Академический Документы
Профессиональный Документы
Культура Документы
16
Goldberg, spiele mir doch eine von meinen ehe Bach sie als Thema wählte, doch geht die Musik-
Variationen. Bach ist vielleicht nie für eine seiner forschung heute davon aus, daß sie ausdrücklich zu
Arbeiten so belohnt worden, wie für diese. Der Graf diesem Zweck komponiert und dann in zwei frei-
machte ihm ein Geschenk mit einem goldenen gebliebene Seiten des Notenbüchleins kopiert wurde. Das
Becher, welcher mit 100 Luisd’or angefüllt war. ist eher unerheblich; von Bedeutung sind Charakter und
Allein ihr Kunstwerth ist dennoch, wenn das Rhythmus des Stücks—eine würdevolle, gesetzte
Geschenk auch tausend Mahl größer gewesen wäre, Sarabande voller Zärtlichkeit und Selbstsicherheit. Es ist
damit noch nicht bezahlt. hochverziert in der französischen Manier—d.h. die
Ornamente sind unverzichtbarer Bestandteil der Melodie-
Manche Musikforscher wollen aus verschiedenen linie, nicht beliebige Beigaben. Allerdings dient nicht die
Gründen nicht recht an Forkels Darstellung glauben. Melodie, sondern der Baß oder genauer die von ihm
Erstens war dem Werk bei seiner Veröffentlichung 1742 vorgegebene Harmonisierung als Grundlage der dreißig
keine Widmung beigegeben. Bach nannte es schlicht folgenden Variationen. Durchweg finden wir die gleiche
Clavier Übung bestehend in einer ARIA mit ver- harmonische Grundstruktur von jeweils vier achttaktigen
schiedenen Veraenderungen vors Clavicimbal mit 2 Phrasen vor (oder viertaktigen, je nach Vorzeichen): Die
Manualen. Denen Liebhabern zur Gemüths-Ergetzung erste etabliert die Tonika G-Dur, die zweite geht zur
verfertiget (eine „sehr nüchterne Beschreibung für ein so Dominante über; nach dem Doppelstrich (Wiederholung)
großartiges Werk“, wie Glenn Gould angemerkt hat). geht sie von der Dominante zur Paralleltonart (e-Moll)
Zweitens wäre Goldberg zur betreffenden Zeit erst über, wodurch die Spannung erhöht wird, ehe die letzten
vierzehn oder fünfzehn Jahre alt gewesen—wogegen acht Takte zur Tonika zurückkehren (danach wird die
einzuwenden wäre, daß es damals ebenso wie heute zweite Hälfte wiederholt). Drei der Variationen stehen in
sicherlich Wunderkinder gegeben hat. Wäre er nicht mit g-Moll, wobei e-Moll durch Es-Dur ersetzt wird, was die
neunundzwanzig Jahren verstorben, hätten wir vielleicht eher dunkle Stimmung etwas aufheitert (außer in der
mehr über die Entstehungsgeschichte des Werks in bemerkenswerten Variation 25, die düster bleibt, indem
Erfahrung bringen können. Und schließlich wird in Bachs sie es-Moll durchläuft).
Nachlaß kein goldener Becher erwähnt, dafür aber ein als Auf dieser soliden Grundlage errichtet Bach ein
äußerst wertvoll erachtetes Tabakkästchen aus gold- großartiges Bauwerk, das ebenso wohlproportioniert wie
gefaßtem Achat. Ob die Geschichte stimmt oder nicht, tut erstaunlich vielfältig ist. Die Variationen sind in Dreier-
eigentlich nichts zur Sache. Es ist und bleibt eine gute gruppen zusamengefaßt, und jede dritte Variation ist ein
Geschichte (und ein guter Titel!), die zweifellos immer Kanon, dessen zwei Oberstimmen in strenger Imitation
mit diesem monumentalen Werk in Verbindung gebracht verlaufen—angefangen mit dem Einklang in der Variation
werden wird. 3 und dann jeweils eine Stufe aufsteigend, so daß die
Die Aria, die Bach als Thema für seine Variationen Variation 27 ein Kanon in der None ist. Diese Variationen
benutzt, erscheint in einem Notenbuch mit Stücken, die gehören zu den am ehesten sanglich angelegten und sind
Bach 1725 für seine zweite Frau Anna Magdalena zu so raffinert konstruiert, daß wir ihnen zuhören können,
sammeln begann. Noch bis vor kurzem glaubte man, daß ohne auf ihren Aufbau zu achten, obwohl dessen Kenntnis
sie schon mindestens zehn Jahre existiert haben müsse, natürlich den Genuß und das intellektuelle Vergnügen
17
erhöht. Jede Gruppe beginnt mit einer freien Variation (oft spielerischer Imitation von einer Stimme zur anderen,
einem Tanz verwandt, aber doch ausgesprochen kontra- und Synkopen machen das Stück noch interessanter. Es
punktisch). Die zweite Variation einer Gruppe ist jeweils bereitet uns bestens auf die erste der brillanten Tokkaten
eine Tokkata für zwei Tastaturen—die brillantesten vor. Die Variation 5 bedient sich der italienischen
Stücke gehören dieser Gattung. Hier hätte Goldberg Variante des Überschlagens, bei der eine Hand gefährliche
wahrhaftig Gelegenheit gehabt, seine Virtuosität zu Sprünge über die andere ausführt. Die linke Hand ist
beweisen. zuerst am Zuge, bald gefolgt von der rechten, wenn Bach
Die Variation 1 etabliert die frohe Stimmung, die für typischerweise den Kontrapunkt umkehrt. Es ist dies, wie
einen großen Teil des Werks charakteristisch ist. Sowohl Wanda Landowska gesagt hat, ein Ausbruch unbändiger
die Sprünge als auch der Rhythmus der linken Hand im Freude. Vor der nächsten Tokkata haben wir die Chance,
ersten Takt gelten in Bachs Musik als Freudenmotive uns ein wenig zu beruhigen. Die Variation 6 ist ein Kanon
(beispielsweise im As-Dur-Präludium aus dem ersten in der Sekunde, und welch besseres Motiv gäbe es dafür
Band des Wohltemperierten Claviers). Diese zwei- als eine absteigende Tonleiter? Sie alterniert wunderbar
stimmige Invention gibt uns einen Vorgeschmack auf das zwischen Auf und Ab, und die Art, wie sich die nach-
Überkreuzen der Hände, das in späteren Variationen so in folgende Stimme der Leitstimme an die Fersen heftet, hat
den Vordergrund rücken wird. Die einzige Abweichung etwas Zärtliches.
vom Schema der Tokkata an zweiter Stelle ist die Das Autograph der „Goldberg-Variationen“ ist zwar
Variation 2, die uns anfangs damit neckt, daß sie fast als verlorengegangen, doch wir besitzen ein Exemplar der von
Kanon daherkommt. Es handelt sich um eine schlichte Balthasar Schmid in Nürnberg herausgegebenen Original-
dreistimmige Invention, vergleichbar dem Kleinen ausgabe mit eigenhändigen Anmerkungen von Bach (ein
Präludium in D-Dur BWV936, mit zwei fortlaufend sog. Handexemplar). Da es erst 1974 wiederentdeckt
dialogisierenden Stimmen über einem durchlaufenden wurde, enthalten nur Ausgaben, die nach diesem Datum
Baß. Vielleicht meinte Bach, wir bräuchten ein wenig erschienen sind, die daraus gezogenen Schlüsse. Dort
mehr Anlaufzeit, ehe der wahre Übermut einsetzt! Es folgt sind mehrere Tempoangaben hinzugefügt, insbesondere
der erste Kanon in der Variation 3—hier im Einklang „al tempo di Giga“ für die Variation 7. Vermutlich wollte
geführt (d.h. die Oberstimmen setzen im Abstand eines Bach verhindern, daß ein zu langsames Tempo an-
Taktes auf der gleichen Note ein). Die Taktvorgabe
12 geschlagen und eine siciliana oder forlana daraus wurde.
8 deutet auf eine Stimmung pastoraler Schlichtheit mit Tatsächlich handelt es sich um eine französische Gigue
tänzerischem Anflug hin. Da die Kanonstimmen so eng ähnlich der in der Französischen Ouvertüre BWV831. Ihre
beieinander liegen und mit der gleichen Hand gespielt punktierten Rhythmen und präzisen Verzierungen
werden, bedeutet es eine Herausforderung, sie so machen sie zu einer der attraktivsten Variationen. In der
voneinander abzuheben, daß der Hörer in die Lage Variation 8 treten wieder technische Schwierigkeiten auf,
versetzt wird, ihr ständiges Überkreuzen zu erfassen (dies mit tückischem Überkreuzen der Hände. Dies ist
ist natürlich auf dem Klavier eher möglich als auf dem Überschlagen im französischen Stil, bei dem beide Hände
Cembalo). In den ersten vier Takten legt die linke Hand gleichzeitig im selben Bereich der Tastatur spielen. Auf
die Harmonien einfach und elegant dar, um sich dann dem Klavier ergeben sich daraus besondere Probleme,
eingehender mit dem Ausfüllen der Struktur
3 zu befassen. und große Sorgfalt ist nötig, um das Ganze nicht wirr
Ein rustikal klingender Tanz im 8-Takt bildet die klingen zu lassen. Wie bei allen Tokkatenvariationen ist es
Variation 4. Die ersten drei Noten springen ständig in wohl hilfreich, die eine oder andere Note oder Passage auf
18
die andere Hand als die ursprünglich vorgesehene zu rhythmen), versetzt uns die Nummer 13 erstmals richtig
übertragen—vorausgesetzt, die Stimmführung bleibt in Verzückung. Ihre zarte, cantabile geführte Melodie, die
absolut klar. Auch der Rhythmus der Variation 8 kann zu einem langsamen (aber nicht zu langsamen!) Konzertsatz
Verwirrung führen; wer nicht6 die Partitur
3 vor Augen hat, gleicht, schwingt sich über die Begleitstimmen auf, und
läuft Gefahr, den Anfang im 8- statt 4-Takt zu hören. Das zwar unter Verwendung einiger Geigenfigurationen und
beste dürfte wohl sein, die Taktschläge ein wenig zu zweitöniger „Seufzer“ in den Kadenztakten. Ein wenig
betonen, um jede Irreführung zu vermeiden. Die Hände Chromatik in der linken Hand gegen Ende steigert unsere
bewegen sich abwechselnd voneinander fort und aufein- Glückseligkeit noch. Im selben Bereich der Tastatur, aber
ander zu—fast wie bei einer technischen Übung—, mit einem Wechsel der Hände, weckt uns Bach mit einem
wobei das Überkreuzen der Arme einen optischen Anreiz scharfen, fröhlichen Mordent, der die Variation 14 ein-
bietet. Der nächste Kanon, die Variation 9, steht im leitet, aus unserer Träumerei. Dieser Mordent ist dann
Intervall einer Terz. Wunderbar lyrisch, fließend, doch auch das bestimmende Element einer Passage, die uns
bedächtig, wird seine Ausdruckskraft noch von einer über den gesamten Umfang seiner Tastatur hinabführt
aktiveren Baßlinie als in den vorangegangenen Kanons (nach dem Doppelstrich wird daraus ein Aufstieg). Man
unterstützt. schärft uns immer wieder ein, daß Verzierungen in der
Die Variation 10 ist eine vierstimmige Fughetta— Barockmusik stets auf dem Takt auszuführen sind, aber
vom Wesen her ausgesprochen liebenswürdig, erinnert sie hier schreibt Bach sie vollständig aus, und zwar vor dem
mich an den D-Dur-Marsch aus dem Notenbuch für Anna Takt. So viel zu den Regeln! Nach diesem brillanten Erguß
Magdalena, der ebenfalls „alla breve“ markiert ist (und präsentiert uns die Variation 15 einen Kanon in der
heute dem Bach-Sohn Carl Philipp Emanuel Quinte und die erste der Variationen in Moll. Ich halte es
zugeschrieben wird). Weiteres Überkreuzen der Hände für passend, daß er in Gegenbewegung geführt ist, da der
kommt in der Variation 11 vor,12einer sanften, an eine Abstieg nach unten mit seinen „seufzenden“, aus der
Gigue gemahnenden Tokkata im 16-Takt, die großes Fein- Variation 13 übernommenen Figuren ausnehmend
gefühl verlangt. Sie verwendet einander überkreuzende kummervoll wirkt, das aufsteigende Gegenstück hingegen
Tonleitern (die auch auf einer Tastatur nahtlos klingen Hoffnung bringt. Bach war in seiner tiefen Gläubigkeit
müssen) sowie einige kapriziöse Arpeggien und Triller, außerstande, völlige Verzweiflung zu akzeptieren, und
und am Schluß löst sich das Ganze in Luft auf. Danach diese Variation ist ein perfektes Beispiel dafür, wie er dies
bietet uns Bach den ersten Kanon in Umkehrung (d.h., in seiner Musik zum Ausdruck2 gebracht hat. Das Tempo
die zweite Stimme steht in Gegenbewegung zur ersten). ist mit „Andante“, der Takt als 4 angegeben, also muß das
Die Variation 12, ein Kanon in der Quarte, ist die erste Stück trotz seiner Trauer fließen. Die Baßlinie nimmt
Variation, bei der die Stimmen nach dem Doppelstrich die vollen Anteil an dem Drama, indem sie die Seufzer und
Führungsrolle wechseln. Ich finde ihn vom Charakter her weitgespannten Intervalle der Oberstimmen imitiert. Ganz
ausgesprochen majestätisch und meine daher, daß er am Schluß wird ein wunderbarer Effekt erzielt: Die Hände
nicht übereilt werden darf. bewegen sich voneinander weg, und die rechte verharrt
Damit kommen wir zur Variation 13—einer der voll- über einer leeren Quinte in der Luft. Dieses allmähliche
endetsten, die nach meinem Empfinden gewissermaßen Abklingen, das uns voller Ehrfurcht, aber in Erwartung
ein emotionaler Wendepunkt des Werks ist. Während die des Weiteren zurückläßt, ist ein passender Abschluß zur
meisten der vorangegangenen Variationen eher erdver- ersten Hälfte des Werks.
bunden sind (wenn auch mit wunderbaren Tanz- Die „Goldberg-Variationen“ werden allgemein als
19
vierter Teil von Bachs Clavierübung angesehen, obwohl er vollkommen unter Kontrolle hat. Dennoch handelt es sich
sie nicht ausdrücklich als solchen bezeichnet hat. Der keineswegs nur um ein technisches Renommierstück. Die
erste Teil umfaßte die sechs Partiten, der zweite das Noten sind nichts ohne den reichlich vorhandenen Spaß
Italienische Konzert und die Französische Ouvertüre, der und Humor, insbesondere dann, wenn er in den Takten
dritte verschiedene Orgelkompositionen sowie die Vier 25 bis 28 „Batterien“ (staccato gebrochene Akkorde) zum
Duette. In jedem Teil nehmen französische Ouvertüren Einsatz bringt. Wie es für Bach typisch ist, folgt auf die
einen bedeutenden Platz ein: Als Anfang der vierten Partita freudigsten Momente ein völliger Stimmungswechsel, und
in D-Dur, wiederum als Anfang des entsprechenden Werks die Variation 21 führt uns höchst wirkungsvoll zurück
im zweiten Teil und als Vorspiel des Präludiums und Fuge zur Tonart g-Moll. Die Ausdrucksfülle dieses Kanons in
für Orgel in Es-Dur im dritten. In den „Goldberg- der Septime wird durch den chromatischen Abstieg des
Variationen“ eröffnet sie als Variation 16 feierlich Basses betont, der im dritten Takt das wirbelnde
die zweite Hälfte mit Pracht und Pomp. Sie besteht aus Eröffnungsmotiv des Kanons aufnimmt. Er ist wahrhaftig
zwei Teilen: Der erste—höchst grandios mit Tonleiter- ergreifend (vor allem das unverhoffte, wunderbare F ohne
läufen, brillanten Trillern und nachdrücklich punktierten Vorzeichen im letzten Takt), sollte aber nicht ungebühr-
Rhythmen—führt uns bis zur Dominante im sech- lich langsam angegangen werden. Echtes Pathos in Moll
zehnten Takt. Nach der Wiederholung folgt ein schnellerer, steht noch bevor.
fugaler Abschnitt, wie er in französischen Ouvertüren Mit Beginn der Variation 22 überkommt mich immer
üblich ist. Hier ist die Struktur viel transparenter, ein Gefühl der Neugeburt. Dafür ist teilweise die Rückkehr
aber immer noch ausgesprochen3 orchestral, und wir nach G-Dur verantwortlich, aber auch die Solidität des
bekommen zwei schnelle, 8 markierte Takte für jeden vierstimmigen Satzes. „Alla breve“ markiert und unter
Takt der ursprünglichen Harmonisierung geboten. Verwendung von viel imitativem Dialog im Stil einer
Die Variation 17 ist eine lebhafte, leichtfüßige Motette scheint sie eine Sequenz einzuleiten, die wunder-
Tokkata, bei der Bach offensichtlich großes Vergnügen voll zum Abschluß des Werks hinleitet. Für jemanden, der
daran hat, für zwei Tastaturen zu schreiben. Auf dem mit dem Stück genauestens vertraut ist, kommt nun das
Klavier spielen die beiden Hände oft übereinander. Bach Ende in Sicht, und wir wissen, wohin wir uns wenden
setzt die gute Laune in der Variation 18 fort, einem müssen, um dorthin zu gelangen. Bach treibt seinen Spaß
Kanon in der Sexte. Viel von dieser guten Laune kommt in mit der Variation 23, in der die Hände gewissermaßen
der Baßlinie zum Ausdruck, die vergnügt unter den Fangen miteinander spielen und unterwegs alle
beiden kanonischen Stimmen umherhüpft, für die möglichen Kunststücke vollführen. Am Schluß turnen sie
Vorhalte angesagt sind. übereinander weg (Takte 27 bis 30) und beenden ihre
Die Variation 19 ist im Stil eines passepied akrobatische Nummer brillant zusammen auf dem letzten
38gehalten—eines zierlichen, charmanten Tanzes im
-Takt. Verschiedene Spielweisen können angewandt
Akkord! Diese Schauer von Terzen- und Sextenparallelen
gehen wahrhaft an die Grenzen der damals bekannten
werden, um die drei Motive zur Geltung zu bringen, Klaviertechnik und bereiten zukünftigen Komponisten
indem man die Intonation der Wiederholungen variiert. den Weg. Wiederum macht sich dieses herrliche
Der Interpret hat Gelegenheit, sich ein wenig zu erholen, Empfinden von Freude und Entzücken nicht nur an der
ehe die gefährlichste aller Tokkaten einsetzt, die Musik selbst, sondern auch an ihrer Ausführung
Variation 20. Hier schreibt Bach eindeutig für einen bemerkbar. Nach derlei Possen schafft der Kanon in der
Solisten, der keine Furcht kennt und sein Instrument Oktave der Variation 24 ein schönes Gefühl der Ruhe
20
und
18
aber 3dennoch zwei Takte vor: 16 für die Sechzehntelläufe
98-TaktGelassenheit. Es handelt sich um eine Pastorale im
und um den einzigen Kanon, bei dem mitten in
18
und 4 für die Begleitakkorde, wobei die 16 am Ende den
einem Abschnitt die Leitstimme wechselt (Takte 9 und Sieg davontragen, wenn sich beide Hände in den letzten
24). Die große Terz in der rechten Hand im letzten Takt ist fünf Takten zu ihren Läufen aufmachen. Die Vorschläge
die perfekte Überleitung zur kleinen Terz der linken Hand, auf dem jeweils zweiten Schlag des Takts (die ich bei
mit der die nächste Variation beginnt. Allerdings ändert den Wiederholungen hinzufüge) stammen aus dem
sich zwischen diesen beiden Akkorden die Atmosphäre Handexemplar und sind nicht in allen Druckausgaben
total. enthalten. Sie sind effektvoll, wenn einem danach ist,
Die Variation 25 ist zweifellos die großartigste von noch mehr Noten hinzuzugeben! Wer diese Variation
allen und verlangt dem Interpreten das Äußerste an erfolgreich hinter sich gebracht hat, kann das Gefühl
musikalischem Können und Ausdruckskraft ab. Bach auskosten, sich nun auf der Zielgerade zu befinden.
kehrt zum Rhythmus der einleitenden Sarabande zurück Der letzte Kanon, Variation 27, steht in der None und
und schreibt ein Arioso von großer Intensität und ist der einzige, bei dem Bach auf den stützenden Baß
schmerzlicher Schönheit, dessen qualvolle Chromatik verzichtet hat. Naturgemäß im harmonischen Rahmen
beweist, daß die Romatik keineswegs in weiter Ferne seines Themas verbleibend, plappern die beiden
liegt. Dieses Stück, von Wanda Landowska treffend als kanonischen Stimmen in freundlichem, ein wenig mit
„schwarze Perle“ bezeichnet, ist wegen seines langsamen Schabernack versetzem Zwiegespräch und verstummen
Tempos (von Bach in seinem Handexemplar „Adagio“ dann äußerst abrupt. Anschließend stimmt Bach die
markiert) viel länger als die anderen Variationen, obwohl Variation 28 an, eine vorbildliche Übung in aus-
es die gleiche Anzahl von Takten aufweist. Die Verzierung geschriebenen Trillern. Die anhaltend freudige Stimmung
des wiederholten Tons zu Beginn, die Bach oft in leiden- äußert sich in den weiten Sprüngen, die diese Triller
schaftlicher Musik für einen Sextsprung genutzt hat, ist begleiten, sowie in den glockenartigen Tönen, die den Takt
wunderbar ausdrucksvoll und ausgesprochen sanglich— angeben. Ein gutes Klavier mit leichtem Anschlag und
Chopin hat sie sich zu eigen gemacht und unablässig besonders klarem Ton ist vonnöten, um dieses Stück
eingesetzt. Der endgültige Abstieg der Melodie endet mit befriedigend darzubieten. Ohne eine Ruhepause zuzu-
einem dissonanten Vorschlag auf der Tonika, wonach die lassen beginnt die letzte der Tokkaten, die Variation 29,
Spannung abgebaut wird. Wie bei Bachs bedeutendsten mit fröhlichen Trommelschlägen der linken Hand, gefolgt
Werken dieser Art (ich denke z.B. an die Sarabande aus von Akkorden, die auf beiden Tastaturen (oder in diesem
der Sechsten Partita) haben wir auch hier das Gefühl, die Fall auf einer) heruntergehämmert werden. Das Ver-
Außenwelt dürfe diesen privatesten aller Momente nicht doppeln der Oktavsprünge der linken Hand liefert die
stören. benötigte zusätzliche Intensität. Ich meine, das Stück
Das schwerste bei einer vollständigen Darbietung der sollte fast wie eine freie Improvisation einsetzen, aber bei
„Goldberg-Variationen“ ist, die für die Variation 26 den folgenden abfallenden Tonkavalkaden streng den Takt
benötigte Energie und Konzentration zu sammeln, nach- einhalten. Wenn einem bei der Trillervariation Beethoven
dem man in der Nummer 25 alles gegeben hat. Nach in den Sinn kommt, dann ist sicherlich bei dieser Liszt
wenigen Sekunden Unterbrechung ist man einer weiteren nicht weit entfernt! Sie leitet uns triumphal in die
virtuosen Tokkata ausgeliefert, bei der dauernd die Arme Variation 30 über, bei der wir einen Kanon in der Dezime
überkreuzt werden. Bach behält den Sarabanden- erwarten—aber Bach hat immer eine Überrraschung
rhythmus bei, wenn auch natürlich viel schneller, gibt parat. In diesem Fall ist es ein Quodlibet (wörtlich: „was
21
beliebt“). Das Quodlibet war eine Art musikalischer sich um Karten bemühe, um die Goldberg-Variationen zu
Scherz, in dem populäre Lieder, gewöhnlich gegen- hören, stimme sie traurig und niedergeschlagen. Es
sätzlichen Charakters, gegeneinandergestellt wurden. Das könne sich nicht um Liebe zur Musik handeln, denn die
konnte bei einer Familienfeier geschehen, gewöhnlich sei den Menschen unbekannt. Sie wären von der
nach einer herzhaften Mahlzeit mit viel Bier und Wein. schlichten Neugier besessen, einen Virtuosen mit dem
Wir wissen, daß die Familie Bach (die riesengroß war schwierigsten Werk kämpfen zu sehen, das je für ein
und in der es von Berufsmusikern wimmelte) solche Tasteninstrument geschrieben worden sei. Diese Ein-
Zusammenkünfte abhielt, wobei sie ihre Feste gottes- schätzung stammt natürlich von 1933, als sie die aller-
fürchtig mit einem Choral begann und im krassen Gegen- erste Einspielung des Werks vornahm. Heutzutage, wird es
satz dazu mit einem improvisierten Quodlibet beendete, weithin aufgeführt und geschätzt, und glücklicherweise
dessen Text bewußt humorvoll und oft ausgesprochen lassen sich damit immer noch Eintrittskarten verkaufen!
frech war. Für die abschließende Variation hat Bach zwei Eine Entscheidung, die jeder Interpret treffen muß, ist
Volkslieder gewählt, mit den Titeln „Ich bin so lang nit die, ob er die Wiederholungen spielen will oder nicht,
bey dir gwest“ und „Kraut und Rüben haben mich denn sie verdoppeln natürlich die Länge der Darbietung.
vertrieben“. Bei der Überlegung, wie zu verfahren sei, kann man es
Indem er diese Volkslieder wählt, verbindet Bach kaum allen recht machen. Donald Francis Tovey
geschickt seine erhabenen Ideen mit dem Alltäglichen (1875–1940), der bekannte Musikforscher, hielt es für
und bietet uns einen Abschluß voller Wärme und Froh- „unwissenschaftlich, sie alle einzubeziehen“. Busoni
sinn. Für jemanden, der immer als arbeitswütig galt und regte an, keine Wiederholungen zu spielen, und wollte
dem Disziplin zur zweiten Natur geworden war (selbst in sogar einige Variationen ganz weglassen! Viele Konzert-
den letzten Tagen seines Lebens ließ er sich von seiner veranstalter möchten nicht bloß ein einziges 80minütiges
Erblindung nicht daran hindern, seinem Schüler und Stück ohne Pause auf dem Programm haben. In den
Schwiegersohn Altnikol sein letztes Werk zu diktieren), vergangenen fünfundzwanzig Jahren habe ich die
wußte er sehr wohl das Leben zu genießen und seine „Goldberg-Variationen“ meist in der Fassung ohne
Menschlichkeit mit uns zu teilen. Aber nun ist das Fest Wiederholungen (außer im Quodlibet, das ohne Wider-
vorbei, die Menge zerstreut sich, und wie von fern kehrt holungen lächerlich kurz wäre) als zweite Hälfte eines
die Aria zurück. Statt sie affirmativ darzubieten, wie sie Recitals aufgeführt. Nachdem ich nun für die vorliegende
am Anfang erscheint, sollte sie nun verhangen und im Aufnahme alle Wiederholungen eingefügt habe, finde ich
Rückblick noch schöner wirken. Dies ist sicherlich einer die Wirkung des Werks dadurch enorm erhöht, die
der bewegendsten Sätze der Musikgeschichte, und er Architektur viel deutlicher erkennbar und die Möglich-
spricht uns in aller Schlichtheit an. Unsere Reise ist keiten zur Variation innerhalb der Variationen geradezu
abgeschlossen, doch wir sind an den Ausgangspunkt endlos. Obwohl mir klar ist, daß ich es weiterhin oft in der
zurückgekehrt. kürzeren Fassung aufführen werde, ziehe ich nun vor, was
Wenn sie gut gespielt werden, sind die „Goldberg- Bach tatsächlich geschrieben hat.
Variationen“ eines der besten Vortragsstücke des Klavier- Wir mögen uns fragen, warum dieses Werk, wie ich
repertoires. Sie enthalten—dank der spektakulären meine, einen derart großen Eindruck auf uns macht. Auf
Überschläge—eine starke optische Komponente, die das jeden Fall ist es eines der therapeutisch wirksamsten
Publikum fasziniert und Wanda Landowska zu der Musikstücke, da wir uns immer wohler fühlen, nachdem
Beschwerde Anlaß gab, die Gier, mit der das Publikum wir es angehört haben. Die Schönheit, Freude und
22
Erfüllung, die Bach mit uns teilt, haben starke Heil- Es enthält mehr vom Göttlichen, als das Ohr zu
wirkung und vermitteln uns vorübergehend jenes Gefühl entdecken vermag. Es ist eine hieroglyphische,
der Ganzheit, nach dem wir streben. Vielleicht sollten die umschattete Lektion über die ganze Welt und
wahren Gründe jedoch ein Geheimnis bleiben. Seit Ralph die Geschöpfe Gottes; solch eine Melodie fürs Ohr,
Kirkpatrick das Vorwort zu seiner ausgezeichneten Aus- wie sie die ganze wohlverstandene Welt den
gabe von 1934 verfaßt hat, ist es fast schon zur Tradition Verständigen zukommen ließe. Kurz gesagt, es
geworden, beim Schreiben über die „Goldberg- ist ein sinnreiches Maß jener Harmonie, die
Variationen“ eine Passage aus Sir Thomas Brownes geistvoll erklingt in den Ohren Gottes.
Religio Medici von 1643 zu zitieren, und ich mache hier
ANGELA HEWITT © 2000
keine Ausnahme: Übersetzung ANNE STEEB/BERND MÜLLER
Wenn Ihnen die vorliegende Aufnahme gefallen hat, lassen Sie sich unseren umfassenden Katalog von „Hyperion“ und „Helios“-Aufnahmen
schicken. Ein Exemplar erhalten Sie kostenlos von: Hyperion Records Ltd., PO Box 25, London SE9 1AX, oder senden Sie uns ein E-Mail unter
info@hyperion-records.co.uk. Wir schicken Ihnen gern gratis einen Katalog.
Der Hyperion Katalog kann auch unter dem folgenden Internet Code erreicht werden: www.hyperion-records.co.uk
Copyright subsists in all Hyperion recordings and it is illegal to copy them, in whole or in part, for any purpose whatsoever, without
permission from the copyright holder, Hyperion Records Ltd, PO Box 25, London SE9 1AX, England. Any unauthorized copying or re-
recording, broadcasting, or public performance of this or any other Hyperion recording will constitute an infringement of copyright.
Applications for a public performance licence should be sent to Phonographic Performance Ltd, 1 Upper James Street, London W1F 9DE
23
CDA67305
decided to keep the tapes rolling, for this, according to Hyperion’s executive director, Ted Perry, is the ‘take’ Hewitt
and Hyperion decided to release. The resulting record is a miracle of music-making at its most instinctive and
spontaneous. Even by Hewitt’s exalted standards it is extraordinary: in the brilliant toccatas, she creates, with her
amazing articulation, the illusion of the music being plucked by the modern piano’s hammers; her virtuosity and joie
ANGELA HEWITT piano
de vivre in the fast variations—try 1, 14 and ‘the most dangerous of all the toccatas’, No 20—take the breath away.
She also penetrates the heart of the great 13th and 25th variations without false romantic sentiment.
The reprise of the Aria at the close—after a majestic variation 29—is shattering. If you only buy one
Bach album in this anniversary year, let it be this one. A desert-island disc!’
(The Sunday Times)
CDA67305
Hyperion
MADE IN ENGLAND
www.hyperion-records.co.uk
HYPERION RECORDS LIMITED . LONDON . ENGLAND