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DER ÜBERMENSCH-BEGRIFF

DIE AUSKUNFT DER WÖRTERBÜCHER UND ENZYKLOPÄDIEN 23

DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN

Neutestamentliche Ansätze 29
Der Übermensch als Geistträger bei Montanus 32
Exkurs: Der Übermensch-Begriff in der vorchristlichen
griechischen Literatur 35
Der christliche Gnostiker als Übermensch 37
- Die Auslegung von Psalm 8 1, 1 : «Ihr seid Götter » 38
- Der Gnostiker als Übermensch bei Clemens von
Alexandrien 41
- Der Gnostiker als Übermensch bei Origenes 45
Christus als Übermensch bei Dionysios Areopagita 49
Der Übermensch in der mittelalterlichen Mystik 49
Der christliche Übermensch im Schrifttum der Reforma-
tionszeit 5r
Das Bild des Übermenschen in der protestantischen Mystik 54
Der christliche Übermensch in der Christologie und
Anthropologie Lavaters 59
Der christliche Übermensch bei Hegel und David
Friedrich Strauß 65
Herders Kritik am christlichen Übermenschen 67
Der Übermensch bei Goethe 73

DAS ANTI CHRISTLICHE VERSTÄNDNIS DES ÜBERMENSCHEN

Die Politisierung des Übermensch-Begriffs bei Jean Paul 78


Der Übermensch in der Sicht der naturwissenschaftlichen
Entwicklungs- und Abstammungslehre des r 9.J ahrhunderts 84
- Charles Darwin 87
David Friedrich Strauß 89
- Der Übermensch in der Philosophie der Linkshegelianer 9r
Der Übermensch in der philosophischen Anthropologie
des 19.Jahrhunderts 94
- Ludwig Büchner 94
- A. R. Wallace 96
- Bugen Dühring ror
- Ralph Waldo Emerson ro5
DER ÜBERMENSCH-BEGRIFF
NIE,TZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN
DIE AUSKUNFT DER WÖRTERBÜCHER UND
Nietzsches Polemik gegen angebliche «Mißverständnisse» ENZYKLOPÄDIEN
113
seines Übermensch-Bildes . 115
- Das idealistische «Mißverständnis». 123
_ Das Darwinistische « Mißverständnis »
129 Nach der allgemeinen Auffassung war es Friedrich Nietzsche,
Das positive Anliegen Nietzsches .
Die negative antichristliche Fixierung des Bildes vom der nicht nur das Thema des Übermenschen gestellt, sondern
132
Übermenschen 1 34 auch den Begriff selbst geprägt hat. In der Tat wird dieser
Übermensch und Tod Gottes 1 37 Begriff bei Nietzsche in einem umfassenden programmatischen
Züchtung des Übermenschen? 143 Sinn verwandt, so vor allem in seinem Werk: «Also sprach
Übermensch und Vermassung
Zarathustra» ( 1883) 1, in dessen Einleitung es heißt: «Ich lehre
146
Überleitung zum nächsten Beitrag euch den Übermenschen: der Mensch ist etwas, das überwun-
den werden soll.» Neben dem Begriff «Übermensch» finden
149 sich bei Nietzsche noch insgesamt 21 weitere Wortbildungen
ANMERKUNGEN
mit «über», so zum Beispiel auch das «Übertier», so daß der
Begriff selbst für den allgemeinen Sprach- und Denkstil Nietz-
sches charakteristisch ist 2 • Diese Verwurzelung in der Philoso-
phie Nie0;sches bringt es mit sich, daß in dem allgemeinen
'. heutigen Sprachgebrauch das Wort «Übermensch» einen be-
tont antichristlichen Klang hat. Ist doch der Mensch, der nach
Nietzsches Meinung «überwunden werden soll», der christliche
Mensch, den Nietzsche nicht müde wird, als eine Sklavennatur
mit verkümmerten Trieben und Instinkten, als das Produkt
einer jahrhundertealten Domestikation und Degeneration hin-
zustellen.
j Befragt man nun die heutigen Lexika und Enzyklopädien über
Herkunft und Bedeutung dieses Begriffs, so ist wohl am selt-
samsten, daß gerade in den modernen Fachlexika der Theologie
durch~eg der Artikel «Übermensch» fehlt 3 • Dieses Schweigen
ist um so auffälliger, als in der philosophischen, theologischen
und geistesgeschichtlichen Diskussion über das moderne Men-
schenbild Nietzsches Idee des Übermenschen eine außerordent-
lich große Rolle spielt. Man hat fast den Eindruck, als ob
dieses solidarische, aber doch in keiner Weise verabredete
24 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DER ÜBERMENSCH-BEGRIFF

Schweigen damit zusammenhinge, daß die Schultheologie jeder ein 7n _direkten Zusammenhang mit der Christologie und der
Berührung mit dem gereizten Antichristentum Nietzsches mög- chnsthchen Anthropologie. Indes bleibt es bei dieser flüchtigen
lichst diskussionslos aus dem Wege gehen möchte. Andeutung. Andere philosophische Wörterbücher bleiben hin-
Die modernen Konversationslexika sind in dieser Beziehung ter diesen ausführlichen begriffs- und bedeutungsgeschichtlichen
weniger ängstlich. Sie enthalten alle einen Artikel « Über- Feststellungen zurück und begnügen sich mit dem üblichen
mensch» und stimmen alle darin überein, daß sie sowohl das Hinweis auf Nietzsche 7.
Thema wie den Begriff Nietzsche zuschreiben, so der Große Eine besondere Aufmerksamkeit widmen die sprachgeschicht-
und der Kleine «Brockhaus», der Große und der Kleine lichen Lexika dem Begriff «Übermensch». Auch sie bringen
«Herden> und auch das «Bertelsmann-Lexikon». Charakte- a~er meist nur die Ergebnisse der Nietzsche-Philologie. Immer-
ristisch für alle ist, was in dem letztgenannten Lexikon steht: hm erwähnt Kluge-Götze in seinem «Etymologischen Wörter-
« Übermensch, seit Nietzsche Schlagwort für einen neuen - buch »8 auch das Vorkommen des Übermensch-Begriffs bei
höheren Typus des Menschen, der in absolutem Selbstsein alles Goethe und faßt das Verhältnis von Goethe und Nietzsche in
Verlogene, Krankhafte und Lebensfeindliche überwindet.» den Satz zusammen: « Übermensch ist bei Goethe eine Moment-
Eine ausführlichere Antwort geben natürlich die philosophi- Bildung, bei Nietzsche eine Dauer-Bildung.»
schen Fach-Wörterbücher. Auch sie führen Thema und Begriff Bemerkenswert ist der Wandel des «Übermensch »-Artikels in
auf Nietzsche zurück, lassen aber wenigstens in kurzen Andeu- Georg Büchmanns « Geflügelten Worten». Von diesem Buch sind
tungen erkennen, daß der Begriff «Übermensch» selbst schon noch zu Lebzeiten Büchmanns nach der ersten Auflage von
vor Nietzsche auftaucht und schon vor ihm eine wenn auch nur 1864 bis zumJahre 1882 insgesamt 13 Auflagen erschienen und
fragmentarisch erkennbare Bedeutungsgeschichte durchlaufen seither sind oft Jahr für Jahr immer neue erweiterte und' ver-
hat. So wird in RudolfEißlers «Wörterbuch der philosophischen besserte Auflagen erschienen - eines der wenigen Bücher, das
Begriffe» im Artikel «Übermensch» auf Renan und Carlyle über alle Revolutionen hinweg sein Ansehen bewahrt und die
hingewiesen4. Derselbe Rudolf Eißler bringt dann in der «Geflügelten Worte» am Leben erhalten hat. Die letzte Auflage
2.Auflage seines «Handwörterbuchs der Philosophie» im Arti- bringt unter dem Stichwort «Übermensch» nur noch den Hin-
kel «Übermensch» noch weitere historische Hinweise auf Ma- weis ~uf Nietzsche _und tut die ganze Begriffs- und Bedeutungs-
chiavell, Friedrich Schlegel und Stirner 5• entwicklung vor Nietzsche mit dem Satz ab: «Vereinzelt findet
Eine neue, auffallige Nuance findet sich dann in dem «Wörter- sich das Wort schon in der älteren Literatur, so besonders bei
buch der philosophischen Begriffe» von Johannes Hoffmeister 6 • Herder und Goethe, ohne daß diese der an sich nicht fern-
Dieser zeigt nämlich, daß das Wort «erstens im mystisch- liegenden Wortbildung eine so charakteristische und populär
theologischen Sinn für Gott-Mensch, z.B. bei Tasso (lett. 5, 6), gewordene Bedeutung verliehen hätten,.wie es Nietzsche getan
zweitens im Sinn des Selbstbewußtseins der Renaissance als hat. Der Letztere ist somit wohl als der Urheber des Wortes in
außergewöhnliche Menschlichkeit (z.B. bei Ariost, Orlando s~iner heutigen Bedeutung anzusehen.» Diese Feststellung ist
Furioso 38, 62) » gebraucht wird. Hier findet sich zum ersten ruc_ht nur unzutreffend, wie die folgenden Untersuchungen be-
Mal der Hinweis auf einen vor Nietzsche vorkommenden we1Sen, sondern steht auch im Widerspruch zu den im Büch-
mystisch-theologischen Sinn des Begriffs des Übermenschen, auf mann selbst in den verschiedenen früheren Auflagen veröffent-
DER ÜBERMENSCH-BEGRIFF
ERNST BENZ (GEISTESGESCHIOHTE)

lerische und vor allem auf das politische Genie übertragen


lichten und immer weiter ergänzten Hinweisen auf das Vor-
worden, wobei Napoleon mit einer gewissen Regelmäßigkeit
kommen und die Bedeutung des Begriffs in der älteren deutschen
als erstes Modell des politischen Übermenschen erscheint.
Literatur. So enthält vor allem die 22.Auflage, Berlin 1905,
Die antichristliche Verwendung dieses Begriffs bei Nietzsche ist
eine Menge von aufschlußreichem Material, das auch eine
das Endprodukt eines in seinen einzelnen Etappen noch deut-
ältere mystisch-theologische Verwendung des «Übermensch»-
lich zu verfolgenden Prozesses der Säkularisierung des christ-
Begriffs erkennen läßt 9 • • •
lichen Übermensch-Begriffs, der sich schließlich in seiner letzten
Die begriffsgeschichtliche Forschung hat ihrerseits auch durch
Phase unter dem Einfluß darwinistischer und Feuerbachseher
Einzeluntersuchungen zur weiteren Erhellung des « Über-
mensch »-Begriffs beigetragen 10: Die Ergebnisse dieser Forschung Ideen gegen das' christliche Menschenbild selbst we·ndet und
dem abgewerteten christlichen Menschen einen nunmehr anti-
sind aber zum Teil von den modernen Lexika und Enzyklopä-
christlich verstandenen Übermenschen gegenüberstellt.
dien noch nicht verarbeitet worden. Nach wie vor gilt, daß
Thema und Begriff des «Übermenschen» auf Nietzsche zurück- Der Grund für die Tatsache, daß der ursprüngliche christliche
geführt und damit der Begriff auf die von ihm geprägte anti- Aspekt des Übermensch-Begriffs bislang verborgen blieb, ist in
der Entwicklung der kirchlichen Theologie und der vo; ihr
christliche Bedeutung fixiert wird 11 •
innerhalb ihres dogmatischen Lehrschemas formulierten Auf-
Nachdem ich mich in verschiedenen Untersuchungen mit dem
12 fassung vom Menschen zu suchen. Die ursprüngliche christliche
Menschenbild der christlichen Mystik befaßt hatte , erregten
Verkündigung ist beherrscht von der Verheißung vom Korn-
die genannten sporadischen Hinweise auf e~ne m~stisch-
. men des neuen Menschen und der neuen Gesellschaft. Die
theologische Verwendung des Übermensch~Be~ffs ~em~ b~-
christliche Gemeinde lebt von der Zukunft her, die in Jesus
greifliche Neugierde, und ich begann, die V1elschicht1~k~1t
seiner Bedeutung sorgfältiger zu erforschen. Das Ergebrus 1St Christus, dem Erstgeborenen unter den Toten, dem Ersten der
Auferstandenen bereits begonnen hat und die mit der nahen
nun in der Tat überraschend. Es läßt sich nämlich nachweisen,
daß der Übermensch-Begriff nicht eine genuin antichristliche, Wiederkunft Christi ihre Erfüllung und Vollendung finden
wird. Die Brücken nach der Vergangenheit, dem alten Äon,
sondern eine genuin christliche Prägung ist, die schon zu dem
werden abgebrochen; Familie, Besitz, Beruf werden unwichtig;
Sprachbereich der altchristlichen Anthropologie geh?rt, ~er-
dings von häretischen Kreisen bevorzugt, von der kirchlichen man stellt sich ein auf die kommende Erhöhung, Erneuerung
Theologie jedoch mehr und mehr gemieden wird. Diese Wort- und Verwandlung des Menschseins, auf das Eingeformtwerden
in den Neuen Menschen, auf das Verwandeltwerden in den
bildung, die jahrhundertelang vor allem im kühneren .Sprach-
bereich der christlichen Mystik nicht nur zur Bezeichnung «vollkommenen Mann» Christus, den zweiten Adam.
Christi, sondern auch des christlichen Charismatikers, des Seit dem 3.Jahrhundert, genauer gesagt seit dem Zurück-
Heiligen verwandt wurde, findet sich dann erneut in seiner drängen des Montanismus mit seiner Lehre vom Heiligen Geist,
christlichen Bedeutung in pietistischen Erbauungsbüchern des hat sich in der kirchlichen Dogmatik immer stärker eine
17.Jahrhunderts und ist erst in der Epoche des deutsche~ andersartige Anthropologie durchgesetzt. Die Gemeinde lebt
nicht mehr aus der Zukunft; ihr Menschenbild ist nicht mehr
Idealismus und des Sturm und Drang im Zusammenhang nnt
der Ausbildung des modernen Genie-Begriffs auf das künst- an dem kommenden, neuen Menschen orientiert. Ihrer Anthro-
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 29

pologie liegt immer maßgeblicher ein rein restauratives Schema noch in einzelnen Zügen erhalten hat und die gerade bei den
zugrunde: Am Anfang schuf Gott den Mensche~ nach seinem christlichen Mystikern der späterenJahrhunderte auch in West-
Bild. Dieser Mensch ist von Gott abgefallen und hat dadurch europa immer wieder durchbrach. Für diese Auffassung be-
sein Gottesbild verloren. Gott hat jedoch zur Rettung des deutet das Ziel des Heilsweges nicht die Restauration des ur-
gefallenen Menschen in Jesus Christus das Gottesbild im Men- sprünglichen Zustandes des Menschen, sondern vielmehr seine
schen wieder erneuert. Die Erlösung erfolgt als Wiederein- schöpferische Transformation «von einer Herrlichkeit zur
formung des abgefallenen Menschen in sein ursprüngliches, andern». Am Ende des göttlichen Heilswirkens steht nicht das
durch den Sündenfall verlorenes Gottesbild durch Jesus restaurierte Alte, sondern ein Neues von einer unfaßlichen
Christus, den zweiten Adam. Die Erlösung tritt so unter den Entwicklungsfähig'keit ins Himmlische, Geistige und Göttliche
Gesichtspunkt der Restauration: das Ende stellt den Anfangs- hinein. Der christliche Glaube lebte aus der Hoffnung auf diese
zustand wieder her. Zukunft und aus ihrer gläubigen Vorwegnahme in der Gegen-
Noch stärker hat die lateinische, im Westen sich durchsetzende wart.
Rechtfertigungslehre den restaurativen Charakter der christ-
lichen Anthropologie gefestigt. Gott gibt dem Menschen sein
Gesetz; der ·Mensch verstößt gegen dieses Gesetz und verletzt DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN

dadurch die göttliche Rechtsordnung. Er kann als Mensch


aber keine ausreichende Satisfaktion für diese Rechtsverletzung
gegenüber Gott leisten und zieht die ewige Verdammnis als Neutestamentliche Ansätze
Strafe Gottes auf sich. Da tritt Christus für ihn ein, der als
Gottmensch allein imstande ist, Gott Satisfaktion für den Schon in der Verkündigung Jesu tritt dieser Zug hervor, wenn
Menschen zu leisten. Er bringt sich selbst als satisfaktorisches er seinen Jüngern (Matth. 13, 43) verheißt: «Dann werden die
Opfer dar. Im Glauben hat der Mensch an der Satisfaktions- Gerechten leuchten wie die Sonne in ihres Vaters Reich. Wer
leistung Christi teil, er wird im Hinblick auf sie gerecht ge- Ohren hat zu hören, der höre!» Diese Verkündigung einer
sprochen; das gestörte Rechtsverhältnis zu Gott ist damit wunderbaren Seinserhöhung gehört bereits zu den Heilsver-
wiederhergestellt. Die formal-juristisch verstandene Recht- heißungen der spätjüdischen Prophetie. Schon bei Daniel 12, 3
fertigungslehre ist das Ende der endzeitlichen Orientierung des heißt es vom Zustand der Gerechten nach der Auferweckung:
christlichen Glaubens; sie ist die Preisgabe der urchristlichen «Die Lehrer aber werden leuchten wie der Himmels Glanz, und
Hoffnung auf eine Transformation des Gläubigen in den die, die so viele zur Gerechtigkeit weisen, wie die Sterne immer
«neuen Menschen». und ewiglich. » Auf eine ähnliche zukünftige Seinserhöhung des
Der Sieg dieses restaurativen Schemas hat mehr und mehr in Menschen weist auch das Wort aus Psalm 81, 6, das allen Ver-
Vergangenheit geraten lassen, daß in der ältesten Kirche eine tretern der Restaurationstheologie so viel Kopfzerbrechen
ganz andere Auffassung lebendig war, die nicht von diesem machte: «Ich habe gesagt: ihr seid Götter und allzumal Kinder
Schema der Restauration beherrscht war, eine Auffassung, die des Höchsten - Ego dixi, dei estis et filii excelsi omnes. »
sich auch späterhin vor allem in der östlich-orthodoxen Kirche Vor allem das Johannes-Evangelium hat diese ungewöhnliche
30 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN
31
Verheißung aufgegriffen. Der Evangelist berichtet, wie Jesus beschränkt, die in Jesus zu seinen Lebzeiten wirkt. Damit der
an dieses Wort von Ps. 81, 6 in einem Gespräch mit den Juden Vater in dem Sohn verherrlicht werde, verheißt Jesus seinen
in der Halle Salomons anknüpft (Joh. ro, 34), und zwar in dem Jüngern eine Geisteskraft, die sie befähigt, noch größere Werke
Augenblick, in dem ihn die Juden wegen des Wortes «Ich und zu tun ~ er selb~r, das heißt sogar ihn selbst durch Wirkungen
der Vater sind eins» steinigen wollen und ihm vorwerfen, er des Heiligen Geistes zu übertreffen. Daß hier tatsächlich an
mache sich selbst zu Gott. Da antwortete ihnen Jesus: «Steht Wirkungen des Heiligen Geistes gedacht ist, geht daraus hervor,
nicht geschrieben in Eurem Gesetz: ,,ich habe gesagt, ihr seid daß unmittelbar auf diese Verheißung einer gewaltigen Stei-
Götter"? Wenn er die „Götter" nennt, zu denen das Wort gerung der charismatischen Kräfte der Jünger die Verkündi-
Gottes geschah - und die Schrift kann doch nicht gebrochen gung vom Kommen des Parakleten folgti3.
werden - sprecht ihr denn zu dem, den der Vater geheiligt und Ähnliche Erwartungen einer gewaltigen Seinssteigerung im
in die Welt gesandt hat: Du lästerst Gott, weil ich sagte: ich bin Zusammenhang mit den endzeitlichen Ereignissen sind auch im
Gottes Sohn? »Jesus weist hier den hohen Anspruch, der in der I. Johannes-Brief ausgesprochen (1.Joh. 3, 2): «Meine Lieben
Verheißung des Psalmwortes liegt, in keiner Weise zurück, wir sind nun Gottes Kinder, und es ist noch nicht erschienen'
sondern betont ausdrücklich die allgemeine Gültigkeit dieses was wir sein werden. Wir wissen aber, wenn es erscheinen wird'
Wortes. Wenn Gott diejenigen «Götter» nennt, zu denen das daß wir ihm gleich sein werden; denn wir werden ihn sehen'
Wort Gottes gesprochen ist, dann ist für sie diese Verheißung wie er ist. » Auch hier ist von verschiedenen Stufen der Seins~
einer unfaßlichen Erhöhung ihres Seins gültig. Jesus benutzt steigerung die Rede. Die gläubigen Christen sind jetzt schon
das Wort seinerseits zu einer schriftmäßigen Rechtfertigung Kinder des Lichts, Gottes Kinder; aber diese hohe Stufe stellt
seiner eigenen Selbstaussage: « Ich bin der Sohn Gottes. » noch nicht die letzte dar; diese ist noch gar nicht in Erscheinung
Wenn schon - so ist der Gedankengang - alle diejenigen nach getreten. Die Christen wissen aber, daß diese letzte Stufe eine
dem Wort Gottes «Götter» sind, zu denen das Wort Gottes weitere unvorstellbare Seinserhöhung mit sich bringen wird:
geschah, so kann es nach Jesu Meinung nicht als Gottesläste- die Gleichförmigkeit mit dem erhöhten Christus.
rung beurteilt werden, wenn er von sich selber sagt: «Ich bin ~uch ein ~aulu~ weiß noch deutlich von dieser Seinssteigerung,
Gottes Sohn. » die der Geist nnt sich bringt. Die Wirkung des Geistes ist nicht
Im selben Johannes-Evangelium verheißt Jesus seinen Jüngern, einmalig, sondern von ihm geht eine ständige schöpferische
die an ihn glauben, eine Steigerung ihrer Gotteskräfte, die sogar Wirkung aus, die den Menschen von Stufe zu Stufe hebt und
die in ihm selber wirkenden Geisteskräfte übertreffen soll. verklärt. Im 2.Kor. 4, 16 heißt es: «Ob auch unser äußerlicher
Joh. 14, 12 sagt er in seinen Abschiedsreden zu seinen Jüngern: Mensch sich auflöst, so wird doch unser innerer Mensch von
«Wahrlich, wahrlich, ich sage euch, wer an mich glaubt, der Tag zu Tag erneuert.» Daß aber diese Erneuerung nicht die
wird die Werke auch tun, die ich tue und wird Größeres als dies Wiederherstellung eines durch den Fall verlorenen früheren
tun; denn ich gehe zum Vater, und was ihr bitten werdet in ~ustandes ist, sondern den Fortschritt, die Steigerung des
meinem Namen, das will ich tun, auf daß der Vater geehrt . inneren Menschen auf einem Wege der Erschließung immer
werde in dem Sohn. » Hier wird gesagt: die geistige Vollmacht höherer _Herrlichkeit~n darstellt, zeigt das Wort 2.Kor. 3, 18,
der Jünger Jesu ist nicht auf das Maß der geistigen Vollmacht das an dieselbe Gememde gerichtet ist: «Nun aber spiegelt sich
32 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 33

in uns die Herrlichkeit des Herrn mit aufgedecktem Angesicht, (Joh. 14, 12). Der Spruch des Montan erinnert an die Verhei-
und wir werden verklärt in dasselbe Bild von einer Klarheit zur ßung Jesu über die zukünftige Herrlichkeit des Gerechten
andern als von dem Herrn-Geist (vom Herrn, der der Geist (Matth. 13, 43), übersteigert sie aber noch. Der «Gerechte»
ist).» Hier erscheint der Geist als die Kraft einer progressiven bedeutet hier den bevorzugten Geistesträger, im Unterschied
Seinserhöhung und Transformation des Menschen, die ihn ins zu den «Kleinen», den einfachen Gläubigen der Sekte. Der
übermenschliche hinein erhebt. Charismatiker heißt «Übermensch». Hieraus ergibt sich, daß
seine Bezeichnung als «Geretteter» als unzutreffend abzulehnen
ist. Montan hat sich offenbar selbst als Übermenschen ver-
Der Übermenschals Geistträgerbei Montanus standen. Einige se1ner prophetischen Selbstaussagen lassen noch
erkennen, daß er sein eigenes Übermenschentum mit seiner
Es ist bezeichnend für die Weiterentwicklung dieser Verheißung Lehre vom Parakleten in Zusammenhang brachte. Einige
vom Parakleten bei dem Propheten Montanus (gest. 178/79), Worte, die Montan als Offenbarung des Parakleten mitteilt,
daß er gerade diesen Gedanken einer schöpferischen Erhöhung leuchten in den Grund seines prophetischen Selbstbewußtseins
des Menschen durch den Heiligen Geist aufgegriffen und in den hinein: «Ich, der Herr, der allmächtige Gott, nehme Wohnsitz
Mittelpunkt seiner Lehre gestellt hat. Montanus, der durch im Menschen. » Eine andere Selbstaussage des Montan lautet:
seine Prophezeiungen die asketischen christlichen Heiligkeits- «Ich bin der Vater und der Sohn und der Paraklet 3 • »
forderungen zur höchsten Radikalität gesteigert hat, hat auch Die Art der Einwohnung des Parakleten im Menschen deutet
das Ziel der Heiligung so hoch wie möglich gesteckt. Er ist der ein anderes prophetisches Wort des Montan an, in dem der
erste, der im Zusammenhang mit seiner Lehre von der Heiligung Paraklet spricht: «Siehe, der Mensch ist wie die Leier, und ich
den Begriff des «Übermenschen» verwandt hat. Eines der von fliege hinzu wie das Plektron. Der Mensch schläft, und ich
Epiphanius überlieferten Worte des Parakleten, die er aus den wache. Siehe, Herr ist, wer die Menschenherzen herausnimmt
ihm vorliegenden Prophetien des Montanus zitiert, lautet: und den Menschen ein neues Herz gibt4, »
«Warum nennst du den Übermenschen einen Gerechten? Es Der Übermensch ist also der Charismatiker, in dem der Heilige
wird doch leuchten, sagt der Paraklet, der Gerechte hundert Geist, der Paraklet, Wohnung genommen hat, der Mensch, der
mal stärker als die Sonne, und die Kleinen unter euch als ein neues Herz hat, auf dessen irdischem Instrument der gött-
Gerettete werden hundertmal stärker leuchten als der Mond 2, » liche Geist selber spielt.
Mit diesem Begriff des Übermenschen wendet sich Montan Im Montanismus ist der echte Futurismus der urchristlichen
gegen jene rein restaurative Auffassung vom Heil, die offenbar Anthropologie wieder hergestellt. Der Übermensch ist der
bereits in der Großkirche seiner Zeit sich verbreitete. Das dem Merisch einer neuen Heilsperiode, nämlich der Epoche des
Menschen durch die Geistesgaben vermittelte Heil macht den Parakleten, der Mensch einer neuen Heilszeit, deren Anbruch
Geistträger zum Übermenschen; die Heilsverheißung des Para- Jesus selbst verheißen, die durch die Ausgießung des Heiligen
kleten, die Montan hier mitteilt, übertrumpft sogar noch die Geistes charakterisiert ist und eine Erhöhung der Menschen,
Heilsverheißung Jesu im Johannes-Evangelium, der den Ge- ein Mehr an Gaben, eine größere Fülle an Kräften, eine voll-
rechten verheißt, daß sie größere Werke tun sollen als er selbst kommenere Form der Erkenntnis und der Mitteilung mit sich
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bringen soll. Der Übermensch gehört zur neuen kommenden zum Selbstbewußtsein des christlichen Charismatikers, der sich
Zeit; mit seinem Auftreten hat die Neue Zeit schon begonnen. durch die Geisterkenntnis und seiner charismatischen Kräfte
Der orthodoxe Gegner des Montan, der Ketzerbekämpfer Epi- weit über die Stufe des sarkischen und psychischen Menschen
phanius, der Vorkämpfer der Restaurationstheologie in der hinausgehoben weiß und in dem die zukünftige Erhöhung des
Großkirche, macht ihm gerade diese Übersteigerung der Heils- Menschseins bereits jetzt zur Wirklichkeit wird.
erwartungen zum Vorwurf, indem er unter Hinweis auf Sie findet sich vor allem auch innerhalb des frühchristlichen
Matth. 13,43 sagt 5 : «Wenn nun der, der die Vollmacht hat Mönchtums. Bereits die Selbstbezeichnung des Mönches als
und der wahrhaft unser Herr und Herrscher ist, Jesus Christus «monachos» hat ja nicht den Sinn: «der Eremit», sondern:
sagt, daß „die Gesichter der Gerechten glänzen werden wie die «der Einzigartigei>. Die syrische Bezeichnung für den Mönch,
Sonne", wie kann da Montanus verheißen, daß sie „hundertmal als deren Übersetzung das griechische Wort «monachos» anzu-
mehr leuchten werden" (als die Sonne)? Es sei denn, daß er sehen ist, - ihidaya - bedeutet «der Eingeborene», ist also die
darin jenem gleicht, der Adam und denen mit ihm verheißen Übertragung eines mess_ianischen Prädikates Christi selbst auf
hat: ,,Ihr werdet sein wie Götter", und der zum Urheber ihrer den Frommen; der in seinem Leben außergewöhnlicher Heilig-
Vertreibung aus dem Paradies wurde.» Hier bringt der kirch- keit dank seiner Geist-Begabung als Repräsentant Christi er-
liche Gegner des Montan dessen Verheißung von der kom- scheint6, in dessen Umkreis die Anfänge der neuen Menschheit,
menden Seinserhöhung der Gerechten mit der Verheißung der neuen Gesellschaft sich hervorwagen, dessen geistige Voll-
jener Seinserhöhung in Zusammenhang, durch die Satan den macht bis in das Reich der Tiere und der Elemente ausstrahlt,
erstgeschaffenen Menschen im Paradies verführte und Urheber dem die wilden Tiere untertan sind und gehorchen, den die
seines Falls wurde. Die Tatsache, daß im Neuen Testament nicht Schlange nicht beißt, der Skorpion nicht sticht und dem die
nur bei Paulus und Johannes, sondern bei Jesus selbst die deut- Dämonen untertan sind.
lichen Ansätze für eine solche Lehre von der Seinserhöhung Exkurs
der Gerechten und damit zu einer christlichen Lehre vom
Auch Montan hat allerdings das griechische Wort vom Übermenschen
Übermenschen liegen, hat hier der Vertreter der kirchlichen - vneg6.v1Jgwnor; - nicht neu geschaffen. Dieses Wort war bereits im
Restaurationstheologie bereits vergessen. Die Lehre Montans hellenistischen Sprachgebrauch entwickelt. Sein nachweisliches Vor-
vom Übermenschen, die ganz konsequent aus seiner Lehre vom kommen bei Lukian und Dionysios von Halikarnaß zeigt, daß es
Parakleten als dem Schöpfer einer fortschreitenden geistigen offensichtlich in den Bereich des antiken Heroenkultes und des Init
diesem zusammenhängenden Herrscherkultes hineingehört.
Entwicklung des Gerechten abgeleitet ist, wurde bereits im
Vor allem ist die Verwendung des Wortes «Übermensch» bei Lukian
ersten Ansatz von der kirchlichen Theologie verurteilt. aufschlußreich. Dieser Novellist verwendet das Wort in den uns er-
Die Idee des Übermenschen ist also eine durchaus genuine haltenen Werken allerdings nur ein einziges Mal, doch läßt die be-
christliche Idee, die von charismatischen Menschen entwickelt treffende Stelle deutlich erkennen, daß der Schriftsteller dieses ·wart
wurde, die sich in der Geisterfahrung in einer unvorstellbaren bei seinen Lesern als geläufig voraussetzt. Es findet sich in seinem
Dialog « Die Hadesfahrt oder der Tyrann »7• Dort wird ein Gespräch
Weise über das normale Menschsein emporgehoben fühlten in der Unterwelt zwischen der Parze Klotho und dem Bettler Mikyllos
und gerade darin die Gnadenwirkung Gottes und des Geistes beschrieben. Der Bettler erzählt ihr von dem besonderen Eindruck,
sahen. Diese « höchste aristokratische Geltendmachung» gehört den die Begegnung Init dem verstorbenen Tyrannen seiner Heimat-
ERNST BI;NZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 37
stadt im Hades auf ihn gemacht habe. Er schildert den Kontrast göttlichen Kräften und Eigenschaften wunderbar ausgerüstete Mensch
zwischen dem gewaltigen Auftrete~ des Tyrann'.:n ei_nst au~ Er~en erschien.
und seiner jetzigen elenden, erbärmlichen und verachtlichen Srtuat10n In di.eser Bedeutung findet sich das Wort bei Dionysios von Halikarnaß
im Hades. «Oben auf Erden», so erzählt der Bettler, «erschien er in seinen «Römischen Altertümern »0 • Dort wird die überwältigende
mir göttergleich - isotheos - zu sein, und umgeben von dem Prunk- Schönheit der Römerin Nomitoria, der Tochter des Appius Claudius,
schmuck seiner Macht und der Bewunderung seiner Anbeter erschien beschrieben. Ihre Gestalt und Gewandung strahlten eine so bezau-
er mir wie ein Übermensch.» Nachdem er aber mit seinem Tode bernde Schönheit aus, daß sie «die Blicke aller Augen an sich riß,
«allen seinen Prunk abgelegt hatte, erschien er mir durch und durch so übermenschlich war ihre Erscheinung und ihre Anmut». Hier
lächerlich». wird also eine ungewöhnlich schöne Frau als übermenschliche Er-
Was in diesem Gespräch beschrieben ist, ist nichts anderes als die scheinung beschrieben, von der ein göttlicher Glanz von Schönheit
Entgötterung des Übermenschen. Lukian, der große Kultur- und und Anmut ausgeht. Von irgendeiner Ironie ist hier nichts zu spüren.
Gesellschaftskritiker seiner Zeit, erscheint hier als ein umgekehrter Der Begriff «übermenschlich» wird hier, wenn auch schon mit einer
Nietzsche: während der allgemeine Stil der Zeit auf die göttliche galanten Auflockerung, in derr;t positiven Sinn des antiken Heroen-
Verehrung der Herrscher, auf den Herrscherkult eingestellt ist, der kultes verwandt.
nicht nur an den großen, sondern vielleicht mehr noch an den kleinen Auf diesen Sprachgebrauch griff auch die junge Christenheit zurück
Herrscherhöfen der östlichen Vasallenkönige des Imperium Romanum und deutete ihn um. An die Stelle des Heroen, der nach der antiken
praktiziert wird, hält Lukian diesen göttergleichen Übermenschen, Vorstellung entweder dank seiner göttlichen Geburt oder einer be-
die sich mit göttlichen Titeln anreden und mit göttlichen Zeremonien sonderen Begnadung durch die Götter mit übermenschlichen Kräften
verehren lassen, den Spiegel vor und zeigt den Zusammenbruch ihrer ausgerüstet ist, tritt der christliche Charismatiker, der Apostel, Prophet
übermenschlichen Göttergleichheit im Reiche des Hades, wo der oder Lehrer, der vom Heiligen Geist erfüllt ist, in dem der göttliche
Übermensch, seines Prunkes entkleidet, zum Gegenstand des Spottes Paraklet oder der göttliche Logos Wohnung genommen hat.
und der Verachtung des Bettlers wird. Der Tod erscheint hier wie in Der Charismatiker selbst ist verstanden als der «Neue Mensch», der
den mittelalterlichen Totentänzen als der große Demokrat, der die das Bild des «Neuen Menschen», Jesus Christus, in sich abbildet,
ursprüngliche Gleichheit zwischen den Menschen wiederherstellt, der in dem der zukünftige Mensch bereits hier und jetzt in Erscheinung
den gottgleichen Übermenschen von seinem kultischen Piedestal tritt, in dem die Kräfte des zukünftigen Gottesreiches sich bereits jetzt
herabholt. Ja, der Tod kehrt die irdischen Verhältnisse um und macht aktivieren, um den sich bereits jetzt die zukünftige neue Gemeinschaft
den Übermenschen zum Gegenstand der Verachtung des einst von bildet und die Ordnung des Neuen Himmels und der Neuen Erde
ihm verachteten Bettlers. in Erscheinung tritt.
Die Entthronung des Übermenschen ist ein Thema, das auch vor
Lukian in der Satire der römischen Kaiserzeit nicht selten ist. Die
Apokolokyntosis, die Satire des L.A. Seneca auf den Tod des Kaisers Der christlicheGnostiker als Übermensch
Claudius, der mit den Worten stirbt: «Wehe mir, ich werde ein Gott»,
urid mit einem gewaltigen Seufzer seinen Geist per anum aushaucht 8 ,
enthält bereits die ganze Problematik des Übermenschen und hat in Obwohl die Vorstellung von dem Charismatiker als dem Über-
ähnlicher Weise wie später Lulcian die Entthronung des Übermenschen menschen mit der Verurteilung Montans und des Montanismus
zum Gegenstand, wenngleich der Begriff «Übermensch» selbst darin aus dem theologischen Denken der Großkirche verbannt war,
nicht vorkommt. Die Verwendung dieses Begriffes bei Lukian zeigt
also bereits ein Stadium, in dem eine fortgeschrittene, aufgeklärte
hat sich die Idee einer zukünftigen Evolution des Menschen
Gesellschaft diesen Begriff in einem ironischen Sinn verwendet. Dies im Sinne einer progressiven Abfolge geistlicher Stufen des
setzt aber eine Entwicklungsstufe voraus, in der dieser Begriff noch Christseins bis hin zur Vergottung noch über ein Jahrhundert
seine volle positive Bedeutung hatte und als «Übermensch» der mit in der kirchlichen Gnosis halten können. Die Unterscheidung
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 39

einer Stufenreihe der geistlichen Transformation, wie sie sich Die altkirchliche Auslegung hat indessen diese Worte immer
in der christlichen Gnosis in Form einer Unterscheidung der als eine Anrede Gottes an die Menschen gedeutet und in ihnen
Hyliker (Somatiker), Pistiker und Gnostiker findet, stellt sozu- eine Bestätigung der Tatsache erblickt, daß den Menschen
sagen die Restform der christlichen Idee des Übermenschen dar, ursprünglich von ihrem göttlichen Schöpfer selbst ein göttlicher
die innerhalb der Kirche noch eine kurze Zeit geduldet wurde. Rang zuerkannt war und daß sie erst durch ihren Abfall von
Gott dem Tode verfielen und damit zu sterblichen Menschen
Die Auslegung von Psalm Br, r: «Ihr seid Götter» wurden. Die alte Kirche hat also diese Worte im Geist der
Wie sehr noch eine progressive, auf den «Übermenschen» hin, Adams-Spekulation, der Spekulation .über den göttlichen Ur-
drängende Auffassung die christliche Anthropologie der ersten menschen verstanc;len. Im Hinblick auf die durch Christus her-
drei Jahrhunderte beherrschte, wird schon von der Geschichte beigeführte Erlösung wird dann das genannte Psalmwort zu
der altkirchlichen Exegese her deutlich. In einer höchst auf- einer Verheißung, die das Ziel der zukünftigen Entwicklung,
fälligen Weise hat sich nämlich die christliche Anthropologie den zukünftigen Rang des Erlösten anzeigt: Christus hilft den
der wenigen kühnen Worte des Alten Testamentes bedient, die Menschen, ihre ursprüngliche Bestimmung als Götter zu erfül-
eine exegetische Begründung dieser progressiven Auffassung len, das heißt Götter zu werden. So wird die prophetische
vom Neuen Menschen erlaubten und die in der späteren kirch- Auslegung des genannten Psalmwortes auf den durch Christus
lichen Theologie mehr und mehr zurückgeschoben oder gänz- erhöhten und vollendeten Menschen zu einem Hauptzeugnis
lich fallen gelassen wurden. Vor allem spielt in der christlichen für die Lehre vom christlichen Übermenschen. Eine solche
Anthropologie der ersten dreiJahrhunderte das bereits erwähnte Deutung des Wortes auf die göttliche Natur des Menschen muß
Wort aus Psalm Br, r-6 eine höchst bedeutsame Rolle: bereits zu den spätjüdischen Lehrüberlieferungen gehört haben,
«Ich habe gesagt: Ihr seid Götter und Söhne des Höchsten allzumal. denn Jesus setzt sie (s.S.30) bei der Anwendung dieses Wortes
Ihr aber sterbet wie Menschen und fället wie einer der Archonten.» auf die messianische Deutung seiner eigenen Person als selbst-
Die Erforscher des Alten Testamentes sind sich über den ur- verständlich voraus (Joh. ro, 34ff.).
sprünglichen Sinn dieses Wortes nicht einig geworden. Man hat Die Verwendung von Psalm 8 r, 6 zur exegetischen Begründung
den Psalm 8 r teils als ein Gericht Jahwes über die Fürsten der des übermenschlichen Charakters des Gnostikers läßt sich zuerst
Heiden, teils als Gericht über die Fürsten Israels oder über die bei den älteren häretischen gnostischen Sekten, vor allem bei den
Richter Israels verstanden. In diesem Fall wäre die Anrede an Nassenern nachweisen. So berichtet Hippolytll von der Lehre
die Versammelten, « Ihr seid Götter», rein ironisch zu ver- über eine mystisch-typologische Auslegung der Ilias Homers,
stehen. In der Tat ist auch das Wort «Götter» bei mehreren die mit der Lehre vom himmlischen Urmenschen in Zusammen-
Übersetzern zur Hervorhebung dieses ironischen Sinnes in hang gebracht wird. Der innere Mensch ist «vom Urmenschen
Anführungszeichen gesetzt. Gunkel hat demgegenüber darauf aus der Höhe, vom Adamas herabgefallen und in das stoffliche
hingewiesen 10 , daß von Ironie in diesen Psalmworten keine Scherbengebilde des Vergessens herabgebracht ». Hermes, der
Spur vorhanden ist und daß die hier angeredeten Götter eben nach Odyssee 24,2ff. die Seele «durch dumpfe modrige Pfade»
Götter sind, nicht Menschen, die sich die Göttlichkeit anmaßen, führt, erscheint als der «Retter in Not», der den Seelen «zu
nämlich die Nationalgötter der Heiden. den von jeder Not befreiten ewigen Gefilden vorangeht».

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ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN

Der Logos Mercurios führt die Seelen an den Fluten des Der Gnostikerals Übermenschbei Clemensvon Alexandrien
Okeanos und am Leukadischen Felsen vorbei. Aus dem Okeanos An deinselben Psalmwort hat sich auf alexandrinischem Boden
entstehen die Menschen und die Götter, und zwar je nach der an der dortigen Katechetenschule der Grundgedanke der nach-
Bewegung der Flut: «Fließt der Ozean abwärts, so entstehen maligen Theologie des Athanasius entfaltet: Gott ist Mensch
Menschen; wenn er aber aufwärts strömt gegen die Mauer und geworden, auf daß wir vergottet würden - bei Giemens von
die Eindeichung und gegen den Leukadischen Felsen, dann Alexandrien heißt es noch: auf daß wir «Götter» würden. So
entstehen die Götter. Das bedeutet das Wort: ,,Ich habe gesagt, schreibt Clemens im «Paidagogos »12 über die Vollendung -
ihr seid Götter und Söhne des Höchsten allzumal": (nämlich rektwaic; - des wahren Gnostikers: «Dasselbe ereignet sich
dann,) wenn ihr euch beeilt, aus Ägypten zu fliehen, und durch auch an uns, deren Vorbild Christus geworden ist:
das Rote Meer in die Wüste gelangt seid, das ist aus dem unteren
(Zustand der) Vermischung in das obere Jerusalem, das die Durch die Taufe werden wir erleuchtet,
Mutter der Lebendigen ist. Wenn ihr aber wieder nach Ägypten Durch die Erleuchtung erhalten wir die Sohnschaft,
umkehrt, das ist in die untere Vermischung, dann „werdet ihr Durch die Sohnschaft werden wir vollendet,
sterben wie Menschen". Denn sterblich ist, so heißt es, alle Durch die Vollendung erhalten wir die Unsterblichkeit.
untere Zeugung, unsterblich aber ist, was von oben geboren
wird, es wird geistlich aus Wasser und Geist geboren, nicht „Ich", sagt er, ,,habe gesagt: Ihr seid Götter und Söhne des
fleischlich. Unten aber wird es fleischlich geboren, und das ist, Höchsten allzumal." »
sagt er, was geschrieben steht: ,,Was aus dem Fleisch geboren Aber auch in den «Teppichen» findet sich häufig der Hinweis
ist, ist Fleisch, und was aus dem Geist geboren ist, ist Geist." auf die Vollkommenheit des christlichen Gnostikers mit dem
Das ist nach ihrer Lehre die geistliche Zeugung.» hochgemuten Psalmwort verknüpft. «Die Gnosis ist ja sozusagen
Die Gnostiker, die das Ägypten der unteren Mischung, der eine Vollendung des Menschen als Menschen, die sich durch das
fleischlichen Zeugung hinter sich gelassen, das Rote Meer Wissen der göttlichen Dinge in bezug auf die Sinnesart und die
durchquert und sich in die Wüste begeben haben, die werden Lebensführung und die Rede erfüllt in Übereinstimmung und
in das obere Jerusalem erhöht und werden zu «Göttern». Die im Einklang mit sich selbst und mit dem göttlichen Wort 13 • »
beiden Verse von Psalm 81, 1 und 2 werden hier auf den Weg Es wird dann im einzelnen der Aufstieg zur Gnosis, die Evolu-
der Vergöttlichung des in den Rang des Gnostikers erhobenen tion vom « Pistiker » zum «Gnostiker» beschrieben. Dann heißt
Menschen und auf den Abfall von der göttlichen Bestimmung, es: «[Die Gnosis] führt zum endlosen und vollkommenen Ziele,
den Absturz in die dem Tod verfallene sarkische Existenz ge- indem sie zum voraus lehrt, was für ein Leben uns werden soll
deutet. In ähnlicher Weise wird Flut und Ebbe des Ozeans auf nach Gottes Willen in Gemeinschaft mit Göttern, nachdem wir
den Prozeß der Vergöttlichung und auf den Absturz in die befreit sind von jeder Züchtigung und Strafe, welche wir zu.
sarkische Seinsweise bezogen. heilbringender Zucht wegen unserer Vergehen zu leiden haben.
Nach dieser Befreiung werden uns der Ehrenpreis und die
Ehren verliehen, weil wir vollkommen geworden sind, das heißt
weil bei uns die Reinigung aufgehört hat, ja auch aller andere
42 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 43

Dienst sein Ende fand, wenn er auch heilig ist und unter allzumal!" Zu wem spricht hier der Herr? Zu denen, die alles
Heiligen stattfindet; dann, wenn wir „reinen Herzens" gewor- Menschliche so weit als möglich von sich weisen. Auch der
den sind, erwartet uns in der Nähe des Herrn die Wiederher- Apostel sagt: ,,Denn ihr seid nicht mehr im Fleische, sondern im
stellung durch ewige Anschauung; und solche erhalten den Geiste." Und wiederum sagt er: ,,Obwohl im Fleische, streiten
Namen von „Göttern"., da sie neben anderen Göttern, welche wir nicht mehr im Fleische", denn „Fleisch und Blut können
unter dem Erlöser die erste Stelle erhalten haben, zusammen das Reich Gottes nicht erben, noch erbt das Vergängliche die
thronen sollen. Rasch also führt zur Reinigung die Erkenntnis, Unvergänglichkeit".» Hier werden die Gnostiker als die be-
und sie ist geeignet zur willkommenen Versetzung in einen zeichnet, die «grqßer als die Welt» sind, und wiederum ist es
besseren Rang.» Der «bessere Rang», in den der Gnostiker das Wort aus Psalm 81,6, das ihre Bezeichnung als Götter
versetzt wird, ist der Rang der Götter, die unter dem Erlöser rechtfertigt, wobei als weitere biblische Zeugnisse für diese
die erste Stelle erhalten haben. Auch diese Stelle ist eine An- Deutung des Gnostikers als des Übermenschen die Aussagen
spielung auf das Wort aus Psalm 81,6 und nur das Vorhanden- über die Vergeistigung des Christen herangezogen werden.
sein dieses kühnen Wortes macht es überhaupt möglich, daß Wohl die auffälligste Beschreibung der übermensc~
eine solche verwegene Ausdrucksweise sich hier noch äußern die der christliche Gnostiker erreicht, findet sich im 4. Buch der
konnte 14, «Teppiche »16 , Hier wird die Anschauung von einer progres-
An einer anderen Stelle, in denen die «Teppiche» über den siven Entwicklung, die den Christen von der Stufe des einfachen
wahren Gnostiker reden, findet sich das Psalmwort in einer Glaubens auf die Höhe der Gnosis führt, in einen direkten
neuen auffälligen Nuance 16. Dort wird am Gnostiker die hohe Zusammenhang mit der Anthropologie der griechischen Philo-
ethische Qualität hervorgehoben, vor allem die Gabe, die sophie und deren Lehre vom Aufstieg von den niederen Seelen-
Affekte und Triebe zu überwinden. Clemens erläutert diese kräften zu der philosophischen Gnosis gebracht. In einem
Gabe des christlichen Gnostikers zuerst an den indischen kühnen Griff wird hier das Psalmwort mit einem Zitat aus
Gymnosophisten, die alle Schmerzen zu ertragen verstehen, Demokrit und aus Empedokles verkoppelt, die beide den Weg
dann an den christlichen Märtyrern. «Trefflich sagte Zenon von der Vergeistigung als den Weg der Vergottung verstehen.
den Indern, er wolle lieber einen Inder langsam braten sehen, «Darum sagt Demokrit 17richtig, daß Natur und Erziehung ver-
als alle Beweise über Schmerzen kennenlernen. Uns fließen wandt sind, und den Grund hat er in Kürze dazu gegeben:
aber täglich reiche Quellen von Märtyrern vor Augen, die lang- „Denn die Erziehung gestaltet den Menschen um, umgestaltend
sam gebraten, gepfählt, enthauptet werden. Sie alle hat die aus wirkt auch die Natur", und es ist kein Unterschied, ob ein
dem Gesetze stammende Furcht auf Christus hin erzogen und solcher von Natur geformt worden ist oder erst durch Zeit und
sie geübt, die fromme Scheu auch durch Blut zu beweisen. Erziehung umgestaltet wurde. Beides aber hat der Herr gege-
„Gott stand in der Zusammenkunft der Götter, in der Mitte ben, das eine in der Schöpfung, das andere in der Neuschöpfung
wird er Götter richten." Welche? Die stärker als die Wollust und Erneuerung durch den Bund. Was aber dem zuträglich ist,
sind, die Affekte überwinden, die ein jedes von dem, was sie was das Vornehmlichere ist, das sollen wir vorziehen, das Vor-
tun, wissen, die Gnostiker, die größer als die Welt sind. Und nehmste aber ist die Vernunft... Auf diese Weise kann der
wiederum: ,,Ich sagte: Götter seid ihr und Söhne des Höchsten Gnostiker bereits Gott werden. ,,Ich sagte: Götter seid ihr und
44 ERNST ~ENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 45

Söhne des Höchsten." Es sagt aber auch Empedokles 18 , die flußten. «,,Selig also sind, die nicht sehen und glauben." Die
Seelen der Weisen würden zu Göttern, indem er so schreibt: Wirkungen der Sirenen wenigstens bewiesen eine übermensch-
„Endlich werden sie dann zu Propheten und Sängern und liche Kraft und setzten solche, die in ihre Nähe gerieten, in
Ärzten, dann zu fürstlichen Häuptern den erdenbewohnenden Staunen, indem sie diese zur Annahme dessen, was sie sagten,
Menschen; daraus entstehen die Götter, die hochgeehrt und fast wider ihren Willen bewogen.» Die Stimme Gottes in der
gepriesen." » Heiligen Schrift als Sirene, die den Vorbeikommenden mit
Empedokles schildert hier den Aufstieg des Menschen auf dem «übermenschlicher» Macht verführt, von seinem menschlichen
Weg der Erkenntnis zu immer höheren Seinsstufen allerdings Plan und Kurs ablenkt und ihn zwingt, sich ein neues Ziel zu
in Gestalt der Reinkarnation: die Seelen der Weisen steigen setzen - wahrlich' das Bild einer kühnen Unbefangenheit, die
über den Stand des Propheten, des Sängers und Arztes und späteren ängstlicheren Jahrhunderten der Kirche gänzlich ver-
Fürsten zum Rang von Göttern auf. Die übermenschliche Stufe loren ging. Selbst ein Luther hätte wohl nicht mehr die Kühn-
d~r Götter erscheint hier also als der Abschluß eines Aufstieges, heit besessen, die Loreley christologisch zu interpretieren.
der über eine lange Abfolge von Reinkarnationen auf immer
höhere Seinsebenen hinaufführt. Mit großartiger Unbefangen- Der Gnostikerals Übennenschbei Origenes
heit ist hier diese dem altgriechischen und letzthin wohl auf In ähnlicher Weise wie Giemens von Alexandrien hat auch
indische Einflüsse zurückgehenden Reinkarnationsdenken ent- noch sein Nachfolger Origenes das Psalmwort des 8 I. Psalms
nommene Lehre von dem Aufstieg der Seele der Weisen im benutzt, um den hohen Rang des Christen zu charakterisieren,
Sinn der christlichen Endzeiterwartung und endabsichtlichen das ihn über das menschliche Maß hinaushebt. Allerdings läßt
Transformation des Menschen umgedeutet worden 19 • sich bei ihm gegenüber Giemens bereits eine gewisse Ängstlich-
Clemens verwendet durchweg den Begriff «Götter» für die keit in der Verwendung des anspruchsvollen Götternamens
Gnostiker, nicht den substantivischen Begriff des « Übermen- feststellen. Auffällig ist, daß er ihn mehr noch für die Christen
schen», obwohl die Formel, die Gnostiker seien «größer als die insgemein anwendet, ohne ihn speziell für den Gnostiker als
Erde» den Übermensch-Begriff nahelegt. Dagegen findet sich der höchsten Stufe des Christseins zu reservieren. In dem Maß,
bei ihm das Adjektiv «übermenschlich», und zwar in Verbin- als bei Origenes aus der christlichen Gnosis des Giemens eine
dung mit seiner Lehre vom Glauben. Im 2.Buch führt er aus 20 , Gemeindetheologie wird, wird auch der Sondertitel des Gno-
wie der Glaube in der Heiligen Schrift die Stinime des Gottes, stikers zu einem allgemeinen Titel des Christen.
der die Schrift geschenkt hat, «hört». Es entsteht also der Glaube Die ausführlichste Auslegung des Psalmwortes findet sich in der
nicht erst durch Stützung mittels des Beweises. Diese Wirkung Homilie zu Ezechiel I,9 21 , wo es heißt:
der Stinime Gottes in der Schrift, die für sich selbst als «un- «Und es geschah das Wort des Herrn an Ezechiel, dem Sohn des J!uz,
widersprechlicher Beweis» vom Glauben hingenommen wird, den Priester, - das Wort des Herrn, das „im Anfang beim Vater"
wird wiederum durch ein kühnes Bild illustriert, nämlich durch war, das Wort, das Gott ist, das Wort, das die Gläubigen zu „Göttern"
die Wirkung der Stinime der Sirenen auf die Vorüberfahrenden, macht. Wenn er nämlich diejenigen „Götter" nannte, zu denen das
Wort Gottes geschah, und die Schrift nicht aufgelöst werden kann,
die gleichfalls nicht «durch Beweisgründe», sondern «fast und wenn alle, an die das Wort geschah, zu Göttern wurden, so war
wider ihren ·willen» das Gehör der Vorbeifahrenden beein- auch Ezechiel ein Gott, denn das Wort Gottes geschah zu ihm. ,,Ich

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ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 47

habe gesagt: Ihr seid Götter und Söhne des Höchsten allzumal! bigen von vornherein durch die wiederholte Versicherung aus-
Ihr aber werdet wie Menschen sterben, und wie einer der Archonten zuschließen, daß diese Bezeichnung nicht als Wesensbezeich-
werdet ihr fallen." » nung, sondern nur im übertragenen Sinne im Hinblick auf die
Das Psalmwort enthält nach der Auslegung des Origenes eine Wirkung .der göttlichen Gnade verstanden werden kann. - Das
Aussage über das ursprüngliche göttliche Wesen des Menschen; Übermensch-Motiv klingt auch in der Homilie IX zum Levi-
deshalb erläutert er es durch das Wort der Genesis über Adam: ticus an 23 , und zwar bei der Auslegung des Verses:
«Siehe, Adam ist geworden» nicht «wie wir», sondern «wie «Und wenn der Hohepriester hinter den Vorhang in das Tabernakel
einer von uns», das heißt wie einer der Engelsfürsten oder eintritt, wird er kein Mensch sein.» «Wie kann. es heißen: ,,Er wird
«Götter», die bei Gott waren. Eben deshalb heißt es in Psalm kein Mensch sein"? Ich verstehe dies so, daß einer, der imstande ist,
81,2 von dem sündigen Adam: «er wurde wie einer (von den Christus nachzufolgen und mit ihm ins Innere des Tabernakels ein-
zudringen und in den obersten Himmel aufzusteigen, schon kein
Engelsfürsten) und stürzte». „Mensch" mehr ist, nach dem Wort des Herrn: ,,Er wird sein wie ein
Wird hier das Wort auf den Urstand des Menschen, auf Adam Engel Gottes." Oder vielleicht wird sich an ihm auch das Wort
als den lichten Engelsfürsten im Stande seiner ursprünglichen erfüllen, daß der Herr selbst gesagt hat: ,,Ich habe gesagt, Ihr seid
Herrlichkeit bei Gott bezogen, so findet sich in der Auslegung Götter und Söhne des Höchsten allzumal." Sei es nun, daß er geistlich
des Exodus 22 das Wort auf den Stand des Christen gedeutet. geworden zusammen mit dem Herrn ein Geist wird oder daß er durch
die Herrlichkeit der Auferstehung in den Rang der Engel übergeht,
«Mit den Worten: ,,Wer ist dir gleich unter den Göttern, Herr?", so wird er rechtens „kein Mensch mehr sein"; im übrigen möge ein
vergleicht er Gott nicht mit den Götzen der Heiden und nicht mit jeder selbst entscheiden, ob ein solcher den Begriff „Mensch" sprengt
den Dämonen, die sich fälschlich den Namen von Göttern zulegen, oder noch unter den Geltungsbereich dieses Begriffs gerechnet werden
sondern er nennt diejenigen „Götter", die durch die Gnade und kann.»
durch Teilhabe an Gott Götter genannt werden. Von diesen sagt die
Schrift an einer andern Stelle: ,,Ich habe gesagt, Ihr seid Götter", Origenes wagt hier nicht mehr recht, die Bezeichnung der
und wiederum: ,,Gott stand in der Versammlung der Götter".» Christen als «Götter» als selbstverständlich aufrechtzuerhalten.
Im Unterschied zu Celsus fühlt sich hier Origenes berufen, die Er trägt seine eigene kühne Deutung von Psalm 81, 1 zwar noch
kühne Benennung der Gläubigen als Götter einzuschränken vor, überläßt aber jedem einzelnen Leser, über diese Auslegung
und gegen eine häretische Auslegung abzuschirmen. «Wenn selbst zu entscheiden. Offenbar ist ihm selbst bereits vor der
diese hier auch noch so fähig erscheinen, Gott in sich aufzu- Göttlichkeit des christlichen Übermenschen bange geworden.
nehmen und aus Gnaden mit diesem Namen benannt zu werden, Bezeichnenderweise findet sich auch der 1. Vers des Psalms bei
so wird doch keiner erfunden, der Gott seiner Macht oder Natur Origenes nie mehr isoliert vom 2., wie dies bei Clemens noch
nach gleich [ähnlich] ist. Und wenn auch der Apostel Johannes häufig der Fall ist; der Vers I wird nicht mehr angeführt, um
sagt: ,,Meine Kinder, wir wissen noch nicht, was wir sein dem Gläubigen ein leuchtendes Ziel seiner geistlichen Evolution,
we~den, wenn es uns aber geoffenbart sein wird - nämlich von sondern den hohen Ort seines göttlichen Ursprungs zu zeigen,
dem Herrn - werden wir ihm gleich sein", so ist diese Gleichheit von dem er, wie Vers 2 besagt, abgestürzt ist. So heißt es in der
[similitudo] nicht auf die Natur, sondern auf die Gnade zu Matthäus-Erklärung24:
beziehen.» Origenes bemüht sich sichtlich, jede vermessene «Gleichermaßen ist von allen Früchten des heiligen Geistes zu han-
Ausdeutung der Übertragung des Götternamens auf die Gläu- deln. Christus will nämlich, daß seine Gläubigen besser sind als alle
ERNST BENZ (GEISTESGESCHiaHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 49

menschliche Natur, und er erhebt sie über die Natur und verlangt menschen, denen die jüdische Überlieferung selbst den Namen
von ihnen sozusagen mehr Werke Gottes als Werke von Menschen. «Götter» zuerkannte. So wird wenigstens diesen historischen
Deshalb sagt er auch zu allen, die er zur Seligkeit ruft: ,,Ich habe
gesagt: Ihr seid Götter und Söhne des Höchsten allzumal", er schilt Gestalten der Vergangenheit noch ein Name zugebilligt, dessen
aber diejenigen, die nicht Götter und Söhne des Höchsten sein wollen, Anwendung auf die Christen der Gegenwart bereits im Aus-
und sagt zu ihnen: ,,Ihr aber werdet wie Menschen sterben; denn in sterben begriffen war und nur noch selten und mit mahnenden
jeder einzelnen Sünde, wenn wir fleischlich sind und nach Menschen- Einschränkungen zugelassen wurde. Nach Origenes ist der Be-
art wandeln, tun wir nichts anderes als sterben".» In einer noch. weiter
vereinfachten Form lautet diese Antithese: «Solange einer das Gebot
griff «Übermensch» ganz aus der kirchlichen Anthropologie
des Gesetzes tut, sagt zu ihm die Schrift: ,,Ich habe gesagt: Ihr seid verschwunden.
Götter und Söhne des Höchsten allzumal." Wenn aber einer das
Gesetz übertritt, so wird zu ihm gesagt: ,,Ihr aber werdet wie Men-
schen sterben 2°." » Christus als Übermenschbei DionysiosAreopagita
Der unbekümmerte Schwung, mit dem noch ein Giemens den
Götter-Namen auf den Gnostiker als eine höhere Form des Während sich der Begriff des Übermenschen innerhalb der
Menschseins anwendet, ist hier erheblich abgebremst; der westlichen lateinischen Theologie überhaupt nicht vorfindet,
Götter-Name wird nur in Verbindung mit der bereits im Psalm- hat er sich in der östlichen Theologie aufkleinasiatischem Boden
wort ausgesprochenen Warnung vor dem Absturz von der Gott- innerhalb der Christologie gehalten, und zwar im Schutz der
ähnlichkeit auf den Gläubigen angewandt, seine Anwendbarkeit Zweinaturenlehre, die in Christus wahre Gottheit und wahre
auf den Christen als eine Deutung ausgegeben, deren Richtig- Menschheit vereinigt sah. So findet sich in der mystischen
keit dem Urteil des Lesers anheimgestellt wird - man spürt, Theologie des Pseudo-Dionysios Areopagita 27 , dessen Schrift-
daß der christliche Übermensch, der kühne Entwurf der christ- tum wohl Ende des 5.Jahrhunderts auf syrischem Boden ent-
lichen Gnosis, keine rechte Sympathie mehr genießt und wun- standen ist, die Bezeichnung Christi als «Übermensch» im
dert sich nicht, ihn bald aus der Anschauung und dem Wort- Zusammenhang mit der Darlegung der Zweinaturenlehre.
schatz der christlichen Gemeinden der Großkirche verschwinden Christus hat das Wesen der menschlichen Natur in seine Gott-
zu sehen. heit aufgenommen und hat dadurch
Immerhin findet sich auch im Sprachschatz des Origenes noch «das menschliche Wesen ins Übermenschliche erhoben» ... «Zusam-
das Adjektiv «übermenschlich», und zwar bei seiner Beschrei- menfassend können wir sagen: Er war nicht Mensch, aber nicht so,
als sei er kein Mensch gewesen, sondern als einer, der vom Mensch-
bung der alttestamentlichen Richter 26 , von denen es heißt, daß
lichen her über das Menschliche hinaus war und ins Übermenschliche
sie «um ihrer reinen und übermenschlichen Sittlichkeit willen hinein wahrhaft Mensch wurde. »
nach einem väterlichen Brauch der Juden „Götter" genannt
wurden», offenbar unter Anspielung auf Exod. 22, 28, wo es
heißt: «Den Göttern sollst du nicht fluchen, und die Obersten Der Übermenschin der mittelalterlichenMystik
im Volk sollst du nicht verachten» (vgl. Exod. 21,6). Die
Richter scheinen hier um . ihrer hochstehenden Sittlichkeit Von der Christologie her ist dann immer wieder vor allem im
willen - ähnlich wie bei Giemens die Gnostiker - als Über- Bereich der christlichen Mystik der Begriff des l)bermenschen
ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN

auf den erlösten Gerechten, den Charismatiker, den Heiligen, und zwar sowohl im Bereich der Christologie wie im Bereich
übertragen worden. Diese Übertragung lag in der Linie der der Geistlehre. Als «übermenschlich» erscheint Christus selbst
mystischen Theologie selbst, denn der Gerechte ist ja der, der wie auch der Charismatiker, der Geistträger. So kann ein be-
in Christus «eingeformt » wird, der Christus «gleichgestaltet » rühmter Volksprediger, wie Geiler von Kaisersberg ( 1445- 15 ro)
wird und der in ihm, das heißt durch die Einigung mit ihm die das Adjektiv «übermenschlich» in einer Volkspredigt als einen
«Vergottung» erfährt. Auf diesem Weg und in diesem genuinen geläufigen Begriff verwenden, dessen Verständnis er bei seinen
christlichen Sinn ist der Begriff des Übermenschen auch in die schlichten Hörern voraussetzt. Bei ihm ist der Begriff auf
deutsche Sprache eingedrungen. Christus angewandt, und zwar in Verbindung mit der Ver-
Der Begriff des Übermenschen scheint in der mittelhochdeut- suchungsgeschichte (Matth. 4, 1 f.). Dort heißt es: «Dö der bösz
schen Literatur zu fehlen. In der Sprache der mittelalterlichen Geist sah ... dasz er [Christus] so lang was in der wüste und 40
deutschen Mystik taucht er nirgendwo auf, obwohl die Sache tag und 40 nächt fastet, das dö übermenschlich art ist nach
selbst in der Theologia mystica aufs stärkste hervortritt: Wenn gemeynem lauffa 0 • » Das ungewöhnlich lange Fasten, sonst
Meister Eckhart vom Menschen erklärt, in der Unio mystica Zeichen der Geistbegabung des Wüstenasketen, ist hier Hinweis
werde er so sehr mit Gott eins, daß er mit Gott an der Welt- auf die übermenschliche Natur Christi.
schöpfung und Welterhaltung mitwirke 28 , so ist damit die Erhe-
bung des Menschen ins Übermenschliche in ihrer extremsten
Form ausgesprochen. Der christlicheÜbennenschim Schrifttum der Refonnationszeit
Auch Eckhart hat den Gedanken der Vergottung des Menschen
nicht nur in dem Hochgefühl verstanden, das ihn veranlaßt, Die Begriffe « Übermensch, übermenschlich» finden sich dann
vom Ungeschaffenen in der Seele zu sprechen, sondern er hat in dem deutschsprachigen Schrifttum der Reformationszeit
auch zur biblischen Begründung dieses hochgespannten Ge- zwar zahlenmäßig selten, aber immerhin als Worte, deren
dankens auf das Wort Psalm BI, 1 Bezug genommen, das die Geläufigkeit und allgemeine Verständlichkeit vorausgesetzt
Menschen mit dem Götternamen benennt. wird. Bezeichnenderweise taucht das Wort und die Sache des
«Augustinus spricht: waz der mensch liebhat, daz wirt er in der liebe. Übermenschen in der Reformationszeit im Zusammenhang mit
sollend wir nun sprechen: hatt der mensch gott lieb, daz er dann dem Ringen um ein neues Verständnis des Charismatikers, des
got werde? das hilt, als ob es unglaublich sy. die liebe, die ein mensch «geistlichen Menschen», auf. Nach der mittelalterlichen Auf-
gibt, do ensind nit zwey, me eyn und eynung, und in der liebe bin
fassung war die Vita spiritualis vor allem durch den Stand der
ich me got, dann ich in mir selber bin. Der Prophet spricht: ,,Ich
habe gesprochen, ir sind götter und kinder des aller höchsten." Mönche repräsentiert, deren besondere Geistigkeit und Heilig-
daz hellt wunderlich daz der mensch also mag got werden in der keit in der Befolgung der «evangelischen Räte» bestand, jenen
liebe; doch so ist es in der ewigen warheit war, unnser herr Jesus Forderungen der Heiligung, die in dem dreifachen Gelübde der
hatt es (nämlich die Vereinigung von Gottheit und Menschheit) 29 • » Keuschheit, der Armut und des Gehorsams zusammengefaßt
Immerhin scheint der deutsche Begriff «übermenschlich» be- waren. Der Mönchstand hieß nach der altkirchlichen Bezeich-
reits im Spätmittelhochdeutschen in der geistlichen Literatur nung der «Engelsstand», das geistliche Leben des Mönches das
wie auch in der deutschen Predigt verbreitet gewesen zu sein, «engelhafte Leben».
52 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 53

Gerade dieser Standesanspruch des Mönchtums, innerhalb der siert worden war - nur daß eben hier der Begriff des Über-
Bußordnung der Kirche den höchsten Stand der Heiligung zu menschen von den Vertretern zweier verschiedener Auffas-
bilden und den Ordo angelicus zu repräsentieren, wird nurnnehr sungen vom Wesen des Charismatikers ironisch-polemisch ge-
von Luther angefochten. In seiner Kritik dieses Standesanspruchs geneinander zur Ablehnung des vorgeblichen Anspruchs der
hat er den Begriff «übermenschlich» verwandt: « [Die Orden] Gegenseite benutzt wird.
haben eyn eygen gehorßam und demut angericht nach yhren Das zitierte Wort findet sich in dem Brief des Dominikaners
statuten. Noch geben sie für, yhrer gehorsam sey ubermensch- Hermann Raab, des Provinzials der Ordensprovinz Sachsen
lich, volkomlich unnd gleych Engelisch, szo keyn ungehor- und Thüringen, eines Amtsnachfolgers Meister Eckharts, aus
samer, undemütiger volck auff erden ist denn sie 31 • » Wie dem Jahre 1527. I'n diesem Brief warnt der Ordensprovinzial
Lukian seine Ironie gegen das angemaßte Übermenschentum eine der lutherischen Lehre zugewandte Nonne, sich dieser
der kleinen Staatsgötter seiner Zeit richtet, so ironisiert hier Lehre ganz zu verschreiben und sich von der Befolgung der
Luther die angemaßte Übermenschlichkeit des Mönchstandes « evangelischen Räte» unter Berufung auf eine falsche evange-
seiner Zeit, dessen «Engelsgleichheit» er durch seine Ironie zu lische «Freiheit» leichtfertig zu dispensieren. In diesem Zu-
untergraben hofft. Dem Übermenschentum eines Standes, der sammenhang schreibt er:
sich die Geistesfülle anmaßt, setzt er sein neues Verständnis «Aber diesem meynem tocherleyn, dem ich die kappen auff yre pete
vom Christen gegenüber, der im Glauben an Christus wieder- angecogen, gefallen, wie dann allen Lutherschen, außwendige wercke
geboren und dadurch «geistlich» geworden ist. nicht. dann sye wandeln alleyn ym geist: vnd seyen vbermenschen
vnd vbermenschliche engel vielleicht. oder engelysch vnd gantz geyst
Aber gerade diese reformatorische Auffassung von dem gläubi- worden. daß sie menschlicher werck nicht merh dorffen vben vnd
gen Christen als der wahren Gestalt des «geistlichen», charisma- schweben alleyn im geyst. vnd ist yn eytell menschlere vnd menschen-
tischen Menschen stößt auf den Widerspruch der alten, an standt. waß yn nicht gefeit. Nicht wunder. ßo sye gantz geyster seyn
Ordination und Gelübde gebundenen Auffassung vom «geist- worden, vnd weder essen noch trinken. noch cleyder antragen. dieweyl
lichen Menschen». Es ist bezeichnenderweise ein Angehöriger das reich gottes nicht darynnen steht, wie sanct Pawl sagt. vnd sye
also daßselbe reich gottes für sich alleyn halten wollen. vnd denn
des von Luther so abgewerteten Mönchstandes selbst, der als gantz absprechen die sich aus gutem. eygenem, freyen. ewangelischen
Gegner der Reformation das Substantiv «Übermensch» in radt vnd willen darzu begeben vber daß jhenige daß sye halten die
einem ironisierenden Sinn auf Luther und seine Anhänger an- gepot gottes. verlassen vater. muter. ecker. hewser. bruder. schwester
wendet und ihnen die Behauptung unterstellt, «sie wandeln vnd alles guth dieser werlt 32 » usw.
allein im Geist und sind Übermenschen und übermenschliche Daneben hat sich der Begriff «übermenschlich» auch noch in
Engel». Auch hier erscheint der Übermensch als der Charis- seiner alten Bedeutung als Bezeichnung des Charismatikers bei
matiker; das Wort « Übermensch », das hier zum erstenmal Paracelsus erhalten. In seiner Schrift über die Beulenpest spricht
nachweislich in der deutschen Literatursprache als Substantiv er von den Weissagungen der alttestamentlichen Propheten wie
auftaucht, ist mit dem Begriff des Engels kombiniert, wie Asaph und David über die Ursachen der Pest: «Diese alle
Luther das Adjektiv «übermenschlich» mit dem Adjektiv haben nicht menschlich geret, sondern übermenschlich 3 3 • »
«engelgleich» verknüpft, durch das bereits in der alten Kirche Freilich ist bei ihm der Begriff der Erleuchtung nicht mehr in
das charismatische Übermenschentum der Eremiten charakteri- dem korrekten dogmatischen Sinn einer Erleuchtung mit über-
54 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 55

natürlichen Geistesgaben verstanden, sondern ist bereits in die nicht müde werden, von dem «hocherleuchteten » Boehme
einem modernen, dem Menschenbild der Renaissance näher- zu sprechen, findet sich auch die Bezeichnung seiner Bücher
stehenden Sinn auf die höheren Geistesgaben angewandt, die als «übermenschlicher » Schriften 3 5 •
hier gleichfalls als Geschenke einer göttlichen Erleuchtung gel- All dies sind aber nur sporadische Einzelfälle in der Literatur
ten. Die Menschen sind zunächst nicht mit geistigen Kennt- des 15. und 16.Jahrhunderts. Der Begriff des «Übermenschen»
nissen und Erkenntnissen ausgestattet, sondern erhalten diese in seinem ursprünglichen christlich-charismatischen Verständ-
erst nachträglich durch eine besondere göttliche Geisterleuch- nis hält seinen eigentlichen Einzug in die neuhochdeutsche
tung; sie «sind nackt _und bloß geboren und bringen weder Literatur auf dem Wege über die pietistische Erbauungsliteratur.
Kunst noch Weisheit mit uns vnnd warten der gnaden Gottes, Einer der bedeutendsten norddeutschen lutherischen Theologen
was er uns zuschickt und gibt uns nit mehr von freien Stücken aus der Gruppe der sogenannten Reform-Orthodoxie, der
dan das Leben. Also wissent hierauf, wir könten nie die Erde Rostocker Superintendent Heinrich Müller (1631-1675), der
bauen und wissen dieselben zu herrschen wie ihr zugehört, so Verfasser zahlreicher Erbauungsbücher, hat seine besondere
wir nit ein übermenschlichs Liecht hetten, das uns lemete3 4 ». Berühmtheit durch seine « Geistlichen Erquickungsstunden »
Wissen und Kunst des natürlichen Menschen sind nicht Natur- erlangt, ein Werk, das zu einem der meistgelesenen Erbau-
gaben, die er von Geburt mitbringt, sondern sind bereits Aus- ungsbücher des 17. und 18.Jahrhunderts wurde. Dieses An-
strahlungen eines übermenschlichen Lichtes. Bereits im natür- dachtsbuch weist einen starken Einschlag mystischer Theologie
lichen Menschen leuchtet das Geistige als ein Strahl des über- auf. Es ist von dem Gedanken beherrscht, daß das Heil des
menschlichen auf. Hier macht sich der Einschlag des Huma- Menschen in seiner Einformung in Christus besteht. Das Ziel
nismus bemerkbar; der «Übermensch» ist nicht mehr allein der Frömmigkeit ist es, die Gleichförmigkeit mit Christus zu
der Charismatiker im kirchlichen Sinne, sondern auch der erlangen. In diesem Zusammenhang findet sich ein bedeutungs-
große Arzt, der große Künstler, Gesetzgeber und Erfinder. volles Kapitel über das Christ-Sein, in dem Heinrich Müller
zwei wichtige Begriffe in die moderne christliche Anthropologie
einführt, die von nun an bis in die Sprache der deutschen
Das Bild des Übermenschen Klassik und Romantik hinein immer miteinander verbunden
in derprotestantischenMystik auftreten, den Begriff des Unmenschen und des Übermenschen.

«Vom Ohn-Menschen. Kein Mensch, kein Christ. Wer wolte das


Die Idee von dem Charismatiker als dem von Gott mit über-
läugnen? sprichst du: wie kan ein Christ seyn, der kein Mensch ist?
natürlichen Geistesgaben begnadeten Übermenschen findet Ach! wie mancher gibt sich vor einen Christen aus, und ist doch kein
dann ihre Erneuerung in der protestantischen Mystik. Jakob Mensch, sondern ein stößiger Ochs, ein beißiger Hund, ein listiger
Boehme, dessen «Blick ins Wesen aller Wesen» von ihm selbst Fuchs, ein grimmiger Löw, ein geiles Kalb, ein garstige Sau, eine
als Ausfluß einer besonderen Begnadung verstanden wurde, gifftige Schlange, ja in Mord und Lügen ein Teufel. Den Menschen
ziehest du aus, und wilt dich rühmen, du habest Christum angezogen.
erschien seinen Schülern als der neue zeitgenössische Typus des Ist nicht Christus ein Mensch worden? Kan auch die Menschheit
geisterfüllten Propheten, als der Erstling einer neuen Aus- Christi von der Gottheit getrennt werden? Kanst du auch Christum
gießung des Heiligen Geistes. Bei denselben Boehme-Schülern, anziehen ohne den Menschen? Nichter Ruhm! Kein Mensch, kein
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 57

Christ. Nach GOttes Bild war der Mensch erschaffen, und Christus Die Stimmung dieses Hochgefühls des Erlösten macht sich in
ist das Ebenbild Göttliches Wesens, in Christo wird der Mensch nach dem Gesamtbereich der Barock-Mystik bemerkbar und schlägt
GOttes Ebenbild erneuert, und dann fängt er erstlich recht an ein sogar bei dem demütigsten der Mystiker dieser Epoche, bei
Mensch zu seyn. Mein, du must hie scheiden den Menschen vom
Menschen, den Vater und Mutter gibt, von dem Menschen, den Gerhard Teersteegen durch:
Christus macht: den alten vom neuen. Jener ist ein Ohn-Mensch, «Ich bin auch was Großes.
dieser ein wahrer Mensch: Jener nach Adam, dieser nach GOtt ge- Gott selbst mein Vater ist; ich bin des Sohnes Braut;
bildet: Jener geerbet, dieser geschencket: Jenem must du ab-, diesem Sein Geist das Pfand und Band, wodurch ich ihm vertraut;
must du anhangen. Im neuen Menschen bist du ein wahrer Mensch, Gott hat mir mehr geschenkt, als allen Seraphinen;
ein Über-Mensch, ein GOttes- und Christen-Mensch ... Ich will mich Die Engel stätig mich begleiten und bedienen
bemühen, ein neuer l'viensch in Christo zu werden, so bin ich beydes, Ich habe was ich will; die ganze Welt ist mein;
ein Mensch und ein Christ; GOtt helff mir 36 • » Die Hölle fürchtet mich; ich fürchte Gott allein;
Der Begriff « Übermensch » ist hier zur Bezeichnung des er- Im Himmelwandel ich' als eine Königinn;
Sag, armes Weltkind, ob ich nicht was Großes bin 37 ? »
lösten Christen verwandt, der in seiner Einformung in Christus
die Vergottung erfahren hat. Der Pietismus hat hier das alt- Diese ungewöhnlich hohe Steigerung des Selbstbewußtseins des
christliche futuristische Verständnis vom «Neuen Menschen» Erlösten reicht schon fast wieder an das Paraklet-Bewußtsein
wieder erneuert und das rein repristinative Menschenbild der Montans heran: im Erlösten hat die neue Menschheit der Zu-
Orthodoxie überwunden. Heinrich Müller beschreibt auch sonst kunft schon begonnen, der Übermensch des kommenden Äons
den hohen, ja übermenschlichen Rang des durch Christus er- ist schon gegenwärtig; die Gefolgschaft der Erstgeborenen
hobenen Menschen in fast ekstatischer Überschwenglichkeit als unter den Toten beginnt sich schon auszubreiten.
Ich-Erlebnis in den Worten: Hier :wird aber auch verständlich, weshalb die Kirche von
«Ich bin schon samt Christo in das himmlische Wesen gesetzt, Eph. Anfang an darauf drängte, dieses erhabene Selbstbewußtsein
2,6. Ich hab einen himmlischen Geist, das Pfand meines Erbes. Ich des Charismatikers zu dämpfen und auf ein Normalmaß «ein-
habe eine himmlische Speise, das Brod des Lebens, das verborgene facher christlicher Personbildung » herabzudrücken. Innerhalb
Manna, Joh. 6. Ich habe himmlische Aufwärter, die heiligen Engel,
einer kirchlichen Gemeinschaft mit einer festen Amtshierarchie
die mich auf den Händen tragen, Ps. gr. Ich habe eine himmlische
Kleidung, bin angethan mit der Sonnen der Gerechtigkeit. Ich habe werden Übermenschen immer als unangenehm empfunden; so
einen himmlischen BräutigamJEsum. Ich schmecke schon die Kräffte hat sich auch dieses urchristliche « Übermenschentum » nur im
des Himmels, und fällt mir ein süß Tröpflein nach dem andern ins Bereich des Wüsteneremitentums erhalten, wo es sich außerhalb
Hertz. Ich sammle mir täglich Schätze im Himmel, Matth. 6. Ja, der menschlichen, fast sogar außerhalb der kirchlichen Gemein-
was noch mehr ist, ich hab nicht nur mein Hertz, sondern auch meinen
Fuß im Himmel, Phil. 3, 20. Wilt du noch läugnen, daß ein Kind schaft realisierte.
GOttes seinen Himmel auf Erden habe? Von der Höllen weiß ich Ebenso wird an den genannten Schilderungen des christlichen
nicht. Bestreiten mich die Höllen-Pforten, sie mögen mich doch nicht «Übermenschen» klar, daß in der Tat in dem christlich ver-
überwältigen. Ich zutrete alle höllische Feinde durch die Krafft standenen Übermenschentum eine große Gefahr liegt: Men-
GOttes. Ficht mich Höllen-Angst an, ich halte sie vor lauter Himmels-
schen, die in dem Bewußtsein leben, Engel als Dienstboten zu
Lust. Vom Himmel kommt sie. Kan auch Angst vom Himmel kom-
men? Gott ist bey mir drinn, und verzuckert sie mir mit himmlischem ihrer Verfügung zu haben und allen Anfechtungen des bösen
Trost.» (daselbst) Feindes überhoben zu sein, geraten leicht in einen Zustand des
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 59

«Jenseits von Gut und Böse». So sind gerade solche hochge- Integration, eine Tendenz, die sich nicht mit einer restaurativen
spannten charismatischen Bewegungen gelegentlich, auch in Betrachtung der Erlösung begnügt, sondern die Heilsgeschichte
gewissen Konventikeln des Pietismus, aus einem asketischen von einem gewaltigen Zug der progressiven Vervollkommnung
Radikalismus in einen sittlichen Libertinismus umgeschlagen, durchwirkt sieht, deren klare Ausgestaltung am Ende der Heils-
weil ihre Charismatiker sich dem Bereich der Sünde so sehr geschichte in der Epoche des Heiligen Geistes erwartet wird
enthoben wußten, daß sie sich einbildeten, ungestraft und ohne und deren schöpferisches Ergebnis der erhöhte, verklärte, ver-
Reue sündigen zu dürfen. gottete Mensch, kurz der «Übermensch» ist. Ein pietistisc~es
Die emphatische Beschreibung des unvergleichlich hohen Stan- Erbauungsbuch qat diesen Begriff zuerst in breitere Volkskreise
des des erlösten Christen ist ein wesentliches Element des spiri- hineingetragen.
tualistischen Christentums der radikalen pietistischen Kreise
geblieben und findet sich ebenso bei den Schülern Jakob Der christlicheÜbermensch
Boehmes wie bei den sogenannten Philadelphen, zu denen auch in der Christologieund AnthropologieLavaters
Gottfried Arnold gehörte. In einer dem Kreis der Philadelphen
entstammenden Erbauungsschrift «Die Morgenröthe der Weis- Wie stark das mystisch-spiritualistische Verständnis des « Über-
heit und der Baum des Lebens» (1762) heißt es3B: menschen» noch bis in die Goethe-Zeit hinein wirkte, wird
«So haben wir nun in Adam durch den Fall ein irdisches verlohren,
einem bei einer Persönlichkeit wie Lavater deutlich. Er hat
und hergegen ein göttlich, geistlich und himmlisches wieder bekommen seine Idee des übermenschlichen vor allem in dem Werk dar-
durch Christum, und seynd demnach der Wiedergeburt nach aus gelegt, das den tiefsten Eindruck auf die religiöse Ph~tasie und
GOtt gezeuget, empfangen und gebohren, aus seinem Saamen, und die spekulative Kraft seiner Epoche gemacht hat, semen «Aus-
aus dem Saamen des lebendigen, selbstständigen und leibhaftigen sichten, in die Ewigkeit». Dieses Werk ist ein Gemälde der
Worts, das ist, dem Wesen nach, aus Christi seinem Fleisch und
Gebeine, eine geistliche Eva des allerhöchsten Adams, eine Braut des zukünftigen Entwicklungsfähigkeiten des Menschen. Allerdings
Lammes, eine Tochter des Vaters der ewigen Welt, ein Kind des spricht hier Lavater von einer Entwicklung, die sich erst im
lebendigmachenden Geistes, eine Schwester des Königs aller Könige, Jenseits vollendet, als ein Prozeß fortschreitender Veredelu~g
und eine Blut-Freundin des Allerhöchsten, nach einem auserwählten und Vergeistigung im Leben nach dem Tode. Trotzdem 1st
Königlich-Priesterlichen Gechlecht, theilhaftig der göttlichen Natur,
nach dem Wesen, Gemeinschaft und Eigenschaft des Zeugniß, Namens
dieses jenseitige Ideal als Ziel einer Entwicklung gedacht, auf
und Offenbarung GOttes, ein Kind und Erbe GOttes und Miterbe das sich der gläubige Christ bereits hier und jetzt hinbewegt
Christi.» und das bereits anfänglich in unserer Zeit Gestalt annimmt.
Hier findet sich zwar nicht der Begriff des Übermenschen; Urbild und Modell der Entwicklung des Menschen ins Über-
doch die Grundstimmung, die emphatische Gefühls- und Be- menschliche ist die Gestalt Jesu, in dem sich Gottheit und
wußtseinshaltung ist hier dieselbe wie in der Erbauungsschrift Menschheit auf vollkommene Weise vereinigen.
Heinrich Müllers und liegt durchaus im Bereich der über- Lavater hat den Gedanken der Entwicklung auf Jesus selbst
schwenglichen Sprachbildungen dieser futuritischen Gemüts- angewandt. Ihm erscheint ein Gottmensch unverständlich, der
haltung. sozusagen fertig vom Himmel herabkommt - ein solches Wesen
In der Geisttheologie wie in der Mystik wirkt ein Zug zur könnte nicht ein Erlöser der Menschen sein, es wäre uns zu
60 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)
DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN

fremd, um uns helfen zu können. Jesus selbst ist erst während gleichsam auf Erden verträte; im Glauben an ihn die We:ke, ~~ noch
seines Erdenlebens in sei.n übermenschliches Wesen hinein- größere Werke thun könnte, als Er gethan hat,. - der nn bibli~chen
gewachsen. Kaum ein anderer Theologe seiner Epoche hat in Sinn, Eines mit Christo wäre; in welchem Christus lebte ... Konnte
einem so wörtlich verstandenen Sinn den Satz des Evangeliums: man sich einen glückseeligern Menschen auf Erden de~en? Könnte
es für die menschliche Natur einen wünschenswürdigern Zustand
«Jesus nahm zu an Alter, Weisheit und Gnade» (Luk. 2,52)
geben, als diese unerschöpfliche Fülle des uneigennütz!gsten Wohl-
zur Grundlage seines VerständnissesJesu gemacht wie Lavater. wollens verbunden mit einer unbeschränkten Macht, die demselben
«Der außerordentliche Mann, der der Haupt-Gegenstand, wenigstens, allemai' unfehlbar und so gewiß zu Gebote stünde, wie uns itzo unsere
der neuern göttlich angegebenen Schriften zu seyn scheinet, fängt Glieder zu unsern täglichen Verrichtungen alsobald und gewiß zu
eben so klein an, wie andere Menschen. Er wird überhaupt wie ein Gebote stehen? Icl;i kann mir nichts erhabeneres, nichts würdig~rs
Mensch von einem sterblichen frommen Weibe gebohren. Sein Geist denken. - Und darinn setze ich das Wesen der künftigen Glückseelig-
geht denselben Weg, den überhaupt der Geist aller Menschen gehen keit der vollendeten Gerechten 40 • »
muß. Nach und nach, wiewol schneller, aber überhaupt auf eben die Kommt in dieser Beschreibung der Begriff« Übermensch» nicht
Art, .wie bey andern Menschen, wachsen seine Kenntnisse. In ihm
schwinget sich die menschliche Natur zur höchsten denkbaren Voll- vor, so findet sich doch eine Reihe analoger Begriffe, die hier
kommenheit ... Kurz: er ist Alles in Allem 39 • » den übermenschlichen Stand des Christen beschreiben. Lavater
Die Vervollkommnung der menschlichen Natur dringt hier schreckt nämlich selbst einen Augenblick vor den Konsequenzen
deutlich in übermenschliche Bereiche vor, wie die Aufzählung dieses seines Grundgedankens zurück, aber er widerlegt seine
eigenen Bedenken gegen die Auffassung vom Christen als Über-
der «unumschränktesten Macht über die Cörper- und Geister-
welt» bekundet. Eben deswegen, weil diese Stufe höchster Voll- menschen, indem er sich auf zwei Argumente beruft: einmal
kommenheit bei Jesus selbst auf dem Wege eines Wachstums, auf die Verheißung Christi selbst, der seinen Jüngern eine
erreicht ist, weil «sein Geist denselben Weg geht, den überhaupt zukünftige Erhöhung verheißen hat, und zweitens auf die über-
der Geist aller Menschen gehen muß», deshalb ist es möglich, menschlichen Geistesgaben, mit denen Christus seine Jünger
daß der «außerordentliche Mann» Jesus das Vorbild der Ver- ausgerüstet hat.
vollkommnung aller Menschen sein kann. «Es wäre allerdings der Gedanke viel zu kühn, und der menschlichen
Natur überlegen, - daß wir Christo an Herrlichkeit ähnlich werden
«Und zu einer ähnlichen Glückseeligkeit können (nach der Lehre soll wenn ihn Christus selbst nicht im Namen Gottes gepredigt hätte.
dieser vorgeblich göttlichen Schriften) alle die gelangen, die eben den
Ab;r er predigte ihn nicht nur, sondern er hinterließ au~h das Si~gel
Weg des Glaubens und des Gehorsams betreten, auf dem er von dem
von dem gedoppelten gleicherhabenen Gedanken: - - ~rr sollen~
Staube der Erde zu dieser unendlichen Höhe hinangeklimmt ist. In in der Zukunft an Herrlichkeit ähnlich werden; Und - diese Herrlich-
der That: Erhabeneres läßt sich nichts denken; Nichts, das mehr das keit soll in etwas moralischem, oder eigentlicher, in dem Besitz großer
Gepräge der Göttlichkeit hat, als eben diese durchaus so merkwürdige
Verstandeskräfte, großer Naturkräfte, großer willkürlicher Kräfte -
Begebenheit, insofern sie wahr seyn sollte ...
zu moralischen Zwecken bestehen. - Beyde Seiten dieses Gedankens
Nun stelle man sich einen Menschen vor, voll der edelsten, uneigen-
wurden dem Philosophen und dem Einfältigen dadurch anscha~ch
nützigsten, menschenliebendsten Gesinnungen ... Einen Menschen, der
gemacht, daß die Apostel und ersten Christen, nach d~m Maße ihres
vermittelst des Glaubens, von dem unser Erlöser ... behauptet, daß ihm
Glaubens und ihrer Liebe, Werke verrichten konnten, die all~ mensch-
alle Dinge möglich sind, wo es zum Besten anderer dienen würde,
lichen Einsichten und Kräfte weit überstiegen. Jeder war em beson-
Berge versetzen oder Berge-ähnliche Hindernisse seiner guten Ab-
derer Abdruck einer besondern moralischen - und sodann auch
sichten aus dem Wege räumen könnte, einen Menschen, der Christum
physischen und politischen Seite Christi. Nicht nur die Apostel, nicht

• I',,
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 63

nur die ersten Christen, nein! Alle Christen haben an der ausdrück- Anstrengung der ihnen, mit allen Menschen gemeinen natürlichen
lichen Verheißung Jesu Theil: Wer an mich glaubt, der wird die Kräfte, gewisse Cörper aus ihrer Stelle verrücken, zerrüttete Cörper,
Werk~ auch thun, die ich thue, uhd wird größere, denn diese thun, die keine gewöhnliche Kunst herstellen konnte, mit Einern Winke
denn ich gehe zum Vater4I, » herstellen, und ganze Vollständige mit Einern Winke zerrütten und
verderben; Menschen, die Berge aus ihrer Stelle versetzen, Todte
Lavater wendet sich hier ausdrücklich gegen jede zeitliche Be- wieder lebendig machen, Flüsse zertheilen, dem Donner gebiethen,
grenzung der Gültigkeit jener Verheißungen Christi. Christus die Sonne selber mit einem Wort still stellen, den Himmel zu und
bleibt das Ziel und Urbild der Vollkommenheit, die dem wieder aufschließen konnten; Sterbliche Menschen, Menschen von
Menschen durch ihn verheißen und in ihm erreichbar ist. derselben Natur, derselben Herkunft, und überhaupt denselben
menschlichen Leidensch~ften und Schwachheiten unterworfen, wie wir
«Was ist der Mensch? - Ein freyes, lebendiges, selbstthätiges Wesen, sind. Daß es solche Menschen gegeben habe, das wissen, das glauben
begabet mit empfindenden, denkenden, moralischen, physischen alle Verehrer der Schrift.
Kräften, die sich unendlich vervollkommnen lassen; Ein Wesen, das Es sind uns keine Werke der Allmacht bekannt, welche so sehr oder
vermögend ist, die größten Veränderungen in dem Zusammenhang weiter über das Gebiet der menschlichen Kräfte hinaus gesetzt schei-
aller Dinge zu bewirken und zu veranlassen; ein Wesen, das bestimmt nen - als die plötzliche Auferweckung eines Tadten; Die plötzliche
ist, ohne Aufhören thätig zu seyn; Bestimmt zu einer Vollkommenheit, Belebung gelähmter ausgedörrter Glieder; Die plötzliche Belehrung
die alle Begriffe übersteigt, und die allemal, so gering man dieselbe fremder, nie gelernter und nie gehörter Sprachen; Und, was ganz
auch immer vorstellen würde, in dem Plan der Schöpfung von un- allein das Monopolium der Allmacht zu seyn scheinet: Die Kraft, alle
bestimmlich großer Wichtigkeit seyn muß, weil sie ohne Aufhören diese Kräfte (vermittelst der Auflegung der Hände) andern sterblichen
fortwachsen soll; ein Wesen, das dem vollkommensten Wesen in dem Menschen mitzuteilen, oder in ihnen zu erwecken. So übermenschlich,
unermeßlichen Reiche der Gottheit, dem Gottmenschen ähnlich wer- übernatürlich diese Kräfte alle scheinen, und wirklich sind, sie waren,
den soll; - Und ein solches Wesen zu zeugen oder nicht zu zeugen, wenigstens eine Zeitlang, wenigstens gewissen Menschen anvertraut. -
stehet in der Gewalt und in der Freyheit eines Erdenwurms42, » Es ist also nicht unmöglich, daß der verklärte Mensch, wenn allenfalls
diese Kräfte nicht unmittelbar in seine Natur hineingepflanzt werden
Von hier aus werden auch bereits die großen Charismatiker des könnten, dennoch solche und ähnliche nach Beschaffenheit seines
Alten und Neuen Testamentes als die Übermenschen beschrie- moralischen Zustandes, eben so wo! sich zueignen, und völlig mit
ben, deren Übermenschlichkeit in der Ausrüstung mit der derselben Freyheit brauchen könnte, als er seine unmittelbaren phy-
göttlichen Kraft des Heiligen Geistes bestand. Dabei werden sischen Kräfte brauchen kann; Nicht unmöglich, daß er mit und in
Gott allmächtig seyn kann 4 3 • »
gerade die parapsychischen und supramentalen Geisteskräfte als
charakteristisch für den christlichen Übermenschen hervor- Hier wird bei der Beschreibung des erhöhten Menschen der
gehoben: die Telekinese, die Herrschaft über die Elemente und Zukunft, des christlichen Übermenschen, der Nachdruck gerade
über die Naturgesetze, die Herrschaft über die Dämonen und auf die über alle natürlichen menschlichen Fähigkeiten und
über die Mächte, die Vollmacht über die Geister, und die Wirkungsbereiche hinausgehende Macht und Kraft gelegt. Der
Überwindung des Todes. Charismatiker ist ein echter Übermensch, weil in ihm ganz
neue Fähigkeiten hervortreten, die sonst im Bereich des Na-
«Es hat Menschen gegeben, mit Kräften, vermittelst deren sie Ver-
änderungen in der Cörperwelt bewirken konnte, welche die natürlichen, türlich-Menschlichen nicht zu finden sind. Dies gilt bereits für
gewöhnlichen, allen Menschen gemeinen Kräfte unmöglich zu be- die Apostel, die «übermenschliche Kräfte besaßen, und andern
wirken vermögens wären. - Es gab Menschen, die mit einer leichten haben mittheilen können 44 ».
Berührung, oder ohne einige Berührung in einem Augenblick, ohne Lavater benutzt die Bekundungen dieser Macht bei den großen
,i'
1';

DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 65 11


ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)

Heiligen der christlichen Kirche um daraus Rückschlüsse auf 1i


Der christlicheÜbermensch
den Zustand des vollendeten Christen nach dem Tode zu
bei Hegel und David FriedrichStrauß
'.li
1:•
,,
'
ziehen - und gerade die Schilderung der zukünftigen Vervoll- 111
kommnung des Menschen in seinem Leben nach dem Tode ist 1.I,
der eigentliche Gegenstand seiner «Aussichten in die Ewigkeit». Auch späterhin bis in die Epoche seiner Popularisierung durch
Nach dem Tode werden sich im erlösten Christen gerade solche Nietzsche hinein hat das Wort «Übermensch» immer seine
übernatürlichen Fähigkeiten weiter entfalten, die sich im Leben Verbindung mit einer christlichen Geist-Theologie aufrecht i?
erhalten. Vor allem kehrt es innerhalb des deutschen Sprach-
der Charismatiker und bei Jesus selbst so eindrucksvoll bekundet
bereiches bis auf Nietzsche hin im Wortschatz der Theologie
II:
haben - eine Erhöhung der Erkenntnis, eine Verfeinerung der
geistigen Mitteilung, eine Vervollkommnung der Sprache, eine wieder und zwar besonders im Wortschatz der modernen pro-
':11,
,1
testantischen Leben-Jesu-Forschung, und bezeugt damit seinen
Veredelung der gefühlsmäßigen und intuitiven Kommunikation,
ursprünglichen Zusammenhang mit der Christologie und christ-
iil'
eine Steigerung der Kräfte der Durchdringung von Zeit und
lichen Anthropologie. So schreibt Hegel im 4. Fragment über 'III
Raum, eine Vervollkommnung des Gedächtnisses usw., kurz 'I
ein immer stärkeres Eindringen in jene Sphäre, die Aurobindo Volksreligion und Christentum 45 von Jesus: 111
1,
1 :1
als das Supramentale bezeichnet und beschrieben hat. «Die Geschichte Jesu stellt uns nicht bloß einen Menschen dar, der
11
Die ungemein weite Verbreitung gerade dieser Schrift Lavaters sich in der Einsamkeit vorher selbst gebildet hatte und dann seine ',
Zeit allein auf die Besserung der Menschen verwandte, der diesem
in den erweckten, theosophischen und pietistischen Kreisen Zweck endlich selbst sein Leben aufopferte - um das bekannteste
Deutschlands bekundet, daß der Gedanke vom christlichen Beispiel anzuführen, so hätte uns Sokrates insofern ebensogut zum
Übermenschen in der Epoche der deutschen Klassik und Ro- Spiegel, zum Muster aufgestellt werden können ... War nicht Sokrates
mantik durchaus lebendig und gegenwärtig war, wenngleich ein Mensch Init nicht mehr Kräften als wir, können wir nicht an das
der Begriff selbst sich in der kirchlichen Sphäre nicht mehr Werk der Nachahmung Init der Hoffnung gehen, die Stufe der Voll-
kommenheit - in unserer Lebensweise ebensogut erringen zu können?
hervorwagte. Wo er in der Sphäre der Literatur auftrat, war Was kostet Christum die Hilfe, die er Kranken reichte? Ein Wort
er immer noch von jenem christlichen Gehalt bestimmt, der - Init göttlicher Kraft versehen, der weder die Sinnlichkeit irgend
sich an dem Bild des Gottmenschen und an der Idee des eine leise Neigung oder Empfindung entgegenstellen - noch der
Charismatikers als des Teilhabers am Gottmenschentum Christi Mangel an Mitteln und Kraft im Wege stehen konnte - sollte das
untadelige Leben J esu, seine Standhaftigkeit, seine Ruhe im Leiden
orientierte, dem auch noch deutlich ein evolutionistisches futu- uns nicht als bewundernswürdig vorkommen und nicht zur Nach-
ristisches Element innewohnte, insofern ja die Einformung in ahmung reizen, die wir ganz entblößt - ohne Hoffnung sind, es so
die gottmenschliche Gestalt Christi die Verwandlung in den weit zu bringen? - Aber auf dies Räsonnement des kalten Verstandes
Übermenschen das Ziel der Heilsgeschichte und den Abschluß achtet die Phantasie nicht, und gerade die Beimischung, der Zusatz
einer Transformation darstellt, die den «Neuen Menschen» des Göttlichen qualifiziert den tugendhaften Menschen Jesus - zu
einem Ideale der Tugend, - ohne das Göttliche seiner Person hätten
nach dem Tode andere höhere Seinsweisen und andere voll- wir nur den Menschen, hier aber ein wahres, übermenschliches Ideal,
kommenere Sterne eröffnete. das der menschlichen Seele, soweit sie sich davon entfernt denken
muß doch nicht fremde ist. - ... Hier ist also für den Glauben nicht
meiu: ein tugendhafter Mensch, sondern die Tugend selbst erschienen. j!
66 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN

Der Zusatz des Göttlichen bei Jesus, statt dem Scheine nach unsern daß am Ende ein Mehr, ein Höheres steht als am Anfang und
Eifer im Nachahmen zu schwächen, ... , ist vielleicht mehr unserm daß die zukünftige Erhöhung schon hier und jetzt vorgreifend
Hang zu Idealen, die mehr als menschlich sind, günstig. - » in der Bekundung übernatürlicher Geisteskräfte in Erscheinung
Ebenso findet sich das Wort «übermenschlich» auch noch bei tritt haben die Schultheologen fallen lassen, und die Mystiker,
David Friedrich Strauß auf Jesus angewandt, und zwar in
' .
die etwas davon wissen, zogen es vor zu schweigen.
Verbindung mit dem Gedanken, daß Jesus erst durch die
messianische Deutung seiner Person von seiten seiner Jünger
ins Übermenschliche erhoben wird: «Sobald man in ihm einmal Herders Kritik am christlichenÜbermenschen
den Messias sah, so lag darin schon ein Anlaß, diesen als über-
menschliches Wesen zu betrachten 4 6• » Der Gegenschlag gegen die Übersteigeru~g des ~enschen in
So läßt sich also an der Wortgeschichte des deutschen Begriffs der spiritualistischen Mystik der Barockzeit erfolgt m der. Auf-
«Übermensch» und «übermenschlich» feststellen, daß er seine klärung. Der rationale Humanismus der Aufklärungsphilos~-
ursprüngliche altkirchliche Verwurzelung innerhalb der Geist- phie will von dem ekstatischen Übermensc_hen ~er Barockzelt
lehre und innerhalb der Christologie bis in jene Zeit hinein nichts mehr wissen. Der Anspruch des Chansmatikers, mehr als
festgehalten hat, in der er eine neue antichristliche Bedeutung Mensch zu sein, erschien dem kritischen Denken der Auf-
erhielt, die dann durch Nietzsche in der modernen Zeit geläufig klärung als eine Anmaßung, die man als ebenso unverschämt
wurde. · wie lächerlich empfand. So erhält das Wort« Übermensch» und
Daß die christliche Kirche den Begriff des Übermenschen, der «übermenschlich» bei den Wortführern der deutschen Auf-
aus dem innersten Anliegen ihrer ursprünglichen Anthropologie, klärung wieder einen ironischen Sinn. Wie L~an sich ge~en
heraus entwickelt wurde, hat fallen lassen, ist ein Hinweis auf die politischen Übermenschen seiner Epoche, wie Luther sich
die Tatsache, daß sie die Sache selbst hat fallen lassen - und gegen den Selbstanspruch der Mönche, wie der Mönch Raab
dies ist kaum als ein besonderer Gewinn zu buchen. Die Preis- sich gegen die Selbsteinschätzung der Lutheraner, so w~ndet
gabe des christlichen «Übermenschen» ist ein Zeichen, daß in sich Lessing ironisch gegen den Anspruch überme~c.hlich:r
der kirchlichen Dogmatik die rein restaurative Auffassung von Inspiriertheit der Autoren der biblischen Bücher, wi_eihn ?ie
der Heilswirkung und von der Heilsgeschichte gesiegt hat, daß Kirchenlehre erhob, und schreibt in seiner Schrift «Eme 1:,
'jl
der endabsichtliche Impuls der christlichen Verkündigung vom Duplik» (1778)47 über den Evangelisten Lukas _anläßlich s~iner 'I'
«Neuen Menschen» erlosch. Auch das göttliche Heilswerk Kritik der Auferstehungsberichte: «Freylich em menschlicher 1

bringt es nicht weiter als dazu, den Schaden des gefallenen Geschichtsschreiber hätte ... ihren Bericht [nämlich den Auf-
Menschen zu reparieren. Am Ende der Heilswirkung und der erstehungsbericht der Maria Magdalena] später beygebracht.
Heilsgeschichte steht der Mensch entweder als Verdammter Aber ein übermenschlicher, ein inspirierter Schriftsteller; ja der !
oder - bestenfalls - als amnestierter Verbrecher, der aber vor- - und so muß ich hiervor schweigen. » Aber auch die ironische
läufig noch die Sträflingskleider weiter trägt. Den Gedanken Verwendung des Begriffs «übermenschlich» setzt die spezi-
der progressiven Vollendung einer Transformation des Men- fisch christliche Deutung des Übermensch-Begriffs voraus, näm-
schen als einer Wirkung der göttlichen Gnade, die Erwartung, lich die Gleichsetzung von «übermenschlich» und «von Gott
68 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 69

inspiriert», «mit göttlichem Geist erfüllt», «mit Gottes Geist Werk, das unablässig fortgesetzt werden muß; oder wir sinken,
erleuchtet», und zeigt noch die Verwurzelung des Begriffs in höhere und niedere Stände, zur rohen Thierheit, zur Brutalität
der christlich-charismatischen Sphäre. zurück 49 • »
In einer auffälligen Weise macht sich die Ablehnung und In einer ähnlichen Weise wie die Erhebung des Menschen ins
Abwertung des Übermenschen bei Herder bemerkbar, bei dem übermenschliche wird auch die entgegengesetzte Möglichkeit
sich der Begriff an entscheidenden Stellen seiner Humanitäts- der Entwicklung ins Untermenschlich-Dämonische im 122.
lehre findet. In seinen «Briefen zur Beförderung der Humanität» Brief bekämpft.
hat sich Herder als Vorkämpfer des Humanitätsideals nach- «Sie scheinen zu glauben, daß eine Geschichte der Menschheit nicht
drücklich gegen den barocken Übermenschen zur Wehr ge- statt habe, solange man den Ausgang der Dinge nicht weiß, oder wie
man zu sagen pflegt, den jüngsten Tag noch nicht erlebt hat. Ich bin
setzt. Ziel der Humanität ist für ihn nicht der Übermensch,
nicht dieser Meinung. Möge sich das Menschengeschlecht verbessern
sondern der Mensch. Bezeichnenderweise erfolgt diese Ableh- oder verschlimmern, möge es einst zu Engeln oder Dämonen, zu
nung des Übermenschen gerade im Zusammenhang mit der Sylphen oder zu Gnomen werden; wir wissen, was wir zu thun haben.
Frage nach der zukünftigen Entwicklung des Menschen- Nach festen Grundsätzen unserer Überzeugung von Recht und Un-
geschlechtes, eine Frage, die dann im Ig.Jahrhundert durch die recht betrachten wir die Geschichte unseres Geschlechts, möge sein
letzter Act ausgehn, wie er wolle. »
Anwendung der Entwicklungs- und Selektionstheorie auf den
Menschen von neuem den Gedanken des Übermenschen herauf- Wieder erscheint hier die Humanität als einziger Maßstab und
beschwören sollte. als einziges Ziel der Menschheitsentwicklung. Die Erziehung
der Menschheit kann nicht den Sinn haben, Menschen zu Über-
«Alle Fragen über den Fortgang unseres Geschlechts, die eigentlich menschen zu erziehen, sondern den Menschen zur wahren
ein Buch erforderten, beantwortet, wie mich dünkt, ein einziges Wort:
Humanität, Menschlichkeit. Wäre die Frage: Ob der Mensch mehr als Humanität zu erheben.
Mensch, ein Übermensch und Außermensch werden könne und solle?, «Alle Einrichtungen der Menschen, alle Wissenschaften und Künste
so wäre jede Zeile zu viel, die man deshalb schriebe 48 • » Jeder Form können, wenn sie rechter Art sind, keinen andern Zweck haben als uns
der Überbewertung des Menschen hält er seine eigene Auffassung von zu humanisieren, d.i. den Unmenschen oder Halbmenschen zum
Humanität entgegen. «Humanität ist der Charakter unseres Ge- Menschen zu machen ... Das Gemüth läutert, hebet und stärkt sich
schlechts; er ist uns aber nur in Anlagen angeboren und muß uns durch die Betrachtung: wir sind Menschen. Nichts mehr aber auch
eigentlich angebildet werden. Wir bringen ihn nicht fertig auf die nichts minderes, als dieser Name saget 60 • »
Welt mit; auf der Welt aber soll er das Ziel unseres Bestrebens, die Hier wird das Ideal des Übermenschen endgültig aus der Ziel-
Summe unserer Übungen, unser Wert seyn; denn eine Angelität im
Menschen kennen wir nicht, und wenn der Dämon, der uns regiert, setzung des Menschengeschlechtes verbannt.
kein humaner Dämon ist, so werden wir Plagegeister der Menschen. Mit dieser veränderten Auffassung vom Menschenbild geht
Das Göttliche in unserm Geschlecht ist also Bildung zur Humanität; auch eine Veränderung der Christologie Hand in Hand. Auch
alle großen und guten Menschen, Gesetzgeber, Erfinder, Philosophen, Jesus Christus wird nicht mehr als «Übermensch» im Sinn der
Dichter, Künstler, jeder edle Mensch in seinem Stande, bei der Erzie-
hung seiner Kinder, bei der Beobachtung seiner Pflichten, durch dogmatischen Zweinaturenlehreverstanden, sondern alsMensch.
Beispiel, Werk, Institut und Lehre hat dazu mitgeholfen. Humanität Herder wendet sich in seinen theologischen Schriften ausdrück-
ist der Schatz und die Ausbeute aller menschlichen Bemühungen, lich gegen jede Auffassung der Gestalt Jesu, die alles Mensch-
gleichsam die Kunst unseres Geschlechtes. Die Bildung zu ihr ist ein liche an ihm ins übermenschliche hinein zu steigern sucht.

1.
ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN

«Warum schrauben wir jeden Zug im Leben Jesu so hoch?» «Warum Übermensch-Begriff zusammenhängt. Herder hat es für not-
machen wir alles Menschliche in ihm so un- oder übermenschlich?» wendig gehalten, den Leser seiner kirchengeschichtlichen Ab-
«Da soll er nichts, wie andere Menschen, getan, gedacht, gefühlt
haben; Er, der doch nach dem so öftern Zeugnis der Apostel und
handlungen darüber zu orientieren, daß er seiner Betrachtung
nach dem offenbarten Anblick seines Lebens ein Mensch wie wir an der Kirche und ihrer Amtsträger keinen anderen Maßstab als
Gesinnungen und Gebährden, d.i. an Lebensplan und Lebensweise ... den menschlichen zugrundelegt. Das geschieht vor allem bei
ein Mensch wie wir war, doch ohne Sünde 51. » seiner Darstellung der Entwicklung des Bischofsamtes. «Nur
Die dogmatische Deutung J esu im Sinne der überkommenen bedinge ich mir eines voraus, die Geistlichen nach der Verfas-
Zweinaturenlehre erscheint Herder als eine Entstellung gerade sung als Menschen, d.i. als physische Triebfedern, nicht als
seiner eigentlichen menschlichen Bedeutung. Von allen mes- Un- und Übermenschen betrachten zu dörfen 53 • » Die Ver-
sianischen Titeln Jesu war dem Vorkämpfer der Humanität, bindung von Un- und Übermensch bestätigt die negative Be-
der Name «Menschensohn» der liebste, und er hat ihn ganz im wertung des Übermensch-Begriffs bei Herder: der Übermensch
Sinn seiner Humanitätslehre interpretiert. Er stellt dem ge- ist für ihn keine geringere Mißgestalt als der Unmensch; was
wöhnlichen Bemühen der Menschen, ihre großen Söhne « Göt- für ihn Wert und Rang hat, ist allein der Mensch.
tersöhne » zu nennen, die Haltung Jesu gegenüber, der sich Fast revolutionäre Töne nimmt seine Ablehnung des Über-
selbst in aller Demut als den Menschensohn bezeichnete, und mensch-Begriffs an, wo er sich gegen die Auffassung vom
sieht hierin den Beweis dafür, daß er eine Erhebung seiner Fürsten als dem Übermenschen wendet, eine Auffassung, die
Person ins Übermenschliche ausdrücklich von sich abwehrte. auf den antiken Herrscherkult zurückgeht, aber sich in der Idee
«Er war also Sohn Gottes, wie in seiner Person, so in seinem Werk; des absolutistischen FürstentuIUS auf europäischem Boden in
es war dieß seine eigenste Sinnesart und Empfindung, nicht etwa bloß einer nur sehr schwach verchristlichten Form durchsetzte. Hier
ein aus alten Schriften geborgter Name. Den väterlichen Plan Gottes kleidet Herder die Kritik des zeitgenössischen fürstlichen Abso-
erkannte er in keinem andern Geschäft, als zur Befreiung und ächten
Glückseligkeit des Menschengeschlechts rein und thätig zu wirken ...
lutismus in die Kritik des Übermensch-Begriffs. In seiner Dar-
Er nahm daher sein Ziel aufs reinste in's Auge, und opferte sich diesem stellung der Geschichte der Humanität beschreibt er zunächst
als seinem Werk auf. Habt ihr einen andern Namen für die Helden die Auffassung und Praxis der Humanität bei den Griechen und
eures Geschlechts, die Edles wollten, dachten und thaten, als daß ihr Römern, dann schildert er die Epoche des Verfalls der Humani-
sie Göttliche, Göttersöhne nennet? Alle Völker der Erde sind über tät, die durch eine Abwertung des Begriffs «Mensch» herbei-
diesen Namen Eins, so verschieden sie ihre Zwecke wählten. Er wählte
den reinsten Zweck und traf in die Mitte des Zieles; Gottes Sohn, geführt wurde 54 •
indem er sich den Menschensohn nannte: denn das Göttlichste «Denn blicken Sie jetzt weiterhin in die Geschichte; es kam eine Zeit,
im Menschen war ihm die reinste, umfassendste Menschlichkeit da das Wort Mensch (homo) einen ganz andern Sinn bekam, es hieß
selbst52 • » ein Pflichtträger, ein Unterthan, ein Vasall, ein Diener. Wer dieß
Mit einer überraschenden Konsequenz hat Herder die Ver- nicht war, der genoß keines Rechts, der war seines Lebens nicht sicher;
wendung des Begriffes «Übermensch» auch in zwei anderen und die, denen jene dienenden Menschen zuge~örten, waren Ü~er-
menschen. Der Eid, den man ihnen ablegte, hieß Menschenpflicht
Lebensbereichen abgelehnt, in denen er traditionellerweise auf-
(homagium), und wer ein freyer Mann seyn wollte, ~ußte durch den
zutreten pflegte. Das eine ist die Bezeichnung des «Geistlichen» Mannrechtsbrief beweisen, daß er kein homo, kern Mensch sey.
als Übermenschen, wie sie mit dem charismatischen christlichen Wundern Sie sich nun, daß dem Wort Mensch in unsrer Sprache ein
72 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 73

so niedriger Begriff anklebt? Seiner Abstammung selbst nach heißt „Heiliger, bitte für uns", sondern „Menschlicher Kaiser, sey uns
esja nichts anderes als ein verachteter Mann, Mennisk', ein Männlein. ein Muster"».
Auch Leute, Leutlein, wurden nur als Anhängsel des Landes betrach-
Gerade der Anspruch des Übermenschentums ist nach Herders
tet, das sie bebauen mußten, auf welchem sie starben. Der Fürst, der
Edle, war Herr und Eigenthümer über Land und Leute; und seine Meinung die Hauptursache der inneren Verödung der fürst-
Sekelträger, Kanzlisten, Kapellane, Vasallen und Klienten waren lichen «Übermenschen» selbst und der geistigen Entfremdung
homines, Menschen oder Menschlein, mit mancherlei Nebenbestim- von ihren Mitmenschen:
mungen, die ihnen bloß das Verhältniß gab, nach welchem sie ihm
angehörten ... » «Nichts stößt mehr zurück als gefühllose, stolze Härte. Ein Betragen,
als ob man höhern Stammes oder ganz anderer oder gar keiner Art sei,
Der «Übermensch», der mittelalterliche Feudalfürst, erscheint erbittert jeden und ~ieht dem Übermenschen das unvermeidliche
hier als die Gestalt, die zur Erniedrigung und Entwertung des Übel zu, daß sein Herz leer und ungebildet bleibt, daß jedermann
Menschen beigetragen hat. Diese Entartung kann nur durch zuletzt ihn haßt und verachtet 66 • »
die Rückkehr zu dem Humanitätsbegriff der Griechen und Man sollte die politische Auswirkung des Herderschen Humani-
Römer wieder überwunden werden: «Lassen Sie uns ja zum tätsideals, wie es sich in diesem Kampf gegen die fürstlichen
Begriff der Humanität bei Griechen und Römern übergehen; Übermenschen ausspricht, nicht unterschätzen. Eine tiefgrei-
denn bei diesem barbarischen Menschenrecht wird uns angst fende Kritik des fürstlichen Absolutismus ist in dieser Forderung
und bange. » praktischer Humanität enthalten. Von dem Ideal dieser Huma-
Was Herder jedoch im folgenden schildert, ist nicht ein antiker, nität ist auch Schiller bei der Niederschrift seiner «Räuber»
sondern ein christlicher Begriff der Humanität und des Men- inspiriert, und noch in den Reden der Politiker der Paulskirche
schen. Der Mensch wird man häufig die Berufung auf diese Idee der Humanität in
«konstituiert sich selbst; er konstituiert mit andern ihm Gleich- ihrer Bemühung um eine Sicherung demokratischer Rechte
gesinnten nach heiligen, unverbrüchlichen Gesetzen eine Gesellschaft.
gegenüber dem Anspruch des überkommenen fürstlichen Abso-
Nach solchen ist er Freund, Brüger, Ehemann, Vater; Mitbürger
endlich der großen Stadt Gottes auf Erden, die nur Ein Gesetz, Ein lutismus finden.
Dämon, der Geist einer allgemeinen Vernunft und Humanität be- Allerdings hatte diese Entwicklung auch eine ganz andere Folge:
herrscht, ordnet, lenkt». Indem die Kirche so den Begriff des «Übermenschen» erneut
Als Gegenbild des absolutistischen Fürsten, des barbarischen von sich abstieß, gab sie ihn frei für eine neue säkulare Deutung,
Übermenschen, der den Menschen zum« U nterthan » erniedrigt, die rasch ins Antichristliche umschlagen sollte.
stellt Herder an den Abschluß dieser Ausführungen die Gestalt
Marc Aurels, des «menschenfreundlichen Kaisers», der sich 11

gegen seine Erhebung zum Gottkaiser zur Wehr setzt und ange- Der Übermenschbei Goethe
sichts der Versuchung, zum Übermenschen erhöht zu werden,
sich selber zuruft: «Fang endlich einmal an, ein Mensch zu Soweit die bisherige Forschung sich überhaupt mit der Frage
sein!», und so die Vorstellung vom Fürsten-Übermenschen am nach der sprachgeschichtlichen Herkunft des Nietzscheschen
nachdrücklichsten widerlegt. Er erscheint darum Herder als Übermensch-Begriffs beschäftigt hat, hat sie vor allem auf das
das wahre Vorbild der Humanität. «Wir wollen nicht sagen, Vorkommen dieses Begriffs bei Goethe hingewiesen. In der Tat
74 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 75
spricht Goethe an zwei Stellen seiner Dichtungen vom Über- Jetzt erst erkenn' ich, was der Weise spricht:
menschen, und zwar einmal im « Faust», und dort schon in der «Die Geisterwelt ist nicht verschlossen;
im « Urfaust» vorliegenden Fassung, weiter in der« Zueignung» Dein Sinn ist zu, dein Herz ist tot J
von 1784. Auf, bade, Schüler, unverdrossen
Nun hat die Tatsache, daß Goethe dieses Wort zu einer sprach- Die ird'sche Brust im Morgenrot!»
lichen Verleiblichung seiner eigenen Gesichte benutzt hat, ohne
Zweifel dazu beigetragen, diesem Wort ein Heimatrecht in der Die Empfindung der Erhebung in die Gegenwart der Geister
Sprache der klassischen deutschen Literatur zu verschaffen, aber verdichtet sich bei der Anrufung des zweiten Zeichens zur Schau
merkwürdigerweise scheint gerade von Goethe der geringste An- des Erdgeistes. Aber das Hochgefühl des über die Grenzen
stoß zu einer Einbürgerung im Bereich der dichterischen und menschlicher Erkenntnis hinausdrängenden Faust schlägt in der
philosophischen Sprache der nachklassischen Zeit ausgegangen furchtbaren Gegenwart des Geistes selbst in Entsetzen um: er
zu sein. Dies hängt nicht nur mit der seltenen und gewisser- wendet seinen Blick ab vor dem «schrecklichen Gesicht». Der
maßen beiläufigen Verwendung des Wortes durch ihn zusam- Geist macht ihn ironisch auf den Widerspruch zwischen seinem
men, sondern vor allem wohl mit der Tatsache, daß Goethe hochgespannten Selbstbewußtsein und seiner entsetzlichen Angst
dieses Wort beide Male in einem rein ironischen Sinn verwendet, aufmerksam:
der den Begriff von vornherein abwertet und vor einem ernst-
haften Gebrauch desselben - sei es im Sinn des christlichen En- Du flehst eratmend, mich zu schauen ...
gelsmenschen, sei es im Sinne des Genies - eher warnt. Da bin ich ! - Welch erbärmlich Grauen
Der ganze Eingangsmonolog Fausts scheint auf die Erscheinung Faßt Übermenschen Dich! Wo ist der Seele Ruf?
des Wortes «Übermensch» hinzudrängen. Faust bekennt, daß Wo ist die Brust, die eine Welt in sich erschuf
er, der alle Wissenschaften durchlaufen hat, mit aller Wissen- Und trug und hegte, die mit Freudebeben
schaft zu Ende ist. Er hat es satt, in den ausgefahrenen Gleisen Erschwoll, sich uns, den Geistern, gleich zu heben?
der traditionellen Wissenschaften sich weiter im Kreise zu be-
wegen, darum will er einen neuen Erkenntnisweg einschlagen, Das Wort «Übermensch» ist hier im Munde des Geistes voller
der ihn aus der bisherigen ausweglosen Situation hinausführen Ironie. Er führt Faust den illusionären Charakter seines über-
soll: «Drum hab ich mich der Magie ergeben ... und tu' nicht steigerten Selbstbewußtseins vor Augen, indem er diesem Hoch-
mehr in Worten kramen.» Die Magie soll ihm den unmittel- gefühl des Übermenschen die untermenschliche Angst des
baren Umgang mit der Geisterwelt eröffnen; das Zauberbuch «furchtsam weggekrümmten Wurms» gegenüberstellt.
des Nostradamus soll ihm den Zugang zu ihr auftun. Schon bei Diese beißende Ironie scheint das Selbstbewußtsein Fausts wie-
der Betrachtung des ersten Zeichens fühlt er sich ins Über- der zurückzurufen. Er kämpft das Grauen nieder und schwingt
menschliche erhoben: sich zum zweiten Mal zu einer übermenschlichen Empfindung
Bin ich ein Gott? Mir wird so licht ! auf:
Ich schau' in diesen reinen Zügen Der du die weite Welt umschweifst,
Die wirkende Natur vor meiner Seele liegen. Geschäftiger Geist, wie nah fühl' ich mich dir !
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN 77

Aber der Geist stößt ihn auch aus seinem zweiten Aufschwung Das Übermensch-Sein stützt sich hier auf eine illusionäre Sicher-
ins übermenschliche erneut in die engen Grenzen seiner erbärm- heit der Erkenntnis und auf eine ebenso illusionäre Behen-schung
lichen Menschlichkeit zurück: des Willens, zwei Motive, die ja auch das übermenschliche Hoch-
gefühl Fausts bei seinem Versuch der Geisterbannung beherr-
Du gleichst dem Geist, den du begreifst, schen und die im Übermensch-Begriff Nietzsches wiederkehren
Nicht mir! werden. Man glaubt hier durch den Mund Goethes die mah-
nende Stimme Herders zu hören, der den Übermenschen ver-
Faust wird sich dieses erneuten Absturzes von seinem illusio- wirft, um die echte Humanität des Menschen zu retten. Was
nären Aufstieg ins Übermenschliche qualvoll bewußt: Goethe hier von Herder unterscheidet, ist wiederum die Ironie.
Die Muse selbst ist es ja, die ironisch dem Dichter, der die Stufe
Nicht dir!
der Humanität überspringen will und von der Stufe der Kind-
Wem denn?
heit aus gleich ins übermenschliche hinaufdrängt, durch die
Ich Ebenbild der Gottheit!
Mahnung zur Selbsterkenntnis auf die Stufe des Menschseins
Und nicht einmal Dir!
zurückruft 56•
Das Wort «Übermensch» ist hier also in einer eigentümlichen Goethes Verwendung des Übermensch-Begriffs knüpft also an
Dialektik verwandt: es ist der Titel, mit dem der Erdgeist dem die Haltung Herders an. Wie sich dieser im Namen der Humani-
magiebeflissenen Faust den illusionären Charakter seines Hin- tät gegen die übersteigerte, den Menschen ins Übermenschlich-
ausdrängens über die Schranken der menschlichen Erkenntnis Angelisch steigernde Mystik des radikalen Pietismus wandte, so
eröffnet und ihn in die Erbärmlichkeit seines Menschseins, in wendet sich hier Goethe gegen den hochgespannten, den Men-
die Welt des «Wissensqualms» und des «Wortkrams» zurück- schen ins Übermenschliche steigernden Genie-Begriff des Idea-
schleudert. lismus und der Romantik, aber nicht mehr in der direkten
Auch die zweite Stelle, an der Goethe vom Übermenschen moralischen Kritik Herders, der das Übermensch-Ideal als be-
spricht, verwendet das Wort in einem ironischen Sinn, um ein langlos und unwesentlich bezeichnet, sondern in der Form der
angemaßtes, illusionäres Übermenschentum des Menschen zu Ironie, die deutlich zeigt, wie sehr die Gestalten, in denen Goethe
entlarven. In der «Zueignung» von r 784 heißt es von der Muse: sein eigenes Selbst darstellt, von diesem Drang zum Übermensch-
lichen versucht sind und der Begegnung mit dem wahren Über-
Sie lächelte, sie sprach: du siehst, wie klug, menschlichen selbst - in Gestalt der Muse, des Erdgeists - be-
Wie nötig war's, euch wenig zu enthüllen! dürfen, um in die Schranken ihrer Menschlichkeit zurückgewie-
Kaum bist du sicher vor dem gröbsten Trug, sen zu werden. Goethes Übermensch-Begriff setzt die faustische
Kaum bist du Herr vom ersten Kinderwillen, Versuchbarkeit des Menschen zur Selbsterhebung ins über-
So glaubst du dich schon Übermensch genug, menschliche voraus. Deshalb gehört er schon im Unterschied zu
Versäumst die Pflicht des Mannes zu erfüllen ! Herder zu der Epoche eines neuen Verständnisses des Über-
Wie viel bist du von Andern unterschieden? mensch-Begriffs, das sich indes deutlicher als bei ihm bei Jean
Erkenne dich, leb' mit der Welt in Frieden! Paul äußert57,
DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 79

DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS DES wird, daß er sich - offenbar in der Zeit vor seinem Regierungs-
ÜBERMENSCHEN antritt in seinem deutschen Ländchen - in Frankreich während
der Revolutionswirren als Freiheitskämpfer betätigte und «in
Paris so lange bei dem Niederreißen der Bastille mithandelte,
Die Politisierung als die Stadt noch nicht in eine große [Bastille] durch die Berg-
des Übermensch-Begriffsbei Jean Paul partei verkehrt war». Es gilt im folgenden zu beachten, daß alle
die Ausführungen über den« Übermenschen» in einem Gespräch
Längst vor Nietzsche hat die Deutung des Übermenschen eine entwickelt sind, das die Verherrlichung dieser politischen
höchst bedeutsame Wendung erfahren, die in vielen Punkten Attentäterin am 17.Juni, dem Tag ihrer Hinrichtung, einem
die Botschaft Nietzsches teils vorbereitete, teils vorwegnahm. besonders hohen Festtag im Heiligenkalender des regierenden
Der literarische Zusammenhang, in dem diese Wendung er- Grafen, zum Anlaß hat.
folgt, ist selbst schon für das neue Verständnis bezeichnend. In Der Graf greift denn auch sofort die entscheidende Frage nach
der Berliner Gesamtausgabe der Werke Jean Pauls befindet sich dem Verhältnis des «Genies» zu den geltenden allgemeinen
in Band 24/26 eine «Auswahl verbesserter Werkchen», unter Moralgesetzen auf und entwickelt eine Ethik des «großen
denen als Nr. II ein Dialog erscheint, der Charlotte Corday Menschen», die diesen in aller Form von der Befolgung der
zum Gegenstand hat, die berüchtigte Mörderin Marats, die ihr allgemeinen Moralgesetze entbindet. Das Genie schafft sich
erfolgreiches Attentat auf den Bluthund der Revolution mit dem seine eigene Ethik, für die es keine Regeln gibt. « Unsere Moral
Tod auf dem Schafott büßte. - fing der Graf an - scheint mir zu sehr eine Häuslichkeits-
Der Gesprächsführer ist schon dadurch besonders auffällig, daß Moral und mehr nun Sitten- als Thatlehre. - Sie ist bloß eine
er als ein besonderer Verehrer von großen Menschen geschildert Geschmackslehre für das schaffende Genie. Es gibt ebensowohl
wird, der sich für diese seine Privatreligion einen eigenen Hei- sittliche Genie-Züge, die darum nicht in Regeln und von
ligenkalender schuf. Regeln zu fassen, also nicht vorauszubestimmen sind, als es
ästhetische gibt; beide indeß ändern allein die Welt und wehren
« Der regierende Graf von ... hegte eine solche Liebhaberei für sittliche der fortlaufenden Verflachung. » (S. 229f.) Die Welt wird
Heroen, daß er einen Bildersaal ihrer Gestalten und eine Bibliothek
weniger von großen Schriftstellern als über große Menschen unterhielt, allein dadurch geändert, daß immer wieder ein Genie nach
und daß ihm ein Messias theurer war als eine Messiade, und Plutarch den Geniezügen einer neuen Ethik die Häuslichkeitsmoral
lieber als Tacitus, ... und nach seinem weltlichen Heiligenkalender die durchbricht und neue Verhältnisse schafft. «Es erscheine ein
Geburts-, Todes- und Thatenfeste großer Menschen feierte.» (S.223.) Jahrhundert lang in der Literatur kein Genie, in einem Volk
Man ist aufs höchste überrascht, als Anschauungsbeispiel für kein Hochmensch, - welche kalte Wasser-Ebene der Ge-
diese Verehrung «sittlicher Heroen», «großer Menschen» und schmacks- und der Sittenlehre!» Was das Genie in der Literatur
«Messiasse » von einem regierenden Grafen eine Heroin vor- ist offenbar der Hochmensch in der Politik. An einem solchen'
geführt zu bekommen, die ein erfolgreiches politisches Attentat politischen Hochmenschen, dem naheliegendsten und eindrucks,
durch ihre eigene Hinrichtung zu büßen hatte, und dazu noch vollsten seiner Epoche, an Napoleon, demonstriert nun Jean
als ihren Verehrer einen regierenden Grafen, von dem erwähnt Paul den neuen Begriff des «sittlichen Genies».
80 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 81

«Alle Größen und Berge in der Geschichte, an denen nachher Jahr- · und aus einer modrigen faulenden Welt eine grünende empor-
hunderte sich lagerten und ernährten, hob das vulkanische, anfangs zutreiben. Der Fortschritt der Geschichte käme auf normalem
verwüstende Feuer solcher Übermenschen, z.B. Bonaparte Frankreich
Wege nur allzu träge zustande: die Welt wür~e vermodern,
durch Vernichtung des nur durch Schwächen vernichtenden Direk-
toriums, kühn auf einmal aus dem Wasser.» wenn die Menschheit darauf warten müßte, bis neue Inseln
aus dem unendlich langsamen Wachstum der Korallen - der
An Napoleon also wird die Sonderstellung des «sittlichen Summe der Arbeit der gewöhnlichen Menschen und der
Genies» und seiner «sittlichen Geniezüge » erläutert. Zum Ergebnisse ihrer gewöhnlichen Häuslichkeitsmoral - entstünden.
erstenmal wird hier als Bezeichnung des politischen «Hoch- Der Feuerreformator aber verkürzt den unendlich trägen Gang
menschen» der Begriff des Übermenschen verwandt. Der auf der normalen Entwicklung und beschleunigt das langsame
christlichem Boden am Mystiker, Propheten, Charismatiker Tempo des Prozesses durch die Kraft seines. Über~enschen-
entwickelte Begriff wird hier auf den großen Politiker über- tums, die gleichzeitig zerstörend und schöpferisch wirkt.
tragen. Bereits im ersten Augenblick der Politisierung des Diese Kraft erscheint als die einzige Legitimation des Über-
Übermensch-Begriffs wird die Forderung erhoben, dem Über- menschen und seiner «sittlichen Genie-Züge». Für ein Genie
menschen eine eigene Ethik zuzuerkennen. Offensichtlich steht kann sittlich sein, was für den gewöhnlichen Menschen Vermes-
der Übermensch schon bereits nach Jean Pauls Meinung jenseits . senheit und Sünde ist. Jean Pauls Verherrlichung des Über-
dessen, was nach der «Häuslichkeitsmoral» gut und böse ist. menschen nimmt hier schon Worte Zarathustras vorweg:
Das Feuer solcher Übermenschen wirkt «vulkanisch, anfangs
«Wer nun diese Kraft besitzt, hat das Gefühl derselben oder den _Glau-
verwüstend»; es gibt keine Neuschöpfung ohne die zugeordnete ben und darf unternehmen, was für den Zweifler Ve~messt;nheit und
Vernichtung, zu der die Beseitigung der bestehenden morschen Sünde wäre bei seinem Mangel des Glaubens und folglich semer Kraft.
Ordnung den Anlaß gibt. An Napoleon wird ein allgemeines Was große Menschen in der Begeisterung thun, worin ..ihne? ihr ~anzes
Gesetz des schöpferischen Wirkens des Hoch- und Über- Wesen die höhere Menschheit neu erhöht und verklart, sich spiegelt,
so wie dem tiefer gestellten Menschen in seiner Begeistel'1;1ngsein.~ ~un-
menschen in der Geschichte demonstriert: «Allerdings häufen
kele Menschheit erglänzt - das ist Recht und Regel für sie undfur ~e
sich auch durch leere Korallen endlich Riffs und Inseln zu- Nebenfürsten, aber nicht für ihre Unterthanen; daher kommt ihre
sammen; aber diese kosten eben so viele Jahrhunderte, als sie scheinbare Unregelmäßigkeit für die Tiefe ... »
dauern und beglücken; wenn hingegen der Feuer-Reformator
mitten aus einer faulenden modrigen Welt eine grünende, aus In einer hymnischen Verherrlichung der Selbstaufopferu_ng d~s
Übermenschen wird verkündet, daß seine Übermenschlichkeit
einem Winter einen Vorfrühling emportreiben soll, so muß er
die zeugenden Jahrhunderte des trägen Werdens zum Vortheile gerade in seinem heroischen Opfertode aufleuchtet.
der genießenden durch eine Kraft ersetzen, welche jedesmal «Vor keiner Bühne möcht' ich stehen, wo es nichts gäbe als den Ch~r
fällend und bauend zugleich ist. » der Menge, der, wie der theatralische bt;i den Griechen, blos aus Grei-
Was hier Jean Paul mit der Unschuld literarischer Phantasie sen, Sklaven, Weibern, Soldaten und Hirten bestand. ~elcher ~nter-
schied: an etwas sterben und für etwas sterben! 0, sie sollt;n immer
entwickelt, ist nichts Geringeres als eine Theorie der Revolution,
hinziehen unter ihre Opferthore, auf ihre Blutgerüste, auf_ihre Tar-
aufgebaut auf der Theorie vom Recht des Hochmenschen, mit pejischen Felsen, jene großen Seelen über der Er~e; sch:"111gt Euch
«Kraft» die Entwicklung der Verhältnisse zu beschleunigen kühn auf die schwarzen Flügel des Todes-Engels, sie entglirnrnen bald
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)
, DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS

farbig und glänzend, Im, Sokrates, Leonidas, Morus und selber Du,·
edle Corday! » (S. 230) anderen um seiner Idee und Sendung willen das höchste Opfer
zu verlangen.
In einer enthusiastischen Deutung des Attentats der jungfräu-
«O selig, selig ist Der, welchem ein Gott eine große Id:e beschert, f~
lichen Charlotte Corday auf Marat als der sittlich höchsten die allein er lebt und handelt, die er höher achtet als seme Fr~ude, die,
Form des Selbstopfers für die Freiheit wird dieser Gedanke dann immer jung und wachsend, ihm die abmattende Eintönigkeit des Le-
im einzelnen aus zeitgenössischen Berichten über die Ausführung bens verbirgt! Als Gott (nach der Fabel) die Händ_e a~ Muhame~
ihres Attentates, über ihr Verhör und ihr Verhalten bei ihrer legte, wurd' ihm eiskalt; wenn ein unendlicher Gemus di~ See!e IIl;1-t
Hinrichtung dargelegt. dem höchsten Enthusiasmus anrührt und begabt, dann wird sie still
und kalt; denn nun ist sie auf ewig gewiß.» (S. 237)
Die neue Konzeption wirkt um so überraschender, als sie bei
So ist also die Geburtsstube des Nietzscheschen Übermenschen
Jean Paul zum Teil noch mit den alten Formeln verknüpft ist,
der Bildersaal «sittlicher Heroen», die Liebhaberei eines regie-
die zur Begründung der christlichen Ethik dienten. Die allge-
renden Grafen, der für Napoleon und für eine enthusi~tische
meine Moral - die «Häuslichkeitsmoral» - erscheint als die
Attentäterin der Französischen Revolution schwärmt. Hier fin-
Ethik der Verbote und als die Ethik der «Schwachen», die sich
den sich schon viele der Ingredienzien des Elixiers zusammen,
mit der Einhaltung der Verbote begnügen. Die Ethik des Genies
aus dessen betäubenden Dünsten nochmals Zarathustra die Ge-
aber ist die Ethik der Tat, deren Regeln durch den Glauben und
stalt des Übermenschen beschwörend aufsteigen läßt: das
die Kraft des Hochmenschen selbst bestimmt werden.
schaffende Genie, das seine eigene Moral und seine eigenen sitt-
«Da überhaupt der Mensch nicht bloß groß wollen (wo ja ohne Rück-
lichen Geniezüge aufweist, die nicht in Regeln und von Regeln
sicht, auf Außen und Innen, Mögen und Vermögen, ohne Zeit inein-
ander fallen), sondern auch groß handeln will, so muß erdurchaus noch zu fassen sind, der Hochmensch, der sich durch seine eigene
auf etwas, was jenseits des Reiches der Absicht liegt, hinüberstreben ... Kraft über die kalte Wasserebene der allgemeinen Geschmacks-
kurz, wir wollen wirklich etwas; wir wollen die Stadt Gottes nicht bloß und Sittenlehre erhebt, der Übermensch, dessen vulkanisches,
bewohnen, sondern auch vergrößern. Nur dringen wir vor lauter Ver- anfangs verwüstendes Feuer alle Berge in der Geschichte aus dem
boten selten zu den Geboten selber hindurch und brauchen sechs
Wochentage, um auf einem Sonntage anzulanden. 0, was zu fliehen
Wasser hob der Feuer-Reformator, der aus einer faulenden
ist, weiß sogar der Teufel, aber was zu suchen ist, nur der Engel!» modrigen Welt eine grünende emportreibt, der durch die Akti-
vierung seiner Kraft die zeugenden] ahrhunderte des trägen Wer-
Die Anwendung der Formel von Vergrößern des Gottesreiches,
dens abkürzt, dessen schöpferisches Wirken jedesmal fällend und
von dem Engel, der allein weiß, was zu suchen ist, auf die Mör-
bauend zugleich wirkt, dessen Kraft und Glauben Handlungen
derin Marats ist ein deutliches Symptom einer Auflösung der
rechtfertigt, die den Schwachen und Zweifelnden als Vermessen-
überkommenen Ethik, die sich bei Jean Paul an die Verkündi-
heit und Sünde erscheinen, der große Mensch, in dessen Taten
gung des Übermenschen und an die Politisierung dieses Begriffs
knüpft. sich die höhere Menschheit neu erhöht und verklärt, der für sich
und seine Nebenfürsten sein eigenes Recht und seine eigene Re-
Noch ein besonderer Zug verbindet das Jean Paulsche Bild des
gel in Anspruch nimmt, die nicht für seine Untertanen gilt, und
Übermenschen mit dem Nietzsches: die stille Kälte des Herzens,
dessen höhere Sittlichkeit den tiefer gestellten Menschen vom
mit dem ihn die Gewißheit seiner Sendung und der Glaube an
Standpunkt ihrer Häuslichkeitsmoral aus als Unregelmäßigkeit
seine Kraft erfüllt, die ihn instand setzt, von sich selbst und von
ersch(;int, die große Seele, die sich kühn auf die schwarzen Flügel

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ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 85

des Todesengels schwingt und sie durch ihren heroischen Opfer- durch ihre Übertragung vom Charismatiker auf das «Genie»
tod farbig und glänzend erglimmen läßt, der sittliche Heros, der eingetreten, sondern durch das Eindringen des naturwissen-
nicht nur groß will, sondern auch groß handelt, der die Stadt schaftlichen Entwicklungsgedankens in die Anthropologie des
Gottes nicht bloß bewohnen, sondern auch vergrößern will, der 1g. Jahrhunderts.
Prophet und Messias, dessen Seele, vom unendlichen Genius mit Der Entwicklungsgedanke als solcher war nicht neu. Eine Art
dem höchsten Enthusiasmus angerührt, still und kalt wird und von Entwicklungsgedanke hat das christliche Verständnis des
ewige Gewißheit empfängt - hier fehlt nur noch ein Darwin, der Menschen von Anfang an bestimmt; der christliche Übermensch-
zu alledem seine Entwicklungs- und Deszendenzlehre zusteuert, Gedanke selbst knüpft ja gerade an die Idee eines Wachstums,
um den Nietzscheschen Antichristen aus der Leier Zarathustras einer Entwicklung,' einer Transformation der Geisteskräfte des
ans Licht treten zu lassen. Menschen an. Dabei ist aber immer nur von einem Wachstum
Auch soziologisch gesehen ist es bezeichnend, daß das politische im Geistlichen, von einem fortschreitenden Hineingebildet-
Übermensch-Ideal in der deutschen Literatur der Biedermeier- werden des Christen in den «vollkommenen Mann», von
zeit auftaucht als Wunschbild eines gelangweilten Serenissimus, einem Zuwachs an übernatürlichen Geistesfähigkeiten die Rede.
der den Kultus dieses Idols als einziges Gegenmittel gegen die Neu ist jedoch im 19.Jahrhundert die Anwendung des Ent-
unerträgliche Langeweile seines duodezfürstlichen Lebens be- wicklungsgedankens auf den biologischen Zusammenhang zwi-
treibt. Nur in der politischen Stickluft der deutschen Klein- schen dem Lebensbereich des Menschen und dem der Tier- und
staaten, in den engen Verhältnissen, die hinter dernationalstaat- Pflanzenwelt vor ihm, die Deutung der Entwicklung im Sinn
lichen Entwicklung der übrigen europäischen Länder seit Jahr- der Abstammungslehre Lamarcks und der Selektionslehre Dar-
hunderten zurückgeblieben waren, konnte ein solches Wunsch- wins. .
bild seinen Nährboden finden und eine solche Steigerung ins Die Anwendung der naturwissenschaftlichen Entwicklungsidee
Maßlose erfahren. Hier entwickelten sich in der Tat die V er- auf den Menschen hatte für die Beurteilung des Menschen selbst
hältnisse im trägen Tempo des Wachstums von Korallenriffen, eine doppelte, gegensätzliche Folge: einerseits wirkte sie sich
hier herrschte die Stagnation, die den Traum von dem vulka- praktisch als eine ungemein drastische Abwertung des Men-
nischen Übermenschen.erweckte, wie ihn Jean Paul beschrieb, schen aus. Mit Darwin erscheint der Affe als der große gefähr-
jener Dichter, der selbst so sehr ein Ausdruck jener Epoche war liche untermenschliche Antipode und Rivale des Übermen-
und von dem Nietzsche höchst treffend gesagt hat: « Er war ein schen. Hatte die traditionelle kirchliche Anthropologie mehr
bequemer, guter Mensch und doch ein Verhängnis - ein Ver- und mehr die leibliche Seite des Menschen vernachlässigt und
hängnis im Schlafrock. »1 im Menschen das einzigartige Geistwesen erblickt, dessen Erlö-
sung als der Mittelpunkt des Weltgeschehens galt, so wurde
Der Übermenschin der Sicht der naturwissenschaftlichen nun plötzlich der Mensch nur noch von seiner biologisch-
Entwicklungs-und Abstammungslehredes r9. Jahrhunderts leibhaften Seite her betrachtet und erschien von hier aus als
eine besondere Species in der Reihe der Säugetiere, als ein
Die entscheidende Wendung im Verständnis des Übermenschen Wesen, das seiner biologischen Abstammung nach in die Tier-
ist nicht durch die Säkularisierung der christlichen Idee, nicht reihe hineingehört und nach dem allgemeinen Gesetz der Ent-
86 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS

stehung neuer Arten aus dieser Tierreihe hervorgegangen ist. antikirchlichen und antichristlichen Vorzeichen. Erst jetzt
Erst der Darwinismus hat im Grunde auf dem Gebiet der wendet man den Entwicklungsgedanken in einem durchaus
Anthropologie die große Wendung nachvollzogen, die Koper- optimistischen, zukunftsgläubigen Sinn auf den gegenwärtigen
nikus auf dem Gebiet der Kosmologie dreihundertJahre früher Menschen an: dieser gegenwärtige Mensch ist nicht die letzte
herbeigeführt hatte. Das Weltbild der Bibel war geozentrisch und höchste Form der Spezies Mensch; von ihm, dem der-
and anthropozentrisch. Das Weltbild des Kopernikus hatte die zeitigen Endprodukt einer unendlich langen Entwicklungs- und
geozentrische Betrachtungsweise der Bibel beseitigt, aber die Deszendenzreihe, wird erwartet, daß er selbst in einer abseh-
Theologie hatte davon kaum Notiz genommen; sie hatte den baren Zukunft eine bessere, höhere, vollkommenere Form, einen
Menschen auch weiterhin als die Zentralfigur des geschaffenen «Neuen Menschen», einen «Übermenschen», aus sich heraus-
Universums verstanden und ihm in der Kosmologie wie in der bilden wird, und zwar durch bewußte kontrollierte Lenkung
Heilsgeschichte die Hauptrolle übertragen. Diese wird erst jetzt der Entwicklung selbst.
durch Darwin in Frage gestellt: der Mensch erscheint als eine
Spielart der höheren Säugetiere, als Produkt eines nach be- CharlesDarwin
stimmten naturwissenschaftlich erfaßbaren Gesetzen ablaufen- Der eigentümliche Doppelaspekt in der Beurteilung des Men-
den Selektionsprozesses. schen tritt bereits bei Charles Darwin in Erscheinung. Darwin
Dies ist aber nur die eine Seite der Auswirkung der Lehre, daß hat es zwar grundsätzlich abgelehnt, sich in seinen Werken über
«der Mensch vom Affen abstammt». In der Betrachtung der metaphysische oder religiöse Fragen zu äußern und weltan-
weltanschaulichen Auswirkung des Lamarckismus und Darwi- schauliche Folgerungen aus seinen naturwissenschaftlichen Er-
nismus auf die Geistesgeschichte des 19.Jahrhunderts hat man kenntnissen zu ziehen. Dennoch finden sich in seinen Privat-
diese Abwertung des Menschen einseitig hervorgehoben. Die briefen, aber auch in seiner kurzen Selbstbiographie, einige
Anwendung der Entwicklungslehre auf den Menschen hat je- Andeutungen über die weltanschaulichen Konsequenzen, die
doch gleichzeitig auch den Auftrieb zu einer betont optimisti- er selbst im Hinblick auf den Rang und die Zukunft des Men-
schen Höherbewertung des Menschen gegeben. Erst jetzt ist es schen aus seinen Lehren gezogen hat. In ihr bekennt sich
möglich, den Fortschrittsgedanken innerhalb der Anthropo- Darwin zu einer höchst optünistischen Betrachtung der zu-
logie entwicklungsgeschichtlich zu begründen. Erst jetzt wird künftigen Entwicklung des Menschen.
es auch möglich, die Mängel der gegenwärtigen Species Mensch
als die Übergangs- und Wachstumsstörungen einer erst auf dem «Glaubt man, wie ich es thue, daß der Mensch in weit entfernter Zu-
kunft ein weit vollkommeneres Geschöpft, als er jetzt ist, sein wird, so
Weg zu ihrer vollkommenen Form begriffenen Menschheit zu ist es ein unerträglicher Gedanke, daß er und alle anderen empfinden-
deuten. Der in der Kirche vernachlässigte Ausblick in die den Wesen zu vollständiger Vernichtung verurtheilt sein sollte nach
Zukunft, das durch ein restauratives Verständnis des Menschen einem so lange fortdauernden langsamen Fortschritt. Denjenigen,
verkümmerte futuristische Bild des «Neuen Menschen» setzt welche die Unsterblichkeit unserer Seele annehmen, wird die Zer-
störung unserer Welt nicht so furchtbar erscheinen 2. »
sich im Zeichen des naturwissenschaftlichen Entwicklungsge-
dankens in einer säkularisierten, aber höchst revolutionären, Ebenso optimistisch klingt sein Werk über «Die Abstammung
zukunftskräftigen Weise durch, zum Teil unter einem bewußt des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl» aus:
88 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)
DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 89
«Der Mensch ist wohl entschuldigt, wenn er ermgen Stolz darüber zeugungen produziert, doch selbst nur ein Produkt der Evolu-
empfindet, daß er, wenn auch nicht durch seine eigenen Anstrengun-
gen, zur Spitze der ganzen organischen Stufenleiter gelangt ist; und tion aus dem niedersten Tierreich ist. Sollte den moralischen
die Tatsache, daß er in dieser Weise emporgestiegen ist, statt ursprüng- und religiösen Überzeugungen des Säugetiers Mensch ein
lich schon dahin gestellt worden zu sein, kann ihm die Hoffnung ver- höherer Grad an objektiver Wahrheit zukommen als den auf
leihen, in der fernen Zukunft eine nochhöhereBestimmungzuhaben 3 • » Erfahrungen sich gründenden Überzeugungen eines Affen?
Diese Prophezeiung berechtigt in der Tat alle künftigen Pro- Noch abgründiger äußern sich dieselben Zweifel in der Selbst-
pheten des Übermenschen, sich auf Darwin zu berufen, selbst biographie Charles Darwins.
wenn dieser selbst den Begriff des Übermenschen - super-man - «Eine andere Quelle für die Überzeugung von der Existenz Gottes,
nicht verwendet. welche mit der Vernunft und nicht mit den Gefühlen zusammenhängt,
Andererseits finden sich bei demselben Darwin verschiedene macht den Eindruck auf micht, als habe sie viel mehr Gewicht. Es
folgt dies aus der äußersten Schwierigkeit oder vielmehr Unmöglich-
Äußerungen, in denen ihn gerade die abstammungsmäßigen keit einzusehen, daß dieses ungeheure und wunderbare Weltall,
Zusammenhänge des Menschen mit den niederen Lebens- welches den Menschen umfaßt mit seiner Fähigkeit, weit zurück in
formen des Regnum Animale zu einer höchst resignierten Betrach- die Vergangenheit und weit in die Zukunft zu blicken, das Resultat
tung des Menschen und zu einer sehr skeptischen Beurteilung blinden Zufalls oder der Nothwendigkeit sei. Denke ich darüber nach,
aller menschlichen Erkenntnisse veranlassen, die einen höheren dann fühle ich mich gezwungen, mich nach einer Ersten Ursache
umzusehen im Besitze eines intelligenten, dem des Menschen in einem
Sinn im Leben des Universums zu erfassen glauben. So bekennt gewissen Grade analogen Geistes, und ich verdiene Theist genannt zu
er einmal dem ihm befreundeten W. Graham als seine «innerste werden ... Dann entsteht aber wieder der Zweifel: Kann man sich
Überzeugung », auf den Geist des Menschen, welcher, wie ich völlig glaube, sich aus
einem so niederen Geiste wie dem der niedersten Thiere entwickelt
«daß das Weltall nicht das Resultat des Zufalls ist. Dann erhebt sich hat, verlassen, wenn er solch großartige Folgerungen zieht? 5 »
aber immer der entsetzliche Zweifel bei mir, ob die Überzeugungen
im Geiste des Menschen, welcher sich aus dem der niederen Thiere Die Frage, welche der beiden Deutungsmöglichkeiten, die sich
entwickelt hat, von irgend welchem Werthe oder überhaupt zuver- aus der Anwendung der Abstammungs- und Entwicklungslehre
lässig sind. Würde sich irgend Jemand auf die Überzeugungen in der auf den Menschen ergibt, zum Schluß überwiegt, ist im Grunde
Seele eines Affen verlassen, wenn in einer solchen Seele Überzeugungen
vorhanden sind ?4» die Frage des Temperaments und der Stimmung der einzelnen
Gelehrten und Schriftsteller aus Darwins Schule. Darwin
Hier wird man Zeuge, wie Darwin seine eigene naturwissen- scheint letzthin auf die Seite der pessimistischen Deutung zu
schaftliche Erkenntnis gegen seine gefühlsmäßige Neigung zu neigen; unter seinen Schülern herrschen indes die fortschritts-
einer religiösen Deutung des Universums, seinen Verstand gläubigen Optimisten vor, die von dem «Neuen Menschen» der
gegen sein Herz mobilisiert. Er gibt zu, daß ihm eine «innerste Zukunft berauscht sind.
Überzeugung» den Glauben an einen Sinn des Weltalls nahe-
legt, aber sofort zieht der aus seiner naturwissenschaftlichen David Friedrich Strauß
Erkenntnis geborene Zweifel den Flug seiner metaphysischen Zu den begeisterten Anhängern Darwins in Deutschland gehört
Träume wieder auf den Boden der Tatsachen herab: er hält David Friedrich Strauß, der die erwähnte doppelte Möglichkeit
sich vor Augen, daß der Geist des Menschen, der solche Über- einer Deutung der Ergebnisse der - freilich stark popularisier-

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go ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)
DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 91
ten - Darwinschen Deszendenzlehre sehr drastisch formuliert Denker voraussetzen · - die gegenwärtige Menschheit auch
hat 6 ;
fernerhin nach denselben Entwicklungsgesetzen weiterbildet,
«Da stünden wir also bei der berüchtigten Absta=ung des Menschen die zu ihrem 'eigenen Hervorgehen aus niederen Arten und zu
vom Affen, dem sauve qui peut nicht nur der rechtgläubigen und der ihrem Aufstieg bis zu der jetzt erreichten Stufe geführt haben.
zartfühlenden Welt, sondern auch manches sonst leidlich vorurtheils- Längst vor Nietzsche erscheint der Übermensch als ein Postulat
freien Mannes. Wer diese Lehre nicht gottlos findet, der findet sie
doch_ gesc~cklos; wer nicht gegen die Würde der Offenbarung, der Philosophen, die von dem modernen Lamarckismus und
der sieht wemgstens ein Attentat gegen die Menschenwürde darin. Darwinismus ergriffen sind.
Wir lassen einem jeden seinen Geschmack; wir wissen, es gibt Leute
genug, denen ein durch Liederlichkeit heruntergeko=ener Graf oder Der Übermenschin' der Philosophieder Linkshegelianer
Baron i=er noch schätzbarer ist als ein Bürgerlicher, der sich durch
Talent und Thätigkeit emporgebracht hat. Dies ist vor allem bei den Linkshegelianern der Fall, deren
Unser Geschmack ist der umgekehrte, und so sind wir auch der Sozialutopie vom Glauben an diesen «Neuen Menschen» be-
Meinung, daß die Menschheit weit mehr Ursache habe, sich zu herrscht ist. Der «Neue Mensch» erhält leicht die Züge des
fühlen, wenn sie sich von elenden thierischen Anrangen durch die «Übermenschen». Moses Heß hat die zeitgenössischen links-
fortgesetzte Arbeit einer unzählbaren Geschlechterreihe allmählich hegelianischen Philosophen mit der Begründung angegriffen,
zu ihrem jetzigen Standpunkt emporgearbeitet hat, als wenn sie von
einem· Paare a~sta=t, das, nach Gottes Ebenbild geschaffen, später sie zerstörten den Begriff des «Menschen» 8 • Er wirft den «Lin-
aus dem Paradiese geworfen, und i=er noch lange nicht wieder auf ken» vor, sie hätten alle ein Ideal, das höher oder niedriger als
der Stufe angeko=en ist, von der es am Anfang herabgesunken war. der Mensch sei. Demgegenüber weist Heß darauf hin, daß der
Wie nichts den Muth so tief darniederschlägt als die Gewißheit ein Mensch in der Ordnung der Werte eine ihm eigene, spezifisch
verscheq:tes Gut doch nie ganz wiedergewinnen zu können so hebt
«menschliche» Stelle einnimmt. Deswegen sind auch alle Ver-
denselben nichts mehr als eine Bahn vor sich zu haben, vor: der gar
nicht abzusehen ist, wie weit und hoch sie uns noch führen wird.» suche, auf einer über-, unter- oder überhaupt unmenschlichen
Grundlage ein ideales soziales System aufzubauen, von vorn-
Gegenüber dem Selbstbewußtsein des Christen, das am Sünden- herein zum Scheitern verurteilt, da sie das spezifisch Mensch-
fall orientiert ist und das hier mit dem Selbstbewußtsein eines liche, die menschliche Natur ignorieren. Heß hält den linken
durch Liederlichkeit heruntergekommenen Barons verglichen Sozialreformatoren vor, sie fänden zur menschlichen «Masse»
wird, bekennt sich Strauß zu dem Glauben an eine immer keinen Weg.
weiter fortschreitende zukünftige Höherentwicklung des Men-
schen. In seiner Erwartung, «eine Bahn vor sich zu haben, von «Solange ihr aber nicht dahin strebt, eure eigene Natur zu entwickeln,
solange ihr nicht nach dem menschlichen, sondern nach einem über-
der gar nicht abzusehen ist, wie weit und hoch sie uns noch menschlichen und unmenschlichen Wesen strebt, ist es ganz natürlich,
führen wird», steckt schon der Glaube an den Übermenschen7. daß ihr Übermenschen und Unmenschen werdet, verächtlich auf die
So führt die Anwendung des Entwicklungsgedankens auf die menschliche Natur, die ihr nicht anerkannt habt, herabseht und die
g~genwärtige Spezies Mensch von sich aus zu der Erwartung Masse wie eine wilde Bestie behandelt 9 • »
emes kommenden höheren, edleren, besseren, größeren Men- Wie aus dem Zusammenhang ersichtlich ist, will Heß mit dem
schen, eines Hoch- oder Übermenschen, der mit einer gewissen Begriff «Übermensch» vor allem Bruno Bauer, den Massen-
Sicherheit zu erwarten ist, wenn sich - wie die betreffenden feind und Vertreter des «über die Masse sich Erhebenden», mit

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92 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 93

dem Begriff« Unmensch» Max Stirner, den «Einzigen», treffen. dem Kampf gegen die Religion und gegen alle unwahrhafte
Die Anspielung auf Bruno Bauer als «Übermenschen» ist in und lügenhafte Prätention derselben, über dem Menschlichen
den linkshegelianischen Kreisen selbst mit Beifall a:urgenommen eine angeblich höhere Sphäre des übermenschlichen zu er-
worden. Schon im nächsten Jahr I 846 werden in dem geist- richten.
reichen Buch des linkshegelianischen Journalisten Ernst Dronke «Wir wollen ... dem Menschen den Gehalt wiedergeben, den er durch
mit dem Titel «Berlin» Max Stirner und Bruno Bauer als die Religion verloren hat; nicht als einen göttlichen, sondern als einen
«Übermenschen» ausgelacht: menschlichen Inhalt, und die ganze Wiedergabe beschränkt sich ein-
fach auf die Erweckung des Selbstbewußtseins. Wir wollen alles, was
«Der „Einzige" und der „Einsame" - Max Stirner und Bruno Bauer. sich als übernatürlich und übermenschlich ankündigt, aus dem Wege
Nur die Lächerlichkeit und Anmaßung der Philosophie könnte so weit schaffen, und dadurch die Unwahrhaftigkeit entfernen, denn die
gehen zu behaupten, daß sie über dem Leben stehen ... Da sie über Prätension des Menschlichen und Natürlichen, übermenschlich, über-
dem Leben stehen, wird das Leben sein Lebensziel am besten verfolgen, natürlich sein zu wollen, ist die Wurzel aller Unwahrheit und Lüge ...
indem es das Schnurren der philosophischen Übermenschen unbe- Wir haben nicht nötig, um die Herrlichkeit des menschlichen Wesens
achtet läßt... 10 » zu sehen, um der Entwicklung der Gattung in der Geschichte, ihren
unaufhaltsamen Fortschritt, ihren stets sicheren Sieg über die Un-
Die Frühsozialisten wie Moses Heß erscheinen hier als Bundes- vernunft des einzelnen, ihre Überwindung alles scheinbar Übermensch-
genossen Herders, die den Menschen gegen den Übermenschen lichen, ihren harten, aber erfolgreichen Kampf mit der Natur und der
und Unmenschen verteidigen und denen der Übermensch mit freien selbständigen Schöpfung einer auf rein menschliche, sittliche
Lebensverhältnisse begründeten neuen Welt - um alles das in seiner
dem Unmensch identisch ist. Was allerdings Leute wie Heß von Größe zu erkennen, haben wir nicht nötig, erst die Abstraktion eines
Herder unterscheidet, das ist ihre grundsätzliche veränderte Gottes herbeizurufen, und ihr alles Schöne, Große, Erhabene und
Einstellung gegenüber der Religion. Alle Frühsozialisten, auch wahrhaft Menschliche zuzuschreiben 11. »
Moses Heß, sind aufs tiefste von der Religionsphilosophie In ähnlicher Weise endet auch David Friedrich Strauß sein
Feuerbachs beeindruckt, der in der Religion lediglich eine epochales Werk «Der alte und der neue Glaube» mit einer
ideologische Selbstauslegung des Menschen erblickt und sie nur Mahnung, sich endlich von einer fiktiven Welt einer scheinbar
noch im Hinblick auf ihren menschlichen Gehalt anerkennen übermenschlichen Offenbarung abzuwenden und das erkannte
will. Die Linkshegelianer finden in Feuerbachs Religionsphilo- Wesen des Menschen zum Ausgangspunkt für eine Ethik der
sophie den Beweis dafür, daß es eine übermenschliche tran- Zukunft zu finden:
szendente Welt nicht gibt, daß alles Übermenschliche nur ein «Wir müssen uns der Unhaltbarkeit jener Vorstellµngen deutlich
Produkt des Menschen ist, das sich in der Religion eine phan- bewußt werden und bleiben, um uns zu nöthigen, auf dem Boden
tastische Selbstauslegung schafft. unserer neuen Weltanschauung, d.h. in dem erkannten Wesen des
In diesem Sinn finden sich die Begriffe «Übermensch» und Menschen, statt in einer vermeinten übermenschlichen Offenbarung,
«übermenschlich» auch bei Friedrich Engels. Für ihn ist «über- die festen Anhaltspunkte für unser sittliches Verhalten zu suchen und
zu finden 1 2 • »
menschlich» gleichbedeutend mit «jenseitig»; das Jenseitige
selbst ist bei ihm im Feuerbachsehen Sinn als das Unwirkliche
und damit das Unwahre und Verlogene verstanden. Deswegen
ist schon für Engels der Kampf für den Menschen identisch mit

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94 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 95

Büchner referiert dann über die Ansichten des Darwinisten


Der Übermenschin der Alfred Wallace über die Zukunft des Menschengeschlechts, in
philosophischenAnthropologiedes I9. Jahrhunderts denen die religiöse Endzeiterwartung in eine Sozialutopie um-
schlägt, die durch den Gedanken der Zuchtwahl beherrscht ist:
Die Anthropologie der Darwinisten und Lamarckisten und ihre « So befreit sich der Mensch nach und nach nicht blos selbst von der
Einwirkung auf die philosophische Anthropologie des r 9. Jahr- die ganze übrige Natur beherrschenden natürlichen Zuchtwahl, son-
hunderts ist noch sehr wenig erforscht. Die Frage nach deni dern er ist sogar im Stande, den Einfluß derselben auf die übrigen
Wesen des Menschen ist so sehr in die aktuelle Polemik zwischen Naturwesen aufzuh11lten oder zu modificiren. Wir können die Zeit
voraussehen, wo es nur noch cultivirte Pflanzen und Thiere geben
den konservativen kirchlichen Kreisen einerseits, zwischen den und wo die Zuchtwahl des Menschen die der Natur ersetzt haben
Sozialdemokraten und Kommunisten andererseits verwickelt wird. Nur in geistiger Beziehung bleibt er denselben Einflüssen unter-
worden, daß sie zumeist auf der Ebene der politischen und worfen, von denen sein Körper sich befreit hat, und die nothwendige
kirchlichen Polemik mit entsprechend vereinfachten propagan- Folge davon wird sein, das zuletzt die geistig am höchsten gestiegenen
Rassen allein übrig bleiben, die niedrigeren ersetzen und die ganze
distischen Schlagworten ausgefochten wurde. Beim näheren Erde beherrschen werden, bis schließlich wieder, wie im allerersten
Zusehen findet man die Spuren des «Übermenschen» fast über- Anfang, nur eine homogene oder gleichmäßige Rasse übrig bleiben
all in der von Darwin beeinflußten Anthropologie des r 9.J ahr- wird, deren niedrigste Glieder immer noch so hoch oder höher stehen
hunderts. Als Anschauungsbeispiele sei hier lediglich auf solche werden, wie die bedeutendsten oder vorgeschrittensten Geister der
Denker hingewiesen, die nachweislich einen direkten Einfluß Gegenwart.Jeder Einzelne wird dann sein eigenes Glück in dem Glück
seiner Nebenmenschen finden und dabei eine vollständige Freiheit des
auf Nietzsche ausgeübt haben: Ludwig Büchner (1824-1899), Handelns haben, weil keiner in die Sphäre des Andern übergreifen
der Engländer Alfred Wallace (r823-r9r3), Eugen Dühring wird. Verbote und Strafen werden nicht mehr nöthig sein, und frei-
(r833-r92r) und der Amerikaner Ralph Waldo Emerson willige Verbindungen für alle guten und öffentlichen Zwecke werden
(r803-r882). die bisherigen Zwangsregierungen überflüssig machen. Schließlich
wird die Erde durch Entwicklung aller intellectuellen Fähigkeiten des
Ludwig Büchner Menschen aus einem Jammerthal und aus einem Schauplatz un-
gebändigter Leidenschaften zu einem Paradies werden, so schön, wie
Ludwig Büchner hat in Leipzig r868 «Sechs Vorlesungen über es jemals Seher oder Dichter geträumt haben»! (S. 255 f.)
die Darwinsche Theorie von der Verwandlung der Arten und Büchner schränkt diese hochfliegende Erwartung zwar etwas
die erste Entstehung der Organismenwelt » veröffentlicht. Er ein, billigt aber ihre Grundtendenz.
behandelt darin auch die Frage der zukünftigen Vervollkomm-
«Ist diese Theorie ... richtig, so bietet sie vielleicht Manchem unter
nung des Menschengeschlechtes: Ihnen eine reichliche Entschädigung für das, was er durch die An-
«Wohin schließlich dieser Fortschritt führen wird, weiß ich Ihnen wendung der Umwandlungstheorie auf unser Geschlecht an Menschen-
nicht zu sagen, nur so viel scheint mir gewiß, daß dem Menschen, würde verloren zu haben glaubt. Haben wir auch nach dieser Theorie
welcher seinen Verstand und seine Kräfte allseitig benutzt, nichts gerade keine Aussicht, schließlich im Sinne des ewigen Fortschritts
unmöglich ist und daß er wohl noch zu einer Entwicklung seiner und der Darwin'schen Zuchtwahl zu einer Art von Engeln mit Flügeln
Fähigkeiten und namentlich zu einer Herrschaft über die Natur be- an den Schultern zu werden, so ist doch jedenfalls der Blick in die
stimmt ist, welche uns gegenwärtig die ihm von der Natur gezogenen Zukunft des Menschengeschlechts befriedigender für unsern Stolz, als
Grenzen weit zu übersteigen scheint.» (S. 253.) der Rückblick auf seine Vergangenheit.» (S. 256.)
1' , '

96 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE)


DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 97
Büchners eigenes Phantasiebild von dem Endstadium, das der
« Ich lehre euch den Übermenschen ...
Mensch auf dem Wege seiner zukünftig zu erwartenden Höher- Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerz-
entwicklung einnehmen wird, bleibt nur wenig hinter dem liche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen
Wunschbild des Übermenschen zurückl3. sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.
Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe,
A. R. Wallace als irgend ein Affe ...
Seht, ich lehre euch den Übermenschen! 15 »
Höchst aufschlußreich ist es nunmehr, die von Büchner erwähn-
ten Zukunftsbilder, die A. R. Wallace entwickelt, in ihrem Wort- Wallace selbst lehnt allerdings den Glauben an eine zukünftige
laut zu betrachten. Alfred Russe! Wallace, ein englischer Privat- Veränderung der ,biologischen Form und Organisation des jet-
gelehrter, der durch seine «Reisen am Amazonenstrom und zigen Menschen ab; die zukünftige Entwicklung wird sich seiner
Rio Negro» und seine «Palmen des Amazonenstroms » großen Meinung nach nur als Fortschritt auf einer höheren geistigen
Ruhm als Naturforscher erlangte, hat in seinen «Beiträgen zur Ebene abspielen:
Theorie der natürlichen Zuchtwahl (aus dem Englischen über- «Wir haben allen Grund zu glauben, daß der Mensch durch eine
setzt von Adolf Bernhard Meyer, Erlangen 1870) auch seine Reihe von geologischen Perioden existirt haben kann und fortfahren
kann zu existiren, welche alle anderen Formen thierischen Lebens
Abhandlung «Die Entwickelung der Menschenracen unter wieder und wieder verändert sehen werden; während er selbst un-
dem Gesetz der natürlichen Zuchtwahl» aufgenommenl4. In verändert bleibt, ausgenommen in den schon speciell genannten
dieser Abhandlung findet sich ein Kapitel: «Die Tragweite der Eigenthümlichkeiten - dem Kopf und dem Gesicht, als unmittelbar
natürlichen Zuchtwahl auf die zukünftige Entwicklung des mit dem Organe des Geistes verbunden und als Medium für den
Menschen.» Wallace will hier Ausdruck der tiefsten Gefühle seiner Natur - und bis zu einem gewis-
sen Grade in der Farbe, dem Haar und den Proportionen, soweit sie
«Je1;en antworten, welche behaupten, daß, wenn Herrn Darwin's mit der constitutionellen Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten in
Theorie der Entstehung der Arten wahr ist, auch die Gestalt des Men- Correlation stehen.» (S. 374.)
schen sich ändern und sich in eine andere Form entwickeln muß Praktisch läuft das Zukunftsbild doch auf eine Art Übermen-
welche ebenso verschieden von seinem gegenwärtigen Selbst ist wi;
er es ist von dem Gorilla oder dem Chimpansen und welche dariiber schen hinaus, der dem heutigen Menschen gegenüber eine
.
spec ul 1eren, ' sein wird».
was das wahrscheinlich für eine Form höhere, edlere, schönere und verfeinerte Rasse darstellt:
«Wenn meine Schlüsse richtig sind, so muß unvermeidlich daraus
Bereits im Jahr 1864 hatten demnach einige Gelehrte aus der folgen, daß die höheren - und die intellectuelleren und moralischeren -
Darwinschen Lehre die Folgerung gezogen, daß mit dem Auf- die niedrigeren und degradirteren Racen ersetzen müssen ... Während
kommen eines neuen höheren Menschentypus gerechnet werden seine (des Menschen) äußere Form wahrscheinlich immer ungeändert
müsse, der sich vom jetzigen Menschen ebenso unterscheide bleiben wird, außer in der Entwickelung jener vollkommenen Schönheit,
welche aus einem gesunden und wohlorganisirten Körper resultirt,
wie der heutige Mensch vom Gorilla. Diese Gelehrten sind als~ kann seine geistige Constitution durch die höchsten intellectuellen
b:reits in de_n Spuren der Darwinschen Lehre auf dem Weg Fähigkeiten und sympathischen Bewegungen verfeinert und veredelt,
WISsenschaftlicher Analogieschlüsse zu Prophezeiungen veran- fortfahren vorzuschreiten, um sich zu vervollkommnen, bis die Erde
laßt worden, wie sie dann Nietzsche mit allem Pathos des wiederum von einer einzigen nahe homogenen Race bewohnt sein
Propheten 1883 seinen Zarathustra aussprechen ließ: wird, von welcher kein Individuum den edelsten Mustern existirender
Menschlichkeit nachsteht. »
98 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 99

Erstaunlicherweise verknüpft Wallace ger~de an dieser Stelle mehr dem Spiritismus verschrieben. Bemerkenswert ist, daß
den naturwissenschaftlichen, aus der Deszendenztheorie ent- schon hier in den letzten Zeilen seiner Apologie Darwins ein
wickelten Mythus vom zukünftigen Menschen mit einem reli- religiöser Mythus eingeschoben wird, der die ganze natur-
giösen Mythus, der im Grunde die ganze naturwissenschaftliche wissenschaftliche Deszendenztheorie über Bord wirft und statt
Beweisführung über den Haufen wirft. Wallace weist nämlich dessen die Anthropologie durch eine mythologische religiöse
daraufhin, daß gerade bei den zivilisierten Nationen der Gegen- Aszendenztheorie bestimmt weiß: das Ziel der Entwicklung
wart der permanente Fortschritt der Moralität und Intelli- der Menschheit ist ein Reich übermenschlicher, höherer Exi-
genz nicht durch die natürliche Zuchtwahl sichergestellt wird, stenzen, übermenschlicher Intelligenzen oder Geistwesen.
«denn es ist zweifellos der Mittelmäßige, wenn nicht der Niedrig- Während die Me'nschheit ihren immanenten Entwicklungs-
stehende sowohl hinsichtlich der Moralität als auch der Intelligenz, gesetzen nach auf die Herrschaft der Mittelmäßigen und Min-
welcher am besten im Leben fortkommt und sich am schnellsten ver- derwertigen zusteuert, kommt ihr geistiger und moralischer
mehrt und vervielfältigt - und doch existirt zweifellos ein Fort- Fortschritt nur durch die Einwirkung dieser höheren Wesen
schritt!» (S. 377-)
zustande, die die Zielsetzung der Menschheit inspirieren und
Plötzlich wird also der Autor auf der letzten Seite seiner Apo- ihr immer aufs neue die Kraft ihrer übermenschlichen Eigen-
logie des Darwinismus gewahr, daß der Fortschritt der Mensch- schaften einflößen. Wallace läßt sich also vom Darwinismus zu
heit, von der auf 378 Seiten bewiesen wird, daß sie aus der einer Lehre vom Fortschritt der Menschheitsentwicklung inspi-
natürlichen Zuchtwahl hervorging, in Wirklichkeit von ihr aufs rieren, um dann im letzten Augenblick in den Existenzen, die
stärkste bedroht ist, da gerade die natürliche Zuchtwahl beim « höher als wir selbst sind», das Ziel und das innere Leitbild der
Menschen im Unterschied zum Tier zu einer Herrschaft der gesamten Menschheitsentwicklung zu erblicken.
Mittelmäßigen und Minderwertigen führen muß. Wenn nun In dem X. Essay von Wallace über «Die Grenzen der natür-
trotzdem im großen und ganzen ein stetiger und permanenter lichen Zuchtwahl in ihrer Anwendung auf den Menschen»
Fortschritt besteht, dieser selbst aber auf keine Weise dem tritt die theosophisch-spiritistische Konzeption, die am Schluß
« überleben des Passendsten» zugeschrieben werden kann, des IX. Essays so unerwartet auftaucht, noch deutlicher in Er-
«so sehe ich mich zu dem Schlusse gedrängt, daß es eine Kraft scheinung. Auch hier findet Wallace für die Tatsache, daß die
jener herrlichen Eigenschaften ist, welche uns so unermeßlich weit
über unsere Mitgeschöpfe erheben und uns zu gleicher Zeit den
Darwinsche Deszendenztheorie zum Verständnis des Fort-
sichersten Beweis liefern, daß es andere und höhere Existenzen als schritts auf dem Gebiet der menschlichen Moral und des
wir selbst sind, gibt, von denen diese Eigenschaften hergeleitet sein menschlichen Bewußtseins nicht ausreicht, nur die eine Erklä-
mögen und denen wir immer zustreben können». rung, daß die Entwicklung der Menschheit nur durch das Ein-
Wallace verrät hier seinen Lesern nicht, wer denn diese strömen des Willens höherer Intelligenzen denkbar ist, die ihrer-
«anderen und höheren Existenzen als wir selbst sind» sein seits wiederum nur die Organe der höchsten Intelligenz dar-
sollen. Sind es die Engel? Sind es präexistente Wesen wie der stellen, die sich im Universum verwirklicht.
himmlische Adam Jakob Boehmes, der Adam Kadmon der Wallace kommt hier zu dem Schluß, «daß Materie als ein
Kabbala? Wesen verschieden von der Kraft nicht existiert und daß Kraft
In der Tat hat sich Wallace in seinen späteren Jahren immer ein Produkt des Geistes ist». Diese Anschauung
100 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 101

«zeigt das Universum als ein Universum der Intelligenz und der
Willenskraft; und indem sie uns in den Stand setzt, frei zu werden Eugen Dühring
von der Unmöglichkeit, den Geist anders zu denken als in der Ver- Eugen Dühring hat die weltanschauliche Diskussion seiner Zeit
bindung mit unseren alten Ansichten von der Materie, eröffnet sie wohl aufs stärkste durch sein Buch «Der Werth des Lebens»
uns unendliche Existenzmöglichkeiten verbunden mit unendlich man-
nigfaltigen Kraft-Manifestationen, total verschieden von dem und (1865) beeinflußt. In diesem Werk stellt er auch die Frage, was
doch eben so real wie das, was wir Materie nennen». geschieht, wenn eine Lebensgestalt die höchste Form ihrer Ent-
Noch deutlicher als in dem vorher genannten Aufsatz scheint wicklung erreicht und sich damit erfüllt hat, - also die Frage
hier die Bewegung aller Entwicklung des Lebens teleologisch nach dem Aussterben oder Absterben bestimmter Arten. Er
bestimmt von den Intelligenzen ( = Geistern) jenseits unserer schildert den Prozeß der Entwicklung als einen schöpferischen
materiellen Welt. · Vorgang, der notwendigerweise mit einem entsprechenden
Prozeß der Vernichtung der überwundenen, alten, aussterben-
«Das große Gesetz der Continuität, welches wir durch unser Univer-
sum herrschen sehen, kann uns dazu leiten, unendlich viele Stufen der den Arten verknüpft ist. Aufs Ganze gesehen kommt er aber zu
Existenz aufzustellen und den ganzen Raum mit Intelligenz und einer positiven Bewertung dieses Vorgangs. Vom Untergang
Willenskraft zu bevölkern; und wenn dem so ist, so wird es nicht einer Art, von ihrer Beseitigung durch eine andere zu sprechen
schwer zu glauben, daß zu einem so edlen Zwecke, wie die fortschrei- ist im Grunde ein Trugschluß, der dadurch zustande kommt,
tende Entwicklung höherer und höherer Intelligenzen, jene primären
und allgemeinen Willenskräfte, welche zur Hervorbringung der daß man zeitlich sehr weit voneinander getrennte und eine
niederen Thiere genügt haben, in neue Canäle geleitet worden sind große Zahl von Veränderungen aufweisende Arten miteinander
und nach bestimmten Richtungen hin zusammen zu fließen gezwungen vergleicht. Diesen Gedanken wendet Dühring auch auf die
wurden.» (S. 425.) zukünftige Menschheitsentwicklung an.
1,:
,, So endet auch der X. Essay mit einem theosophisch-spiritisti- «Eine Lebensgestalt wird nur dann in der bewußtesten Weise erfüllt,
schen Ausblick: wenn sie als eine bestimmte begrenzte Abfolge von Functionen gilt,
j, die irgend einmal ihr Ende erreichen. Nun lassen sich zwar die Um-
«Wenn wir daher eine Kraft, wie klein auch immer, bis zu ihrem
Ursprunge verfolgt haben in unserem eigenen Willen, während wir wandlungen, durch welche ein Typus zum andern führt, nur als theil-
1:
,, weise statthabende Vernichtungen und Schöpfungen, nicht aber als
1 keine Kenntnisse irgend einer anderen primären Ursache der Kraft
haben, so scheint es kein unbeweisbarer Schluß zu sein, daß alle Kraft eigentlicher Tod auffassen. Jedoch wird der gewöhnliche Tod der
' Individuen bei den Umgestaltungen der Gruppentypen eine ent-
Willenskraft sein mag; und daß das ganze Universum nicht nur ab-
hängig von dem Willen höherer Intelligenzen oder einer höchsten scheidende Rolle spielen. Eine Menge von Ausmerzungen werden sich
Intelligenz, sondern thatsächlich eben dieser Wille ist.» durch den eigentlichen Tod vollziehen, und die neuen Combinationen
der Elemente können ihre schöpferische Arbeit nur unter der Voraus-
Diese Auffassung ist dann zum Teil von den Begründern der setzung vollbringen, daß die erforderlichen Vernichtungen platz-
modernen Parapsychologie übernommen worden und findet greifen. Wie nun aber auch in Folge des Aussterbens und durch
sich zum Beispiel bei Schrenck-Notzing wieder. Auch die veränderte Blutmischung oder durch unmittelbare Entwicklung die
« Übermensch »-Idee der Parapsychologen ist von darwinisti- neuen Combinationen zu Stande kommen, so bleibt die Hauptsache
an dem ganzen Vorgang doch immer das Entstehen veränderter
schen Ideen mitbestimmt. Gebilde. Ist die Häufung der Veränderungen beträchtlich, der zeit-
liche Abstand von den früheren Gestaltungen sehr groß und zwischen
den verglichenen Zuständen für die Erkenntnis eine Lücke, so kann die
)!
,, 1
I02 DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)

Wandlung den Schein einer völligen Neuschöpfung für sich haben. Als ein wichtiges Mittel dieser Weiterentwicklung erscheint
Man wird alsdann sagen, eine Artung sei untergegangen, um einer ihm der Kampf ums Dasein, den er im Hinblick auf .den
andern platzzumachen. gegenwärtigen Menschheitstypus vor allem als den sozialen
Auf diese Weise könnte sich einst auch die Menschheit in einen voll- Existenzkampf versteht. Auch hier warnt Dühring davor, den
kommeneren Wesenstypus übergeführt finden und auf diejenige
Menschengestalt, die uns als die entwickeltste gilt, als auf eine aus-
Blick allein auf seine negativen Seiten zu richten. Auch der
gestorbene Thierart zurückblicken. Gleichviel ob sich so etwas in soziale Existenzkampf ist durchaus positiv als eine Steigerung
ununterbrochenem Zusammenhang Init Hinterlassung einer eigent- der Kraft, als eine Förderung der Höherentwicklung zu be-
lich geschichtlichen Erinnerung oder aber unter Dazwischentreten von werten:
wenjger bewußtem und gleichsam wildwüchsigem culturlosem Dasein
vollzöge, - immer würde man von einem Tode des früheren und einem «Die materiellen Schwierigkeiten der Existenz sind hienach, trotz ihrer
neugeschaffenen Leben des späteren Typus reden können. Es wäre bisweilen furchtbaren Gestaltung, im Großen und Ganzen eine
die Sterblichkeit der uns bekannten Menschheitsgestaltung Init einer schöpferische Macht. Sie lehren übrige~ nicht blas ~e umfa~grei~he-
solchen Wendung der Wirklichkeit offenbar dargethan, und wir kön- ren Gruppen, sich zu regen, sondern ziehen auch. m _manmgfa!tigen
nen schon aus dem Gedanken dieser bloßen Möglichkeit entnehmen, Richtungen bei dem Einzelnen eine Kraft groß, wie sie sonst me zur
daß wir keinen hinreichenden Grund haben, an eine ewige Berechti-' vollen Entwicklung gekommen wäre. Sie stählen den Lebensmuth da,
gung des uns bekannten Menschheitstypus zu glauben 16 • » wo die Fähigkeit zureicht, ihnen die Stirn zu bieten. Sie ve;lichten
Viel aber sie schaffen auch nicht Wenig. Sie müssen also gleich allen
Dühring rechnet also mit der Entstehung eines neuen voll- Tod::Schancen als ein Element in das Leben selbst eingerechnet und
kommeneren Wesenstypus der Menschheit, der sich aus dem dem gemäß nicht blas als uninittelbare Übel, sondern auch als antago,,
«uns bekannten Menschheitstypus» entwickelt, hebt aber her- nistische Steigerungsinittel des sie überwindenden Lebens veran-
vor, daß das Hervortreten eines solchen höheren Typus schlagt werden.» (S.211.)
Mensch höchstens « den Schein einer völligen Neuschöpfung» Im Kern ist auch hier die Botschaft vom Übermenschen als ein
für sich hätte. Letzthin weigert sich Dühring, den Gedanken Postulat der «stetigen Entwicklung» ausgesprochen 17 •
eines Menschheitstodes zu akzeptieren: sein Denken ist von dem Der Gedanke der Entwicklung der gegenwärtigen Menschheit
positiven Aspekt der Entwicklungslehre beherrscht, die «zu- zu einer vollkommeneren Spezies Mensch steht bei Dühring in
nächst» nicht auf den Menschheitstod, sondern auf die Aus- einem auffälligen Zusammenhang mit seiner Religionsphilo-
bildung eines höheren, edleren Menschentypus hindeutet, ja sophie, die in vielem an Nietzsche erinnert. Wie Nietzsche das
eine solche postuliert. Hervortreten des Übermenschen mit dem «Tod Gottes», das
«Ein solcher Menschheitstod hätte darin zu bestehen, daß durch natur- heißt dem Ende des Glaubens an Gott, so bringt Dühring das
gesetzliche Entwicklung ein Punkt erreicht würde, bei welchem das Hervortreten des Neuen Menschen mit der Abschaffung der
empfindende Leben zum vollständigen Erlöschen käme. Indem sich
dann uninittelbar keine neue empfindende Wesensreihe anschlösse,
Religion,, mit dem Ende des Glaubens in Zusammenhang ..
wäre ein echter Tod aller Animalität vollzogen. Es fehlt uns an Beide sind in ihrer Auffassung von der Religion von.Feuerbach
Gründen, gerade diese Gestaltung .in der angegebenen Bestimmtheit als inspiriert; beide sind von einer ähnlichen Anim<;>sitätgegen das
Zukunftsaussicht hinzustellen; im Gegenteil deutet der ganze Lauf der Christentum erfüllt. Für beide ist die Überwindung der Religion,
Dinge zunächst auf eine stetige Entwicklung, welche die Menschheit die Abschaffung des Glaubens die Bedingung des Hervor-
einst, anstatt sie zu einem Leichnam zu machen, in eine veredelte,
erheblich anders ausgestattete Gattung überleiten wird.» (S. 195.) tretens eines neuen 1 vollkommeneren 1 größeren Menschen -
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS

gilt ihnen doch der Glaube als die eigentliche Wurzel der Eintreten für hochwichtige Wahrheiten oder unmittelbar um die
geistigen Unfreiheit und Sklaverei des gegenwärtigen Men- Verwirklichung derselben in Lebenseinrichtungen handeln. Beid~
schen. ergibt ein wirklich achtbares Märtyrertum, und in beiden zeigt sic;ff
die moderne Welt der neuen Völker, wenn man nur näher zusieht,
Nach Dühring werden große Individuen mit ihrem überlegenen mit echten Beispielen besser und reichhaltiger vertreten als die
und sich fortpflanzenden Wollen die Wegbereiter dieser Ent- jüdisch-christliche Vergangenheit. »
wicklung sein. Die Verehrung der «besseren Menschen», der Heroen eines
«Der Mensch hat indessen für die Zukunft einen Trost. Die Region neuen sittlichen Märtyrertums, wird seiner Meinung nach den
~abgekl~te~ Religionsstiftungen ist eine Niederung, auf deren Kultus der alten Religion, aus deren «Niederung» sich eine
N~veau.d1e Dmge auch für das Volk nicht immer verbleiben werden ...
Ern ~1:'sen, das zugleich Gewissen ist, also nicht jenes dirnenhaft vollkommenere M~nschenspezies der Zukunft erheben wird,
prostJtrnerte, durch das Völker und Volk überall verraten werden ersetzen und die wahre Veredelung des Menschen beschleu-
- ein Wissen also, das sich wahrhaft populär zugänglich machen und nigen.
gegen das Monopolinteresse einer verderbten Gelehrtenkaste und
Intell~ktu~ille wirklich verallgemeinern will - ein derartiges, gerade- Ralph Waldo Emerson
wegs m die Massen vorzuschiebendes Wissen und Wollen wird auch
Der vierte Denker, in dessen Anthropologie sich deutlich Ein-
bezüglich alles dessen, was bisher Religion hieß das vom Unkraut
gesäuberte Feld einnehmen, bestellen und behau~ten. Was Nationen wirkungen der Darwinschen Lehren feststellen lassen und der
~ls Durchschnitt nicht können, vermögen Individuen und zwar mit aus der Logik des Darwinismus heraus einen dem « Über-
ihre~ ü?~rlegene~ un~ sich fortpflanzenden Wollen zi'.i vollbringen. menschen» verwandten Begriff geschaffen hat, ist der ameri-
I~ Jewe~ges Sp~rnlWISsen, so ausgedehnt und zuverlässig es auch sein kanische Philosoph Ralph Waldo Emerson. Gewöhnlich hebt
~oge, blei?t da?e1 nur ':Verkzeugfür eine höhere und edlere Aufgabe,
m deren Sinn eme gesteigerte allgemeine Einsicht mit den menschen- man in der Darstellung von Emersons Anthropologie nur seine
möglich besten Lebenstrieben sich zur einheitlichen Gestaltung von Zusammenhänge mit dem idealistischen und romantischen
Denken und Tun vereinigt. » Genie- und Heroen-Begriff hervor und weist gern auf die Ein-
Erst der Mensch, der die Religion und den durch sie repräsen- flüsse Carlyles hin. In der Tat sind die Ideen, die er in der
tierten knechtischen Zustand überwunden hat, ist ein «voll- Einleitung zu seinen «Representative Men» ausspricht, stark
kommenerer Mensch »18 • Dühring will daher den bisherigen von dem Geiste Carlyles geprägt.
Kultus der historischen Religionen, die die Verehrung von Gott Es ist das Verdienst von Hans Meyer, in seinem Kapitel über
oder von Göttern zum Inhalt haben, durch die «Pflege der edle- Emerson gerade auf die häufig übersehene Einwirkung der
ren Menschlichkeit, Nationalnatur und Individ uali tä t mit gleich- modernen naturwissenschaftlichen Entwicklungstheorie auf das
zeitiger Vertiefung in die nach Maßgabe der besseren Eigen- Denken Emersons hingewiesen zu haben. Diese äußert sich
schaften gestaltete Weltanschauung» ersetzen (S. 139). Er stellt besonders deutlich in dem Essay Emersons mit dem Titel
auch für diesen Kulturersatz ein neues Märtyrerideal auf: «Power», was hier als «Kraft», «Lebenskraft», «vitale Kraft»
zu übersetzen ist. Emerson führt in diesem Essay den Gedanken
«Der ausgezeichnetste Fall, in welchem sich die Teilnahme des bessern
Menschen für ~as .Würdigere der Menschheit bestätigt, ist die Auf- aus, daß jeder Fortschritt der Entwicklung der Menschheit
opferung der ruedngen Interessen und erforderlichenfalls des nackten durch einen Überschuß an Kraft herbeigeführt wird, und zwar
Lebens für eine hohe geistige Angelegenheit, mag es sich nun um das Kraft im universalen Sinn von der robusten Körperkraft und
- 106 ERNST BENZ ( G~ISTESGESCHICHTE) .',°! DAS ANTI CHRISTLICHE VERSTÄNDNIS .

Vitalität des gesunden, vollblütigen Menschen bis hin zu der Emerson erläutert dann seine Vorstellung vom «plus-man» im
geistigen Kraft des Dichters, Gesetzgebers, Visionärs und Reli- weiteren Verlauf seines Essays noch durch sehr charakteristische
gionsgründers. Entscheidend ist auf allen Gebieten dieses Plus Begriffe: der «plus-man» erscheint als a man of force, the strong
an Kraft, das neue Leistungen, neue Erkenntnisse ermöglicht man, charakterisiert durch einen excess of virility; er spricht
und die Entwicklung der Menschheit weitertreibt 19 • ebenso von einer strong race wie von einem strong individual. In
Der eigentliche Träger der Weiterentwicklung der Menschheit, dieser Verherrlichung des «plus-man» wird Emerson unter der
des Fortschritts, 'ist der plus-man. Emerson hat diesen Begriff Hand zum echten Nietzscheaner, so vor allem durch die Fest-
improvisiert auf Grund seiner Lehre von dem Plus an Kraft, stellung, daß jedes Plus an sich gut ist: all plus is good. Den ·
das den Anstoß aller Weiterentwicklung, alles Fortschritts, aller Einwand, daß ein Plus. auch zerstörerisch wirken und sich gegen
schöpferischen Leistung bildet. In dem Sprachgebrauch Emer- den «plus-man» selbst wenden kann, erkennt er nicht an; er
sons kommt der Begriff Übermensch - superman- nicht vor. Er vertritt vielmehr die Meinung, daß der «excess » sich selbst
hat auch den Begriff des «plus-man» nur in diesem Essay über korrigiere. Nur das an der falschen Stelle eingesetzte Phis sei
«Power» benutzt und nachher wieder fallen lassen und hat ihn übel und schaffe Übel, die Aufgabe sei, das Plus an der rich-
auch zum Beispiel nicht in seinen «Representative men» zur tigen Stelle wirken zu lassen, (S. 68).
Charakteristik des «great man» angewandt. Um so bedeut- Gerade dieses Moment der richtigen Verwertung der . über-
samer ist dieses einmalige Auftauchen des «plus-man» bei schüssigen Kraft demonstriert Emerson an Napoleon, der bei
Emerson, weil es zeigt, wie die Logik der Evolutionslehre und ihm ebenso als Prototyp des «plus-man» wie bei Nietzsche als
ihre Anwendung auf die Anthropologie von selbst zur Lehre ' _prototyp des Übermenschen erscheint. Wie sich Nietzsche nach
vom Übermenschen und zu sprachlichen Neubildungen für der Lektüre von Dostojewskijs Roman: «Aus einem Totenhause »
dieses zu erwartende höhere Evolutionsprodukt nötigt. Der an den russischen Verbrechern in Sibirien begeistert und in
«plus-man» ist derjenige Mensch, der über ein Plus an Kraft, ihrer Inhaftierung eine Verschwendung der besten russischen
an Vitalität, an Aktivität, angefangen von der physischen Ge- Volkskraft erblickt, so äußert Emerson seine Begeisterung dar-
sundheit bis hin zur Intelligenz und Intuition verfügt und der über, daß Napoleon die Vitalität der Diebe und Einbrecher,
· dank dieses Plus an Kraft die Entwicklung schöpferisch weiter- aus denen sich seine Armee zur Hälfte rekrutierte, richtig ein-
treibt. Emerson will allerdings diesen Begriff nicht auf das setzte und xnit ihnen seine Siege gewann (S. 72). 1
männliche Geschlecht beschränkt wissen: es gibt den aktiven, Letzthin erscheint so der «plus-man» in seiner Grundform als
schöpferischen, erfinderischen Typus auch unter den Frauen. der Mann ~t der überschüssigen Gesundheit, xnit der strotzen-
« The plus-man representshis set » - er repräsentiert in seinem den Vitalität, der Vollblütige. In seiner Beschreibung hat.
Werk jeweils seine ganze Gruppe, die er als Mitarbeiter und Emerson das Bild des Helden der damals noch nicht existie-
Gehilfen um sich sammelt. Der Hinweis auf Thorwaldsen, renden amerikanischen Filmproduktion des nächsten Jahr:-
Dumas, Shakespeare zeigt ebenso wie die Anwendung des Be- hunderts prophetisch vorgezeichnet 20 • In einer typischen Ver-
griffs des «represent», wie sehr die Vorstellung vom plus-man koppelung des Entwicklungs- xnit dem Fortschrittsgedanken
bei Emerson auch für seine Vorstellung von den representativemen benutzt er dann seine Lehre vom Plus an Vitalität und vom
maßgeblich ist. «plus-man» zu einer Theorie des Erfolgs. Das Plus an Kraft
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108 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) DAS ANTIOHRISTLIQHE VERSTÄNDNIS 109

und Vitalität ist die Bedingung und Voraussetzung des Erfolgs. die Dinge im rechten Licht und in großen Beziehungen - die anderen
Der «plus-man» ist der Erfolgreiche. aber müssen sich mit Verbesserungen plagen und vor vielen Fehler-
quellen auf der Hut sein ... Der ist groß, der, was er ist, von Natur il,t,
Es wäre indes falsch, den «plus-man» lediglich als den wilden und uns nie an andere erinnert.» (S. 4.)
Mann, den gesundheitstrotzenden Barbaren, den vom Vitamin-
Der « Große Mann» ist demnach der Mensch, der in einem
und Hormonkoller umgetriebenen Kraftprotzen zu verstehen.
Bereich höherer Erkenntnis « als Eingeborener» zu Hause ist.
Was Emerson interessiert, ist gerade der Moment des Über-
Dieses höhere Erkenntnisvermögen ist aber durchaus auf das
gangs, der Umsetzung der vitalen Kraft in die kulturelle erfin-
reale Leben bezogen: der große Mann überblickt neue Bereiche
derische, künstlerische oder politisch-soziale Leistun~, die
der Wirklichkeit, die sich bisher der Entdeckung und Erfor-
Sublimation der physischen Potenz in eine geistige und ethische
schung durch die menschliche Erkenntnis entzogen haben.
Betätigung. Die großen Augenblicke in der Geschichte der
Dem « GroßeIJ, Mann» auf dem Gebiet des Intellekts reserviert
Menschheit sind gerade solche, in denen diese Verwandlung
Emerson den Titel des Genies. Das Genie ist der Mensch, der
der rohen wilden Kraft und ihre Verwirklichung auf einer
neue höhere Schichten des Seins entdeckt, der in die Sphäre
höheren geistigen und sittlichen Ebene erfolgt. Der Fortschritt
des «übersinnlichen» vordringt. Es ist «der Naturforscher oder
der Menschheit besteht in ihrer Entwicklung auf dem Gebiet
Geograph, der uns die Landkarte der übersinnlichen Welt
der Ethik und der Humanität und ihre «plus-men » sind die
entwirft, und, indem es uns auf neue Gebiete der Betätigung
Führer auf diesem Wege21.
hinweist, unsere Vorliebe für die bisherige Wirksamkeit abkühlt.
Diese Auffassung von dem Plus an Kraft und vom «plus-man»
Diese neuen Gebiete sind hinfort für uns eine Wirklichkeit, von
reicht jedoch nicht aus, um Emersons Vorstellung vom «repre-
der die bis dahin uns umgebende Welt nur einAbbild ist.» (S. 13).
sentative man», vom Genie und vom Heroen zu erklären. Auch
So ist letzthin der «Große Mann» bzw. das Genie derjenige
sind ~erade die Persönlichkeiten, die er in seinen «Repre-
Mensch, der seine Mitmenschen in das wahre Wesen der Dinge,
sentative Men » als Leitbilder einer zukünftigen Entwicklung
in die Eigenschaften der Natur in ihrem Urzustande einführt.
und Veredelung der Menschheit ausgewählt hat, wie etwa
Die höhere Erkenntnis, die den « Großen Menschen» aus-
Swedenborg, nicht in jeder Hinsicht Anschauungsbeispiele für
zeichnet, ist hier bei Emerson letzthin identisch mit dem, was
den von ihm in seinem Essay «Power» beschriebenen «plus-
Jakob Boehme den «Blick ins Wesen aller Wesen», den «Blick
man ». Aber man sollte den Einschlag dieser evolutionistischen
ins Centrum der Natur», die «Erkenntnis der Signatur der
Idee in der Anthropologie Emersons neben den von Carlyle
Dinge» bezeichnet. Was aber bei Emerson über diese Boehme-
ausgehenden idealistischen Impulsen nicht verkennen.
sche Auffassung hinausführt, ist, daß für ihn der Blick ins Wesen
In seiner Einleitung zu dem Werk «Representative Men»
der Dinge identisch ist mit der Erkenntnis ihrer Entwicklung.
scheint Emerson zunächst ganz von dem idealistischen Begriff
Nun spielt sich aber in der Aufeinanderfolge der großen
des «Großen Mannes», des «Genies» bestimmt zu sein:
Männer selbst eine geheimnisvolle Entwicklungsgeschichte ab:
«Es liegt in_ uns~rer Natur, an große Menschen zu glauben ... 22» «Zwischen Rang und Rang unserer großen Männer sind weite Stufen-
«Den nenne ich emen großen Mann, der eine höhere Gedankensphäre, räume. Zu allen Zeiten hat die Menschheit sich einigen Wenigen an-
zu der andere Menschen mühselig emporklimmen müssen, als Ein- geschlossen, die durch die Höhe der von ihnen verkörperten Idee oder
geborener bewohnt. Er braucht nur die Augen zu öffnen, und er sieht durch die Großartigkeit ihres Wollens Anspruch darauf hatten, Führer
:/
110 ERNST BENZ (GEISTESGESCHi{HTE) DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS 111

./'
und Gesetzgeber zu sein. Diese lehren uns die Eigenschaften der Natur licher erfassen. Wenn der letzte große Mensch das letzte Rätsel
in ihrem Urzustande -führen uns in die Entwicklung der Dinge ein ... der Natur gelöst haben wird, wird auch das letzte Geheimnis
Mit jedem neuen Geist dringt ein neues Geheimnis der Natur ans
der Heiligen Schrift enthüllt sein, dann «kann die Bibel ge-
Licht, und die Bibel kann nicht geschlossen werden, ehe nicht der
letzte große Mensch geboren ist. Diese Männer bändigen das Tier, schlossen werden».
das in uns Menschen rast, sie machen uns.tbedachtsam und weisen Was aber bei Schelling und noch deutlicher bei seinem Lehrer
unseren Kräften neue Ziele. Verehrungsvoll..ste'llt die Menschheit diese Oetinger noch ganz in einem heilsgeschichtlichen Sinn ver-
Großen auf die höchsten Plätze.» (S. r 7.)' standen ist, das ist bei Emerson in den Entwicklungsgedanken
Die Geschichte der großen Männer ist die Geschichte der der modernen Natu,_rwissenschaft übersetzt. So heißt bei ihm
Selbstoffenbarung der Geheimnissei.cks Universums. So er- der great man der superiorman, denn jeder neue Genius ist größer
scheint letzthin unter der Anschauung vom « Großen Mann» als die früheren. Jede von einem neuen Genius entdeckte und
bei Emerson der Gedanke Schellings von Gott als dem ens erkenntnismäßig erfaßte Sphäre des Seins und jede neue Form
manifestativum sui: durch die großen Männer, die in immer der Tätigkeit führt dazu, «unsere Vorliebe für die bisherige
höhere Sphären des übersinnlichen vordringen, die immer Wirksamkeit abzukühlen». Die Entwicklung im Sinn der Ver-
höhere Bereiche der Wirklichkeit erschließen, vollzieht sich die edelung erscheint als das grundlegende Prinzip, das die ganze
sukzessive Selbstoffenbarung Gottes, der hier als die natura Natur in allen ihren Bereichen durchzieht; der« Große Mensch»
naturans verstanden wird. hat seine Funktion innerhalb dieser Höherentwicklung als ihr
Wenn Emerson hier von einer fortlaufenden Selbsterschließung schöpferischer Beweger.
der Geheimnisse der Natur spricht, so zeigt die Fortsetzung « Indessen, so beschränkt menschliche Erziehung und Entwicklung
dieses Satzes die Verwurzelung dieses Gedankens in der alten sind, so können wir doch sagen: große Menschen sind dazu da, damit
spiritualistischen Theologie, die Schelling selbst von seinem Größere werden. Die Bestimmung organischer Natur ist Veredelung -
Lehrmeister des Spiritualismus und der Theosophie, Friedrich und wer kann sagen, wo da die Grenzen sind? Des Menschen Aufgabe
ist es, das Chaos zu bändigen und sein Lebenlang nach allen Seiten die
Christoph Oetinger, übernommen hat: «Die Bibel kann nicht Saatkörner des Wissens und des Gesanges auszustreuen, auf daß
geschlossen werden, ehe nicht der letzte große Mensch geboren Klima, Korn, Tier, Mensch, milder werden, daß die Keime der Liebe
ist.» Dahinter steht die uralte Lehre von den drei Büchern, die und des Wohltuns sich mehren tausendfältig.» (S. 30.)
sich entsprechen, und sich gegenseitig aufschließen: Mensch, Letzthin steht hinter dieser Anwendung der Entwicklungsidee
Kosmos, Bibel. Die Bibel ist der Mikrokosmos, die das Geheim- auf die Geschichte der Gedanke einer fortschreitenden Annähe-
nis des ganzen Universums in sich enthält. Die Geschichte der rung des Menschen an die transzendente over-soul,die Überseele,
Selbstoffenbarung Gottes ist zugleich die Geschichte der suk- ein Prozeß, der zugleich mit einer progressiven Loslösung von
zessiven Aufschließung der Bibel und der Aufschließung der dem eigenen Ich, von der Selbstsucht und der Selbstbehaup-
Geheimnisse des Universums, eine Aufschließung, die sich pro- tung verbunden ist und auf seiner höchsten Stufe das Eingehen
gressiv in der Geschichte der Menschheit vollzieht, und zwar in die Einheit der «over-soul » selber ist.
durch die Abfolge großer Menschen, die immer höhere Sphären «Ich bewundere große Männer jeder Art, Helden der That und Helden
des Seins erklimmen, die immer reinere Schichten der Erkennt- des Gedankens ... Aber den finde ich noch größer, der sich selbst und
nis erschließen und den geheimen Sinn der Bibel immer deut- alle Helden überflüssig machen kann, indem er in unsere Gedanken
T
1

112 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 113


1

das Element der Vernunft einführt, die nichts nach Personen fragt, Werk «Kokoro» (Herz), in dem er unter anderem seine Begeg-
die unendlich verfeinernde, unwiderstehliche, aufwärtsreißende Kraft, nung mit dem japanischen Buddhismus schildert, schreibt er32;
die jedem Eigenwillen und Eigenstreben ein Ende macht, diese gewal- «Was wir uns mit der vollen Zustimmung der Wissenschaft gestatten
tige Macht, die so groß ist, daß der Machthaber Nichts wird. Dieser können zu glauben, ist, daß uns wundersame Offenbarungen erwarten.
Große ist dann der Herrscher, der seinem Volke eine Verfassung giebt In der jüngsten Zeit haben sich neue Kräfte und Gefühle entwickelt
- der Hohepriester, der die Gleichheit aller Seelen predigt und seine der Sinn für Musik, die immer wachsenden Fähigkeiten des Mathema~
Diener ihrer barbarischen Huldigungen entbindet - der Kaiser, der tikers. Und wir dürfen mit Recht erwarten, daß noch höhere, heute
seines Reiches entbehren kann.» (S. 20.) unvorstellbare Fähigkeiten sich in unseren Nachkommen entwickeln
Die Parallelisierung von reason mit irresistible upward force und w~rden. Man weiß auch, daß gewissegeistige, zweifellosererbte Fähig-
power zeigt, daß hier darunter nicht der Verstand, sondern der keiten sich nur in späterer Zeit entwickeln - und das Durchschnitts-
al~er der menschlichen Rasse wächst stetig. Mit gesteigerter Langlebig-
Geist im Sinn der Schellingschen Philosophie gemeint ist, jenes keit können sicherlich durch die Ausgestaltung des größeren zukünf-
transzendente Prinzip, das er als die over-soulbezeichnet hat. tigen Gehirnes plötzlich Kräfte entstehen, die nicht weniger wunderbar
Hier wird deutlich, wie sich bei Emerson diC'<Linie der christ- sind als die Fähigkeit, sich an frühere Geburten zu erinnern. Die
lichen Endzeiterwartung und die darwinistische Linie der Träume des Buddhismus können kaum übertroffen werden, weil sie
Evolution überkreuzen und miteinander verknüpfen. Deshalb das Unendliche berühren; aber wer möchte sich vermessen zu sagen,
daß sie sich nie verwirklichen werden?» 1

kann Emerson auch in seine erlauchte Gesellschaft der «repre- ! 1

sentative men » nebeneinander Männer wie Swedenborg und So viele Nietzsches vor Nietzsche!, wird man ausrufen. Und
Napoleon aufnehmen. Ebenso wird bei ihm deutlich, wie die doch nimmt Nietzsche gegenüber all seinen Vorläufern eine l 1

Anwendung der Entwicklungstheorie auf die Anthropologie einzigartige Stellung ein. 1

und die Psychologie von selbst auf sprachliche Neuschöpfungen


hindrängt, die in die Richtung des «Übermenschen» weisen:
den plus-man, den superiorman, den greater man, der seine Erfül-
lung dort erlebt, wo seine Seele in die over-souleingeht - ein NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN

Begriff, der in gewissem Sinn in die gleiche Kategorie der Neu-


bildungen gehört wie die Kategorie des «Supramentalen» bei
Aurobindo (s. S. 213 ff.). Nietzsches Polemik gegen angebliche«Mißverständnisse»
Der Glaube an die zukünftige Entwicklungsfähigkeit des Men- seines Übermensch-Bildes
schen erfüllte weite Kreise der Dichter und Denker vor allem
der angelsächsischen Welt. Die schwungvollen Äußerungen Das Bild des Übermenschen, das Nietzsche in seinen Werken
dieses auf den Menschen angewandten Entwicklungsgedankens als Leitbild für die Zukunft der Menschheit aufgerichtet hat,
enden fast immer mit dem Ausblick auf einen künftigen super- hat so viele pathologische Naturen ermutigt, sich selbst für
man. So hat sich dieser Glaube an die zukünftige Höherentwick- Übermenschen zu halten und unter diesem Titel ihre Un-
lung des Menschen bei einem Schriftsteller und Denker wie menschlichkeit auszutoben, daß man nur mit Zögern an eine
Lafcadio Hearn mit der buddhistischen Idee des Boddhisatva Darstellung dieses Gegenstandes herantritt. Der Mißbrauch des
und der buddhistischen Reinkarnationslehre verbunden. In dem Wortes «Übermensch» durch alle die, die im Namen Nietzsches
114 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN

versucht haben, selbst den Übermenschen zu spielen, scheint ,,Heroen-Kultus" jenes großen Falschmünzers wider Wissen und Willen,
für viele den Namen und die Sache selbst für immer kom- Carlyles, ist darin wiedererkannt worden. Wem ich ins Ohr flüsterte,
promittiert zu haben. Trotzdem ist es gerade heute erforderlich, er solle sich eher noch nach einem Cesare Borgia als nach einem
Nietzsches Bild des Übermenschen sorgfä.ltig zu klären. Gerade Parsifal umsehn, der traute seinen Ohren nicht. - »
weil die Sache selbst, die Möglichkeit der Weiterentwi~klung Nietzsche wirft seinen Lesern nichts Geringeres vor, als daß sie
des Menschen zum Übermenschen, heute von den verschieden- seine Botschaft vom Übermenschen total mißverstanden hätten.
sten naturwissenschaftlichen Disziplinen, vor allem der Anthro- Er nennt drei Formen solcher Mißverständnisse: 1. die Deutung
pologie, der Biologie, der Gehirnforschung her diskutiert wir~, des Übermenschen als eines «idealistischen Typus einer höheren
ist es notwendig, die Vorstellungen näher zu untersuchen, die Art Mensch», «hclb Heiliger, halb Genie», 2. eine Deutung
derjenige Philosoph mit dem «Übermenschen» verknüp~e, der des Übermenschen im Sinn der Darwinschen Abstammungs-
mit einem gleichermaßen kulturkritischen wie prophetISchen und Entwicklungslehre, 3. im Sinne des Carlyleschen Heroen-
Geist begabt diesen Begriff in den Mittelpunkt seiner Anthro- begriffs. Die dritte Deutung gehört geistesgeschichtlich mit der
pologie gerückt hat. . . . ersten zusammen, da Carlyles Heroenbegriff selber aufs engste
Die eigentümliche Verflechtung prophetIScher, philo~ophischer, mit dem idealistischen Geniebegriff verwandt ist, so daß Nietz-
künstlerischer, naturwissenschaftlicher und pädagogischer Mo- sches Klage auf die Beschwerde über ein idealistisches und ein
tive die für Nietzsches Botschaft vom Übermenschen charak- darwinistisches Mißverständnis hinausläuft.
teri:tisch ist, hat von Anfang an dazu geführt, daß diese Lehre Die zahlreichen Ausführungen Nietzsches über den « Über-
bei den Zeitgenossen die verschiedenartigste Auslegung fand. menschen» selbst geben lebhaften Anlaß zu der Frage, ob er
Nietzsche selber hat sich in einer kritischen Auseinandersetzung denn überhaupt ein Recht habe, sich über dies doppelte Miß-
mit seinen Anhängern und Gegnern lebhaft darüber beschwert, verständnis zu beklagen, und ob er es nicht vielmehr selbst
daß seine Botschaft vom Übermenschen mißverstanden worden herausgefordert habe,ja ob nicht der Ärger darüber in Wirklich-:
sei. keit nur der Ärger über die Bloßlegung der tatsächlichen Wur-
Diese Auseinandersetzung findet sich im «Ecce Homo» von zeln seiner Übermensch-Idee sei.
1888, in dem berühmt-berüchtigten Kapitel: «Warum ich so
gute Bücher schreibe 1 • » Das idealistische«Mißverständnis»
«Das Wort Übermensch" zur Bezeichnung eines Typus höchster In der Tat lassen sich unmittelbare Zusammenhänge des
"
Wohlgeratenbeit, im Gegensatz zu „mod~r~~n "M e~c hen, zu „gu t e~ " Nietzscheschen Übermensch-Begriffs mit dem idealistischen
Menschen zu Christen und andren Nihilisten - em Wort, das un Genie- Begriff feststellen. Jahre bevor Nietzsche seinem Zara-
Munde ehies Zarathustra, des Vernichters der Moral, ein se~ na~h- thustra die Predigt vom Übermenschen in den Mund legte, ·
denkliches Wort wird - ist fast überall mit voller Unschuld un Smn
benutzte er bereits den Begriff des «Übermenschen», aber in
derjenigen Werte verstanden worden, deren Gege~atz ~n der Figur
Zarathustras zur Erscheinung gebracht worden ISt: will sa~e.n a,:s einer Weise, die einen unmittelbaren Zusammenhang mit dem
idealistischer" Typus einer höheren Art Mensch, halb „Heiliger , Genie-Begriff des deutschen Idealismus und des Sturm und
halb „Genie" ... Andres gelehrtes Hornvieh hat mich seinethalben des Drang bekundet. Nietzsche selbst hat sich nie deutlich darüber
Darwinismus verdächtigt; selbst der von mir so boshaft abgelehnte geäußert, von wem er den Begriff des Übermenschen über-
II6 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN I 17

nommen hat. Er spricht nur einmal sehr dunkel in seinem dieser Götter-Fürsten-Verehrung. Überall, wo man sich bestrebt,
«Zarathustra» in dem Kapitel «Von alten und neuen Tafeln» einzelne Menschen in das Übermenschliche hinaufzuheben, entsteht
über die Herkunft des Begriffs. Dort erzählt Zarathustra, wie ,:iuch die Neigung, ganze Schichten des Volkes sich roher und niedriger
vorzustellen, als sie wirklich sind. »
er « zu den Menschen» kam ...
«An ihre große Gräberstraße setzte ich mich und selber zu Aas und Auch hier ist es also die religiöse Imagination des Menschen,
Geiern ... dort wars auch, wo ich das Wort „Übermensch" vom Wege die den Fürsten in den Rang des Übermenschen erhebt; die
auflas, und daß der Mensch etwas sei, das überwunden werden müsse, Erhebung des Genies ins Übermenschliche und seine göttliche
- daß der Mensch eine Brücke sei und kein Zweck, sich selig preisend Verehrung ist ein «Nachklang» der primären Erhebung des
ob seines Mittags und Abends, als Weg zu neuen Morgenröten 2 • »
Fürsten in den Rang des Übermenschen. Dem entspricht auf
Doch verraten die frühesten Erwähnungen des Wortes deutlicher der andern Seite die Degradierung ganzer Schichten des Volkes
als diese dunkle Andeutung, an welchen «Gräbern» er den auf den Stand einer rohen, niedrigen Masse - das sind Gedan-
Begriff und die Sache «aufgelesen» hat. Der Übermensch er- ken, die sich sowohl in der Herderschen wie in der linkshege-
scheint bei Nietzsche zuerst in der «Fröhlichen Wissenschaft »3 lianischen Kritik des Übermensch-Begriffs finden (s. S. 71 u. 92).
unter dem Titel « Größter Nutzen des Polytheismus»: Das historische Genie nun, an dem Nietzsche in seiner « Genea-
«Die Erfindung von Göttern, Heroen und Übermenschen aller Art, logie der Moral » 6 diesen Vorgang exemplifiziert, ist - wie bei
sowie von Neben- und Untermenschen, von Zwergen, Feen, Zentauren, Jean Paul und Emerson - Napoleon:
Satyren, Dämonen und Teufeln war die unschätzbare Vorübung zur
Rechtfertigung der Selbstsucht und Selbstherrlichkeit des einzelnen. «Wie ein letzter Fingerzeig zum anderen Wege erschien Napoleon,
Die Freiheit, welche man dem Gotte gegen die andern Götter gewährte, jener einzelnste und spätestgeborene Mensch, den es jemals gab, und
gab man zuletzt sich selber, gegen Gesetz und Sitten der Nachbarn.~> in ihm das fleischgewordene Problem des vornehmen Ideals an sich -
Diese Vorstellung setzt die Religionsphilosophie Feuerbachs voraus, man überlege wohl, was es für ein Problem ist: Napoleon, diese Syn-
nach der die Götter ein Produkt der menschlichen Vorstellungskraft thesis von Unmensch und Übermensch.»
und mythischen Phantasie sind. Noch im «Zarathustra» schimmert Napoleon erscheint hier als die politische Gestalt, die den
diese Feµerbachsche Deutung des Übermenschen als eines Produktes Schritt zum echten Übermenschentum getan und der gegen-
der mythenschöpferischen Imagination des Menschen gelegentlich
durch, so wenn Nietzsche seinen Zarathustra lehren läßt: «Alle Götter über das traditionelle Fürstentum, dessen Ansprüche nur in
sind Dichter-Gleichnis, Dichter-Erschleichnis ! Wahrlich, immer zieht Konvention und Tradition begründet sind, zur Karikatur ver-
es uns hinan - nämlich zum Reich der Wolken: auf diese setzten wir blaßt. Dementsprechend heißt es von Napoleon in der «Un-
unsre bunten Bälge und heißen sie dann Götter und Übermenschen: schuld des Werdens, Nachlaß II »7 :
- Sind sie doch gerade leicht genug für diese Stühle! - alle diese Götter
und Übermenschen 4 • » «Napoleon - ein Wohlgefühl sondersgleichen ging durch Europa -
das Genie soll Herr sein. Der blödsinnige Fürst von ehedem erschien
Diese Feuerbachsche Deutung der «Erfindung» des Über- als Karikatur. Man versteht große Menschen nicht; sie verzeihen sich
menschen dringt auch noch in seiner Schrift «Menschliches, jedes Verbrechen, aber keine Schwäche, wie viele bringen sie um.
Allzumenschliches »5 durch, wo Nietzsche den Fürstenkult mit Jedes Genie, was für eine Wüstenei ist um ihn! »
dem Kultus des Genius in Zusammenhang bringt: Hier ist das Übermenschentum Napoleons ähnlich wie bei Jean
«Die Menschen verkehren mit ihrem Fürsten vielfach in ähnlicher Paul von dem idealistischen Genie begriff her verstanden. Beide
Weise wie mit ihrem Gott. .. Der Kultus des Genius ist ein Nachklang Begriffe - Übermensch und Genie - werden abwechselnd ge-
II8 ERNST BENZ ( G~ISTESGESCHIOHTE)
NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 119

braucht, jedoch hat hier der Begriff des Übermenschen schon Übermenschen, als ihm dessen Konzeption zum erstenmal in
einen andern Klang als in dem erstgenannten Zitat aus «Mensch- der « Geburt der Tragödie» erschien, als einen solchen idea-
liches, Allzumenschliches». Scheinen dort Götter, Heroen und listischen Typus des Heiligen und Genies beschrieb:
Übermenschen nur eine «Erfindung» der Menschen zu sein, «Weder der Staat, noch das Volk, noch die Menschheit ~incl ihrer
Ergebnis eines Bestrebens, «einzelne in das übermenschliche selbst wegen da, sondern in ihren Spitzen in den großen „Emzelnen",
hinaufzuheben», so erscheint hier eine neue Konzeption: Napo- den Heiligen und den Künstlern, liegt das Ziel, also weder vor noch
leon wurde nicht durch den Glauben der Menge «ins Über- hinter uns, sondern außerhalb der Zeit. Dieses Ziel aber weist durchaus
menschliche hinaufgehoben», er ist vielmehr selbst objektiv ein über die Menschheit hinaus. Nicht um eine allgemeine Bildung oder
eines asketische Selbstvernichtung oder gar um einen Universalstaat
Sonderfall, der über alle andern Menschen hinausragt, er ist vorzubereiten, erheben wider alles Vermuten hier und da die großen
,I' «jener einzelnste und spätestgeborene Mensch, den es jemals Genien ihre Häupter. Wohin aber die Existenz des Genius deutet, auf
1,
:1 gab»; er ist in seiner Epoche, in der das Menschsein im all- welches erhabenste Daseinsziel, wird hier nur mit Schauer nachgefühlt
gemeinen schon völlig degeneriert ist, eine vollkommen singu- werden können. Wer möchte sich erkühnen, vom Heiligen in der
Wüste zu sagen, daß er die höchste Absicht des Wel~!ens verfehlt
läre Ausnahmeerscheinung. Ihre Eigentümlichkeit besteht dar- habe? Glaubt wirklich jemand, daß eine Statue des Phidias wahrhaft
in, daß die Spannweite seines Menschseins viel mehr Bereiche vernichtet werden könne wenn nicht einmal die Idee des Steins, aus
als die des gewöhnlichen Menschlichen umfaßt, und zwar sowohl der sie gefertigt war, zu~de geht? Und wer möchte bezweifeln, daß
die Bereiche des übermenschlichen wie des Unmenschlichen die griechische Heroenwelt nur des einen Homer wegen dagewesen
miteinbezieht. Eben diese objektive Verwirklichung eines ein- ist? ... Aus alledem wird klar, daß der Genius nicht der Menschheit
wegen da ist; während er allerdings derselben Spitze und letztes Ziel
zigartigen überdimensionalen Menschentums führte nachNietz- ist. 8 l)
sches Meinung dazu, daß « ein Wohlgefühl sondergleichen durch Hier ist der Genius ganz in idealistischem Sinn beschrieben als
Europa ging - das Genie soll Herr sein». der «Große Einzelne», exemplifiziert am «Heiligen», und zwar
An Napoleon wird hier bereits jene wesentliche Konzeption des am «Heiligen in der Wüste», also an dem christlichen Asketen
Übermenschen erhellt, die dann Zarathustra so nachdrücklich der alten Kirche. Von diesem Genius wird nebeneinander beides
vorträgt, daß nämlich der Übermensch nicht etwa mit dem gesagt, einmal, daß er der Menschheit « Spitze und letztes Ziel»
« besseren » Menschen im christlichen Sinn verwechselt werden darstellt, weiter aber, daß dieses Ziel «über die Menschheit
darf, sondern daß der wahrhaft «bessere» Mensch gleichzeitig hinausweist».
der «bösere» Mensch ist, der höher in die Sphäre des über- Aber auch dieses «über die Menschheit hinaus» ist ganz im
menschlichen und tiefer in die Schicht des Untermenschlich- Sinn des Idealismus und des Sturm und Drang verstanden, als
Dämonischen hineingreift, dessen Spannweite die Höhe des ein Hinausdrängen ins Titanische, in eine über dem Mensch-
Himmels und die Abgründe der Hölle umfaßt. lichen hinausliegende Sphäre der Erkenntnis und der Macht;
Wenn nun Nietzsche in der Kritik seiner Kritiker sich weiter es fehlt hier noch die eigentümliche endabsichtliche futuristische
darüber beschwert, daß man seinen Übermenschen fälschlicher- Auffassung, die der Übermensch-Gedanke bei Nietzsche durch
weise als «idealistischen Typus einer höheren Art Mensch, halb seine Begegnung und Auseinandersetzung mit dem natur-
Heiliger, halb Genie» verstanden habe, so hat er r888, als er wissenschaftlichen Entwicklungsbegriff seiner Zeit und insbe-
«Ecce Homo» niederschrieb, längst vergessen, daß er selbst den sondere mit der Deszendenz-Theorie Darwins erhalten hat.
I20 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 121

In der «Fröhlichen Wissenschaft » ist Nietzsche von dem sind nur die Heroen. In ihnen erkennt sich die Gegenwart
idealistischen Genie-Begriff her bereits nahe daran, den Über- wieder und lebt in ihnen fort 10 • » Er akzeptiert voller Begeiste-
menschen bei seinem Namen zu beschwören: aber er dringt rung den Gedanken Schopenhauers:
mit seiner Beschwörung nur bis zu seinen Eigenschaften - dem «Ein glückliches Leben ist unmöglich: das Höchste, was der Mensch
Adjektiv «übermenschlich» -, aber noch nicht bis zu seinem erlangen kann, ist ein heroischer Lebenslauf. Ein solcher heroischer
Wesensnamen - dem Substantiv «Übermensch» - vor. Lebenslauf, samt der in ihm vollbrachten Mortifikation, entspricht
freilich am wenigsten dem dürftigen Begriff derer, welche darüber die
«Ein anderes Ideal läuft vor uns her, ein wunderliches, versucherisches, meisten Worte machen, Feste zum Andenken großer Menschen feiern
gefahrenreiches Ideal, zu dem wir niemanden überreden möchten, und vermeinen, de!\ große Mensch sei eben groß, wie sie klein. » Der
weil wir niemandem so leicht das Recht darauf zugestehen: das Ideal Heros wird dann weiterhin als der «große Mensch» beschrieben, der
eines Geistes, der naiv, das heißt ungewollt und aus überströmender sich am allerwenigsten beschenken oder zwingen läßt und der gegen-
Fülle und Mächtigkeit mit allem spielt, was bisher heilig, gut, unbe- über allen Versuchen der «kleinen Menschen», ihn aus seiner eigenen
rührbar, göttlich hieß; für den das Höchste, woran das Volk billiger- Höhle wegzustehlen, den «schrecklichen Beschluß» faßt: «Ich will
weise sein Wertmaß hat, bereits soviel wie Gefahr, Verfall, Erniedri- mein bleibenll. »
gung oder, mindestens, wie Erholung, Blindheit, zeitweiliges Selbst-
Wie sich nach Nietzsches Formel der «Übermensch» am « Über-
vergessen bedeuten würde; das Ideal eines menschlich-übermensch-
lichen Wohlseins und Wohlwollens, das oft genug unmenschlich er- drachen» erst bewährt, so heißt es in «Menschliches, Allzu-
scheinen wird 9 • » menschliches » :
«Bedingung des Heroentums: Wenn einer zum Helden werden will,
Der substantivische Begriff des Übermenschen selbst ist hier so muß die Schlange vorher zum Drachen geworden sein, sonst fehlt
noch nicht verwandt; es findet sich aber schon der Dreiklang ihm sein rechter Feind 12 • » Und ebenso wie er seiner entarteten Zeit,
der Adjektive: menschlich - übermenschlich - unmenschlich, der Generation der «kleinen Menschen», der «decadence » vorwirft,
der die Wertskala der zukünftigen Beschreibung des Über- daß sie kein Organ haben, um das Bild des Übermenschen in sich auf-
menschen in sich enthält. Man spürt, wie das Ringen um eine zunehmen, so wirft er den Künstlern und Dichtern der Gegenwart vor,
daß sie nicht imstande sind, das Bild des Heros zu zeichnen. «Zum
neue Deutung des «großen Einzelnen», des «großen Genius», Heros fehlt jetzt die Farbe» ... «Die größten Gestalten, welche jene
repräsentiert durch den Heiligen und den Künstler, den Philo- hinmalen, scheinen etwas Flimmerndes, Zitterndes, Wirbelndes an sich
sophen, Nietzsche auf die Konzeption der Gestalt und des We- zu haben: so daß man ilmen heroische Taten eigentlich nicht zutraut,
sensnamens (Substantiv) «Übermensch» geradezu hindrängt. sondern höchstens heroisierende, prahlerische Untaten 13 • »
Ebenso paradox wirkt die Klage Nietzsches darüber, daß man Was Nietzsche zutiefst gegen die Gleichsetzung des Begriffs des
seinen «Übermenschen» im Sinn des Carlyleschen «Heroen» « Heroen » mit seinem Begriff des « Übermenschen » einzuwenden
mißverstanden habe. Nietzsche selbst verwendet in seinen hat, ist eigentlich nur, daß Carlyle seinem Heroen christliche
Schriften den Begriff des «Heroen» sehr häufig, entweder als Züge verliehen hat. Gerade dies aber hat Nietzsches heftigsten
Synonym für den «Übermenschen» oder wenigstens als eine Zorn erregt; hat er selbst doch sein Bild des Übermenschen als
Bezeichnung für den «großen» oder den «höheren Menschen», Gegenbild zu dem christlichen entarteten Menschen aufgerich-
den er als eine Vorstufe des Übermenschen beschreibt. Er mißt tet. Wieder liegt hier der typische Fall der Reaktion vor, der
in seiner « Geburt der Tragödie» dem Heroen die entscheidende sich schon bei seiner entrüsteten Abwehr einer Gleichsetzung
Bedeutung in der Geschichte zu. «Wahrhaft individuell lebendig seines «Übermenschen» mit dem idealistischen Begriff des
---~,,

122 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 123

«Genies» und der «Heiligen» bemerkbar machte. Sein Bild des sein Übermensch-Ideal ins Christlich-Moralische umgefälscht
Übermenschen ähnelt zwar in vielem dem Carlyleschen Heroen, hat. So verleugnet er die Carlylsche Patenschaft seines Über-
aber sein antichristlicher Affekt treibt ihn dazu, sich von Carlyle menschen ebenso energisch, wie er die Patenschaft des idea-
ganz und gar zu distanzieren, weil dieser die Möglichkeit eines listischen Genie-Begriffs abstreitet.
christlichen Heroismus zuläßt. Der Versuch, den Heroen ins
Christliche, ins «Gute» zu interpretieren, das ist die Sünde Das Danvinistische «Mißverständnis»
Carlyles, die ihm Nietzsche nie verzeiht. So heißt es im «Willen Ebenso wie das erste «Mißverständnis» einer Deutung des
zur Macht»14: Übermenschen im Sinn des idealistischen Genie-Begriffs hat
'
!1
1 «Im großen Menschen sind die spezifischen Eigenschaften des Lebens Nietzsche auch das zweite «Mißverständnis» einer darwinisti-
i/ 1 - Unrecht, Lüge, Ausbeutung - am größten. Insofern sie aber über- schen Interpretation seines Übermenschen selber verursacht.
! ;I wältigend gewirkt haben, ist ihr Wesen a:m besten mißverstanden und Es ist hier erforderlich, die erste programmatische Verkündi-
i 1/
ins Gute interpretiert worden. Typus Carlyle als Interpret. » gung des Übermenschen durch Zarathustra in ihrem unver-
Carlyle erscheint ihm als der eigentliche Antagonist, der kürzten Wortlaut zu zitieren 20 :
lii:
1' dem Bild des großen Menschen, des «Übermenschen», das
«Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, das über-
Schlimmste antut, was man ihm nach Nietzsches Meinung an- wunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden?
tun kann, nämlich ihn mit Eigenschaften der christlichen Moral Alle Wesen bisher schufen etwas über sich hinaus: und ihr wollt die
ausstaffiert. Eben dadurch sind «alle Versuche, höhere Typen Ebbe dieser großen Flut sein und lieber noch zum Tiere zurückgehn,
auszudenken, manquiert ( ... gegen Carlyles Versuch, ihnen die als den Menschen überwinden?
Was ist der Affe für den Menschen? Ein Gelächter oder eine schmerz-
höchsten Moralwerte zuzulegen) 15». Indem Carlyle seine liche Scham. Und ebendas soll der Mensch für den Übermenschen
Heroen mit solchen christlichen Eigenschaften wie zum Beispiel sein: ein Gelächter oder eine schmerzliche Scham.
dem Bedürfnis nach Glauben ausstattet, raubt er ihnen gerade Ihr habt den Weg vom Wurme zum Menschen gemacht, und vieles
das eigentliche Kennzeichen des Heroischen, denn «ein Geist, ist in euch noch Wurm. Einst wart ihr Affen, und auch jetzt noch ist
der Mensch mehr Affe, als irgend ein Affe. Wer aber der Weiseste
der Großes will, der auch die Mittel dazu will, ist mit Not-
von euch ist, der ist auch nur ein Zwiespalt und Zwitter von Pflanze
wendigkeit Skeptiker ... Umgekehrt: das Bedürfnis nach Glau- und von Gespenst. Aber heiße ich euch zu Gespenstern oder Pflanzen
ben, nach irgend etwas Unbedingtem von Ja und Nein, der werden?
Carlylismus, wenn man mir dies Wort nachsehen will, ist ein Seht! Ich lehre euch den Übermenschen!
Bedürfnis der Schwäche» 16 • Eben deswegen ist Carlyle «der Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Über-
mensch sei der Sinn der Erde ! »
alte anmaßliche Wirr- und Murrkopf» 17, «ein englischer
Atheist, der seine Ehre darin sucht, es nicht zu sein» 18, dessen Diese Äußerung ist ohne Darwin gar nicht denkbar. Sie setzt
Leben eine «Farce wider Wissen und Willen», eine «heroisch- die - übrigens mißverstandene - Darwinsche Deszendenz-
moralische Interpretation dyspeptischer Zustände» ist, und theorie einfach voraus und übersteigert sie in eine prophetische
eben deswegen gilt er ihm als «jener große Falschmünzer wider Kritik am gegenwärtigen Menschen. Wenn Nietzsche hier mit
Wissen und Willen »19 • «Falschmünzer» - dieser Vorwurf be- einem Blick auf Darwin sagt: «Ihr habt den Wurm zum
zieht sich gerade darauf, daß Carlyle nach Nietzsches Meinung Menschen gemacht», so fügt er emphatisch hinzu: «und vieles
·1

1
124 ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 125
/1
ist in euch noch Wurm». Wenn er als oberflächlicher Schüler einer Entwicklung betrachtet wird, in dem der Ablauf der
II
Darwins sagt: «Einst wart ihr Affen», so fährt er nicht minder Natur, der durch das Gesetz der Evolution beherrscht ist, über 1
emphatisch fort: «Auch jetzt noch ist der Mensch mehr Affe als die gegenwärtige Spezies des Menschen hinaus «von selbst» 1
irgend ein Affe», wobei «Wurm» und «Affe» in seiner Ab- eine neue Spezies in Gestalt des Übermenschen hervorbringt; i
wandlung Darwinscher Gedanken nicht mehr einen natur- vielmehr ist der Übermensch ein Produkt der freien Schöpfung,
wissenschaftlichen, sondern einen moralischen Sinn erhalten. ja der bewußten Züchtung; sein Hervortreten fällt also in die
Aber auch seiner Anschauung vom Übermenschen liegt der Sphäre der Freiheit, nicht in die Sphäre des Naturgesetzes.
Gedanke. der Darwinschen Evolutionstheorie zugrunde, die Der zweite Punkt betrifft eine ganz analoge Unterscheidung.
Nietzsche in die Worte faßt: «Alle Wesen bisher schufen etwas Auch der Überm~nsch ist das Produkt eines Kampfes, aber
über sich hinaus. » Dieser Satz wird auf den Menschen ange- nicht eines Kampfes ums Dasein im Sinne einer Ausscheidung
wandt, allerdings auch hier gleich in Form des kritischen Vor- des Schwächeren im Kampf um die biologische Selbsterhaltung,
wurfs, die heutige Menschheit habe diese auch ihr auferlegte sondern im Sinne eines freien Wettkampfes. So heißt es bereits
Aufgabe, etwas über sich hinaus zu schaffen, versäumt. in der «Geburt der Tragödie» 22 vom Dichter: «Der Dichter
Zwei Grundgedanken Darwins sind auch in Nietzsches Lehre überwindet den Kampf ums Dasein, indem er ihn zu einem
,1 vom Übermenschen noch festgehalten: Erstens die Entwick- freien Wettkampf idealisiert.» Auch der Kampf ums Dasein
ij lungslehre in ihrer allgemeinen Form und in der speziellen wird aus der Sphäre des Naturgesetzes in die Sphäre der Frei-
1"
Fassung der Abstammungslehre und zweitens der Gedanke vom heit erhoben und wird zu einem agonalen Prinzip der Züchtung
;I Kampf ums Dasein. Nietzsche selber beruft sich immer wieder des Übermenschen.
I'
,1
auf «das Gesetz der Entwicklung, welches das Gesetz der Alle Kritik Nietzsches an Darwin kommt von dem einen
Selektion» ist 21 • Ebenso klar ist bei ihm der Kampf ums Dasein Gedanken her, daß die Entwicklung der Arten sich nicht natur-
als ein wesentliches Element innerhalb dieses Prozesses der gesetzlich, sondern in Freiheit vollzieht. Diese Erkenntnis ist
Selektion anerkannt. Wenn man sich vor Augen hält, daß primär am Menschen und an der menschlichen Geschichte ent-
Nietzsche - wie Wallace - die Stufe, die der Übermensch gegen- wickelt - wie dies im übrigen schon Wallace in seiner Kritik
über dem Menschen einnimmt, in eine unmittelbare Analogie Darwins ausgesprochen hat (s.o.S.96). Nietzsche sagt:
zu dem Verhältnis der Stufe setzt, die der Mensch gegenüber
dem Affen einnimmt, und wenn man sich dabei vergegenwär- «Was mich beim Überblick über die großen Schicksale des Menschen
am meisten überrascht, ist, immer das Gegenteil vor Augen zu sehen
tigt, daß die Darwinsche Lehre ihre Popularität und ihre
von Dem, was heute Darwin mit seiner Schule sieht oder sehen will:
philosophische Aktualität gerade durch den Nachweis eines die Selektion zu Gunsten der Stärkeren, Besser-Weggekommenen, den
Abstammungs-Zusammenhangs zwischen Mensch und Affe er- Fortschritt der Gattung. Gerade das Gegenteil greift sich mit Händen:
hielt, so ist es nicht mehr verwunderlich, daß seine Lehre vom das Durchstreichen der Glücksfälle, die Unnützlichkeit der höher
Übermenschen darwinistisch interpretiert wurde. geratenen Typen, das unvermeidliche Herr-werden der mittleren,
selbst der untermittleren Typen. Gesetzt, daß man uns nicht den Grund
Trotzdem dürfen zwei grundsätzliche Unterschiede Nietzsches aufzeigt, warum der Mensch die Ausnahme unter den Kreaturen ist,
vom Darwinismus nicht übersehen werden. Der erste besteht neige ich zum Vorurteil, daß die Schule Darwins sich überall ge-
darin, daß der Übermensch bei Nietzsche nicht als Produkt täuscht hat23, »
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ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE)
NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 127

«Ich sehe alle Philosophen, ich sehe die Wissenschaft auf den K.riien Erkenntnisse an der Beobachtung des RegnumAnimale gewonnen
vor der Realität vom umgekehrten Kampf ums Dasein, als ihn die und überträgt sie vom Tier auf den Menschen und auf die
Schule Darwins lehrt - nämlich ich sehe überall Die obenauf, Die menschliche Geschichte. Nietzsche dagegen ist primär in seinen
übrigbleibend, die das Leben, den Wert des Lebens kompromittieren. - Urteilen und Beobachtungen am Menschen und an der mensch-
Der Irrtum der Schule Darwins wurde mir zum Problem: wie kann
man blind sein, um gerade hier falsch zu sehen 24 • »
lichen Geschichte orientiert. Er begeht im Grunde den gleichen 1

Man beachte, daß hier Nietzsche - umgekehrt wie Darwin - vom methodischen Fehler, den er Darwin vorwirft: aus der Fest-
Menschen auf das Tierreich schließt: weil sich die Gültigkeit des Ge-
setzes vom Kampf ums Dasein in der Geschichte, an den „großen
stellung, daß die Darwinschen Gesetze für den Menschen und 'J
für die Sphäre der Geschichte nicht gelten, zieht er den Schluß, ,:l
Schicksalen" des Menschen nicht nachweisen läßt, deswegen kann das daß «die Schule Darwins sich überall» - auch im Bereich des
Gesetz, da ja der Mensch keine „Ausnahme unter den Kreaturen" ist, !!
I111
,,
auch für das Regnum Animale nicht stimmen, deswegen ist es auch im Regnum Animale - «getäuscht hat».
Tierreich nicht wahr, daß im Kampf ums Dasein die Besten, Stärksten Nietzsche hat auch in diesem Falle die Tatsache der starken
und Begabtesten überleben. Beeinflussung seines eigenen Denkens durch Darwin dadurch
« Man rechnet auf den Kampf um die Existenz den Tod der schwäch- verschleiert, daß er selbst gegen Darwin polemisiert. Er nennt
lichen Wesen und das Überleben der Robustesten und Bestbegabten:
folglich imaginiert man ein beständiges Wachstum der Vollkommen- Darwin ein Beispiel des «Geistes achtbarer, aber mittelmäßiger
heit für die Wesen. Engländer »26 • Er ist angewidert von der englischen « Über-
Wir haben uns umgekehrt versichert, daß, in dem Kampf um das völkerungs-Stickluft », die «um den Darwinismus herum
Leben, der Zufall den Schwachen so gut dient, wie den Starken; daß haucht» 27 • Aber es ist hier wie bei Carlyle: Nietzsche läßt
die List die Kraft oft mit Vorteil sich suppliert; daß die Fruchtbarkeit sich von den großen Denkern seiner Epoche zutiefst anregen,
der Gattungen in einem merkwürdigen Rapport zu den Chancen der
Zerstörung steht. .. benutzt aber den einen Punkt, an dem er sich von ihnen unter-
Man teilt der natürlichen Selektion zugleich langsame und unendliche scheidet, um ihnen von dort aus polemisch in den Rücken zu
Metamorphosen zu: man will glauben, daß der Vorteil sich vererbt fallen und sie ganz und gar zu verdammen. So übernimmt er
und sich in abfolgenden Geschlechtern immer stärker ausdrückt von Darwin den Entwicklungsgedanken, die Abstammungs-
(während die Erblichkeit so kapriziöse ist ... ); man betrachtet die
glücklichen Anpassungen gewisser Wesen an sehr besondere Lebens- lehre und die Lehre vom Kampf ums Dasein, verpflanzt aber
bedingungen und man erklärt, daß sie durch den Einfluß des Milieus beide Ideen im Bereich seiner Anthropologie in die Sphäre der
erlangt seien. Freiheit und wirft nun von hier aus Darwin vor, er habe die
Man findet aber Beispiele der unbewußten Selektion nirgendwo (ganz spezifische Sphäre der menschlichen Freiheit verkannt. So
und gar nicht). Die disparatesten Individuen einigen sich, die extremen
nennt er die Lehre Darwins vom Kampf ums Dasein <<Unbe-
mischen sich in die Masse. Alles konkurriert, seinen Typus aufrecht
zu erhalten. greiflich einseitig» 28 • Er ironisiert «die Darwinisten mit ihrem
. .. Es gibt keine Übergangsformen - Prinzip der „kleinmöglichsten Kraft und der größtmöglichen
Man behauptet die wachsende Entwicklung der Wesen. Es fehlt jedes Dummheit" »29 • Ja, er erhebt die Beschuldigung Darwins zu
Fundament. Jeder Typus hat seine Grenze: über diese hinaus gibt es einer Beschuldigung der ganzen englischen Nation und sagt in
keine Entwicklung. Bis dahin absolute Regelmäßigkeit 25 • »
maßloser Verallgemeinerung: «Darwin hat den Geist vergessen,
Hier wird der tiefste Grund des Unterschiedes zwischen dem das ist englisch so.»
Denken Darwins und Nietzsches deutlich. Darwin hat seine Das sind alles Urteile von dem entscheidenden Punkt aus l an

,1
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ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 129

dem er selbst die Darwinsche Lehre weitergebildet hat. Wenn


er es aber als ein « Höchstmaß der Verwechslung» in seiner Das positive AnliegenNietzsches
Kritik bezeichnet, daß man «den Darwinismus als Philosophie» 31
betrachtet, so sollte man dabei nicht vergessen, wie stark er In dieser bisher behandelten Kritik der Kritiker tritt das eigent-
selbst durch den Darwinismus als Philosophie gerade in seiner liche Anliegen Nietzsches deutlich hervor. Dieses Anliegen ist
Anthropologie und seinem Verständnis des Übermenschen be- außerordentlich vielschichtig. Es umfaßt in sich noch die alten
einflußt ist. Die entscheidenden Elemente von Nietzsches Über- christlichen Elemente des urkirchlichen Übermensch-Begriffs,
mensch-Begriff: die Überwindung einer Deutung des « Über- die christologischen Begriffe, die seiner Lehre vom Übermen-
menschen» im Sinne der Feuerbachsehen Religionsphilosophie schen den Charakter einer antichristlichen Christologie ver-
(als einer «Erfindung» der mythologischen Phantasie des Men- leihen die Elemente des antiken Herrscherkultes und des
schen, in deren Bildern der Mensch sein eigenes Wesen auslegt) Heroe~bildes der Renaissance, die Impulse des idealistischen
wie auch die spezifische Weiterbildung des idealistischen Genie- Genie-Begriffs, der im «Sturm und Drang» bereits ins Dämo-
Begriffs ist erst durch Darwin ermöglicht worden, der in seiner nische hinüberspielte, den Heroen-Begriff Carlyles, die Evolu-
Deszendenztheorie am Verhältnis des Menschen zum Affen tionslehre Darwins - aber alle diese Elemente umgeprägt, neu
gezeigt hat, wie im Zuge der Entwicklung der Arten höhere zentriert aus ihrem alten Zusammenhang herausgelöst und
Wesen mit ganz neuen Funktionen und Fähigkeiten hervor- jeweils i~ polemischer Weise zu ihren geistigen Vätern selbst in
treten können und wie die Gesamtlinie der Entwicklung auf die Antithese gesetzt. ·
Ausbildung solcher höheren Formen hinzielt. Erst von hier aus Es wäre indes unangebracht, Nietzsche wegen der Verleugnung
wird dann das neue Verständnis des Übermenschen im Sinne seiner Anreger zu verdammen. Was der Nietzscheschen Kon-
Nietzsches überhaupt denkbar, der in dem Übermenschen nicht zeption des Übermenschen ihren eigenen prophetischen
mehr einen Einzelfall im Sinn des Genies erblickt, sondern das Schwung über alle.vorausgehenden Konzeptionen des «gro~en
Hervortreten einer gegenüber der bisher existierenden Form Menschen», des «Heroen», des «Genies», des «plus-man» g1.bt,
des Menschseins völlig neuen, überlegenen, höheren Form des ist die Vorstellung, daß in allen Wesen ein Drang über sich
Menschen. hinaus wirksam ist und daß sich dieser Drang im gegenwärtigen
Ohne Darwin kein Zarathustra! Erst der Darwinismus, erst Menschen nicht etwa erschöpft hat und zu seiner Ruhe ge-
die Aufnahme der Entwicklungs- und Selektionsidee in das kommen ist sondern daß auch dem gegenwärtigen Menschen
philosophische und wissenschaftliche Bewußtsein der zweiten dieser Dra~g über sich hinaus innewohnt, als ein Trieb, sich
Hälfte des 19.Jahrhunderts hat der Übermensch-Idee Nietz- in einer höheren Form zu realisieren. Hier bricht eine echt
sches den Nimbus einer wissenschaftlichen Probalität verliehen divinatorische Erkenntnis in Nietzsche durch; hier bekundet er
und ihn zu einem popularisierbaren Mythus gemacht, der seine ein Sensorium für eine Entwicklung, an die kaum einer in seiner
eigentliche Popularität vor allem durch den opernhaften Po- Zeit zu glauben wagte; hier tut er einen Blick in die tiefste
saunen- und Fanfarenklang seiner literarischen Ankündigung Natur des Menschen, die auf die Zukunft hin angelegt ist. Er
durch Nietzsche selbst und durch seine theatralische Kostümie- erkennt ' daß die Zerrungen ' in die . der Mensch in der gegen-
rung mit einem langwallenden Prophetengewand erhalten hat. wärtigen Entwicklung der Kultur und Zivilisation hinem-
.

1
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN

gestellt ist, ja die Qualen des «Unbehagens an der Kultur» «Ziel: Auf einen Augenblick den Übermenschen zu erreichen. Dafür
selbst, wie es später Freud benannt hat, die Wehen einer neuen leide ich alles !41»
Geburt eines größeren Menschen sind. Zum erstenmal seit den «Die Menschheit muß ihr Ziel über sich hinaus legen - aber nicht in
eine falsche Welt, sondern in ihre eigene Fortsetzung ...
Tagen der alten Christenheit entwickelt Nietzsche eine auf die
Der Mensch sei ein Anlaß zu etwas, das nicht Mensch mehr ist.
Zukunft weisende, an der Zukunft orientierte progressive An- Schwanger geht die Menschheit, wunderlich sind ihre Schmerzen 42. »
thropologie. Es ist angebracht, einmal die vollen Töne dieser
Prophetie ohne die polemischen Nebenklänge, die krampf- Hier wird - im Unterschied zu der eigenen Selbstabgrenzung
haften beigemischten Antithesen, die grobianischen Ausfälle zu Nietzsches gegenübtr de!D, Darwinismus - der letzte Unter-
hören: schied Nietzsches zu Darwin klar: der Übermensch ist nicht
« Ich lehre euch den Übermenschen. Der Mensch ist etwas, der über- Ziel der Entwicklung des Menschen im Sinn eines Prozesses
wunden werden soll. Was habt ihr getan, ihn zu überwinden3 2 ? » natürlicher Selektion - Nietzsche leugnet überhaupt, daß sich lj
«Der Übermensch ist der Sinn der Erde. Euer Wille sage: der Über- etwas Höheres aus etwas Niederem «von selbst» durch einen 1

1
mensch sei der Sinn der Erdeaa. » '
« Ich will die Menschen den Sinn ihres Seins lehren: welcher ist der
Prozeß der Selektion entwickeln kann -, vielmehr ist das Ziel,
Übermensch, der Blitz aus der dunklen Wolke Mensch 34.» die letzte Stufe, der Übermensch, bereits die Voraussetzung der
« Der Strahl eines Sternes glänze in eurer Liebe! Eure Hoflnung heiße: Stufe des jetzigen Menschen, er gibt den Zweck seines Daseins
,,Möge ich den Übermenschen gebären !"3° » ab. Damit ist im Grunde der Gedanke ausgesprochen, daß der
«Die Sor:glichsten fragen heute: ,,Wie bleibt der Mensch erhalten?"
Übermensch von Anfang an das Leitbild, das innere Modell
Zarathustra aber fragt als der Einzige und Erste: ,,Wie wird der
Mensch überwunden?" der gesamten Entwicklung des Lebens ist, daß er bereits dem
Der Übermensch liegt mir am Herzen, der ist mein Erstes und Ein- Hervortreten des jetzigen Menschen aus dem Regnum Animale
ziges ... zugrunde lag, daß der zukünftige Schritt vom Menschen zum
0 meine Brüder, was ich lieben kann am Menschen, das ist, daß er Übermenscb'en bereits von Anfang an als Ziel der Gesamt-
ein Übergang ist und ein Untergang. Und auch an euch ist vieles, das
mich lieben und hoffen macht36. » entwicklung vorschwebte, die vom Tier zum Menschen, zum
«Grundgedanke: wir müssen die Zukunft als maßgebend nehmen für Übertier führte. Alle früheren Stufen sind um der Übermen-
alle unsere Wertschätzung - und nicht hinter uns die Gesetze unseres schen willen da. Hinter dem Bild des Übermenschen taucht
Handelns suchen ! hier erneut, wenn auch verschleiert, das Bildnis des prä-
Nicht „Menschheit", sondern Übermensch ist das Ziel 37. »
existenten Menschensohnes auf, der am Anfang der Menschheits-
«Meine Forderung: Wesen hervorzubringen, welche über der ganzen
Gattung „Mensch" erhaben dastehenas. » geschichte stand, der die Menschheitsgeschichte begleitete, bis
«Ein höheres Wesen, als wir selber sind, zu schaffen ist unser Wesen. er selbst in sie einging und in ihr Mensch ward, der als der
Über uns hinaus schaffen! Das ist der Trieb der Zeugung, das ist der Auferstandene das Leben des «Neuen Menschen», des zweiten
Trieb der Tat und des Werks. - Wie alles Wollen einen Zweck vor- Adam eröffnete und die große Transformation des Lebens in
aussetzt, so setzt der Mensch ein Wesen voraus, das nicht da ist, das
aber den Zweck seines Daseins abgibt. Dies ist die Freiheit alles das Leben des kommenden Äon einleitete, in die die ganze
Willens! Im Zweck liegt die Liebe, die Verehrung, das Vollkommen- Menschheit hineingerissen werden und in der auch der Kosmos
sehn, die Sehnsucht39. » seine Vollendung finden soll.
«Der Mensch ist etwas, das überwunden werden muß4o. » Dieser Erkenntnis Nietzsches, von dem in der menschlichen
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Natur selbst liegenden Drang, etwas über sich hinaus zu Menschen negativ abzugrenzen. Diese Abgrenzung geschieht
schaffen, sich in einer höheren Form zu realisieren, kommt eine also gerade nicht in Form einer Beschreibung der neuen Gaben
echt prophetische Bedeutung zu. Hier hat er die naturwissen- und Fähigkeiten, die Nietzsche von diesem Übermenschen
schaftliche Deszendenztheorie in der Tat in die geistige Sphäre, , erwartet, sondern in der Subtraktion all derjenigen Eigenschaf-
in die Sphäre der Freiheit, erhoben und die Frage nach dem ten, die ihm auf Grund seiner spezifisch antichristlichen Affekte
Sinn der Gesamtentwicklung des Lebens von ihrem letzten Ziel an dem gegenwärtigen zeitgenössischen Menschen besonders
her gestellt. verhaßt sind. So gibt er im Grunde an diesem Punkt den
Gedanken der Evolution preis. Als Antwort auf die Frage nach
Die negativeantichristliche dem Unterschied zwischen dem Menschen und dem Über-
Fixiernng des Bildes vom Übermenschen menschen trifft man letzthin bei ihm immer auf persönliche
Werturteile über bestimmte menschliche Eigenschaften, die er
Um so größer ist daher die Enttäuschung, wenn man von willkürlich auf einen seiner Meinung nach minderwertigeren
Nietzsche eine Antwort auf die Frage erwartet, worin nun und einen höheren Menschentypus verteilt.
eigentlich diese höhere Gestalt des Menschseins, das komm.ende Das Bild des Übermenschen erscheint bei Nietzsche als die
Übermenschentum, bestehen soll. Gerade weil die Notwendig- schlechthinnige Antithese zu dem Bild des zeitgenössischen,
keit einer Überformung der jetzigen Gestalt des Menschen mit durch die christliche Kultur geprägten -Menschen. Diese Anti-
einer so prophetischen Emphase betont wird, ist man über- these will er so scharf wie möglich herausarbeiten, «Nicht um
rascht und enttäuscht, keinen positiven Hinweis auf die neuen das Recht kämpft ihr alle, ihr Gerechten, sondern darum, daß
höheren übermenschlichen Fähigkeiten dieser Menschheit zu euer Bild vom Menschen siege und daß an meinem Bild vom
erhalten. Spekulationen über neue supramentale oder para- Übermenschen alle eure Bilder vom Menschen zerbrechen:
psychische Fähigkeiten des Übermenschen sind ihm fremd. Das Siehe, das ist Zarathustras Wille zum Recht 43 • » In Wirklichkeit·
Bild des Übermenschen, wie ihn Nietzsche beschreibt, weist im handelt es sich aber dabei gar nicht um eine Antithese zwischen
Grunde nur eine bestimmte, eng begrenzte Auswahl durchaus einem «Übermenschen» und einem « Menschen », sondern u:r:p.
normaler spezifisch menschlicher Eigenschaften auf, und dabei den Gegensatz zwischen zwei verschiedenen Menschentypen,
ist das Prinzip ihrer Auswahl selbst rein negativ, nämlich die auf die Nietzsche in einer letzthin willkürlichen Weise Tugenden
Ausmerzung aller jener Eigenschaften, die in irgendeiner Weise und Laster nach Wertmaßstäben seiner eigenen Ethik verteilt,
mit der christlichen Sittenlehre zusammenhängen. wobei er in dem Bild des Übermenschen alle ihm sympathischen
Darin liegt der eigentliche Mangel der Konzeption des Über- menschlichen Tugenden, im Bild des Menschen alle ihm un-
menschen bei Nietzsche. In seiner kritischen Betrachtung des sympathischen, das heißt christlichen Tugenden vereint. In
gegenwärtigen Menschen zielt alles auf die Prophetie des Über- dieser Hinsicht entpuppt sich der Übermensch Nietzsches bei
:r:p.enschenab. In der Bestimmung dieses Übermenschen selbst näherem Zusehen als ein philosophischer Kurgast im Engadin,
erlischt aber jeglicher Futurismus, und Nietzsche ist hauptsäch- der Nietzsches Aversion gegen alles Christliche teilt und seinem
lich bemüht, ihn möglichst gründlich nach rückwärts gegenüber Schöpfer so ähnlich sieht wie ein Ei dem andern. Die Einzig-
der von ihm zu überwindenden gegenwärtigen Form des artigkeit des Übermenschen bei Nietzsche besteht in einer
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1 34 ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)

künstlichen und willkürlichen Antithese bestimmter ethischer So schließt der erste Teil von «Also sprach Zarathustra» folge-
Modelle. richtig mit den Worten: «Tot sind alle Götter; nun wollen wir,
daß der Übermensch lebe - dies sei einst am großen Mittage
Übermensch und Tod Gottes unser letzter Wille! - »44. Ebenso heißt es daselbst am Anfang
des zweiten Buches in dem Kapitel «Auf den seligen Inseln»:
Diese negative Abgrenzung kommt am deutlichsten in der Tat- «Einst sagte man Gott, wenn man auf ferne Meere blickte; nun aber
sache zum Ausdruck, daß Nietzsche das Hervortreten des Über- lehrte ich euch sagen: Übermensch ... Gott ist eine Mutmaßung, aber
menschen mit dem Tod Gottes in Zusammenhang bringt. Man ich will, daß euer Mutmaßen begrenzt sei in der Dankbarkeit. .. Hin-
weg von Gott und Göttern lockt mich dieser Wille; was wäre denn zu
hat über diese Prophezeiung Nietzsches vom Tode Gottes viel schaffen, wenn Götter - da wären. Aber zum Menschen treibt er mich
gerätselt. Die Lösung des Rätsels scheint indes darin zu liegen, stets von neuem ... Ach, ihr Menschen, im Steine schläft mir ein Bild,
daß dieser Gedanke vom Tode Gottes bei Nietzsche ganz von das Bild meiner Bilder ... des Übermenschen Schönheit kam zu mir als
der Feuerbachsehen Religionsphilosophie her verstanden wer- Schatten. Ach, meine Brüder! Was gehen mich noch - die Götter
den muß. Nach Feuerbach liegt der religiösen Anschauung an _45, »
keine echte transzendente Wirklichkeit zugrunde, vielmehr ist Hier erscheint das Verhältnis der gegenwärtigen und zukünf-
die Religion und ihr Glaube an Gott und Götter nichts anderes tigen Menschheit als Überwindung einer im Glauben an Gott
als die mythologische Selbstauslegung und Selbstdeutung des befangenen Menschheit durch den Übermenschen, der sich von
Menschen, der sich in der Religion eine irreale, phantastische diesem Glauben befreit hat. Nietzsche proklamiert hier den
jenseitige Welt schafft, aber dabei vergißt, daß diese Welt selbst Übermenschen aus derselben Erwägung heraus, aus der schon
seine eigene Schöpfung ist und sich so in eine sklavische Ab- Dühring seine Forderung der Hinwendung zum «wahren
hängigkeit von seinen mythologischen Schöpfungen begibt, Menschen» ableitete.
denen er irrtümlicherweise eine objektive Realität zuschreibt. Eben deshalb kann Nietzsche Gott, das heißt den Glauben an 1

1
Der Tod Gottes ist nichts anderes als die Entschleierung des Gott, als das bisher größte Hindernis für das Hervortreten und '
fiktiven Charakters der Religion, das heißt die Entschleierung die Schaffung des Übermenschen bezeichnen.
der Tatsache, daß der Inhalt der Religion niemand anders ist «Ihr höheren Menschen -so blinzelt der Pöbel - es gibt keine höheren
und sein kann als der Mensch selber. Der bisherige Mensch, der Menschen, wir sind alle gleich. Mensch ist Mensch - vor Gott - sind
den Trug der Religion noch nicht durchschaut hat, ist der wir alle gleich - Vor Gott! - Nun aber starb dieser Gott! Vor dem
Pöbel aber wollen wir nicht gleich sein. Ihr höheren Menschen, geht
gläubige Mensch, der schwache Mensch, der Sklavenmensch,
weg vom Markt! Vor Gott! - Nun aber starb dieser Gott! Ihr höheren
der sich von einer transzendenten Macht abhängig weiß und Menschen, dieser Gott war eure höchste Gefahr. Seit er im Grabe
noch nicht gemerkt hat, daß er sich die Fesseln seines Sklaven- liegt, seid ihr erst wieder auferstanden. Nun erst kommt der große
tums selbst geschaffen hat. Der Übermensch dagegen ist der Mittag, nun erst wird der höhere Mensch-Herr! ... Wohlan, wohlauf!
Mensch, der sich der Tatsache bewußt geworden ist, daß Gott Ihr höheren Menschen! Nun erst kreißt der Berg der Menschen-Zu-
kunft. Gott starb, nun wollen wir, daß der Übermensch lebe 46 • »
tot ist, das heißt, der den Trug der Religion durchschaut hat
und der sich selbst als einzigen Mittelpunkt des Seins aner- Dieser Tod Gottes ist für Nietzsche - wie schon für Dühring
kennt. (s.o.S. rn3) - mit dem Zusammenbruch des Menschen iden-
ERNST BENZ (GEISTESGESCHICHTE)
NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 1 37

tisch, der diesen Gott und die mit dem Glauben an diesen Gott Menschenbildes bestimmt hat, seine ganze Sehnsucht auf den
verknüpften sittlichen Ideale geschaffen hat, kurz gesagt des Übermenschen zu richten:
christlichen Menschen, dem er lauter negative Qualitäten zu- «Ach, ich war dieser Höchsten und Besten müde: aus ihrer Höhe
schreibt, die Qualitäten der decadence, der Schwachheit und verlangt mich hinauf, hinaus, hinweg zu dem Übermenschen! Ein
Grausen überfiel mich, als ich diese Besten nackend sah: da wuchsen
der Lebensverneinung. Von hier aus erscheint der Übermensch mir die Flügel, fortzuschweben in ferne Zukünfte 48. »
als der prometheische Gegentypus zu dem christlichen Men-
schen, ein Gegentypus, der gerade die von der christlichen So bleibt das Bild des Übermenschen bei Nietzsche im Gegen-
Ethik aus negativ zu bewertenden menschlichen Qualitäten in satz zu dem positiven Ansatz seiner Prophetie inhaltlich letzthin
sich vereinigt, so daß die Gestalt seiner titanischen Größe selbst in der Negation stecken. Es ist das Gegenbild zum christlichen
.
semer Güte und Weisheit, dem jetzigen niederen Menschen wie
' Menschen in der verzerrten Gestalt, wie ihn Nietzsche geschaut
der leibhaftige Teufel vorkommen muß: hat, ein titanisches Gegenbild, das bestimmt ist durch den
Willen zur Macht und durch die Bereitschaft, in der Verwirk-
«So fremd seid ihr dem Großen mit eurer Seele, daß euch der Über- lichung dieser Macht auch das Böse in heroischem Ausmaß zu
mensch furchtbar sein würde in seiner Güte! Und ihr Weisen und verwirklichen.
Wissenden, ihr werdet vor dem Sonnenblick der Weisheit flüchten in
dem der Übermensch mit Lust seine Nacktheit badet! Ihr höc~ten
Menschen, denen mein Auge begegnete - das ist mein Zweifel an euch ?
,Züchtungdes Übermenschen
und mein heimliches Lachen: ich rate, ihr würdet meinen Über-
menschen - Teufel heißen47. » Geht man den wenigen positiven Angaben Nietzsches über das
Die Antithese ist hier von Nietzsche so weit getrieben, daß er Auftreten des Übermenschen nach, so entdeckt man, daß gerade
die wesentlichen Punkte unbestimmt und in sich widerspruchs-
sein Bild des Übermenschen gerade den «höchsten Menschen»,
voll sind. So finden sich einige Aussagen Nietzsches, in denen
den «Besten» der jetzigen Menschheit als absoluten Gegensatz
der Übermensch als ein «Zufall» und «Glücksfall» der Ge-
gegenüberstellt. Er will um jeden Preis das Mißverständnis
schichte erscheint, der sein Erscheinen dem Zusammentreffen
vermeiden, als sei sein Übermensch eine Stufe des Menschseins
besonders begünstigter Verhältnisse und exzeptioneller Um-
die sich in einer progressiven Weise an die vom Christentu~
geformten geistigen und sittlichen Leitbilder anschließt, die die stände verdankt. Hiernach wäre der Übermensch das Produkt
bisherige Menschheit hervorbrachte. Deshalb hat er den aller- einer zufälligen Mutation. So spricht er im «Wille zur Macht»
in der «Kritik der bisherigen höchsten Werte» von den «stärker
größten Wert darauf gelegt, daß sich sein Übermensch gerade
von den «Höchsten» und «Besten» im konventionellen Sinn geratenen Ausnahmen und Glücksfällen von Menschen, in
der bisherigen Menschheit total und in jeder Hinsicht unter- denen der Wille zur Macht und zum Wachstum. des ganzen
scheidet, denn diese Leitbilder der «Höchsten» und «Besten» Typus Mensch einen Schritt vorwärts tut» 49 • Im allgemeinen
sind ja dem christlichen Gottesglauben, dem christlichen Ver- ist aber für Nietzsches Auffassung vom Übermenschen gerade
ständnis des Nächsten und der christlichen Einstellung zum das charakteristisch, daß er den Zufall beseitigen will, vielmehr
Leben entsprungen! Er versichert ausdrücklich, daß ihn gerade die Forderung an die Menschheit richtet, den Übermenschen
zu züchten, und daß er diese Züchtung, das heißt also die
der Ekel an den höchsten sittlichen Idealen des christlichen
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willentliche und planmäßige Einflußnahme auf die Schaffung Zweck der Zeugung des höheren Wesens« liegt die Liebe, die Vereh-
des Übermenschen als die für die Zukunft der Menschheit rung, das Vollkommen-Sehen, die Sehnsucht »62 •
wichtigste Aufgabe bezeichnet. Hier spielt Nietzsche offensichtlich auf die geschlechtliche
Aber auch dieser Begriff der Züchtung ist bei Nietzsche aufs Liebe und ihre verschiedenen Phasen an. Aber mit dieser For-
Ganze gesehen unklar. Aus den zahlreichen Äußerungen, in derung, den Übermenschen zu «schaffen», verbindet sich auch
· denen Nietzsche fordert, man soll den Übermenschen «schaf- die offensichtlich politisch gemeinte Forderung, die Menschen
fen», läßt sich nirgendwo klar unterscheiden, ob es sich hier «gewaltsam zu verändern» 53; diese Veränderung soll durch die
um einen auf die biologische Zeugung des Menschen gerich- Gesetzgebung herbeigeführt werden, deren Leitziel die «Aus-
teten Akt oder um eine rein erzieherische, geistige Formung sicht auf Erzeugung des Übermenschen» ist.
. des Menschen handelt - oder um beides. Dieser Gedanke ist in der Fortsetzung zu Zarathustra in einer 1 i
Man hat in jüngster Zeit versucht, die biologische Seite dieser Weise ausgeführt, in der sich wiederum der biologische und 1 !
Züchtung des Übermenschen aus der Philosophie Nietzsches politisch-pädagogische Aspekt des Schaffens des Übermenschen
auszuklammern und nur die pädagogische Seite der Züchtung auf eine unlösbare Weise vermischen: « 1. Zarathustra kann nur 1
eines höheren Menschen durch agonale Elite-Bildung hervor- beglücken, nachdem die Rangordnung hergestellt ist. ~un~chst 1 1
11
zuheben und gerade diese Ideen Nietzsches für die Ausbildung wird dies gelehrt, 2. die Rangordnung durchgeführt m em~m 11
einer neuen europäischen Elite zu empfehlen 5°. Dieser Versuch System der Erd-Regierung, die Herren der Erde zuletzt, eme
ist indessen abwegig, weil es a priori aussichtslos ist, diese neue herrschende Kaste, aus denen hier und da entspringend,
beiden Elemente in Nietzsches Übermensch-Ideal zu trennen; ganz epikureischer Gott, der Übermensch, der Verklärer. des
er war und bleibt in diesem Punkt eine Mischung von Dar- Daseins54. » Hier erscheint der Übermensch als Produkt emer
winist und Idealist. Sein «Wille» zum Übermenschen erscheint Züchtung aus einer neuen herrschenden Kaste.
im selben Augenblick als Trieb, den Übermenschen biologisch Die biologische Seite dieser Züchtung tritt darin in Erschein~g,
zu zeugen, wie als Wille, ihn geistig zu formen. daß Nietzsche von einer Vielheit von Übermenschen spncht, 1
'1
«Könnt ihr einen Gott schaffen? - So schweigt mir doch von allen die als Züchtungsprodukt aus dieser neuen Kaste hervorgehen
Göttern! Wohl aber könntet ihr den Übermenschen schaffen. Nicht und eine «herrschende Rasse» bilden, die als geglücktes End-
ihr vielleicht selber, meine Brüder! Aber zu Vätern und Vorfahren ergebnis dieses biologisch-pädagogischen, gesetzgeberisch ge- 1
könntet ihr euch umschaffen des Übermenschen: und Dies sei euer
bestes Schaffen! 5 1_ » forderten Züchtungsversuchs in Erscheinung tritt: «Es muß 1

viele Übermenschen geben, alle Güte entwickelt sich nur unter


Der Begriff des Schaffens mnfaßt hier sowohl den biologischen ihresgleichen. Ein Gott wäre immer ein Teufel! Eine herr-
wie den pädagogischen Schaffensakt, doch liegt das Schwer- schende Rasse 55.» Daneben spricht Nietzsche vom Schaffen des
gewicht auf der biologischen Seite. Übermenschen auch noch in einem dritten Sinn, nämlich von
In seinen Bemerkungen zu Zarathustra in der «Unschuld des seinem eigenen Schaffen des Bildes vom Übermenschen, dessen
Werdens» ist dieses Schaffen als der Trieb beschrieben, Verkündigung er Zarathustra in den Mund legt. Dieses Schaf-
«ein höheres Wesen als wir selber ist zu schaffen. Das ist der Trieb fen des Übermenschen ist also ein geistiger Schöpfungsvorgang,
der Zeugung, das ist der Trieb der Tat und des Werkes.» In dem die Proklamation des Ideals des Übermenschen selbst:

1
1

1
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l
NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 141

«Ich fürchtete.mich unter Menschen, es verlangte mich unter Men- zu dem Genie- und Heroen-Begriff seiner Zeit bringt es mit
schen, und nichts stellte mich. Da ging ich in die Einsamkeit und schuf
den Übermenschen, und als ich ihn geschaffen, ordnete ich ihn in
sich, daß er den Übermensch-Begriff bereits auf einige histo-
den großen Schleier des Werdens und ließ den großen Mittag um ihn rische Persönlichkeiten der Vergangenheit anwenden kann,
leuchten 5 6 • » wobei Napoleon und Cesare Borgia seine Favoriten sind. Der
Übermensch ist also in einzelnen Exemplaren bereits in- der
Hier erscheint der Übermensch als das Geschöpf Nietzsches Menschheitsgeschichte aufgetreten. Andererseits kann Nietzsche
selbst. Als wesentliche Voraussetzung dieses geistigen Schaffens auch behaupten: «Niemals noch gab es einen Übermenschen ...
verlangt Nietzsche die «größte Erhöhung des K.raftbewußtseins nackt sah ich beiqe, den größten und den kleinst:n Menschen:
des Menschen, als dessen, der den Übermenschen schafft »57. Er - allzu ähnlich sind sie noch einander. Wahrlich auch den
erblickt vor allem in dem Gedanken der ewigen Wiederkehr die größten fand ich - allzu menschlich 59 ! » Hiernach erscheint der
Lehre, die die Voraussetzung für jene Steigerung des Kraft- Übermensch als eine Gestalt, deren Erscheinung oder Schaf~
bewußtseins des Menschen schafft, indem nämlich einerseits nur fung erst der fernen Zukunft vorbehalten ist.
der Übermensch diese Lehre ertragen kann, andererseits nur die Derselbe Nietzsche kann sich aber in dem Sinn äußern, daß
Aussicht auf den Übermenschen die Lehre von der ewigen der Übermensch mit ihm und durch ihn schon jetzt in Erschei-
Wiederkehr erträglich macht5B. nung getreten ist, daß er in seinem Zarathustra bereits Gestalt
Aber im selben Zusammenhang der eben genannten Bemer- gewonnen hat. Der zukünftig Kommende beginnt sich schon
kungen zu Zarathustra schlägt der Gedanke schon wieder ins jetzt in der Geschichte zu verwirklichen. Zarathustra selbst
Biologische um; Nietzsche unterstreicht, daß die höhere Form, erscheint als der Beginn der neuen Stufe des Menschseins, die
zu der sich der Mensch über sich selbst hinaus steigern soll, mit dem Übermenschen erreicht ist. Die Zukunft des Über-
nicht in unleiblichen Phantasmata und in abstrakten Bildern menschen hat mit ihm schon begonnen.
und Vorstellungen bestehen kann, daß vielmehr die Schaffung
des Übermenschen « die Höherbildung des ganzen Leibes und «Und wie Zarathustra herabsteigt und zu jedem das Gütigste sagt:
wie er selbst seine Widersacher, die Priester, mit zarten Händen an-
nicht nur des Gehirns» zur Voraussetzung hat und daß leib- faßt und mit ihnen an ihnen leidet - hier ist in jedem Augenblick der
liche Züchtung einer höheren Rasse mit dem Moment einer Mensch überwunden, der Begriff „Übermensch" war hier die größte
agonalen geistigen Züchtung Hand in Hand gehen muß. Offen- Realität - In einer unendlichen Feme liegt alles Das, was bisher groß
sichtlich legt Nietzsche überhaupt keinen Wert darauf, die am Menschen hieß, unter ihmao. »
einzelnen Elemente klar zu unterscheiden. Gerade diese Un- Das für den Übermenschen wesentliche Kennzeichen, die Anti-
klarheit, dieses Schillern zwischen einem biologischen und these gerade zu den «Höchsten» und «Besten» der bisherigen
einem pädagogisch-politischen Züchtungsbegriff war die ver- Art Mensch wird hier als Wesenszug Zarathustras behauptet.
hängnisvolle Ursache der absurdesten Versuche einer Realisie- Es bildet den Beweis dafür, daß in Zarathustra der Übermensch
rung seines Ideals. selbst als « die höchste Art alles Seienden» erschienen ist. Die
Ebenso spannungsreich, ja widerspruchsvoll sind schließlich bisherige Menschheitsgeschichte hat de=ach im Grunde mit
seine Angaben über den Zeitpunkt des Hervortretens des Über- Zarathustra ihren Abschluß schon erreicht.
menschen selbst. Die innere Nähe seines Übermensch-Begriffs Da nun dieser Zarathustra-Übermensch eine Schöpfung Nietz-
ERNST BENZ ( GEISTESGESCHICHTE) NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 1 43

sches ist, so gerät Nietzsche selbst hier als messianische Figur in


seine Endzeitverheißung hinein und erscheint gleichzeitig als Übermenschund Vermassung
der Abschluß der bisherigen Menschheitsgeschichte und als der
Anfang einer neuen Epoche, als der Erste einer höheren Art, Von höchster Aktualität bleiben auch für die gegenwärtige
als der Übermensch eigener Prägung. Die Menschheitsentwick- Situation diejenigen Stellen, an denen Nietzsche sein Über-
lung findet ihr Ziel in niemand anderem als in ihm selbst. Ohne mensch-Ideal in einer kritischen Auseinandersetzung Init dem
Zweifel hat dieser Gedanke zeitweise Nietzsches Selbstbewußt- Menschenbild eines technischen, sozialistischen, industrialisier-
sein beherrscht, wenngleich dieses Selbstbewußtsein den heftig- ten Zeitalters dar~tellt. Man kann gerade hier Nietzsche ein
sten Schwankungen ausgesetzt war - gibt doch Nietzsche an echtes Sensorium für zukünftige geschichtliche Entwicklungen
anderen Stellen zu, daß ihm die Verwirklichung des Bildes vom nicht absprechen. Er sieht, daß der Prozeß der Industrialisie-
Übermenschen mißlange1. rung, der Mechanisierung der Arbeit, der Ausbreitung des
So ist das Bild des Übermenschen bei Nietzsche in einer eigen- modernen WirtschaftssysteIUS und die durch den Sozialismus
tümlichen Weise unbefriedigend. Auf der einen Seite ist das eingeleitete politische Entwicklung auf der ganzen Welt zur
Bild des Übermenschen als notwendiges Ziel der zukünftigen Schaffung von großen homogenen Menschenmassen führt und
Menschheitsentwicklung aus einer kritischen Analyse der Struk- daß die Vermassung eine Domestizierung des Menschen, eine
tur des gegenwärtigen Menschen intuitiv erfaßt, prophetisch Nivellierung der Individualitäten, eineAnpassung des Einzelnen
geahnt und als kritisches Moment in das Bewußtsein seiner an die Maschinerie der großen Gesellschaftsorganisatiohen im
Epoche gehoben. Auf der andern Seite fehlt diesem Bild die Gefolge haben wird. Nietzsche sieht in diesem Vorgang einen
genauere Inhaltsbestimmung des Übermenschlichen im eigent- unvermeidlichen Prozeß, der auf eine globale Wirtschaft, auf
lichen Sinne selbst. Der sogenannte Übermensch realisiert nur eine globale Menschheitsorganisation, auf die Maschinerie
einige spezifisch menschliche Eigenschaften im titanischen Aus- eines Weltstaates hinstrebt, und der zur Folge hat, daß sich die
maß, und zwar gerade solche, die bei einer Ausklammerung Menschheit schließlich auf eine Art «Stillstandsniveau » ein-
aller Eigenschaften, die im Bereich der christlichen Tugend- spielen wird.
lehre positiv bewertet werden, noch übrig bleiben und die in Der Übermensch erscheint von hier aus als der notwendige
einer krampfhaften Weise heroisiert werden. Deshalb hat der Gegentypus, das Produkt einer Gegenbewegung gegen diese
Versuch, das Übermensch-Ideal Nietzsches praktisch zu reali- nivellierende Tendenz, die sich mehr und mehr im modernen
sieren, zur Verherrlichung der Unmenschlichkeit und selbst am Leben durchsetzt, als der einzige Lichtblick angesichts der
stärksten zu einer Komprmnittierung des Begriffs des Über- grauen Monotonie der durchindustrialisierten und ökonmnisch
menschen beigetragen. durchorganisierten, menschlich und sozial nivellierten Gesell-
Gerade an diesem Punkt hat die Nietzsche-Kritik der russischen schaft der Zukunft.
Religionsphilosophie eingesetzt. Sie fand ihren entschiedensten
Ausdruck in Vladimir Solotjev, der dem antichristlichen Über- «Die Notwendigkeit zu erweisen, daß zu einem immer ökonomischeren
Verbrauch von Mensch und Menschheit, zu einer immer fester inein-
menschen Nietzsches eine neue Konzeption des christlichen
ander verschlungenen „Maschinerie" der Interessen und Leistungen
Übermenschen gegenüberstellte. eine Gegenbewegung gehört. Ich bezeichne dieselbe als Ausschei-

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1
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NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN 145

t~gef:~~-;uxusTÜberschusses der Menschheit: in ihr soll eine stärkere der Sozialisierung und Automatisierung bei Biologen und
andere E~h=r~ );1;1:·
ans Licht treten, der andere Entstehungs- und
Mein Begriff, me: ~ 1
Wort „Übermensch".
;:e;;: ::se:\ der J?urch_schnitts-~ensch.
ypus ist, wie man weiß, das
Soziologen, die angesichts der bereits erheblich bedrohlicheren
heutigen Situation zu ähnlichen Feststellungen und zu ähn-
lichen Erwartungen die Zukunft der Menschheit betreffend
Auf jenem ersten Wege d llk .
steht die Anpassung die fbflvaochommednJeh~thübersc~aubar ist, ent- kommen. So schildert der Gießener Biologe, Prof. Wulf Emmo
I · ' ung, as ö ere Chines t di Ankel 1957 in seinem Aufsatz «Das Bild des Menschen in der
nstinkt-Bescheidenheit, die Zufriedenheit in der V kl . en um, d e
Menschen, - eine Art Stillstands-N" d M er emerung es Sicht des Biologen» als Ergebnis der modernen Sozialisierung
Haben wir st . iveau es enschen.
Ges er Jene unvermeidlich bevorstehende Wirtschafts und Industrialisierung der Menschheit den Prozeß einer ge-
g eh:::e;a··adltung kder Er~e, dann kann die Menschheit als ein un: waltigen Vermeh~ng der «Knechte» und eine regressive Ent-
· erwer von immer kleinere · " ·
senden" Rädem. ls · . n, immer ,emer „anzupas- wicklung der Menschheit zum Untermenschentum:
dominierenden u'n~ k em i~r wadchsendes Überflüssig-werden aller
«Die riesigen Sozialgebilde haben klare biologische Konsequenzen.
un h omman eren en Elemente; als ein Ganzes von
ge eurer Kraft, dessen einzelne Faktoren Minimal-Kräft M" . l Jetzt kommen wirklich die Folgen der Selberverhaustierung und sie
W erte darstellen. e, m1ma - erscheinen als unausweichlich. Sie haben ihren Grund in einer nega-
Im <?egensatz zu dieser Verkleinerung und An d tiven Auslese. In den ungeheuren Sozialgebilden können dem Men-
an eme spezialisiertere Nützlichkeit bedarf p:sung ~ ~enschen schen die Voraussetzungen für sein Leben, für seine Existenz schlecht-
wegung: - der Erzeugung des synthetischen esd er um8:e e ten Be- hin abgenommen werden durch die Organisation des Ganzen, durch
rechtfertigenden Menschen für d . ' Mes s~_e:enden, des den Staat, wenn man das so nennen will. Im Rahmen dieser Organi-
Menschheit eine D . v' 1;n Jene aschinal1Sierung der
sation, die eine Art von Eigenleben und einen erdrückenden Eigenwert
asems- orausbedmgung ist als · U
auf dem er se~e höhere Form zu sein sich erfi~den
Er braucht die Gegnerschaft der Men d
;:n.
. .
ntergestell,
"
anzunehmen beginnt, gedeilien diejenigen besser, die schon in der
Voraussetzung ihrer Anlage Knechte, d. h. ohne Verantwortlichkeit
Distanz-Gefühl · V . h . ge, er „Nivellierten , das
1 sind. Es hat im Spiel der Anlagen immer schon Freie und Knechte
ihnen .. Diese hö::e ;~~=~de:~1:~~a~::t :~~~ ;~e:~;o~ gegebc;n, und die Gipfel der dem Menschen geschenkten Möglichkeiten
~~;a::~:/::.d~ s~ellt Je;e fesamt-Maschinerie, die Solidari~ät waren immer nur selten realisiert. Aber nie hatten die Knechte eine
solche Chance zur Vermehrung wie heute ... So züchtet sich die
sie setzt sol~he vor=:n;:en:,eg:b::n~!~e~c~~n dar: aber Menschheit selbst zurück zum Untermenschentum ... Jedenfalls müß-
anderen Falle wäre sie tatsächlich bl O ß di G g ~ hat. Im ten wir gegenüber dem, was aus der Menschwerdung geworden ist,
Wert-Verringerung des T us M _e '.':5amt-Vernngerung, statt des durch Masse uns bedrohenden Untermenschen, den Über-
im größten Stile. yp ensch, - em Ruckgangs-Phänomen
menschen haben. Wir können ihn nicht züchten. Wir wissen auch
~a~t:J; ;as ich bekämpfe, ist der ökonomische Optimismus: wie nicht, ob er uns aus dem vielleicht noch nicht ausgeschöpften Vorrat
notwen . en wachs~nden Unkosten aller auch der Nutzen aller an Entwicklungsmöglichkeiten des Menschenstammes noch geschenkt
Unkost!ga;achsen 1;1-ußte.. Das G~genteil scheint mir der Fall: die werden könnte. Es müßte ein neuer homo sein, der wirklich sapiensist,
wird erin e: summieren s1c~ zu emem Gesamt-Verlust: der Mensch und der den homofaber halten könnte und lenken könnte. Im letzten 1:
Augenblick, denn schon haben seine Produkte der Technik den Men- II
unge:eure g;;~z:~ ~:~:::::t~inmWehr w:iß! wozu üWberhaupt dieser schen erfaßt und rasen mit ilim davon. Gerade weil wir nicht mehr
· ozu. em neues ozu? das ist 1:
es, was di e M enschheit nötig hata2. » · - warten können, sehen wir Biologen mit größter Sorge auf den Umstand, 1
if
daß die seelische Entwicklung des Menschen, die doch wie sein Weg t/
!1
~anz analoge Reflexionen finden sich heute nach einem drei- aus dem Tierischen heraus zeigt, auch ein vom Leben getragenes
il
VIertel Jahrhundert des Fortschritts, der Industrialisierung und Phänomen ist, ihrer Natur nach ein Tempo hat, das viel zu klein ist,
um den Vorsprung des geschaffenen Unheils noch einzuholen 62. »
'1 1

ERNST BENZ ÜBERLEITUNG 147

Der Unterschied zu der Zarathustra-Situation von 1880 ist päischen theologischen Kritiker die Idee des Übermenschen
höchst bemerkenswert. Damals prophezeite Nietzsche als ein wegen ihres wesentlich antichristlichen Charakters schlechthin
noch in der Ferne drohendes Unheil den Triumph der «Nivel- ablehnten, wandte sich die russische Religionsphilosophie nicht
lierten» und verkündete den Übermenschen als den kommenden gegen die Idee des Übermenschen an sich, sondern lediglich
Überwinder dieses verheißenen «Stillstandsniveaus ». Heute gegen ihre antichristliche Interpretation; sie setzte dem anti-
erklärt der Biologe ziemlich resigniert: Das Stillstandsniveai:i ist christlichen Übermenschen Nietzsches ein christlich verstande- :
bereits erreicht; nie hatten die Verantwortungslosen eine solche nes Bild des charismatischen Übermenschen entgegen. Im i
1,
Chance zur Vermehrung wie heute; die Menschheit ist bereits Zeichen der Auseinap.dersetzung mit Nietzsche erneuert sich so j

eifrig dabei, sich selbst zum Untermenschentum zurückzu- in der russischen Religionsphilosophie des ausgehenden 19.Jahr-
züchten. Wir müßten statt des durch die Masse uns bedrohen- hunderts die Grundidee der ostkirchlichen Anthropologie, der
den Untermenschen den Übermenschen haben. Aber die Aus- Gedanke von der progressiven Transformation des Christen
sichten auf sein Kommen sind schlecht: erstens wissen wir durch den Heiligen Geist, durch die Einformung in Christus,
nicht, ob unsere Spezies Mensch überhaupt noch über unaus- den «vollkommenen Mann», den «Erstgeborenen unter den
geschöpfte Reserven verfügt, um eine solche dringend benötigte Toten», den «neuen Adam».
höhere Art Mensch aus sich hervorzubringen, und zweitens Diese Rückkehr zu einem christlich-charismatischen Verständ-
haben wir keine Zeit mehr zu warten. nis des Übermenschen macht sich an vielen Orten der russischen
Genau dies ist aber die Situation, an der nunmehr an zwei ganz Geistesgeschichte bemerkbar, so vor allem im Bereich der
unerwarteten neuen Stellen die Lehre vom Übermenschen Literatur beiDostojewskij. In der russischenReligionsphilosophie
heute neu einsetzt: einmal in der Lehre vom Übermenschen, wird sie am deutlichsten faßbar bei demjenigen russischen
wie sie Aurobindo als Inhalt seiner aus der vedischen Tradition Religionsphilosophen, bei dem sich in einer einzigartigen Weise
heraus entwickelten Anthropologie entwickelt, zweitens in der Elemente der alten ostkirchlichen Frömmigkeit und Theologie
Lehre vom Übermenschen, wie sie Teilhard de Chardin als mit Einflüssen der christlichen Religionsphilosophie des deut-
Endergebnis seiner anthropologischen Studien aufstellt. schen Idealismus, vor allem Schellings, und mit noch bemerkens-
werteren Nachwirkungen Jacob Boehmes verbunden haben -
bei Vladimir Solovjev.
Überleitungzum nächstenBeitrag Das Erstaunliche an dieser Nietzsche-Kritik Solovjevs ist, daß
er in keiner Weise die Übermensch-Idee Nietzsches an sich
Nietzsches Botschaft vom Übermenschen hat vor allem in der zurückweist, sondern einen positiven Wahrheitskern in ihr
russischen Religionsphilosophie ein unerwartet starkes Echo anerkennt. Dieser Wahrheitsgehalt war nach Solovjev ein Be-
gefunden - unerwartet vor allem im Vergleich mit der spär- standteil der apostolischen Verkündigung des Paulus selbst, der
lichen Auseinandersetzung, die seine Konzeption in der west- ihn den Athenern in seiner Rede (Apg. 17) «in Erinnerung
europäischen, zumal deutschen Theologie und Religionsphilo- bringt». Was Solovjev an Nietzsche kritisiert, ist nicht die Kon-
sophie des 19.Jahrhunderts gefunden hat. Dabei tritt ein höchst zeption des Übermenschen, sondern ihre antichristliche Inter-
bemerkenswerter Unterschied hervor. Während die westeuro- pretation. So wird Nietzsche für Solovjev zum Anlaß, eine we-
ERNST BENZ 1 49

sentliche Idee der altkirchlichen Anthropologie in vollem Maß ANMERKUNGEN


und mit aller Kühnheit in einer christlichen Antithese zu
ZU «DER ÜBERMENSCH-BEGRIFF»
Nietzsches antichristlichem Übermenschen erneut zur Geltung
zu bringen.
1 Die Nietzsche-Zitate dieser Untersuchung sind sämtlich Kröners
Taschenausgabe entnommen. Band- und Seitenzahlen beziehen sich
In der Tat liegen gerade in der Anthropologie der ostkirchlichen auf diese Ausgabe. - Bd. 75, S. 8.
Theologie, vor allem der ostkirchlichen Mystik, genügend 2 R. M. Meyer: ~ietzsches Wortbildungen. In: Zs. f. deutsche Wort-
Ansatzpunkte für die Entwicklung einer christlichen Über- forschung, Straßburg 1914, Bd. 14, S. w2ff.
8 So in sämtlichen protestantischen Enzyklopädien, in der «Real-
mensch-Idee vor. Es genügt hier, auf denjenigen mystischen
enzyklopädie für protestantische Theologie» wie in der «Religion
Theologen hinzuweisen, der auch die Geschichte der protestan-
in Geschichte und Gegenwart». Aber auch in den katholischen
tischen Mystik, vor allem des linken radikalen Flügels des Enzyklopädien, so in dem «Lexikon für Theologie und Kirche» (bei
deutschen Pietismus nach seiner Wiederentdeckung durch Herder in Freiburg 1950 in 3.Auflage erschienen), in dem «Philo-
Johann Georg Pritius und Gottfried Arnold aufs stärkste inspi- sophischen Wörterbuch» des Jesuiten W. Brugger. Auch das bei
riert hat, nämlich Makarius den Ägypter, dessen fünfzig Herder in Freiburg 1955 erschienene «Lexikon der Pädagogik»
nimmt vom Übermenschen keine Notiz. So ist es schon fast nicht
Homilien vom r6.Jahrhundert an in immer neuen Ausgaben mehr verwunderlich, wenn auch die amerikanische «Encyklopedia 1
des griechischen Textes wie auch in lateinischen Übersetzungen of Religion and Ethics », hrsg. v. James Hastings, New York 1951f., 1
erschienen sind und dessen deutsche Übersetzung durch Gott- den Übermenschen ignoriert.
fried Arnold seiner mystischen Theologie einen maßgeblichen 4 Daselbst Bd. 3, Berlin 19 IO, S. 155: «Verwandt mit dem Begriff des 1
(individuellen) Übermenschen, ist der Begriff des „Helden" bei
Einfluß auf die deutsche Mystik verschafft hat.
Carlyle; ähnlich erklärt Renan: ,,Der Zweck, den die Welt verfolgt,
Die ostkirchliche Theologie ist niemals so stark wie die westliche liegt darin, Götter, höhere Wesen zu schaffen, welchen die übrigen 1
dem Schema der Repristination erlegen, das sich durch die bewußten Wesen Verehrung erweisen und denen zu dienen sie
stark juristische Interpretation von Rechtfertigung und Ver- glücklich sein sollen."» (Philos. Dial. u. Fragm. S. 75.) «Der Zweck der
I' söhnung in der christlichen Theologie des Westens durchsetzte. Menschheit ist „die Hervorbringung großer Männer" (das. S. 76). 1
1

„Die Masse arbeitet; einige erfüllen für sie die höheren Funktionen 1
1
Die ostkirchliche Anthropologie hat stets betont, daß die des Lebens" (das. S. 96). »
1

Erneuerung des Menschen durch die Gnade einen Prozeß fort- 5 Hrsg. v. R. Müller-Freienfels, Berlin 1922, S. 68of. 1
I, schreitender Transformation mit dem Ziel der Vergöttlichung 6
2.Aufl. Hamburg 1955, S. 625. .i11
11 7 So das Encyclopaedische Handboek van het moderne Denken,
'1 des Menschen darstellt. Der neue Mensch ist nicht die Wieder-
herstellung des Menschen aus den Scherben seiner durch die 2.Aufl., Arnheim 1942, S. 765. Immerhin wird dort eine Menge
1
Literatur zum Begriff des Übermenschen angegeben, die auch man-
Sünde zerstörten ersten Form, sondern eine Neuschöpfung, das cherlei begriffsgeschichtliche Hinweise enthält, so A. Tille: Von Dar-
Ergebnis einer fortschreitenden Transformation des Menschen win bis Nietzsche, 1895; C.L. Richter: Nietzsche et les theories bio-
.,,, von einer Herrlichkeit zur andern bis zur völligen Einformung logiques contemporaines, 1911; Leo Berg: Der Übermensch in der
1

1
1
in den -reÄswi;dV1Je,den vollkommenen Menschen Christus. So modernen Literatur, 1897; K.F.Prost: Friedrich Nietzsche, 1920;
A. Vloemans: Nietzsche, o.J.
betont gerade Makarius in seinen Homilien, daß der durch den 8 Berlin 1951, S. 817.
Heiligen Geist transformierte Mensch mehr ist als der ursprüng- 9 Fortgeführt von Walter Robert Tomow und Friedrich Streißler, hrsg. v.
1,
liche Adaml. Alfred Streißler, Berlin o.J., S. 324.
ERNST BENZ ANMERKUNGEN I

10 So R. M. Meyer: Der Übermensch, eine wortgeschichtliche Skizze. gleichartig.» Diese Bemerkung ist geschichtlich nicht ganz zutref-
In: Zs. f. deutsche Wortforschung, hrsg. v. Kluge,Jg. 1, Heft 1, Straß- fend, denn sie projiziert das moderne protestantische Ideal der «ein-
burg 1901, S. 3f.; dazu Zuschriften von A.Leitzmann, ].Stock, Fr. fachen christlichen Personbildung » auf die Urzeit der Kirche zu-
Kluge, die in deIIlSelben Band S. 369-372 veröffentlicht wurden; rück. Gerade dies aber trifft in keiner Weise zu, vielmehr läßt sich
neuerdings D. Tschizewskij: Übermensch, übermenschlich, Zur Ge- dort im Bereich überschwenglicher charismatischer Erfahrungen
schichte dieser Worte und Begriffe, in: Festschrift Th.G.Masaryk eine höchste Steigerung des christlichen Selbstbewußtseins fest-
zum8o.Geburtstagam 7.März 1930, Teil 1, 1930,Bonn, S.265-269. stellen, die bereits den kirchlichen Theologen jener Epoche als be-
11 Lediglich das «Schweizer Lexikon» in 7 Bänden hat die bisherigen denklich erschien. (Siehe Edgar Hennecke: Vom Übermenschen. In:
Forschungsergebnisse vorbildlich zusammengefaßt. Dort heißt es Christliche Welt, Gotha, Jg. 1920, Nr. 47, S. 748.)
Bd. VII, S. 628: «Übermensch, schon griechisch bei Lukian, bei 3 Epiphanios, Panapon 48, 11, 1 (GCS 2, S. 233) und Didymos Alexandr.,

Heinrich Müller im Sinn von Gottes-Mensch, dann beiJ.G.Herder, De trinitate III, 41, 1, Migne P. G. 39, col. 984.
Goethe, auch bei Th.G.Hippel,Jean Paul, vor allem Ausdruck für 4 Epiphanios, Panarion 48, 4; vgl. Jerem. 32, 39 u. Hesek. 11, 19. Diese

das zukünftige Ideal Friedrich Nietzsches. Lit.: H. Müller, Geistliche Anschauung und dieses selbe Bild vom Geist als Plektron, das die
Erbauungsstunden (1664-66); Fr.Nietzsche: Also sprach Zara- Zither des menschlichen Herzens schlägt, ist nicht etwa auf die
thustra (1883-85). » Man kann nicht ohne Vergnügen feststellen, Kreise des Montant beschränkt geblieben, sondern ist in die Litur-
daß in den Lexika selbst sich der Begriff« Übermensch » in der Nähe gie der alten Kirche eingegangen. In ganz ähnlicher Weise wie
anderer von Nietzsche geschaffener« Über »-Begriffe oder deren kari- Montan den Übermensch-Charakter des vom Parakleten erfüllten
kierender Imitationen herumtreibt und daß z.B. in Hagrups «Illu- Propheten beschreibt, werden in der Pfingstsonntags-Liturgie der
strerede Conversationsleksikon », Kopenhagen 1948, der Artikel byzantinischen Kirche die Jünger bei der pfingstlichen Ausgießung
«Übermensch» auf den Artikel «Überbrettl » folgt, eine Schwabin- des Heiligen Geistes beschrieben. Dort heißt es im Kathisma nach
'
ger Wortbildung im Stil Zarathustras. dem dritten Abschnitt der Psalmodie: «Nach deiner Erweckung
1'',. 12 Ernst Benz: Der vollkommene Mensch nach Jakob Boehme. W. Kohl- aus dem Grab, o Christus, und deiner göttlichen Auffahrt zur
I' hammer-Verlag, Stuttgart 1937, X u. 202 S. -: Adam, Der Mythus Höhe des Himmels sandtest den Gottesschauenden du deine Herr-
vom Urmenschen. In der Sammlung: Dokumente religiöser Erfah- lichkeit, Erbarmer, nieder, den guten Geist den Jüngern erneuernd.
rung, hrsg. v. Alfons Rosenberg. Otto Wilhelm Barth-Verlag, Mün- Drum wie eine rauschende Zither ließen sie allen mystisch mit
chen-Planegg 1955, 328 S. -: Theogonie und Wandlung des Men- göttlichem Plektron, Erlöser, deine Lehren und deine Heilsordnung
schen bei Friedrich Wilhelm Joseph Schelling. In: Eranos-:Jahrbuch deutlich erklingen», und dasselbe Kathisma findet sich in der
XXIII, Rhein-Verlag, Zürich 1955, S. 305-365. -: Der Mensch Liturgie des Freitags der Pfingstwoche im Morgengottesdienst im
und die Sympathie aller Dinge am Ende der Zeiten. (Nach Jakob Kathisma nach dem ersten Abschnitt der Psalmodie; s. Osterjubel
Boehme und seiner Schule.) In: Eranos-Jahrbuch XXIV, Zürich/ der Ostkirche, Hymnen aus der fünfzigtägigen Osterfeier der
Stuttgart 1956, S. 133-198. byzantinischen Kirche, II, 2. Teil des Pentekostarion, übersetzt von
P. Kilian Kirchhoff, Münster 1940, S. 185.
5 Epiphanios, Panarion 48, rn,6 (GCS 2, S. 233).
ZU «DAS CHRISTLICHE BILD VOM ÜBERMENSCHEN»
6 Alfred Adam, Grundbegriffe des Mönchtums in sprachlicher Sicht,
1 Siehe Epiphanios, Panarion 48, rn, 6 (Griech. Christ!. Schriftst. Bd. 2, in Zeitschr. f. Kirchengeschichte, Jg. 1955, S. 217ff.
Leipzig 1922, S. 233). Hennecke bemerkt zu diesem Spruch: «Der- 7 Hrsg. v. Nils Nilen, Bibl. Teubn. vol. I fase. I, Leipzig 1906, S. 315.
8 L. A. Seneca, apocolocyntosis ed. F. Bücheler4, Berlin 1904 u. Kl.
artige Überschwenglichkeiten lagen in der Richtung der damaligen
Zeit, die in bedenklicher Annäherung christlichen Gedankengehalts Sehr. I Leipzig 1915 S. 439ff.
9 Ant. Rom lib. XI c. 35, ed. C. Jacoby, Leipzig 1905, Bd. 4.
an heidnische Vorstellungen über die einfache christliche Person-
10 Handkommentar zum Alten Testament, Göttingen 1926, S. 360.
bildung hinaus zu höchster aristokratischer Geltendmachung strebte.
11 In seiner Schrift: adversus 01nnes haereses, lib. V, c. 7.
Freilich in anderem Sinne als bei Nietzsche, aber doch auch wieder
1.

ERNST BENZ ANMERKUNGEN l 1 53

12
Paid. I, V, 26, 1 (GCS 1, S. IQ5, 19ff.); s. auch Protreptikos 123, 1 superhumanus in den lateinischen Übersetzungen von ep. IV ad
(GCS I, 86). Gaium (Chevallier tome I p. 614ff.), wo es von Christus heißt
13
Teppiche Buch VII c. IQ § 55, 1 (GCS 3, S. 40). in der Übersetzung von Hilduin aus dem Jahr 832: «Neque super-
14
In der gnostischen Auslegung des Dekalogs heißt es (Teppiche, substantialis aut homo tantum, sed homo vere, qui differenter
Buch VI c. 16 § 146, 1): «Das fünfte Gebot darnach ist das von humanus, superhumanus et secundum homines de hominum
der Verehrung von Vater und Mutter. Vater und Herr aber nennt substantia ... et in substantiam vere veniens super substantiam
er deutlich Gott; darum nennt er auch die, welche ihn erkennen, substantiatus fuit et super hominem operatur quae hominis ...
„Söhne" und „Götter". » Hier werden die Prädikate des Psalm 81,6 etenim neque homo erat non sicut in homine est sed sicut ex
«Söhne und Götter» ohne Umstände auf den Gnostiker angewandt. hominibus quae sunt hominum sub ipso et super hominem vere
16
Teppiche Buch II c. 20 § 125, 1 ff. (GCS 2, S. 180). homo factus. » Scotus Eriugena übersetzt im Jahr 867: «Sed homo
16
Teppiche Buch IV c. 23 § 149, 4ff. (GCS 2, S. 314). vere differenter hi'.imanus super homines et secundum homines ex
17
Demokrit, bei W. Nestle, Die Vorsokratiker Demokrit frgm. 95, hominum essentia superessentialis. » Ambrogio Traversari übersetzt
Düsseldorf 4 1956 S. 165. 1436: «Ultra humanum modum substantiam nostrae carnis accepit
18
Empedokles, daselbst Emped. Fragm. 69, S. 140. et supra hominem quae sunt hominis gessit. » Vgl. auch die Über-
19
Diese Deutung wird von Giemens in den folgenden Kapiteln noch setzungen einer späteren Formulierung aus derselben Stelle des
weitergeführt; in cap. 25 § 155, 1 ff. wird auch Plato zur Veran- iv.ep.ad Gaium: Scotus Eriugena: «Non homine, sed ut ex hominibus
schaulichung der christlichen Lehre vom Gnostiker herangezogen. hominum summitas et super hominem vere homo factus. » G. Til-
«Mit Recht sagt auch Plato, wer die Ideen zu schauen vermöge, man 1546: «Non homo, sed quasi ex hominibus ultra homines et
werde unter den Menschen als Gott leben; der Geist aber ist das supra hominem homo ipse natus. » B. Millanius 1554: «Humanitatis
Gebiet der Ideen, Geist aber ist Gott. Er hat also den, der den expers sed tamquam ex hominibus ortus homines excellebat, homo
unsichtbaren Gott zu schauen vermöge, einen unter den Menschen super homines factus. » Joachim Perion 1536: «Non quod non esset
lebenden Gott genannt. Und im „Sophisten" nennt Sokrates den homo sed quod ex hominibus homines longe superaret et supra
eleatischen Gast, weil er ein Dialektiker war, Gott, ,,wie die Götter hominem vere homo factus sit. » Diese Übersetzungen haben dank
in die Städte eintreten, ähnlich fremden Gästen". Denn wenn die des Ansehens des areopagitischen Schrifttums einen großen Einfluß
1
Seele über die Welt des Werdens hinausgeht, für sich selbst ist und auf die Sprache der Theologie gehabt.
mit den Ideen verkehrt, von welcher Art der „Höchste" im Theaitet 28 Ihm wurde in seinem Ketzerprozeß die Behauptung vorgeworfen,
ist, wird ein solcher gleichsam ein Engel und wird mit Christus sein, er habe die Welt mit seinem kleinen Finger geschaffen.
~es Schauens teilhaftig, immer den Willen Gottes im Auge habend, 29 Deutsche Predigten hrsg. v. J. Quint, Pred. 5a Bd. I, S. 79--80.
m Wahrheit „weise allein, denn die andern sind nur wie flatternde 30 Geiler von Kaisersberg, Postille 2 fol. 140.
Schatten". » 81 Martin Luther, Weimarer Ausgabe Bd. X Abtli. 2, S. 82 in der
20
Teppiche Buch II c. 2 § 9, 6 (GCS 2, S. 118). Schrift: Von Menschen lehre zu meiden und Antwort auf Sprüche,
21
In Ezech. hom. I, IQ (GCS 8 S. 332, 28ff.). 1522.
22
In Exod. hom. VI, 5 (GCS VI, 196, 19ff.). 82 Siehe Fortgesetzte Sammlung von alten und neuen Sachen, Leipzig
23
In Lev. hom. IX, 11 (GCS VI S. 438, 28ff.). 1721, S. 704. V. Beitrag Nr. 6 Hermanni Rab D. Provincialis Prediger
24
In Mattli. tom. XVI, 29 (GCS 40 S. 537). Ordens Zuschrift an Catharina von der Plannitz, darinnen der
25
In Mattli. tom. XVII, 32 (GCS 40 S. 679). Catliarina von Frisen Brieffbeantwortet wird. Aus dem autographo;
26
In der Schrift gegen Celsus IV,31 (Orig. I, 301,32ff.). s. auch Fritz Mauthner, Zeitgeist, Beil. z. Berliner Tageblatt, 1900,
27
In Philippe Chevallier, Dionysiaca, Recueil donnant l'ensemble des Nr. 23; Blätterfür Unterhaltung, Beilage zur Gerniania Nr. 64, 19or.
traductions latines des ouvrages attribues aux Denys de !'Areopage 38 Werke, hgg. von Sudhoff 1. Abtli. Bd. 9, MünchenfP!anegg 1925,
t. I et II, o. 0. 1937/50, ist der Begriff vneqav&ewno,; bzw. superhomo in s. 590.
der Nomenklatur nicht aufgeführt. Dagegen findet sich der Begriff 34 daselbst S. 341.
1 54 ERNST BENZ ANMERKUNGEN 1 1 55

35 So wenn Abraham von Franckenberg in seiner Schrift «N6sce te ipsum », brief. in dem er eine Definition des Begriffs «Humanität» gibt in
1676 fol. 9 schreibt: «davon auch obbemeldter seeliger Jacob § 30' (Sämmtl. Werke hrsg. v. Suphan, Bd. XVII, S. 121): «D~e
Boehm in seinen übermenschlichen Schriften unwidersprechlich Religion Christi, die Er selbst hatt~, le_hrte und ü~te, w~r die
bezeuget». Humanität selbst, Nichts anders, als sie; sie aber auch rm weitesten
36 Heinrich Müller, Geistliche Erquickungsstunden oder Dreyhundert Inbegriff in der reinsten Quelle, in der wirksamsten Anwendung.
Haus- und Tischandachten, Hof 1738, 2. Aufl. cap. CCLXXI Christus kannte für sich keinen edleren Namen, als daß er sich den
s. 351f. Menschensohn, d. i. einen Menschen nannte.» ·
3 7 Daselbst, cap. X, S. 1 1. 53 In seiner Schrift: Wie die deutschen Bischöfe Landstände wurden.
38 Die Morgenröthe der Weisheit und der Baum des Lebens, 1762, Sämmtl. Werke hrsg. v. Suphan, Bd. V, Berlin 1891, S. 67off.
zitiert nach der Ausgabe von Stuttgart 1862, S. 79. 64 Briefe zur Beförderung der Humanität, hrsg. v. Suphan, Bd. XVII,
39 Johann Caspar Lavater, Aussichten in die Ewigkeit, Gemeinnütziger
Nr. 28 S. 142.
Auszug aus dem größeren Werke dieses Namens, Zürich 1781, S.29. 55 Humanitätsbrief Nr. 32, Sämmtl. Werke hrsg. v. Suphan, Bd. XVII,
40 Daselbst S. 109.
s. 152.
41 Daselbst S. 1 19. 56 Bereits Richard M. Meyer hat in seiner S. 148 Anm. 10 genannten Ar-
42 Daselbst S. 156. beit S. 15 darauf hingewiesen, daß dieselbe Ironie sich auch im
43 Daselbst S. 159. «Werther» findet, wo Werther über den illusionären Charakter einer
44 Daselbst S. 33. allzuhoch greifenden idealistischen Deutung des Menschen reflek-
45 Theologische Jugendschriften, hrsg. v. Nohl, Tübingen 1907, S. 57. tiert, hier allerdings nicht vom «Übermenschen», sondern vom
46 Ges. Werke hrsg. von Ed. Zeller, Stuttgart 1876, Bd. IV S. 51; «Halbgott» spricht: «Mensch? der gepriesene Halbgott! Ermangeln
s. auch LebenJesu Buch I, C. 50 Volksausgabe Teil I Stuttgart o.J. ilim nicht da eben die Kräfte, wo er sie am nötigsten braucht?
s. 164. Und wenn er in Freude sich aufschwingt, oder im Leiden versinkt,
In ähnlicher Weise wendet auch Georg Friedrich Daumer den Über- . wird er nicht in beiden eben da wieder zu dem stumpfen klaren
mensch-Begriffin seiner Dichtung «Mahomed », 1848, auf den vom Bewußtsein zurückgebracht, da er sich in der Fülle des Unendlichen
Geist inspirierten Propheten Mohammed an und läßt seine zwei- zu verlieren sehnte?»
felnden Zeitgenossen sagen: 57 Grabbe hat in seinem Drama «Don Juan und Faust» die Gestalt
«Sie sagen: ,,Ist er, dieser Mahomed, des Faust dem Don Juan gegenüber bewußt als Übermenschen
Ein Übermensch, ein Gott vielleicht? Er ist, geschildert. Faust nimmt Anstoß daran, daß DonJuan dem Gen~ß
So viel wir wissen, nur ein Mensch wie wir, nachgeht, ohne sich von der Unsicherheit und Eitelkeit des DaselilS
Nicht weniger, nicht mehr."» stören zu lassen (Grabbe, Werke, hrsg. von A. F~anz und P. Zau7l!11t,
47 Sämmtl. Schriften, hrsg. v. Karl Lachmann, Bd. XIII, Leipzig 1797, Lpz. u. Wien 1910, Bd. 3. I.Akt S. 35-36); und als Don Juan ihn
fragt: «Wozu übermenschlich, wenn du ein Mensch bleibst?»,
s. 65. antwortet Faust mit der Gegenfrage: «Wozu Mensch, wenn du
48 Sämmtl. Werke, hrsg. v. Suphan, Berlin 1881, Bd. XVII, S. 115.
49 Brief zur Beförderung der Humanität Nr. 25, Werke hrsg. v. Jo- nach übermenschlichem nicht strebst?» (III.Akt, 3 S. 105.) Ich
hann von Müller, Stuttgart-Tübingen, Cotta, 1829: Zur Philosophie verdanke diesen Hinweis der Arbeit von Arild Christensen: Titanis-
und Geschichte Theil 13, S. 139. mus bei Grabbe und Kierkegaard. In: Orbis litterarum Jg. 1959
5o Daselbst Bd. XVII, S. 192. s. 193
51 Briefe das Studium der Theologie betr., Sämmtl. Werke hrsg. v.

Suphan, Berlin 1879, Bd. X, S. 383.


52 In dem Werk, «Von Gottes Sohn, der Welt Heiland», 1797,
Sämmtl. Werke Bd. XVII, Christliche Schriften Bd. 2, Stuttgart-
Tübingen 1830, S. 16of.; ähnlich heißt es in dem 25. Humanitäts-
ERNST BENZ ANMERKUNGEN I 1 57
ZU «DAS ANTICHRISTLICHE VERSTÄNDNIS DES ÜBER-
der welthistorischen Handlungen Individuen stehen als die das
MENSCHEN»
Substanzielle verwirklichenden Subjectivitäten", wird seine Wahr-
1 Menschliches, Allzumenschliches II, nr 99, Bd. 72, S. 224. heit behalten, und auch auf dem Gebiete der Kunst und Wissenschaft
2 Francis Darwin, Charles Darwin, Sein Leben, dargestellt in einem wird es nie an bauenden Königen fehlen, die einer Masse von
autobiographischen Capitel, übersetzt von J. Victor Carus, Stutt- Kärrnern zu thun geben. » (Der alte und der neue Glaube, Teil IV
gart 1893, S. So. (Auszug aus Charles Darwins Autobiographie von c. 89, Volksausgabe S. So.)
1876.) Im englischen Originaltext lautet die Stelle (Nora Barlow, s Abgedruckt in «Sozialistische Aufsätze», Berlin 1921.
The Autobiography of Charles Darwin 1809-1882, London 1958, 9 Moses Hefl: Deutsches Bürgerbuch, Berlin 1845, S. 38ff.
S. 92): «I do that man in the distant future will be a far nwre 10 E. Dronke, «Berlin», Frankfurt/Main 1846, Bd. 2, S. II5/II6;
pe,ject creature than he now is, it is an intolerable thought that he Tschizewskij S. 266; Die Bezeichnung von Bruno Bauer als Über-
and all other sentient beings are doomed to complete annihilation mensch findet sich auch bei Moses Hef] in: Sozialistische Aufsätze,
after such long-continued slow progress. To those who fully admit Berlin 1921, S. 193.
the immortality of the human soul, the destruction of our world 11 Marx-Engels, Gesammelte Schriften, Stuttgart 1902, Bd. I, S. 484-5.
will not appear so dreadful. » 12 Ein Nachwort als Vorwort, beendigt am letzten Tage des Jahres
3 Charles Darwin, Die Abstammung des Menschen und die geschlecht- 1872, Der alte und der neue Glaube, Stuttgart, Volksausgabe o.J.,
liche Zuchtwahl, aus dem Engl. übersetzt von J. Victor Carus, S. 116.
Bd. II, S. 357, Stuttgart 1871. 13 Derselbe Ludwig Büchner hat «Die Stellung des Menschen in der
4 Natur in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft, oder Woher
Nach Francis Darwin, Charles Darwin, Sein Leben, 1893, S. 83.
5 Daselbst cap. 3, S. So. - Die englische Originalfassung hat hier viel kommen wir? Wer sind wir? Wohin gehen wir? » zum Gegenstand
schärfere Worte. Die Ausgabe der Originalfassung durch Nora einer besonderen Untersuchung gemacht. Die dritte Lieferung:
Barlow zeigt, daß diese schärferen Worte auf Grund eines Briefes Wohin gehen wir? ist der Frage nach der zukünftigen Entwicklung
von Mrs. Darwin an ihren Sohn Francis, den Verfasser des «Lebens des Menschengeschlechtes gewidmet.
D's », weggelassen wurden. 14 Zuerst englisch erschienen in der «Anthropological Review», Mai
6
Der alte und der neue Glaube, Teil III c. 62, Volksausgabe S. 56. 1864, und abgedruckt in dem Sammelband als Nr. IX (S. 346ff.).
7 D. Tschizewskij hat in seiner S. 148 Anm. IO zitierten Abhandlung
1s Siehe Anm. 1; - Claire Richter hat in ihrer these, «Nietzsche et les
S. 265ff. die Verwendung des Übermensch-Begriffs bei den Links- theories biologiques contemporaines», Paris 19II, S. 20, darauf
hegelianern ausführlich belegt. - Nach Strauß kann das Ziel der hingewiesen, daß Nietzsche durch seinen Baseler Kollegen, den
Entwicklung des Menschen nur darin bestehen, die Menschlichkeit Naturforscher Rütimeyer, mit den Gedanken von Wallace vertraut
selbst in einer immer höheren Form zur Darstellung zu bringen. gemacht wurde, und zwar nicht nur durch zahlreiche Gespräche
/' Sein Ideal ist aber nicht eine «allgemeine Duzbrüderschaft in mit ihm, sondern auch durch dessen Besprechung von Wallaces
Hemdsärmeln», sondern eine Elite der Menschheit, die den höchsten «Beiträgen» im Archiv für Anthropologie, 1870, pp. 41 I.
1 Rang der Menschlichkeit einnimmt; in diesem Punkte hat er den 10 Eugen Dühring, Der Werth des Lebens, 1865, zitiert nach der 3.Aufl.,
idealistischen Begriff der «großen Individuen» im Sinne der «ein- Leipzig 1881, S. 194.
zelnen überlegenen Geister» und Genies akzeptiert. «Nein, die 17 Allerdings hat Dühring an dieser Stelle seine Phantasie vorsätzlich
' 1
Geschichte wird fortfahren, eine gute Aristokratin, obwohl mit gezähmt und die dem Entwicklungsdenken innewohnende Tendenz
i, volksfreundlichen Gesinnungen, zu sein; die Massen, in immer zum Futurismus gedämpft. Nachdem er selbst durch die genannten
!I, weiteren Kreisen unterrichtet und gebildet, werden auch fernerhin Hinweise die Gedanken des Lesers in einen Zukunftselan versetzt
zwar treiben und drängen, oder auch stützen und Nac;4druck hat, der bereits einen veredelteren Menschheitstypus aus den Krisen
geben, und dadurch bis zu einem gewissen Punkte wohlthätig und Kämpfen der Gegenwart sich herausmendeln sieht, mahnt er
wirken; führen und leiten aber werden immer nur einzelne über- zum Schluß seinen Leser, nicht den Boden der Gegenwart unter den
legene Geister können; das Hegelsche Wort, daß „an der Spitze Füßen zu verlieren. (S. 211 f.)

!'
ANMERKUNGEN I 1 59
ERNST BENZ

19 Eugen Dühring, Der Ersatz der Religion durch Vollkommeneres und ZU «NIETZSCHES BILD DES ÜBERMENSCHEN»
die Abstreifung des Asiatismus, Berlin-Nowawes 1882, S. 16. 1 Bd. 77, S. 338.
1 9 Ralph Waldo Emerson, Complete Works, Riverside edition Bd. 6, 2 Also sprach Zarathustra, Bd. 75, S. 218 f., Von alten und neuen
1932, P· 59· Tafeln § 2 u. 3.
2o « Men of this surcharge of arterial blood cannot live on nuts, herb-tea 3 1886, Bd. 74, S. 150, § 143.
and elegies; cannot read novels and play whist; cannot satisfy all 4 Zarathustra, Bd. 75, S. 140.
their wants at the Thursday Lecture or the Boston Athenaeum. 5 Bd. 72, I, S. 292 § 461.
They pine for adventure, and must go to Pike's Peak had rather 6 Bd. 76, 1887, S. 28! § 16.
die by the hatchet of a Pawnei, than sit all day and every day at a 7 Bd. 83, S. 258 § '4_82. .
counting-room desk. They are made for war, for the sea, for mining, 8 Die Geburt der Tragödie, Bd. 70, S. 198, Vorw. an Rich. Wagner.
hunting, and clearing; for hair-breadth adventures, huge risks, and 0 Die fröhliche Wissenschaft, Buch V a 382, Bd. 74, S. 302.
the joy of eventful living ... Their friends and governors must see 10 Bd .. 70, S. 248 a 3. .
that some vent for their explosive complexion is provided. The 11 Unzeitgemäße Betrachtungen III, Schopenhauer als Erzieher,
roisters who are destined for infamy at harne, if sent to Mexico Bd. 71, S. 238f.
will „cover you with glory", and come back heroes and generals. 12 I. c. IX Der Mensch init sich allein, § 498; Bd. 72, S. 314.
There are Oregons, Californias, and Exploring Expeditions enough 13 Menschliches, Allzumenschliches II, Verinischte Meinungen und
appertaining to America to find them in files to gnaw and in Sprüche, § 116, Bd. 72, II, S. 58.
crocodiles to eat. .. The Excess ef virility has the same importance in 14 § 968, Bd. 78, S. 644. . ..
general history as in private and industrial life. Strang race or strong 15 Der Wille zur Macht, c. 2; Fernere Ursachen des Nihilismus, § 27,
individual rest at last on natural forces, which are best in the savage, Bd. 78, S. 23.
who like the beasts around him, is still in reception of the milk 16 Umwertung aller Werte, Der Antichrist, § 54, Bd. 77, S. 264.
l,i, from the teats of Nature. Cut off the connection between any of 17 Morgenröte, Viertes Buch§ 298, Bd. 73, S. 217.
1 our works and this aboriginal source, and the work is shallow. » 18 Götzendämmerung, § 12, Bd. 77, S. 138.
(p. 69.) 10 Ecce Homo, Warum ich so gute Bücher schreibe, § 1, Bd. 77,
2 1 «In history the great moment is when the savage is just ceasing
to be a savage, with all the hairy Pelasgic strength directed on his
s. 338.
/'' 20 Zarathustra, Vorrede, Bd. 75, S. 8, § 3
opening sense of beauty: - and you have Pericles and Phidias, not 2 1 Bd. 77, S. 195, § 7·
yet passed over into the Corinthian civility. Everything good in 22 Bd. 70, S. 251, § 8.
nature and the world is in that moment of transition, when the 23 Daselbst § 685, Bd. 78, S. 462.
swarthy juices still flow plentifully from nature, but their astringency 24 Daselbst S. 463.
or acridity is got out by ethics and humanity. » (p. 71.) 25 Der Wille zur Macht, § 684, Bd. 78, S. 459 f.
22 R. W. Emerson, Vertreter der Menschheit, Leipzig 1903, - übers. a. 26 Bd. 76, S. 187, § 252.
«Representative Men » -, S. 1. 2 7 Bd. 74, S. 248, § 349·
23 Lefcadio Heam, Kokoro, übers. v. Berta Franzos, Frankfurt/Main 28 Bd. 74, s. 248.
1923, s. 219f. 20 Bd. 76, S. 21, § 14.
30 Bd. 77, S. 140, § 14.
31 Bd. 78, S. 286, § 422.
32 Zarathustra, Vorrede, § 3, Bd. 75, S. 8.
33 § 3, Bd. 75, S. 9.
34 Zarathustra, Vorrede, § 7, Bd. 75, S. 17.
35 Zarathustra, Von alten und jungen Weiblein, Bd. 75, S. 70.
160 ERNST BENZ ANMERKUNGEN l ' r6r

36
Zarathustra, Vom höheren Menschen, § 3, Bd. 75, S. 318. Ausgabe: Sancti Patris MACAR:H Aegyptii Opuscula nonnulla et
37
Der Wille zur Macht, Bd. 78, S. 658 § roo1. Apophthegmata. Jo. Georgius Pritius collegit, reuidit; Latinam .
38
Zu Zarathustra, Bd. 83, S. 445 § 1211. versionem studiose emendauit, indicibusque adiectis edidit, Leipzig
39
Zu Zarathustra, Die Unschuld des Werdens II§ 1214, Bd. 83, S.446. 1714.
40
Zu Zarathustra, Die Unschuld des Werdens II§ 1218, Bd. 83, S. 447. In der 26. Homilie des Makarius Kap. 2 (Denckmahl S. 298 ff.;
41 Pritius pag. 339) heißt es: «Ich habe zuvor gesagt / daß auch die
Zu Zarathustra, Die Unschuld des Werdens II§ 1260 Bd. 83, S. 453.
42 Daselbst S. 456 § 1268. Sünde mit der Wurtzel ausgerottet wird, und daß der Mensch
43
Daselbst S. 456 § 1274. die erste Schöpfung des reinen Adams wieder erlanget. Dieser'
44 Bd. 75, S. 84 § 3. kommt durch die Kraft des Geistes und durch die geistliche _Wieder-
46
Bd. 75, S. 90-93. geburth zu dem Maaß des ersten Adams, und wird größer als jener.
46 Bd. 75 § l-2 s. 318.
Denn der Mensch wird vergöttert.» Ebenso heißt es in der 15. Hom.
47 Zarathustra, Von der Menschen Klugheit, Bd. 75, S. 158. vom begnadeten Menschen (Denckmahl S. 199; Pritius pag. 219) :·
48 Daselbst; s. auch Ecce Homo, Warum ich ein Schicksal bin, § 5, Er «ziehet durch Gottes-Kraft einen reinen Menschen an, ja er·
Bd. 77, S. 405. wird auch besser, als er selbst. Denn ein solcher wird hernach
49 Wille zur Macht § 252 Bd. 78, S. 180.
vergöttert und GOttes Sohn, da er das himmlische Zeichen ip.
60 seine Seele bekommt. Sintemahl· die Außerwehlten mit dem heilig-
Wie dies z.B. Ludwig Trönle in seinem.Buch «Elite-Bildung durch
agonale Auslese», Forum Humanum, Wien 1958, getan hat. machenden Öl gesalbet, und zu hochgeehrten Leuten, ja zu Kö-
61
Zarathustra, Auf den glückseligen Inseln, Bd. 75, S. 90. nigen gemachet werden». Am großartigsten kommt dieser Gedanke .
62
Unschuld des Werdem II § 1214 Bd. 83 § 1214. in der 44. Hom. Kap. 11 zum Ausdruck (Denckmahl S. 442;
63
Daselbst § 1383, S. 499; § 1384, S. 500. Pritius pag. 502-503): «Denn deßwegen ist unser HERR JEsus
64
Daselbst § 1409, S. 507. Christus erschienen, daß er die Natur verändere und verwandele,
66
Daselbst § 1409, S. 507. erneuere und die Seele wiederum von neuen schaffe, welche durch
66 Daselbst § 1213, Bd. 83, S. 446.
die Lüste, durch die Sünde verkehret ist, nachdem er sie mit seinem
67
Wille zur Macht, Zucht und Züchtung, § ro6o, Bd. 78, S. 691, eigenen Geist der GOttheit vermengete: So ist er kommen, daß er·
68
Unschuld des Werdens II, § 1123 Bd. 83, S. 447. einen neuen Sinn, eine neue Seele, neue Augen, neue Ohren, eine
69
Zarathustra, Von den Priestern Bd. 75 S. 99. neue geistliche Zunge, und mit einem Worte, neue Menschen -
60 Ecce Homo, § 6, Bd. 77, S. 380.
die da ihm glaubeten, machete - oder neue Schläuche, die er mit
61
Wille zur Macht, § 866, Bd. 78, S. 589-91. dem Licht seiner Erkäntniß salbete, auf daß er neuen Wein, das
62
Wulf Emmo Anke!: Das Bild des Menschen in der Sicht des Biologen. ist, seinen Geist hinein thäte. » Auch bei Makarius findet sich noch
In: Nachrichten der Gießener Hochschulgesellschaft, Bd. 24, 1955, die direkte Bezugnalime von Psalm 81,6 auf die Christen, wenn er
s. 75ff. in der 27. Hom. cap. 3 sagt (Denckmahl S. 324; Pritius S. 370/7i):
63
z.B. Unschuld des Werdens II § 1265 Schluß Bd. 83, S. 455. «Also hat auch der HErr die Seele gefunden, als sie verwundet und
geschlagen war / hat ihr... die schwartzen Kleider ausgezogen,
und die Schande ihrer Boßheit; hingegen königliche Kleider an-
ZUR «ÜBERLElTUNG» gethan - die da himmlisch - und der Gottheit selbst, auch helle
1 Denckmal des Alten Christenthums, Bestehend in des Heil: Macarii und herrlich .sind: Und hat ihr eine Crone aufgesetzt. .. Also
und Anderer Hocherleuchteter Männer aus der Alten Kirche werden die Seelen in dem Reiche. . . Sie sind Könige und Herren
Höchst-erbaulichen und Auserlesenen Schrifften / Ausgefertiget von und Götter. Denn es stehet geschrieben: Ein König der Könige -
Gottfried Arnold... 3. Ed. Goslar 1716. Erster Theil ... Bestehend in und ein Herr der Herren - Offenbahr. Joh. XVII, 14. »
des Heil. Macarii Homilien oder Geistlichen Reden. Der Über-
setzung der 3.Aufl. liegt zugrunde der griechische Text in der
II
DAS BILD DES ÜBERMENSCHEN
IN DER PHILOSOPHIE SOLOVJEVS

von Ludolf Müller

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