreas 209 Löwith, Karl 2, 134, 135, 240
Lübbe, Hermann 1, 3, 24
Ionesco, Eugène 244 Luhmann, Niklas 1, 2, 3, 4, 16, 24, 32, 61–65, 66, 67, 79,
Ipsen, Hans Peter 96 162, 188, 195, 197, 199, 201, 219, 221, 227, 232, 275, 315,
Iser, Mattias 229 318, 320, 337, 346, 367, 368
Lukács, Georg 11, 21, 133, 156, 157, 218, 228, 240, 242,
Jameson, Fredric 324 319
James, William 116 Luria, Isaak 135, 139, 143, 144
Jaspers, Karl 2, 133, 290 Lyotard, Jean-François 209, 242, 244, 245, 246
4. Personenregister 391

Mach, Ernst 166 Popper, Karl 165, 166, 217, 254


MacIntyre, Alasdair 84, 85 Putnam, Hilary 57, 116, 118, 119, 120, 214, 238
Maihofer, Andrea 113, 114
Mandel, Ernest 193 Quine, Willard V. O. 214, 217, 218
Mann, Thomas 2
Marcuse, Herbert 4, 7, 17, 18, 32, 39, 144, 157, 159, 172, Raberger, Walter 132
188, 241, 318, 322, 323, 363, 371, 372 Ratzinger, Joseph (Kardinal, Papst Benedikt XVI.) 130,
Marquard, Odo 1 131, 273
Marx, Karl 4, 6, 8, 11, 15–17, 18, 21, 32, 39, 61, 62, 64, 65, Rau, Johannes 1
66, 67, 68, 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 140, 142, Rawls, John 4, 46, 61, 85, 87, 99–104, 235, 236, 237, 256,
143, 144, 145, 146, 155, 156, 167, 168, 171, 188, 189, 190, 289, 294, 308, 342, 344, 381
198, 215, 216, 217, 218, 219, 220, 227, 228, 229, 240, 242, Raz, Joseph 73
269, 302, 311, 318, 319, 320, 321, 329, 352, 371, 372, Reagan, Ronald 337
373 Ribbentrop, Joachim von 1
Maus, Ingeborg 75, 78, 79, 80, 101 Ricœur, Paul 41, 42
Maximilian II, König von Bayern 135 Ridder, Helmut 75, 77, 78, 79
McCarthy, Thomas 84, 198, 227, 251, 287, 288 Riegel, Klaus F. 59
McCormick, Neil 73 Risse, Thomas 299
Mead, George Herbert 85, 100, 116, 119, 139, 218 Ritter, Joachim 2, 257, 337
Menke, Christoph 247, 251 Rohe, Mies van der 211
Merleau-Ponty, Maurice 240 Rorty, Richard 26, 85, 106, 116, 117, 118, 120, 214, 216,
Mills, C. Wright 340 217, 218, 219, 225, 244, 245, 364
Minow, Martha 114 Rosenberg, Alfred 1
Mirecourt, Johannes von 281 Rosenzweig, Franz 122
Misgeld, Dieter 226 Rothacker, Erich 2, 15, 133
Möller, Christoph 90 Rousseau, Jean-Jacques 51, 90, 144
Mommsen, Hans 1, 3 Ruge, Arnold 136
Mommsen, Wolfgang 1, 3 Ryan, Mary 150
Moore, Barrington 349
Moszkowska, Natalie 371 Sandel, Michael 256
Mouffe, Chantal 324 Sartre, Jean-Paul 138, 290, 327
Musil, Robert 324 Sauckel, Fritz 1
Saussure, Ferdinand de 245
Nagel, Thomas 85, 87, 102, 287, 288 Scanlon, Thomas M. 85, 100
Nagl-Docekal, Herta 129 Scharpf, Fritz W. 193
Nassehi, Armin 367 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 16, 122, 133, 134,
Negt, Oskar 148, 149, 150 136, 137, 138, 139, 140, 141, 142, 143, 144, 145, 146, 219
Neumann, Franz L. 2, 21, 23, 24, 75, 79 Schelling, Karl Friedrich August 135
Nietzsche, Friedrich 39, 44, 99, 109, 197, 242, 243, 244, Schelsky, Helmut 2, 160, 197, 326
247, 248, 249, 276, 337 Scheuerman, William E. 92, 151, 299
Norris, Christopher 247 Schiller, Friedrich 243
Nunner-Winkler, Gertrud 188 Schlegel, Friedrich 144
Nussbaum, Martha 61 Schluchter, Wolfgang 225
Schmalz-Bruns, Rainer 92
Oetinger, Friedrich Christoph 135, 140 Schmitt, Carl 2, 21–25, 62, 63, 75, 76, 79, 96, 195, 250, 265,
Offe, Claus 7, 188, 193, 194, 198, 228, 372, 373 337, 346
Schnädelbach, Herbert 222
Parmenides 276, 277 Scholem, Gershom 121, 122, 123, 127
Parsons, Talcott 2, 4, 19, 32, 65, 67, 69, 188, 189, 201, 202, Schönberg, Arnold 40, 209
255, 315, 353, 368 Schröder, Gerhard 12
Pauer-Studer, Herlinde 115 Schulz, Walter 133, 134
Paz, Octavio 206 Schumpeter, Joseph A. 197, 371
Peirce, Charles Sanders 2, 26, 57, 116, 168, 169, 170, 196, Schütz, Alfred 31, 167
217, 309, 339 Schwemmer, Oswald 234
Peters, Bernhard 340, 359 Searle, John R. 35, 37, 38, 178, 246, 247, 365
Piaget, Jean 41, 58, 59, 60, 140, 195, 202, 218, 315, 347, Seel, Martin 86, 223, 238, 251
365 Seyß-Inquart, Arthur 1
Platon 45, 138, 327, 356 Siep, Ludwig 287, 288
Plessner, Helmuth 332 Sinzheimer, Hugo 21
Plotin 277, 278 Slaughter, Anne-Marie 294, 298
Podhoretz, Norman 337 Sloterdijk, Peter 99
Pollock, Friedrich 241 Sokrates 243
392 V. Anhang

Sombart, Werner 371 Trubek, David 73


Sontheimer, Kurt 326 Tugendhat, Ernst 86, 223
Spaemann, Robert 250, 287
Spinoza, Baruch de 137, 141 Walker, Neil 92
Spörndli, Markus 186 Walzer, Michael 87, 256, 344
Steenbergen, M. R. 186 Warner, Michael 150
Steiner, Jörg 186 Weber, Max 18, 19, 23, 39, 62, 63, 67, 69, 156, 159, 160,
Stepan, Alfred 269 195, 201, 206, 210, 218, 223, 224, 228, 230, 240, 241, 242,
Sternberger, Dolf 261, 313, 378 257, 319, 325, 340, 345, 350, 365, 368
Strauss, Leo 2, 250 Weber, Werner 24, 77
Strawinsky, Igor 209 Wehler, Ulrich 1, 2
Strawson, Peter F. 36, 37, 235 Weiler, Joseph H. H. 95
Strecker, David 231 Weiss, Peter 208, 213
Streicher, Julius 1 Wellmer, Albrecht 40, 209, 237, 251
Striet, Magnus 275 Wieland, Wolfgang 143
Winch, Peter 167
Taylor, Charles 30, 84, 85, 256, 378, 380 Wingert, Lutz 238, 305
Teubner, Gunther 298 Wittgenstein, Ludwig 18, 31, 167, 217, 250
Theunissen, Michael 173
Thomas von Aquin 82 Young, Iris Marion 113, 114
Tillich, Paul 124
Tilliette, Xavier 133 Zimmermann, Rolf 223
Tocqueville, Alexis de 269 Žižek, Slavoj 324
Toulmin, Stephen 196

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