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KULTUR

Abschied von Alteuropa


Die Gefährdung der Moderne und der Gleichmut des Betrachters
- Niklas Luhmanns monumentale Studie über die "Gesellschaft
der Gesellschaft"
VON Hauke Brunkhorst | 13. Juni 1997 - 14:00 Uhr

Als Niklas Luhmann 1969 eine Professur für Soziologie in Bielefeld antrat, wurde er
aufgefordert, sein Forschungsprojekt zu beschreiben.

"Mein Projekt lautete: Theorie der Gesellschaft Laufzeit: dreißig Jahre Kosten:
keine. Die Schwierigkeiten des Projekts waren, was die Laufzeit angeht, realistisch
eingeschätzt worden!" Immerhin, zwei Jahre früher als geplant, hat Luhmann sein Projekt
abgeschlossen.

Es ist das opus magnum eines der bedeutendsten Soziologen dieses Jahrhunderts.

In seinem zweibändigen Werk "Die Gesellschaft der Gesellschaft" nimmt Luhmann


Abschied von Alteuropa und grenzt sich von einer Tradition ab, die mit Platon beginnt und
mit Hegel endet. Die Moderne findet ihre Identität, indem sie das Erbe zurückweist.

Die ungeheure Differenz, die uns von der alten Welt Europas trennt, bildet das Zentrum
von Luhmanns riesigem Öuvre. Immer wieder zeigt er, daß die Umstellung der Gesellschaft
von sozialer "Schichtung" auf funktionale Differenzierung "Verhältnisse" geschaffen hat,
die "zu verschieden" sind, um sie "noch vergleichen zu können".

Soll ein Vergleich trotzdem möglich sein, bedarf es der Außenperspektive: Es bedarf einer
Theorie der sozialen Evolution. So ist es nicht die Systemtheorie, sondern die Moderne
selbst, die eine radikale Neuinterpretation der Begriffe des Menschen, der Politik und der
Gesellschaft erzwingt.

Nun, die Worte sind die alten geblieben, aber ihr Sinn ist ein anderer. Seit den großen
Tagen der griechischen Philosophie galt der Mensch als ein Lebewesen, dessen Exemplare
mal besser, mal schlechter ausfallen und die deshalb das Gattungswesen das eine Mal
in einer perfekten, das andere Mal in einer korrupten Gestalt repräsentieren - so wie
es ja auch in der Natur genießbare und ungenießbare Äpfel gibt. Vernünftig ist dann
diejenige Lebensform, in der die perfekten Exemplare über die korrupten herrschen. In der
alteuropäischen Ordnung kommt alles darauf an, daß der, nach Herkunft und Erziehung
variierende "Anteil an der Vernunft" (Aristoteles) sich so verteilt, daß an der Spitze, beim
Adel, bei den Bürgern, bei den Herren der großen Häuser, Vernunft und Tugend in hoher
Konzentration vorhanden ist, während sie proportional zur Entfernung von Spitze und
Zentrum (beim Volk, bei Fremden, Frauen, Knechten und Sklaven) immer geringer wird.

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In der natürlichen Ordnung der Vernunft ist der einzelne Mensch Teil der politischen
Gemeinschaft.

Diese Gesellschaft hat zwar große Korruptions-, aber keine Integrationsprobleme.

Die gibt es erst in der Moderne. Sie kann sich nicht mehr auf den Menschen verlassen,
weil sie ihn aus der vernünftigen Ordnung der Natur herauslöst. Indem sie ihn in ein
eigensinniges Individuum verwandelt, trennt sie ihn von seinem festen Platz. Das Band,
das die Menschen an Schicht oder Stand fesselte und ihnen Halt gab, reißt. Das ändert
den Begriff der Gesellschaft, die nicht länger als Lebenszusammenhang ("bios"), sondern
nur mehr - hier trifft Luhmann sich mit seinem Antipoden Habermas - als ein System
kommunikativer Verständigung begriffen werden kann.

Der Systemtheorie ist diese Trennung von psychischen und sozialen Systemen etwas zu
rasch als Ausschluß des Individuums aus der Gesellschaft angekreidet worden. Denn
erstens ist die individuelle Person nach wie vor als Kommunikationsteilnehmer in der
Gesellschaft präsent, und zweitens wird auch die Gesellschaft aus dem Freiheitsraum des
Individuums ausgeschlossen. Und mit dem "Menschen" verschwindet auch der Begriff
der "Herrschaft". Beharrlich weist Luhmann nach, daß selbst die höchsten Leitbegriffe
des philosophischen Denkens dem politischen Ethos einer Herrenschicht verpflichtet sind.
Hier ist die Systemtheorie mit der Demokratie im Bunde, und manchmal erinnert sie fast
an den ideologiekritischen Skeptizismus des jungen Max Horkheimer: "Bei allen Perlen
der Philosophie, die man auf diesem Gebiet bewundern kann, wird man sich als Soziologe
fragen, welche ursprüngliche Verschmutzung sie erzeugt haben mag."

Aber was hat die Systemtheorie statt dessen anzubieten? Nun, es ist eine "neue Vernunft
des Vergleichens", die "an die Stelle der alten Vernunft des Vernehmens" der lautlosen
Stimme der Natur treten soll. Diese "neue Vernunft" steckt in der funktionalistischen
Methode und entspricht dem, was Pragmatisten wie John Dewey "Intelligenz" nennen.
Solche Intelligenz erweist ihre Kraft zu überraschenden Einsichten vorzugsweise im
Vergleich des scheinbar Unvergleichlichen.

So lassen sich unter funktionalen Gesichtspunkten Liebe und Geld durchaus vergleichen.
Liebe wie Geld machen unwahrscheinliche Fortsetzungen der Kommunikation
wahrscheinlich. Wir akzeptieren die merkwürdigsten Empfindlichkeiten eines anderen
Menschen nur, weil und wenn wir ihn lieben. Liebe macht selbst gottlose Verbrecher,
Verräter und Staatsfeinde akzeptabel. Noch Antigone mußte sich statt auf Liebe auf eine
"staatlich" vorgesehene Pietätspflicht berufen, um die Treue zum eigenen Bruder zu
rechtfertigen. Das war bei Romeo und Julia oder Bonny und Clyde ersichtlich nicht mehr
der Fall. Nicht anders als die autonome Liebe erklärt das ausdifferenzierte Geldmedium,
daß wir kriegen, was wir wollen, bloß weil wir bezahlen. Beide Medien haben die
Funktion, eine Kommunikation, die sonst scheitern würde, möglich und wahrscheinlich zu
machen.

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Jürgen Habermas hat Luhmanns Begriff der Vernunft stets als funktionalistische
Verkürzung kritisiert. Die Stärke dieser Kritik liegt in einem kommunikativen
Vernunftverständnis, das ebenso wie dasjenige Luhmanns ohne Rückgriffe auf "Natur"
oder "Subjekt" auskommt. Doch spurlos ist Habermas' Kritik an Luhmann nicht
vorbeigegangen. Immerhin unterscheidet er jetzt zwischen Vermittlungsmedien, die -
wie Geld oder Macht - ausschließlich am Erfolg orientiert sind, und solchen Medien,
die sich wie Sprache, Schrift oder Buchdruck auf die Verbreitung der Kommunikation
spezialisiert haben. Es sind in erster Linie diese Medien, die das kritische Potential freier
Kommunikation entfesseln. Auch Luhmann scheint ohne einen Begriff kommunikativer
Vernunft nicht auszukommen.

Allerdings, die modernen Freiheitsgewinne sind keineswegs ohne dialektische Tücke.


Luhmann beschreibt die Verhältnisse, die durch das Auseinandertreten von Individuum
und Gesellschaft entstanden sind, kaum weniger kritisch als Marx. Er sieht genau, daß
sich mit der funktionalen Neugliederung moderner Gesellschaften sofort neue Klassen
bilden. In einer Gesellschaft, in der die politische Führungselite schon lange nicht mehr
"oben" steht, werden die einen reich, die anderen ärmer als zuvor. Im Nu werden aus
kleinsten Differenzen (der Arbeitsfähigkeit, der Kreditwürdigkeit, des Standortvorteils, des
Sitzfleisches, der Begabung et cetera) große Unterschiede, die mit jeder eigenlogischen
Operation der Systeme größer werden.

Geld und Bildung, die wichtigsten Waffen im Kampf des Bürgertums gegen die
Adelsherrschaft, entfalten, wie Luhmann schreibt, eine "perverse Selektivität", die alle
pädagogischen Ideale der Aufklärungsepoche Lügen straft.

"Pervers" ist diese Selektivität, weil sie in der Struktur der Gesellschaft kaum
noch Rückhalt findet. Die "krassen Unterschiede der Lebenschancen", die sie
tagtäglich reproduziert, sogar steigert, haben nämlich in einer Gesellschaft, die nach
Funktionsbereichen (für Wirtschaft, Liebe, Politik, Recht, Sport, Wissenschaft et cetera)
und nicht mehr hierarchisch nach Schichten (Adel/Volk) gegliedert ist, "keinerlei soziale
Funktion". Sie sind ein funktional überflüssiges "Nebenprodukt". Denn "an sich" ist die
moderne Ordnung der Funktionssysteme eine Ordnung ohne Vorrang und ohne Vorzug sie
ist faktisch und normativ auf soziale Inklusion angelegt.

Niemand ist von vornherein, auf Grund seiner Geburt, seiner Religion oder was immer,
ausgeschlossen. Menschenrechte und Demokratie sind Programme, die genau das zum
Ausdruck bringen. Sie waren denn auch recht erfolgreich bei der Korrektur der ärgsten
sozialen Folgekosten durch den demokratischen Rechtsstaat. Aber dieser ist bis heute ein
regional begrenztes Projekt geblieben, während das Operationsfeld der ausdifferenzierten
Funktionssysteme von Anfang an der ganze Globus war.

Das ist im Zeitalter der Telekommunikation und des weltweiten Flugverkehrs für jeden
Fernsehzuschauer evident geworden. Weder die Wirtschaft noch die Wissenschaft
enden an der Grenze zwischen Belgien und Luxemburg, und daß auch die Weltmeere
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die Gesellschaft nicht zerteilen, sondern einen, wußte schon Hegel. Die Ähnlichkeiten
der Funktionssysteme sind längst überall größer als die regionalen Differenzen.
Selbst das Recht hat sich vom nationalen Gesetzgeber getrennt und entwickelt sich
(vom Lex mercatoria über das Arbeitsrecht bis zum Sportrecht) auch ohne zentralen
Gesetzgeber und zentrale Gerichtsbarkeit von selbst. Ein Staat kann das, allen Urteilen
des Bundesverfassungsgerichts zum Trotz, schon lange nicht mehr kontrollieren. Weil die
Politik nur noch ein Teilsystem neben anderen ist, hat die tragende Unterscheidung der
Hegelschen Rechtsphilosophie, die von Staat und Gesellschaft, ihren Gegenstand verloren.

Anlaß zur Freude ist das nicht, geht die Globalisierung doch eindeutig zu Lasten von
Demokratie und Rechtsstaat. Zwar kann man heute die ganze Welt bereisen, ohne, wie
früher, fürchten zu müssen, wie ein rechtloser Fremder behandelt zu werden. Aber um
diese Errungenschaft genießen zu können, braucht man Geld, einen Paß, ein Minimum an
Bildung und so weiter. Kurz: Man muß dazugehören.

Und genau dieses Problem kann eine Weltgesellschaft der Funktionssysteme nicht mit
Bordmitteln lösen. Immerhin, die Systemtheorie legt wenigstens den Finger auf die
Wunde. Wo sie auf Eingeschlossene (Inklusion) trifft, fragt sie nach den Ausgeschlossenen
(Exklusion).

Sie sieht, daß in einer Weltgesellschaft, die nur noch durch eine unkoordinierte Vielzahl
blinder Operationen fortgetrieben wird, die Probleme sich an den Grenzen des Systems
türmen. Dies gilt nicht nur für die ökologische Gefährdung des Planeten. Die Krise
der "alt gewordenen Gestalt der funktional differenzierten Gesellschaft" äußert sich
dramatisch im Ausschluß von Millionen menschlicher Körper aus allen gesellschaftlichen
Kommunikationen.

Wer, in Indien, Brasilien oder Afrika, aber auch schon in manchen Vierteln von New York,
aus einem Funktionssystem herausfällt, für den sind bald alle andern unerreichbar. Seine
Stimme wird nicht mehr gehört.

Es handelt sich bei der "Produktion" überflüssiger Körper um eine "direkte Folge der
funktionalen Differenzierung". Wer keine Arbeit hat, hat kein Geld, keinen Ausweis,
keine Chance, die Kinder auf eine Schule zu schicken und so weiter. "Während im
Inklusionsbereich Menschen als Personen zählen, scheint es im Exklusionsbereich
fast nur auf ihre Körper anzukommen. Physische Gewalt, Sexualität und elementare,
triebhafte Bedürfnisbefriedigung werden freigesetzt und unmittelbar relevant, ohne durch
symbolische Rekursionen zivilisiert zu sein."

Gibt es einen Ausweg? Man muß wissen, daß für Luhmann fast alles, auch eine Theorie,
ein "System" ist. In ihren eigenen Operationen sind Systeme geschlossene Gesellschaften.
Sie können die Signale aus ihrer Umwelt, die kausal auf sie einwirken, nicht verstehen.

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Aber sie können sich durch die von außen kommenden Störungen irritieren lassen. Solange
sie irritierbar sind, können sie lernen. Lernen ist ihre einzige Chance, in der Evolution,
die "sich ständig und überall" planlos vollzieht, durchzukommen. Allerdings, Luhmann
wird nicht müde zu wiederholen, daß Kommunikations- und Bewußtseinssysteme nur
im kognitiven Bereich lernen können. Normen hingegen seien, weil sie als Normen nur
bestehen können, wenn sie sich gegen eine widerstreitende Realität behaupten, durch nichts
irritierbar.

Diese These wird durch Wiederholung nicht besser. Denn überall dort, wo normative
Überzeugungen kollidieren und in den Sog skeptischer Reflexion geraten, sind sie
irritierbar. Dadurch wird ein emanzipatorisches Lernen möglich, in dessen Licht sich die
blinde Evolution vielleicht doch noch als "Fortschritt im Bewußtsein der Freiheit" (Hegel)
darstellen ließe.

Nicht zufällig ist das Normative, die Ethik und die Moral Luhmanns blinder Fleck. In dem
Augenblick, in dem die Systemtheorie der Gesellschaft ihre kaum noch zu überbietende
Perfektionsgestalt erreicht, tritt sie zurück in die radikal desengagierte Position eines
Beobachters, der Beobachter beobachtet. Eine "wirklich radikale Kritik der Gesellschaft",
die Luhmann nur der Systemtheorie zutraut, wird aber durch Beschränkung auf die
"beobachtende Vernunft"(Hegel) zugleich möglich und dementiert.

Was bleibt, ist romantische Ironie. Aber als traue Luhmann ihr nicht über den Weg, sucht
er zuletzt doch noch Halt beim zutiefst alteuropäischen, stoischen Rückzug aus Praxis und
Geschichte.

So macht sich die Systemtheorie schließlich die Perspektive der biologischen


Evolutionstheorie zu eigen: "Sie nimmt die Emergenz und Destruktion von Systemen mit
Gleichmut hin."

Niklas Luhmann: Die Gesellschaft der Gesellschaft Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main
1997 2 Bde., Ln. 1124 S., 128,- DM

COPYRIGHT: DIE ZEIT, 25/1997


ADRESSE: http://www.zeit.de/1997/25/Abschied_von_Alteuropa

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