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Freiheit
ERICH KÖHLER
ESPRIT
UND
ARKADISCHE FREIHEIT
Vorwort
I. PROVENZALISCHE LITERATUR
1. Die Rolle des niederen Rittertums bei der Entstehung der Trobador-
lyrik 9
2. Zur Struktur der altprovenzalischen Kanzone 28
3. No sai qui s'es — No sai que s'es (Wilhelm IX. von Poitiers und
Raimbaut von Orange) 46
4. Die Pastourellen des Trobadors Gavaudan . 67
V. LITERATURSCHICHTLICHE ESSAYS
19. Die provenzialische Literatur 377
20. Die französische Literatur 381
Vorbemerkung des Herausgebers
1 Zuvor erschienen ist: Erich Köhler, Trobadorlyrik und höfischer Roman. Aufsätze zur französi-
schen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin 1962 (Neue Beiträge zur Literatur-
wissenschaft 15).
2 Zu nennen sind: Vermittlungen. Romanistische Beiträge zu einer historisch-soziologischen Litera-
turwissenschaft, München 1976; Sociologia della Fin'Amor. Saggi trobadorici, a cura di M.
Mancini, Padova 1976; Per una teoria materialistica della letteratura. Saggi francesi, Napoli
1980; Literatursoziologische Perspektiven. Gesammelte Aufsätze, hg. v. H. Kraug, Heidelberg
1982.
wetterlage begründeten Vorurteilen fertigzuwerden hatte, sind zu
»Klassikern« geworden, auf die man immer wieder zu rekurrieren hat
und haben wird. Mit vielen Beiträgen hat Erich Köhler Pionierarbeit ge-
leistet — lange vor der auch die Romanistik in den siebziger Jahren erfas-
senden ausgesprochenen Theoriediskussion, zu der gerade Erich Köh-
lers Schaffen der fünfziger und sechziger Jahre in besonderer Weise
hingeführt hat; es waren auslösende Momente, die entscheidende An-
regungen für Forschungen anderer bildeten. Aber auf keinen Fall sind
diese Arbeiten Erich Köhlers — auch und gerade jene nicht, deren Ergeb-
nisse er selbst weiter entwickelt und spezifiziert hat — Teil einer abge-
schlossenen Forschungsgeschichte. Im Gegenteil: Sie machen, auch wei-
terhin, Forschungsgeschichte — im nationalen wie auch im internationa-
len Bereich. »Esprit und arkadische Freiheit« ist zu einem Begriff
geworden.
Eine unveränderte Neuauflage des seit längerem vergriffenen Bandes
ist deshalb geboten. Er soll insbesondere Studenten wieder zugänglich
gemacht werden. Mitaufgenommen wurden deshalb auch zwei brillante
einführende Essays zur französischen und zur provenzalischen Litera-
tur, die 1964 erschienen sind und bislang in keiner Aufsatzsammlung
Erich Köhlers wieder abgedruckt wurden. Dem Kindler-Verlag Zürich
sei für die Zustimmung zur Aufnahme dieser Essays in die Neuauflage
von »Esprit und arkadische Freiheit« gedankt. Gedankt sei auch dem
Aula Verlag Wiesbaden, der die Satzvorlage dieses Bandes zur Verfü-
gung gestellt hat. Dank gebührt aber insbesondere auch Frau Käthe
Köhler, die in vorbildlicher und anerkennenswerter Weise jede Bemü-
hung, das wissenschaftliche Erbe ihres leider viel zu früh verstorbenen
Gatten für künftige Studenten- und Forschergenerationen verfügbar zu
machen, mit großem Engagement unterstützt.
Die achtzehn Aufsätze, Essays und Vorträge, die in diesem Buch ver-
einigt sind, haben sehr unterschiedliche Themen aus mehreren Litera-
turen der Romania und aus verschiedenen Epochen zum Gegenstand.
Sie mögen somit die literarhistorische Neugier und die Neigungen des
Verfassers widerspiegeln. Den Anspruch, ein einheitliches Ganzes dar-
zustellen, können sie nicht erheben. So muß denn jede dieser Studien,
,auch wo sie thematisch an eine andere anschließt, für sich selber stehen,
betreffe sie nun ein klassisches Problem der Literaturgeschichte wie die
Entstehung des Minnesangs, eine komparatistische Fragestellung wie
die einer Motiventlehnung Dantes aus dem Rosenroman, die Umge-
staltung eines »unsterblichen« Themas der Literatur- und Kunstge-
schichte wie diejenige, welche die arkadische Freiheit durch Cervantes
erfuhr, oder die Geschichte eines Begriffs wie »je ne sais quoi«.
Wenn der Verfasser trotz dieses Mangels an thematischer, geschicht-
licher oder nationalsprachlicher Einheit dankbar von der ihm gebotenen
Möglichkeit eines Sammelbandes Gebrauch macht, so geschieht dies in
der Annahme, daß die Vereinigung von an verschiedenen und teilweise
entlegenen Stellen veröffentlichten Beiträgen zur romanischen Literatur
für die Studenten seiner Disziplin und vielleicht auch für manchen Fach-
kollegen nicht ohne Nutzen sein wird. Der Verfasser denkt dabei nicht
zuletzt an die Studenten seiner eigenen Vorlesungen und Seminare, deren
Aufmerksamkeit, freudige Mitarbeit und lebendig-kritisches Interesse
ihm eine stetige Ermutigung sind.
Die meisten Studien dieses Bandes sind — die einen mehr, die anderen
weniger — einer Methode verpflichtet, die nicht selten auf Mißtrauen
stößt und noch häufiger der Grenzüberschreitung bezichtigt wird. Es ist
hier nicht der Ort, diese Methode — die historisch-soziologische — gegen
Mißverständnisse in Schutz zu nehmen, sie zu rechtfertigen oder zu be-
gründen. Sie hat, wie jede Methode, ihre hermeneutische Tauglichkeit
durch ihre Ergebnisse zu erweisen.
Juni 1966 E. K.
Vorwort zur 2. Auflage
In den sechs Jahren, die seit dem ersten Erscheinen dieser Aufsatzsamm-
lung verstrichen sind, hat die literaturwissenschaftliche Szene ihr Aussehen
erheblich, wenn nicht grundlegend, verändert, kaum weniger betriebsam,
und aufgeregt als diejenige der Sprachwissenschaft. Formalismus, Struk-
turalismus, psychoanalytische Literaturkritik, Rezeptionsästhetik, Lite-
ratursoziologie zeugen für einen Auftrieb der methodologischen Reflexion,
deren Fruchtbarkeit nicht mehr bestritten werden kann, wie viele Unbe-
rufene, nur modischem Trend Folgende, sie auch auf den Plan ruft.
Sicher ist nicht ganz im Unrecht, wer argwöhnt, daß die vom plötzlichen.
ideologiekritischen Impuls verketzerte Methode der immanenten Inter-
pretation klammheimlich als Formalismus und Strukturalismus wieder in
die verlorenen Positionen einrückt. Sie tut es mit Recht, weil sie dazu-
gelernt hat. Schlecht beraten wäre eine »historische« Literaturwissenschaft,
und erst recht eine Literatursoziologie, die den Hochmut der konkur-
rierenden Methoden teilte und auf deren substantiellen wissenschaftlichen
Beitrag verzichtete. Sie bedarf ihrer auch als unerläßliches Korrektiv, soll
sie nicht erneut suspekt werden. Es besteht Anlaß genug, vor Theore-
tikern der Methode zu warnen, die nichts mehr scheuen als den Umgang
mit den Texten selbst. Das gilt nicht zuletzt für die Literatursoziologie.
Daher seien die folgenden Bemerkungen erlaubt.
Literatursoziologie grenzt sich ab von Soziologie der Literatur. Letztere
ist eine Teildisziplin der Soziologie und bei dieser anzusiedeln. Literatur-
soziologie dagegen ist eine Methode der Literaturwissenschaft, wir defi-
nieren sie als »historisch-soziologische Literaturwissenschaft«. Ihr funda-
mentales Postulat lautet: jede Literatursoziologie muß historisch, jede
Literaturgeschichte muß soziologisch vorgehen. Zu warnen ist auch hier
vor dem naiven Glauben, eine Methode sei ein sofort und beliebig an-
wendbares Sesam-öffne-Dich. Wilhelm Scherer schrieb 1893:
»Es wäre in der Tat sehr schön, wenn wir die Methoden so ausbilden könnten,
daß sie wie eine Maschine wirken und daß es gleichgültig wäre, ob sie ein Esel
oder ein gescheiter Mann handhabt. Aber vorerst ist für einen so großartigen
Fortschritt der Philologie wenig Aussicht vorhanden.«
Schon drei Jahre vorher — 1890 — mußte Friedrich Engels konstatieren:
»Es ist leider nur zu häufig, daß man glaubt, eine neue Theorie vollkommen
verstanden zu haben und ohne weiteres handhaben zu können, sobald man die
Hauptsätze sich angeeignet hat, und das ist auch nicht immer richtig. Und diesen
Vorwurf kann ich manchen der neueren »Marxisten« nicht ersparen, und es ist
denn auch wunderbares Zeug geleistet worden.«
An »wunderbarem Zeug« ist auch heute kein Mangel. Stramme Jungmar-
xisten erklären so flott wie dogmatisch die »herrschende« Literatur aller
Epochen zur Literatur der Herrschenden — als ob es nie eine Literatur der
Aufklärung gegeben hätte und als ob die »linke« Literatur von heute
mangels Publikum am Hungertuch nagte—, »entlarven« flugs die Kunst als
»Verschleierung« oder »Affirmation« des jeweiligen Establishments, wo-
mit dann alles über Kunst gesagt ist. Engels, der—wie Marx—ein durch-
aus differenziertes Verhältnis zur Kunst hatte, würde sich vermutlich
wundern ob jener seltsamen Scheu der marxistischen Soziologie vor der
Ästhetik, die, wie Victor Zmegäc jüngst formulierte, das Schöne schön sein
läßt oder sich mit Gemeinplätzen begnügt. Über das ästhetische Gelingen
ist das Urteil schon gefällt, wenn geklärt ist, ob der Künstler das »richtige«
oder das »falsche« Bewußtsein hat. Der gleiche Lukks, der einmal das
kühne Wort niederschrieb, das wirklich Soziale in der Kunst sei die Form,
behauptete später, besorgt um die sozialistische Eschatologie, in einem
Salto mortale ästhetischer Selbstverleugnung, daß die ganze westlich-
»kapitalistische« Literatur von Proust und Kafka bis Joyce und Beckett
eine nur formale, aber keine echte Kunst sein könne, weil sie von einem
»falschen« Bewußtsein ausgehe. So einfach ist das. Peinlich allenfalls,
daß Gogol ein Anhänger der Leibeigenschaft, Dante politisch ein Konser-
vativer, wenn nicht gar Reaktionär war. Den orthodoxen Bewußtseins-
dialektiker (der Lulacs beileibe nicht immer war) schiert es wenig.
Literatursoziologie, gerade auch ideologiekritische, wird sich mehr ein-
fallen lassen müssen, will sie dem ästhetischen Phänomen gerecht wer-
den. Der Anspruch, den sie erhebt, kann nur auf dem höchsten wissen-
schaftlichen Niveau, und das heißt auch auf dem Boden der Texte selbst
und auf der Ebene einer ebenso entschiedenen wie undogmatischen Aus-
einandersetzung mit anderen Methoden erfüllt werden, deren Wert sich
allemal und ausschließlich an ihren Ergebnissen mißt. Anders täte auch
Literatursoziologie gut daran, sich — in Bescheidung auf wie immer
gesellschaftlich »relevante« Trivialliteratur — rechtzeitig einen Platz am
Rande des Methodenfriedhofs auszusuchen.
März 1972 E. K.
I. PROVENZALISCHE LITERATUR
Jean Frappier hat in seinem Artikel Vues sur les conceptions courtoises
dans les littératures d'oc et d'oil au Xlle siecle, 1959 in den Cahiers
de Civilisation médiévale erschienen, einmal mehr eine Klärung der
Begriffe »courtoisie« und »amour courtois« unternommen. Er hat diesen
Aufsatz mit einigen Bemerkungen eingeleitet, die uns ihres grundsätz-
lichen Charakters wegen als Ausgangspunkt für die folgenden Über-
legungen dienen können.
»C'est au MD siècle« — so schreibt Frappier — »que naît et s'épanouit
en France l'idéal courtois. Il représente, indissolublement liés, un fait
social et un fait littéraire. Il correspond ä un tournant de la civilisation,
ä un nouveau style de vie. S'il fallait une preuve des limites arbitraires
de compréhension et des dangers inhérents ä la méthode, aujourd'hui
pratiquée volontiers, qui consiste ä considérer une création littéraire en
vase clos, en l'isolant comme dans une cloche de verre et en la séparant
de l'histoire, la littérature courtoise la fournirait aisément. Il va de
soi qu'en cette circonstance comme en d'autres le fait social et le fait
littéraire ont agi réciproquement: la réalité historique a suscité un
besoin d'expression, un miroir où elle IM se refléter; l'image poétisée
a pris la valeur d'un modèle, imposé des règles de conduite, élevé ä
une conscience de plus en plus claire des aspirations latentes ou confuses
parfois« 1 .
Wir unterschreiben jeden dieser Sätze, ja wir glauben, in der von
Frappier angedeuteten Richtung noch weitergehen zu können, d. h. wir
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PROVENZALISCHE LITERATUR
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DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
Der Hof eines großen Herrn hat den Sinn, daß man dort »schenkt«
und »empfängt«, andernfalls ist er — wie der Troubadour Sordel meint —
kein Hof, sondern eine Ansammlung schlechter Leute:
4 Vgl. Hugo Kuhn, Zur inneren Form des Minnesangs. In: Der deutsche Minnesang.
Aufsätze zu seiner Erforschung, hrsg. von H. Fromm, Darmstadt 1961, S. 174:
»Die Paradoxie des Minnesangs — Glück durch Leid, Sittlichkeit durch Ehebruch,
gesellschaftliche Bindung durch den gesellschaftlichen Betrug verheimlichter Lie-
besbeziehungen — diese Paradoxien stabilisieren den Urzwang der Geschlechter
zueinander, noch ohne Sublimierung ins Geistige, ins Gefühl, rein als negativen
Vollzug, als Dienstleistung, und machen ihn so zur Zentralfigur der realen
Lebensbindungen der ritterlich höfischen Welt.«
5 Die folgenden Ausführungen zur »largueza« resümieren die Ergebnisse einer
früheren Untersuchung; vgl. E. Köhler, Trobadorlyrik und höfischer Roman. Auf-
sätze zur französischen und provenzalischen Literatur des Mittelalters, Berlin
1962, S. 45 ff.
6 Pillet-Carstens 461, 76, v. 1 4.
- — Auch bei Andreas Capellanus steht die Frei-
gebigkeit an der Spitze der Tugenden, nicht zu trennen von der Liebe, und nahezu
identisch mit der »curialitas«; s. F. Schlösser, a. a. O., S. 88 ff.
11
PROVENZALISCHE LITERATUR
Ich kann auf die Zitierung der zahllosen Belege verzichten und resü-
miere die Schlüsse, die wir aus ihnen ziehen zu dürfen glauben. Die
lange Reihe der Polemiken gegen den Geiz beginnt mit dem neben
Jaufre Rudel originellsten Dichter der zweiten Generation, mit Mar-
cabru8. Für ihn ist »donar«, das Schenken, Inbegriff aller Tugenden,
nahezu identisch mit »proeza«, während andererseits »avareza«, die
»cupidité«, zur Mutter aller Laster wird, und »escarsedat«, die »avarice«,
mit »malvestat« gleichgesetzt wird. Für den Verfall der Welt — ein
Hauptthema Marcabrus — gibt der Dichter den reichen und mächtigen
Baronen die Schuld, die ihre wichtigste Aufgabe, nämlich das Schenken,
nur noch widerwillig erfüllen. Reichtum und Leistung, soziale Rolle und
moralische Qualifikation entsprechen sich nicht mehr. Von Marcabru
an wird der Vorwurf gegen die »rics malvatz« nicht mehr verstummen.
Die Trobadors werden nicht müde, den Baronen den Gedanken ein-
zutrichtern, daß die Freigebigkeit die Grundlage ihrer Macht, daß sie
das Wesensgesetz des Adels sei, schließlich gar, daß sie die einzige Mög-
lichkeit für den Reichen und Mächtigen darstelle, der ihm ansonsten
unzugänglichen hohen Liebe würdig zu werden.
Niemand wird behaupten wollen, die Exaltation der Freigebigkeit
könne aus den materiellen Bedürfnissen der Jongleurs und Trobadors
allein hinreichend erklärt werden. Wer sind die eigentlichen Träger
dieses Themas? Die Aufrufe zur Freigebigkeit umfassen alle Grade
von der unterwürfig-schmeichlerischen Bitte bis zur schroffen Forderung,
genauer gesagt, von der Bitte um ein Geschenk, das man eigentlich nicht
verdient hat, bis zur Forderung, die einen Rechtsanspruch erhebt. Beide
Gesichtspunkte spiegeln sich auch im Verhältnis zwischen Liebendem
und Herrin: Flehen um »merce« und Erheischen eines verdienten Lohns.
Wir glauben, zwei Ausgangspositionen zu erkennen: diejenige eines
älteren, aber verarmten Adels, der sich auf seine ererbten Rechte beruft,
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DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
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PROVENZALISCHE LITERATUR
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DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
der arme Bewerber »cortes« genannt. Höfische Liebe setzt lange Wer-
bung voraus, die einen ganzen Prozeß innerer und äußerer Veredelung
und Verfeinerung einschließt, dessen der mächtige Reiche nicht bedarf,
um zum Erfolg zu kommen. Es existiert also, so lehrt das genannte
Streitgedicht, ein Zusammenhang zwischen dem erzieherischen Höher-
streben des höfischen Liebhabers und dem sozialen Höherstreben des
besitzlosen Kleinadels, ein Zusammenhang, hinter dem wir ausschlag-
gebende Impulse für die Entstehung der Trobadordichtung vermuten
dürfen. Diesen Hintergrund gilt es im Begriff der höfischen Liebe selbst
bloßzulegen.
Wir kehren zurück zum »paradoxe amoureux« Spitzers: »posséder —
ne pas posséder«. Der »amour courtois«, »fons de bondat« nach Mar-
cabru, »fons et origo omnium bonorum« nach Andreas Capellanus, ist
ein Bildungs- und Erziehungserlebnis, das alle menschlichen Fähigkeiten
mobilisiert, ein prinzipiell unvollendbarer Prozeß der Selbstveredelung,
der eines unaufhörlichen Höherstrebens bedarf. Dieses Streben setzt
sich ein Ziel: die volle Gunst der Herrin, die Erfüllung der Liebe. Ein
apriorischer Verzicht auf die Erreichung dieses Ziels ließe eine An-
strengung gar nicht erst entstehen, das Erreichen selbst aber ließe diese
Anstrengung erlahmen und den Liebenden wieder auf seinen Aus-
gangspunkt zurücksinken. In dieser Paradoxie darf man ein wichtiges
Charakteristikum der »fin' amor« sehen. Die eigentümliche Struktur
dieser Paradoxie aber hat ihre genaue Analogie in der Struktur der
Feudalgesellschaft in deren höfischer Epoche, so wie sie sich aus der Sicht
des Kleinadels darstellt, d. h. einer Schicht, die unter dem geschichtlichen
Zwang zur Festigung und Erweiterung der errungenen gesellschaft-
lichen Position steht. Ihre ideellen Erwartungen kennen infolge der
Öffnung der Adelsgrenzen keine Beschränkung und sind doch materiell
eng begrenzt. Das Thema des »amar desamatz«, des Liebens ohne Ge-
genliebe, das seine sublimste poetische Gestaltung in der »amor de lonh«
Jaufre Rudels fand, erscheint als genaue Projektion des Zustands einer
legitimen, aber in ihrem Absolutheitsanspruch unerfüllbaren Erwartung.
Diese Strukturanalogie läßt sich bis in Einzelheiten hinein verfolgen.
Die höfische Herrin hat nicht nur Rechte, sondern auch Pflichten —
bekanntlich kann der Liebende ihr bei Pflichtverletzung von ihrer Seite
den Dienst aufkündigen wie der Vasall seinem Lehensherrn 12. Um ihre
15
PROVENZALISCHE LITERATUR
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DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
wichtiger sei als eine Erfüllung ihrer Liebe 14 . So wie vom Seigneur
erwartet wird, daß er freigebig sei, wo er Dienste nicht mehr mit Lehen
entlohnen kann, so wird es die Pflicht der »domna«, eine Ehre zu
verleihen, deren Maßstab nicht mehr ein Landbesitz ist, sondern die
besitzindifferent gewordene gesellschaftliche Geltung. Unablässig be-
tonen die Trobadors, daß ihre Dame hoch über ihnen stehe, daß sie
aber durch ihre Gnade den Liebenden weit über seinen sozialen Rang
hinaus erhöhe. Man versteht von hier aus die Entstehung des Gedankens,
daß die Liebe Wunder bewirkt. »Fin' amor« ist auch »amor leial«.
»Lealtat« — »legalitas«, ursprünglich das Verhältnis gegenseitiger Ver-
pflichtung nach dem Vasallitätsvertrag, ist zur ideellen und sittlichen
Verpflichtung gegenüber der »domna« geworden. Im Begriff des »honor«,
»Lehen« löst sich der moralische Wert der »Ehre«, die einst von der
Größe und Bedeutung des Lehens bestimmt wurde, von seiner besitz-
rechtlichen Bedingtheit ab. Die »Ehre« hängt nicht mehr vom Umfang
der Entlohnung ab, sondern ist der nach Maßgabe des geleisteten Dien-
stes beanspruchte Anteil des einzelnen an der Ehre des ganzen Standes.
Anders gesagt: der arme Ritter erhebt seinen besitzrechtlich nicht be-
gründeten Anspruch auf Ehre zu einem moralischen Wert, der für den
ganzen Adelsstand verbindlich und gerade für dessen höchste Träger,
die Inhaber der Macht, verpflichtend ist. »Merce«, ursprünglich der
verdiente Lohn für geleistete Dienste, und somit Synonym von »guizar-
don«, wird, nunmehr weitgehend unrealisierbar, zur »Gnade« : nicht
mehr sichere Erwartung, sondern ungewisse, stets revozierbare Ver-
heißung eines Glücks, das im Augenblick der Zuversicht im Erlebnis
des »joy« gipfelt.
Man verstehe uns recht: die lehensrechtliche Bedeutung der genannten
Begriffe ist durchaus noch lebendig und wird daher beständig im Geiste
assoziiert, im Bereich der höfischen Dichtung aber sind sie moralisiert,
idealisiert, spiritualisiert, weil realiter unzugänglich. Dem gleichen Pro-
zeß der Spiritualisierung wurde die »domna« selbst unterworfen. Diese
Spiritualisierung von lehensrechtlichen Begriffen, welche die sozialen,
politischen und ökonomischen Grundlagen der Feudalgesellschaft be-
17
PROVENZALISCHE LITERATUR
Wortführer des niederen Adels ist der Trobador oder dessen Sprecher,
der »Jongleur«. Er gehört als dritter in die Interessengemeinschaft von
kleinem Ritter und »domna«. So wundern wir uns nicht mehr, wenn
der Trobador Sordel in seinem »Ensenhamen« die Forderung erhebt,
daß kein Mensch, der höfisch denkt, schlechtes von den drei Menschen-
gruppen sage, die es zu erheben gelte: von den Damen, den »armen
Rittern« und den Jongleurs:
15 E. Wechssler, Frauendienst und Vassallität. In: Zeitschr. für franz. Sprache und
Literatur 24 (1902), S. 159-190; S. Pellegrini, Intorno al vassallaggio d'arnore nei
primi trovatori. In: Cultura Neolatina IV—V (1944-45), S. 21-36; R. Lejeune,
Formules féodales et style amoureux chez Guillaume IX d'Aquitaine. In: Commu-
nicazione letta all' VIII Congresso di studi romanzi (Firenze, 3-8 aprile 1956),
S. 227-248.
16 Pillet-Carstens 119, 6=--* 370, 11 v. 34-36.
18
DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
Welches ist die historische Situation jener »cavaliers«, und wie sieht
ihr Verhältnis zum Hochadel aus?
Mein Bild der geschichtlichen Entwicklung der Feudalgesellschaft in
Frankreich war bisher an Marc Bloch orientiert". Ich muß es heute,
unter dem Eindruck neuer historischer Forschungen, modifizieren und
kann mich dabei der Worte eines französischen Historikers bedienen,
der an der Erarbeitung neuer Erkenntnisse hervorragend beteiligt ist,
Georges Dubys: »[Marc Bloch], et je l'ai longtemps suivi, pensait que,
les familles du haut Moyen Age s'étant éteintes, une toute nouvelle
noblesse avait dû se reconstituer aux temps féodaux, en fonction d'un
certain niveau de fortune, d'une manière de vivre distincte de celle du
commun et, notamment, d'une aptitude singulière à l'exercice des armes.
En fait, on peut considérer maintenant établi que la noblesse caro-
lingienne s'est transmise par le sang dans une abondante postérité
féodale.«19 Mit Marc Bloch hatte auch ich angenommen, daß jener sich
beim Verfall des Karolingerreiches neu bildende Adel in eine höhere
und in eine niedere Schicht differenzierte und daß diese letztere eine
Ideologie entwickelte, die eine Reintegration in einem gemeinsamen
Standesbewußtsein anstrebte.
17 »Ensenhamens d'onor«, Ed. M. Boni, S. 215, v. 563- 569. Vgl. noch V. 573 -6:
Ni cavalier paubre con ausa
Destrigar mulz per nulla causa,
Qui om deu donnar e servir,
Enanzar e gen acuillir?
18 M. Bloch, La société féodale II, Paris 1940, Kap. L
19 Une enquête ä poursuivre: La noblesse dans la France médiévale. In: Revue
Historique 226 (1961), S. 6. Vgl. dazu den umfassenden Forschungsbericht von
K. F. Werner, Literaturbericht über französische Geschichte des Mittelalters. In:
Historische Zeitschrift, Sonderheft 1, 1962, S. 467 612, bes. S. 549. Einen wichtigen
-
dert)«. In: Die Welt als Geschichte 18 (1958), S. 256-289; 19 (1959), S. 146-193;
20 (1960), S. 87-119.
19
PROVENZALISCHE LITERATUR
Ich muß mich heute korrigieren, ohne die Substanz meiner These
beeinträchtigen zu müssen. Es handelt sich nicht um eine Reintegration,
sondern um die Integration einer ganz neuen Schicht. Wii. dürfen heute
folgende Entwicklung als gesichert ansehen — ich schematisiere not-
gedrungen —: Lange vor dem niederen Adel gab es einen Hochadel,
hervorgegangen aus den gräflichen, königsnahen Familien der Karo-
lingerzeit, exklusiv, nach unten abgeschlossen20. Seine große Zeit, die
Epoche des Fürstentums, war das 10. und das beginnende 11. Jahr-
hundert. Seit der Mitte des 9. Jahrhunderts wird neben den Grafen und
Vizegrafen die Schicht der »vassi dominici« und der »vicarii« sichtbar,
die sich aus der Bindung an das Königshaus lösen und in die Abhängig-
keit der Grafen geraten. Aus ihnen werden im 10. und 11. Jahrhundert
die châtelains und Baronen. Klar getrennt von den Grafen, bildet diese
Schicht doch mit jenen zusammen einen Adel, den eine tiefe Kluft
von der Masse der einfachen Freien trennte22. Große Teile dieser Schicht
unterliegen vom 10. Jahrhundert an einer Verarmung durch natürliche
Vermehrung, durch Erbteilung und durch gesteigerte materielle An-
sprüche23. Erst spät, in der Provence z. B. gegen Ende des 11. Jahr-
hunderts24, setzt eine Reaktion gegen das »émiettement des fiefs« auf
dem Gebiet des Erbrechts ein. Die wirtschaftliche und soziale Lage der
von dieser Verarmung betroffenen Abkömmlinge der alten »vassi domi-
nici«-Schicht war schließlich nicht mehr sehr verschieden von derjenigen
einer ganz neuen Schicht, eines niederen Adels, der sich im 10. und
11. Jahrhundert konstituiert hatte, entstanden aus einem Berufskrieger-.
tum, das Freie und Unfreie umfaßte. Für ihre Dienste und zur Sicherung
ihrer Zuverlässigkeit erhielten diese Krieger kleine Lehen und erlangten
20
DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
bald die Erblichkeit dieser Lehen. Zwischen den alten höheren Adel
und die Bauern, zwischen Herrschaft und Dienst, schiebt sich somit eine
immer breitere Schicht, die sidi. vom Berufsstand zum Geburtsstand
verwandelt, ein korporatives Bewußtsein entwickelt und schließlich die
Privilegien des Adelsstandes gewinnt 25 . Erst mit der Integrierung des
niederen Rittertums in den Adelsstand und getragen von ihm bilden
sich, aus Legitimationsbedürfnis, ein ritterliches Standesbewußtsein und
eine Klassenideologie, deren der Hochadel bisher in keiner Weise be-
durft hatte, und die dahin tendieren, für den gesamten Adel verbindlich
zu sein 26.
25 Vgl. dazu den erhellenden Aufsatz von A. Borst, Das Rittertum im Hochmittel-
alter, Idee und Wirklichkeit. In: Saeculum X (1959), S. 213 - 231.
26 Man vergleiche hierzu die vorzügliche Skizzierung dieser Entwicklung durch
A. Hauser, Sozialgeschichte der Kunst und Literatur, München 1958, I, S. 211 ff.
27 K. F. Werner führt (in: Welt als Geschichte 20 [1960], S. 116 ff.) eine Reihe von
Zeugnissen aus dem frühen 12. Jahrhundert auf für Fälschungen von Genealogien
von Fürstenhäusern im Sinne der Legende vom armen, aber edlen und tapferen
Jüngling, der zum Lohn für seine Taten ein Lehen oder die Hand einer Erbtochter
oder Witwe erhält und zum Ahnherrn eines großen Geschlechts wird. »Alle diese
Erfindungen verwerten ein literarisches Motiv, durch das besonders der niedere
Adel angesprochen wird, der sich im 10. und 11. Jahrhundert konstituiert und ein
Weltbild schafft, in dem er sich gegenüber dem höheren (und bis dahin einzigen)
Adel zu behaupten sucht.«
21
PROVENZALISCHE LITERATUR
Jener erste ist gewiß nicht identisch mit dem ältesten Trobador, von dem
uns Gedichte überliefert wurden. Wilhelm IX. von Poitiers war indessen
wohl der erste, durch dessen Stimme der Hochadel das vom niederen Adel
geschaffene ritterliche Menschenbild und Standesideal sanktioniert hat.
Die Existenz des niederen Rittertums mußte sich an seinem Verhältnis
zum alten Hochadel entscheiden. Seine vollständige Integration in den
Adelsstand konnte nur unter zwei Bedingungen erfolgen. Die erste war
eine partielle Gemeinsamkeit der Interessen, die zweite bestand darin,
daß die Bedürfnisse des Kleinadels, über ihren Ausgangspunkt hinaus-
weisend, sich zu Elementen eines gemeinsamen Standes- und Menschen-
bildes sublimierten. Wir haben bereits zu zeigen versucht, in welcher
Weise die Dichtung diese letztere Bedingung erfüllte. Es gilt nun, nach
den Gründen zu fragen, welche den Hochadel veranlaßten, die wie immer
moralisierte Ideologie einer neuarrivierten Schicht zu seiner eigenen zu
machen und dadurch der höfischen Dichtung, so wie sie uns vorliegt, erst
einen Lebensraum zu schaffen. Diese Gründe sind zunächst dieselben, die
eine Öffnung des Adelsstandes nach unten überhaupt veranlaßten.
Die anarchischen Zustände nach dem Verfall der karolingischen Mon-
archie hatten die sich unabhängig machenden Grafen dazu gezwungen,
sich eine militärische Hausmacht zuzulegen. Gegenüber einem allmählich
wieder erstarkenden Königtum, vor allem aber gegenüber der gefähr-
lichen Tendenz der eigenen Großvasallen, sich ihrerseits zu verselbstän-
digen (— man vergleiche dazu gerade die Schwierigkeiten der Grafen von
Toulouse und der Grafen von Poitiers —), wurde es zu einem Gebot der
Selbsterhaltung, sich einen möglichst starken Anhang kriegsbereiter
Dienstleute zu sichern. Das gleiche galt für die renitenten Großvasallen.
Die logische Folge war eine Konzession nach der anderen gegenüber den
Ansprüchen des Berufskriegertums: zuerst die Vergabe kleiner Lehen —
ein Verfahren, das materiell begrenzt und dessen verpflichtende Wirkung
schon in der folgenden Generation geschwächt war, zumal nachdem die
Lehen erblich geworden waren. Es galt daher nicht nur, den Hof zum
funktionierenden Zentrum einer größeren territorialen Verwaltungs-
einheit — mit dem dazu nötigen Personal — zu machen, sondern die
niederen, in der Majorität befindlichen Ritter über die Ausrüstung und
Versorgung hinaus durch eine neue persönliche Bindung zu fesseln.
Angesichts der Neigung einer auf Grund ihrer ökonomischen Unsicher-
heit bindungslosen und daher jederzeit der Verlockung zum Wechsel des
Dienstherrn ausgesetzten niederen Adelsschicht könnte man fast von
22
DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
einem Werben um deren Treue sprechen. Der Brauch, die Söhne der
Vasallen am Hof zu erziehen, entspricht einer politischen Notwendigkeit.
Der Herrin des Hofes kommt hier — zumal bei der häufigen Abwesenheit
des Herrn — eine neue und sehr wichtige Aufgabe zu.
Wenn es also dem neuen Kleinadel, ob mit Lehen versehen oder »non
chas«, darum ging, sich zum Hochadel in eine Beziehung zu setzen, die
seinen Aufstieg gesellschaftlich sicherstellte (bei ausbleibendem »adoube-
ment« durch den Lehnsherrn konnte sogar der Adelsrang verloren-
gehen28), so mußte dieser Hochadel seinerseits alles tun, um sich der
Treue seiner Ritter zu versichern. Er akzeptierte und förderte ein Welt-
bild und Lebensformen, die seiner eigenen Abkunft und seinem sozialen
Rang in keiner Weise entsprachen. Es mag überraschend klingen, ist aber
dennoch so: ein Höfisch-Sein im Sinne eines Verhaltens, das Rücksicht-
nahme auf den anderen, gutes Benehmen und Ehrerbietung vor der
Frau zur Voraussetzung hat, konnten die Feudalherren erst und nur von
einer Klasse lernen, deren wichtigste Sorge es sein mußte, ihre Aufstiegs-
c.hancen und ihren Unterhalt durch ein entsprechendes Verhalten gegen-
über dem Mächtigeren zu sichern, stets die »mesura« zu wahren, und
seine virtuelle Ebenbürtigkeit durch eine neue, aus diesem Verhalten
resultierende Gesittung unter Beweis zu stellen. Was aber konnte die
Territorialherren veranlassen, eine Liebeskonzeption zu übernehmen,
deren Wesen Unterordnung, Demut, Angst, Sehnsucht und Entsagung,
und Gelten-Wollen ist, die eindeutig aus der Perspektive einer zwar
prätentiösen, aber inferioren Schicht konzipiert ist? Und wie konnten sie
damit einen Komplex von Verhaltensregeln in der Liebe übernehmen,
an die sie selber gewiß nicht gebunden waren und an die sie sich in der
Lebenspraxis meistens auch nicht hielten?
Befragen wir das Werk des ersten fürstlichen Trobadors : Wilhelms IX.,
Grafen von Poitiers und Herzogs von Aquitanien. Im Lied Nr. VII der
Edition Jeanroy finden wir die folgenden Verse (Str. V u. VI):
23
PROVENZALISCHE LITERATUR
(»Kein Mensch wird jemals vollkommen sein, wenn er sich [den Ge-
setzen] der Liebe nicht unterwirft, wenn er sich mit Fremden und Nach-
barn nicht verträgt, und wenn er den Bewohnern dieses Ortes gegenüber
nicht gehorsam ist.
Gehorsam vielen Leuten gegenüber muß erweisen, wer lieben will; er
muß angenehme Dinge zu tun verstehen und sich hüten, am Hof zu reden
wie ein >vilain<.«)
Diese Verse lassen deutlich erkennen, was die neue Liebesauffassung
in den Augen der großen Feudalherrn zu leisten vermag. Die Liebe ist
hier verstanden als ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip. Ihre Spiel-
regeln, am Hof für alle verbindlich, gewährleisten eine gesellschaftliche
Harmonie, die keine extreme Verfolgung partikulärer Interessen zuläßt.
Die Gesetze der Liebe, deren Befolgung den Menschen erst vollkommen
werden läßt, gebieten Einpassung in die höfische Lebensordnung, und sie
sind ausgerichtet nach der Herrin, der »domna«, die die Frau des Herrn
ist. Im Begriff der »mezura« wird diese Einpassung, die »obediensa«
Wilhelms, zum obersten Gesetz, das die Harmonie der höfischen Welt
gewährleistet. Höfisch wird man durch die Liebe, und »cortesia non es als
mas mezura« (Folquet de Marseille)29. Wir verstehen jetzt, was den Hoch-
29 S. auch Marcabru:
De cortesias pot vanar
Qui ben sap mesur' esgardar.
Vgl. J. Wettstein, »Mezura«, l'idéal des troubadours. Son essence et ses aspects,
Zürich 1945.
24
DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
25
PROVENZALISCHE LITERATUR
26
DIE ROLLE DES NIEDEREN RITTERTUMS
In unserer Studie Die Rolle des niederen Rittertums bei der Entstehung
der Trobadorlyrik haben wir versucht, die Auffassung, daß die Dichtung
der Trobadors und der Begriff des »amour courtois« primär geschichtlich.
und soziologisch zu erklärende Phänomene darstellen, durch den Nach-
weis der Analogie von gesellschaftlicher Struktur und Struktur der
Liebespsychologie zu begründen. Der Prozeß der Integration des neu-
entstandenen niederen Rittertums und seine zugespitzte Problematik im
Zusammenleben am Hof erschienen uns dabei als ausschlaggebende
Faktoren. Wir fragen uns jetzt, ob die aus dieser Betrachtungsweise
gewonnenen Einsichten nicht auch zu einer Erhellung der Gattungs-
gesetzlichkeit, und d. h. von Struktur, Komposition und Stil der Kanzone
beitragen können, jener Dichtungsform also, die den Trobadors und
ihrem Publikum als die höchste und würdigste galt, die eine jeweils neue
metrische Form, eine neue Melodie und eine von allen Vulgarismen freie
Sprache verlangte.
Friedrich Diez hat in seinem 1826 erschienenen Buch Die Poesie der
Troubadours folgendermaßen geurteilt: »Man könnte sich diese ganze
Literatur als das Werk eines Dichters denken, nur in verschiedenen
Stimmungen hervorgebracht.« 1 Dieser Satz ist seither unzählige Male
zitiert und kommentiert worden, so auch, 1934, von Alfred Jeanroy, der
hinzufügt: »Autant la poésie lyrique des provençaux est variée dans ses
formes, autant elle est monotone en son contenu [. . 1 ce sont toujours
les mêmes situations, les mêmes sentiments, les mêmes images qui repa-
28
ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
Kenner der höfischen Dichtung, der Jeanroy war, besaß kein Organ für
die besondere Natur der mittelalterlichen Poetik und Ästhetik. Er folgte
darin einer opinio communis, die ihre schärfste Formulierung vielleicht
bei D. Scheludko fand, demzufolge die Lieder der Trobadors »im großen
Ganzen gegenstandslos« sind, nur »Beredsamkeitsübungen«, »aus rheto-
rischen Gemeinplätzen zusammengeklittert« 5 .
Man fragt sich, was diese Gelehrten überhaupt noch an einer Poesie
interessieren konnte, deren Charakteristikum sie in der öden, monotonen
Wiederholung der immergleichen oder nur wenig variierten Formeln und
Clichés sahen. Die positivistischen Forschergenerationen haben eine
enorme Arbeit geleistet; aber ihr ästhetisches Urteil blieb dasjenige der
Romantik: wo kein echtes persönliches Gefühl zutage tritt, wo keine
Einzelseele den Schrei ihres ganz subjektiven Erleidens vernehmbar wer-
den läßt, da liegt höchstens Literatur, aber keine Poesie vor. Seit langem
fühlen sich die Interpreten der mittelalterlichen Dichtung bei diesen
Urteilen nicht mehr wohl. Man hatte, wenn auch nicht ohne Rückfälle,
die mittelalterliche Welt »entromantisiert«, aber nicht den Dichtungs-
begriff, mit dem die Kritik zu arbeiten gezwungen ist. Sollte man aus
diesem Dilemma herauskommen, mußte sich erst die Erkenntnis durch-
setzen, daß eine Poesie, die nur mit den negativen Kennzeichen der
Monotonie, der stereotypen Formeln, der Konvention belegt wird, die
nur eine Mode gewesen sein soll, ein mondänes »Ritual«, nicht jahr-
hundertelang ein anspruchsvolles Publikum hätte faszinieren und in fast
allen Ländern Europas Eingang finden können. Die Uniformität der
höfischen Dichtung war ein Ärgernis, das nur aus der Welt zu schaffen
war, wenn man sich der von der Romantik geprägten Vorstellungen von
Wahrheit des dichtenden Gefühlsausdrucks, von persönlicher »sincérité«
und eines Originalitätsbegriffs entledigte, die den Zugang zur mittel-
alterlichen Kunst versperrten. Die romantische und postromantische Auf-
2 Jeanroy, La poésie lyrique des troubadours, Toulouse — Paris 1934, II, S. 94.
3 A. a. O., S. 175.
4 In: Petit de Julleville, Histoire de la langue et de la littérature française des
origines ä 1900, I, Paris 1896, S. 380.
5 Archivum Romanicum XI (1927), S. 310, und XV (1931), 5. 156.
29
PROVENZALISCHE LITERATUR
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ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
10 A. a. O., S. 18.
11 La technique poétique des trouvères dans la chanson courtoise. Contribution ä
l'étude de la rhétorique médiévale, Brügge 1960, S. 542.
12 Jeanroy, a. a. O., S. 113-14.
31
PROVENZALISCHE LITERATUR
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ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
zur Sprache, ihre Erscheinung ist ganz aus der Perspektive des liebenden
Dichter-Ich gesehen. Zweite Hauptperson ist die Dame, die »domna«,
immer begehrenswert, unerreichbar, hoch über dem Liebenden stehend,
Gegenstand von Hoffnung und Verzweiflung, oft apostrophiert, nie
selbst erscheinend, stets in einer Weise geschildert, die keine bestimmte
Individualität erkennen läßt, weil sie immer die Schönste, Edelste und
Höfischste ist — und letztlich, weil sie die Geliebte, Herrin und Ziel
aller ist. Ihr Bild, das Bild aller Damen, erhält seine Konturen erst durch
die Wirkung, die sie ausübt.
Hoher Rang und Unzugänglichkeit der Dame sind nicht die einzigen
Hindernisse, auf die der Liebende stößt. Seine schlimmsten Feinde sind
die »lauzengiers«, die unaufhörlich verfluchten Neider, Verleumder, Auf- ,
den ganzen Widerstand der Umwelt, auf welchen der arme Ritter mit
seinen Ansprüchen stößt, und zugleich die Konkurrenz durch Seines-
gleichen. Hinter dem nie individualisierten Typus verbirgt sich — und
verbirgt sich notwendigerweise — der intrigenreiche Kampf um den
Aufstieg im verengten Lebensraum des Hofes als ein Dauerzustand.
Verheimlichen — »celar« — ist hier erstes Gebot. Die statische Figur des
»lauzengier« und ihre hervorragende Rolle als dritte Person der Kanzone
33
PROVENZALISCHE LITERATUR
16 Die Wächter, die »gardadors«, die der Ehemann gegen die Liebhaber einsetzt, sind
die Avancierten, die durch ihre Funktion an den Herrn gebundenen Konkurrenten.
Sie besetzen die erstrebten Positionen, genießen den Schutz des Herrn und die
Nähe der Dame. Vgl. die vorzügliche Analyse der »gardador«-Figur bei H. Kolb,
Der Begriff der Minne und das Entstehen der höfischen Lyrik, Tübingen 1958,
S. 367 ff.
17 Vgl. jeanroy (a. a. 0., S. 113) im Anschluß an seine Analyse der »lauzengier«-
Gestalt : »Ce troisième personnage de la trilogie courtoise n'est donc pas moins
conventionnel que les deux autres, et les réflexions qu'il peut inspirer ne sont
nullement propres ä faire circuler dans la chanson cette atmosphère de vérité et
de vie que nous y avons en vain cherchée.«
34
ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
35
PROVENZALISCHE LITERATUR
habens durch den Dichter (Anlaß des Lieds, Stil, Hinweis auf die Art
seines Liebesgefühls): Exordialtopik der rhetorischen Tradition 18 • Die
Tornaden sind meistens an den Gönner oder an die Dame adressiert.
Der eigentliche Kanzonenkörper kann frei gestaltet werden in dem
Maße, als die personale und thematische Grundstruktur dies erlauben.
Bei der prägenden Kraft dieser Grundstruktur ist es nur verständlich,
daß sich eine gewisse Tendenz herausbildet, die Hauptthemen an der-
selben Stelle im Aufbau der Kanzone zu bringen. Das Gefühl des Lieben-
den hat überall seinen Ort. Aber es ist ganz logisch, daß sich der Aus-
druck seiner Freude oder seiner Traurigkeit an die Naturbeschreibung
anschließt, die ihrerseits den Zweck hat, jenes Gefühl als ein natürliches
und authentisches hinzustellen. Der Lobpreis der Dame fällt vorzugs-
weise in die Mitte des Lieds, d. h. bei Kanzonen mit normaler Strophen-
zahl in die dritte Strophe. Mit Vorliebe lassen die Trobadors unmittelbar
darauf, in der 4. Strophe, das »lauzengier«-Motiv folgen". Es handelt
sich dabei keineswegs um Regeln, aber die Tendenz zu einem solchen
Kompositionstyp ist deutlich.
Die von uns in ihrer Bedingtheit durch die psychologische und gesell-
schaftliche Struktur aufgezeigte thematische Struktur ergibt also ein in
seinen Elementen beständiges, zur Einheitlichkeit tendierendes, be-
schränkt variables Kompositionsgerüst. Freier ist der Dichter in der
Gruppierung der Einzelmotive, welche die zentralen Themen zur Ent-
faltung bringen. Diese Motive sind indessen an die Themen und deren
Aufbau gebunden. Die Bedingung dieser relativen Freiheit ist jedoch
gerade jener strenge Zwang, den die apriorische ideologische und thema-
tische Grundstruktur auferlegt. Diese letztere ist mit den von ihr ab-
hängigen Motiven das, was allen Kanzonen gemeinsam ist. Aus dieser
36
ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
20 Vgl. Jeanroy, in: Petit de Julleville, a. a. O., I, S. 378, und Guiette, a. a. 0., S. lof.
37
PROVENZALISCHE LITERATUR
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ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
I
Can vei la lauzeta mover
de joi sas alas contrai rai,
que s'oblid' es laissa chazer
per la doussor c'al cor li vai,
ai! tan grans enveya m'en ve
de cui qu'eu veya jauzion,
meravilhas ai, car desse
lo cor de dezirer nom fon.
23 Text nach C. Appel, Bernart de Ventadorn, Seine Lieder, mit Einleitung und
Glossar, Halle 1915.
39
PROVENZALISCHE LITERATUR
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ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
ihm entzog, zerstörte sie den Sinn der Welt, den sie verkörperte. übrig
bleibt nur hilfloses Begehren. Alle Motive dieser Strophe beschreiben
das Thema einer hoffnungslosen Liebe, die sich doch nicht selbst auf-
geben kann, weil der Zwang, der ihr zugrundeliegt, ein existentieller
ist. Diejenige lieben zu müssen, von der man doch nie Nutzen (»pro«)
haben wird, das kennzeichnet die Zwangslage des niederen Rittertums
und seine Ungeduld.
Die dritte Strophe ist, wie wir wissen, in der höfischen Kanzone meist
dem Lob der Dame vorbehalten, besonders bei Bernart de Ventadorn.
In unserer Kanzone ist die Deskription auf die Augen beschränkt, und
auch diese erfolgt auf dem Umweg über deren Wirkung auf den Lie-
benden.
III
Anc non agui de me poder
ni no fui meus de l'or' en sai
que.m laisset en sos olhs vezer
en un miralh que mout me plai.
miralhs, pus me mirei en te,
m'an mort li sospir de preon,
c'aissi-m perdei com perd et se
lo bels Narcisus en la fon.
IV
De las domnas me dezesper;
Ja mais en lor nom fiarai;
41
PROVENZALISCHE LITERATUR
Alle höfischen Damen sind der einen gleich; keine spricht für ihn
bei derjenigen, die sein Leben vernichtet — »que m destrui e.m cofon« —.
-
V
D'aissois fa be femna parer
ma domna, per que.lh o ret rai,
car no vol so c'om deu voler,
e so c'om li deveda, fai.
chazutz sui en mala merce,
et ai be faih co.1 fols en pon?
e no sai per que m'esdeve,
mas car trop puyei contra mon.
42
ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
VI
Merces es perduda, per ver,
(et eu non o saubi anc mai),
car cilh qui plus en degr'aver,
non a ges, et on la querrai?
al can mal sembla, qui la ve,
qued aquest chaitiu deziron
que ja ses leis non aura be,
laisse morir, que no l'aon!
Der Text wird hier deutlich: »merce« bedeutet sowohl »Gnade« wie
»Lohn«. Diese Doppelbedeutung, jedem Zuhörer geläufig, besagt, daß
in der höfischen Welt die Erfüllung des für legitim erachteten Anspruchs
auf Lohn für die geleisteten Dienste nur als der Glücksfall der Gnade
verwirklicht wird. Wem sie nicht zuteil wird, obwohl er sie verdient
hätte, ist dem Elend ausgeliefert — er ist »chaitiu«, ausgeliefert dem
Nichts zwischen der Welt, aus der er kommt, und der Welt, nach der
er strebt.
Strophe VII präzisiert diesen Sachverhalt in unmißverständlicher Weise.
VII
Pus ab mitions nom pot valer
precs ni merces ni.1 dreihz qu'eu ai,
ni a leis no yen a plazer,
43
PROVENZALISCHE LITERATUR
Das Vokabular der Liebe ist hier völlig transparent. Die »domna«
erscheint als »midons« — »meus dominus«; »precs« — die »Bitten«,
»merces« — »Gnade« und »Lohn« stehen in einer Linie mit »dreihz«,
dem Rechtsanspruch, dessen Nichterfüllung bedeutet, daß der Anwärter
völlig heimatlos wird. Als »Toter«, d. h. Verlorener im gesellschaftlichen
Gefüge, ist er der Gefangene seiner unerlösten Existenz, weil kein Herr
ihn belohnt, und exiliert in der eigenen Welt. Tiefste Resignation ver-
zichtet darauf, weiterhin die spontane Bereitschaft zum Dienst am Gan-
zen zu bekunden — »ja mais nc lh dirai« — und begibt sich ratlos in
den Leerraum einer Gesellschaft, deren führende Schicht ihrer Aufgabe,
die gesellschaftliche Leistung des niederen Adels in dem erwarteten
Maße zu honorieren, nicht gerecht wird bzw. werden kann: — »e vau
m'en, pus ilh nom rete ( = >retenir< als Vasallen mit dessen Rechten),
chaitius, en issilh, no sai on«.
Die Tornada nimmt diesen letzten Vers, in dem das Hauptthema der
Kanzone gipfelt, wieder auf. Mit dem Entschluß zum Verzicht auf Ge-
sang, »joi« und »amor« identifiziert sich der Dichter endgültig mit dem
armen Ritter, der die Hoffnung auf seine Einordnung in eine von ihm
konzipierte höfische Gesellschaftsordnung aufgibt.
Werfen wir jetzt einen Blick zurück. Wir haben von der Kongruenz der
metrischen, syntaktischen und inhaltlichen Struktur der Strophen dieser
Kanzone gesprochen. Ihr gedanklicher Aufbau ist von einer Logik, an der
auch Alfred Jeanroy kaum etwas auszusetzen hätte. Wir können außer-
dem beobachten, daß der Auf gesang durchweg die Feststellung eines Tat-
bestandes umfaßt, der Abgesang dagegen jeweils den Versuch einer
Erklärung dieses Tatbestandes enthält. Und noch eine dritte Feststellung
drängt sich auf: die Strophen I bis III formulieren die persönliche Er-
fahrung der Betroffenheit des Dichters durch die Liebe, Strophe IV
weitet diese persönliche Erfahrung zu einer allgemeinen Welterfahrung
aus, deren generalisierender Charakter den Rest der Kanzone bestimmt.
Dieser gedankliche Aufbau offenbart ebenso wie die eigentümliche Struk-
tur der »psychologie amoureuse« den Zusammenhang zwischen subjek-
44
ZUR STRUKTUR DER ALTPROVENZALISCHEN KANZONE
45
3. No sai qui s'es — No sai que s'es
(Wilhelm IX. von Poitiers und Raimbaut von Orange)
Die Wendung »no sai qui s'es« bzw. »no sai que s'es« findet sich in drei
Trobadorgedichten, deren Abhängigkeit voneinander außer Zweifel steht:
in Wilhelms IX. Parai un vers de dreyt nienl, in Raimbaut d'Aurengas
Escotatz, mas no sai que s'es 2 und in der Tenzone Amics Albertz, tensos
soven von Aimeric de Peguilhan und Albert de Sisteron 3 . Zwischen dem
ersten und dem zweiten Lied liegen rund 60 Jahre, zwischen dem zweiten
und dem dritten weitere 50 Jahre 4 . Trotz zahlreicher Bemühungen der
Forschung haben die Gedichte Wilhelms und Raimbauts das Geheimnis
ihres »Ich-weiß-nicht-was« noch nicht völlig preisgegeben, und es scheint
uns nicht überflüssig zu sein, daß man es ein weiteres Mal versucht. Die
Tenzone Aimerics und Alberts hat nicht viel Interesse gefunden; das
Urteil von Shepard und Chambers — »This is simply a play of wits, and
not a very good one« 5 — lädt nicht zu tiefschürfenden Betrachtungen
ein. Wir wollen gleichwohl, die Chronologie umkehrend, mit der Frage
beginnen, ob dieses späte dritte Gedicht zur Erhellung der beiden älteren
Lieder beitragen kann.
1 Pillet-Carstens 183, 7; Nr. IV bei A. Jeanroy, Les Chansons de Guillaume IX, duc
d'Aquitaine, Paris 1927 (CFMA).
2 P.-C. 389, 28; Nr. XXIV der Ausgabe Walter T. l'attison, The Life and Works of
the Troubadour Raimbaut d'Orange, The University of Minnesota Press, Minnea-
polis 1952.
3 P. C. 10, 6 .= 16, 5; Nr. 6 bei William P. Shepard and Frank M. Chambers, The
-
46
NO SAI QUI S'ES - NO SAI QUE S'ES
Auf den ersten Blick hin scheint sich das Urteil Shepards und Cham-
bers' zu bestätigen: die beiden Trobadors gefallen sich in einem geistreich
sein sollenden Geplänkel über das Nichts, auf das man logischerweise mit
Schweigen oder mit nichtssagenden Reden antwortet 6 • Bemerkenswert ist
jedoch, daß beide Trobadors ihre Quellen gut kennen und sich deutlich.
auf sie beziehen. Aimeric betont in seiner einleitenden Strophe die Neu-
heit des Themas: seine Tenzone wird weder von der Liebe noch von
anderen in Streitgedichten üblichen Gegenständen handeln, sondern
»d'aizo qi res non es« 7 . Ganz ähnlich hatte sich Wilhelm ausgedrückt:
47
PROVENZALISCHE LITERATUR
tung, daß man das Nichts (»non-res«) wohl sehen könne; denn, wer von
einer Brücke aus den Fluß betrachte, glaube, das Wasser stehe still und er
selber bewege sich". Dabei wird man an eine berühmte Stelle im Werk
Jaufre Rudels erinnert, die sich ihrerseits dem in Wilhelms »vers de dreyt
nien« angeschlagenen Thema von der nie gesehenen und unerreichbaren
»Fernliebe« einordnet:
Qu'az esciens
Fas mantas res quel cor me di:
Tot es niens".
45
NO SAI QUI S'ES — NO SAI QUE S'ES
ohne unserer Sache völlig sicher zu sein, auch Alberts Vergleich mit dem
Mann, dem in der Zisterne nur das eigene Spiegelbild und das Echo der
eigenen Stimme begegnet", auf das Lied Wilhelms beziehen. Der hier
anklingende Narzißmythos, der den Trobadors bekannt war, enthüllt,
wenn wir richtig sehen, die nie erblickte »amiga« von Wilhelms »vers de
dreyt nien« als Projektion eines unrealisierbaren Ideal-Ichs. Wir kommen
darauf zurück. Jedenfalls haben Aimeric und Albert ihr Thema besser
verstanden und gründlicher behandelt als es zunächst den Anschein hat.
Shepard und Chambers bemerken zu dem Relativitätsvergleich mit
Wasser und Brücke: »A comparison probably due to the schools.« 15 Das
gilt gewiß nicht nur für diese eine Stelle, sondern für das ganze Gedicht,
wie denn auch die ganze Gattung des Streitgedichts, sowohl das Joc partit
wie die Tenzone im engeren Sinne, vom Geist der scholastischen Dis-
putationsmethode her zu erklären ist". Wir sind überzeugt, daß auch
Wilhelms rätselhaftes Lied Nr. IV sich zum Teil aus dem Zusammenhang
mit den frühen Ausbildungsformen dieser Methode verstehen läßt. Diese
Auffassung hat zuerst D. Scheludko vertreten, nachdem A. Jeanroy
in Wilhelms Gedicht nichts weiter zu sehen vermochte als ein »coq à
l'âne, une >fatrasie< [. . .] dont tout l'agrément consiste en un déroule-
ment d'images hétéroclites, en un jaillissement de truismes ou d'absur-
dités« 17 • Scheludko hat zur Erklärung des Gedichts auf die mittellatei-
nische Rätselliteratur, speziell auf die Disputatio Pippini cum Albino von
49
PROVENZALISCHE LITERATUR
Alkuin hingewiesen". Leo Spitzer ist ihm darin gefolgt und hat sogar
den von Scheludko selbst mit berechtigter Skepsis vorgetragenen Vor-
schlag, die Lösung von Wilhelms »devinalh« sei »Schlaf«, übernom-
men". Leo Pollmann, der sich zuletzt mit unserem Gedicht beschäftigte",
hat u. E. mit Recht bestritten, daß es sich um ein »devinalh« handelt,
dabei aber übersehen, daß die schmale mittellateinische und proven-
zalische Rätselliteratur gleichwohl mit zur Erhellung beitragen kann.
Pollmann selbst möchte, daß Wilhelms Ankündigung, ein Gedicht über
das »reine Nichts« machen zu wollen, ernst genommen wird. Dann
allerdings sind auch Rätselfragen wie diejenige der Dis putatio Pippini
cum Albino — »A. Quid est, quod est et non est? P. Nihil. A. Quomodo
potest esse et non esse? P. Nomine est, et re non est.« 21 — ernst zu
nehmen, und Spitzer hatte Recht, im Anschluß hieran zu bemerken: »La
conscience du >réel irréel< est bel et bien un trait de l'esprit chrétien et
médiéval, pour qui le monde invisible existe et le monde visible existe
comme s'il n'existait pas.« 22
Ein Schüler Alkuins, Fredegisius von Tours, versuchte in seiner Schrift
De nihilo et tenebris nachzuweisen, daß das Nichts nicht reine Negation,
sondern ebenso real sei wie die Finsternis 23 . In Johannes Scotus Eriu-
genas negativer Theologie wird Gott selbst als ein Nichts bestimmt,
unerkennbar und sich selbst nicht erkennend 24 . Welche Formen die
50
NO SAI QUI S'ES — NO SAI QUE S'ES
»R. Tu qui vis te nosse, scis esse te? A. Scio. R. Unde scis? A. Nescio.
R. Simplicem te sentis, anne multiplicem? A. Nescio. R. Moyeni te scis?
A. Nescio. R. Cogitare te scis? A. Scio«27.
Wir zitieren diese berühmte Stelle, weil wir glauben, daß sie zur
Deutung der Struktur von Wilhelms vers de dreyt nien beizutragen
vermag. Wilhelms Gedicht stellt sich in erster Linie als eine Infrage-
stellung des eigenen Ich dar. Der Zweifel an der Wirklichkeit dieses
Ich führt nicht in methodischer Frage zur Feststellung der Selbstgewiß-
heit, sondern artikuliert vielfältig ein konstantes »Ich-weiß-nicht«. Ge-
wißheit, eine fragwürdige Gewißheit freilich, bietet nur die Meinung
der anderen: der Dichter weiß nicht, ob er wach ist oder ob er schläft,
»s'om no m'o ditz« (y. 14) ; über seine Krankheit weiß er nichts als
»quan n'aug dir« (v. 20). Pollmann hat durch eine graphische Dar-
stellung der Negationspartikel die thematische Struktur des »nien« für
25 Martin Grabmann, Die Geschichte der scholastischen Methode, Berlin 1957 (un-
veränderter Neudruck) I, S. 217 f. — Die erwähnte »Epistola ad Drogonem Magi-
strum et Condiscipulos de logica disputatione in Gallia habita« in der Neuausgabe
der »Rhetorimachia« von K. Manitius: Gunzo, Epistola ad Augienses, und Anselm
von Besate, Rhetorimachia, Weimar 1958, S. 180 183.
-
26 Grabmann, a. a. O., S. 126. Vgl. das ganze Kapitel »Die vorbildliche Bedeutung
des hl. Augustinus für die scholastische Methode« bei Grabmann I, S. 125 ff.
27 Migne, Patr. Lat. 38, col. 885.
51
PROVENZALISCHE LITERATUR
das ganze Gedicht deutlich zu machen versucht". Sein Schema des Auf-
baus der »non«, »no«, »ni«, »anc non«, bedarf der Ergänzung durch
die alle Fragwürdigkeit der eigenen Existenz auf die fehlende Selbst-
gewißheit zurückführende Wendung »no sai« — »nescio«. Es begegnet
nicht weniger als sechsmal und fast immer an syntaktisch und metrisch.
hervorgehobener Stelle (v. 7, 13, 20, 22, 25, 43) 29 . Nicht in den Nega-
tionen, sondern in dem sie begründenden Nicht-Wissen manifestiert
sich die tiefere Bedeutungsschicht dieses Gedichts. Sein Thema ist die
Ungewißheit über den Inhalt und den Realitätscharakter der eigenen
Gefühlswelt. Die Fragestellungen der frühscholastischen Dialektik die-
nen als Medien für das Betroffensein durch das neue Erlebnis der
höfischen Liebe, speziell für deren spiritualistische Komponente. Eine
Analyse des Gedichts soll diese Deutung erhärten.
I
Parai un vers de dreyt nien:
Non er de mi ni d'autra gen,
Non er d'amor ni de joven,
Ni de ren au,
Qu'enans fo trobatz en durmen
Sobre cheveau.
Der erste Vers verkündet die Absicht des Dichters: er will ein Lied
über das Nichts dichten. Jeanroys von fast allen Interpreten 30 über-
nommene Übersetzung »sur le pur néant« trägt dem Umstand nicht
Rechnung, daß sich in den folgenden Strophen dieses »Nichts« doch
als ein Etwas erweist, daß es »Nichts« nur insofern ist, als es geheimnis-
voll und unfaßbar, als es irrational bleibt". Zunächst allerdings be-
52
NO SAI QUI S'ES - NO SAI QUE S'ES
stimmt es sich durch das, was der »vers« nicht behandelt. Wilhelm will
weder von sich noch von anderen, weder von »amor« noch von »joven«
noch von irgendetwas anderem sprechen. Nicht von sich selbst? Er tut
es durch das ganze Gedicht hindurch. Nicht von Liebe? Von der nie
gesehenen »amiga« heißt es, v. 31: »et am la fort«. Nicht von »autra
gen«? Neben der irrealen »amiga« erwähnt er immerhin v. 34 eine
»gensor et bellazor«. Wenn wir den Widerspruch lösen und nicht an-
nehmen möchten, der Dichter treibe seinen Witz mit dem Publikum.,
bleibt uns nur übrig, diese Negationen so aufzufassen, wie sie offen-
sichtlich auch von Raimbaut d'Aurenga und Aimeric de Peguilhan ver-
standen wurden32: Wilhelm scheidet mit ihnen einzeln und global
(»ni de ren au«) alle Inhalte der zeitgenössischen Minnedichtung, ja mit
ihnen alle Gattungen dieser Dichtung, aus. Gerade der Umstand, daß
diese bisherige Dichtung nichts von der neuen Erfahrung weiß, daß
weder ihre Inhalte noch ihre Formen sie decken, macht diese Erfahrung
zu einer ganz und gar anderen, unerklärlichen, sich dem Zugriff der
gewohnten Denkkategorien entziehenden, allein in der Negation faß-
baren, zum »Nichts«.
Dem desorientierten Leser bzw. Zuhörer wird nun eine Erklärung
gegeben, die ihn erst recht verwirren muß: das Lied wurde zu Pferd
im Schlaf gedichtet. Damit ist, wie M. Casella erkannte33, ein Wach-
traum gemeint, ein Zustand, in dem die konkrete Wirklichkeit ver-
schwindet, um einer unbegreiflichen seelischen Bewegung Platz zu
machen. A. del Monte hat zur Erklärung den Hoheliedvers »ego dormio
et cor meum vigilat« und seine mittelalterlichen Kommentatoren heran-
gezogen34. Danach hat Wilhelm die christliche Vorstellung von der
kontemplativen »visio« Gottes im Zustand geistiger Wachheit und kör-
perlichen Schlafs verweltlicht und im Bilde des Schlafs zu Pferde ver-
anschaulicht. Im Wachtraum, dem »vigilans dormire«, löst sich die Wirk-
lichkeit auf, ohne daß damit völlig das Bewußtsein verschwände, das
den Traumgehalt kontrolliert. Die Auflösung der Wirklichkeit aber er-
faßt das Ich selbst:
seines Gedichts ist unwichtig. Wilhelm hat sein Versprechen eingelöst, ein
Gedicht über das reine Nichts zu machen [...]« (a. a. O., S. 344).
32 Zu Raimbaut s. weiter unten; zu Aimerics einleitender Tenzonenstrophe vgl.
oben S. 47.
33 Casella, a. a. 0., S. 19.
34 »En durmen sobre chevau«. In: Filologia Romanza 2 (1955), S. 140 ff.
53
PROVENZALISCHE LITERATUR
H
No sai en quai horwm fuy natz:
No suy alegres ni iratz,
No suy estrayns ni sui privatz,
Ni non puesc au,
Qu'enaissi fuy de nueitz fadatz,
Sobr'un pueg au.
III
No sai quora m suy endurmitz
-
35 Wir ziehen Jeanroys Übersetzung von »No suy estrayns ni suy privatz« ---- »ni
revêche ni familier« diejenige Casellas (a. a. O., S. 19) vor: »non sono fuori
di me nè in me stesso«.
36 Qu'enaissi.m fadet mos pains
Qu'ieu ames e no fo amatz
»Lanquan li jorn son lonc en may«, v. 48 f., Nr. V der Edition Jeanroy, CFMA,
Paris 1924.
54
NO SAI QUI S'ES — NO SAI QUE S'ES
bei seinem Besuch anheimfällt, in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts
durchaus bekannt 37 . Wie dem sei: die Darlegung des mystischer Ekstase
vergleichbaren Zustands zwischen Schlaf und Wachsein 38 , der Boden-
losigkeit nach dem Entschwinden sämtlicher, den normalen Gefühls-
haushalt bestimmender, bekannter und daher definierbarer Empfindun-
gen, beschreibt eine seelische Verfassung, die im Bereich der subjektiven
Erfahrung des Widerspruchs von Ideal und Wirklichkeit angesiedelt ist.
Der unbestimmbare Gegenstand der Unruhe ist ein Liebesglück, das
der Vorstellung zugänglich, aber nicht realisierbar ist. Sein eigentüm-
licher Charakter, gegenwärtig und doch fern zu sein, bestimmt den
Zustand des Dichters selbst. Der Suchende ist auf das eigene Ich ver-
wiesen, das folgerichtig als ein sich selbst entfremdetes, seiner selbst
nicht mehr mächtiges und sich daher selbst in Frage stellendes Ich er-
scheinen muß. Es ist die von Augustinus benannte Situation bei Auf-
rufung der das Bewußtsein stiftenden Gedächtnisinhalte:
»nec tarnen hoc sumus quod fuimus, quand° id cogitare non possu-
mus. Quid est ergo, quod nescio quomodo subtrahimur negamurque
nobis item que nescio quomodo proferimur ad nos reddimurque nobis,
quasi alii simus et alibi simus, quand° quaerimus nec inuenimus quod
in memoria nostra posuimus, ne que nos ipsi ad nos ipsos ueluti alibi
positos peruenire possimus et tunc perueniamus quando inuenimus?
Ubi enim quaerimus nisi apud nos? Et quid quaerimus nisi nos, quasi
non simus in nobis et aliquo recesserimus a nobis? nonne adtendis et
exhorrescis tantam profunditatem? et quid est hoc aliud quam nostra
natura nec qualis fuit, sed qualis nunc est?« 39
Das Suchen, das, anstatt zu finden, nur sich selbst in Frage gestellt
sieht, empfindet die vorgefundene Leere wie einen fast tödlichen
Schmerz: »Per pauc no m'es bo cor partitz — D'un dol corau«. Mit einer
plötzlichen Ironisierung seiner selbst scheint der Dichter sich aus seiner
unwürdigen Lage befreien zu wollen — »E no m'o pretz una soritz, per
55
PROVENZALISCHE LITERATUR
V
Amigu'ai jeu, no sai qui s'es,
Qu'anc non la vi, si m'a fut fes;
Ni.m fes que.m plassa ni que.m pes,
Ni no m'en cau,
Qu'anc non ac Norman ni Frances
Dins mon ostau.
56
NO SAI QUI S'ES — NO SAI QUE S'ES
zu tun haben. Ist diese Vermutung richtig, dann darf auch angenommen
werden, daß jenes Nichts (»nien«), das doch zugleich ein Etwas ist,
zu dem sich alle Gedanken »per negationem« kristallisieren, als »nescio
quid« bzw. dessen volksprachliches Äquivalent erscheint. Es hat bei
Wilhelm die Form des »nescio quis« (»no sai qui s'es«) angenommen,
weil er das geheimnisvolle Etwas, um das seine Sehnsucht kreist, zur
nie gesehenen Geliebten personifiziert hat. Raimbaut d'Aurenga hat
ihm seine ursprüngliche Gestalt zurückgegeben, desgleichen Aimeric
und Albert: »no sai que s'es«.
Wilhelms »no sai qui s'es« ist weniger das »nescio quid« ciceroniani-
scher Herkunft, dem erst in der Renaissance eine neue, Jahrhunderte
währende Fortuna blühen wird 41 , als das »nescio quid« der augustini-
sdien Tradition. Vergleichen wir In psalmos XC, II, 13:
41 »illud nescio quid praeclarum« (Pro A. Licinio Archia poeta oratio, 15; Pro
L. Murena oratio, 23); »... illud nescio quid tenue, quod sentiri nullo modo,
intelligi autem vix potest« — (De divinatione, II, 94); »... inest nescio quid ...
in animo meo —« (De legibus, II, 1, 3); ». . . inter honestum et turpe nimium
quantum, nescio quid immensum ... interesse« (De finibus bonorum et malorum,
IV, 70). — Zur Geschichte des »nescio quid« in Frankreich und Spanien siehe
meine Aufsätze: »Je ne sais quoi«. Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des
Unbegreiflichen, und: Der Padre Feij6o und das »no sé que«, in diesem Band.
Ferner Erich Haase, Zur Bedeutung von »je ne sais quoi« im 17. Jahrhundert.
In: Zeitschr. für französische Sprache und Literatur 67 (1956), S. 47 68. Fast
-
57
PROVENZALISCHE LITERATUR
43 Confessiones X, 40.
44 Vgl. Sermones CXXVII, 1: »Hoc nosse primitus et christiano corde tenere
debemus, non ad praesentis temporis bona nos factos esse christianos, sed ad
nescio quid aliud, quod Deus jam promittit, et homo nondum capit.« (Migne,
Patr. Lat. 38, col. 706). — Für weitere »nescio quid« - Belege s. Soliloquia I, 1;
De quantitate animae I, 69; Confessiones IV, 16 (»nescio quid magnum et
divinum«); V, 10; X, 17 (»nescio quid horrendum«).
45 Zu dieser Frage E. Haase, a. a. 0., S. 48 f.
46 Jankélévitch, a. a. 0., S. 96.
47 So wie »nescio quid« und seine volksprachlichen Ableger jahrhundertelang ein-
treten mußten zur Bezeichnung jener ästhetischen Essenz am Kunstwerk, welche
sich dem rationalen Zugriff entzieht (vgl. dazu die Anm. 41 genannten Studien).
48 Casella, a. a. 0., S. 22.
58
NO SAI QUI S'ES — NO SAI QUE S'ES
49 Mit dieser Frage hat sich, soweit wir sehen, bisher nur Rita Lejeune beschäftigt
in ihrem Aufsatz: Formules féodales et style amoureux chez Guillaume IX
d'Aquitaine (Communicazione letta all' VIII congresso di studi romanzi, Firenze
1956), S. 230.
50 R. Lejeune, a. a. O.
51 Der Sinn der beiden letzten Verse der Strophe ist dunkel. Wir haben uns für die
Deutung entschieden, die uns aus dem Zusammenhang des Gedichts heraus die
wahrscheinlichste zu sein dünkt. Zu erwägen ist auch die Interpretation Casellas
(a. a. O., S. 21): »e non ne divento geloso, perché nella mia dimora non ricevetti
mai nessun estraneo (né francese nè normanno)«, wobei allerdings unklar bleibt,
weshalb gerade dann Franzosen und Normannen herhalten müssen. Bezzola
(a. a. O., S. 297) stellt die Frage: »Est-ce une allusion au caractère peu courtois
des Normands et Français, qui chercheraient tout de suite un avantage matériel,
ou simplement au manque de fantaisie des hommes du Nord?«
59
PROVENZALISCHE LITERATUR
»anc non la vi« von Strophe V — mit dem wichtigen Zusatz: »und ich
liebe sie doch« — und variiert dann in der Terminologie des Feudalrechts
den 3. Vers der vorausgehenden Strophe (»Ni.m fes que . m plassa ni
que.m pes«) :
Anc non la vi et am la fort,
Anc no n'aic dreyt ni nom fes tort;
Ihr Anblick ist ihm durchaus entbehrlich, hat nicht den Wert eines
Hahns für ihn, denn er kennt eine Feinere und Schönere. Schon die
abschließenden Verse der dritten Strophe (»E no m'o pretz una soritz,
per sanh Marsau!«) erschienen wie ein unwilliger Ausbruch aus dem
Bannkreis der unstillbaren Sehnsucht. Der gleiche, drastisch zur Sprache
gebrachte Befreiungsversuch führt jetzt zu einer Entscheidung, denn mit
der Begründung dafür, daß er auf den Anblick der »amiga« verzichten
kann, tritt eine reale Frau in den Vordergrund. Sie ist »mehr wert«,
weil sie erkennbare, sichtbare und objektiv schöne Wirklichkeit ist. Die
bis in den Anfang der sechsten Strophe geführte, die magische Ver-
zauberung durch die Vision auch sprachlich zum Kreis schließende
Reihung der Anaphern, Parallelismen, Alliterationen und Assonanzen
ist zu Ende. Plötzlich unterbricht hier ein »sai« die Kette der »no sai«,
ein »scio« die Serie der »nescio«. Gewißheit löst die Ungewißheit ab,
die wiedergefundene konkrete Wirklichkeit den Traum, das Id-1 hat
wieder festen Boden unter den Füßen 52 . Es ist unwahrscheinlich, daß
der Dichter in der nächsten Strophe das Thema der nie gesehenen
»amiga« weitergeführt hat. Mit Jeanroy halten wir daher die von der Hs.
E eingefügte (und nur verstümmelt überlieferte) Strophe für unecht 53 .
52 In der Abkehr von der »amiga« und der Zuwendung zu der »gensor et bellazor«
erkennt man das Thema der »chanson de change«, das hier freilich auf eine
ganz andere Ebene verlagert ist.
53 No sai la luec ves on s'esta,
Si es en pueg ho es en pla;
60
NO SAI QUI S'ES — NO SAI QUE S'ES
Den Abschluß des Gedichts bildet nicht eine Tornada, sondern eine
ganze Strophe:
VII
Fag ai lo vers, no say de cuy;
E trametrai lo a selhuy
Que lo.m trametra per autruy
Lay vers Anjau,
Que-m tramezes del sieu estuy
La contraclau.
Vers i der Schlußstrophe nimmt den ersten Vers des ganzen Gedichts
wieder auf: der »vers de dreyt nien«, der jetzt beendet ist, ist ein
»vers, no say de cuy«, das »Nichts« ist ein »nescio quid«. Auf dem
Weg über einen Dritten soll das Lied an eine Person gelangen, die in
Anjou wohnt. Sie möge ihm den Gegenschlüssel zu ihrem Schrein
übersenden. Wer ist gemeint? Sicherlich eine Frau, denn weshalb sonst
der Umweg über einen Mittelsmann. Und an wen sollte das Lied dann
gerichtet sein, wenn nicht an die »gensor et bellazor« von Strophe VI?
Schwer zu deuten sind die beiden abschließenden Verse". Das »sieu«
in »del sieu estuy« ist doppeldeutig; es kann sich sowohl auf den
»vers« als auch auf die Adressatin beziehen. Vielleicht denkt der Dichter
an einen Koffer oder Schrein, der nur mit zwei Schlüsseln zu öffnen
ist 55 . Den einen besitzt er schon, der andere ist in den Händen der
Dame. An ihr, deren »Realität« sich der Dichter entschlossen zugewandt
61
PROVENZALISCHE LITERATUR
hat, liegt es nun, die »Leere« des Herzens zu füllen, dem »nescio quid«
der unstillbaren Sehnsucht Gestalt zu geben. M. Casella ist dem Sinn
dieser letzten Strophen sehr nahegekommen: »Alla dama del suo cuore
il poeta fa giungere, per vie traverse, la nota di una passione che dice
il vuoto della sua anima. La sua composizione traduce un' aspirazione
vaga e confusa, indefinita e indefinibile. La sua dama potrà determinarne
il contenuto; cioè ella darà una realtà effettiva all'oggetto intenzionale
che, in rapporto ad essa, già esiste nell'animo del poeta«56.
Jenes »Ich-weiß-nicht-was«, welches das Thema von Wilhelms Lied
ist, bildet die spiritualistische Komponente des Minnesangs, die als
unausweichliche Forderung in Konflikt mit der sinnlichen Liebe geraten
muß. Wilhelm, zutiefst betroffen von dieser neuen Erfahrung, weigert
sich entschieden, die sinnliche Natur der Weltliebe als sündig anzuerken-
nen. Für ihn gilt es, den Widerspruch aufzulösen, den unstillbaren
geistig-seelischen Anspruch in die Welt des natürlichen Triebs herein-
zunehmen und diese damit zu erfüllen. Sein vers de dreyt nien spiegelt
eine in die Liebe transponierte Dialektik von Ideal und Wirklichkeit
wider, die sich der ganzen Trobadordichtung mit ihrer spezifischen
Liebeskonzeption mitgeteilt hat, und die, als eine Entdeckung der Tro-
badors, psychologisch auch so zu fassen wäre, daß kein Mensch, den
man liebt, das totale Sinnversprechen, das er gibt, zu halten vermag,
und dieses Versprechen doch immer wieder gesucht und geglaubt wird.
Als eine von einer ausgeprägt sinnlichen Natur bestimmte Persön-
lichkeit, die es gewohnt war, ihren Leidenschaften freien Lauf zu lassen,
war Wilhelm IX. von der Macht der neuen Liebeskonzeption so heftig
berührt, daß die soeben in der Dichtung gestiftete Einheit der »fina
amor« bei ihm wieder in ihre gegensätzlichen Elemente zerfiel. »Trova-
tore bifronte« hat Pio Rajna ihn nicht ganz zu Unrecht genannt57. Für
Wilhelm ist der geistlich-asketische Rigorismus, der die Welt dem Dualis-
mus eines verordneten Sittengesetzes einerseits und einer bösen mensch-
lichen Natur andererseits preisgibt, ein Ärgernis. Aber gerade das neu-
entdeckte geistig-seelische Bedürfnis in der Liebe und dessen irrationaler
Charakter wurden ihm zu einem drängenden Problem. Die Analogie
zum undefinierbaren, visionär-mystischen »nescio quid« der augustini-
62
NO SAI QUI S'ES — NO SAI QUE S'ES
schen Tradition ließ ihn das Bild der nie gesehenen und doch stets
ersehnten »Freundin« finden, das jaufre Rudel zur Idee der »amor de
lonh« inspirierte. Seine eigene Lösung aber wird diejenige sein, die
der Doppelnatur des Menschen entspricht: die Liebe zu der Frau, die das
Wunder der seelischen und der körperlichen Erneuerung vollbringt:
Das Heil ist in der Welt selber zu finden. Der Zwang zur Alternative,
der die Struktur des »vers de dreyt nien« bestimmt, um schließlich doch
die irrationale Wirklichkeit des unbegrenzten geistigen Anspruchs in die
greifbare sinnliche Realität zu übernehmen, hebt sich auf in einer neuen
Einheit, zu der Liebender und Geliebte nur gemeinsam Zugang haben,
in der geheimnisvollen Totalität eines »nescio quid«, zu deren Erschlie-
ßung, dem profanen, emanzipierten Heilsweg der Trobadorminne, »clau«
und »contraclau« nötig sind. Wilhelms »vers de dreyt nien« ist mit
seiner eigentümlichen Spannung zwischen Wirklichkeit und Unwirk-
lichkeit kein Rätselgedicht, wohl aber ein Schlüsselgedicht der Trobador-
dichtung. Vielleicht ist aus diesem Grunde in ihm das psychologische
»nescio quid« auch zu einem ästhetischen »nescio quid« gediehen.
Es bleibt uns noch übrig, ein paar Worte über Raimbaut d'Aurengas
Gedicht Escotatz, mas no sai que s'es zu sagen. Raimbaut hat das bei
Wilhelm auf die erste Strophe beschränkte Motiv, das Lied handle von
etwas Unbestimmbarem, von einem »Nichts«, weil es zu keiner der
existierenden Gattungen gehört, zum Hauptthema gemacht:
Der Wechsel von Vers und Prosa — jede Strophe wird durch einen
Prosaabschnitt beschlossen — unterstreicht auch formal die Sonderstel-
lung des Gedichts und die Unmöglichkeit, es irgendeiner Gattung ein-
63
PR OVENZALISCHE LITERATUR
Er fenisc mo no-say-que-s'es,
C'aisi l'ay volgut batejar;
Pus mais d'aital non auzi jes
Be-1 dey enaysi apelar;
(v. 36-39)
Die inhaltliche Problematik des »nescio quid« ist bei Raimbaut stärker
auf die Ebene der Gattungsproblematik verlagert. Nach einer an-
sprechenden Vermutung von Raimbauts Herausgeber Pattison hätte
der Dichter, gereizt durch die verwirrende Zahl neu aufgetauchter Gat-
tungsnamen, eine Satire gegen die übertriebene Tendenz zur Gattungs-
differenzierung schreiben wollen. Zugleich soll Raimbauts Lied eine
Parodie auf Wilhelms vers de dreyt nien sein 59 . Das ist gewiß richtig,
aber nur zum Teil. Wie die Nennung des Senhals »Lonc Respieg«
(Str. III, Prosa) bezeugt, hat Raimbaut das Thema Wilhelms auf seine
eigene Situation übertragen. Das Problem des »no sai que s'es« ist auch
für ihn nicht nur ein formales, sondern zugleich ein inhaltliches. Die
Entscheidung für die greifbare, gegenwärtige Realität ist bei ihm jedoch,
anders als bei Wilhelm, von vornherein getroffen. Was er jetzt erblicken
und somit erkennen kann, zieht er jeder ungewissen Zukunft vor:
64
NO SAI QUI S'ES - NO SAI QUE S'ES
Sein »amic« ist nicht die irreale »amiga« Wilhelms, sondern eine
Dame, die ihm die Erfüllung seiner Wünsche versprochen hat (v. 24f.)
und die ihn jetzt mit schönen Worten hinhält, »no sai per que« (Str. III,
Prosa). Das »no sai« betrifft nur die Haltung der geliebten Frau, die
seine »domna« und sein »amic« (in Analogie zu Wilhelms »amiga«)
zugleich ist, nicht diese selbst. Ihre wirkliche Existenz reflektiert sich in
seinem Kummer und in seiner Freude:
Raimbauts Domna (= amic) hat etwas von der »arniga« Wilhelms be-
wahrt, und das Ich seines Liedes etwas von dem Ich des vers de dreyt
nien. Und noch entschlossener als Wilhelm löst sich Raimbaut in ironi-
scher Selbstdistanzierung von der Faszination durch eine Liebe, deren
Wesen es ist, durch stetigen Aufschub ihrer Erfüllung gleichsam doch die
Erfüllung einer unbegrenzten, stets über ihren Gegenstand hinauswei-
65
PROVENZALISCHE LITERATUR
67
PROVENZALISCHE LITERATUR
beiden Lieder, wie wir glauben, als ein echter Ruhmestitel des Trobadors
Gavaudan gelten 3 .
Die erste Pastourelle Gavaudans läßt, für sich betrachtet, auf keine
Fortsetzung schließen. Der erzählte Vorgang als solcher hebt sie aus der
Gattung keineswegs besonders heraus: der Ritter, identisch mit dem
Dichter, umwirbt eine zufällig in freier Natur angetroffene schöne Hirtin,
die sich schließlich den Argumenten des Mannes beugt — der sozusagen
klassische Typ der Pastourelle also, der freilich unter den provenzalischen
Vertretern der Gattung ungleich seltener ist als bei den französischen.
Näheres Zusehen läßt indessen sogleich einige wesentliche Abweichungen
von diesem oft beschriebenen »klassischen« Typ erkennen. Der Ritter
unserer Pastourelle verführt nicht, sondern überzeugt, er übertölpelt nicht
eine unbedarfte Bauernmagd, sondern erwirbt die Freundschaft eines
geistig ebenbürtigen Mädchens. Vom betont aristokratischen Charakter
der Gattung, der sozialen Distanzierung von der »vilana«, ist nicht mehr
viel zu verspüren; in der zweiten Pastourelle wird er ganz verschwinden.
Auf jede sinnlich-naturalistische Erotik ist in Handlung und Ausdruck
verzichtet; eine körperliche Liebesvereinigung wird nicht vorgeführt, auch
als Absicht kaum angedeutet.
Anders als bei sehr vielen und wohl typischen Vertretern der Gattung
tritt die Hirtin hier nicht singend und um Liebe klagend auf, sondern der
Ritter ist es, der einsam, tieftraurig und in Kummer versunken, weil von
der Liebe verlassen, der Hirtin begegnet, deren Schönheit und »süßes,
3 Eine ähnliche Auffassung hat für eine der beiden Pastourellen Gavaudans
(L'autre dia) A. del Monte vertreten: »[. . .] per essa, Gavaudan figura nella
storia della poesia« (a. a. 0., S. 112).
4 Nr. XI und XII der Edition M. de Riquer, Obras completas del trovador Cerveri
de Girona, Barcelona 1947.
5 Am leichtesten zugänglich bei J. Audiau, La pastourelle dans la poésie occitane
du Moyen-Age, Paris 1923, S. 44 ff.
68
DIE PASTOURELLEN DES TROBADORS GAVAUDAN
liebevolles Lachen« ihm den verlorenen »joy« zurückgeben. Sie hebt als
erste zu sprechen an, die noch nicht ausgesprochene Bitte mit dem offen-
bar ironisch gemeinten Hinweis ablehnend, sie wisse nicht, was »amistat«
sei (v. 17). Die Werbung des Ritters erfolgt in durchaus höfischem Stil,
der bis zum Schluß durchgehalten wird, der weder zynisch noch als Tar-
nung gemeint ist, sondern die Hirtin zur gleichberechtigten Gesprächs-
partnerin erhebt. Kein vulgärer Ausdruck durchbricht die Stillage, die
diejenige der Kanzone ist. Beherrschende Wörter sind »joy«, »amor«,
»amistat«. Nur das erste Mal spricht der Ritter die Hirtin, wie pastourel-
lenüblich, mit »toza« an, in den folgenden Strophen dagegen stets mit
»amiga«.
Gavaudan ist stark von Marcabru beeinflußt, und er hat sicher auch
dessen Lied L'autrier jost' una sebissa, die älteste überlieferte Pastourelle
überhaupt, gekannt. Die Argumente, mit denen seine Hirtin die Wer-
bung des Ritters zunächst zurückweist, verraten die gleiche Klugheit wie
diejenige der Hirtin Marcabrus. Sie kennt die Widerfahrnisse ihrer Pa-
stourellenkolleginnen, ist sich, wie die Marcabru'sche »vilana«, der Stan-
desgrenzen so sehr bewußt, daß sie sie auch ihrerseits zieht. Sie verweist
auf das bescheidene, aber sichere Glück einer Heirat in ihrem Stande, droht
dem Ritter mit tätlicher Abwehr (Str. IV), durchschaut die Skrupellosig-
keit von seinesgleichen gegenüber den Bauernmädchen und zitiert bibel-
kundig die Schwächen des weisen Salomo (Str. VI). Sie kennt auch die
Welt der höfischen Liebe mit ihren die hochgespannten Erwartungen stets
enttäuschenden Damen (Str. IV) und ist keineswegs geneigt, dem Ritter
als Trostpflaster für das trügerische Verhalten seiner Dame zu dienen.
Wenn der Marcabruschüler Gavaudan seine Hirtin schließlich gleichwohl
dem Drängen des Ritters nachgeben läßt, ohne daß Verlockungen mate-
rieller oder erotischer Art eine Rolle spielen, so sind wir wohl berechtigt,
den Gründen für diese Wendung nachzugehen und ihnen eine gewisse
Bedeutung beizumessen.
So wie sich der Vergleich mit Marcabrus Gedicht aufdrängt, so auch
derjenige mit einer der beiden Pastourellen des Guiraut de Bornelh:
L'altrier,lo primer jorn d'aost6. Wie bei Gavaudan sucht auch bei Guiraut
der Ritter Trost für die durch seine Dame erlittene Enttäuschung, wendet
6 P.-C. 242, 44; Nr. 56 der Ausgabe A. Kolsen, Sämtliche Lieder des Trobadors
Giraut de Bornelh, I, Halle 1910. Vgl. dazu unseren oben Anm. 2 genannten
Aufsatz.
69
PROVENZALISCHE LITERATUR
sich ihr aber in dem gleichen Maße wieder zu als die anfangs spröde
Hirtin sich geneigt zeigt, seinen Wünschen zu willfahren. Die Liebes-
bereitschaft der Hirtin wird zurückgewiesen, weil sie unhöfisch ist; der
Ritter zieht die Unerfülltheit der höfischen Liebe dem Erfolg bei einer
»vilana« vor. Was in diesem Lied unvereinbar, durch Welten getrennt
erscheint, so wie — nur mit von unten statt von oben her gezogenen
Grenzen — auch bei Marcabru, nämlich hohe und niedere Minne, ist bei
Gavaudan vermittelt und versöhnt.
Die Meinungsänderung der Hirtin in Gavaudans erster Pastourelle ist
nicht so überraschend, wie es auf den ersten Blick hier erscheint. Der
Dialog stellt nicht eine Auseinandersetzung dar, sondern die Hirtin ver-
anlaßt den Ritter, sich auszusprechen, zu bekennen, sich festzulegen.
»joy« — von seiten des Ritters — und »amistat« — von seiten der Hirtin —
ergeben die gemeinsame Verständnisebene. »Joy«, der Glücksanspruch
und die Glückserwartung, als höfischer Wert, aber ohne dessen unlösbare
Spannung, legitimiert die Werbung des Ritters:
70
DIE PASTOURELLEN DES TROBADORS GAVAUDAN
hochstrebender, aber nie realisierbarer Liebe ernst ist, ernst auch in dem
Sinne, daß er die seelischen Werte der höfischen Liebe auf das neue
Ziel überträgt. Der »joy«, den der Ritter erwartet, erscheint sogleich als
von der inneren Teilhabe der Hirtin bedingt. Die Werbung stellt sich,
ganz und gar höfisch, als Unterwerfung des Dienstmannes unter den
Willen der Frau dar, der selbst das übel in Glück verwandelt:
Es ist ein Argument, das im Leben nichts für sich hat als die Über-
zeugung dessen, der es vertritt. Der Ritter hat diese Erfahrung bei seiner
höfischen Dame bereits gemacht und wird sie, wie wir der zweiten
Pastourelle entnehmen, noch ein weiteres Mal machen müssen. Abseits
von der Welt der Gesellschaft aber, fern von ihren Gesetzen, hat der Satz
noch Gültigkeit, daß gute Liebe Gegenliebe nicht nur verdiene, sondern
auch finde. Die Glückserwartung des »joy« hat Anspruch auf »merce«
(v. 61); die Hirtin unterbindet jede weitere Auseinandersetzung:
71
PROVENZALISCHE LITERATUR
Die Gegenliebe, die echter Liebe zuteil wird, hat mit dem üblichen
Pastourellenabenteuer nichts mehr gemeinsam. Der Verzicht der Hirtin
auf ihren »erguelh« bezeichnet nicht die Schwäche des Landmädchens im
Gegensatz zur höfischen Dame, sondern korrigiert das Verhalten dieser
letzteren. Ihre Hingabe erfolgt unter der einzigen Bedingung der
Gegenseitigkeit ihrer Freundschaft, die sehr klar beide Partner auf die
gleiche Wertebene stellt und somit im Wunschland der erwiderten Liebe
alle ständischen Unterschiede aufhebt:
Auch die Hirtin sieht die Sinngebung ihres Lebens im »joy«. Sie folgt
der höfischen Anschauung, daß, wer ohne Liebe lebt, nichts wert ist:
72
DIE PASTOURELLEN DES TROBADORS GAVAUDAN
7 P.-C. 194, 15; Nr. VII der Sammlung Audiaus (s. oben Anm. 5).
8 Dieses letzere Motiv greift Cerveri de Girona in seinen Anm. 4 erwähnten Pa-
stourellen wieder auf.
9 L'autre dia, per un mati
Trespassava per un simelh,
E vi, dejos un albespi,
Encontral prim ray del solelh,
Una toza quem ressemblet
Sylh cuy ieu vezer solia;
(v. 1-6)
73
PROVENZALISCHE LITERATUR
ihm Augen und Gesicht. Fast ohnmächtig wird der Ritter vor Glück, als
ihre Haare ihn berühren — eine recht ungewöhnliche Regung für einen
Pastourellengalan. Und ungewöhnlich ist auch beider Bekräftigung, daß
Gott es war, der sie wiedervereinte:
Der Ritter war, so ist seinen Worten zu entnehmen, nach der ersten
Begegnung mit der Hirtin wieder zu seiner Dame zurückgekehrt und hat
sie abermals verloren". Er kann dieses Geständnis ablegen, weil das
Verhalten der Hirtin ihm volles Vertrauen gibt:
In der Tat ist die Liebe der Hirtin unverändert; sie hatte es so kommen
sehen, denn sie kennt das Gebaren der höfischen Damen. Sie hat darunter
gelitten, hat Tag und Nacht gewacht seit ihrer Trennung. Verflucht sei,
wer den Freund so lange fernhielt, wenngleich vergebens, denn fester als
je ist ihre Verbindung". Dem Ritter, den offenbar dieselben Gründe zu
10 Amors m'a tout so quem donet,
Selha que mout m'abellia:
Ar no sey vas on se ria,
Per qu'anc res pueys nom conortet
(v. 29 ff.)
11 Senher, tan say d'aquest lati,
Per que la nuech cossir e velh:
Anc pueys, pus de vos me parti,
Si mey huelh no preyron somelh,
Mal o fey qui tan vos lonhet,
E res sos faitz non l'embria,
Que la nostra companhia
Estara mielhs qu'anc non estet.
(Str. V)
74
DIE PASTOURELLEN DES TROBADORS GAVAUDAN
Die Freundschaft der Hirtin vermag zu halten, was der höfische Minne-
dienst nur verspricht: »Joy de cambra en pastori«. Das Ideal höfischer
Liebe realisiert sich in der ländlichen Idylle, und dies kann nur geschehen,
weil der Ort gefunden ist, an dem die Menschen jedes gesellschaftlichen
Zwangs ledig, von der geltenden Moral unabhängig, sich aus freiem
Willen füreinander entscheiden können — der Ort, an dem der Liebesgott
gegen kein Gesetz verstößt, wo sein Wirken frei ist von Sünde:
Hatte die Hirtin in den Schlußversen der ersten Pastourelle noch vor
den gefährlichen Verleumdern gewarnt 12, so trotzt sie jetzt entschlossen
jedem Tadel an ihrem Verhalten:
12 Senher, e vos non o digatz,
Si tot dur cor adomesjatz,
Als paniers, gola de las tenc.
(Str. X, Tornada)
75
PROVENZALISCHE LITERATUR
15 A. del Monte hat hier richtig gesehen: »Il prato k il luogo incantato, in cui i
due possono godere liberamente il loro amore, non impediti da nulla [...] una
specie di paradiso terrestre [...]« (a. a. 0., S. 112).
76
DIE PASTOURELLEN DES TROBADORS GAVAUDAN
»vilana«, als Angehörige des niedrigsten Standes, den Charakter des frei
Verfügbaren und daher Realisierbaren — im Gegensatz zu der immer
höhergestellten und unerreichbaren »domna«. So können in Gavaudans
Pastourellen Ideal und Wirklichkeit für einen Augenblick poetisch glaub-
würdig zusammenrücken. Auch die Pastourellenbegegnung ist Fiktion,
aber eine Fiktion, welche auf Grund der ständischen Hierarchie eine stets
realisierbare Möglichkeit gegen die Unmöglichkeit stellt, sich mit der
Gegenliebe der »domna« des Ranges des Hofherrn zu versichern. Als
»objektives« lyrisches Genre mit narrativem Charakter erhält die Pastou-
relle von der Ich-Form, der in der Kanzone nur die Wahrheit des subjek-
tiven Meinens eignet, von dem als erlebten Vorgang Erzählten den
Anschein der Wahrheit. Das Präteritum der Pastourelle verbürgt real
Geschehenes und Vollzogenes, das Präsens der Kanzone dagegen nur den
Zustand nie erfüllter Hoffnung. Gavaudans Lieder erstellen, indem sie
den hohen Anspruch der »fin' amor« mit dem Vollzug des Pastourellen-
abenteuers vereinigen, eine Wunschwirklichkeit, die auch den wirklich-
keitsnahen Vorgang der Begegnung mit einer Hirtin in das Reich der
Phantasie entrückt, und die schließlich, wie das mittellateinische Gedicht
De Somnio und nach ihm Walthers von der Vogelweide Nemt, frowe,
disen kranz deutlich machen, selbst in der Dichtung nur noch als Traum-
erlebnis »wahr« sein kann". Es ist die Synthese des realiter Unverein-
baren: »joy de cambra en pastori«. Darin liegt der illusionäre, ja uto-
pische Grundzug von Gavaudans Pastourellen, der in die Vorstellung
eines arkadischen Lebensraumes und eines irdischen Paradieses ein-.
mündet. Utopisches aber hat seinen Ausgangspunkt stets in den Anti-
nomien der Realität.
Der utopische Charakter wohnt als bestimmendes Element der Fiktion
der Pastourellenbegegnung selber inne: ihr Ort ist überall und nirgends.
Und utopisch wie der Gedanke eines »joy de cambra en pastori« ist
16 Das Gedicht De Somnio, von dem »anänim enamorat« der Dichterschule von
Ripoll im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts verfaßt, hat so viele Züge mit der
volkssprachlichen Pastourelle gemeinsam, daß es sich aus der mlat. Tradition
allein nicht erklären läßt (vgl. M. Delbouille, Les origines de la pastourelle,
Bruxelles 1926, S. 30 ff.). Mit guten Gründen weist ihm P. Wapnewski einen wich-
tigen Platz in der Vorgeschichte von Walthers Nemt, frowe, disen kranz zu:
Walthers Lied von der Traumliebe (74, 20) und die deutschsprachige Pastourelle.
In: Euphorion 51 (1957), S. 144 ff. Der auch von Wapnewski abgedruckte Text
zuerst ediert von L. Nicolau d'Olwer, L'escola poètica de Ripoll en els segles
X—XIII. In: Anuari de l'Institut d'Estudis Catalans, vol. VI, Barcelona 1923, Nr. 26.
77
PROVENZALISCHE LITERATUR
78
DIE PASTOURELLEN DES TROBADORS GAVAUDAN
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PROVENZALISCHE LITERATUR
Gattung sind, in denen der Hirtin die Anrede »amiga« zuteil und sie
damit zu einer Verkörperung jenes weiblichen Ideals wird, das schon
Wilhelm IX. im Wachtraum seines rätselhaften Liedes Parai un vers de
dreyt nien vor Augen stand, das er »amiga« nannte im Gegensatz zur
»domna«, und von dem er sich, weil unerreichbar, irreal, unter Schmerzen
trennte, um sich wieder seiner höfischen Dame zuzuwenden, die wirk-
licher erschien als das ungreifbar ferne Ziel seiner unstillbaren Sehn-
sucht 20 . Es ist durchaus möglich, daß bei Wilhelms Idealbild der »amiga«
sowohl die »amica« der lateinischen Liebesdichtung wie diejenige des
Hohenliedes Patin gestanden haben. Noch mehr scheint uns dies bei der
»amiga« Gavaudans zuzutreffen. Die Hoheliedworte: »ut inveniam te
foris, et deosculer te, et jam me nemo despiciat (VIII, 1) könnten als Motto
über dem Verhalten unserer Hirtin stehen 21 . Wie dem sei: in der »ami-
stat« von »amic« und »amiga« sind enge Vertrautheit und Rücksicht-
nahme, vorbehaltlose Hingabe und gegenseitige Anerkennung, körper-
liche und seelische Lust und geistige Erfüllung beschlossen. »Hohe« und
»niedere« Minne sind zu harmonischem Ausgleich gebracht.
Unsere Betrachtung hat zu einem Punkt geführt, von dem aus sich der
Blick auf Walthers Nemt, frowe, disen kranz aufdrängt. Peter Wap-
newski hat in seiner schönen Studie über Walthers Lied von der Traum-
liebe (74, 20) und die deutschsprachige Pastourelle 22 die überzeugendste
Interpretation dieses mit Recht vielgepriesenen Liedes geboten. Fast alle
wesentlichen inhaltlichen und strukturellen Elemente, auf denen nach
Wapnewski die Originalität von Walthers Lied beruht, finden wir be-
reits bei Gavaudan. Für beide Dichter sind charakteristisch die opfer-
bereite natürliche Liebesbereitschaft des Mädchens aus dem Volke und
das gegenseitige Vertrauen der Partner. Freilich, die Zuwendung der
provenzalischen Hirtin ist nicht von vorneherein so selbstverständlich
wie diejenige der »maget«, das Bekenntnis zu ihrer Liebe ist dafür auch
prononcierter, weil der Begründung bedürfend. Der Symbolik des Kranz-
20 P.-C. 183, 7. Vgl. dazu unseren Aufsatz: No sai qui s'es — No sai que s'es, in
diesem Band.
21 Es sei daran erinnert, daß kein Jahrhundert sich so für das Hohelied begeisterte
wie das 12., »das mehr Hoheliederklärungen hervorgebracht hat als das bis
dahin abgelaufene Jahrtausend insgesamt« (F. Ohly, Hohelied-Studien. Grund-
züge einer Geschichte der Hoheliedauslegung des Abendlandes bis um 1200,
Wiesbaden 1958, S. 7). Auch P. Wapnewski meint, »daß gerade der inbrünstige
auffordernde Ton in manchen Pastourellen nicht zu verstehen ist ohne das Vor-
bild des Canticum Canticorum« (a. a. 0., S. 142).
22 S. Anm. 16.
80
DIE PASTOURELLEN DES TROBADORS GAVAUDAN
23 Daher würden wir die Apostrophierung der »tougen minne« in Walthers Lied
nicht als bloße »Konzession an das Ideal höfischer >mâze«< (Wapnewski, S. 125)
verstehen, sondern — wie den »joy de cambra« Gavaudans — als eine Bedingung
jener »Verschmelzung der beiden sozialen und kulturellen Sphären«, die Wap-
newski selbst mit Recht als typisch für Walther ansieht.
81
PROVENZALISCHE LITERATUR
flüssig macht. Die Irrealität aber, die dem Traum innewohnt, und die bei
Walther denn auch die Ahnung verspüren läßt, daß jenes Ideal einer
zwischenständischen menschlichen Glücksfindung illusionär ist, in der
Resignation angesichts einer dem Ideal sich hart verweigernden Lebens-
wirklichkeit zum Ausdruck gelangt24, haben wir bereits in Gavaudans
Pastourellen, noch in dem genetisch vorausliegenden, daher noch opti-
mistischeren Stadium einer mit bukolisch-utopischen Elementen aus-
gestatteten Wunschwirklichkeit erkannt. Das ritterliche Ich von Walthers
Pastourelle sucht im Leben die »maget« vergeblich, die ihm im Traum,
sich dort zugleich als huldvolle »frowe« darbietend, das höchste Glück
geschenkt hat. Den Ritter Gavaudans beraubt noch kein Erwachen der
Illusion, daß dieses Glück im Bereich des Möglichen liege. Einzelmotive,
aus denen jene für realisierbar erachtete Wunschwelt sich zusammen-
setzt, sprechen allerdings, wie wir gesehen haben, eine andere Sprache,
die den harmonistischen Lösungsversuch widerlegt. In dieser Zwiespältig-
keit aber, die wir in sublimierter Gestalt auch bei Walther wiederfinden,
und im Maß ihrer dichterischen Bewältigung ist der hohe Rang begrün.-
det, den Gavaudans Pastourellen in der Geschichte der Gattung ein.-
nehmen.
Marcabru hatte die Richtung gewiesen. Seine eigenwillige Gestaltung
des Pastourellenthemas zeitigte die Folge, daß die provenzalische Pa-
stourelle — anders als die französische — nicht mehr aus dem engeren
Einflußbereich der höfischen Liebesproblematik und ihrer besonderen
Dialektik von Ideal und Wirklichkeit entlassen wurde. Schon in Gavau-
dans Gedichten ist der Grenzfall des so neubestimmten Genres erreicht
und damit die Selbstaufhebung der Gattung vollendet. Gavaudan nahm
den großen Versuch Walthers vorweg — wir bedienen uns nochmals
der Worte Wapnewskis (S. 156) —»die Minnekanzone aus ihren ver-
stiegenen Höhen herunter auf die Erde, die Pastourelle aus triebhafter
Niederung herauf auf die Erde zu zwingen«. Nach diesen Feststellungen
tragen wir keine Bedenken mehr, Gavaudan die Sonderstellung zu be-
scheinigen, die er sich selber einzuräumen wagte: »Eu no suy pars als
autres trobadors«25.
82
II. FRANZÖSISCHE LITERATUR
Es kann nicht der Sinn dieses Vortrags sein, eine Art von Systematik
der Literatursoziologie oder eine Methodologie zu entwerfen. Meine
Absicht ist es vielmehr, an ein paar ausgewählten Beispielen aus ver-
schiedenen Epochen einige Möglichkeiten soziologischer Interpretation
der literarischen Phänomene zu demonstrieren. Um diese Versuche —
denn um solche handelt es sich — methodologisch zu begründen, ist es
allerdings nötig, unseren Standpunkt zu bestimmen, d. h., in aller ge-
botenen Kürze einige allgemeine grundsätzliche Probleme zu erörtern.
Wir stellen nicht die Frage, ob die Literatursoziologie eine eigene,
selbständige Methode der Literaturkritik darstellt. Ihre Daseinsberech-
tigung wird heute selbst von denjenigen anerkannt, die ihre Anwendung
verschmähen. Es ist offenkundig, daß viele Kritiker, und nicht zuletzt
die akademischen, der Literatursoziologie feindselig gegenüberstehen
und ihren Geltungsanspruch auf ein Minimum begrenzen möchten. Ein
so bedeutender Kritiker wie der große Philologe E. R. Curtius verweist
auf die großen »Brüche und Sprünge« in der Geschichte der Literatur
und bedeutet dem Leser, die Forschung müsse sich mit der bloßen Fest-
stellung dieser »Brüche und Sprünge« bescheiden. »Natura facit saltus«.
Hier wird auf eine Erklärung verzichtet, die freilich nur von der Einsicht
in den dialektischen Prozeß der Gesellschaftsgeschichte gegeben werden
kann'. Wo die Natur letzte Instanz ist, hat die Wissenschaft ihr Recht
1 Vgl. die Kritik von Werner Krauss in seinem grundlegenden Aufsatz: Literatur-
geschichte als geschichtlicher Auftrag. In: W. Krauss, Studien und Aufsätze, Berlin
1959, S. 58 ff.
83
FRANZÖSISCHE LITERATUR
verloren. Der Erkenntnisverzicht erfolgt aus der Sorge heraus, die »Frei-
heit der schöpferischen Entwicklung« und die individuelle künstlerische
Tat könne sich unter den Händen der Literatursoziologie in Nichts auf-
lösen. Es ist seltsam zu sehen, wie bedeutende Kritiker mit umfassender
historischer Bildung nicht von der Angst loskommen, die Literatur-
soziologie mache das künstlerische Individuum zu einer bloßen Funktion
einer alles determinierenden Kollektivität. Die Entfremdung von Indi-
viduum und Gesellschaft in der Ära des Kapitalismus und der ver-
zweifelte Kampf des Individuums gegen diese Gesellschaft liefert diesen
Kritikern das Grundschema für eine Auffassung der Kulturgeschichte,
welche die große geistige Tat nur als eine Tat der schöpferischen Freiheit
gegen die Gesellschaft, einer nahezu absoluten Freiheit von der Gesell-
schaft, verstehen kann. Wir halten dem ein Wort Hegels entgegen:
»Es sind die Individuen, die dem Weltgeist die Kastanien aus dem Feuer
holen«. Auch die Feindschaft gegenüber der Gesellschaft ist von dieser
letzteren bedingt. Hinter dem Unbehagen, das so viele Kritiker gegen-
über der historisch-dialektischen Soziologie empfinden, verbirgt sich
oft unbewußt die Angst, daß mit der Erkenntnis des historischen Pro-
zesses auch die historische Bedingtheit der eigenen Position, vor allem
der eigenen Wertehierarchie enthüllt wird.
Bleiben wir noch einen Augenblick bei den Kritikern. Viele anerken-
nen die Soziologie als fruchtbare Methode auf dem Gebiet des literari-
schen Geschmacks, ja gestehen ihr gerade im Hinblick auf den Publi-
kumsgeschmack dort einen gewissen Vorrang zu, wo es sich um die
Deutung von literarischer Massenware oder allgemeiner um schlechte
oder mittelmäßige Literatur handelt. Das große Kunstwerk aber —
das ist ein Axiom dieser Kritiker — entzieht sich jeder rationalen Er-
klärung, bleibt Geheimnis, dem man sich nur in »immanenter« Inter-
pretation nähern, und das man nur nachempfinden kann. Die Freiheit
des schöpferischen Individuums muß vor dem historischen Zugriff ge-
schützt werden.
Auf die Gefahr hin, mit einem Anathem belegt zu werden, halten
wir an unserer Überzeugung fest, daß es sich mit dem Geist der Poesie
nicht so verhält wie mit dem Heiligen Geist, der bekanntlich bläst,
wann und wo er will. Wir glauben vielmehr: das Genie ist — in seinem
jeweiligen Bereich — die Summe der Möglichkeiten seiner Zeit. Sie zu
realisieren ist seine Freiheit. Diese Formel impliziert die Konsequenz,
daß auch das große, überragende Kunstwerk sich nicht dem Zugriff
84
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
85
FRANZÖSISCHE LITERATUR
tursoziologie, die ernst genommen sein will, kann nicht den eigenen
Sinnzusammenhang der Literatur, das Beharrungsvermögen ihrer For-
men und die Schwerkraft der von ihr erstellten Ideale verleugnen. Es
wäre naiv zu glauben, daß jede Veränderung, die im Unterbau der
Gesellschaft vor sich geht, sich in der Kunst sogleich in neuen Themen
und Formen niederschlagen müsse. Solche Veränderungen vermögen
den bereits vorhandenen Bestand an literarischen Formen, Themen und
Motiven und das Maß von deren Fähigkeit zur Rezeption von Neuem
erst dann zu sprengen, wenn sie den Charakter eines geschichtlichen
Umbruchs tragen. An solchen Wendepunkten der Geschichte brechen
die Impulse des Unterbaus sichtbar durch die traditionell und ideologisch
verfestigten Formen, Stile und Wertbegriffe der Literatur. Ihre fast
unmittelbare Wirkung ist besonders dann deutlich und faßbar, wenn
sie sich in neuen literarischen Stilen und Gattungen niederschlagen und
mit ihnen zugleich ein neues Welt- und Menschenbild geboren wird.
In diesen Fällen kann mit Evidenz nachgewiesen werden, wie sich ob-
jektiv bestimmbare Sachverhalte des ökonomisch-sozialen Unterbaus, der
konkreten geschichtlichen Wirklichkeit, in Strukturelemente der Kunst
verwandeln und die überlieferten Formen verdrängen. Ich möchte dies
anhand eines Beispiels aus der Literatur des Mittelalters verdeutlichen3.
In die Mitte des 12. Jahrhunderts fällt in Frankreich — wir bedienen
uns einer Formel Marc Blochs — der Übergang vom »ersten zum
zweiten feudalen Zeitalter«, die »prise de conscience« des Rittertums,
das von einer »classe de fait« zu einer »classe de droit« wird. Dieser
Übergang fällt zusammen mit der ständischen Differenzierung des lite-
rarischen Publikums und, daraus resultierend, des literarischen Stils:
der höfische Roman wird geboren und verdrängt die Chanson de geste.
Das Strukturprinzip des höfischen Romans ist die Aventure — Form
der Existenz und zugleich Sinn der Existenz für den höfischen Ritter;
im Artusroman eines Chrétien de Troyes Bewährung des ritterlichen
Individuums und Ordnungs- oder Befreiungstat für die Gesellschaft
und deren monarchisches Zentrum, den Hof, der ohne jene Taten hilflos
wäre. Es kann nun kaum einen Zweifel darüber geben, daß die ökono-
misch-soziale Basis des Aventure-Begriffs die Lage des besitzlosen
3 Zum Folgenden s. mein Buch: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik.
Studien zur Form der frühen Artus- und Graldichtung, Tübingen 1956 (=--- Bei-
hefte zur Zeitschr. f. roman. Philologie, 97).
86
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
niederen Ritters war, des »chevalier errant«, der von Hof zu Hof zog,
seinen Arm dem jeweils Kriegführenden lieh, um leben zu können.
Man versteht leicht, daß die Aventure zur Legitimation des ständischen
Lebensanspruchs derer werden konnte, die von ihr leben mußten, und
daß sie demzufolge eine ethische und ästhetische Idealisierung erfuhr,
potenziert durch die Verbindung mit der neuen Liebeskonzeption der
Trobadors. Damit aber die Aventure zum Leitbild des ganzen Ritter-
tums werden konnte, bedurfte es des Consensus der hochfeudalen
Schicht. Dieser letztere konnte erfolgen, weil die Hochfeudalität in
ihrer Auseinandersetzung mit dem zentralistischen Königtum einer neuen.
Verbindung mit den niederen Schichten des Adels bedurfte. Die Aven-
ture war Ideal der Reintegration des ganzen Standes; die Idee der höfi-
schen Liebe verknüpfte sie unlöslich mit den höfischen Zentren der
Territorialfürsten. Der höfische Roman lebt von den ökonomischen und
sozialen Widersprüchen innerhalb des Ritterstandes selbst und verdankt
ihnen seine Entstehung.
Fünfzig Jahre später ist die Fähigkeit der neuen Ideale, die Wider-
sprüche zu harmonisieren, überfordert. Die weltliche Legitimation des
geschichtlichen Führungsanspruchs des Rittertums ist in der Krise um
1200, die politisch zugunsten der kapetingischen Monarchie entschieden
wird, unhaltbar geworden. In der Gattung des Artus- und Gralromans,
in welcher jene Widersprüche ihren sublimsten Austrag und ihre ästhe-
tisch überzeugendste Harmonisierung gefunden haben, weicht die Legi-
timation durch die weltlichen Ideale einer eschatologischen Legitimation.
Die profane »Aventure« wird religiöse »Queste«. Die höchste Aventure
ist jetzt die des Grals, mit dessen Auffindung sich der Sinn der Ge-
schichte erfüllt und die ritterliche Welt folgerichtig mit dem Untergang
des nun seines Sinns beraubten Artusreichs in ihr Crepusculum eintritt.
Die geschichtliche Wirklichkeit wird als eine chaotische Welt repro-
duziert, in der sich die vorher so ideal dargestellte Feudalgesellschaft
des Artusreichs selber zerstört. Die literarischen Werke, in denen dies
geschieht, stellen eine neue Gattung dar: die des Prosaromans. Die
politische Krise um 1200 verweist die fiktive Welt des höfischen Vers-
romans in das Reich der Lüge und erkennt den Anspruch auf Wahrheit
nur noch der Prosa zu 4 . Der Schauplatz dieser Romane ist immer noch
87
FRANZÖSISCHE LITERATUR
eine Welt, in der nur das Rittertum zu existieren scheint. Aber die im
antifeudalen Bündnis des Königtums mit den Städten und mit Einfluß
der bürgerlichen Funktionäre der Königsgewalt gefährlich gewordene
und nicht mehr zu ignorierende Existenz der nicht-ritterlichen Schichten
findet Ausdruck in einer neuen Struktur des Romans. Die Totalität des
geschichtlichen Zustands ist komplex geworden. An die Stelle der uni-
linearen Handlung, in deren Zentrum der eine Protagonist stand, tritt
eine Mehrzahl von Helden. Auch die Welt der Fiktion ist jetzt plura-
listisch und sie verlangt eine neue literarische Technik: das sogenannte
»entrelacement«, d. h. die Verknüpfung von gleichzeitigen Parallelhand-
lungen.
Ohne den Gegenstand auch nur annähernd erschöpft zu haben, hoffe
ich doch, mit diesem Beispiel gezeigt zu haben, wie an einem geschicht-
lichen Wendepunkt die grundlegenden Veränderungen des gesellschaft-
lichen Unterbaus auch einen Umbruch in der Tradition der literarischen.
Formen, Stile und Gattungen bewirken. Es scheint mir eine der wich-
tigsten Aufgaben einer soziologisch orientierten Literaturgeschichts-
schreibung zu sein, gerade diese Wendepunkte zu untersuchen und von
hier aus zu einer exakten Periodisierung der Literaturgeschichte zu
gelangen. Es ist fast überflüssig zu sagen, daß auch eine ganze Reihe
von Spezialstudien hier ansetzen müßte, so zum Beispiel Vorunter-
suchungen für eine dringend nötige Ästhetik der literarischen Gattungen.
Diese letztere müßte nicht allein von der selbstverständlichen Wahr-
heit ausgehen, daß die Möglichkeiten der Kommunikation zwischen
Autor und Publikum materiell begrenzt sind, sondern vor allem auch
von der Tatsache, daß bis zur französischen Revolution die Stil- und
Gattungsgrenzen mit den Standesgrenzen zusammenfallen. Grundlegend
ist ferner, daß mit dem Untergang der Ständegesellsdiaft des Ancien
Régime dieser Zusammenhang infolge des Dynamismus der modernen
bürgerlichen Gesellschaft zwar undurchsichtig geworden, aber darum
noch nicht beseitigt worden ist. Der anhaltende Versuch der modernen
Literaturwissenschaft, die Gattungsgesetze allein auf apriorische Kate-
gorien festzulegen, verrät die Verlegenheit angesichts dieser verwirren-
den Grenzverwischung nicht weniger als die radikale Leugnung der
Gattungen in der Ästhetik Benedetto Croces.
Wenn durch die Veränderungen des Unterbaus die Widersprüche
innerhalb der Gesellschaft einen Punkt erreicht haben, da sie im Bereich
des literarischen Oberbaus nicht mehr aufgefangen werden können,
38
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
89
FRANZÖSISCHE LITERATUR
5 Vgl. meine Aufsätze: Die Rolle des niederen Rittertums bei der Entstehung der
Trobadorlyrik; und: Zur Struktur der altprovenzalischen Kanzone. Beide in
diesem Band.
90
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
91
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Die Handlung der Astrée vollzieht sich in einer Welt, die trotz ihrer
präzisen räumlichen und zeitlichen Lokalisierung nie existiert hat, nie
existieren konnte und nur künstlich für Stunden im Schäferspiel der
Gäste des Hôtel de Rambouillet zum Leben erweckt wurde. Trotzdem
konnte d'Urfé seine Astrée als einen Erziehungsroman für die mondäne
Gesellschaft seiner Zeit konzipieren. Bereits diese Absicht aber impliziert
eine Verkehrung dessen, was die Bukolik ursprünglich und wesentlich
war: der wenigstens in der Kunst realisierte Wunschtraum vom Goldenen
Zeitalter und seiner Freiheit. Die arkadischen Hirten eines Sannazaro
hatten noch in einer Welt gelebt, in der es — ähnlich der Abtei Thélème
Rabelais' — nur ein Gesetz gab, nämlich die Freiheit vom Gesetz. Voll-
kommene Liebesfreiheit und Absenz eines Sündenbewußtseins, das erst
durch Gesetze in die Welt tritt, kennzeichnen das Goldene Zeitalter. Aber
schon über Torquato Tassos Arkadien, das nur noch ein Abglanz des
Goldenen Zeitalters ist, liegt der schwere Schatten der Konventionen: die
Tyrannei der »Ehre« ist die Feindin der Liebesfreiheit. Und wenn Tasso
noch als obersten Grundsatz der Hirtenwelt formuliert hatte: »S'ei piace,
ei lice« — »erlaubt ist was gefällt«, — so wandelt Guarini unter dem
Eindruck der Gegenreformation diesen Grundsatz in seinem Pastor fido
um in die Formel: »Piaccia, se lice« — »Es soll gefallen, was erlaubt ist«.
Der Geist, der in der Astrée des Honoré d'Urfé herrscht, könnte auf die
Formel gebracht werden: »Es soll gefallen, was vorgeschrieben ist.«
Damit ist die ideale Wunschwelt der arkadischen Freiheit in ihr Gegenteil
verkehrt. Wir müssen diesen Vorgang kurz erläutern.
Auf den ersten Blick ist die Welt der Astrée die gleiche wie diejenige
der älteren Vertreter dieser Gattung: die Hirten leben frei von äußerem
Zwang und von jeglicher Not. Wirkliche Arbeit ist so unbekannt wie der
Krieg. Einziger Lebensinhalt ist die Liebe. Bei näherem Zusehen werden
wir jedoch grundlegender Veränderungen gegenüber der arkadischen
Tradition gewahr. Die friedliche Gesellschaft, die d'Urfé im 5. Jahr-
hundert an den lieblichen Ufern des Lignon ansiedelt, ist in Analogie zur
zeitgenössischen Gesellschaft hierarchisch gestuft. Die Nymphen reprä-
sentieren den Hochadel, die Druiden den Klerus, die Hirten Adel und
Bürger in allen Stufen. Das Volk existiert überhaupt nicht. Die huma-
nistische Parole vom Glück des »procul negotiis« ist fast unmerklich in
die Forderung des Verzichts auf jeden politischen Ehrgeiz verwandelt.
Über allem thront Gott Amor als absoluter Souverän. Er erläßt zur
Ordnung des Lebens die zwölf Liebesgesetze, deren letztes jedes Ver-
92
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
93
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Honoré d'Urfé war jedoch mehr als nur ein gutgesinnter Propagandist
des absolutistischen Ordnungsstaates, der auf seine Weise das Werk
eines Jean Bodin und der Gruppe der sogenannten »Politiques« fort-
setzte; er war zugleich ein bedeutender Schriftsteller. Er hat auch den
Widerspruch des individualistischen Freiheitstriebs gegen die normative
Regulierung des Lebens eingeführt. Die Gestalt des Hylas, in dem La
Fontaine den »véritable héros de l'Astrée« sah, »plus nécessaire dans le
roman qu'une douzaine de Céladons« 7, vertritt die Idee der vollkomme-
nen Liebesfreiheit des Goldenen Zeitalters. Hylas verbindet den indi-
vidualistischen Optimismus der Renaissancehumanisten mit den Liber-
tins des 17. Jahrhunderts. Hylas aber findet die strengste Strafe, die ihm
blühen kann: er muß heiraten.
Noch einmal haben in der Astrée die Vorstellungen vom Goldenen
Zeitalter und von Arkadien zur Erstellung einer literarischen Wunschwelt
beigetragen, welche die Möglichkeit einer Gesellschaft vorspiegelte, in
deren Bereich der Mensch noch zur widerspruchslosen Einheit seines
ursprünglichen Wesens zurückfinden konnte. Nur weil auch jetzt noch
Leben und Liebe identisch sind, kann die Illusion erweckt werden, daß
individuelles Freiheitsverlangen in einer dekretierten Ordnung zur Er-
füllung gelangen kann. In Wahrheit wird in der Astrée das Prinzip der
individuellen Freiheit definitiv dem Prinzip der normativen Ordnung
geopfert und die dialektische Thematik des Schäferromans mit dieser
Umkehrung zu Ende geführt. Wir verstehen jetzt, wieso eine literarische
Gattung, deren Ende mit dem Ende der Epoche, die sie entstehen ließ,
gekommen schien, noch die Grundzüge für das Menschen- und Gesell-
schaftsbild der kommenden Epoche erstellen konnte. Mit der Erfüllung
dieser transitorischen Aufgabe, mit welcher der Schäferroman seine
eigene raison d'être widerlegte, war auch sein Schicksal besiegelt. Charles
Sorel parodiert in seinem Berger extravagant eine Gattung, die nur noch.
ein krankhaftes Bedürfnis nach Wirklichkeitsflucht zu befriedigen ver-
mochte.
Kehren wir jetzt für einen Augenblick zu der vorhin gestellten Frage
nach der vermeintlichen Wirklichkeitsferne der literarischen Fiktion zu-
rück. Die arkadische Hirtenwelt der Astrée scheint durch Abgründe von
der französischen Wirklichkeit zu Beginn des 17. Jahrhunderts getrennt,
94
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
und doch haben wir gesehen, wie die wesentlichen Charakterzüge dieser
Wirklichkeit sich im Bereich der Fiktion, sich der traditionellen Motive,
Themen und Formen bedienend, wiederfinden, ja sogar in einer so klaren,
eindeutigen Art, wie sie in jener Wirklichkeit kaum zu entdecken war.
Erinnern wir uns hier an das Wort Schillers (im Briefwechsel mit Goethe),
»daß eine poetische Darstellung mit der Wirklichkeit eben darum, weil
sie absolut wahr ist, niemals koinzidieren kann« 8 • Dieser Satz enthält
mehr als die bloße Zurückweisung einer naturalistischen Ästhetik. Er
besagt, daß die Wirklichkeit verfremdet werden muß, wenn die Kunst
deren eigentliches Wesen zur Erscheinung bringen soll. Die Darstellung
des Wesens aber bedeutet, wie uns Hegel gelehrt hat, die Bewältigung der
Totalität der jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit. Die Kunst kann diese
Aufgabe — wie uns Lukäcs gezeigt hat 9 — nur in dem Grade meistern,
als sie die extensive Totalität in die intensive Totalität des geschlossenen
Sinnzusammenhangs des literarischen Werkes zu verwandeln vermag.
Voraussetzung dafür ist erstens die richtige Auswahl aus den Gegeben-
heiten der Wirklichkeit, zweitens die Intensivierung dieser Gegeben-
heiten, drittens ihre Konkretisierung zu menschlichen Konflikten und
schließlich deren Zusammenfügen als konstitutive Elemente einer Sinn.-
einheit, die Form erzeugt und umgekehrt erst kraft dieser Form künst-
lerische Realität erzeugen wird. Welches sind nun die Mittel, welche die
Transposition der extensiven Totalität des Wirklichen in die intensive
Totalität des Kunstwerks ermöglichen? Sind diese Mittel immer not-
wendig auch der jeweiligen geschichtlichen Wirklichkeit zu entnehmen,
bzw. anzupassen? Diese Frage bejahen, heißt zugleich, die historische
Literatursoziologie definitiv zum Rang einer Literaturwissenschaft zu er-
heben und ihr das Recht auf ein verbindliches ästhetisches Urteil ein-
zuräumen.
Balzac hat einmal gesagt: »Kunst ist nichts anderes als konzentrierte
Natur.« Diese Natur war für ihn eine historisch bedingte. Im Verlauf
seiner Beschäftigung mit Balzac wurde es Lukäcs klar, daß die Kategorie
der Totalität durch die Kategorie des Exzeptionellen ergänzt werden muß.
Er hätte sich dabei auch auf den Ausspruch Flauberts berufen können,
8 Brief vom 4. April 1797. In: Der Briefwechsel zwischen Schiller und Goethe,
hrsg. von H. G. Gräf und A. Leitzmann, Leipzig 1955, I, S. 310.
9 Am eindringlichsten wohl in dem Aufsatz: Kunst und objektive Wahrheit. In:
G. Lukäcs, Probleme des Realismus, Berlin 1955, S. 5 ff.
95
FRANZÖSISCHE LITERATUR
daß die Kunst auf Auswahl und Übertreibung beruhe". Das Exzep-
tionelle resümiert die zerstreuten und verborgenen Elemente des Wesens
der Wirklichkeit, es faßt — wir folgen hier wiederum Lukäcs — das
Allgemeine und Typische in einem Charakter zusammen und re-indivi-
dualisiert es in Persönlichkeiten und Schicksalen. Diese Re-individualisie-
rung des Allgemeinen gilt nicht nur für die Personen einer Handlung,
sondern ebenso für die Einzelsituationen, die Konflikte, die Reaktions-
weisen und Entscheidungen der Personen. Sie alle zusammengenommen
würden indessen noch nicht Totalität einfangen, wenn sie nicht in einem
bestimmten Verhältnis zueinander stünden, in einer Konstellation, von
der die Fabel des Werks und die Lösung der Konflikte erst ihre innere
Notwendigkeit erhalten.
In einem kleinen Buch habe ich diese Erklärungsprinzipien auf die
Princesse de Clèves der Mme de Lafayette angewendet". Das Haupt-
thema dieses Romans, der Verzicht auf die Erfüllung einer leidenschaft-
lichen Liebe in dem Augenblick, da diese Erfüllung möglich wäre, stellt
die Transposition der vollendeten Unterwerfung der individuellen Auto-
nomie unter die ethischen und politischen Normen des auf seinem Höhe-
punkt befindlichen absolutistischen Staats dar. Dieser Verzicht ist exzep-
tionell als menschliche Entscheidung und kann daher seine Begründung
nur durch die innere Notwendigkeit der Handlung finden. Voraussetzung
dieser Notwendigkeit ist eine Szene, die von den zeitgenössischen Kriti-
kern nicht nur als »extraordinaire« gekennzeichnet, sondern auch als
»invraisemblable« und sogar »extravagant« angegriffen wurde: die Szene,
in welcher die Princesse de Clèves ihrem Mann die Liebe zum Duc de
Nemours gesteht, und dieser letztere das Geständnis zufällig mitanhört.
Diese Szene stellt eine aristotelische Peripetie dar. Sie wird ästhetisch
möglich erst durch das Konvergieren aller von den vorausgehenden Epi-
soden bereitgestellten Linien der Ereignishandlung und der psycholo-
gischen Entwicklung. In all diesen Episoden kristallisieren sich konkrete
gesellschaftliche Verhältnisse und psychologische Konflikte, die Produkte
dieser Verhältnisse sind. Der exzeptionelle Charakter des Liebesverzichts,
ermöglicht durch die sorgfältig begründete Exzeptionalität der Peripetie,
96
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
97
FRANZÖSISCHE LITERATUR
14 Abbé Prévost, Histoire du Chevalier Des Grieux et de Manon Lescaut. Ed. crit. p.
Georges Matoré (=-. Textes Littéraires Français) Genève-Lille: Droz-Giard 1953,
S. 62.
98
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
15 ». . . le roman . . . doit procéder par généralités et être plus logique que le hasard
des choses«. Correspondance, Paris 1924 ( = Edition du Centenaire), Bd. III, S. 39.
16 W. von Wartburg, Flaubert als Gestalter. In: DVjs 19 (1941), S. 208 ff.
99
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
17 Die Theorie des Romans. Ein geschichtsphilosophischer Versuch über die Formen
der großen Epik, Berlin 1920, S. 63.
1.02
MÖGLICHKEITEN HISTORISCH-SOZIOLOGISCHER INTERPRETATION
Vor mehr als einem halben Jahrhundert stellte Gustav Gröber, beun-
ruhigt durch die Unstimmigkeiten in Chrestiens letztem Werk und
durch seine Zweiteilung in eine Perceval- und eine Gauvain-Handlung,
die Frage, »ob im Conte del Graal nicht etwa zwei von Chrestien als
selbständig gedachte Werke, eine Graaldichtung mit Perceval und eine
Episodendichtung mit Gavain als Helden, vom nächsten Besitzer seines
Manuskriptes absichtlich oder aus Mißverständnis zu einem Werke
verarbeitet worden seien [. . 10. Fast dreißig Jahre später nahm
E. Hoepffner Gröbers Vermutung wieder auf und empfahl eine ernst-
liche Prüfung der Frage, ohne sich selbst eingehender damit zu be-
schäftigen 2 . Keiner aus der großen Schar der Chrestienforscher hielt
es für erforderlich, dieser Anregung zu folgen, obwohl die — vor allem
chronologischen — Widersprüche und die Doppelhandlung jedem Inter-
preten auffallen mußten und eine Erklärung verlangten. Ph. A. Becker
und S. Hofer zogen aus diesem Sachverhalt die Konsequenz, daß der
Gauvain-Teil nicht von Chrestien stammen könne 3 . Weil auch im Gau-
vain-Teil Stil und Verskunst des champagnischen Dichters unverkenn-
bar sind, fanden Beckers und Hof ers Hypothesen keinen Anklang 4 .
104
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
druckt in: Les romans du Graal dans la littérature des Xlle et XIIIe siècles,
Strasbourg 1956, S. 15 30.
-
S. 279 320 (im folgenden zitiert: de Riquer II); besprochen von F. Lecoy in
-
105
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Zu 1.
Die Chronologie der Handlung ist nach M. de Riquer die folgende:
1. Tag: Begegnung Ps. mit den Rittern im Wald. Die Mutter hält ihn
drei Tage zurück. 5. Tag: P. verläßt seine Mutter. 6. Tag: Zeltabenteuer,
Artushof, Besiegung des Roten Ritters, Ankunft bei Gornemant. 7. Tag:
P. verläßt Gornemant und kommt nach Belrepeire. Die Nacht mit
Blanche for. 8. Tag: Ps. Sieg über Anguingueron. 9. Tag: Sieg über Cla-
madeu. Vom 10. bis zum 13. Tag bleibt P. in Belrepeire, während An-
guingueron am 11. nachts, Clamadeu am 13. Tag am Artushof ankom-
men. 13. Tag = Pfingstsonntag: P. verläßt Belrepeire; Gral-Episode.
14. Tag: P. verläßt das Gralschloß, begegnet seiner Base, besiegt Or-
guelleus de la Lande. 15. Tag: Orguelleus am Artushof; Hof bricht zur
Suche nach P. auf. 16. Tag: Blutstropfen-Episode. 17.-19. Tag: Perceval
am Artushof. Drei Festtage. 19. Tag: Das Häßliche Fräulein ------ 1. Tag
der Gauvainhandlung: Guinganbresil; G. verläßt den Hof; Tintaguel.
2. Tag: G. siegt im Turnier und verläßt Tintaguel. 3. Tag: Escavalon;
Kampf mit der »Commune«; Aufschub des Zweikampfs. G. verläßt
noch am Morgen dieses Tages Escavalon. Bevor er, noch am selben Mor-
gen, Greoreas begegnet, ist der fünf Jahre später stattfindende Besuch
Percevais beim Eremiten eingeschoben. G. trifft die Male Pucele. 4. Tag:
Das Wunderschloß; die Königinnen. 5. Tag: Gué Perilleus; Verabredung
des Zweikampfes mit Guiromelant. 6. Tag: Pfingstsonntag: Gs. Bote
am Artushof.
106
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
J. Frappier gezeigt 8 . Die Verse 2939 ff. besagen nicht, daß der Tag,
an dem Perceval Blancheflor verläßt und zum Gralschloß gelangt, ein
Pfingstsonntag sei, sondern schließen im Gegenteil diesen wie überhaupt
jeden Sonntag aus. Keine Textstelle gibt einen Hinweis, wie lange
Percevais Aufenthalt in Belrepeire dauert. Wenn Chrestien somit hier
bereits den bis dahin genauen »Kalender« aufgab, so kommt eine wei-
tere Unbestimmtheit der Dauer dadurch hinzu, daß nirgends gesagt
ist, wie lange Orguelleus und seine der Erholung bedürfende »amie«
brauchen, um sich dem Artushof vorstellen zu können. Daß dies bereits
am Tage nach Percevais Sieg über Orguelleus (also am 15. Tag im
»Kalender« de Riquers) geschieht, ist unwahrscheinlich. Für irrig hält
Frappier auch de Riquers Annahme, Artus sei noch am Tage der An-
kunft des Orguelleus zur Suche nach Perceval aufgebrochen. Frappier
seinerseits schließt aus den Worten, mit denen Gauvain Perceval dem
König vorstellt (v. 4546-53, bes. v. 4549), daß mindestens 15 Tage
zwischen der Ankunft des Orguelleus und dem Aufbruch des Hofes
vergangen sind und die Handlung insgesamt bis zum Auftreten des
Häßlichen Fräuleins rund 35 Tage umfaßt. In seiner Erwiderung, in
welcher er zugesteht, daß Percevals Aufenthalt in Belrepeire länger
dauert, als er annahm, hat de Riquer wahrscheinlich machen können,
daß Artus doch mit dem Hof sogleich nach der Ankunft des Orguelleus,
d. h. noch am gleichen Tage aufbricht 9 . Dem neuen »Kalender« de
Riquers zufolge hätte die Blutstropfenszene am 21. Tage stattgefunden.
Percevais Aufenthalt in Belrepeire hätte dann 8 Tage gedauert, vom
10. bis zum 17. Tag. So blieben 13 Tage zwischen Zeltabenteuer und
Sieg über Orguelleus, womit der erbärmliche Zustand des Zeltfräuleins
sich besser erklären ließe. Nicht berücksichtigt und unbeantwortet bleibt
dabei der Einwand Frappiers, daß für die Wiederherstellung ihres ur-
sprünglichen Zustandes ein einziger Tag nicht ausgereicht haben kann.
Die Abenteuer Gauvains spielen sich trotz ihrer Vielzahl nach der
Rechnung de Riquers in nicht mehr als 5 Tagen ab (der 6. bringt, vor
dem Abbruch des Romans, nur noch die Ankunft seines Boten am.
Artushof). Frappier bezweifelt, daß Gauvain noch am Tage der Heraus-
forderung durch Guinganbresil früh genug nach Tintaguel hätte ge-
langen können, um dort noch als Zuschauer dem Turnier beizuwohnen.
107
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Mag die Rechnung de Riquers hier vielleicht noch stimmen, so ist sie
für den 3. Tag der Gauvain-Handlung ganz und gar willkürlich. An
einem einzigen Morgen, und zwar noch vor der Zeit zwischen dem.
dritten Offizium und Mittag, soll Gauvain auf die Hirschkuhjagd ge-
gangen sein, auf Einladung des dabei angetroffenen jungen Königs von
Escavalon auf dessen Burg geritten sein, dort mit der Schwester des
Königs Liebesgespräche geführt, die Belagerung durch die Bürger der
Stadt abgewehrt haben und nach Verhandlungen mit dem zurück-
gekehrten König und Übernahme der Lanzensuche auch noch eine weite
Strecke geritten sein. Am selben Tag wird ihm sogar noch die Begeg-
nung mit Greoreas, die ersten Abenteuer mit der Male Pucele und der
Kampf mit dem Neffen des Greoreas zugemutet. M. de Riquer wundert
sich selbst über diese Fülle (»es una mariana muy densa de aventuras«,
S. 125), was ihn jedoch nicht hindert, die Verse 6204 5 -
10 »On peut hésiter ä partager l'opinion de M. de Riquer quand il affirme (p. 125)
que d'un épisode à l'autre l'action du roman se poursuit sans discontinuité
>dans la même matinée<. Il n'est pas exclu que l'expression >tant erra< corre-
sponde ä un laps de temps indéterminé, mais probablement long« (Frappier,
a. a. O., S. 79).
108
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
tierce et miedi«. Der unbestimmte Artikel zeigt deutlich, daß die Schrei-
ber dieser Hss. die Stelle anders auffaßten als de Riquer". Daß nicht
eine Zeit des gleichen, sondern irgend eines unbestimmten Tags gemeint
ist, bestätigt auch der (von Hilka kommentarlos angemerkte) Umstand,
daß Wolfram von Eschenbach diese Stelle mit »eins morgens« wiedergibt
(Parzival 504, 7).
Es läßt sich also zunächst feststellen, daß (1.) der Kalender de Riquers
bereits für die Perceval-Handlung bis zum Auftreten des Häßlichen
Fräuleins nicht stimmt und daß (2.) zwischen der Escavalon-Episode
und dem nächsten Abenteuer Gauvains ein unbestimmter und sicherlich
längerer Zeitabschnitt liegt, zwischen den beiden Pfingstsonntagen also
sehr wohl das erforderliche Jahr verstrichen sein kann. Wir können
umgekehrt schließen, daß zwischen dem Tag, an dem Clamadeu zum
Artushof kommt, d. h. dem 13. Tag der Perceval-Handlung, und dem
Tag, da Gauvains Bote am Artushof eintrifft, mindestens ein Jahr ver-
gangen ist. Es ist also nicht nötig, mit Frappier (a. a. 0., S. 85 f.) den
»Widerspruch« der beiden Pfingstsonntage als ein begreifliches, durch
die Bedeutung von Pfingsten als höfischem Festtag nahegelegtes Ver-
sehen Chrestiens zu erklären 12 .
Zu 2.
Läßt sich somit die erste »monstruosidad«, die de Riquers These
stützen soll, bei genauerem Zusehen leicht aus der Welt räumen, so
ist damit teilweise bereits auch das zweite gewichtige Argument des
spanischen Forschers entkräftet. Der Einschub der Eremiten-Episode
in die Gauvainhandlung hat als solcher nach dem oben Festgestellten
nichts »Absurdes« mehr an sich. Es bleibt indessen der chronologische
Widerspruch zwischen der fünfjährigen Abenteuersuche Percevals und
der Gauvain-Handlung. Die Annahme freilich, daß die Gauvain-Aben-
teuer, die von v. 6515 ab geschildert werden, die fünf Jahre ausfüllen —
eine Annahme, die aus dem Dilemma herausführen würde 13 , trifft
13 Les romans du Graal dans la littérature des XII" et XIII' siècles, S. 29, bes.
Anm. 1. Frappier verweist (a. a. 0., S. 79, Anm. 22) auf diese These, ohne jedoch
darauf einzugehen.
109
FRANZÖSISCHE LITERATUR
110
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
spräche einer Arbeitsweise, die gewiß zu allen Zeiten für viele Roman-
autoren gilt 17•
Zu 3.
Beim Tod von Arthurs Vater Uterpandragon war Perceval zwei Jahre
alt (v. 458). Die ersten Abenteuer des Protagonisten fallen daher, wie
de Riquer errechnet, etwa in das zwölfte Regierungsjahr des Königs
Artus. Aus dem Gespräch zwischen Gauvain und Guiromelant, dem-
zufolge Artus seit 60 Jahren (da Yguerne sich nach dem Tod ihres
Gatten Uterpandragon zurückzog) und Gauvain seit 20 Jahren keine
Mutter mehr haben (v. 8735 ff.; v. 8755 f.), ergibt sich, daß die Gau-
vain-Abenteuer sich 60 Jahre nach Uterpandragons Tod und mithin
48 Jahre nach den Abenteuern Percevals ereignen. Dieser Widerspruch
bleibt bestehen, auch wenn man de Riquer kleine Rechenfehler nach-
weist. Ist er aber so ernst zu nehmen, daß man daraus auf die Fusion
zweier verschiedener Romane schließen muß? Kann man überhaupt aus
chronologischen Widersprüchen eines unvollendeten Romans solche
Konsequenzen ziehen bei einem Autor, der dem Wunderbaren einen
solchen Platz einräumt und sich nicht scheut, Artus ein Alter von 100,
seiner Mutter Yguerne also mindestens ein solches von 120 Jahren zu
geben? Auch hier scheint uns Frappiers Einwand das Richtige zu tref-
fen: »[. . .] l'argument n'aurait des chances d'entraîner la conviction
que si l'ceuvre n'était pas restée en chantier, et, peut-on ajouter, si notre
poète se comportait en chroniqueur.« 18
De Riquer folgert aus seinen Feststellungen, daß ein Bearbeiter zwei
unvollendete Romane Chrestiens miteinander verband und daß aus
diesem Grunde der Conte del Graal selbst im unvollendeten Zustand
den durchschnittlichen Umfang der Romane Chrestiens um rund zwei-
einhalbtausend Verse übersteigt. Der »error fundamental« des »editor«
war es nun nach de Riquer, die zum Perceval-Roman gehörende Bot-
schaft des Häßlichen Fräuleins und die den Anfang eines Gauvain-
Romans bildende Herausforderung Guinganbresils als Ereignisse eines
einzigen Tages miteinander verknüpft zu haben. De Riquer glaubt
17 Man vergleiche als modernes Beispiel den ebenfalls Fragment gebliebenen Roman
Der Mann ohne Eigenschaften von Robert Musil und die zum Teil Umstellungen
von Kapiteln betreffenden Notizen aus dem Nachlaß (Hamburg 1952; vgl. u. a.
S. 1573 u. 1629 ff.).
18 Frappier, a. a. 0., S. 87.
111
FRANZÖSISCHE LITERATUR
19 A. a. 0., S. 91.
20 A. a. 0., S. 94.
21 De Riquer II, S. 294 ff.
112
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
113
FRANZÖSISCHE LITERATUR
sein, und erklärt nun, den Einwand Frappiers umkehrend, daß der
ganze die Lanzensuche betreffende Teil der Escavalon-Szene Werk des
»editor« sei 26 . Die erste der »contradicciones« und »incongruencias«,
mit denen er diese Auffassung begründet, sieht de Riquer in dem Um-
stand, daß Guinganbresil und der junge König von Escavalon zunächst
unter peinlicher Beachtung der Gesetze ritterlicher Gastfreundschaft
Gauvain unter ihren Schutz nehmen, um dann jedoch dem gehässigen
Rat eines plötzlich auftauchenden, obskuren »vavassor« zu folgen, der
Gauvain die Aufgabe der Suche nach der blutenden Lanze auferlegen
will. So unverständlich wie de Riquer will uns dieser »Widerspruch«
keineswegs erscheinen. Der »vavassor«, nach de Riquer (S. 301) »una
especie de leguleyo tramposo«, der aus dem edlen Guinganbresil und
seinem König »Schurken« macht, ist immerhin eingeführt als eine Auto-
rität: »Si conseilloit tot le pais; Car il estoit de mout grant san«
(v. 6090 f.). Sein »consoil« ist ein Gewohnheitsrecht, eine »costume«,
an welche — wie Artus und seine Ritter an andere »costumes« — der
König von Escavalon gebunden ist 27 . Auch daß er seinen Rat, den
Zweikampf um ein Jahr aufzuschieben, »por razones incomprensibles«
geben soll, vermögen wir nicht einzusehen, da er damit ja hofft, ent-
weder den Mörder des alten Königs, den man der Gastfreundschaft
wegen gehen lassen muß, zu strafen und auf Dauer als Gefangenen
behalten zu können (v. 6120-28) oder aber durch ihn die blutende
Lanze zu erhalten, die einst das Königreich Logres, d. h. das Reich
Arthurs, zerstören wird.
De Riquer sieht einen Fehler des »editor« auch darin, daß der »vavas-
sor« annimmt, Gauvain sei zum Schloß gekommen in Kenntnis des
Umstands, daß dies der Ort des abgesprochenen Zweikampfs ist, wäh-
rend Gauvain in Wahrheit nicht weiß, daß er sich bereits in Escavalon
befindet. Wir vermögen nichts Auffälliges und schon gar nichts Bedenk-
liches in der Tatsache zu finden, daß der »vavassor«, der ja von der
Herausforderung Gauvains durch Guinganbresil weiß (v. 6105 ff.), nun
auch annimmt, daß die Anwesenheit Gauvains eine wissentliche und
114
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
115
FRANZÖSISCHE LITERATUR
II, S. 318 9). *A arbeitet mit einem bereits durch Guiromelant vollendeten
-
*Gauvain, also mit dem Text von *R. Sein Erweiterungsplan läßt ihn auch die
Ankündigung der Chastel-Orguelleus-Aventure interpolieren und daher die Er-
116
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
117
FRANZÖSISCHE LITERATUR
35 Die Hs. R, die doch nach de Riquer dem ursprünglichen Guiromelant am nächsten
stehen soll, hat für Guinganbresil ganze zwei Verse übrig:
Gingambersil qui molt tenoit
Redevint hom al roi iloc, [...]
(v. 1397 8)
-
118
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
was für einen Roman Chrestien hier auf dem Höhepunkt seiner künst-
lerischen Entwicklung geschrieben haben soll! Tausende von Versen
ohne jede Peripetie, ohne eine Problematik oder eine These oder ein
Grundthema, das den Vergleich mit seinen anderen Werken, mit Erec,
Cligés, der »Karre«, Yvain ertrüge, vom Perceval ganz zu schweigen. Die
Aventuren Gauvains eint kein übergeordneter Sinnzusammenhang. Eine
fundamentale Errungenschaft seiner Erzählkunst wäre hier von Chre-
stien ebenso preisgegeben wie die eigentümliche, aus der inhaltlichen
Problematik erwachsene Struktur seines Artusromans. Wenn die Gau-
vain-Handlung Chrestiens Werk ist — und daran zweifelt heute niemand
mehr — dann ist sie nur verständlich als konstitutiver Teil des Gral-
romans, von vorneherein konzipiert als Kontrasthandlung, deren Aven-
turen die begrenzten Möglichkeiten weltlich-ritterlicher Perfektion in
der repräsentativen Figur Gauvains gegenüber dem neukonzipierten
spirituellen Rittertum Percevals demonstrieren 36 . Für sich allein ge-
nommen sind die Abenteuer Gauvains Momente eines richtungslosen
Leerlaufs, die einen Sinn nur als Elemente einer Kontrasthandlung und
als statische Gegenstücke zur prozeßhaft aufsteigenden Perceval-Hand-
lung erhalten. In diesem Sinne bieten sich die meisten Abenteuer Gau-
vains als Parallelen zur Perceval-Handlung dar. Der Episode des Zelt-
fräuleins entspricht — wie B. Mergell bemerkte 37 — diejenige der Pucele
as petites manches, der Blancheflor-Episode die Begegnung mit der Male
pucele, dem Gralschloß das Wunderschloß, wobei — wie M. Delbouille
betont" — die Familie Percevals einerseits, diejenige Gauvains ander-
seits jeweils den Abkömmling erwarten, dem die Befreiungstat vor-
bestimmt ist. Vielleicht ist es richtiger, die Pucele as petites manches als
Entsprechung für das nie lachende Mädchen am Artushof anzusehen und
die Parallele für die Blancheflor-Episode in der Liebesszene mit der
Schwester des Königs von Escavalon zu sehen. Die Escavalon-Episode
insgesamt verstehen wir als Gegenwelt zum Artushof — auch strukturell
36 Auch Frappier gründet seine Ablehnung der These de Riquers wesentlich mit auf
die Überzeugung, daß die Gauvain-Handlung eine Kontrastfunktion habe und in
Chrestiens Gralroman bereits der Ansatz zu dem späteren Antagonismus von
»chevalerie terrienne« und »chevalerie célestienne« vorhanden sei. S. a. a. 0.,
S. 101-2. Vgl. auch Frappier, Le roman breton, Chrétien de Troyes, Perceval ou le
Conte du Gral, Paris 1953 (Les Cours de Sorbonne), 5. 34 u. 112 und: Chrétien
de Troyes, Paris 1957, S. 171 ff.
37 Mergell, in: Les romans du Graal (s. Anm. 4), S. 28.
38 Delbouille, in: Les romans du Graal (s. Anm. 4), S. 84.
119
FRANZÖSISCHE LITERATUR
120
DIE EINHEIT VON CHRESTIENS »LI CONTES DEL GRAAL«
zeugung ausgehend, daß bei jedem echten Dichter Form und Inhalt eine
genetische Einheit bilden und eine dialektische Wechselbeziehung zwi-
schen Gehalt und Gestalt existiert, haben wir in einer eigenen Arbeit
versucht, die fortschreitende Zweiteilung der Chrestienschen Romane
aus der wachsenden Disjunktion der individuellen und der gesellschaft-
lichen Wertordnung zu erklären und die Herausbildung einer eigenen.
Gauvain-Handlung als strukturelle Konkretisierung und poetische Ob-
jektivierung einer dualistischen Lebenserfahrung zu verstehen, deren.
Harmonisierung die reintegrative weltlich-ritterliche Aventure schließ-
lich nicht mehr zu leisten vermag 43 . Dem Wandel und der Vertiefung
der inhaltlichen Problematik, die sich vom Erec bis zum Conte ciel Graal
verfolgen lassen, entsprechen aus der Notwendigkeit des inneren Form-
gesetzes die Vertiefung der Zweiteilung durch die zentrale Artusszene
und die Herausbildung einer kontrastierenden Gauvainhandlung, in der
sich die unhaltbar werdende autonome höfische Gesittung objektiviert.
Der doppelte Aufruf des Häßlichen Fräuleins an Perceval und an die
Artusritter, von dem de Riquer meint, er wäre Chrestiens unwürdig und
müsse daher unecht sein, erscheint Frappier als »pivot du roman entier«,
mit dem der Kontrast zwischen Perceval und Gauvain einsetzt 44 . Wir
teilen voll und ganz Frappiers Ansicht, nicht nur weil sich — wie er aus-
führt — hier angesichts des Anreizes der in Aussicht gestellten profanen
Abenteuer im Gegensatz zu der Wahl Gauvains und der anderen Artus-
ritter die höhere Bestimmung Percevals endgültig bestätigt, sondern weil
hier die Artuswelt in ihrer Gesamtheit in einen Gegensatz zur Gralwelt
gestellt und doch zugleich in das von jener bestimmte heilsgeschichtliche
Geschehen hereingezogen wird. Für die Artusritterschaft beginnt die
Zeit der »aventures felenesses et dures«, welche der Narr dem König
angekündigt hatte (v. 4678 ff.) und die der fünf Jahre umherirrende Per-
ceval selbst aufsucht (v. 6227-8).
Nicht als absurde Erfindung eines »remanieur«, sondern als genialer
Zug im Hinblick auf die Gesamtkonzeption, erwachsen aus dem Struk-
turgesetz des Artusromans und nur Chrestien zumutbar, erscheint uns
die Verbindung der Botschaft des Häßlichen Fräuleins und der Heraus-
forderung Guinganbresils. Gauvain ist bereits vollendeter höfischer Rit-
Graldiditung. Bedeutung des Artuskreises für das Gefüge des Romans im 12. und
13. Jahrhundert in Frankreich, Deutschland und den Niederlanden, Bern 1951.
43 S. unsere oben, Anm. 29 genannte Arbeit.
44 Frappier, a. a. 0., zu Anm. 6, S. 93.
121
FRANZÖSISCHE LITERATUR
ter, Verkörperung der Norm. Die Peripetie, die bei ihm den Beginn einer
neuen Bewährung einleitet, fällt daher zusammen mit dem Augenblick,
da Perceval den gleichen Grad weltlich-ritterlicher Perfektion erreicht,
deren Zustandekommen es im Gegensatz zu derjenigen Gauvains dar-
zustellen gegolten hatte. Es ist nur logisch und natürlich, daß die Gau-
vain-Handlung sich gerade jetzt abspaltet, in dem Augenblick, da auch
die Perceval-Handlung ihre Peripetie erfährt. Es ist im Sinne der Kontra-
stierungsabsicht nur konsequent, wenn jetzt die Gauvain-Abenteuer
breit ausgeführt werden, während die weiteren Abenteuer Percevais bis
zur inneren Umkehr am Karfreitag — vorgreifend in der Zusammen-
fassung der fünf Jahre — lediglich resümiert werden. Chrestiens Conte
del Graal war nicht weit genug gediehen, um von Fortsetzern wirklich
verstanden werden zu können, deren dichterisches Talent ohnehin nicht
entfernt für eine ähnliche Konzeption ausgereicht hätte.
Martin de Riquers Angriff auf die Einheit des Conte del Graal ist ernst
und zwingt die Forschung zu einer neuen Überprüfung ihres Erkenntnis-
standes. Angesichts der scharfsinnigen Argumente des spanischen Ge-
lehrten fragt man sich zunächst, ob es nicht die Gewohnheit der traditio-
nellen Ansicht und die bloße Scheu vor dem Umdenken sind, die sich
ihnen verschließen. Nach gründlichem Erwägen auch dieser Möglich-
keit ist der Verfasser dieses Berichts jedoch der Überzeugung, daß de
Riquers Auffassung verfehlt ist 45 .
45 Den vorläufigen Abschluß der Diskussion bildet J. Frappiers zweiter, die These
M. de Riquers abermals zurückweisender Artikel: Note complémentaire sur la
composition du Conte du Graal. In: Romania LXXXI (1960), S. 308 ff. — Auf
Grund stilistischer Vergleiche kommt auch Helmut Hatzfeld zu dem Ergebnis,
daß an der Einheit des Conte del Graal festzuhalten ist: Deuten Stilelemente
in Chrétiens »Perceval« auf eine strukturelle Einheit? In: Medium Aevum
Romanicum, Festschrift für H. Rheinfelder, München 1963, S. 140 160. Dagegen
-
hat Leo Pollmann in seinem soeben erschienenen Buch: Chrétien de Troyes und
der Conte del Graal (Beih. 110 zur Zeitschrift für Romanische Philologie),
Tübingen 1965, den Nachweis zu führen versucht, »daß der Verfasser des *G au _
vain ein Schüler Chrétiens ist, der sich zum Ziel gesetzt hat, den unvollendeten
*Perceval des Chrétien de Troyes fortzusetzen« (S. 79).
122
7. Narziß, die »Fontaine d'Amors« und
Guillaume de Lorris (Zum »Roman de la Rose«, J. Teil)
123
FRANZÖSISCHE LITERATUR
diese komplexe Vertiefung des Themas nicht erst der Renaissance eigen,
sondern bereits bei Guillaume de Lorris nachzuweisen ist.
H. R. Jauss sieht, wie schon bemerkt, die von Guillaume de Lorris vor-
enthaltene »senefiance« in der Beziehung der Figuren zu der Geschichte
von »amant« und Dame. Damit würde sich — hier stimme ich unbedenk-
lich zu — der allegorische Sinn des Geschehens entschlüsseln lassen. In
der allegorischen Dichtung steckt hinter dem »sensus litteralis«, dem
Wortsinn, stets eine tiefere Bedeutung: der »sensus allegoricus«, die
»senefiance«. Die »senefiance« schließt jedoch bei Guillaume de Lorris
noch ein »mistere« ein, das identisch ist mit der verborgenen »Wahrheit«
5 A. a. O., S. 195.
6 A. a. O., S. 201-2.
7 Frappier, a. a. O., S. 152.
8 A. a. O., S. 154.
124
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
eines »Stoffes«, und das über den Zusammenhang zwischen den alle-
gorischen Figuren und dem Verlauf der singulären Liebesgeschichte
hinausweist:
[. . .1 jamais n'orroiz miauz descrivre
La vente de la matere
Quant j'avrai espons le mistere 9 .
Diese Behauptung des Autors bezieht sich unmittelbar auf die »Fontaine
d'Amors«, die Guillaume de Lorris mit der Narzissusquelle identifiziert
hat. Der Schlüssel für das »Geheimnis« des Werks ist also in der Quell-
Episode zu suchen. Indem wir diese Episode einer erneuten Betrachtung
unterziehen, wollen wir versuchen, unsere beiden soeben gemachten
Einwände zu begründen.
Ernest Langlois hat in seinem Buch Origines et sources du Roman de
la Rose festgestellt, »que Guillaume de Lorris s'est directement inspiré
d'Ovide«, ferner, »que son récit, bien que très abrégé, suit exactement le
poète latin«, und schließlich, »que Guillaume a enlevé ä la légende son
caractère mythologique: Narcisse est pour lui un >damoiseau<, Echo, >une
haute dame<; l'un et l'autre meurent et ne se métamorphosent pas« 1 °.
Es fehlt bei Guillaume de Lorris — so dürfen wir hinzufügen — nicht nur
die Metamorphose, sondern auch die Prophezeihung, daß Narziß an dem
Tag sterben müsse, da er sich selber erkennt. Ich glaube jedoch nicht,
daß Guillaume dieses letztere Thema verkannt hat — wir kommen
darauf zurück —, zunächst aber können wir feststellen, daß mit seiner
»Entmythologisierung« auch das aitiologische Element ausgeschaltet ist.
Dieser Umstand bestätigt die Feststellung, die H. R. Jauss nach dem
Vergleich mit der vorausgehenden allegorischen Literatur für den ganzen
ersten Rosenroman getroffen hat: »Guillaume de Lorris hat seine neue
Psychomachia völlig von dem heilsgeschichtlichen oder mythologischen
Grund abgelöst, in dem sie bei seinen Vorgängern wurzelt.« " Welches
über das dargestellte Geschehen hinausweisende »mistere« bleibt aber
danach noch übrig oder welches tritt dafür ein?
9 Le Roman de la Rose, par Guillaume de Lorris et Jean de Meun, publié d'après les
manuscrits par Ernest Langlois, Paris 1914-24 (SATF), II, V.
10 Langlois, Origines et sources du Roman de la Rose, Paris 1890, S. 71. - Langlois
vermerkt als einzige inhaltliche Abweichung, daß bei Guillaume de Lorris es Echo
ist, welche die Götter um Vergeltung an Narziß bittet, bei Ovid dagegen ein
unbekannter junger Mann.
11 Jauss, a. a. 0., S. 195.
125
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Bei Ovid erleidet Narziß, gemäß der Prophezeihung des Tiresias, den
Tod an dem Tag, da er sich selber erblickt, d. h. sich erkennt. Bei Guil-
laume de Lorris wird die sekundäre Ursache, der Racheruf, den ein
verschmähter Liebhaber des Narziß an die Götter richtet, zum einzigen
Anlaß. Narziß muß sterben, weil er die Liebe Echos verschmäht hat.
Also, ihr Damen — so folgert Guillaume de Lorris in kühner Umkeh-
rung — verweigert eure Liebe nicht, sonst ereilt euch die Strafe Gottes 12
Die Quelle des Narziß ist dem Garten des Deduit beigegeben als mah-
nendes »essemple«: der Wunschgedanke aller höfischen Liebesdichtung,
daß echter Liebe auch Gegenliebe zuteil werden müsse, ist hier zum
Gesetz geworden, zum einzigen Gesetz offenbar, und daher treiben
Amor und Venus als einzige verbliebene mythologische Figuren hier ihr
Wesen. Es ist die realisierte Liebesharmonie des Goldenen Zeitalters,
jedoch ohne Promiskuität, denn die höfische Liebe ist monogam".
Im Garten des Deduit hat die Natur für alles gesorgt. Die Bäume, in
gefälligster Weise angeordnet, tragen sämtliche Sorten Obst. Ihr Laub-
werk ist gerade so dicht, daß die Sonne dem zarten Gras nicht schaden
kann, das ja dazu bestimmt ist, daß die Liebespaare sich auf ihm lagern.
Murmelnde Bäche sorgen dafür, daß der Rasen immer frisch und weich
bleibt. Harmlose Tiere wie Eichhörnchen und Hasen bevölkern das
Gebüsch. Unaufhörlich singen zahllose Vögel das Lied von Liebe und
Freude. Keine Hitze und kein Frost können der Fülle duftender Blumen
etwas anhaben, denn das ganze Jahr hindurch ist Frühling. Diese Welt,
deren »biauté« und »grant delitableté« unbeschreiblich sind, ist zeitlos.
Die Schar, die sich tanzend und singend mit Deduit auf dem immer-
grünen Rasen vergnügt, lebt stets »en joie e en solaz«, außerhalb der
Zeit. Mit der »Vieillece« ist »li Tens vers cui neienz ne dure« (v. 377)
aus diesem Garten der Lust ausgeschlossen. Die Türhüterin, die dem
12 Ensi si ot de la meschine,
Qu'il avoit devant escondite,
Son guerredon et sa mente.
Dames, cest essemple aprenez,
Qui vers voz amis mesprenez;
Car, se vos les laissiez morir,
Deus le vos savra bien merir.
(v. 1504-10)
13 Vgl. die glückliche Formulierung des Themas der Liebesharmonie im Goldenen
Zeitalter bei Theokrit, 12. Idylle, v. 15-16:
CO4loug S'icpilysav icup tuy. ilea 'rin' lijaav
nimmt ne,tv Civbeeç, Zit' ävcpilia' ô qinkriElg.
126
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
Amant die enge Pforte öffnet, Oiseuse, ist der Inbegriff einer Zeit, die
nie versiegt, über die man verfügt. Alle Mächte, die eine höfische Har-
monie stören können, sind durch ihre Abbildungen an der Außenmauer
des Gartens gebannt: Haine, Felonie, Vilanie, Covoitise, Avarice, Envie,
Tristece. Für sie alle gilt, was von Papelardie gesagt wird:
Sogleich nach dem Eintritt wird der Amant von einer tiefen Freude erfaßt,
Der Ort erscheint »esperitable«. Und später erfahren wir auch genau,
was den Garten des Deduit zum vollendeten irdischen Paradies macht.
Die meisten aus der heiteren Schar hören schließlich auf zu tanzen:
127
FRANZÖSISCHE LITERATUR
128
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
Fast möchte man glauben, Sannazaro habe dieses Bild aus den vorhin
erwähnten Stellen des Rosenromans zusammengesetzt. Natürlich ist
dem nicht so, aber Guillaume de Lorris und Sannazaro haben letztlich
die gleichen Quellen. Hellmuth Petriconi hat wahrscheinlich gemacht,
daß Sannazaros Verse auf die dritte Elegie Tibulls zurückgehen, dessen
Beschreibung der Elysischen Gefilde kurz nach der Schilderung des
Goldenen Zeitalters wie ein Eintritt zum Garten des Deduit anmutet 15 .
Das Küssen in der Art der Tauben ist nicht ein bloßer Vergleich, den
Guillaume de Lorris und Sannazaro zufällig gemeinsam haben, sondern
ein erotischer Terminus technicus der römischen Literatur 16 .
Im Garten des Deduit, in dem — wie wir sahen — Irdisches Paradies
und Goldenes Zeitalter verschmolzen sind, wird der Tod ignoriert.
Weshalb hat der Dichter gleichwohl in diesen Garten die Quelle ver-
pflanzt, die Narziß den Tod brachte? Sollte die Identifikation mit der
Fontaine d'Amour die Überwindung des Todes eigens demonstrieren?
Es gibt durchaus Gründe für diese Vermutung. Wir haben weiterhin
zu erklären die Bedeutung der beiden Kristalle auf dem Grund der
Fontaine d'Amour, in denen sich der ganze Garten spiegelt und die den
Amant erstmals die Rosen erblicken lassen. Eine einigermaßen befrie-
digende Deutung wird weder auf die Heranziehung religionsgeschicht-
licher Traditionen, noch auf die Hilfe psychoanalytischer Einsichten
verzichten können.
Auch die Narzißquelle ist eine Quelle der Liebe. Sie bringt indessen
den Tod, während wir in der Fontaine d'Amour des höfischen Paradieses
eine Quelle sehen müssen, durch welche die Liebe Leben spendet oder
Leben erneuert — wie es höfische Liebe seit Wilhelm IX. tut. Die
Symbolik des Wassers ist ambivalent: sie kann die Rückkehr in das
15 Petriconi, Das neue Arkadien. In: Antike und Abendland III (1948), 5. 191. Vgl.
von demselben Verfasser: Die verlorenen Paradiese, in: Romanistisches Jahr-
buch X (1959), S. 180.
Die entsprechenden Verse Tibulls lauten:
Hic choreae cantusque vigent, passimque vagantes
dulce sonant tenui gutture carmen aves,
fert casiam non rulta seges, totosque per agros
foret odoratis terra benigna rosis:
at iuvenum series teneris inmixta puellis
ludit, et adsidue proelia miscet Amor.
(Tibull I, III, v. 59-64)
16 S. Petriconi, Ober die Idee des Goldenen Zeitalters als Ursprung der Schäfer-
dichtungen Sannazaros und Tassos. In: Die Neueren Sprachen 38 (1930), S. 274 f.
129
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Nichts, in den Tod, aber auch die Rückkehr zu einem Zustand der
ursprünglichen Lebenseinheit bedeuten — so haben uns zuletzt Gaston
Bachelard und Mircéa Eliade gelehrt". Im Umkreis des Paradieses kann
die Quelle nur ein Symbol des Lebens, der Wiedergeburt, nur eine
»eau de Jouvence« sein. Längst hatte die mittelalterliche Visionen-
literatur sich der Paradiesflüsse der Genesis und der »fons vitae« der
Offenbarung des Johannes (VII, 17; XXI, 7; XXII, 1) bemächtigt und
in die Landschaft des Goldenen Zeitalters verpflanzt". Die höfische
Dichtung hat sich dies nicht entgehen lassen 19 Ich ziehe als Beleg dafür
nur dasjenige Werk heran, das in dieser Hinsicht dem Rosenroman
am nächsten steht. Der Dichter von »Floire und Blancheflor« nennt bei
seiner Beschreibung eines wunderbaren Gartens, den er mit dem Para-
dies vergleicht und in dem gleichfalls ewiger Frühling herrscht, einen
der Paradiesflüsse (Eufrates) 20 . Wir haben uns — auch wenn dies nicht
ausdrücklich gesagt ist — vorzustellen, daß seine Quelle die in der Mitte
des Gartens entspringende »fontaine« ist, welche die Eigenschaft be-
sitzt, durch das Reinbleiben ihres Wasserspiegels die Unberührtheit der
zu ihr geführten Mädchen zu erweisen. Wir hätten in dieser Eigen-
schaft der Quelle lediglich einen literarischen Niederschlag des weit-
verbreiteten Volksglaubens an die magische Wasser- und Spiegelprobe
zu sehen, wenn der Text nicht ausdrücklich zu verstehen gäbe, daß
diese Zaubereigenschaft der Quelle erst durch den immerblühenden
»arbre d'amors« vermittelt wird, der an ihrem Ufer steht 21 • Der
»arbre d'amors« von »Floire und Blancheflor« ist in zwar eigentüm-
licher, aber durchaus legitimer Abwandlung nichts anderes als der Baum
der Erkenntnis.
Im Rosenroman ist der ganze Akzent auf die Quelle, die jetzt Fontaine
d'amour heißt, verlagert — angeregt zweifellos durch jene Quelle der
Erkenntnis, die der Mythos von Narziß anbot. Der Baum ist jedoch,
17 Gaston Bachelard, L'eau et les rêves. Essai sur l'imagination de la matière, Paris
2 1947. — Mircéa tliade, Das Heilige und das Profane, Reinbeck bei Hamburg 1957
( -= Rowohlts deutsche Enzyklopaedie, Nr. 31), S. 76.
18 Vgl. August Rüegg, Die Jenseitsvorstellung vor Dante und die übrigen litera-
rischen Voraussetzungen der »Divina Commedia«, Einsiedeln/Köln 1945, I, bes.
S. 208 und S. 336 ff.
19 Vgl. E. Faral, Recherches sur les sources latines des contes et romans courtois du
moyen âge, Paris 1913, S. 380.
20 Li romanz de Floire et Blancheflor, hrsg. von Felicitas Krüger, Berlin 1938
( = Romanische Studien H. 45), v. 1981 ff.
21 Vgl. dazu Faral, a. a. 0., S. 370 f.
130
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
131
FRANZÖSISCHE LITERATUR
132
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
Welchen Schluß können wir aus diesem von Jean de Meung selbst
unternommenen Vergleich ziehen? Der zweite Autor des Rosenromans
hat den ersten widerlegen wollen; er hat das irdische Paradies der
höfischen Liebe entwertet und überboten durch ein himmlisches Para-
dies, das sehr wohl an den orthodoxen Vorstellungen vom himmlischen
Paradies orientiert ist, dieses jedoch nur denjenigen in Aussicht stellt,
die den Geboten der Natur Folge leisten, und das heißt bei jean de
Meung: der Lust (delit) und der Zeugung (generacion). Dem ver-
feinerten, spiritualisierten höfischen Hedonismus des Guillaume de
Lorris stellt Jean de Meung einen naturalistischen und auf die Ideen
des lateinischen Averroismus gegründeten Hedonismus entgegen 26 .
Indem der Philosoph jean de Meung das höfische Menschenbild des
Guillaume de Lorris »widerlegte«, hat er den Poeten, der Guillaume de
Lorris war und für den er kein Verständnis hatte, in einem doppelten
Sinne verraten: er hat das Thema des ersten Rosenromans verfälscht
und er hat den Prozeß der poetischen Umwandlung sozusagen rück-
gängig gemacht und dabei nicht nur seine, sondern auch die Quellen
des Guillaume de Lorris freigelegt.
Unsere bisherigen Beobachtungen bedürfen noch der Prüfung und
Ergänzung durch eine Erklärung der beiden Kristalle. Jean de Meung,
der sie durch den Karfunkelstein ersetzte, hat die profane Motivtradi-
tion der magischen Steine kombiniert mit der christlichen Symbolik der
Edelsteine, d. h. einen wunderbaren Stein von der Art, wie sie in meh-
reren Romanen des 12. Jahrhunderts vorkommen, mit den Edelsteinen,
die das himmlische Jerusalem der Johannesoffenbarung und zahlreicher
Jenseitsvisionen des Mittelalters schmücken 27 . Dem Trojaroman, Athis
et Pr9philias und Floire et Blanche for zufolge sind die wunderbaren
Edelsteine in den Paradiesflüssen gefunden worden 28 . Der Autor des
Troja-Romans erklärt von seinen Preziosen, daß sie ursprünglich Äpfel
von einem Paradiesbaum waren, die sieben Jahre in einem Paradiesfluß
gelegen haben 29 . Die Quellen, aus denen Jean de Meung geschöpft
hat, sind damit ziemlich klar. Mit dem Karfunkel wählte er denjenigen
26 Vgl. Franz Walter Müller, Der Rosenroman und der lateinische Averroismus des
13. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 1947.
27 Nachweise für die Romane s. Faral, a. a. 0., S. 351 ff. — Zu den Jenseitsvisionen
vgl. Rüegg, a. a. 0., S. 336 ff.
28 Vgl. Faral, a. a. 0., S. 353 u. 352.
29 Roman de Troie v. 16 683 ff. Vgl. dazu Faral, a. a. 0., S. 357.
133
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Der Amant sieht in der Quelle nicht einen Kristall, sondern deren
zwei, weil die beiden Kristalle zunächst die Spiegelung der Augen
dessen sind, der in die Quelle blickt, d. h. es sind zunächst die Augen
des Narziß:
Spectat humi positus geminum ceu lumina sidus
(Metam. III, 420)
134
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
Die Fontaine d'Amors ist der gleiche »miroer perilleus« (v. 1571)
wie die Narzissusquelle. Trotzdem ist von einem Spiegelbild des Amant
nirgends die Rede. Wir müssen vielmehr annehmen — wie dies auch
Frappier getan 112 3 ' — daß die beiden Kristalle die Augen der Dame
sind. Wie aber konnte Guillaume de Lorris plötzlich das Spiegelmotiv
fallen lassen, ohne damit seine Identifikation der beiden Quellen zu-
nichte zu machen? Hat er durch eine eklatante Inkonsequenz einen Will-
kürakt vollzogen, der selbst im Bereich des mittelalterlichen »merveil-
leux« einen Verstoß gegen die »vraisemblance« bedeutet hätte? Wir
glauben es nicht.
Bevor wir indessen versuchen, diesen Widerspruch, der selbst den
Symbolismus des Mittelalters überfordert hätte, zu erklären, müssen
wir uns die Eigenschaften der beiden Kristalle vergegenwärtigen. Wenn
das Licht der Sonne auf die Kristalle fällt, dann erstrahlen sie in mehr
als hundert Farben. Wer dann in sie blickt, sieht den ganzen Garten
vor sich liegen:
Si sont li cristal merveilleus
E tel force ont que toz li leus,
Arbre e fors, e quan que aorne
Le vergier, i pert tot a orne.
(y. 1549-1552)
Der Dichter vergleicht die Wirkung der Kristalle mit derjenigen eines
Spiegels, und er behält für die Kristalle einen sehr objektiven Tat-.
bestand bei, der letztlich die Identität von Kristallen und Spiegel be-
weist: der Betrachter sieht immer nur eine Hälfte des Gartens, je nach
der Richtung, in welche er sich stellt.
Aber der Spiegel, mit dem Guillaume die Kristalle vergleicht, ist
ein miroir magique, in dem man mehr sieht, als ein von der jeweiligen
Perspektive beschränktes Abbild. In diesem Spiegel erblickt man die
Dinge »senz coverture« (y. 1557). Diese Wirkung ist bei den beiden
135
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Die Kristalle zeigen also den Garten des Deduit in seiner Essenz,
so wie der Zauberspiegel die Dinge »senz coverture« zeigt. Daher er-
blickt der Amant unter tausend anderen Dingen vor allem die Rosen,
von denen eine ihm zum Schicksal werden wird.
Wir glauben nicht, daß wir überinterpretieren, denn es scheint uns
evident, daß Guillaumes Verwendung von Spiegelmotiv und Kristall-
motiv von abergläubischen und magischen Vorstellungen ausgeht, die
seinen Lesern vertraut waren. Sie beruht auf Katoptromantie und
Kristallomantie, die engstens zur Hydromantie gehören. Diese Einheit
ist grundlegend und mitbestimmend für die Identifizierung von Nar-
zissusquelle und Fontaine d'Amour. Der Glaube, daß dem Spiegel und
dem Kristall Zauberkräfte innewohnen, findet sich bei allen Völkern.
Hellseherei durch Spiegelschau und Kristallschau ist fester Bestandteil
der mittelalterlichen Magie 32 . Sie eröffnet den Blick in die Zukunft.
Ihre Bedeutung ist jedoch nicht hierauf beschränkt. Frappier hat mit
Recht daran erinnert, daß das Wort »ombre« im Altfranzösischen —
32 S. Géza R6heim, Spiegelzauber. In: Imago. Zeitschrift für Anwendung der Psycho-
analyse auf die Geisteswissenschaften V (1917-19), S. 63 ff. — J. W. Hauer, Die
Religionen, ihr Werden, ihr Sinn, ihre Wahrheit, Berlin — Stuttgart — Leipzig
1923, S. 276 ff.
— Vgl. auch G. F. Hartlaub, Zauber des Spiegels, München 1951. —
Für Hinweise auf einschlägige Literatur bin ich Herrn Professor Ludwig Giesz,
Heidelberg, zu Dank verp fl ichtet.
136
NARZISS, DIE »FONTAINE DUMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
137
FRANZÖSISCHE LITERATUR
verborgener Dinge. Beide gelten dem Magieglauben aber auch als Liebes-
propheten 37 . Was für Narziß unmittelbar eintretendes tödliches Liebes-
schicksal ist, das ist für den Amant des Rosenromans die sichere, vor-
bestimmte, unausweichliche Liebe zu der Rose, die ihm die Kristalle
offenbaren.
Der Kristall leiht bei Guillaume de Lorris dem menschlichen Auge
die Bildkraft des Symbols. Daß in der Fontaine d'Amors das Symboli-
sierende für das Symbolisierte eintreten, bzw. mit ihm zusammenfallen
kann, wird verständlich, wenn man die Eigenschaften von Kristall und.
Auge mit dem Blick auf die platonisch-christliche Lichtmetaphysik ver-
gleicht. Die Kristalle der Fontaine d'Amour bedürfen des Sonnenlichts,
erzeugen aber dann das Bild des ganzen Gartens des Deduit, dieser
heiteren Welt des Traums vom irdischen Paradies der höfischen Liebe.
Sie spiegeln nicht nur, reproduzieren nicht nur, sondern erzeugen die
Wunschwelt dessen, der in sie blickt. Nicht anders verhält es sich
mit dem menschlichen Auge in der Auffassung des Mittelalters, wenn
wir einem kundigen Philosophiehistoriker (Hans Leisegang) glauben.
dürfen: »Nach der antiken und mittelalterlichen Theorie über den Vor-
gang des Sehens ist das menschliche Auge nicht nur Empfangsstation
für die von Außen kommenden Lichtstrahlen, sondern es ist am Sehen
und am Zustandekommen der Bilder, die sich ihm darbieten, aktiv-
produktiv beteiligt.« 38 Sowohl die Augen wie die Kristalle — und sie
sind bei Guillaume de Lorris identisch — erzeugen die visionäre höhere
Welt, die sie offenbaren, und welche gleichzeitig die Welt ist, in welcher
der Betrachter seine Bestimmung, seine Wahrheit, sich selbst erkennt.
Das Auge spiegelt sich als ein sehendes Auge, als ein erkennendes Auge.
Selbsterkenntnis ist Welterkenntnis. Der Blick in den Spiegel oder in
das sich spiegelnde Auge ist — im Bereich der religiösen Erfahrung —
Erkenntnis Gottes und durch ihn auch des Sinns der Welt: das ist auch
die Bedeutung der Figur Rachels und ihres Spiegels in Dantes Divina
Commedia — gemäß dem Liber Sapientiae (VII, 26: »Candor est enim
lucis aeternae, et speculum sine macula Dei majestatis, et imago boni-
tatis ejus«) und gemäß dem ersten Korintherbrief des hl. Paulus (XIII,
12): »Videmus nunc per speculum in aenigmate: tunc autem facie ad
faciem. Nunc cognosco ex parte: tunc autem cognoscam sicut et cognitus
138
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
»r;,..tli^1.icn Komödie«, II, Stuttgart 1955, S. 428 ff. — So wie Rachel Beatrice
präfiguriert, so ihre Schwester Lea Matelda. über Parallelen zum Rosenroman s.
unseren Aufsatz: Lea, Matelda und Oiseuse. Zu Dante, Divina Commedia, Pur-
gatorio, 27. bis 31. Gesang, in diesem Band.
41 Purgatorio 31, v. 116 ff. — Vgl. Gmelin, a. a. 0., S. 497.
42 Purgatorio 28, v. 139 ff.
139
FRANZÖSISCHE LITERATUR
somit gleich dem Pflücken des Apfels vom Baum der Erkenntnis ist.
Die Strafe aber, die Narziß für diese Erkenntnis traf, hat in der sünde-
freien, prästabilierten Harmonie eines Irdischen Paradieses, das zugleich
Goldenes Zeitalter ist, keinen Platz. Narziß hatte die androgyne Einheit
des menschlichen Wesens, welche Platons Vorstellung vom Irdischen
Paradies bestimmt hatte, in einem Weltzustand wiederherzustellen ge-
trachtet, der diese Einheit nur noch über die Harmonie mit dem ab-
gespaltenen Teil des Ich, dem anderen Geschlecht, ermöglicht. Dafür
verfiel er der Strafe der Götter, dem Tod. Guillaume de Lorris ver-
wandelt denselben Versuch zur Reintegration des menschlichen Wesens
und der Welt im Vorgang des Erkennens in ein Gelingen. Die »fons
mortis« wird »fons vitae«, aus Tod ewige Jugend. Dazu aber war es
notwendig, daß die Vorstellung eines jeden Schuldbegriff ignorierenden
Goldenen Zeitalters mit seiner vollendeten Liebesharmonie jene Mög-
lichkeit zur Sünde tilgte, die dem Irdischen Paradies der Bibel mit seinem
Baum der Erkenntnis innewohnte. Es ist eine purifizierte, durch ihre
absolute Distanzierung vom konkreten Leben und durch ihre visionäre
Entrücktheit aus der geschichtlichen Zeit sublimierte höfische Liebe,
die das Drama der Erkenntnis von der diesem Drama immanenten
Drohung des Todes befreit. Schon vor dem Eintritt in den Jardin de
Deduit hatte der Amant sich im klaren Wasser eines Flusses erfrischt —
Symbol der Reinigung 43 .
140
NARZISS, DIE »FONTAINE D'AMORS« UND GUILLAUME DE LORRIS
141
8.
Die Abtei Thélème
uud die Einheit des Rabelais'schen Werks
142
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS'SCHEN WERKS
1 L'Abbaye de Thélème, publiée par Raoul Morçay, Genève — Lille 2 1942 (---. Textes
Littéraires Français). Zitiert wird im folgenden nach der Ausgabe von Jean
Plattard, Paris 1946 48 (--= Les Textes Français).
-
143
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Das Lachen ist das Eigenste des Menschen, ist das Wesen des Hu-
manen, und darum kann die Manifestation des Rabelais'schen Humanis-
mus die Form einer fortgesetzten Provozierung des Gelächters anneh-
men. In der Abtei Thélème ist dieses Lachen zu jener idyllischen Serenität
und Harmonie herabgedämpft, auf deren Ebene für Johan Huizinga der
Mediceerkreis, Erasmus, Thomas Morus, Montaigne und Rabelais zu-
sammenrücken 3 . Solche Feststellungen lassen Erklärungen, die den in
Heiterkeit geborgenen Ernst der Abtei Thélème in unverbindliches Spiel
verflüchtigen, als abwegig erscheinen. Um uns andererseits nicht in
Spekulationen zu verlieren, wollen wir versuchen, Rabelais' ideales
Wunschbild im geistigen Koordinatensystem der geschichtlichen Kräfte
des 16. Jahrhunderts zu situieren.
Die Thélème-Kapitel bilden den abschließenden Höhepunkt des 1534
erschienenen Gargantua-Buches, das in der Chronologie der Handlung
den 1. Teil des Gesamtwerkes bildet. Den 2. Teil, den Pantagruel, hatte
Rabelais zwei Jahre vorher veröffentlicht. Im 30. Kapitel dieses zuerst
verfaßten Buches wird im Verlauf einer furchtbaren Riesenschlacht dem
Epistemon der Kopf abgeschlagen. Ausgerechnet der Erzfilou Panurge
vollzieht das Lazarus-Wunder der Wiedererweckung, und wie der Held
der mittelalterlichen Lazarusversionen erzählt jetzt auch Epistemon von
seinen Erlebnissen im jenseits. Vom Himmel ist dabei allerdings nicht die
Rede, sondern von einer Unterwelt, in der Hölle und Elysium sich ver-
binden. Die Teufel sind nach dieser Schilderung ganz vergnügliche Bur-
schen, welche die Verdammten recht glimpflich behandeln. Besonders
aufgefallen ist Epistemon aber, daß im jenseits alle sozialen Verhältnisse
sich umgekehrt haben: die großen Herren dieser Welt müssen dort ihr
tägliches Brot sehr sauer verdienen, während die Philosophen und die
Armen ihre Stelle einnehmen. Aeneas betätigt sich als Müller, Papst
Alexander als Rattenfänger, Kleopatra verkauft Zwiebeln. Den Diogenes
144
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS'SCHEN WERKS
4 Die beste literarhistorische Erklärung dieses Kapitels, auf die wir uns stützen,
bietet Manfred Bambeck, Epistemons Unterweltsbericht im 30. Kapitel des Panta-
gruel. In: Etudes Rabelaisiennes I, Genève 1956, S. 28 ff.
145
FRANZÖSISCHE LITERATUR
5 S. R. Lebègue, Rabelais et les grands rhétoriqueurs. In: Les Lettres Romanes XII
(1958), S. 9 ff.
6 Für nicht unwesentliche Einzelheiten scheint Rabelais sich an Dante orientiert zu
haben; s. Walter Pabst, Die Pforte von Thélème und Dantes Höllentor. In:
Wissensch. Zeitschr. d. Friedrich-Schiller-Universität Jena, Gesellsch.- u. sprachwiss.
Reihe, Jg. 5 (1955/56) H. 2/3 (Festschr. f. E. von Jan), S. 325 328.
-
7 Vgl. dazu Abel Lefranc in: CEuvres de François Rabelais. Ed. crit., publiée par
A. Lefranc, t. I, Paris 1912, Introduction, S. XXVI.
146
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS'SCHEN WERKS
8 Dieser Aspekt ist sehr gut herausgearbeitet von Rita Falke, Persönliche Freiheit
und die Utopien. Phil. Diss. Hamburg 1954 (Masch.), S. 81 ff.
9 Jean Plattard, François Rabelais, Paris 1932, S. 195.
147
FRANZÖSISCHE LITERATUR
gensatz von Affekt und Norm ist aufgehoben, »natura« und »lex« sind
identisch; anders gesagt, die Problematik der »lex naturalis« hat hier ihre
optimistische humanistische Lösung gefunden. Thomas von Aquin hatte
den augustinischen Dualismus von göttlich verordnetem Gesetz und sün-
diger Natur in der Analogie von mittelalterlicher Gesellschaftsordnung und
im Menschen wirkender göttlicher Ratio aufgehoben; die Natur selbst
partizipiert am Gesetz. Aber mit dem Verfall der mittelalterlichen Welt,
mit der Ablösung der erbständischen durch eine berufsständische Gesell-
schaftsordnung, mit dem Aufkommen des Manufakturkapitalismus wird
die Kluft zwischen Natur und Gesetz wieder aufgerissen". Da die auf-
gebrochene Welt in ihrer Unordnung nicht als »natürlich« begriffen
werden kann, sondern als fremd und verderbt erscheint, bezieht die
Reformation, speziell der Calvinismus, das Wesen der Menschen mit
in diesen Bereich der Konkupiszenz ein. über den Abgrund hilft nur —
für ganz wenige — die Gnade eines zum Deus absconditus gewordenen
Gottes. Der Bruch der Humanisten mit den Reformatoren erfolgt durch
die Weigerung, diese Konsequenz mitzuvollziehen. Da indessen auch
für die Humanisten Ordnung und Sinn aus der Gesellschaft selbst nicht
mehr abzulesen waren, mußte die Möglichkeit harmonischen Daseins im
Individuum gesucht werden. Der Optimismus war nur noch im Glauben
an die Perfektibilität des Individuums möglich. Dieses Vertrauen in die
menschliche Natur konnte keine deutlichere Formulierung finden als in
der Harmoniegewißheit der Gemeinschaft von Thélème. Natur und Ge-
setz fallen hier zusammen, sind nicht nur analog, sondern identisch. Die
Affinität zum stoischen Naturgesetzbegriff, der Übereinstimmung zwi-
schen Natur und menschlicher Vernunft, ist bei Rabelais evident". Und
so wie die stoische Anthropologie eine solche des Widerstands gegen das
Schicksal ist, so meint auch der Pantagruelismus das heitere, überlegene
Bestehen inmitten einer widerwärtigen Welt: »certaine gayeté d'esprit
conficte en mespris des choses fortuites« (Prolog zum Quart Livre).
Die Thelemiten freilich bedürfen im Gegensatz zu den anderen Figuren
Rabelais' der Ataraxie nicht: die freie Entfaltung ihres Wesens ist gegen
148
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS / SCHEN WERKS
Die Freiheit ist der sicherste Schutz vor der Verderbnis. Wer sind nun
diejenigen, die in Thélème vor der Verfälschung ihrer Natur durch die
Welt bewahrt werden? Daß es sich bei der Abtei Thélème gerade auch
um eine Einrichtung zum Schutz vor den herrschenden Institutionen
handelt, wird zumindest im Hinblick auf eine der drei Kategorien von
Menschen ganz klar, die in Thélème aufgenommen werden. Die Inschrift
über der großen Pforte von Thélème fordert die Anhänger des Heiligen
Evangeliums zum Eintritt auf und verspricht ihnen »refuge et bastille«
gegen die »ennemys de la saincte parolle« (Garg. LIV). Gemeint sind die
Träger der reformatorischen Bestrebungen der Zeit und die Vertreter
eines christlichen Humanismus, die sich — wie Erasmus — wenig später
von Luthertum und Calvinismus distanzieren müssen. Im Jahre 1534
konnte Rabelais noch die Überzeugung hegen, daß zwischen den prote-
stantischen Strömungen und dem quasi-deistisch geläuterten Epikurä-
ismus humanistischer Prägung kein Widerspruch bestand. Die »Evan-
gelischen«, die in Thélème die »Loy Profonde« begründen, führen dort
offenbar das gleiche Leben wie die edlen Ritter und die Damen von
hohem Stand, die außer ihnen die Abtei bevölkern 12 . Aber sie sind
schutzbedürftiger als jene. Das in der Forschung sehr umstrittene, von
12 Nirgends ist von einem Unterschied irgendwelcher Art die Rede. Es ist überdies
wohl kein Zufall, daß die Doppelstrophe der Inschrift, die sich an die Vertreter
des »Sainct Evangile« richtet, weder am Anfang noch am Schluß steht, sondern
von den Aufforderungen an die »nobles chevaliers« und die »dames de hault
paraige« eingerahmt wird.
1 49
FRANZÖSISCHE LITERATUR
150
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS'SCHEN WERKS
solche Individuen beschränkt ist. Das Glück der Thelemiten ist das Glück
eines Auswahlmenschentums, das einerseits das Wesen der menschlichen
Natur überhaupt zu erfüllen beansprucht, und doch andererseits das Gros
der Menschen notwendig ausschließt. Damit aber tut Rabelais im profanen
Bereich im Grunde nichts anderes als die Reformatoren, voran Calvin, auf
dem religiösen Gebiet: nur ganz wenige sind auserwählt, und es bleibt
völlig im Dunkeln, wer sie auserwählt. Der Ratschluß der Natur, der doch
für die Menschheit gilt, bleibt so undurchschaubar und willkürlich in
seiner Gnadenverteilung wie der Deus absconditus.
Diese Analogie war weder Rabelais' Absicht, noch wurde sie ihm
bewußt. Aber ein echter Schriftsteller kann sich den Antagonismen der
geschichtlichen Wirklichkeit nicht entziehen, selbst wenn ihre Herein-
nahme in das Werk seine subjektiven Ziele widerlegt. Die schlechte
Wirklichkeit des 16. Jahrhunderts mit den gleichwohl in ihr enthaltenen
optimistischen Erwartungen der Humanisten, die den Entwurf Thélémes
provozierte, trägt ihre Widersprüche noch in die Idealkonstruktion selbst
hinein, die sie überwinden sollte.
Es ergibt sich dabei der über Rabelais' Werk hinaus zum Nachdenken
zwingende paradoxale Tatbestand, daß die human gedachte Elite die
Humanität in Frage stellt. Aus Thélème ist nicht nur alles Volk, sondern
es sind auch alle Kranken ausgeschlossen, überhaupt alle Stiefkinder der
Natur. Und neben Mönchen, Juristen und Wucherern wird auch den
Eifersüchtigen der Zugang verwehrt. Dieser letztere Umstand führt uns
zu einem weiteren Indiz für die konkrete geschichtliche Bedingtheit dieses
Wunschbilds: die Liebe, oder vielmehr die Absenz der Liebe. Die Har-
monie der Individualwillen wird mit dem Verzicht auf die Liebe erkauft;
es ist dies zugleich das deutlichste unter den nur indirekten Zeugnissen
dafür, daß es in Thélème keinen Privatbesitz gibt. Die Beziehungen
zwischen den edlen Damen und Herren von Thélème beschränken sich
auf »devotion et amytié« (Garg. LVII). Zwar dürfen die Thelemiten als
Antimönche grundsätzlich verheiratet sein, praktisch aber ist eine Ehe
bei ihnen ausgeschlossen: das Eintrittsalter ist bei Frauen auf 10 bis 15,
für Männer auf 12 bis 18 Jahre begrenzt (Garg. LIII). Wer heiraten will,
muß Thélème verlassen 15 . Rabelais wußte, daß die Liebe den Menschen
151
FRANZÖSISCHE LITERATUR
152
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS'SCHEN WERKS
17 »Subissant la contagion commune aux penseurs et aux écrivains, vers 1545, Rabe-
lais n'a plus d'attention que pour les énigmes redoutables du sexe féminin et du
mariage; il ne songe qu'à faire entendre sa voix dans le concert général.« (CEuvres
de François Rabelais [s. Anm. 7], Introduction, S. LII). — Das Verhältnis Rabelais'
zu den frauenfeindlichen Schriften untersuchte zuletzt mit erheblichen Korrek-
turen an der bisherigen Auffassung M. A. Screech, Rabelais, de Billon and.
Erasmus (A re-examination of Rabelais's attitude to woman). In: Bibl. d'Huma-
nisme et Renaissance, t. XIII, S. 241-65; ders., A further Study of Rabelais's
Position in the Querelle des femmes (Rabelais-Vives-Bouchard-Tiraqueau). In:
François Rabelais. Ouvrage publié pour le quatrième centenaire de sa mort,
S. 131-146.
153
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Panurge aber will in die Zukunft sehen. Als letzte Hoffnung verbleibt
das Orakel der »Dive Bouteille«, zu dem unsere Helden nach abenteuer-
licher Fahrt gegen Ende des fünften und letzten Buches gelangen. Das
Orakel der in einem Tempel unter der Erde befindlichen »Göttlichen
Flasche« gibt Panurge die langersehnte Antwort. Sie lautet: »Trinch« —
»Trinke«! — Die Priesterin Bacbuc erläutert den überraschenden Spruch:
»soyez vous-mesmes interpretes de vostre entreprinse« (V, XLV).
Panurge begreift, befeuert vom genossenen Wein, auf seine Weise, was
gemeint ist: er wird heiraten, weil er es will. Und wieder erinnert Panta-
gruel ihn daran, daß er ihm zu Anfang das Gleiche gesagt hat. Warum
also überhaupt die vielen Konsultationen und die weite Reise? Den
154
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS'SCHEN WERKS
18 »Vos philosophes qui se complaignent toutes choses estre par les anciens ecriptes,
rien ne leur estre laissé de nouveau ä inventer, ont tort évident.« (V. xvii).
19 Eine gute Darstellung von Panurges Charakterwandel gibt Mario Roques, Aspects
de Panurge, in: François Rabelais. Ouvrage publié pour le quatrième centenaire
de sa mort, S. 120-130. Roques' Schlußfolgerung führt indessen in die Irre:
»Comme tel personnage de Balzac, Panurge aurait peu ä peu imposé sa loi ä son
auteur.«
155
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Daneben steht aber als eine zweite der Seneca-Vers, den Erasmus in
den Adagia erklärt:
»Ducunt volentem fata, nolentem trahunt«.
156
DIE ABTEI THELEME UND DIE EINHEIT DES RABELAIS'SCHEN WERKS
Die Probe, auf welche die Erfahrungen der späteren Jahre die Grund-
gedanken der Abtei Thélème stellten, haben deren Gültigkeit nicht
annulliert. Die erhoffte Zeit freilich, da »tout bon vouloir aura son
compromis«, (Garg. II) ist weiter entfernt denn je. Die drei letzten
Bücher erweitern das humanistische Glaubensbekenntnis Rabelais' für
eine schlechter gewordene geschichtliche Wirklichkeit. In ihm ist letztlich
der Sinn des ganzen Romans beschlossen, ohne daß dessen Reichtum
damit erschöpft wäre. Seinen im engeren Sinne literarischen Wert erhält
er wesentlich von der hintergründigen Einheit des individuellen Heirats-
problems und der Reise. Die Ausweitung des privaten Dilemmas des
Panurge und mit ihm die Motivierung der die Komposition des ganzen
bedingenden Reise ist dadurch gerechtfertigt, daß sich in ihm das gleiche
Problem des Determinismus und der Willensfreiheit konkretisiert hat,
das die Seele des ganzen Werks bildet. Trotz der Ungleichheit des Auf-
baus im einzelnen, trotz der überfülle an satirischen Episoden und
trotz des sich deutlich auswirkenden Abstands der Abfassungszeiten
dürfen wir auf Grund der angedeuteten echten Einheit von Inhalt und
Form auch den künstlerischen Wert von Rabelais' Roman für erwiesen
betrachten 20 . Und der Leser darf das Gesamtwerk in Analogie zu der
Gestalt des Pantagruel begreifen, den der Autor verstanden wissen
wollte als »l'Idée et exemplaire de toute joyeuse perfection« (III, Li).
20 Bei vorstehenden Überlegungen wurde der Umstand keineswegs außer Acht ge-
lassen, daß die Verfasserschaft Rabelais' für das Cinquième Livre nach wie vor
ungewiß ist. Kaum zweifelhaft ist jedoch, daß zum mindesten größere Fragmente
und Skizzen von der Hand Rabelais' die Grundlage für die spätere Bearbeitung
durch einen andern bildeten. J. Plattard spricht von der »hypothèse, fort vraisem-
blable, que ses manuscrits ont été retouchés, augmentés et publiés par un habile
remanieur.« (François Rabelais, Paris 1932, S. 325; vgl. ders., Etat présent des
études rabelaisiennes, Paris 1927, S. 69 72). Gewiß scheint es uns, daß Rabelais
-
unter den Teilen, die er noch für das fünfte Buch vorbereitete, auf jeden Fall den
Schluß, der ja auch der Abschluß der Reise wie des ganzen Werks werden sollte,
selbst entworfen, wenn nicht sogar vollständig niedergeschrieben hat. Neue Argu-
mente für Rabelais' Verfasserschaft an großen Teilen des Cinquième Livre
bringen N. C. Carpenter, The Authenticity of Rabelais's Fifth Book: Musical
Criteria. In: Mod. Lang. Quarterly XIII (1952), S. 299 304, und K. H. Francis,
-
157
9. Der Abbé Prévost und seine »Manon Lescaut«
158
DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
159
FRANZÖSISCHE LITERATUR
wurde dann jedoch Almosenier bei dem Fürsten von Conti. Jetzt konnte
Prévost in gesicherter Stellung seine Zeitschrift und sein Romanwerk
fortführen. In Schulden geriet er freilich trotzdem wieder, und so begann.
er, die Wohlhabenden unter seinen Freunden um Geldanleihen anzu-
gehen. Eines der ausgewählten Opfer war Voltaire, der sich allerdings
lange bitten ließ, der aber größten Wert darauf legte, daß seine Bücher
in Prévosts Zeitschrift gut besprochen wurden. Nicht ganz freiwillig,
vermutlich, um sich seinen Gläubigern zu entziehen, reiste Prévost 1741
nach Belgien und Deutschland und kehrte ein Jahr später zurück, nach-
dem sich seine finanzielle Lage durch den Erfolg seiner Romane er-
träglicher gestaltet hatte.
Der letzte Abschnitt seines Lebens verlief ruhiger, war jedoch nicht
weniger mit Arbeit ausgefüllt. In rascher Folge übersetzte Prévost die
Romane Richardsons und wandte sich 1755 — Le Pour et le Contre
hatte 1740 aufgehört zu erscheinen — als Chefredakteur des Journal
étranger erneut dem Journalismus zu. Zu den Abonnenten dieser Zeit-
schrift, an der unter andern der mit Prévost befreundete Rousseau und
F. M. von Grimm mitarbeiteten, gehörten alle an den Ideen der Auf-
klärung interessierten gekrönten Häupter Europas. Die ruhigen späteren
Lebensjahre hatten Prévosts moralischen Kredit soweit wiederherge-
stellt, daß es einflußreichen Freunden gelang, für ihren Schützling 1754
die ansehnlich dotierte Pfründe eines Priors von Saint-Georges de Gesne
in der Diözese Le Mans zu erwirken. Prévost brauchte sich in seinem
Amte nie sehen zu lassen, mußte aber einen Vertreter unterhalten. Er
selbst zog es vor, in der Nähe der Hauptstadt zu bleiben und sich
weiterhin seinem schriftstellerischen Werk zu widmen. 1763 starb er in
Saint-Firmin bei Chantilly an einem Schlaganfall.
Seine Leser wollten offenbar nicht wahrhaben, daß ein Autor, dessen
Helden fast durchweg eines gewaltsamen Todes sterben mußten, auf
völlig natürliche Weise aus dem Leben geschieden sein sollte. Bald
bildete sich die Legende, der Verfasser der Manon Lescaut sei nur schein-
tot gewesen und sei erst unter den Händen eines Arztes, der ihn voreilig
sezierte, verstorben. Später hieß es sogar, er habe in seiner Jugend in.
einem Anfall von Raserei seinen eigenen Vater umgebracht. Beide Ge-
rüchte sind längst widerlegt, aber sie sind bezeichnend für den Eindruck,
den Prévosts trotz seiner geistlichen Würde wenig frommes Leben und
die Eigenart seines Werkes bei den Zeitgenossen hinterließen. Sein
Leben und sein Charakter bewirkten es, daß sich in seinen Romanen
160
DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
Prévost war achtzehn Jahre alt, als das Volk von Paris auf den Straßen
tanzte, um den Tod Ludwigs XIV. zu feiern. Die Sonne des roi soleil
war verblaßt, lange bevor sie unterging. Die Staatsschulden waren durch.
seine Kriege auf das zwanzigfache der jährlichen Einnahmen ange-
wachsen, der Hof durch die Bigotterie des alten Königs verdüstert. Der
Regent Philipp von Orléans behob den einen Fehler, indem er den Hof
zum Schauplatz ungehemmter Vergnügungssucht verwandelte, den
zweiten, indem er dem Schotten John Law die Sanierung der Finanzen
übertrug. Law gab in großzügigster Weise Papiergeld aus, das er durch
Grund und Boden für gedeckt hielt. Bevor er, nach dem katastrophalen
Bankrott seines Systems, Frankreich fluchtartig verlassen mußte, hatte
der Rausch der Spekulation mit all ihren Folgen das ganze Land erfaßt.
Die Gier nach rasch zu erwerbendem Reichtum, nach Luxus und Ver-
gnügungen jeder Art, ist das Kennzeichen dieser Epoche, in welche die
bildsamsten Jahre Prévosts fallen. Manon Lescaut bietet ein getreues
Spiegelbild dieser Zeit mit ihren korrupten Finanzleuten, wie dem Ge-
neralpächter G. M., der Vielzahl von Grisetten, wie Manon, und der
entfesselten Spielleidenschaft, welcher auch des Grieux verfällt.
Als Prévost diesen Erfahrungen seiner turbulenten Jugendjahre in
dem einzigen seiner Romane, der heute noch gelesen wird, künstlerische
161
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Gestalt verlieh, schickte er sich bereits an, sich in den neuen Stand der
Schriftsteller einzureihen, der gens de lettres, ohne die das Zeitalter der
Aufklärung nicht vorstellbar wäre. Im 17. Jahrhundert hatte sich im
Schatten des Absolutismus aus der Verschmelzung adliger und bürger-
licher Elemente zu einer größeren Gebildetenschicht erstmals ein Publi-
kum in dem modernen Sinne einer Trägerschaft der öffentlichen Mei-
nung gebildet. Sie ermöglichte Gründung und Gedeihen von Zeitschriften
und Zeitungen, deren Zahl sich im 18. Jahrhundert vervielfacht, und die die
Ideen der Aufklärung an breite Schichten herantragen. Schriftsteller-Sein
ist jetzt erstmals als Beruf möglich, und zu den ersten, die — wenigstens
zeitweilig — vom Ertrag ihrer Schriften leben, gehört der Abbé Prévost.
Entscheidende Anregungen verdankt Prévost seinem Aufenthalt in.
England. Dort, in dem Land, in dem man offen über religiöse und poli-
tische Fragen diskutieren kann, lernt er den Deismus kennen und eine
Literatur bewundern, die den französischen Einfluß,überwunden hat und
jetzt zurückzuwirken beginnt. England übt zu dieser Zeit eine bislang
unerhörte Anziehungskraft aus. Es erscheint wie das geistige Arsenal, aus
dem sich die Frühaufklärer ihre Waffen holen. Fast gleichzeitig mit
Prévost kommt Voltaire — direkt aus der Bastille — auf die Insel, um
dort seine aufsehenerregenden Lettres anglaises zu verfassen, und Mon-
tesquieu sammelt in England in den gleichen Jahren die entscheidenden
Erfahrungen für den Esprit des Lois. In England wird Prévost, dessen
phantasievoller Geist sich ohne Vorbehalt der Fülle neuer Eindrücke
öffnet, zum Literaten und Journalisten. Mit der Gründung seiner dem be-
rühmten Spectator Addisons nachgebildeten Zeitschrift Le Pour et le
Contre beginnt sein erheblicher Anteil an der Vermittlung englischen
Gedankenguts, an der Popularisierung philosophischer, ästhetischer und
literarischer Ideen aller Art wie an der Verbreitung historischer und
naturwissenschaftlicher Kenntnisse.
Das Zwölfpunkteprogramm seiner Zeitschrift verrät nicht gerade Be-
scheidenheit. Es umfaßt den »Stand der Wissenschaften und Künste«,
vor allem die literarischen »Neuerscheinungen aller Gattungen in fran-
zösischer, englischer, spanischer, italienischer und lateinischer Sprache«,
Berichte über die verschiedensten Zeitschriften, »Sitten und Gebräuche
des Jahrhunderts«, die »vulgären Vorurteile«, den »Charakter der be-
rühmten Männer und Frauen, neue zivile, militärische und literarische
Einrichtungen, neue Münzen, erstaunliche Naturereignisse und Erfin-
dungen«. Man kann sich den Inhalt von Prévosts Zeitschrift in der Tat
162
DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
163
FRANZÖSISCHE LITERATUR
die genau die Stelle einnahm, die durch den Verfall der bis dahin ver-
bindlichen sittlichen Ordnung freigeworden war. Was Richardson bot,
war eine ganz vom bürgerlichen Dasein her konzipierte und auf es zu-
geschnittene Moral, und das Bürgertum erlebte an seinem Werk wie eine
Offenbarung, daß Tugend, Leidenschaft und Gewissenskämpfe endlich
auch in seinem eigenen Milieu für die Literatur entdeckt und ernst ge-
nommen wurden. Es fand die ganze Gefühlsklaviatur des Familienlebens,
die Aufwertung eines bisher ignorierten Tugendbegriffs und den lite-
rarischen Nachweis, daß die Sprache der Leidenschaft wie deren Stärke
und Würde nicht das Privileg eines bestimmten Standes waren. Das
moralische Pathos im Alltag der bisher ausgeschlossenen Schichten, zur
literarischen Dignität erhoben und für die Selbstauslegung des Bürger-
tums geeignet, das war es, was Richardson das enthusiastische Lob seiner
Zeitgenossen eintrug. Prévosts Schicksal war es freilich, mit der über-
setzung von Pamela, Clarissa Harlowe und Charles Grandison nicht nur
der verdienstvolle Vermittler des Engländers geworden zu sein, sondern
dadurch seine, Ridiardsons Wirkung vorbereitenden eigenen Romane
alsbald einer Vergessenheit ausgeliefert zu haben, von der nur Manon
Lescaut nicht mitbetroffen wurde.
Prévosts Romane
Als im Jahre 1728 der erste Band von Prévosts Mémoires d'un homme
de qualité erschien, war das Zeitalter der Empfindsamkeit eröffnet,
war das erste Stadium der Vorromantik eingeleitet, das zu Rousseau
hinführt. Bereits 1719 hatte der Abbé du Bos die Ästhetik des prä-
reflexiven Gefühls begründet, dem »sentiment« die Spontaneität eines
Sinnesorgans zugeschrieben und es als sechsten Sinn zur Grundinstanz
für das ästhetische Urteil erklärt. Dieser Bruch mit der normativen, auf
der Raison aufgebauten klassischen Ästhetik zog früh die Konsequenz
aus einer Entwicklung, die sich erst in den Werken Prévosts und Mari-
vaux' voll durchzusetzen vermochte. Hier wie dort ist der Zusammen-
hang des neuen Gefühlskults mit der Popularisierung der sensualisti-
schen Philosophie mit Händen zu greifen. Prévosts Romane sind Apolo-
logien des Gefühls und der Leidenschaft. Im 17. Jahrhundert noch sollte
164
DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
der Mensch vor der seelischen Wirrnis, dem »désordre« der Gefühle und
der Phantasie, geschützt werden, jetzt aber wird sie zum Ausweis für die
Echtheit des Empfindens. Die neue »Schönheit der Gefühle« in der »Un-.
ordnung« des Herzens entzieht sich der Herrschaft der Ratio und präsen-
tiert sich als Tugend. Tugend (»vertu«) hat nicht mehr die Bedeutung
des Gehorsams gegenüber einer überpersönlichen Gesetzlichkeit, son-
dern die eines Befolgens der Gebote des eigenen Herzens, des indi-
viduellen Wesens, das sich in seiner Fähigkeit zum Gerührt- und Er-
schüttertwerden erkennt.
Die Romane aus der Zeit kurz vor und nach der Jahrhundertwende,
die der Frühaufklärer Fontenelle als wichtigste Förderer der »Wissen-
schaft vom Herzen« preist, bilden den Wortschatz des Gefühls aus. Ihre
Helden deuten ihren »tödlichen Schmerz« mit einem »tiefen Seufzer« an,
weinen »langsam fließende Tränen« oder vergießen »Sturzbäche von
Tränen«, sind vom »traurig-zärtlichen Blick« ihrer Erwählten »tief im
Grunde der Seele getroffen«. »Liebreizende Melancholie« bei den Frauen,
»düstere Melancholie« bei den Männern werden zur unwiderstehlichen
Attraktion und kündigen die Ära des Weltschmerzes an. Die »blendende«
Schönheit tritt ihren ersten Rang an die »rührende« Schönheit ab. Die
Literatur wird subjektiv, bekenntnishaft, ohne darum bereits rousseauisch
das in seiner Not erst wirklich entdeckte Ich für und gegen die korrum-
pierte Welt zu setzen. »Je mehr Empfindungen, desto großherziger die
Seele, desto achtungswerter die Person«, so heißt es bei Marivaux. Und
für Prévost »setzt die Größe der Seele große Leidenschaften voraus, die
es nur zur Tugend zu wenden gilt«. Schmerz, Trauer und Tränen er-
halten Eigenwert, man genießt sie erschauernd als Offenbarungen des
eigenen, bisher verschütteten Wesens. Durch seinen Titelhelden Cleve-
land, einen Vorfahren Saint-Preux' und Werthers, läßt Prévost aus-
sprechen, daß »das Herz eines Unglücklichen ebenso verliebt in seine
Traurigkeit« sei »wie ein glückliches Herz erfüllt von seinen Freuden«.
Und für Augenblicke erscheint bereits die romantische Sehnsucht nach
Einsamkeit und Weltferne als Möglichkeit einer Flucht in Bereiche, in
denen »man sich inmitten seiner Qualen sammelt und die Süßigkeit
genießt, schluchzen zu können, ohne unterbrochen zu werden«. Augen,
die ein sensibles Herz ahnen lassen, und ein »Anflug von Trauer« im
Antlitz faszinieren den Liebenden. Neben der »Süße des Blicks« ist es
ein »Zug reizender Traurigkeit«, durch den Manon Lescaut ihren Che-
valier bei der ersten Begegnung für alle Zeiten fesselt. Die Empfindsam-
165
FRANZÖSISCHE LITERATUR
keit ist die Form des erotischen Erlebnisses, das zur unwiderstehlichen
Leidenschaft exaltiert wird. Die Liebe ist amour-coup de foudre, Liebe
auf den ersten Blick, die den Menschen plötzlich überfällt und gegen die
er sich nicht zu wehren vermag. Diese Liebesleidenschaft ist »fatal« im
etymologischen Sinne des Wortes, sie läßt dem Willen keine Freiheit, ist
höchstes Glück und höchstes Leiden zugleich. Anders ausgedrückt: das
individualistische Glücksstreben und der Fatalitätsglaube, beides Aus-
druck der fortschreitenden Auflösung der Ständegesellschaft des Ancien.
Régime, verdichten sich literarisch in der Auffassung der Liebesleiden-
schaft als unentrinnbarer Dämonie. »Fatal« ist ein Schlüsselwort in
Prévosts Romanen. Die Instabilität des Daseins erscheint als Folge
blinden Schicksals, dem man ausgeliefert ist, das jedoch, indem es mit
der Leidenschaft einen unvorhersehbaren Gefühlsreichtum erweckt, See-
lenkräfte aufdeckt, die das Individuum inmitten seiner Hilflosigkeit die
unverwechselbare Einzigartigkeit seines Wesens entdecken läßt.
Es ist nur natürlich, daß diese »fatalen« Helden danach trachten, das
Grunderlebnis der ihr besonderes Wesen bescheinigenden Leidenschaft
in Dauer und in Ruhe zu verwandeln. Aus diesem Grunde werden
Prévosts Gestalten von einem »Durst nach dem Unbekannten« verzehrt,
sind sie auf der Suche nach einer unmöglichen Konstanz des Glücks, nach
einem »unbekannten Gut, dessen Mangel sie hindert, glücklich zu sein«.
Sie alle tragen, wie es von einer Gestalt des Doyen de Killerine heißt,
»einen verborgenen Grund von Melancholie und Unruhe im Herzen, der
sie unaufhörlich dazu treibt, etwas zu begehren, was ihnen fehlt«. Ihr
Denken und Fühlen bleibt in der quälenden Spannung zwischen der
Hingabe an eine unwiderstehliche Liebe und dem verzweifelten Wunsch
nach seelischer Ruhe. Nur neue Leidenschaft, erneute Liebe, unaufhör-
liches Begehren versprechen einen fragwürdigen Ausweg. Für die Prota-
gonistin von Prévosts Cleveland ist die Liebe das »höchste Gut«: »Ich
habe niemals eine andere Neigung, ja, nicht einmal den Gedanken daran
gehabt; und wenn ich mir eine hohe Vorstellung von der Glückseligkeit
mache, die uns in einem anderen Leben in Aussicht gestellt wird, dann
ist es die, daß man sich dort immerdar der Liebe hingeben kann.« Die
gleiche Gestalt bekennt offen ihre »unersättliche Begierde zu lieben und
geliebt zu werden«; es ist ein Begehren, das sich immer neue Ziele steckt
und doch die erstrebte Konstanz des Glücks nie erlangen kann. Diese
Unersättlichkeit des »désir« ist die Literarisierung einer realen Unerfüllt-
heit des individuellen Daseins. Das ruhelose Suchen und Nicht-finden-
166
DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
können der Romanfiguren ist bei Prévost ausschließlich auf den letzten
und vermeintlich sichersten Grundbestand ihrer Natur verwiesen: auf
ihre Liebesfähigkeit, die hier nur in ihrer unzweifelhaftesten Form, dem
sinnlich-körperlichen Erlebnis, verifizierbar erscheint. So bleibt unter der
Herrschaft des unbeeinflußbaren Fatums schließlich doch eine Gewißheit:
die Erfüllung eines Verlangens der Natur in der Liebe, deren volle Be-
jahung die dämonische Spitze der Leidenschaft zu entschärfen scheint.
Die konzedierte Allmacht der Leidenschaft nährt ein egozentrisches
Glücksstreben, hinter dem man unschwer die wie auch immer perver-
tierte Sehnsucht nach Sinnerfüllung des individuellen Daseins verspürt.
Jauchzen und Tränen der Leidenschaft sind das Eigenste des Einzel-
menschen, und noch das grausamste Schicksal, das unter diesem Stern steht,
bestätigt die unveränderliche Individualität gerade dadurch, daß keine
Macht der Welt es zu beeinflussen oder gar abzuwenden vermöchte.
Wo die Allmacht der Leidenschaft als unentrinnbares Schicksal ver-
standen wird, kann das Handeln der von ihm Betroffenen nicht dem die
freie Willensentscheidung voraussetzenden Maßstab von Schuld und
Sühne unterworfen werden. Der Begriff der Tugend ist hier von vorn-
herein anders gelagert, und es wäre ungerecht, Prévost die Konsequenz
aus diesem Tatbestand zu verübeln und ihm vorzuwerfen, daß er un-
ablässig von Ehe und Tugend spreche, ohne eine andere als triviale Vor-
stellung von beiden zu haben. Tugend als Ergebnis eines Zwangs der
überpersönlichen Vernunft ist gerade das, was das um seinen Eigenwert
ringende Individuum sich nicht mehr dekretieren läßt. Es will sein Sitten-
gesetz aus sich selbst herleiten, aus seiner Natur, und damit tritt ein
neuer Moralbegriff in Gegensatz zu dem der Traditionen und Institutio-
nen. Der Widerspruch wird freilich erst im Werk Rousseaus voll ausge-
tragen, aber schon bei Prévost wird er zu einem geheimen Grundthema.
Wie hat man es zu verstehen, daß selbst Prévosts fragwürdigste
Helden ihr ganzes Leben mit moralisierenden Reflexionen begleiten?
Wie kann der Autor sie darin ernst nehmen, und selbst von Manon
meinen, daß sie eigentlich tugendhaft sei? Sie alle, selbst Manon, sind.
empfindsam. Der staunend entdeckte Reichtum der Gefühle ist das un-
verlierbare Gut des Individuums, seine eigentliche virtus. »Sensibilité«
und »vertu«, Empfindsamkeit und Tugend, verschlingen sich. Die Emp-
findungsfähigkeit als solche ist potentielle Tugend, und die aus dem
Gefühlentflammte Leidenschaft enthält in sich schon realisierte Tugend,
auch wenn ihre Blindheit zu schlechten Taten verleitet. Im Wechsel und
167
FRANZÖSISCHE LITERATUR
163
DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
114anon Lescaut
169
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Prévost mit ihrer Person, ohne besondere Absicht, fast beiläufig einen
ewigen weiblichen Typus exemplarisch gestaltet hat. Maupassant zufolge
hat Prévost in dieser »Gestalt voll verführender Reize und instinktiver
Perfidie alles inkarniert, was das weibliche Wesen an Liebenswürdigkeit,
Verführungskraft und Schamlosigkeit zu bieten vermag [. . .] die Eva des
Verlorenen Paradieses, die unsterbliche, listenreiche und naive Versuche-
rin [. . .] ein Liebestier von angeborener Schlauheit ohne jedes Scham-
gefühl«.
Der Leser des Romans, der zu einem objektiven Verständnis seines
Sinngehalts gelangen will, darf sich indessen nicht auch seinerseits von
der Gestalt Manons verführen lassen. Was wir oben im Zusammenhang
mit den anderen Romanen Prévosts über die Bejahung der »passion«,
die endlose Suche nach einem unbekannten Gut in der unstillbaren Sehn-
sucht nach Liebe sagten, das gilt auch für Manon Lescaut. »Ehre«, »Tu.-
gend« und »Vernunft« sind in dem edel veranlagten des Grieux macht-
los, seine Leidenschaft ist »fatal«. Manons geheimnisvoller Zauber,
dessen überfallartige Wirkung auf den gerade erst Siebzehnjährigen sich
in dauernder sexueller Hörigkeit niederschlägt, wird von des Grieux als
Begegnung mit seinem unausweichlichen Schicksal begriffen. Von jetzt
an fallen Denken und Handeln für ihn auseinander, sein Charakter ist,
wie der Autor schreibt, »zwiespältig, eine Mischung von Tugenden und
Lastern, ein iinmerwährender Kontrast zwischen guten Gefühlen und
schlechten Handlungen«. Des Grieux zieht im Gespräch mit seinem
tugendhaften und frommen Freund Tiberge die Konsequenz aus seiner
Erfahrung: Vernunft, Tugend und Jenseitshoffnung bieten nichts, was
gewiß wäre. Die Leidenschaft dagegen beläßt inmitten der Fatalität
die Chance auf ein sinnlich verifizierbares Glück. Dem erschrockenen
Einwand seines Freundes, er huldige freigeistigen Ideen, begegnet des
Grieux mit dem sensualistischen Argument, daß in Anbetracht der
menschlichen Natur das Glück nur in der Lust, die höchste Lust aber
in der Liebe zu erlangen sei. Es ist sein, des Menschen, Elend und seine
Schwäche, nicht so handeln zu können, wie Vernunft und Gebot es
vorschreiben. Des Grieux hat den Gedanken an eine Autonomie der
Lebensführung in voller Bewußtheit aufgegeben, um in der Bejahung
der Fatalität sich den Rest des möglichen Glücks zu sichern auf die
Gefahr hin, im Sinne der geltenden Moral immer tiefer, bis zum Ver-
brechen hin, zu sinken. Das sinnlich Erfahrbare allein ist gewiß, die
»plaisirs« sind das einzige Konstante, auf das der Mensch in einer vom
170
DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
171
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
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DER ABBE PREVOST UND SEINE »MANON LESCAUT«
die drei Fälle der Untreue Manons, werden durch Geldmangel hervor-
gerufen. Des Grieux erkennt sehr rasch, daß seine Liebe nur gesichert
ist, solange Geld vorhanden ist: »Kein anderes Mädchen hing jemals
so wenig am Geld wie Manon; aber sie vermochte keinen Augenblick
ruhig zu sein, wenn sie Angst haben mußte, es könnte ausgehen«, »die
Liebe ist stärker als der Überfluß, stärker als Schätze und Reichtümer,
aber sie bedarf deren Hilfe«.
Am Schluß trägt diese Liebe sogar den Sieg davon; Manon scheint
durch das Leid gereift und gewandelt. Aber dieser Sieg der Liebe, diese
Rechtfertigung einer alle Erniedrigungen auf sich nehmenden Leiden-
schaft findet fern der Gesellschaft, in Amerika, statt und muß alsbald
mit dem Tode Manons erkauft werden. Nach dieser Verklärung der
allmächtigen Leidenschaft ist auch des Grieux' Geschichte zu Ende. Er
sinkt in die Anonymität eines belanglosen Daseins zurück. Die schicksal-
hafte Besonderung, zu der ihn die fatale »passion« ausersehen hatte,
liegt mit Manon im Sand von Louisiana begraben. Der Sinn dieses
Lebens ist in dem Augenblick zu Ende, da er gefunden scheint. Manons
Tod besiegelt ein Scheitern und gibt der Fatalität ihre ganze Omnipotenz
zurück. Die große Chance der »passion«, die diese Fatalität dem Cheva-
lier des Grieux beließ, wurde zunichte gemacht durch die fortschreitende
Unterwerfung unter das inhumane Gesetz des Geldes, das dem mensch-
lichen Wertgefühl als ebenso willkürlich erscheinen mußte wie der Zu-
fall der Geburt. Vergessen wir nicht, daß Frankreich soeben nach dem.
Zusammenbruch der Lawschen Finanzpolitik eine katastrophenhafte In-
flation erlebt hatte. Prévost hat diese Ereignisse aufmerksam verfolgt
und sich selber an einer Biographie Laws versucht. Erstmals gelangten
große Kapitalien in die Hände weniger Finanziers und Spekulanten.
Der Zufall entschied überallhin sichtbar über reich und arm, ein Faktum,
das Prévosts des Grieux bezeichnenderweise zum Allgemeinbefund
generalisiert. Dieser gleiche Zufall, projiziert auf die Fabel des Romans,
bestimmt diese Fabel selbst, verwandelt die Liebe zur Ware, bedingt
den Charakter Manons, die moralische Anfälligkeit und den sittlichen
Werdegang des Grieux', bewirkt die Peripetien der Handlung, und
wird so konstitutiv für Inhalt und Form des Romans. Konsequent in.
Fabel und Psychologie transponiert, konnte sich diese Wirklichkeits-
erfahrung letztlich nur in einem tragischen Ende der Geschichte dieser
Liebe niederschlagen.
In der Gestalt Manons, dieser Personifikation des Liebesverrats, in
175
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Benutzte Literatur
176
10. Balzac und der Realismus
(»Illusions perdues«)
»Balzac und der Realismus« — man kann dieses Thema als Gegenstand
eines einzigen Vortrags etwas unbescheiden finden. Wie soll man es
in einer Stunde fassen angesichts eines schriftstellerischen Werkes von
solchen Ausmaßen und angesichts der Problematik eines Stil- und
Epochenbegriffs, den nicht nur die Unberufenen allezeit munter als
wehrloses Etikett mißbrauchen? Wir wollen Realismus zunächst nur
negativ bestimmen: wir meinen im Folgenden nicht einen Realismus des
Details, weil die bloße Naturtreue im Detail am Wesen der Wirklich-
keit vorbeigeht, wenn sie nicht das Signifikante auswählt. Und wir
verstehen unter Realismus nicht eine möglichst umfassende Kopie der
Wirklichkeit, weil Kopieren noch nichts mit Kunst zu tun hat.
Realität hat ihren Gegenpol in der Idealität. Idealität aber ist — wie
sehr sie sich immer der Realität widersetzen mag — stets von Menschen
konzipiert, die in einer bestimmten Wirklichkeit leben, und sie ist daher
ein Moment der Wirklichkeit selbst, das mit dieser stets im Verhältnis
einer dialektischen Spannung steht. Wo beide indessen zu unverein-
baren Gegensätzen auseinandertreten, wird der Mensch zum Opfer
dieser Disjunktion. Dann erhält die Frage nach dem Wesen der Wirk-
lichkeit eine Relevanz, die sie ins volle Bewußtsein hebt und zum Inhalt
einer neuen Stilgesinnung werden läßt. Damit sind wir schon im 19. Jahr-
hundert und mitten im Thema.
In dem abgründig erweiterten Raum zwischen Ideal und Wirklichkeit
spielt sich jener für die Gestalten des französischen Romans so bedeut-
same Prozeß des Verbrennens aller Ideale an der unerbittlichen Realität
einer neuen Gesellschaft ab, den wir die Desillusionierung zu nennen
177
FRANZÖSISCHE LITERATUR
gewohnt sind. Balzac selbst hat in einem seiner größten und tiefsten
Romane das Stichwort gegeben: Illusions perdues — »Verlorene Illu-
sionen«. Wir genießen also den Vorteil, daß wir bei unseren Über-
legungen wesentlich von diesem einen Werk ausgehen können. Wenn
Sie sich daran erinnern, daß Balzac von den geplanten 137 Werken
seiner »Comédie humaine« immerhin 91 vollendet hat, werden Sie gleich
mir diesen Vorteil nicht gering schätzen.
Der Ausdruck »Verlorene Illusionen« wurde in der französischen
Romantik geprägt. Und noch die Generation Balzacs steht im Schatten
von Revolution und Empire, in der Erinnerung an eine heroische Epoche,
in einer Vorstellungswelt, die sich mit der noch völlig undurchschau-
baren Welt der industriellen Revolution konfrontiert sieht.
Der Spannungsraum zwischen Ideal und Wirklichkeit, in dem sich
der »Verlust der Illusionen« vollzieht, meint auch im einzelnen Roman
und mit der einmalig individuellen Handlung stets das Ganze. Die
immer größere Diskrepanz zwischen Ideal und Wirklichkeit, welche die
Desillusionierung auf der Linie Stendhal-Balzac-Flaubert schließlich in
einen hoffnungslosen Pessimismus einmünden läßt, ist ja als die Signa-
tur der Gesamtwirklichkeit zu begreifen. Die mit ihr manifest werdende
Desintegration einer bislang immer noch als virtuelle Einheit verstan-
denen Wertwelt bezieht sich auf die Totalität des menschlichen Lebens-
raums. Realismus ist — so dürfen wir vorläufig behaupten — der Zugriff
zur Totalität, eben weil er aus dem Verlust aller Kongruenz von Idee
und Wirklichkeit geboren wurde. Balzac hat die Auflösung jener Einheit
durch die Erstellung einer geschlossenen Welt, die totale Infragestellung
des Sinns durch den Totalaufriß einer aus seinem Geiste lebenden Ge-
sellschaft beantwortet. Das hektisch-chaotische Getriebe der französi-
schen Gesellschaft unter Restauration und Bürgerkönigtum fasziniert
ihn: »Le désordre est une source de beautés« (Vorwort zu »Une fille
d'Eve«) für das Werk. Es ist eine fiktive Welt, eine menschliche »Ko-
mödie«, aber in Analogie zur geschichtlichen Wirklichkeit. Die Frage
nach dem Wesen dieser Analogie deckt sich weitgehend mit der Frage,
worin speziell der »Realismus« Balzacs besteht.
Wir stehen also vor der Notwendigkeit, auch bei prinzipieller Be-
schränkung auf einen oder wenige Romane in einem größeren Ausmaß
als bei anderen Autoren stets das Gesamtwerk im Auge zu behalten.
jeder einzelne Roman Balzacs steht für sich, ist als einzelner verstehbar,
und ist doch zugleich konstitutiver Teil im Gesamtzusammenhang. Als
178
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
vereint, die dem Roman die Universalität gibt, in der sich sein Wesen.
erfüllt, kurz die Literatur, die Balzac selbst mit seinem Werk repräsen-
tieren will und in der Tat auch vertritt.
Nicht das Drama sollte die Summe der Poesie, die herrschende, univer-
sale Gattung werden, wie Victor Hugo glaubte, sondern der Roman,
wie der deutsche Romantiker Friedrich Schlegel erwartete. Balzac will,
wie er sagt, sein Jahrhundert »ausdrücken«, will das Denken seiner
Epoche »resümieren«. Er hat die Absicht, der Geschichtsschreiber seiner
Zeit zu sein, oder, wie er es rückschauend im Vorwort zur Comédie
humaine von 1842 formuliert: »Die französische Gesellschaft sollte der
Historiker, ich aber ihr Sekretär sein«. Der realistische Roman ist die
Geschichtsschreibung der Gegenwart.
Die hier wieder zum Vorschein gelangende alte, bereits aristotelische
Auffassung der epischen Dichtung als der Interpretation, als der »philo-
sophischen« Deutung geschichtlicher Prozesse, jetzt erweitert durch die
Hereinnahme der Ausdrucksmittel aller anderen Gattungen in den
Roman, läßt erkennen, daß Balzacs Anspruch auf Erfassung und Deu-
tung der zeitgenössischen Wirklichkeit ein absoluter ist. Kraft seines
Willens und seines Genies öffnet sich sein Werk erstmals für eine
Unbegrenztheit der Romaninhalte und des Stils, und sein Vermächtnis
ist die künstlerische Verwirklichung des Totalitätscharakters der Gat-
tung Roman.
Meine Abschweifung ist nur eine scheinbare. Wir wissen jetzt, mit
welchem Recht und in welchem Ausmaß wir aus einem Einzelwerk —
den Illusions perdues — grundsätzlich Aufschlüsse für die Erhellung
unseres Themas erwarten dürfen.
Ich erinnere an die wichtigsten Züge der Handlung:
In der kleinen Provinzhauptstadt Angoulême träumt Lucien Chardon,
Sohn eines Apothekers und einer verarmten Adligen, von Dichterruhm,
Glanz und Geld. Die Mutter, vor allem aber die Schwester Ève und sein
Freund, der Buchdrucker David Séchard opfern alles, um Lucien den
Weg zum Ruhm zu sichern.
Jugend, Schönheit und wohlgebaute Verse lassen den im Plebejer-
viertel der Stadt wohnenden Lucien Eingang in den tonangebenden.
Salon des Provinzadels von Angoulême finden und die Gunst der zwan-
zig Jahre älteren Marquise de Bargeton erringen, deren Ehrgeiz es ist, die
Laura dieses neuen Petrarca zu sein. Der auf Hand und Vermögen der
Mme Bargeton erpichte Intrigant Châtelet macht indessen das poesie-
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geizigen Ziele erhofft und hatte als zum Tode Verurteilter feststellen
müssen, daß auch seine Suche nach Selbstverwirklichung zur Heuchelei
geworden ist: »Parlant seul avec moi-même ä deux pas de la mort, je suis
encore hypocrite. 0 dix-neuvième siècle !« Das hiermit ausgesprochene
Urteil über die zeitgenössische Gesellschaft, die jede gute Anlage de-
praviert, ist vernichtend. Und das ist bei Balzac nicht weniger der Fall.
Diese Gesellschaft, in der es, nach Balzac, nur noch Interessen gibt
anstatt Glauben, ist der Todfeind jeder individuellen Entfaltung, die
ihre sittliche Substanz wahren will. Dem Spätheimkehrer Oberst Cha-
bert tritt sie in Gestalt seiner von ihm einst aus der Gosse geholten Frau
gegenüber, die ihn zur Selbstaufgabe seines menschlichen Wesens treibt:
»Ich möchte nicht mehr ich sein!« — Dieser Aufschrei der Qual bleibt ihm
als letzter Wunsch. In der »Femme sans coeur«, der Frau ohne Herz, ist
nicht ein partikulärer Charakter gezeichnet, sondern, wie es zum Schluß
von La Peau de Chagrin explizit heißt, die Gesellschaft personifiziert.
Die jungen Leute werden in den Illusions perdues wie im Gesamtwerk
hauptsächlich durch zwei Gruppen repräsentiert. Einmal durch den Cé-
nacle, den Freundeskreis um den Dichter d'Arthez, der in trister Armut
gelassen allen Verführungen trotzt und das Risiko auf sich nimmt,
immer auf der Schattenseite des Lebens zu bleiben. Die zweite Gruppe
sind die »viveurs«, die Lebemänner, die Jugend, Energie und Eleganz
mit Erfolg für Macht und Geld einsetzen, die sich virtuos der perfiden.
Spielregeln der Gesellschaft zu bedienen wissen. Ihr Prototyp ist Rasti-
gnac, der die Tochter seiner reichen Geliebten heiratet und es dadurch zum
Minister bringt. In den Illusions perdues kommt noch eine dritte Gruppe
hinzu: die der Kritiker, Journalisten und Schriftsteller, die um des Erfolgs
willen ihre Feder an den Meistbietenden verkaufen.
Für diese ganze Jugend gilt, daß sie eine Restaurations-Gesellschaft
vorfindet, in der alle Stellen von Greisen, zurückgekehrten Emigranten,
politischen Opportunisten und reich gewordenen Spekulanten besetzt
sind. Sie gerät in die Geldbewegung des sich rapide entwickelnden
Industriezeitalters. An dieser Gesellschaft zerbricht jede Illusion. Wer
sie nicht bezwingt, wird ihr Opfer; wer sie besiegt, hat sich ihr bis zur
völligen Verfälschung des eigenen Wesens angepaßt. Der Held unseres
Romans bildet einen signifikanten Sonderfall: er paßt sich an bis zum
Verlust jeder Würde und geht doch zugrunde. Er stürzt, weil er sowohl
zum Bösen wie zum Guten zu schwach ist, und weil er die Spielregeln
des Kampfes nicht völlig durchschaut hat. Zur tragischen Figur wird er,
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
weil er ein hoch talentierter Künstler ist, mit dessen Vernichtung sich die
Umwelt selbst das Urteil spricht wie in Alfred de Vignys Schauspiel
Chatterton. Luciens komplexer Charakter von edler Anlage und er-
bärmlicher Charakterschwäche artikuliert den Zustand dieser Welt in
dem internen Kampf zwischen Begierde und Anständigkeit, weil histo-
risch-gesellschaftliche Sachverhalte nur in der Übersetzung in menschlich-
persönliche Kollisionen zu künstlerischer Evidenz und Anschaulichkeit
gelangen können.
Luciens Schicksal entscheidet sich an einem einzigen Tag, genau in der
Mitte des zweiten Teils, des Hauptteils also, im Zentrum des Romans.
Unter Führung des längst korrumpierten Étienne Lousteau lernt er den.
Journalismus kennen, gewahrt die Nichtigkeit seiner hohen Vorstel-
lungen von literarischem Ruhm und Erhabenheit der Kunst: »L'argent
était le mot de tout énigme.« 1 Am Schluß dieses Tages, im Theater, legt
Lucien sich Rechenschaft ab: »je vois la poésie dans un bourbier.« 2 Und
doch ist er der Aussicht auf raschen Erfolg fast schon erlegen. Es bedarf
nur noch der Verführung durch eine Frau. Am gleichen Abend noch
findet er in der ausgehaltenen Schauspielerin Coralie eine Geliebte. Das
»ceuvre de démoralisation« ist abgeschlossen in dem Augenblick, da
Luciens Vorstellungen von der Würde der Kunst und des Dichtertums
zerstört sind. Wir kennen den weiteren Verlauf: Aufstieg und Sturz, wie
bei vielen Gestalten Balzacs. In Luciens Schicksal aber hat Balzac seine
Einsicht, daß das Geld Geist und Moral aus einer Qualität in reine
Quantität verwandelt, in besonderer Weise gestaltet.
Georg Lukäcs hat, von der zentralen inhaltlichen und komposito-
rischen Stellung von Luciens Tag der Entscheidung ausgehend, die
Illusions perdues als Ganzes die »tragikomische Epopöe von der Kapi-
talisierung des Geistes« genannt und hat das Hauptthema in dem »Zur-
Ware-Werden der Literatur« gesehen. Ein ganz wesentlicher Aspekt des
Balzacschen Werks ist hier zweifellos getroffen. Auch Ernst Robert
Curtius kam in seinem bedeutenden Balzac-Buch zu der Überzeugung,
daß in der »Comédie humaine« selbst die »Liebe als Wirklichkeit dem
ökonomischen Fatum unterworfen« sei.
Sehen wir uns einfach den Text an! »Die Zeitung« — so verkündet in
den Illusions perdues einer, der es wissen muß — »ist ein Instrument der
1 Illusions perdues, Paris: Ed. Garnier Frères (= Classiques Garnier), 1956, S. 301.
2 A. a. 0., S. 322.
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Parteien geworden, und von diesem zum Handelsobjekt, als solches aber
ohne Glauben und ohne Gesetz. Jedes Journal ist ein Laden, in dem man
die Worte in der Farbe verkauft, die gewünscht wird«. »Die Zeitungen
gehen in Spekulantentum und Kalkül weiter als der gemeinste Handel,
sie verschlingen unsere jeden Morgen erneut zum Verkauf stehende
Intelligenz.« 3 Der Journalist Lousteau, der Lucien in diese Welt einführt,
enthüllt das Prinzip des zeitgenössischen Kapitalismus an der Literatur
selbst, wenn er erklärt: »In der Literatur heißt das Geheimnis des Erfolgs
nicht Arbeit, sondern Ausbeutung fremder Arbeit. Die Eigentümer der
Zeitung sind Unternehmer, wir sind die Gehilfen.« 4 Dieses Prinzip tötet
jeden Charakter — Lousteau fährt fort: »Wo der Verleger nur einen
Verlust sieht, da fürchtet der Autor den Nebenbuhler: der eine weist sie
ab, der andere aber vernichtet sie.« 5
Es ist Balzac, der diese Sätze niederschreibt, und der diese Sätze nicht
nur niederschreibt, sondern aus ihrem Inhalt das Schicksal Luciens episch
gestaltet. Mit Luciens Anpassung an die käufliche Welt und das ökono-
mische Gesetz dieser Gesellschaft versiegt sein Genie. Es gibt sich selber
auf. Die Kurtisane Esther Gobseck, durch ihre Liebe zu Lucien in echt
Balzacscher Manier zur engelhaften Reinheit geläutert, gibt sich den
Tod, nachdem Vautrin sie gezwungen hat, sich an den Bankier Nucingen
zu verkaufen. Luciens physischer Tod durch Selbstmord als Folge dieses
Geschehens besiegelt seinen längst eingetretenen Tod als Dichter. Und.
als ob er zeigen wollte, daß nicht nur die große Begabung eines schwa-
chen Charakters an der brutalen Umwelt scheitert, hat Balzac die Gestalt
Luciens mit dessen charakterstarkem Freund David Séchard konfrontiert.
David, die völlig integre Edelseele, wird um seine bedeutende technische
Erfindung betrogen. Er verzichtet, resigniert, gibt den Kampf, der ihn ins
Schuldgefängnis führt, auf. Seine Illusionen, und als solche erweisen sich
die idealen Vorstellungen von Wert und Würde des Lebens, sind ebenso
gründlich durch die Wirklichkeit vernichtet wie diejenigen des sensiblen
Lucien.
Wir sind damit — so glaube ich — zu der Feststellung berechtigt, daß
die Gesellschaft, wie Balzac sie sieht, das Ideal zur Illusion degradiert,
und weiterhin, daß die Illusions perdues der erste große neuzeitliche
3 A. a. 0., S. 358 f.
4 A. a. 0., S. 275.
5 A. a. 0., S. 276.
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
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BALZAC UND DER REALISMUS
sich dafür egoistisch der Wirklichkeit bemächtigen. Sie heben auf ihre
Weise den Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit auf.
Das große Individuum hat Balzac immer fasziniert, auch in einer Welt,
in der es fast nur noch seine brutal-egoistische Abart zu geben schien.
Die faustischen Suchernaturen der Menschlichen Komödie aber enden im
Elend, wie Balthasar Claes in der Recherche de l'Absolu, oder im Wahn-
sinn, wie der Louis Lambert des Livre mystique. Sie haben die Energie-
theorie Balzacs nicht begriffen, die Balzac selbst nicht in die Praxis
umzusetzen verstand. Seine macht-, geld- und ruhmhungrigen Gestalten
sind alle irgendwie auch Projektionen von Balzacs eigenem Wesen und
zugleich Inkarnationen von Grundtendenzen seiner Zeit.
Balzac entnahm der werdenden Industriegesellschaft ein ökonomisches
Grundprinzip und übertrug es auf seine die Staats-, Gesellschafts- und
Lebenslehre einbegreifende Energietheorie — in seiner eigenen Formu-
lierung: »mit möglichst geringem Energieverbrauch möglichst große Lei-
stungen erzielen«. Er glaubte, wie schon sein Vater, daß sich das Leben
durch sinnvolles Kräftesparen beträchtlich verlängern lasse. Das gleiche
Prinzip ist in monumentaler Vereinseitigung in dem Geizhals Grandet
(Eugénie Grandet) verkörpert, der — wie es heißt — »mit allem spart,
sogar mit der Bewegung«. Aber der Grundwiderspruch dieses Vor-
satzes, an dem Balzac selbst fast verzweifelte, lag in dem Übermaß der
Lebens- und Erfolgsgier selbst, die ihn erzeugte. Die Symbolik des
berühmten Romans La Peau de Chagrin gestaltet diesen auch für Balzac
schicksalhaften Antagonismus zwischen unersättlicher, die Lebenssub-
stanz wegraffender Begierde und dem Bedürfnis nach Cikonomisierung
der Energien und läßt ihn in grausamer Folgerichtigkeit mit der Ver-
nichtung des Lebens enden.
In Balzacs Monomanen, einem Grandet, der noch in der Sterbestunde
nach dem goldenen Kreuz hascht, das ihm der Priester reicht, einem
Baron Hulot, dem von sexueller Gier Besessenen, einem Nucingen, dem
nach dem Modell Rothschilds geschaffenen skrupellosen Bankier, bringt
sich eine in menschliche Laster umgesetzte Dämonie der neuen Gesell-
schaft zum Ausdruck. Die gleichen maßlosen Impulse lassen die Tugen-
den der faustischen Suchernaturen, das Ideal gleichsam, am Widerstand
der Wirklichkeit verglühen. Willensriesen des Lasters und der Tugend
hat man diese von elementaren Leidenschaften und unendlichem Be-
gehren besessenen Gestalten Balzacs genannt. Ihre Kollisionen mit der
Umwelt konkretisieren die abgründige Disharmonie zwischen Indivi-
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
6 A. a. 0., S. 717 f.
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BALZAC UND DER REALISMUS
übertragen hat, ist er allein verwundbar. Und doch reckt er sich nach
Luciens Selbstmord erneut zu schrecklicher Größe empor und beendet
den langjährigen erbitterten Kampf mit den gerissenen Häuptern der
Polizei als Sieger.
Die Kritik setzt den Umstand, daß der Verbrecherkönig als oberster
Polizeichef endet, meist mit auf die lange Liste jener Relikte des Schauer-
und Schreckensromans, mit welchen Balzac seinen eigenen Realismus
selber in allzu romanesker Weise widerlegt haben soll. In unserem Fall
kann davon jedoch keine Rede sein. Zunächst hatte Paris in jenen
Jahren tatsächlich einen weit bekannten Fall dieser Art aufzuweisen,
d. h. einen ehemaligen Galeerensträfling als Polizeichef. Nun ist nach
alter und immer noch gültiger aristotelischer Einsicht die Übernahme
eines solch exzeptionellen Falles in die Dichtung dadurch noch nicht
gerechtfertigt, daß es ihn im Leben gegeben hat, vielmehr erst dann,
wenn er im Sinnzusammenhang der literarischen Fiktion wahrscheinlich
ist. Darüber war sich Balzac klar. Wir sind hier nicht auf Vermutungen
angewiesen, denn Balzac hat sich hierüber selber unmißverständlich
ausgesprochen: »Der Historiker der Sitten — so heißt es in Les paysans —
unterliegt strengeren Gesetzen als der Historiker der Fakten; er muß
alles wahrscheinlich machen, selbst das Wahre, während auf dem Gebiet
der Geschichtsschreibung im engeren Sinne das Unmögliche dadurch
gerechtfertigt ist, daß es einfach passiert ist.« Wenn Balzac mit dem
überraschenden Rollenwechsel Collins demonstriert, daß Polizei und
Verbrecher einander wert sind — und das ist hier ja wohl evident —
so gipfelt in diesem genialen epischen Kniff das Urteil, das der Autor
schon von Anbeginn an für die von ihm dargestellte Gesellschaft bereit-
hält. In solchen Gestaltungen ist — wenn wir uns nicht sehr täuschen —
in Wahrheit der Realismus Balzacs zu suchen, wenn Realismus die
höchste Nähe der konzentrischen Analogie der Kunst zur Wirklichkeit
besagt, und wenn diese stilkritische Einordnung eines an »Unglaub-
lichkeiten« so reichen Autors nicht überhaupt jeden Sinn verlieren soll.
Die Wahrheit beruht auf der Übertreibung — meinte später Flaubert.
Und das gilt für den Realismus, der Kunst sein will, erst recht.
Wie anders sollte die chaotische Welt der Comédie humaine, in die
nur noch der eklatante Aufstieg großer Schurken und die bittere Resig-
nation der Gescheiterten die scharfen Konturen — und was für welche! —
einziehen, noch »realistisch« heißen können? Und wann sollte Balzac
all das erfahren und beobachtet haben, was er beschrieb und darstellte?
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BALZAC UND DER REALISMUS
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BALZAC UND DER REALISMUS
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tismus. Sein Buch der Mystik wurde denn auch 1848 auf den »Index
librorum prohibitorum« gesetzt. Seine Hoffnung, daß die freiheitlichen
Impulse der Revolution, die Fortschritte der wirtschaftlich-technischen
Entwicklung und die traditionellen Institutionen von Staat und Kirche
sich zu einer wahrhaft humanen Einheit zusammenschließen würden,
erfuhren durch Restauration und Bürgerkönigtum eine nicht zu über-
sehende Widerlegung. Diese Erfahrung bildet den tiefen Erlebnishinter-
grund für die Menschliche Komödie und ihr großes Motiv der Desillu-
sion. Der Realismus als säkulares Phänomen der Kunst hat hier seine
Wurzel.
Balzacs Okkultismus und Mystik wie seine Energietheorie treten in
die Lücke, die starre Kirchengläubigkeit und positivistische Wissenschaft
nicht auszufüllen vermögen. Wenn nun an der subjektiven Ehrlichkeit
von Balzacs religiösen und weltanschaulichen Bekenntnissen nicht zu
zweifeln ist, so enthüllen sie sich doch durch ihre Besonderheit und
Widersprüchlichkeit als Surrogate. Der sich überstürzenden industriellen,
gesellschaftlichen und politischen Entwicklung können die Denkweisen
nicht nachfolgen. Das Ergebnis ist eine Vehemenz der Dialektik von
Sein und Bewußtsein, in der, wie wir sahen, die Harmonie von Ideal
und Wirklichkeit schlechthin illusorisch und gerade darum zum beson-
ders dringlichen Problem, zum Thema wird.
Von dieser ungeheuren Spannung, deren Elemente in einem noch nie
dagewesenen Reichtum an individuellen Konflikten innerhalb einer als
Ganzeb konzipierten fiktiven Gesellschaft konkretisiert sind, lebt Balzacs
gesamtes Werk. Die verlorene Geschichtsmächtigkeit der Idee vermochte
auch Balzac angesichts der zeitgenössischen Wirklichkeit nicht zu resti-
tuieren. Balzac hat jedoch seine Auffassung, daß die Dichter das »Wahre
durch Analogie finden« — »inventer le vrai par analogie« (La Peau de
Chagrin) — verwirklicht, er hat die »société peinte en action«, die
Gesellschaft in Bewegung und Handeln dargestellt. Die materielle Fülle
der Wirklichkeit vermochte auch ein Balzac nicht zu reproduzieren. Sein
Realismus ist äußerste Adäquatheit der kondensierenden Fiktion zur
Realität; und die vermeintlichen Unwahrscheinlichkeiten sind seine tra-
genden Elemente, weil in ihnen die Wesenszüge der Wirklichkeit kon-
vergieren. Die »Nachahmung Gottvaters«, wie Albert Thibaudet die
Menschliche Komödie nannte, blieb ein riesenhaftes Fragment, ein Frag-
ment freilich, das sich dem Leser gleichwohl als die von ihrem Schöpfer
angestrebte »Geschichte der Gesellschaft des 19. Jahrhunderts« mit allen
196
BALZAC UND DER REALISMUS
Benutzte Literatur
197
II. Flaubert und seine »Education sentimentale«
Romantik — Realismus
198
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
jahr, als ihn auf einer Reise die Nachricht vom Tode Balzacs erreichte,
dessen Erbe und Fortführer er werden sollte, und als er selbst starb,
hatte Emile Zola bereits einen beträchtlichen Teil seines Rougon-Mac-
quart-Zyklus veröffentlicht. Die gefestigte Kunstauffassung des reifen
Flaubert erlaubte keine »Rückfälle« in die seelischen Eruptionen der
romantischen Dichtung. Es wäre indessen ein Wunder gewesen, wenn
die Jugend des in frühesten Jahren für die Literatur entbrannten Flau-
bert nicht im Zeichen Byrons und Chateaubriands gestanden hätte.
Das Milieu, in dem er am 12. Dezember 1821 geboren wurde, war
mehr dazu angetan, ihn für die spätere erbarmungslose Analyse des
Menschen zu disponieren als für die romantische Exaltation des Ich.
Flaubert wuchs im Krankenhaus von Rouen auf, wo er auch geboren
wurde, wo sein Vater, Nachkomme mehrerer champagnischer Ärzte,
Chirurg und Chefarzt war. Arzt und Nachfolger des Vaters wurde auch
der ältere Bruder, mit dem Gustave zeitlebens nur ein kühles Verhältnis
verband, ganz im Gegensatz zu der Vertrautheit mit der zärtlich ge-
liebten jüngeren Schwester Caroline. Die Mutter, ebenfalls Arzttochter,
stammte aus einer normannischen Familie von Seefahrern und Beamten.
Als Normanne fühlte sich auch Gustave Flaubert, ohne selber recht
zu wissen, daß er ein sehr anziehender, männlich-schöner Vertreter
des normannischen Typus war. Der noch ganz romantisch getönte Pessi-
mismus seiner Schülerjahre konnte sich zunächst aus den Eindrücken
des Krankenhauslebens nähren: »Niemals habe ich ein Kind ansehen
können ohne zu denken, daß daraus einmal ein Greis wird, und nie
eine Wiege, ohne mir zugleich ein Grab vorzustellen. Die Betrachtung
einer nackten Frau ruft den Gedanken an ihr Skelett in mir hervor.«
Der Schüler des Gymnasiums von Rouen erfuhr die ganze Faszination,
die das romantische Lebensgefühl noch in seiner provinziellen Spät-
blüte auszustrahlen vermochte. Wie die Kameraden, unter ihnen der
schwärmerische Freund Alfred Le Poittevin, dessen Schwester Laure die
Mutter Maupassants werden sollte, kultivierte Flaubert den Weltschmerz
und die Todessehnsucht. In seinen Briefen evoziert er die Gefühle einer
Generation, die »zwischen Wahnsinn und Selbstmord schwankte«, er-
innert sich an Jugendfreunde, die »sich mit ihrer Krawatte erwürgten«
oder sich ins Laster stürzten, um dem ennui zu entgehen, diesem »Krebs,
der den Menschen verbrennt, ihn zerreißt, und zum Selbstmord treibt«.
Um die Verfallsmelancholie des Herbstes, um Tod, Grab, Tränen,
Empörung, Selbstdämonisierung und Schmerz kreisen die Gedanken
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
und Gefühle dieser Jugend, und sie prägen auch die frühen Schriften
Flauberts. Der Neunjährige schon hatte sich auf dem Billardtisch des
Vaters mit szenischen Darstellungen versucht, der Schüler historische
Erzählungen, Essays und Theaterstücke entworfen. Mit fünfzehn Jahren
begann Flaubert seine Mémoires d'un fou zu schreiben, mit einund-
zwanzig die Erzählung Novembre, beide schon mit dem Thema, das
die Education sentimentale entwickeln sollte, aber beide noch als lyri-
sche, träumerische und enthusiastische Konfessionen, romantische Selbst-,
aussagen, in denen das überspannte Ich sich zu verlieren droht. »Zer-
schmettert von dem Gewicht meines Herzens und meines Stolzes fiel
ich wie vernichtet in einen Abgrund von Schmerzen, das Blut peitschte
mir das Gesicht, mein Pulsschlag betäubte mich, meine Brust schien
zu bersten, ich sah nichts mehr, fühlte nichts mehr, ich war trunken,
ich war wahnsinnig« — so heißt es in der autobiographischen Erzählung
Novembre. Flaubert erkannte jedoch die tödliche Gefahr; der Trost,
den die Werther und die Renés aus dem Bewußtsein einer schicksal-
haften Auserwähltheit noch im Untergang schöpfen konnten, hat für
ihn seinen Wert verloren. Eine neuverstandene Kunst, das heroische
Objektivieren des verachteten Daseins durch das beherrschte Wort, ver-
spricht einen Ausweg aus dem radikalen romantischen Pessimismus.
Die Kunst als Bemächtigung der Realität erscheint als die einzig mög-
liche Form einer Erlösung dieser Realität. Es war jedoch ein weiter und
harter Weg bis zur endgültigen Überwindung der romantischen Ver-
führung des Herzens. Den ersten Schritt bezeichnet der Anhang zu
Novembre, der in der Erzählform der dritten Person und mit seiner
Stilkritik die vorausgehende Ich-Erzählung und den Realitätswert ihres
seelischen Ergusses widerruft. Dem romantischen Erzähler-Ich — und
mit ihm meint Flaubert sein vorheriges Selbst — schweigen Kunst und
Leben, wenn die Substanz des Ich sich in der Idolatrie des ungezähm-
ten Lebensekels verzehrt. Das zum »Er« gewordene Ich von Novembre
stirbt, unfähig selbst zur Tat des Selbstmords, an der Auszehrung des
resignierenden Gefühls.
Flauberts romantisches alter ego wird mit diesem Selbstbefreiungsakt
theoretisch begraben. Zum praktischen Vollzug bedurfte es freilich der
gesammelten persönlichen, geschichtlichen und künstlerischen Erfahrun-
gen. Im Tiefsten ungeklärt sind bis heute die Gründe, die in Flaubert
jene große, entscheidende Wende hervorriefen, die sein Leben und
Schaffen in zwei klar unterscheidbare Phasen aufteilen lassen. Zeitlich
200
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
von Ursachen und Wirkungen. Das ist der Fehler des Buches, und darin
widerspricht es seinem Titel [. . .]. Ich weiß aber, wie man es machen
müßte! 0 mein Gott! Was für ein großer Schriftsteller wäre ich, schriebe
ich den Stil, der mir vorschwebt!« Auch die 1849 beendete erste Fassung
der Versuchung des Heiligen Antonius bringt diesen Stil noch nicht,
ja wird zu einer schweren Enttäuschung. Zweiunddreißig Stunden lang
liest Flaubert das Manuskript den engsten Freunden Maxime Du Camp
und Louis Bouilhet, vor. Ihr Urteil lautet: »Ins Feuer werfen und nie
wieder davon reden!« Es bedurfte einer längeren Pause in völlig ver-
änderter Umgebung, um in Flaubert die neue Stiltheorie zu einer Klar-
heit reifen zu lassen, die ihre Verwirklichung in der dichterischen Praxis
und damit die endgültige Abkehr von der Romantik ermöglichte. In
diesem geistigen Klärungsprozeß wird man die eigentliche Bedeutung
der großen Reise sehen dürfen, die Flaubert von 1849 bis 1851 zu-
sammen mit Maxime Du Camp unternahm und die ihn nach Ägypten,
Palästina, Syrien, nach der Türkei, Griechenland und Italien führte.
Unmittelbar nach seiner Rückkehr und einer kurzen Reise mit der Mutter
nach London beginnt er wieder zu schreiben. Nach jener unbarmherzigen
Verurteilung der ersten Versuchung durch die Freunde hatte Bouilhet
Flaubert als Thema die Geschichte von Delamare, einen damals auf-
sehenerregenden Fall von Ehebruch und Selbstmord, angeraten. In fünf-
undfünfzig Monaten qualvoller Arbeit schreibt er nun Madame Bovary,
den Roman, der die Verwirklichung seines ästhetischen Ideals, den
Publikumserfolg, aber auch die bittere Erfahrung des gegen ihn an-
gestrengten Prozesses wegen Immoralität bringt.
Als Du Camp, der stets auf schnellen Ruhm Bedachte, Haubert drängt,
die Bovary abzuschließen und zu publizieren, antwortet ihm Flaubert:
»Der Erfolg erscheint mir als ein Resultat, aber nicht als das Ziel. Ich will
lieber wie ein Hund krepieren als die Niederschrift eines Satzes, der noch
nicht reif ist, um eine einzige Sekunde beschleunigen.« In diesen Worten
sind die ganze Disziplin und der tiefe Ernst dieses Dienstes an der Kunst
beschlossen, den man mit Fug und Recht als eine Religion der Kunst
202
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
und klage mich des wahnwitzigen Stolzes an, der mich nach Chimären
lechzen läßt. Eine Viertelstunde später ist alles anders, das Herz pocht
mir vor Freude [. .1. Im Licht eines Enthusiasmus, der meine Haut vom
Scheitel bis zur Sohle erschauern läßt, habe ich manchmal Seelenzustände
erfahren, die über dem Leben stehen, für die der Ruhm nichts und selbst
das Glück unnütz wäre [. . .]. Sogar inmitten der naivsten Zufriedenheit
kommen mir Zweifel. Und trotzdem! Ich würde dies für nichts preis-
geben, weil es meinem Gewissen scheinen will, daß ich eine Pflicht
erfülle, daß ich einer höheren Bestimmung gehorche, daß ich das Gute
tue und auf dem richtigen Wege bin.« Diese Kunstreligion trägt fast
mystische Elemente in sich. Ihr Gott aber ist grausam: »Die Kunst
ernährt sich wie der Gott der Juden von Blutopfern.« Immer wieder hat
Louise Colet, an die diese Zeilen gerichtet wurden, Flaubert einem
weniger anspruchsvollen Gott zuzuführen versucht. Erstaunlich ist, daß
Flauberts Verhältnis zu dieser so ganz anders veranlagten, elf Jahre
älteren, vom Erfolg und von Verehrern verwöhnten Frau mehr als zehn
Jahre dauern konnte. Flaubert wollte aus der »Muse«, wie die ehrgeizige
und mittelmäßige Schriftstellerin genannt wurde, eine Dichterin machen,
korrigierte unermüdlich ihre Verse und schrieb zahllose Briefe an sie, die
wegen der in ihnen enthaltenen theoretischen Explikationen seiner Ästhe-
tik von unschätzbarem Wert sind. Unablässig versuchte Louise Colet,
Flaubert zur Übersiedlung nach Paris und zum Zusammenleben mit ihr
zu überreden. Aber der Eremit von Croisset blieb hart. Er quälte sich
weiter ab mit den »Schrecken des Stils«, im Kampf um das vollkommene
Wort, das es »auf den Gedanken zu kleben« gilt, weil es nach Flauberts
hierin der französischen Klassik verpflichteter Ansicht keine Synonyme
gibt. Wie besessen ringt er mit den Unvermeidlichkeiten der Sprache, den
Genitiven, den Relativpronomen, Hilfsverben und Konjunktionen. Im
Text der zweiten Auflage der Education sentimentale bringt er zahlreiche
Korrekturen an. Vier Fünftel aller Änderungen sind Tilgungen, drei
Viertel davon betreffen die »aber«, »dann«, »und«, »darauf« und
»indessen«. Stets geht es um die Präzision, die kein sprachliches Element
unkontrolliert durchläßt und ihm seinen vollen, exakten Aussagewert
zurückgibt, der wiederum ebenso an den Rhythmus wie an den Inhalt
gebunden ist. Denn Flaubert wollte einen Stil, der »rhythmisiert ist wie
der Vers und präzis wie die Sprache der Wissenschaft«. Das »richtige«
Wort ist immer auch das harmonische Wort. Kein Satz, der nicht durch
die Probe des »gueuloir« gegangen wäre, d. h. den der Autor nicht durch
204
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
lauten Vortrag auf Melodie und Rhythmus geprüft hätte. Fünf Jahre
brauchte er für Madame Bovary, fünf weitere für Salammbô, sechs Jahre
für die Education sentimentale, der 1872 begonnene Roman Bouvard et
Pécuchet bleibt unvollendet. Die Sorge um den Stil, die kein Autor sonst
in ähnlicher Stärke verspürt hat, ist jedoch nicht allein die Ursache für
die langen Entstehungszeiten. Flaubert fand keine Ruhe, bevor er nicht
ein Maximum an Materialsammlungen und Quellenstudien hinter sich
gebracht hatte. Für die Education bewältigte er innerhalb von sechs
Wochen siebenundzwanzig verschiedene Darstellungen der Februarrevo-
lution, für Bouvard et Pécudiet las und exzerpierte er rund fünfzehn--
hundert wissenschaftliche Werke. Stilgesinnung und Wille zur vollstän-
digen sachlichen Richtigkeit sind monumentaler Ausdruck des unabläs-
sigen Ringens um die Realisierung eines alle Kräfte in seinen Bann
ziehenden ästhetischen Ideals.
Impassibilité
205
FRANZÖSISCHE LITERATUR
noch auf ihren Geoffroy de Saint-Hilaire, jenen großen Mann, der die
Rechtmäßigkeit der Monstren nachwies. Wenn man eine Zeitlang die
menschliche Seele mit der gleichen Unparteilichkeit behandelt haben
wird, mit der man in der Physik die Materie studiert, wird ein unge-
heurer Schritt vorwärts getan sein. Dies ist das einzige Mittel für die
Menschheit, sich ein wenig über sich selbst zu erheben.«
Das Gelingen ist für Flaubert eine Frage der Methode, jener Methode,
die er selbst anwenden will. Der stets die Wahrheit seiner Inhalte über-
prüfende Verstand ist mit höchstem Mißtrauen gegen das Gefühl zu
wappnen, denn allein »das Wort Seele hat die Menschen fast ebensoviele
Dummheiten aussprechen lassen als es Seelen gibt«. Auf die Literatur
übertragen hat die wissenschaftliche Methode zwei Grundgesetze: strikte
Enthaltung vom Schlüsseziehen, und impassibilité, d. h. die Unempfind-
lichkeit, die Teilnahmslosigkeit des Künstlers. Schlüsse ziehen (»con-
clure«) ist zugleich auch Urteil, Urteil aber beim Künstler Vorurteil,
Parteinahme. Unparteilichkeit (»impartialité«) ist die Grundtugend der
Wissenschaft; für den Schriftsteller besagt sie: darstellen unter Verzicht
auf jede moralisierende Absicht, auf jede persönliche Stellungnahme. So
haben es, wie Flaubert anmerkt, Homer, Shakespeare und Goethe ge-
halten. Das richtig Dargestellte spricht für sich allein. Der Autor selbst
hat sich völlig herauszuhalten, seinem Werke muß Unpersönlichkeit
(»impersonnalité«) eignen. »Der Künstler darf in seinem Werk nicht
mehr zum Vorschein kommen als Gott in der Natur [. . .] überall gegen-
wärtig, aber nirgends sichtbar.« Der Rückzug des Erzählers in die leiden-
schaftslose Anonymität des allgegenwärtigen und nirgends faßbaren
Schöpfers bezweckt äußerste Objektivität. Die Romanhandlung wird zu
einer Geschichte, die sich gleichsam selbst erzählt, deren Vorgänge durch
ihr So-Sein sich selber interpretieren, ohne jeden Kommentar, ohne jede
Erklärung, ohne jede Wertung durch den Autor, allein durch die die
Vorgänge produzierende Sprache, durch die Macht des Stils, der »für sich
allein eine Weise ist, die Dinge zu sehen«. Es gilt, wie Flaubert seinem
Schüler Maupassant erklärt, die Wirklichkeit »lange und aufmerksam
genug zu betrachten, um einen Aspekt zu entdecken, der noch von
niemandem gesehen oder dargestellt worden ist«. Der Stil übersetzt die
Beobachtung und impliziert ihre objektive Wahrheit. Wie anders hatte
noch Balzac die künstlerische Darstellung der Realität konzipiert!
Objektivität, Unpersönlichkeit und Unparteilichkeit setzen eine Tu-
gend voraus, die sich gerade Flaubert in immer neuer, ungeheurer An-
206
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
strengung erwerben muß: die »impassibilité« wurde für ihn zum Gegen-
stand intellektueller und ästhetischer Askese. »Nicht die Leidenschaft
macht die Verse« — so schreibt er an Louise Colet — »je persönlicher sie
sind, desto schwächer. Je weniger man eine Sache fühlt, umso fähiger
wird man, sie so auszudrücken, wie sie wirklich ist, aber man muß die
Gabe besitzen, sie sich fühlbar zu machen.« Der künstlerische Akt
besteht also in der äußersten, keine Empfindung hindurchlassenden
Objektivierung von vorher stark mitempfundenen Vorgängen. Gerade
dies ist, vor allem schon von den Zeitgenossen, völlig mißverstanden
und Flaubert als kalter, unbarmherziger und daher auch unmoralischer
Charakter mißdeutet worden. Nichts ist jedoch falscher, als die selbst
auferlegte Disziplin und das Prinzip der »impassibilité« als Gefühllosig-
keit des Menschen Flaubert auszulegen. Sein vielzitierter Ausspruch:
»Madame Bovary, das bin ich selbst«, ist so ernst zu nehmen wie sein
Bekenntnis, daß er, während er die Agonie der Emma Bovary beschrieb,
beständig den Geschmack des Arseniks im Munde verspürt habe. Die
Empfindungsfähigkeit, die aus dem Kunstwerk eliminiert wird, ist gleich-
wohl dessen Voraussetzung: »Um richtig wiedergegeben zu werden, muß
die äußere Wirklichkeit in uns eindringen, bis sie uns zum Schreien
bringt«. Die Ästhetik der »impassibilité« konnte nur von einem Autor
konzipiert werden, dem die Fähigkeit zu tiefen Emfindungen in höchstem
Maße eigen war.
Pessimismus
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
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FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
209
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
211
FRANZÖSISCHE LITERATUR
1848
Die Mitte des 19. Jahrhunderts bezeichnet einen der schärfsten Ein-
schnitte, welche die französische Literatur kennt. Es ist kein Zufall, daß
mit dem Zusammenbruch der Republik Lamartines auch die Romantik
zu Ende war. Die Wendung des Verstandes gegen das Gefühl, des
212
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
213
FRANZÖSISCHE LITERATUR
tarismus: »Als Volk drückt sich die Menschheit in viel engerer Weise
aus als im Individuum, und die Menge ist das, was dem Menschen
am stärksten entgegengesetzt ist.« jahrelang beschäftigte er sich mit
den Schriften der sozialistischen Theoretiker Saint-Simon, Leroux,
Fourier und Proudhon. Die vorübergehende, im gemeinsamen Enthusias-
mus der Februarrevolution vollzogene Verbindung von Volk und Ver-
tretern des Katholizismus ließ in ihm die Überzeugung entstehen, daß
daraus das finstere Mittelalter wiedererstehen sollte. Die Angst vor
der Masse, die allein durch ihre Stimmenzahl eine neue, totalere Autori-
tät an die Stelle der alten setzen könnte, veranlaßt ihn, das allgemeine
Wahlrecht zur »Schande für den menschlichen Geist« zu erklären.
Solche Äußerungen ziehen bereits die pessimistischen Schlußfolgerun-
gen aus der Revolution von 1848 und der Kommune von 1871. »Die
Masse, die Zahl, ist immer dumm« — so schreibt er 1871. an George
Sand — »Man muß sie indessen respektieren, wie unfähig sie immer
sei, denn sie enthält Keime von unberechenbarer Fruchtbarkeit. Man
gebe ihr die Freiheit, aber nicht die Macht.« Sarkastisch deutet Flaubert
die sozialen Bestrebungen als den »Traum der Demokratie, den Prole-
tarier auf das Niveau der Dummheit des Bourgeois zu heben«. Flaubert
hat die Schwächen der Führer des Volks von 1848 und das Versagen,
welches das zweite Kaiserreich und sein klägliches Ende ermöglichte,
nicht vergessen können, und hat alle sozialen Schichten gleichermaßen
mit der Verantwortung behaftet: »Da die Bürger grausam, die Arbeiter
neidisch, die Priester servil sind, und das Volk letztlich jeden Tyrannen
hinnimmt, sofern man ihm nur das Maul im Futtertrog läßt, hat Napo-
leon ganz richtig gehandelt! Soll er es knebeln, mit Füßen treten, ver-
tilgen! Sein Haß auf das Recht, seine Feigheit, seine Unfähigkeit und
seine Verblendung haben es nur zu sehr verdient.« So heißt es in
Bouvard et Pécuchet. Flauberts Menschenverachtung ist durch die ge-
schichtlich-politischen Erfahrungen absolut geworden. Hoffnungslosig-
keit ist es, die ihn 1871, nach dem blutigen Kommuneaufstand, das
Volk zum »ewigen Minderjährigen« erklären und nach einer »Regierung
von Mandarinen« rufen läßt. Der gleiche Flaubert aber, dessen ver-
zweifelte Ironie schon von den Zeitgenossen als Nihilismus mißver-
standen wurde, dem die traditionalistisch-katholische Rechte bis heute
seinen Individualismus und Liberalismus, die Linke seinen »Mandari-
nismus« vorwirft, sagte, vor den Ruinen der im Mai 1871 von den
Verteidigern der Kommune in Brand gesteckten Tuilerien stehend:
214
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
»Wenn man bedenkt, daß dies nicht geschehen wäre, hätte man die
Education sentimentale richtig verstanden!« Nicht zu Unrecht meinte
Georges Sorel, daß die Lektüre der Education für ein Verständnis der
dem Staatsstreich Louis Bonapartes vorausgehenden Ereignisse uner-
läßlich sei. Mit noch größerem Recht darf man sagen, daß der Roman
ohne die Kenntnis dieser Ereignisse nicht in seiner ganzen Bedeutung
und Tiefe begriffen werden kann.
215
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Education, und sie ist in allen wesentlichen Zügen Mme Arnoux, so wie
Maurice Schlésinger, Geschäftemacher und Lebemann, das Vorbild für
Jacques Arnoux wurde. Das erst von der jüngsten Forschung enthüllte,
auch Haubert offenbar unbekannt gebliebene Geheimnis ihres Lebens —
das unglückliche Ende ihrer ersten Ehe und die damit zusammenhängende,
jahrelang nicht legalisierte Verbindung mit Schlésinger — ist als Geheim-
nis in das Wesen der Mme Arnoux eingegangen.
Frédéric Moreau ist Flaubert selbst, aber ein Haubert ohne Willen und
ohne große Begabung, das überwundene schwächere Ich des Autors. Vor-
bilder lassen sich auch bei anderen Figuren des Romans erschließen. Aber
stets handelt es sich um Züge von mehreren Personen, die in einer ein-
zigen Romangestalt zusammenfließen, in einer individuellen »Synthese«.
Jede Gestalt Flauberts ist, wie sein Schüler Maupassant schrieb, »ein
Typ, d. h. die Zusammenfassung einer Anzahl von Menschen, die auf der
gleichen geistigen Stufe stehen«. Das gilt auch für die Hauptfigur des
Romans: der Frédéric, der zum Geliebten der Mme Dambreuse wird, ist
nicht mehr Flaubert selbst, sondern Maxime Du Camp, der Nachfolger
Mérimées in der Gunst jener Mme Delessert, der Flaubert die meisten
Züge für seine Mme Dambreuse entlehnt hat.
Der autobiographische Charakter der Lehrjahre des Gefühls hat Flau-
bert also nicht daran gehindert, in seinen Gestalten Typus und Individuum
zur Deckung zu bringen. Das Proportionsverhältnis, in dem persönliches
Erlebnis und Fiktion zueinander stehen, wird bestimmt durch den er-
klärten Vorsatz des Autors, den Roman einer gescheiterten Generation,
seiner eigenen Generation, zu schreiben, zugleich auch »ein Buch der
Liebe, der Leidenschaft, wie es sie nur heutzutage gibt, d. h. der inaktiven
Leidenschaft«. Die Sinnverfehlung des Daseins ist in die Lehrjahre des
Gefühls übersetzt, deren Hauptinhalt die unerfüllte Liebe des willens-
schwachen Helden zu der mütterlich reifen Mme Arnoux bildet. Die vier
Frauen, die in Frédérics Leben eine Rolle spielen, sprechen vier Seiten
seines Wesens an und repräsentieren vier verschiedene Bereiche des
Lebens. Mme Amoux, Inkarnation des erträumten Ideals, ist würdiger
Gegenstand eines reinen, großen Gefühls. Rosanette, die ungebildete,
plebejische Halbweltdame, erfüllt Frédérics sinnliches Begehren. Mme
Dambreuse, die elegante große Dame, erringt er in einer kurzen An-.
spannung seines schwachen Willens. Louise, das Naturkind aus der Pro-
vinz, ist immer dann Ziel seiner Wünsche, wenn er aus der Enttäuschung
heraus sich nach der Ruhe eines idyllischen Glückes sehnt. Wo Frédéric
216
FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
seine Wünsche realisiert, sind Schalheit und seelische öde das Resultat.
Mme Amoux dagegen verkörpert die Unerreichbarkeit des Ideals in
einer dem Menschen entfremdeten Welt. Frédérics fast pathologisches
Unvermögen, im gegebenen Augenblick richtig, wenn überhaupt, zu
handeln, bildet das psychologische Korrelat zu einer sinnentleerten Wirk-
lichkeit, die durch den schicksalbestimmenden Zufall das vielleicht doch
noch mögliche zwischenmenschliche Einvernehmen unterbindet. Trotz
Frédérics »allseitiger Schwäche« und ungeachtet des fraulichen Stolzes
und der natürlichen Tugendhaftigkeit der Mme Amoux käme es zu einer
Erfüllung ihrer gegenseitigen Liebe, wären es nicht — wie Flaubert in
seinen ersten Entwürfen zu dem Roman erklärt — die »zufälligen Um-
stände«, die das menschliche Scheitern vollenden.
Psychologisches und räumliches Sichverfehlen macht immer dann die
Chance des Sichfindens, und d. h. auch des Sinnfindens, zunichte, wenn
alle Voraussetzungen für ihr Ergreifen gegeben scheinen. Nirgends kommt
dieser für die Struktur des ganzen Romans wichtige Sachverhalt deut-
licher zum Ausdruck als in der Episode des verpaßten Rendevous, in der
privates und öffentlich-historisches Geschehen kulminieren. Mme Arnoux
hat Frédéric endlich zugesagt, sich mit ihm zu treffen. Stundenlang wartet
er vergeblich auf sie, irrt durch die sich mit aufsässigem Volk füllenden
Straßen und führt tags darauf aus Trotz und Verzweiflung die Kurtisane
Rosanette in die Wohnung, die er für Mme Amoux eingerichtet hat, an
die Stelle der Heiligen, der Erfüllung aller Sehnsüchte und Träume, tritt
die banale Erotik. Frédéric weiß nicht, daß eine plötzlich ausgebrochene
Krankheit ihres Kindes Mme Arnoux am Kommen gehindert hat. Die
Kontaktstörung zwischen Mensch und Umwelt, Ich und Du, manifestiert
sich im Romangeschehen in Zufall und Mißverständnis. Die blutigen
Barrikadenkämpfe dieser Tage sind nicht nur düsterer Hintergrund für
Frédérics tiefste Enttäuschung und für die fragwürdige Tröstung mit
Rosanette. Die Gewehrsalven auf dem Boulevard des Capucines, auf die
der verbitterte Frédéric mit zynischen Worten reagiert, verhinderten die
Verständigung zwischen dem König und dem bereits siegreichen Volk.
Ihr Anlaß war, daß eine Gruppe Soldaten, die sich irrtümlich für bedroht
hielt, in die Menge feuerte. Von nun an geht die Revolution planlos
ihrem Schicksal entgegen, und ebenso ziellos läßt sich Frédéric von
diesem Tag an treiben. Die ohnehin schwachen Versuche zu einer auto-
nomen Lebensgestaltung sind jetzt endgültig aufgegeben.
Noch ein zweites Mal fällt ein entscheidender Umschwung in seinem
217
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
219
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
221.
FRANZÖSISCHE LITERATUR
aus der Geschichte ihres Scheiterns. Das Buch schließt mit der Erinne-
rung der Freunde an einen gemeinsamen, aber mißglückten Bordell-
besuch in ihrer Jugend: »Es war unser schönstes Erlebnis«. In dieser
zurückschauenden Deutung einer jugendlichen Renommierunterneh-
mung, deren blamabler Ausgang das verfehlte Leben der beiden Freunde
vorausnimmt und es gleichzeitig in einem einzigen Satz als illusionär
rekapituliert, ist der abgründigste und unpathetischste Pessimismus be-
schlossen, mit dem je ein Roman beendet wurde. Die einzige Antwort,
die nach Flauberts Überzeugung dem entfremdeten Dasein noch einen
Sinn zu entwinden vermag, die Antwort durch die Kunst, ist mit diesem
Buche selbst gegeben.
Lange mußte Flaubert bis zu einer Neuauflage der Education warten.
Inzwischen erlebte er den Sturz des zweiten Kaiserreichs, die Preußen
in Croisset, und, infolge des geschäftlichen Zusammenbruchs des Mannes
seiner Nichte, die Sorge um seine wirtschaftliche Unabhängigkeit. Binnen
weniger Jahre starben die engsten Freunde, Sainte-Beuve, Bouilhet,
Gautier, George Sand; 1872 auch die Mutter. Er fuhr fort, »weißes
Papier vollzuschreiben, um nicht vor Lebensöde zu krepieren«. Vor der
völligen Vereinsamung bewahrte ihn die seine letzten Lebensjahre er-
hellende Verehrung der jungen Schriftsteller, die in ihm ihren großen
Meister sahen: Zola, Daudet, Huysmans und Maupassant. 1874 ver-
öffentlichte er seinen »Faust«, die Versuchung des Heiligen Antonius,
drei Jahre später die Trois contes (Saint-Julien l'Hospitalier, Un Coeur
simple, Hérodias). »Müde bis ins Mark« zwar, beschäftigte er sich doch
noch mit Plänen für weitere Erzählungen und Romane und quälte sich
mit Bouvard et Pécuchet, bis der Tod am 8. Mai 1880 diesem im Dienste
der Kunst verbrachten Asketenleben ein Ende setzte.
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FLAUBERT UND SEINE »EDUCATION SENTIMENTALE«
Benutzte Literatur
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12. Saint-John Perse
224
SAINT—JOHN PERSE
kenntnistrieb zu trennen, sie ist Tat, sie ist Leidenschaft, sie ist Kraft,
und Neuerung immer, welche Grenzsteine versetzt.« Und im gleichen.
Zusammenhang, der Anspruch und Pflicht des Dichters in der tech-
nisierten Welt verkündet, die Feststellung: »Es ist genug für den Dich-
ter, das schlechte Gewissen seiner Zeit zu sein«l.
Saint-John Perse hat Beruf und Karriere eines erfolgreichen und jahre-
lang sehr einflußreichen Diplomaten stets säuberlich von seiner dich-
terischen Tätigkeit getrennt und seine Interpreten vor jeder Bezugnahme
auf seinen Beruf gewarnt. Nicht umsonst habe er sich als Autor ein
Pseudonym zugelegt. Daß indessen auch bei ihm die Biographie dem
Verständnis des Werks zu dienen vermag, ergibt sich aus der An-
forderung, die Saint-John Perse selber an den Dichter stellt: die dunkel-
sten Bereiche zu erforschen und sich um so mehr »konkreter, dem
Erfahrungsleben selbst entnommener Ausdrucksmittel zu bedienen«, je
tiefer er in das »irrationale und mystische Jenseits eindringt«2. De/-
Exotismus im Werk von Saint-John Perse, mit seiner unerhörten Prä-
zision des Details, ist gespeist aus dem Erlebnis der Antillen, wo er seine
Jugendzeit verbrachte, Chinas, wo er fünf Jahre als Botschaftssekretär
lebte, und zahlreicher Reisen. Die Dichtung, die ihm Weltruhm ein-
brachte, Anabase, entstand nach einer Expedition in die Wüste Gobi.
Alexis Saint-Léger wurde am 31. Mai 1887 auf Guadeloupe aus einer
Familie burgundischer Herkunft geboren, die seit dem Ende des 17. Jahr-
hunderts auf den Antillen ansässig war. 1898 kam er ins Mutterland,
studierte in Bordeaux jura und Staatswissensdiaft. Durch den Freund
Francis Jammes lernte er Paul Claudel kennen, dessen Beispiel ihn viel-
leicht anregte, die diplomatische Laufbahn einzuschlagen, dessen Be-
kehrungseifer er aber trotz der Bewunderung für sein Werk widerstand.
1914 trat er in den diplomatischen Dienst ein, gehörte von 1916 bis 1921
der französischen Botschaft in Peking an, wurde nach seiner Rückkehr
enger Mitarbeiter Briands, Botschafter, schließlich Generalsekretär des
Auswärtigen Amtes und im Mai 1940 unter der Regierung Reynaud
entlassen. Seit Anabase (1924) hatte Saint-John Perse nichts mehr ver-
öffentlicht. Die Manuskripte von sieben Dichtungen wurden von der
Gestapo in der verlassenen Wohnung des Dichters beschlagnahmt und
1 Poésie. In: La nouvelle revue française, 9e année (1961), No. 97, S. 79-84.
2 Zit. nach Ch. Murciaux, Saint-John Perse, Paris: Editions Universitaires 1960
(= Classiques du XXe siècle), S. 121.
225
FRANZÖSISCHE LITERATUR
226
SAINT-JOHN PERSE
reine Sprache des Exils«, und reines Da-Sein »mit der Adiäne, mit der
Anopheles, mit dem Stoppelfeld, mit den zerbrechlichsten Dingen, dem
simpelsten Ding, dem Ding vor einem, dem einfachen Hiersein, im Ver-
rinnen des Tages . . •«6 In Pluies (1943), Neiges (1944) und Vents (1946)
geraten die Naturerscheinungen Regen, Schnee und Winde zu ungeheu-
ren, grausamen und furchtbaren, schaffenden und zerstörenden Alle-
gorien der Lebensmächte und zu Symbolen eines unbeeinflußbaren
kosmischen, die Geschichtlichkeit der menschlichen Existenz in ewige
Bewegung, in ununterbrochene Metamorphosen einbeziehenden Gesche-
hens — »und die Schrift des Dichters folgt dem Protokoll der Ver-
handlung« 7 .
Hellhörige Leser erkannten schon nach dem Erscheinen der ersten Ge-
dichte die Bedeutung dieses Autors. Dichter und Kritiker ersten Ranges
erlagen sogleich der Faszination dieser dunklen, präzisen, befremdlichen,
kristallinisch reinen Sprache. T. S. Eliot, Giuseppe Ungaretti, Rudolf
Kassner, Bernhard Groethuysen und Walter Benjamin übersetzten ihn
in ihre Muttersprache. Hugo von Hofmannsthal schrieb ein Vorwort zu
Anabase. Der deutsche Leser verfügt heute über eine zweisprachige Aus-
gabe sämtlicher Dichtungen von der Hand des bewährten Kritikers und
Übersetzers Friedhelm Kemp 8 .
Der Hilfe der Übertragung kann der deutsche Leser freilich so wenig
entraten wie der französische Leser dem Spezialwörterbuch. Kritiker und
Literaturliebhaber werden gleichermaßen irritiert angesichts der Dunkel-
heit dieses Werks und des Reichtums eines Vokabulars, das aus allen
Fach- und Berufssprachen schöpft, das Namen und Begriffe der Seefahrt,
der Botanik, der Medizin, der exotischen Natur, der Mythen und Kulte
aller Zeiten und Völker scheinbar willkürlich miteinander konfrontiert
oder vermengt 9 . Eine hymnische Sprache, die man die Sprache verwelt-
lichter Psalmen nennen möchte, sublimiert unaufhörlich auch den Wort-
schatz der Banalität und Faktizität. Die Enttrivialisierung der Welt durch
227
FRANZÖSISCHE LITERATUR
228
SAINT-JOHN PERSE
11 Zit. nach der Übersetzung von Friedhelm Kemp in: Saint-John Perse, See-Marken,
S. 251.
229
13. »Je ne sais quoi«
Ein Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen i
1 Für die Anregung zu dieser Untersuchung wie für zahlreiche wertvolle Hinweise
bin ich Herrn Prof. Werner Krauss, Leipzig, zu großem Dank verpflichtet. Für
Einzelhinweise habe ich zu danken Herrn Prof. Walter Pabst, Bonn, Frl. Dr. Rita
Falke, Frau Prof. Margot Kruse, Frl. Dr. Ernestine Comhaire (sämtlich Hamburg)
und Herrn Dr. Heinz Gehle, Berlin.
2 Goethes Werke, Hamburger Ausgabe, Bd. 7, S. 340.
3 A. a. O., S. 379.
230
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
231
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Paris 1909.
9 Aultre invention extraicte de Platon, v. 53 62. A. a. O.
-
232
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
10 Du Bellay, Les Regrets, Son. CLXVII. In: Poésies françaises et latines, II, Paris
1918, p. 252.
11 »[. . .1 un don della natura e de' cieli [. .1 un benigno favor del cielo«. (II Libro
del Cortegiano, I, XXIV, ed. V. Cian, Firenze 4 1948). Zur »grazia« vgl. neuer-
dings Erich Loos, Baldassare Castigliones Libro del Cortegiano. Studien zur
Tugendauffassung des Cinquecento. Frankfurt a. M. 1955 (= Analecta Roma-
nica, Beih. zu den RF, 2), S. 116 ff. und Rudolf Nikolussi Bedeutungsunter-
schiede einiger Grundbegriffe in d. Darstellung menschl. Eigenschaften b.
Margarete v. Navarra u. Matteo Bandello. Phil. Diss. Marburg 1951 (Masch.),
S. 86 ff.
12 IV, XXII.
13 La Maniere de Bien Traduire d'Une Langue en Aultre. Widmung an Guillaume
du Bellay. Zit. n. B. Weinberg, Critical Prefaces of the French Renaissance,
Evanston (Ill.): Northwestern Univ. Press 1950, S. 79.
14 E non so che negli occhi che'n un punto
Pu ó far chiara la notte, oscuro il giorno,
El mèl amaro, ed addolcir l'assenzio.
(Son. In nobil sangue)
15 Für Ronsard, der bereits auch ein burleskes »je ne sais quoi« kennt (s. CEuvres
complètes, ed. H. Vaganay, Paris 1923 f., III, S. 415) deutet sich auch das Ge-
heimnis des Verfalls der menschlichen Schönheit in einem »je ne sais quoi« an
(Ode A un Rossignol). Nach Du Bellay erhält der Mensch neben der fatalen
233
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Die Welt der Renaissance ist das Reich der Fortuna. Die Philosophie
der Renaissance verzichtet auf jede Sinngebung der Gesellschaft als
solcher, ohne jedoch den konsequenteren Reformatoren auf ihrem Weg
zu einer pessimistischen Anthropologie zu folgen. Der Verzicht auf
eine Sinndeutung des politisch-gesellschaftlichen Ganzen läßt indessen
eine harmonistisch-versöhnende Theorie nur noch vom Standpunkt des
in sich abgerundeten Individuums zu, dem die Einstrahlung einer kos-
mischen Ordnung die Möglichkeit einer unter dem Symbol des Kreises
faßbaren Vollendung eröffnet. Der renaissancehöfische Platonismus be-
schränkt die Kreisbewegung, der bei Ficino die menschliche Seele in
mehreren Leben bis zum Zurückfallen in Gott zu folgen hat, auf die
einmalige Existenz des Individuums. Während die Reformatoren ihre
Vorstellung einer Ordnungsmacht restlos aus einer verderbten Welt
hinaus in die undurchschaubare Providenz eines Deus absconditus ver-
lagern, erhält der platonisierende Humanismus dem Individuum in-
mitten der Fatalität eine harmonistische Chance. Die »virtii« des »uomo
universale«, die Kraft zum Bestehen in der Fortuna-Welt, erhält mit
der »grazia« als der übernatürlich eingestrahlten Kraft der Vollendung
einen charismatischen Glanz — »un petit rayon de Divinité« 16 . Aber
der Glücksfall der individuellen Perfektion ist letztlich nicht weniger
»fatal« als das geschichtliche Geschehen. Wenn die »grazia« als Mitgift
der Sterne vom Wortgehalt her nur positiv deutbar war, so bot ein
»je ne sais quoi« sich jederzeit auch für einen negativen Befund an.
Festlegung des Lebensweges bei der Geburt auch die Sehnsucht nach einer mit
»je ne sais quoi« angedeuteten Unsterblichkeit:
Ce genereux desir de l'immortalité
Tous l'apportent icy de leur nativité,
Chascun ou plus ou moins, selon que de nature
Il est favorisé, ou de sa nourriture:
Ce qui nous monstre bien que tout on ne meurt pas,
Mais qu'il reste de nous, apres nostre trespas,
Je ne sçay quoy plus grand et plus divin encore,
Que ce que nous voyons, et que la mort devore.
(Discours au roy sur la poésie, a. a. 0., I, S. 146).
Vgl. im folgenden Jahrhundert Bossuet: »Notre corps (après la mort) devient
un je ne sais quoi qui n'a plus de nom dans aucune langue« (Oraison funèbre de
Henriette-Anne d'Angleterre, Duchesse d'Orleans. In: CEuvres complètes, II,
Besançon 1836, S. 578).
16 Nicolas Faret im Anschluß an Castiglione über die Eigenschaften des »gentil-
homme«: »[...] mais le comble de ces choses consiste en une certaine grace
naturelle, qui en tous ses exercices, et jusques á ses moindres actions doit
reluire comme un petit rayon de Divinité.« (L'honneste homme ou l'art de
plaire à la court, ed. M. Magendie, Paris 1925, S. 18).
234
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
17 Vgl. Essais II, 17; II, 20, Var. von 1595; III, 2. Andererseits warnt Montaigne
einmal davor, alles, was in der Natur menschliches Vermögen übersteigt, zu
mystifizieren: »Pourquoi attribuons nous à je ne sçay quelle inclination naturelle
et servile les ouvrages qui surpassent tout ce que nous pouvons par nature
et par art?« (II, 12).
18 Die neue Dichterschule erhält die direkten Anregungen für diese Vorstellung
zweifellos aus dem 1546 ins Französische übersetzten Jon (Le dialogue de Platon
intitulé Jo, qui est de /a fureur patique et des louanges de poisie, translaté en
françois par Richard Le Blanc).
19 Zweite Préface zu L'Olive (1550), zit. n. Weinberg, a. a. 0., S. 153.
20 Franciade, Préface von 1578.
21 Deffence et Illustration de la Langue françoyse, cd. Humbert, Paris o. J., S. 52. —
Ähnlich im 17. Jahrhundert Méré in Verallgemeinerung auf das gesellschaftliche
Gespräch: »Vous jugez bien que lorsqu' on parle, il vient toiljours de l'esprit
et du sentiment je ne sçay quoy de naïf qui s'attache aux paroles, et quelque
adresse qu'on ait à le mettre dans une autre langue, ce n'est plus tout-ä-fait
cela.« (CEuvres, éd. Boudhors, I, Paris 1930, S. 11).
22 Du Bellay, a. a. 0., S. 54.
235
FRANZÖSISCHE LITERATUR
23 Auch im Vergleich mit den klassischen Sprachen kann sich das Vulgare auf ein
ebenbürtiges »je ne sais quoi« berufen, vgl. Du Bellay : »[. . .] je dis seulement
qu'il n'est pas impossible que notre langue puisse recevoir quelquefois cest
ornement et artifice, aussi curieux qu'il est aux Grecs et Romains. Quant au
son, et je ne sçay quelle naturelle douceur (comme ils disent) qui est en leurs
langues, je ne voy point que nous l'ayons moindre, au jugement des plus
delicates oreilles.« (A. a. 0., S. 61 2).
-
236
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
27 Sieur Couvray, L'Honnête maîtresse, Paris 1654, S. 243, zit. n. Magendie II,
S. 712. Vgl. Voiture, Stances sur sa maistresse:
Surtout, il avoit une grace,
Un je ne sçay quoy qui surpasse
De l'Amour les plus doux appas
(CEuvres, Paris 1686, II, S. 21)
Weitere Belege über die Liebe als »je ne sais quoi« aus den Schriften Sorels,
Mairets, Mlle de Scudérys bei Magendie I, S. 407, 420; II, S. 662 n. 1, S. 666. —
Die Unbegreiflichkeit von Ursache, Wirkung und Ende des Liebesempfindens
bekundet sich bei J.-F. Regnard in einem dreifachen »je ne sais quoi« (zit. bei
Littré):
L'amour, ne vous déplaise, est un je ne sais quoi,
Qui vous prend, je ne sais ni par où, ni pourquoi;
Qui va, je ne sais où; qui fait naître en notre âme
Je ne sais quelle ardeur que l'on sent pour la femme;
Et ce je ne sais quoi, qui paraît si charmant,
Sort enfin de nos coeurs, et je ne sais comment.
(Démocrite I, 5)
28 Un je ne sais quel charme vers vous m'emporte,
(Polyeucte V, 4)
Un je ne sais quel charme auprès d'elle m'attache.
(La Suivante I, 3)
J'aime en ce douteux sort tout ce qui m'embarasse,
Je ne sais quoi m'y plaît qui n'ose s'exprimer,
Et ce confus mélange a de quoi me charmer.
(Oedipe IV, 1)
Vgl. auch Psyché III, 3, und Corneilles Sonette Usez moins avec moi und D'un
accueil si flatteur. In: (£uvres complètes, ed. Marty-Laveaux, X, Paris 1862.
237
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Die Liebe, bei Corneille letzte Zuflucht des Individualrechts, ist hier
eine universale Sündenkraft, die unaufhörlich die Welt erschüttert.
Pascal setzt hinzu: »Le nez de Cléopâtre: s'il eût été plus court, toute
la terre aurait changé.« Mit der exemplarischen Heranziehung der be-
rühmten Nase Kleopatras verleugnet Pascal noch über Corneille hinaus
die Auffassung seines Lehrers in Dingen der »honnêteté«, des Chevalier
de Méré. Diesem galt Kleopatra als Inbegriff geheimnisvoll vollendeter
Schönheit, der »grace« und des »agrément«, die ein »présent du ciel«
sind 32 . Kleopatra war »comblée d'une manière exquise de ces beautés
secrètes« 33 . Hier ist der Punkt, an dem das psychologische »je ne sais
quoi« wieder ins ästhetische umschlägt. Er liegt auf dem Gebiet des
gesellschaftlichen Ideals der »honnêteté«, und Pascal wollte eine doppelte
Eitelkeit treffen.
Mérés Begriff der »honnêteté« bezeichnet das Ideal eines die Liebe
einschließenden, allseitig perfektionierten Dilettantismus, dem ein sich.
sittlich und ästhetisch manifestierendes »je ne sais quoi« eine fast reli-
giöse Weihe gibt. Das »je ne sais quoi« wird im Bezirk der »honnêteté«
zum metaphysischen Haftpunkt für die Selbstauslegung der ihrer ökono-
mischen und politischen Funktionen enthobenen Gebildetenschicht von
»la cour et la ville« 34 . Will diese Gesellschaft, kaum erst in der Bildung
239
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
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FRANZÖSISCHE LITERATUR
reiche Verteidigerin Elise zu der Preziösen Climène, die sich über die
»obszöne« Verwendung des Artikels »le« durch Molière erregt, sagen:
»On le voit bien, Madame, et que tout est naturel en vous. Vos paro-
les, le ton de votre voix, vos regards, vos pas, votre action et votre
ajustement, ont je ne sais quel air de qualité qui enchante les gens. Je
vous étudie des yeux et des oreilles; et je suis si remplie de vous, que
je tâche d'être votre singe et de vous contrefaire en tout.« (Sc. III)
41 Clélie: »[. . .] je vous concède que j ai pour Aronce une amitié qui tient de
l'amour véritable: aussi faut-il avouer que cet admirable fils du roi de Clusium a
en toute sa personne je ne sais quoi de si extraordinaire et de si peu imaginable,
qu'à moins que d'avoir une dureté de coeur inconcevable, on ne peut pas
s'empêcher d'avoir pour lui une passion tout à fait raisonnable« (CEuvres
complètes, Paris 1862, 5. 319). Sapho (Mlle de Scudéry): »L'illustre fille dont
j'ai à vous entretenir a en toute sa personne je ne sais quoi de si furieusement
extraordinaire et de si terriblement merveilleux, que je ne suis pas médiocrement
embarrassée quand je songe à vous en tracer le portrait.« (A. a. O., S. 323).
Vgl. auch die Äußerung des Abbé d'Ailly: »Les mots de simpatie, de je ne
sçay quoy, de qualitez occultes, et mille autres de cette nature, ne signifient rien:
on se trompe quand on pense en estre mieux instruit; on les a inventez, pour
dire quelque chose quand on manque de raisons, et qu'on ne sçait plus que dire.«
(Réflexions ou Sentences et Maximes morales de M. de la Rochefoucault.
Maximes de Mme la Marquise de Sablé. Pensées Diverses de M. L. D. [M. l'Abbé
d'Ailly]. Et les Maximes Chrétiennes de M.****, Amsterdam 1712, S. 254).
242
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Die Keimzelle der 1635 von Richelieu ins Leben gerufenen Académie
Française war der berühmte Salon der Marquise de Rambouillet, und
so ist es zu verstehen, daß einer der ersten vor der Akademie gehaltenen
Vorträge dem »je ne sais quoi« gewidmet war. Was Gombauld, der
Redner, am 12. März 1635 vor der Akademie über das »je ne sais quoi«
vortrug, kann nur, und vor allem vom Kreis des Hôtel de Rambouillet
her, erschlossen werden 42 . Die neue Gesellschaft, die sich in den Salons
formiert, bevor das Königtum sie endgültig in seine Dienste nimmt,
ist auf Grund ihrer verschiedenartigen Zusammensetzung von Anfang
an zur Reflexion über ihre Voraussetzungen und zur Festlegung ihres
idealen, für alle Glieder zugleich verbindlichen und annehmbaren Men-
schentypus auf einer neutralen Ebene, auf dem Schnittpunkt der gemein -
samen Interessen und unter konsequentem Absehen von jeder beruf-
lichen Spezialisierung gezwungen.
Vaugelas, der in seinen Remarques sur la langue française (1647)
die Sprache unter das Gesetz des »usage« der »honnêtes hommes«
stellt, hatte ausreichenden Anlaß, den Begriff des »honnête homme«
bzw. seine Erscheinungsform in der Gesellschaft, den »galant homme«,
zu definieren. Er bestimmte das Wesen des »honnête homme« als ein
»composé« von Eigenschaften, zu denen etwas vom je ne sais quoi —
» du je ne sais quoi« — hinzutritt 43 . Der Teilungsartikel ist bezeichnend.
Hier wie bei Méré erscheint das »je ne sais quoi« als eine im vorbild-
lichen Individuum wirkende Weltkraft, die alle menschlichen Qualitäten
243
FRANZÖSISCHE LITERATUR
erst in Szene setzt. Dieses »je ne sais quoi«, das alle äußeren und inneren
Qualitäten vollendend überstrahlt, beruht auf einer »gewissen Disposi-
tion«, die ein Geschenk der Natur ist. Ihr Fehlen macht auch die an-
gestrengteste Bemühung nutzlos". Ja, Méré scheint das »Ich-weiß-nicht-
was« einmal sogar ins Zentrum der »honnêteté« zu stellen und alle
andern Eigenschaften zu seinen bloßen Komplementen zu erklären:
Das »je ne sais quoi« enthält das Geheimnis des Gefallens, erkennbar
nur an seinen Wirkungen, in denen sich eine veredelte Gesellschaftlich-
keit manifestiert. Der Versuch, es annähernd zu benennen, kann darum
nur auf einen verbindlichen Terminus der Gesellschaft hinauslaufen:
»Ce que j'aime le mieux, et qu'on doit selon mon sens le plus souhaiter
en tout ce qu'on fait pour plaire, c'est je ne sçay quoy qui se sent bien,
mais qui ne s'explique pas si aisément, et je ne sçay de quelle façon me
faire entendre si je ne me sers du mot de gentillesce.«46
44 Für Mlle de Scudéry ist diese höchste, unabdingbare Qualität ein »je ne sais quoi
qui naît de cent choses différentes; car je suis persuadée qu'il faut que la nature
mette du moins dans l'esprit et dans la personne de ceux qui doivent avoir l'air
galant, une certaine disposition à le recevoir« (Conversations nouvelles, zit. n.
Magendie II, S. 672).
45 Méré, éd. Boudhors I, S. 77.
46 Méré, a. a. O. II, S. 12.
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»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
conserve que là, et qu'on a beau être bien fait et avoir de l'esprit, si on
n'a pas ce je ne sais quoi qui ne s'acquiert que par l'usage, et encore
par un continuel usage, on ne réussira point ii y être regardé comme
de mise.« 47
»[. ..J quand on dit de quelqu'un de cet ordre, qu'il est sçavant en
honneste homme, on se trompe pour l'ordinaire, et que c'est je ne sçai
quoi de faux et de poli tout ensemble, qui dégoûte encore davantage.« 5 °
50 Méré, éd. Boudhors I, 5. 30. Vgl. »je ne sçay quoi de trop étudié«. (A. a. O. I,
5.29).
245
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Méré begreift die »honnêteté« als eine Berufung, die jeden Beruf
ausschließt, und doch in jedem zu Hause zu sein scheint:
»Ce n'est pas que la science de bien faire une chose ne soit un grand
avantage pour la faire agreablement, et que les excellents ouvriers n'ayent
dans leurs maniers je ne sçai quoy de maistre qui plaist toeijours. Mais si
les gens du monde avoient ce je ne sçay quoy de maistre qui paroist si
libre et si peu contraint, il leur sieroit encore mieux.« 51
bien receües. Cela consiste en je ne sçay quel procédé fort commun qui
dépend beaucoup moins d'avoir d'excellentes qualitez, que de n'en pas
avoir de mauvaises.« 52
An höchster Stelle, an der sich der Horizont für das Einstrahlen einer
übernatürlichen Kraft öffnet, sichtet die neue Gesellschaft mit Méré ein
51 A. a. O. II, p. 32.
52 Méré, a. a. O. II, S. 32.
53 A. a. O. III, S. 136.
54 »Quand je pense que le Seigneur aime celui-cy, et qu'il hait celui-là sans qu'on
sçache pourquoy; je n'en trouve point d'autre raison qu'un fond d'agrémens qu'il
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»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
voit dans l'un et qu'il ne trouve pas dans l'autre, et je suis persuadé que le
meilleur moyen, et peut-estre le seul pour se sauver c'est de luy plaire. Enfin qui
me demanderoit une marque infaillible pour connoistre le bien et le mal, je n'en
pourrois donner ny chercher une plus forte ny moins trompeuse, que la decence
et l'indecence; car ce qui sied est bon, et ce qui sied mal est mauvais; De sorte
que plus tout ce qu'on fait approche de l'un ou de l'autre, plus on y voit ou de
vertu ou de vice.« (A. a. O. II, S. 29 f.).
55 »[. . .1 le scandale que le Sauveur défend sous des peines si rigoureuses, qu'a-t-il
de mauvais que de déplaire ou d'apporter de l'ennuy?« (A. a. O. II, S. 29).
56 Die ganze Stelle über »urbanité« lautet: »Soit qu'en notre langue ce mot exprime
un certain air du grand monde, et une couleur et teinture de la Cour, qui ne
marque pas seulement les paroles et les opinions, mais aussi le ton de la voix et
les mouvements du corps, soit qu'il signifie une impression encore moins
perceptible, qui n'est reconnaissable que par hasard, qui n'a rien qui ne soit
noble et relevé, et rien qui paraisse ou étudié ou appris, qui se sent et ne se voit
pas, et inspire un génie secret que l'on perd en le cherchant, soit que dans une
signification plus étendue, il veuille dire la science de la conversation et le don
de plaire dans les bonnes compagnies, ou que, le mettant plus ä l'étroit, on le
prenne pour une adresse à toucher l'esprit par je ne sais quoi de piquant.«
(Balzac, CEuvres, éd. Moreau, Paris 1854, I, S. 234; zit. n. Magendie II, S. 581
n. 1).
57 »Les repas des Dames ne sont pas ordinairement fort longs, soit qu'elles
n'aiment pas ces sortes d'excès, ou qu'elles se défient d'y pouvoir conserver je ne
sçai quoy de modeste, qui fait naistre le respect.« (Méré éd. Boudhors I, S. 8).
Man kann für die Konversation nie zuviel Geist haben, »il se faut pourtant bien
garder de paroître toiljours prest à dire de bons mots, ou de jolies choses. Je ne
sçay quoy de libre ou d'aisé fait de bien meilleurs effets.« (I, S. 9f.). Ebenso
abzulehnen wie der »procédé grossier« ist dessen gegensätzliches Extrem: »[. . 1
les manieres si douces dans la Conversation, et mesme avec les Dames, me
semblent de mauvais goust; ä moins que l'esprit ne les tempere et que ce ne soit
pliitost je ne sçay quoy de fin que de doucereux.« (II, S. 125).
247
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Die aufs Höchste getriebene Brillanz der Lebensform macht sich ver-
dächtig und mißfällt. Ein »je ne sais quoi de plus retenu« 58 bewirkt das
Herabstimmen auf ein mittleres Maß, mit dem der beleidigende Aus-
nahmefall der individuellen Perfektion sich den Spielregeln beugt und
ohne Wertdistanzierung seine Wirkung entfaltet. Ein Schweigen im
rechten Augenblick läßt einen Zauber ahnen, der, wenn er sich in Szene
setzte, abstoßend wirken könnte:
»Je ne sais quoi de gai et d'insinuant attire les personnes qu'on sou-
haite, encore qu'on ne dise rien, car tout parle à sa mode, et le silence
même est quelquefois éloquent.« 59
»11 faut observer les choses qui déplaisent pour s'en défaire, comme
celles qui plaisent pour les acquerir. Car les plus accomplis ont presque
toiliours je ne sçai quoy qu'il seroit bon de ne pas avoir, comme aussi la
plus aimable personne du monde n'a pas tous les Agrémens.« 6 °
Wie ein »je ne sçai quoi de brillant, qui peut surprendre« auf die
Dauer nicht über eine »fausse galanterie« hinwegtäuschen kann 81 , so
58 »[. . I peu de gens sont nez à cette façon de vivre si brillante; et quand on y
réussiroit en perfection, la plus part des femmes ne s'y plaisent pas trop; du
moins on se peut assurer que tant d'éclat et d'empressement les lasseroit à la
longue. Je voi que celles qui ont le plus d'esprit, aiment beaucoup mieux je ne
sçay quoi de plus retenu.« (Balzac, a. a. O. I, S. 20 f.)
59 Méré, éd. Boudhors, III, S. 144.
60 Méré II, S. 16. Vgl. Voiture über eine vielgerühmte Frau: »Pour moy si je ne
l'avois jamais veuë, je la prendrois après tant de loüanges, pour la déesse de la
beauté et des graces; Cependant je vous puis assurer, Madame, qu'à la bleu
considerer en tout sens, elle n'estoit pas tout-à-fait comme cette déesse. Du reste,
elle avoit je ne sçay quel esprit que je voudrois qu'on n'eust point.« (Von Méré
zitiert, I, S. 109 f.)
61 Méré an einer Stelle, die zugleich für die Ablösung des Ideals des »galant
homme« durch das des »honnête homme« bezeichnend ist: »Je m'imagine, dit le
Chevalier, que lors qu'on estimoit tant ces galans hommes, tout le monde n'en
248
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
»En effet, cette égalité fade et sans goust qui paroist dans l'humeur et
dans l'esprit de quelques gens, les rend bien desagreables, surtout quand
ce n'est ni bonté ni complaisance, mais je ne sçay quel procédé de gens
polis ei leur mode, qui n'en sont que plus ennuyeux.« 63
estoit pourtant pas ébloui, et qu'il y avoit toüjours quelqu'un, ou quelqu'une qui
sentoit bien que ce n'estoit qu'une fausse galanterie, et je ne spi quoi de brillant,
qui peut surprendre.« (I, S. 18 f.)
62 »Car encore qu'on ne fasse jamais les actions d'un fourbe, d'un envieux, ou d'un
méchant, si le naturel y penche, il en paroist je ne sçay quoy sur le visage qui
sied toftjours mal.« (Méré II, S. 53).
63 Méré II, S. 17.
64 »Déplaire« und »ennui« sind für Méré die gesellschaftlichen Momente des neu-
testamentlichen Ärgernisses, s. o. Anm. 54.
249
FRANZÖSISCHE LITERATUR
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»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
solchen Verstoß wird, wie wir sahen, mehr und mehr die Gleichförmig-
keit des Gefallens selbst — beschwört den verbannten Dämon der Lange-
weile in der Gesellschaft selbst. Die anspruchsvollsten Geister dieser
glänzenden Welt sind »agit[s] de ces je ne sais quelles inquiétudes dont
les hommes ne savent pas se rendre raison à. eux-mêmes«, wie es bei
Bossuet einmal heißt". Und es lag nicht nur für Pascal, sondern für die
zahlreichen Kämpfer jeder Art von Wiederverchristlichung der Gesell-
schaft nahe, das unheilbare Mißvergnügen und die rastlose Suche nach
seiner Überwindung als Beweis der Mensch-Gott-Beziehung aufzufassen
und als Hebel für die Zurückführung des Menschen zu Gott zu be-
nutzen69. So wird die Bodenlosigkeit der repräsentativen, Hof adel und Ro-
be umfassenden Schicht zum Ausgangspunkt religiöser Erlebnisformen.
Das entscheidende Ereignis der Fronde, mit welcher der letzte Versuch
des Feudaladels, die verlorenen Positionen wiederzuerringen, zusammen-
bricht, läßt das geschichtliche Scheitern in die Erfahrung eines allge-
meinen menschlichen Unvermögens umsetzen. La Rochefoucaulds pessi-
mistisches Menschenbild scheint sich im Charakter des Maximenverfassers
selbst zu bestätigen: »La Rochefoucauld verrät in der Auffassung von
Retz, wie dieses >je ne sais quoi< aus einem universalen Antrieb eine
allseitige Hemmung wurde«70: »Il y a toujours eu du je ne sais quoi en.
tout M. de la Rochefoucauld«. Das Scheitern einer ehrgeizigen Persönlich-
keit an allen Unternehmungen der Zeit führt auf das unlösbare Rätsel
eines Mangels, der den besten Eigenschaften die Wirkung versagtn.
An diesem konkret-persönlichen Fall einer pessimistischen Psychologie
68 Bossuet, a. a. O. II, S. 615. Vgl. Pascal, Pensées, fr. 127: »Condition de l'homme:
inconstance, ennui, inquiétude«; und noch Voltaire: »Il nous reste encore je ne
sais quel désir vague, je ne sais quelle inquiétude, qui nous avertit sans cesse
que nous sommes peu de chose.« (Micromégas, Chap. II. CEuvres complètes t. 44,
Gotha 1787, S. 158).
69 Vgl. Pascal: ». . . l'homme ne s'ennuie de tout, et ne cherche cette multitude
d'occupations, que parce qu'il a l'idée du bonheur qu'il a perdu: lequel, ne
trouvant point en soi, il le cherche inutilement dans les choses extérieures, sans
se pouvoir jamais contenter, parce qu'il n'est ni dans nous, ni dans les créatures,
mais en Dieu seul.« (Zusatz von Port-Royal, vielleicht von der Hand Pascals
selbst, zu fr. 168).
70 Krauss, über die Träger der klassischen Gesinnung, a. a. O., S. 424.
71 ». . . il n'a jamais été capable d'aucune affaire, et je ne sais pourquoi, car il avoit
des qualités qui eussent suppléé, en tout autre, celles qu'il n'avoit pas.« Die
»irrésolution habituelle«, die Retz an La Rochefoucauld feststellt, erklärt noch
nichts: ». . . nous voyons les effets de cette irrésolution, quoique nous n'en
connoissions pas la cause.« (Einführg. zu: CEuvres complètes, éd. Grands
Ecrivains, I, Paris 1868, S. 13).
251
FRANZÖSISCHE LITERATUR
72 Mit Recht sagt L. Landgrebe von Descartes' Gottesbeweis, daß sein Sinn kein
anderer sei als »der, dem Menschen in der Eigenständigkeit seiner Vernunft
einen Bereich zu sichern, in den er vor dem Walten eines unberechenbaren
Schicksals sich auf sich selbst in seiner Freiheit zurückziehen kann«. (Descartes.
In: Leibniz-Gedächtnisband, Hamburg 1946, S. 221).
73 Die Stelle im Zusammenhang: »Mais je ne me puis empêcher de croire que les
choses corporelles, dont les images se forment par ma pensée, et qui tombent
sous les sens, ne soient plus distinctement connues que cette je ne sais quelle
partie de moi-même qui ne tombe point sous l'imagination: quoiqu'en effet ce
soit une chose bien étrange, que des choses que je trouve douteuses et éloignées,
soient plus clairement et plus facilement connues de moi, que celles qui sont
véritables et certaines, et qui appartiennent à ma propre nature.« (Méditiations II.
In: CEuvres et Lettres, Bibl. de la Pléiade, Paris 1952, S. 279).
74 Es war Systemzwang, der Descartes die Seele, die das Geheimnis des unein-
gestandenen Widerspruchs mitenthielt, nur dem Menschen zuschreiben und die
252
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Tiere zu bloßen Automaten erklären ließ. Es liegt in der Konsequenz der oben
angedeuteten Entwicklung, wenn La Fontaine bei der Verteidigung seiner Tiere
gegen Descartes ihnen ein »je ne sais quoi«, fern aller Raison, zuschreibt:
Par un exemple tout égal,
J'atribuerois à l'animal
Non point une raison selon notre manière,
Mais beaucoup plus aussi qu'un aveugle ressort:
Je subtiliserois un morceau de matière,
Que l'on ne pourroit plus concevoir sans effort,
Quintessence d'atome, extrait de la lumière,
le ne sais quoi plus vif et plus mobile encor
Que le feu; car enfin, si le bois fait la flamme,
La flamme, en s'épurant, peut-elle pas de l'âme
Nous donner quelque idée? ...
(Discours á Mme de la Sablière, In: CEuvres complètes, éd. Grands Ecrivains, II,
Paris 1834, S. 198).
75 Krauss, Über die Träger der klassischen Gesinnung, a. a. O., S. 424.
76 Ci:livres, Paris 1927, I, S. 95. Vgl. I, S. 137: »[. . .] il faut que nous soyons bien
maitres de notre génie, autrement l'esprit est possédé de je ne sais quoi
d'étranger qui rte lui permet pas de disposer assez facilement de lui-même.«
253
FRANZÖSISCHE LITERATUR
ort her, der schon die Möglichkeit der befreienden Aufklärung sichtet
und wie diese jedes Systemdenken als Behinderung empfindet.
Inzwischen hat sich die negative Erfahrung der rationalistischen Denk-
bemühung, das unabweisbare Gefühl vom Vorhandensein eines dunklen
Restes, den keine Ratio zu durchleuchten vermag, in mehrfacher Weise
ins Bewußtsein geschoben. Die zur geistig so fruchtbaren Reflexion über
sich selbst gelangende Gebildetenschicht des absolutistischen Staates
empfindet den Antagonismus zwischen den rationalistischen Ordnungen
und der menschlichen Natur als letztlich unüberbrückbare Kluft zwischen
dem universalen Geltungsanspruch der Ratio und ihrer tatsächlichen
Leistung für das menschliche Selbstverständnis. Dieser Grundwider-
spruch wird zu einer Aporie, die sich im Bereich der religiösen Erfahrung
schließlich nur mit einer den Erkenntnisverzicht einschließenden, vor-
behaltlosen Hinwendung zu Gott umgehen läßt. Während Pascal den
Menschen als ein zwischen der Größe, von der er abgefallen, und dem
Nichts, dem er verfallen ist, hoffnungslos schwankendes Wesen be-
stimmt, führt Fénelon in seiner Démonstration de l'existence de Dieu
(1713) die Methode des Zweifels noch über Descartes hinaus: die Selbst-
gewißheit des Denkens, als einzige Gewißheit des Menschen von sich
selbst, wird ein »je ne sais quoi«. Ein »je ne sais quoi« allerdings, an dem
das Wirken Gottes sichtbar ist: in den Augen des menschlichen An-
gesichts hat der Schöpfer »allumé je ne sais quelle flamme céleste, à
laquelle rien ne ressemble dans tout le reste de la nature« 77 . Die Seele
enthält eine geheimnisvolle Gedächtniskraft, »un je ne sais quoi qui est
tour à tour toutes les choses que j'ai connues depuis que je suis au
monde« 78 . Die angebliche Gewißheit des »cogito ergo sum« ist selbst das
denkbar Fragwürdigste, ist ein erneut ganz ernst gewordenes mystisches
»ineffabile« :
»Je ne suis pas, éi mon Dieu, ce qui est: hélas! je suis presque ce qui
n'est pas. Je me vois comme un milieu incompréhensible entre le néant
77 Fénelon, CEuvres, II, Paris 1882, S. 66. - Vgl. Télémaque IV, über Cupido: »[...]
il avoit je ne sais quoi dans ses yeux perçants qui me faisoit peur.« Und IV über
Telemach: »Le jeune a je ne sais quoi de vif et d'aimable; toutes les graces de la
beauté et de la jeunesse sont répandues sur son visage et sur son corps.« (Les
aventures de Télémaque, Paris 1798, ii, S. 103, 276).
78 In direktem Anschluß daran heißt es: »[...] de ce trésor inconnu sortent tous les
parfums, toutes les harmonies, tous les goûts, tous les degrés de lumière, toutes
les couleurs et toutes leurs nuances; enfin toutes les figures qui ont passé par
mes sens, et qu'ils ont confiées à mon cerveau.« (CEuvres II, S. 82).
254
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
et l'être: je suis celui qui a été; je suis celui qui sera; je suis celui qui
n'est plus ce qu'il a été; je suis celui qui n'est pas encore ce qu'il sera:
et dans cet entre-deux que suis-je? un je ne sais quoi qui ne peut s'arrêter
en soi, qui n'a aucune consistance, qui s'écoule rapidement comme l'eau;
un je ne sais quoi que je ne puis saisir, qui s'enfuit de mes propres mains,
qui n'est plus dés que je veux le saisir ou l'apercevoir; un je ne sais quoi
qui finit dans l'instant même où il commence; en sorte que je ne puis
jamais un seul moment me trouver vers moi-même fixe et présent à
moi-même pour dire simplement: je suis.« 79
79 A. a. O., S. 247.
80 Entretiens galans ou conversations, Paris 1691, 5. 100.
255
FRANZÖSISCHE LITERATUR
zuschreibt, nach dem jeder Autor sich zu richten habe. Der fünfund-
sechzigjährige Boileau scheint seine ganze Dichtungslehre zu widerrufen,
wenn er nach der Versicherung, immer und in allem gemäß dem Ge-
schmack der Leserschaft geschrieben zu haben, erklärt:
»C'est effectivement el quoi il me semble que les écrivains ne sauroient
trop s'étudier. Un ouvrage a beau être approuvé d'un petit nombre de
connoisseurs: s'il n'est plein d'un certain agrément et d'un certain sel
propre et piquer le goût général des hommes, il ne passera jamais pour un
bon ouvrage, et il faudra ii la fin que les connoisseurs eux-mêmes
avouent qu'ils se sont trompés en lui donnant leur approbation.
Que si on me demande ce que c'est que cet agrément et ce sel, je
répondrai que c'est un je ne sais quoi, qu'on peut mieux sentir que dire.«
Der Ästhetiker der »justesse« und der »raison« bleibt seiner Auf-
fassung treu und ist doch zugleich gezwungen, einem bereits grund-
legend gewandelten Geschmack einen wenn auch trügerischen Zoll zu
entrichten.
An dieser Entwicklung, die auf einige Zeitgenossen offenbar den Ein-
druck einer geheimen Revolution machte, war ein Schriftsteller wesent-
lich beteiligt, der dem arg im Ansehen gesunkenen »bel esprit« zu neuem.
Glanz verhelfen wollte, und der dem »je ne sais quoi« in seinen viel-
beachteten Entretiens d'Ariste et d'Eugène einen eigenen Dialog wid-
mete. Bei Bouhours scheint es, als hätte sich der »bel esprit« durch den
Mißbrauch der Freiheiten, welche die Herrschaft der Raison als ein.
persönliches »je ne sais quoi« ausgespart hatte, um seinen Kredit ge-
bracht: »Le vrai bel esprit [. . .] est inséparable du bon sens, et c'est se
méprendre que de le confondre avec je ne sais quelle vivacité qui n'a
rien de solide« 81 . Und doch bedarf das »Solide« des »bon sens« des
81 Bouhours, Entretiens d'Ariste et d'Eugène, Paris 1920, S. 151; zum »je ne sais
quoi« bei Bouhours u. a. s. auch Benedetto Croce, Estetica, Bari 5 1922, S. 219 ff.
256
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Leuchtens, denn der »bel esprit« »c'est le bon sens qui brille« 82 , sein
Unterscheidungsvermögen ist dementsprechend nicht mehr bloß »juste«,
sondern ebenso »délicat« 83 , er hat nicht nur »force«, sondern ebensoviel
»délicatesse« 84 :
»Les images sous lesquelles il exprime ses pensées sont comme ces
peintures qui ont toute la finesse de l'art et je ne sais quel air tendre et
gracieux qui charme les connaisseurs 85 .
Mit der »délicatesse« ist jener Aspekt des »je ne sais quoi« getroffen.,
der den Geschmack anspricht und bereits eine fast unmerkliche Ver-
lagerung der ästhetischen Maßstäbe von der Objektivität des Kunst-
werks in die Subjektivität des Betrachters ankündigt. Die Rationalität
des Kunstwerks wie des Verhaltens bedarf eines verklärenden Glanzes,
der, ohne noch das Gesetz der Regel direkt zu verletzen, durch sie hin-
durch den Reiz des individuellen Wirkens wie des individuellen Ge-
fallens wahrt:
»Les pièces les plus savantes et même les plus ingénieuses ne sont
point estimées dans notre siècle, si elles ne sont touchées délicatement.
Outre ce qu'elles ont de solide et de fort, il faut qu'elles aient je ne sais
quoi d'agréable et de fleuri pour plaire aux gens de bon goût, et c'est
ce qui fait le caractère des belles choses.« 86
257
FRANZÖSISCHE LITERATUR
4. . .] l'on voit tous les jours des personnes qui ont toutes ces qualités
sans avoir ce qui plait, et que l'on en voit d'autres au contraire qui
plaisent beaucoup, sans avoir rien d'agréable que le je ne sais quoi.« 88
Das »je ne sais quoi« tritt im 17. Jahrhundert, das »génie« und »goût«
der »raison« unterordnet, für das irrationale, besondernde Element am
»génie« ein. »Génie« ist, wo es nicht ganz im herrschenden Sinne als
sublimierte »raison« verstanden wird, ein »je ne sais quoi«, mit dem
Bouhours den Genius »letzten Endes wieder vom Himmel herabsteigen
[läßt], indem er ihn aus dem Geiste des Platonismus heraus erneuert« 89 .
Im Anschluß an Gracián, und über ihn hinausgehend, definiert er »génie«
wie folgt:
Abstrakte Logik könnte aus der Gleichung »je ne sais quoi« — »génie«
schließen, daß Bouhours dort, wo er das regelbefreite »je ne sais quoi«
zur einzigen Ursache des Gefallens macht, die moderne Genie-Auf-
fassung vertrete, die doch erst dem späteren 18. Jahrhundert zugänglich
war. In Wirklichkeit ist jene Äußerung nur eine erste psychologische
Folgerung aus dem sich unter der langen Regierungszeit Ludwigs XIV.
wandelnden Menschenbild, deren ästhetische Konsequenzen auf längere
Zeit hinaus noch nicht mit gleicher Eindeutigkeit gezogen werden. Daß
das Kunstwerk wie der hervorragende Mensch eine geheimnisvolle Mit-
gift besitze, die die verstandesmäßig erfaßbaren Qualitäten erst zum
Leuchten bringt, ist, wie wir wissen, eine empirische Erfahrung schon
des ganzen Jahrhunderts. Neben den zahlreichen, unmittelbar dem
Selbstverständnis der neuen Gesellschaft verpflichteten und es zugleich
bewirkenden psychologischen Erörterungen finden sich vereinzelte Äuße-
88 A. a. O., S. 197.
89 H. Sommer, Apropos du mot »génie«, in: ZRPh. 66 (1950), S. 192.
90 Bouhours, a. a. O., S.178-179.
258
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
rungen, in denen die Stadien einer zögernd dem Wandel des Menschen-
bildes nachfolgenden Entwicklung der ästhetischen Auffassung erkenn-
bar sind. Vaugelas, dem der menschliche Idealtypus ein »composé où
il entroit du je ne sçay quoy« ist (s. o. S. 243), wagt es noch nicht, die
Irrationalität dieses gesellschaftspsychologischen, vollendenden Irgend-
etwas auf das literarische Erzeugnis zu übertragen. Das »je ne sais quoi«
am Kunstwerk, wiewohl voller Geheimnis, tritt für Vaugelas nicht als
ein Anderes hinzu, sondern resultiert aus der Gesamtheit der erfaßbaren
und meßbaren Eigenschaften des S tilS 91 .
Die ästhetische Auffassung bis etwa 1660 ist beherrscht von der aus-
schließlichen Bestimmungsmacht der verstandesmäßig herstellbaren und
erklärbaren Ordnung, deren Gesetze und Regeln »Natur« sind und dem
Irrationalen nur den Ausdruck einer augenblicklichen Verlegenheit ein-
räumen 92 . Erst bei Méré dringt die im psychologischen Raum der ab-
solutistischen Gesellschaft gewonnene Einsicht durch, daß das Geheimnis
der nur an ihrer Wirkung erkennbaren Vollendung nicht durch den.
rationalen Einblick in eine allesbeanspruchende Gesetzlichkeit zu ent-
schlüsseln sei und sich der Ratio schlechthin entziehe. Es sind die Jahre,
in denen man mit Pascal dem Herzen eine neue Eigenständigkeit gegen-
über der überindividuellen Raison sichert". Méré ist der Theoretiker
eines Menschenideals, das sich nur in der gebildeten Gesellschaft ver-
wirklicht, in einer allseitigen Bemühung, vermöge deren höchste Künst-
lichkeit zur höchsten Natürlichkeit führt. Trotzdem anerkennt er ein
»je ne sais quoi de digne et de grand, tout simple et sans art [. . I qui
tient du champestre, et du sauvage« 94 . Sein Stilideal sieht Méré in den
Schriften des bewunderten Caesar erfüllt, dessen Verdienst darin bestehe,
259
FRANZÖSISCHE LITERATUR
»On remar quoit dans les Tableaux d'Appelles je ne sai quoi qui char-
moit, quand ils n'étoient qu'ébauchez, et qu'on ne retrouvoit plus, sitôt
qu'ils étoient finis. C'est que les premieres pensées se montrent plus
naturelles que les re flexions, et que d'ailleurs les Graces sont si libertines,
que la sujettion des regles les épouvante, et que la contrainte leur déplait
toiljours. «96
97 G. Hess, Wege des Humanismus im Frankreich des 17. Jahrhunderts. II, Méré.
In: RF 53 (1939), S. 271.
98 Méré, éd. Boudhors I, S. 55.
260
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Der Geschmack ist hier ein instinktiv richtig urteilendes Gefühl, das
von der Vernunftbetrachtung nachträglich gerechtfertigt, kaum aber
korrigiert werden kann.
Die »délicatesse« des Geschmacks wird zum Stichwort Bouhours'. Ein
»je ne sais quoi« dämpft den subjektiven Charakter der neuen ästheti-
schen Instanz des »sentiment«, dessen selber ungreifbare Subtilität allein
das nun wieder außerrational wirkende »génie« zu beurteilen vermag.
Um die neuen ästhetischen Begriffe »délicatesse«, »sentiment« und
»génie« zu definieren, muß Bouhours zum »je ne sais quoi« greifen und
damit — für uns — die Keimzelle der neuen Wertungen aufdecken:
261
FRANZÖSISCHE LITERATUR
102 ». . . il est certain que le je ne sais quoi est de la nature des choses qu'on ne
connaît que par les effets qu'elles produisent«. (La Manière de bien penser,
zit. n. Frankendörfer, a. a. 0., S. 201).
103 ». . . cependant c'est une bonne et solide raison, mais cachée, mais inconnue
ä la philosophie, et que la nature toute seule nous suggère«. (A. a. 0., S. 206).
104 A. a. 0., p. 196.
105 Schon Balzac hatte im Freundschaftsverhältnis die Wirkung eines »je ne sais
quoi« festgestellt: »Je reconnois une puissance secrete qui agit sur moy, et
il est tresvray que je ne vous ay jamais veil, ny n'ay jamais songé it vous,
que je n'aye senti je ne sçay quoy qui m'a chatoüillé le cceur.« (1646 an Méré.
CEuvres, Paris 1854, I, S. 490). Bei Bouhours entscheidet — hier dehnt er die
Funktion des »je ne sais quoi« vom Bereich der Liebe auf den ganzen mensdi-
262
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
das als ein »je ne sais quoi« die menschlichen und künstlerischen Ord-
nungen bestimmt, mit der göttlichen Gnade zu identifizieren. Weil auch
das letzte Ziel aller Leidenschaften, Begierden und Hoffnungen ein »je
ne sais quoi« ist 106, letztlich identisch mit dem unsterblichen Teil unserer
Seele 107, enthüllt sich bei Bouhours — unter Berufung auf Augustinus —
das »je ne sais quoi«, das über das gesellschaftskonstituierende Gesetz
des Gefallens in die Menschheit einstrahlt, als ein universaler Antrieb
zu Gott, von dem es ausgeht:
»La grâce elle-même, cette divine grâce qui a fait tant de bruit dans
les écoles et qui fait des effets si admirables dans les âmes, cette grâce
si forte et si douce tout ensemble, qui triomphe de la dureté du coeur
sans blesser la liberté du franc arbitre, qui s'assujettit la nature en s'y
accommodant, qui se rend maîtresse de la volonté en la laissant maîtresse
d'elle-même, cette grâce, dis-je, qu'est-ce autre chose qu'un je ne sais
quoi surnaturel qu'on ne peut ni expliquer ni comprendre?«
lichen Lebenszusammenhang aus — ein »je ne sais quoi« über das richtung-
gebende Verhältnis von Sympathie und Abneigung. Freude und Verdruß, je
nachdem, erscheinen Ariste als »des effets d'une grande sympathie et des
inclinations secrètes qui nous font sentir pour une personne je ne sais quoi que
nous ne sentons point pour une autre.« (Entretiens d'Ariste et d'Eugène,
S. 195).
106 »On verra même que le je ne sais quoi est, à. le bien prendre, l'objet de la
plupart de nos passions. Outre l'amour et la haine qui donnent le branle
à tous les mouvements du coeur, le désir et l'espérance, qui occupent toute la
vie des hommes, n'ont presque point d'autre fondement. Car enfin nous désirons
et nous espérons toujours, parce qu'il y a toujours au-delà du but que nous
nous sommes proposés je ne sais quoi où nous aspirons sans cesse et où nous
ne parvenons jamais; et de là vient que nous ne sommes jamais contents dans
la jouissance des choses que nous avons souhaitées le plus ardemment.« (A. a. O.,
S. 210).
107 »Mais, pour parler chrétiennement du je ne sais quoi, n'y en a-t-il pas un dans
nous qui nous fait sentir [...] que nos âmes sont immortelles, que les grandeurs
de la terre ne sont pas capables de nous satisfaire, qu'il y a quelque chose
au-dessus de nous qui est le terme de nos désirs et le centre de cette félicité
que nous cherchons partout et que nous ne trouvons nulle part.« (A. a. O.,
S. 211).
108 »St. Thomas appelle la grâce une forme substantielle; et le jésuite Bouhours
la nomme un je ne sais quoi; c'est peut-être la meilleure définition qu'on en
ait jamais donnée.« (Dictionnaire philosophique, Art. Grâce).
263
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Der neuplatonische Eros tritt bei Bouhours in den Dienst der Gnaden-
lehre des jesuitenordens, der in dieser Wendung noch einmal jene er-
staunliche Fähigkeit zur Anpassung an die Bedürfnisse der »société
mondaine« unter Beweis stellt, die einen Pascal so erbittert hatte. In
dieser Verschmelzung von Gnadenlehre und Neuplatonismus verklärt
sich das »je ne sais quoi« zum überirdischen Geheimnis einer Faszination,
in dem die Gesellschaft des klassischen Absolutismus die Möglichkeiten
ihrer Existenz, ihre Not und ihre Tugend, ihre Schwäche und ihre
Chance, kurz: ihr wirkliches Wesen ahnt.
Ein »je ne sais quoi« hatte auch im geschichtlichen Augenblick des
gläubigsten Rationalismus neben Fragwürdigkeit und Ohnmacht auch
Eigenart und Eigenwert des Individuellen in den Blick bringen können.
Im klassizistischen Ideal der Exaktheit, Boileaus »justesse«, die dem
schöpferischen Geist nur die Freiheit zur vollkommenen Regelbefolgung
läßt, war dem Besonderen und Persönlichen kein Platz eingeräumt. Aber
13 Jahre nach Erscheinen von Boileaus Art poétique (1674) hält Bouhours
in seiner Manière de bien penser dans les ouvrages de l'esprit trotz
gewisser Konzessionen an Boileaus Ästhetik an seinem bereits in den
Entretiens wirksamen Prinzip der »délicatesse« fest. Nach Bouhours
verträgt »die ästhetische Vernunft [. . .] nicht nur ein gewisses Maß von
Unbestimmtheit, sondern sie verlangt die letztere und fordert sie heraus;
denn nur am noch nicht völlig Bestimmten, am nicht schlechthin Zu--
Ende-Gedachten entzündet und entwickelt sich die ästhetische Phanta-
sie« 109 . Im Ideal der Inexaktheit, des Nicht-zu-Ende-Gedachten legt sich
die Unmöglichkeit, den eigenen Lebensgrund rational zu begründen, in
neuer Weise positiv aus. Mit der »délicatesse« des zwar nicht von
allgemeingültigen Maßstäben befreiten, aber persönlich und präreflexiv
urteilenden Geschmacks wird der Unbestimmbarkeit des »je ne sais
quoi« ein Raum gegeben, in dem sich das individuelle Gefühl gegen eine
beengende Gesetzlichkeit behauptet.
Bouhours' Entretiens erleben innerhalb von 20 Jahren elf Auflagen.
Die scharfsinnige Kritik, die der Jansenist Barbier d'Aucourt noch im
Jahre ihres ersten Erscheinens gegen die Entretiens richtet, wendet sich
gegen die Gleichsetzung von »je ne sais quoi« und Gnade und gegen den
Subjektivismus in der Geschmacksauffassung Bouhours' 11 °. Die Auf-
264
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
»Tous les hommes ont un je ne sais quoi particulier qui fait qu'ils
plaisent ou déplaisent à la première vue, selon les différentes personnes
qui les voient, et c'est le fondement de ce qu'on appelle sympathie ou
antipathie. «111
111 Bouhours, a. a. O., p. 206. »II y a des je ne sais quoi universels dont tout le
—
265
FRANZÖSISCHE LITERATUR
»Ces petites perceptions sont donc de plus grande efficace par leurs
suites qu'on ne pense. Ce sont elles qui forment ce je ne sçay quoy,
ces gouts, ces images des qualités des sens, claires dans l'assemblage,
mais confuses dans les parties [. . 3 cette liaison que chaque estre a avec
tout le reste de l'univers.« 114
»Les Idées des qualités sensibles, affectées aux organes, comme celle
de la couleur ou de la chaleur [. . .1 sont claires, car on les reconnoist
et on les discerne aisement les unes des autres, mais elles ne sont point
distinctes, parce qu'on ne distingue pas ce qu'elles renferment. Ainsi
on n'en sauroit donner la de finition. On ne les fait connoistre que par
des exemples, et au reste il faut dire que c'est un je ne say quoy, jusqu'à
ce qu'on en dechiffre la contexture.«" 5
Das ästhetische Urteil gehört daher in den Bereich der cognitio con-
fusa, für die immer ein dunkler Rest bleibt:
Von der Entschiedenheit, mit der ein Du Bos 1719 in seinen Réflexions
critiques sur la poésie et la peinture das persönliche Gefühl zum alleini-
gen Maßstab für die Beurteilung des Kunstwerks macht, sind sowohl
Bouhours als auch Leibniz allerdings noch weit entfernt. Während
Boileau das Irrationale im Geschmacksurteil ganz und an der Kunst-
schöpfung nahezu völlig leugnen konnte, vermögen selbst die strengen
Klassizisten unter seinen Nachfolgern es nicht mehr zu ignorieren. Der
266
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Père Rapin, für den die Poetik der »bon sens réduit en principes« ist,
kennt gleichwohl das »mystère« des »je ne sais quoi«:
»I/ y a encore dans la Pasie, comme dans les autres arts, de certaines
choses ineffables, et qu'on ne peut expliquer: ces choses en sont comme
les mysteres. 11 n'y a point de preceptes pour enseigner ces graces
secretes, ces charmes imperceptibles, et tous ces agrémens cachez de la
Pasie qui vont au coeur. Comme il n'y a pas de methode pour enseigner
il plaire, c'est un pur effet du naturel.«117
117 CEuvres, Amsterdam 1709, II, S. 152; vgl. noch S. 143: »[. . .1 il faut sur tout
qu'il regne dans le discours un certain air de grace et de delicatesse qui en
fasse le principal ornement, et la beauté la plus universelle«; und S. 154: »Outre
ces graces que la Poesie trouve dans l'expression des moeurs et des passions:
il y a je ne sçay quoy dans le nombre, qui est connu de peu de gens, et qui
toutefois est d'un grand agrément dans la Poesie.«
118 S. Cassirer, a. a. O., S. 397 f.
119 »[. .1 il y avoit toftjours quelqu'un, ou quelqu'une qui sentoit bien que ce,
n'étoit qu'une fausse galanterie, et je ne sçai quoi de brillant, qui peut sur-
prendre«. (id. Boudhors I, S. 19, vgl. Anm. 147 b. Boudhors).
120 »[...] ce je ne sais quoi qui surprend et qui emporte le coeur ä une première
vue. ..« (Bouhours, Entretiens, S. 204, vgl. auch S. 210).
121 »Il y a quelquefois, dans les personnes ou dans les choses, un charme invisible,
une grâce naturelle, qu'on n'a pu définir et qu'on a été obligé d'appeler le
je ne sais quoi. Il me semble que c'est un effet principalement fondé sur la
surprise« (Montesquieu, Art. Goût, abgedr. in: CEuvres posthumes de d'Alem-
bert, Paris 1799, II, S. 386).
267
FRANZÖSISCHE LITERATUR
»Je suis le Je ne sais quoi qui touche dans les deux sexes: ici le Je ne
sais quoi qui plaît en architecture, là le Je ne sais quoi plaît en peinture
en tout ce qui peut faire l'objet du goût. Ne me cherchez point sous
une forme, j'en ai mille, et pas une de fixe: voilà pourquoi on me voit
sans me connaître, sans pouvoir me saisir ni définir; on me perd de vue
en me voyant, on me sent et on ne me démêle pas; enfin vous me voyez,
et vous me chercherez, et vous ne me trouverez jamais autrement; aussi
ne serez vous jamais las de me voir. «122
Das »je ne sais quoi« ist hier zum adäquaten Ausdruck eines Stilideals
geworden, das eine unendliche Bewegtheit und Flüssigkeit gegen die
feste Form, eine hintergründig-unfaßbare »schöne Unordnung« als
höhere Ordnung gegen die starre Norm stellt, und das folgerichtig den'
Gefühl allein die Fähigkeit zu einem Urteil vorbehält, vor dessen Gegen-
stand die exakteste Regelkenntnis versagen muß 123 An die Stelle der
.
268
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Es liegt an dem auch mit Hilfe des Sensualismus nie ganz gelösten
Widerspruch der Aufklärung zwischen Gefühl und Vernunft, wenn der
moderne Geniebegriff nur bei Rousseau, Diderot und Mercier zum
Durchbruch kommen konnte 125 und wenn das Bedürfnis, die Ästhetik
,
269
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Das »je ne sais quoi«, das hundert Jahre hindurch mehr und mehr
zum spontanen Urteilsvermögen des Geschmacks geworden war, scheint
endgültig durch den neuen ästhetisch-psychologischen Zentralbegriff des
»sentiment« ersetzt.
Das gilt jedoch noch nicht für das »je ne sais quoi« am Objekt, auf
das allein die neue Instanz des Gefühls anspricht. Die zum wirklich
Schönen gewordene, geheimen Gesetzen unterliegende Regellosigkeit
im künstlerischen Gegenstand ist nach wie vor ein »je ne sais quoi«,
das mit »grâce« nicht ausreichend bezeichnet scheint und dessen Merk-
mal eine natürliche Freiheit und Variabilität ist. In der Nouvelle Héloïse
spricht M. de Wolmar in diesem Sinne von einem Mann mit Geschmack,
der einen Garten anlegen will:
Die wahre Schönheit besteht nur in dem, was allein das der Natur
verpflichtete Gefühl erfassen kann. Daher kann umgekehrt nur die
unberührte Natur, in der sich das Gute rein ausspricht, das echte Gefühl
ansprechen. Was an der Erscheinung der hervorragenden Persönlichkeit
einnimmt, rührt und bezaubert — weit über jedes bloße Gefallen und
über die Grazie hinausin —, das wird in der unberührten Natur der
270
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
seulement mais qui touche et qui fait voler tous les coeurs au-devant du tien.«
(A. a. O., S. 156). — Vgl., ebenfalls auf Julie bezogen: »[...] ce je ne sais quoi
d'inexprimable, d'enchanteur, que tu semblais avoir répandu sur toute ta per-
sonne [...]« (S. 90); »[...] ce tour agréable et sérieux qui change tout à coup
à ton moindre sourire, et porte au coeur je ne sais quel enchantement inconnu,
je ne sais quel soudain ravissement que rien ne peut exprimer.« (S. 235).
132 A. a. 0., S. 44.
133 W. Krauss, Zur Bedeutungsgeschichte von »romanesque« im 17. Jahrhundert. In:
Gesammelte Aufsätze zur Literatur- und Sprachwissenschaft, Frankfurt a. M.
1949, S. 416.
271
FRANZÖSISCHE LITERATUR
272
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
139 Mit Recht sagt W. Krauss im Anschluß an diese Stelle: »Die Anspielung auf
den Ritterroman dient hier nur zur Ausdeutung eines völlig neuartigen und
nie beschriebenen Erlebens. Im Ritterroman war einst die heroische Landschaft
verschmolzen mit dem Wirken des Helden, Dimension seines Abenteuers. Hier
aber hat die Landschaft ihren Betrachter absorbiert.« (A. a. 0., S. 429).
140 Es scheint, als ob »romanesque« zur Abfassungszeit der Nouvelle Héloïse noch
zu verdächtig, »romantique« aber noch nicht hinreichend bekannt gewesen wäre.
Bis in die zweite Jahrhunderthälfte jedenfalls war »romantique« nur erst als
ein von den Engländern gebrauchtes Wort bekannt; vgl. A. François, Où en
est »romantique«? In: Mélanges Baldensperger, Paris 1930, I, S. 322: »Plusieurs
Anglois essaient de donner aux leurs (sc. jardins) un air qu'ils appellent en
leur langue Romantic, c'est à dire à peu près pittoresque.« (J.-B. Leblanc, Lettres
d'un François concernant le gouvernement, la politique et les moeurs des
Anglois et des François, Paris 1745, II, p. 205).
141 S. Walther Küchler, Französische Romantik, Heidelberg 1908, S. 32 ff.
142 Dies bleibt auf lange Zeit das Charakteristikum des »Romantischen«; vgl.
Béranger (1788) : »C'est là que l'âme du philosophe, frappée de tous ces
273
FRANZÖSISCHE LITERATUR
und Emotion genau die Erlebnisform trifft, die Rousseau mit einem
dreifachen »je ne sais quoi« umschrieben hatte 143 . Die »idées de ces
parties groupées d'une manière neuve et variée, propres à étonner les
sens«, und das »sentiment de l'émotion douce et tendre qui naît à leur
vue« sind das, was bisher — gipfelnd in Rousseaus Naturerlebnis —
»je ne sais quoi« hieß und was jetzt Le Tourneur mit »romantique«
ausdrückt. Erst in den Rêveries du promeneur solitaire von 1777 findet
Rousseau für die Seele seiner Ideallandschaft den Ausdruck, der die
Einzigartigkeit des neuen Erlebens zusammenfassen wird: »romantique«,
zunächst noch Synonym von »romanesque« 144. Das neue Lebensgefühl,
dem eine so große Zukunft beschieden ist, hat nun, wenngleich erst im
Ansatz, seinen Namen, der es dem Zwang enthebt, die zugleich zögernd
und beglückend erfahrene Besonderheit des neuen Erlebens mit einem
immer fragwürdig bleibenden »Ich-weiß-nicht-was« anzudeuten.
Inzwischen hatte auf anderen Gebieten das »je ne sais quoi« bereits
274
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Der Mystifizierung des platonischen Eros ist hier die restlose Desil-
lusionierung gefolgt, dem Vertrauen in eine geheimnisvoll-irrationale
Bestimmung des gesellschaftlichen Lebensgrundes der Eindruck von des-
sen schlechthinniger Fragwürdigkeit. Es ist der gleiche kritische Stand-
punkt, von dem aus Montesquieu die zur hemmenden Institution er-
starrten Spielregeln des menschlichen Verkehrs ins Auge faßt:
»11 s'est formé dans l'esprit des particuliers un certain je ne sais quoi
qu'on appelle point d'honneur.«148
275
FRANZÖSISCHE LITERATUR
»Je prie l'honnête homme qui fera ›Matière(, de bien prouver que le
je ne sais quoi qu'on nomme matière peut aussi bien penser que le je ne
sais quoi qu'on nomme Esprit.« 149
»Je ne sai quoi; expression qu'on met par manière de dire à toutes
sortes de sauces, et qui ne marque en effet que l'entière ignorance de
ceux qui s'en servent.« 150
»[. . .1 plus j'examinai mon Recueil, plus je trouvai que ce titre lui
convenoit. Je ne perdrai pas mon tems ii le prouver. Les Connoisseurs
le sentiront bien d'eux-mêmes: Et ceux qui jugent de tout sans connois-
sance de cause, s'en apercevront, je m'asseire, par le principe du Je ne
sai quoi, qu'il manquent rarement d'alleguer pour raison de l'estime ou
du mépris qu'ils font des livres qui leur passent par les mains.« 151
Ebenso suspekt wie im Bereich des Ästhetischen wird der Begriff da,
wo es um die Einschätzung der Persönlichkeit geht. Der geheimnisvolle
Zauber der Anmut wird durch ein »Ich-weiß-nicht-was« nur verdunkelt
oder seines Sinnes entleert:
»[. .1 cet accord des mouvemens simples de l'âme avec ceux du corps,
„
276
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
»Ii faut peu de chose pour plaire. De la sensibilité dans les yeux, un
regard vif, doux et tendre, un souris gracieux, triomphent souvent de
l'insensibilité, et soumettent les coeurs les plus rebelles. Le je ne sçai
quoi, qui l'emporte quelquefois sur la beauté même, et qu'on a si souvent
i2 la bouche, sans pouvoir le définir, a beaucoup de rapport avec la
dernière partie dont il nous reste à parler.« 153
Das persönliche »je ne sais quoi« wird wieder vom Begriff der Grazie
gedeckt, den die deutsche Klassik mit ins Zentrum ihrer ästhetischen
Theorien stellen wird 154 .
277
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Auf einen Nachklang bei Platen machte mich Herr Dr. Wolfgang Lange, Ham-
burg, freundlicherweise aufmerksam:
Ich habe lange nichts gewünscht wie dies;
Allein es lockt mich ein Ich-weiß-nicht-was.
(Der gläserne Pantoffel, 2. Akt. In: Sämtliche Werke, Ausg. Goedeke, III, S. 27).
155 Einige Beispiele von vielen aus einer noch lebendigen stilistischen Konstanten:
Chateaubriand:
»[...] quand je relisais la lettre, j'y trouvai je ne sais quoi de si triste et de si
tendre, que tout mon coeur se fondait.« (René, Paris: Hachette 1863, S. 100.)
Ximénès Doudan:
»Otez du monde dans lequel vous vivez, des gens avec lesquels vous passez
votre vie, toutes ces touches délicates qui sont ce que l'on nomme vulgairement
le je ne sais quoi, ce qui est le tout de chacun et qui ne saurait se dire en
paroles, que restera-t-il de ces personnes [...]? [...] Ces gens dont me parle
l'histoire ne sont rien précisément que des hommes dépouillés de leur je ne
sais quoi [. . .1. Ajoutez qu'à mesure que l'image des temps passés s'éloigne,
l'image, la connaissance des lieux, des institutions, des habitudes, des langues
s'efface et s'affaiblit aussi. Dans l'ensemble de tous ces faits, il y a aussi un
je ne sais quoi qui échappe inévitablement à distance.« (Des révolutions du
Goût, Paris 1924 [=--- Bibl. Romantique, 5], S. 6-7.)
J.-K. Huysmans:
»Alors, j'examine les fillettes ... Elles ont un je ne sais quoi d'alangui et de
palôt qui révèle l'insomnie laborieuse de la nuit, un je ne sais quoi dans leur
linge encore propre mais un peu froissé, dans leur allure ralentie, dans leur
façon de porter la voilette et de relever la robe qui indique la hâte d'un
habillage, la Orte des ablutions qu'on n'a pu pratiquer chez soi.« (En Ménage.
CEuvres complètes, IV, Paris 1928, S. 127.)
Honoré de Balzac:
»L'effusion de l'actrice avait je ne sais quoi de moelleux dans sa rapidité, de
suave dans son entraînement: elle aimait!« (Les Illusions perdues. CEuvres
complètes, I, Paris 1877, S. 362; vgl. ebda., S. 280 u. 281.)
Lautréamont:
»Il y avait du vague dans mon esprit, un je ne sais quoi épais comme de la
278
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
Erlebniswelt mußte sich ihrer Grundwerte anders als durch ein viel-
deutiges »Ich-weiß-nicht-was« versichern. »Génie«, »sentiment«, »grâce«
und schließlich das umfassende »romantique« treten die Erbschaft an
und überlassen das »je ne sais quoi« den unseriösen Sphären des Sprach-
gebrauchs, denen es der Klassizismus bereits ausgeliefert hatte. Die
zur Herrschaft gelangte Irrationalität kennt keinen irrationalen Restbe-
stand mehr. Die völlige Hereinnahme einer regelfernen Natürlichkeit
in das menschliche Innere macht das Geheimnis der beseelten Bewegtheit
als ersehnte Heimat des Individuums vertraut. Aber so rasch wirft auch
der den Geist der Epoche verdichtende sprachliche Sinnträger die Ver-
gangenheit nicht ab. Ein »je ne sais quoi« übersch.attet noch lange die
Selbstauslegung der Romantik: »On sent le romantique, on ne le définit
pas« 156•
fumée«; (Les chants de Maldoror II. In: CEuvres complètes, Paris 1946, S. 71).
Marcel Proust:
»Aussitôt émanait de la personne de Saniette je ne sais quoi qui faisait qu'on
lui répondait de l'air le plus tendre du monde: >Non, malheureusement, cette
semaine, je vous expliquerai ...<.« (A la recherche du temps perdu, Bibl. de la
Pléiade, Paris 1954, II, S. 1023 24.)
-
Henry de Montherlant:
»Si vous pouviez savoir comme j'ai erré de femme en femme avant d'arriver à
vous, la patience, la bonne volonté que j'ai eues, tout ce que j'ai dû leur prêter,
tout ce que j'ai dû leur pardonner! Et puis, un jour, c'était je ne sais quoi, une
phrase, un rire, une façon de taper les mains, de jouer du piano, et elles
retombaient dans leur pauvre royaume ...« (Le Songe, Paris: Gallimard 1922,
S. 31.)
Colette:
»C'est surtout ce je ne sais quoi, dans l'attitude, d'aggressif et de découragé ...«
(L'Ingénue libertine, Paris: Alb. Michel 1951, p. 95.) — »Il n'est pas beau [...]
Mais son assurance, sa voix de jeune fille, sa câlinerie blessante, et ce . . .
je ne sais quoi ... Ah! oui! s'interrompt-elle résignée, le je ne sais quoi des
hommes qu'on ne connaît pas beaucoup« (ebda., S. 145).
Maurice Sachs:
»Elle s'habillait avec la plus grande recherche, ne lisait rien, n'écrivait pas la
moindre ligne et cherchait désespérément à se marier. Mais elle avait en tout
elle-même un je ne sais quoi de si offert qu'il ne se trouvait personne pour
la prendre.« (Le Sabbat, Paris 1946, S. 382 83.)
-
Paul Valéry:
»Une détresse qui écrit bien n'est pas si achevée qu'elle n'ait sauvé du naufrage
quelque liberté de l'esprit, quelque sentiment du nombre, quelque logique et
quelque symbolique qui contredisent ce qu'ils disent. Il y a aussi je ne sais quoi
de trouble, et je ne sais quoi de facile, dans la spécialité que l'on se fait des
motifs tragiques et des objets impressionnants.« (Variété I, Paris 1924, S. 143.)
Jean Cocteau:
»Un jour que j'allais voir Picasso, rue La Boétie, je crus, dans l'ascenseur, que
je grandissais côte à côte avec je ne sais quoi de terrible et qui serait éternel.«
(Journal d'un Inconnu, Paris: Grasset 1953, 5. 49.)
279
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Nachtrag
Es gibt Themen, die zu einer bestimmten Zeit in der Luft liegen. Seit
der ersten Veröffentlichung des vorliegenden Aufsatzes (1955) und des-
jenigen über den Padre Feijáo und das no sé qué (1956) sind zum
gleichen Gegenstand erschienen:
V. Jankélévitch, Le Je-ne-sais-quoi et le Presque-rien, Paris 1957;
W. E. Thormann, Again the »Je ne sais quoi«. In: Mod. Lang. Notes
73 (1958), S.351-355; P. H. Simon, Le »Je-ne-sais-quoi« et l'ordre classi-
que. In: Cahiers de l'Assoc. Intern. des Etudes Françaises 11 (1959),
S. 104-117 (wieder abgedruckt in: Le Jardin et la Ville, Paris 1962,
S. 28-45); V. Cerny, Le »Je ne sais quoi« de Trissotin. In: Revue des
Sciences Humaines, fasc. 103 (juillet 1961), S. 367-378; W. von Wart-
burg, Non sapio quid. In: Homenaje a Dámaso Alonso, III, Madrid 1963,
S. 579ff.; C. Samoná, 1 concetti di »gusto« e di »no sé qué« ne! padre
Feijóo e la poetica del Muratori. In: Giorn. Stor. della Lett. Ital. 141
(1964), S. 117ff.; Alberto Porqueras Mayo, Función de la fórmula »no sé
qué« en textos literarios españoles (siglos XVIII—XX). In: Bulletin
Hispanique LXVII (1965), S. 253ff.
Zu derselben Zeit, da ich den Aufsatz über »Je ne sais quoi« vor-
bereitete, arbeitete E. Haase, ohne daß wir voneinander gewußt hätten,
über denselben Gegenstand. Seine Studie Zur Bedeutung von »Je ne sais
quoi« im 17. Jahrhundert erschien wenig später (ZFSL 67 (1956), S. 47—
68). Daß damals auch noch an anderem Ort eine Arbeit zum gleichen
Thema vorgesehen war, läßt die Zahl der Belege vermuten, mit der
Fritz Schalk seine kritische Besprechung meines Aufsatzes ausgestattet
hat (RF 69 (1957), S. 210-213). Die seinerzeit redigierte Antwort auf
diese Kritik mag heute und hier gesänftigt erfolgen.
Daß mein Rezensent auf vier für das Thema nützliche Werke der
Sekundärliteratur hinweist, die mir entgangen waren, ist nur rechtens.
156 Sébastien Mercier, Néologie (1801), zit. n. François, a. a. O., S. 323. Vgl. auch
die folgenden (bei François angeführten) Stellen: »Le caractère de Mlle Gaucher
étoit naïvement exprimé dans toute sa personne. Il y avoit dans sa beauté
je ne sais quoi de romantique et de fabuleux qu'on n'avoit vu jusque là qu'en
idée.« (Marmontel, Mémoires, 1804, I, S. 343.) — »Mme Molé a été (dans
le >Philosophe sans le savoir<) une Victorine assez gentille, mais sans tendresse,
sans ce je ne sais quoi, que je ne sais comment exprimer, et que j'ai envie
d'appeler Romantique.« (Ch. de Rémusat, lettre à. sa mère, 27 juillet 1818).
280
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
157 Nicht gezählt sind dabei die Belege für Begriffe, die sich mit »je ne sais quoi«
berühren, ebenso wenig die Belege für spanisch »no sé qué«. Meinen Aufsatz:
Der Padre Feij6o und das »no sé qué« erwähnt Schalk nur beiläufig, obwohl
dieser in Rjb Band VII erschien, den er a. a. O. zusammen mit RJb VI bespricht.
281.
FRANZÖSISCHE LITERATUR
158 M. E. Graf zu Solms in seiner Einleitung zu: Max Weber, Aus den Schriften zur
Religionssoziologie, Frankfurt a. M. 1948, S. 13.
282
»JE NE SAIS QUOI« — ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
159 Der Renaissancegedanke vom »Staat als Kunstwerk«, dem J. Burckhardt den
ersten Hauptabschnitt seiner Kultur der Renaissance gewidmet hat, widerlegt die
von Schalk gerügte Meinung nicht nur nicht, sondern stützt sie. Je mehr eine
wirkliche, immanente Sinngebung der Gesellschaft erschwert war — und die
zahllosen Traktate und Reflexionen über Fortuna und Fatum sind ein un-
verkennbarer Ausdruck dieser Verhältnisse — desto verführerischer mußte eine
Lösung durch den perfekten Staat erscheinen. Dies war das fundamentale
Problem Machiavellis (vgl. das große Machiavelli-Kapitel bei E. Cassirer, Vom
Mythus des Staates, Zürich 1949, S. 153 ff., bes. S. 205 ff.).
283
FRANZÖSISCHE LITERATUR
Auch meine Auffassung, daß das »je ne sais quoi« im 16. Jahrhundert
als eine »fatale Mitgift der Sterne für das isolierte Individuum« ver-
standen worden sei, erscheint meinem Kritiker anstößig. Sein Zitat
übergeht zunächst großzügig den Umstand, daß »fatal« an der ange-
zogenen Stelle bei mir (S. 57, hier S. 278) in Anführungszeichen steht,
wozu ich meine Gründe hatte. Schalk fährt fort: »Aber welche Rolle
spielt das Individuum in der politischen und Staatstheorie von Guillaume
Postel, Francisco de Vitoria, Bodin, Charron usw.? Diese Frage wird gar
nicht gestellt.« Schalk hat jede Andeutung einer Beantwortung dieser
Frage unterlassen, und ich habe mich vergebens bemüht zu verstehen,
inwiefern die Rolle, die das Individuum in den Staatstheorien der Zeit
spielt, meine Auffassung von der Rolle des »je ne sais quoi« korrigieren
sollte. Daß die denkenden Menschen der Renaissance von dem Ge-
danken an die Macht von Fortuna und Fatum beunruhigt waren, steht
vielerorts zu lesen. Ist die von mir (S. 24, hier S. 234) ausgesprochene,
von Schalk freilich ignorierte Überlegung, daß »der Verzicht auf eine
Sinndeutung des politisch-gesellschaftlichen Ganzen . . . eine harmoni-
stisch-versöhnende Theorie nur noch vom Standpunkt des in sich ab-
gerundeten Individuums zuläßt« und der platonisierende Humanismus
eine andere, optimistischere Konsequenz ziehen als die Reformatoren
der Zeit, so unverträglich mit dem, was eigentlich alle Welt über den
Individualismus der Renaissance weiß? Und weshalb stellt Schalk meine
Deutung des »je ne sais quoi« als »fatale« Mitgift der Sterne in Frage,
wenn doch die von mir (S. 23 ff., hier S. 233 ff.) gebrauchten Belege —
Castiglione, Du Bellay, Ronsard, Montaigne, und sogar noch Bouhours —
genau dieser Deutung entsprechen?
Für »denkbar unglücklich« hält Schalk den Ausdruck: die »klein-
höfische Welt Castigliones», und zwar deswegen, weil der Verfasser
des Corte giano »aus Urbino ins Weite — Ideale — gedacht hat«. Weder
habe ich Letzteres angezweifelt, noch kann mein Kritiker bestreiten,
daß der Hof von Urbino ein kleiner, vergleichsweise sogar sehr kleiner
Hof war. Aber nicht darum geht es im Grunde, sondern um die nach-
weisbare und auch bereits nachgewiesene Tatsache 160, daß die italieni-
schen Tyrannendynastien sich die fehlende Legitimität durch Kultur
und Luxus zu verschaffen suchten (was persönliche Interessen, Neigun-
160 Vgl. A. von Martin, Soziologie der Renaissance, Frankfurt a. M. 1948, und Geist
und Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1948, bes. S. 98.
234
»JE NE SAIS QUOI« - ZUR BEGRIFFSGESCHICHTE DES UNBEGREIFLICHEN
161 Die Kultur der Renaissance in Italien, 9. Aufl., hrsg. v. L. Geiger, Leipzig 1904, I,
S. 145.
255
FRANZÖSISCHE LITERATUR
1 F. Wolf, über die neuesten Leistungen der Franzosen für die Herausgabe ihrer
National-Heldengedichte, Wien 1833. Ders., über die beiden wiederaufgefundenen
niederländischen Volksbücher von der Königin Sibille und von Huon de Bor-
deaux, Wien 1857 (--= Denkschriften der Kaiserlichen Akademie der Wissen-
schaften, phil.-hist. Klasse, Bd. 8). Wolf kannte freilich nur die Historia de la
reyna Sebilla, eine im 16. Jahrhundert mehrfach gedruckte Bearbeitung unseres
Cuento.
2 Zahlreiche Darstellungen der Geschichte der spanischen Literatur ignorieren den
Carlos .Maynes überhaupt. M. Menéndez y Pelayo widmete ihm knapp vier-
zehn Zeilen seiner Orígenes de la Novela, (Madrid 2 1925; Bd. I, S. CXXIX f.),
und schränkt sein mäßiges, sich auf den Edelmut einiger Personen beziehendes
Lob durch den Hinweis auf die Zugehörigkeit zur romanesken Dekadenz der Epik
ein. Ganz abfällig ist das Urteil von P. Bohigas Balaguer in der Historia
general de las literaturas hispánicas (Barcelona 1949; Bd. I, S. 522): »En esta obra
se acumulan todos los lugares comunes de la epopeya decadente. Sus aventuras
destinadas a un público de gusto fácil y amante de lo truculento, reducen la figura
de Carlomagno al marido infeliz que se necesitaba para esta obra absurda.«
287
SPANISCHE LITERATUR
Der Inhalt des nur in einer einzigen Handschrift (h-j-13 der Biblioteca
del Escorial) überlieferten Textes, der immerhin zweimal veröffentlicht
wurde 3 , ist knapp zusammengefaßt folgender:
288
RITTERLICHE WELT UND »VILLANO«
4 Die von mir eingeklammerten Ereignisse sind aus dem Folgenden zu ergänzen.
Die Handschrift weist an dieser Stelle eine Lücke auf (s. Ausg. Bonilla y San
Martin, S. 521 f.). Die fehlenden Kapitel ergänzt R. Köhler in: Jahrbuch für
romanische und englische Literatur XII (1871) S. 300 ff. nach der Historia de la
reyna Sebilla in der Ausgabe Burgos 1553. Vgl. auch das Résumé bei G. Paris,
Histoire poétique de Charlemagne, Paris 1905, S. 390 ff.
289
SPANISCHE LITERATUR
5 Das Thema des treuen Hundes, der seinen ermordeten Herrn im gerichtlichen
Zweikampf mit dem Mörder rächt, ist für unsere Fragestellung ohne Bedeutung.
über seine »Fortuna« Jahrhunderte hindurch schon ausführlich M. F. Guessard
in der Einleitung zu seiner Ausgabe des Macaire, Paris 1866, S. LXXXIII ff.
6 Zit. nach P. Aebischer, Fragments de la Chanson de la Reine Sebile et du
Roman de Florence de Rome conservés aux Archives Cantonales de Sion, StM,
N. S. XIV (1943 1950) S. 135.
-
7 A. Scheler, Fragments uniques d'un roman du XIII« siècle sur la reine Sebile,
restitués, complétés et annotés d'après le manuscrit original récemment acquis par
la Bibliothèque de Bruxelles. In: Bulletin de l'Académie royale des sciences, des
lettres et des beaux-arts de Belgique, 44e année, 2 e série, t. XXXIX, Bruxelles 1875,
S. 404 ff. Mit dem Carlos Maynes verglichen von R. Köhler, Zu der altspanischen
Erzählung von Karl dem Großen und seiner Gemahlin Sibille. In: Jahrbuch für
romanische und englische Literatur XII (1871) S. 286 ff. — A. T. Baker, M.
Roques, Nouveaux fragments de la chanson de la reine Sibille, R 44 (1915—
1917), S. 1 ff. Vergleich mit Carlos Maynes ebda. — P. Aebischer, a. a. O. —
M. Roques formuliert das Ergebnis: »La version espagnole est une traduction
de cette version française en alexandrins dont nos fragments représentent une
copie légèrement fautive« (a. a. 0., S. 12).
290
RITTERLICHE WELT UND »VILLANO«
ont brodé comme ils ont voulu, suivant leur concept personnel de la
beauté littéraire« 9 .
Die wichtigsten Handlungsdivergenzen zwischen dem Macaire und
der Reine Sebile in Alexandrinern sind von Mussafia und Gautier her-
ausgestellt worden 9 ; sie sind indessen im Hinblick auf die Figur Varo-
chers (des Barroquer des Carlos Maynes) zu ergänzen: Im Macaire hat
die Königin (hier Blancheflor genannt) zuerst die dreisten Liebesanträge
des Verräters abzuweisen; der Zwerg ist nur Instrument von Macaires
Rache. Der König von Ungarn selbst sorgt für eine rasche Weiterreise
nach Konstantinopel; Ludwig erscheint also hier nur im Kindesalter.
Die Gestalt des Eremiten, des Onkels der Königin, fehlt, desgleichen
die des listenreichen Räubers Griomoart. Im Macaire verabschiedet sich
Varocher von seiner Frau, bevor er mit der Königin zieht, und kehrt
erst ganz zum Schluß zu ihr zurück. Den Ritterschlag erhält er bereits
unmittelbar nach der Entführung von Karls des Großen Pferden. Der
neue Ritter wird sogleich für einen entscheidenden Zweikampf mit Ogier
von Dänemark auserwählt, den Ogier abbricht und sich für besiegt
erklärt, nachdem er von Varocher über das Schicksal der Königin Auf-
klärung erhalten hat. Die Versöhnung findet ohne Vermittlung des
Papstes statt. Von einer Belohnung der hilfreichen Familie des ungari-
schen Bürgers (der hier den Namen Primerain trägt) ist nicht die Rede.
Die Originalität und den besonderen Reiz des im übrigen als Dichtung
keineswegs überzeugenden Macaire bzw. von dessen vermuteter fran-
zösischer Zehnsilbervorlage sah Guessard mit Recht in Figur und Rolle
des »vilain« Varocher, »de ce brave bûcheron, si compatissant, si hon-
nête, si dévoué, qui dans l'accomplissement des devoirs que sa géné-
rosité s'impose, se révèle ä lui-même, se sent grandir, se juge de taille
à être chevalier, veut le devenir, et se montre digne de ceindre l'épée
et de chausser l'éperon d'or [. . .1. Dans la littérature des temps féodaux,
[cette figure] produit l'effet d'une découverte.« 1 ° Weder der berühmte
291.
SPANISCHE LITERATUR
Rainouart »au tinel«, noch der Robastre des Gauf rey, noch der Bauer
Gautier in Gaydon können mit Varocher verglichen werden, da sich
bei ihnen letztlich immer herausstellt, daß sie von vornehmer Geburt
sindli. Im höfischen Roman spielt der »vilain« stets nur eine episodische
Rolle: er weist dem suchenden Ritter auf dessen Frage den Weg, der
freilich auch der Weg zu einer bedeutsamen Aventure sein kann 12 . Die
spanischen Bearbeitungen der höfischen Literatur Frankreichs, in die
Zeit der relativ stärksten Feudalisierung Spaniens fallend, folgen hierin
ihren Vorbildern°. Für den Verfasser des Baladro del sabio Merlin
ist es eine selbstverständliche, indessen der Betonung bedürfende Tat-
11 Diese von Guessard 1866 getroffene Feststellung wird durch die Untersuchung von
A. Hünerhoff, über die komischen »vilain«-Figuren der altfranzösischen Chan-
sons de geste, phil. Diss. Marburg 1894, bestätigt. Vgl. dort S. 19: »Varodier
ist schließlich die einzige Figur, die auch durch Geburt vollständig den vilains
angehört.«
12 Häufiges Wesensmerkmal des »vilain« ist, neben seiner abstoßenden Häßlichkeit
und ungeschlachten Körperstärke, sein völliges Unverständnis für die Welt des
Rittertums, Zeugnisse einer gleichsam außermenschlichen Natur, die ihn zuweilen
in die Nähe der Zwerge und der Riesen rückt (vgl. das Kapitel The giant herds-
man bei R. S. Loomis, Arthurian tradition and Chrétien de Troyes, New York:
Columbia University Press 2 1952, S. 285 ff.). Als ein Wesen, das einmal wie ein
Tier, einmal wie ein Gott erscheint, wirkt noch in Guevaras Libro aureo de Marco
Aurelio der »villano del Danubio« auf die römischen Senatoren: »Fue cosa de ver
su persona, y monstruosa de oyr su platica. Por cierto, quando le vi entrar ene!
Senado, pense que era algun animal en figura de hombre, y de que le oy, le juzgue
ser uno delos dioses, si dioses ay entre hombres.« (Ed. R. Foulché-Delbosc in
RH 76 [1929] S. 119).
Das Staunen des Ritters bei der Begegnung mit der verachteten und unverstan-
denen, ja unheimlichen Welt des »vilain« hat seinen hintergründigsten Ausdruck
bereits bei Chrétien de Troyes (Yvain v. 288 ff.) gefunden. Die Yvain-Stelle wurde
nachgeahmt — und verwässert — durch den Autor des Roman de Claris et Laris
(Ed. J. Alton, Tübingen 1884, v. 9424 ff.; vgl. dazu M. Klose, Der Roman von
Claris und Laris in seinen Beziehungen zur altfranzösischen Artusepik des XII.
und XIII. Jahrhunderts, Beih. 63 zur ZRPh., Tübingen 1916, S. 168 f.). An Chré-
tiens effektvoller Kontrastierung des aventuresuchenden Ritters und des »vilain«,
der den Sinn seines Lebens in seinen Alltagsverrichtungen beschlossen sieht, hat
sich auch der Dichter von Aucassin et Nicolette orientiert, die Begegnung jedoch in
einer Szene voll ambivalenter Ironie abgewandelt. Im Zusammentreffen seines
bitterlich um Nicolette weinenden Helden mit einem den Verlust eines Ochsen.
beklagenden Viehhirten stellt er parodistisch die fragwürdig gewordene Lebens-
werte des Rittertums und die unproblematische Welt der bäuerlichen Alltags-
bedürfnisse einander gegenüber. Aucassin beugt sich der Macht des primitiven
Lebensernstes, als hätte der Vertreter des Rittertums ein schlechtes Gewissen. —
Eine Sonderstellung nimmt auch die Begegnung Ritter — »vilain« im Roman de
Durmart le Gallois ein insofern, als der dort von dem Protagonisten nach dem
Weg befragte »vilain« einen ausgeprägten Sinn für ritterliche Schönheitsbegriffe
unter Beweis stellt (Ed. E. Stengel, Tübingen 1873, v. 1074 ff.).
13 Vgl. El baladro del sabio Merlin, Kap. CCCXXI, Ed. A. Bonilla y San Martin,
in: Libros de caballería I, S. 138; vgl. noch: Tirant lo Blanch, Cap. CDX, Ed. M. de
Riquer, Barcelona 1947, S. 1074 f.
292
RITTERLICHE WELT UND »VILLANO«
sache, daß ein ausgezeichneter Ritter nicht von einem »villano« abstam-
men kann".
Daß in einer Chanson de geste des 12. Jahrhunderts ein »vilain« —
»vilain« von Vater und Mutter her — zum ständigen Begleiter und Be-
schützer hochadeliger Personen werden konnte, ist ein Phänomen, das
der Erklärung bedarf 15 • Kein älteres Epos kennt eine solche tragende
Rolle eines Angehörigen des dritten Standes °. Sowohl die französische
Vorlage des Macaire wie die Alexandrinerfassung gehören zweifellos
einer Epoche an, die etwa mit der Regierungszeit Philipps II. August
zusammenfällt, und in welcher im Verlauf der energischen Zentralisie-
rungspolitik des Königtums die angestauten Widersprüche der Feudal-
gesellschaft aufbrechen. Während die Empörergesten die im Rolandslied
exemplarisch dargestellte Harmonie zwischen loyaler Feudalität und
ebenso loyalem Königtum als eine nunmehr durch unaufhörliche Rechts-
brüche des Königs verratene ideale Ordnung hinstellen, und während
der höfische Roman diese Idealität im zeit- und ortlosen Artusreich
ansiedelt, dessen strenge Einhaltung des Gewohnheitsrechtes alle An-
sprüche seiner Vasallen garantiert, wird für einen historischen Augen-
blick ein gleichsam demokratischer Aspekt sichtbar, der über die Einsicht
in die politische Verwendbarkeit des »vilain« auch zur Entdeckung von
dessen Menschenwürde führt.
14 Merlin zu dem »villano« Dares el Barquito, der sich für den Vater des tapferen
Ritters Tor hält: »Mucho soys loco que piensas que es tu hijo; cierto no lo es,
ca si el fuesse tu hijo, no hallaria la fidalguia mas que a sus hermanos lo hallaron,
e ante seria derecho villano como su natura ge lo daria [. . .]« (El baladro del sabio
Merlin, a. a. 0., S. 125).
15 Am Rande sei bemerkt, daß es sich hierbei nicht um eine Durchbrechung der
Grenzen des Gattungsstils handelt. Der epische Stil der im Gegensatz zum
höfischen Roman sich an ein soziologisch ungeschiedenes Publikum wendenden
Chanson de geste schloß die Möglichkeit des Komisch-Niederen von Anfang an
ein. Varochers Verhalten im Macaire unterscheidet sich nicht wesentlich von
demjenigen Rainourds in Aliscans.
16 Das gilt für alle echten »vilains«, von denen die Chanson de la reine Sebile
Einzelzüge übernommen hat. Der Rigaut von Garin le Loherain wird zum Ritter
geschlagen, wie Varocher. Daß er sich ein Stück von seinem neuen Rittermantel
abschneidet, damit er schneller laufen kann (s. Hünerhoff, S. 11), erinnert an den
Barroquer des Carlos Maynes (»vn pie leuaua calçado e otro descalço, por yr mas
ligero«, a. a. 0., S. 508). Dieser Zug findet sich nicht im Macaire, gehört also wohl
erst der Alexandrinerfassung an. Der »vilain« Simon in Berte aus grans piés,
der die vertriebene Königin beherbergt, dürfte weniger als Vorbild für die Gestalt
Varochers aufzufassen sein (wie Hünerhoff, S. 38, meint) als für die Figur des
Joserant. Gleich Griomoart, den der Macaire noch nicht kennt, ist der Galopin.
des Ehe de Saint Gilles Mitglied einer Räuberbande, das vom Protagonisten ver-
schont wird und zu dessen treuem Diener wird.
293
SPANISCHE LITERATUR
17 Vgl. unseren Aufsatz: Ideal und Wirklichkeit in der höfischen Epik. Studien zur
Form der frühen Artus- und Graldichtung (Beih. 97 zur ZRPh.) Tübingen 1956,
S. 12 ff.
18 Zur literarischen Konstituierung der Ganelon-Sippe vgl. K. H. Bender, Das
Verhältnis von König und Vasall im Spiegel der Chansons de geste im 12. Jahr-
hundert, phil. Diss. Heidelberg 1961 (Masch.), S. 135 ff. und 232 ff.
19 Vgl. Jean Renart, L'Escoufle (Ed. H. Michelaut et P. Meyer, SAU, Paris 1894,
V. 1616 ff.) :
Que jamais a vo cort ne viegne
Nus sers por estre vos baillius,
Car haus hom est honis et vix
Qui de soi fait vilain mestre.
Vilain! et comment porroit estre
Que vilain fust gentix ne frans?
und Guillaume de Dôle (Ed. G. Servois, SATF, Paris 1893, v. 584 f.) :
Que ja por nule segnorie
Nuls vilains n'iert se vilains non.
20 Es ist in diesem Zusammenhang wohl nicht unwichtig, festzuhalten, daß im
Macaire und folglich auch in der ältesten Version das Vorgehen Macaires gegen
die Königin noch wesentlich durch die Abweisung seiner Liebeswerbung um die
294
RITTERLICHE WELT UND »VILLANO«
Königin motiviert wird, dieser Zug jedoch im Cuento — und somit auch in der
altfranzösischen Alexandriner-Version — nur sekundäre Bedeutung hat. Die
»romaneske« individuelle Begründung ist der — im Haß der Sippe gegen das
Königtum greifbaren — politischen Begründung gewichen.
21 Für unsere Fragestellung gilt in vollem Umfange die von K. H. Bender, a. a. 0.,
S. 199 getroffene Feststellung, »daß der Ausgang der feudalen Fehden in den Epen
nie der gleichzeitigen Konstellation König — Vasallen direkt entgegengesetzt ist;
das Kräfteverhältnis der epischen Kontrahenten entspricht der jeweiligen histo-
rischen Machtlage, und die aktuellen Konfliktsobjekte nehmen einen immer
größeren Raum ein.«
22 Vgl. J. Vicens Vives, Historia social y económica de España y América, Barce-
lona 1957, II, S. 235, über die Stellung des »villano« im Spätmittelalter: »Pese a su
mísera condición y al orgullo propio de la época, no parece haber sido objeto el
campesinado castellano del desprecio que en otros países merecieron las pobla-
ciones rústicas j. . .] El rústico es a veces rudo, agreste e ignorante, como las
serranas del Arcipreste de Hita, o sencillo y lleno de buen sentido como Mingo
Revulgo, pero es siempre un ser humano esencialmente igual que el noble, el
clérigo o el burgués que con él dialogan.«
23 Sánchez Albornoz, España, un enigma histórico, II, Buenos Aires 1956, S. 1 ff.,
bes. S. 36, 46 ff., 61; unser Zitat S. 55.
295
SPANISCHE LITERATUR
Aufstieg in den Adel offen 24 . Erst nach der Beendigung des permanenten
Krieges gegen die Mauren, mit der Schwächung des Königtums infolge
blutiger Familienzwiste und dem Erstarken eines unbotmäßigen Hoch-
adels trat eine Erstarrung der Gesellschaftsstruktur im Sinne des Feuda-
lismus ein. Die Standesgrenzen schlossen sich 25 .
Mitten in diesen Prozeß, in die zweite Hälfte des 14. Jahrhunderts,
fällt die spanische Übersetzung der Geschichte von dem Kaiser Karl,
welcher der Verrätersippe sein Ohr leiht, der selbst ihren Ränken zum
Opfer fallen würde, dessen loyale Vasallen machtlos wären, würde nicht
ein treuer, opferbereiter »villano« die Königin und den Thronfolger
retten. Barroquer, ein »villano«, der mit aller furchterregenden Häßlich-
keit seiner literarischen Vorbilder ausgestattet ist und dessen edle Ge-
fühle gerade durch den Kontrast zu seinem Aussehen ins hellste Licht
gerückt werden, überläßt spontan Frau und Kinder, die er doch innig
liebt, der sicheren Armut, um die verstoßene Königin zu schützen und
ihr zu ihrem Recht zu verhelfen. Der König, der seine Gemahlin verstieß,
ist für ihn »villano«, seine Tat »follonia« (S. 508). Seines Wertes und
seiner Aufgabe bewußt, nimmt Barroquer Staunen und Verachtung der
Leute ungerührt hin. Schweigend erträgt er die Demütigung — »non
dezia nada, synon baxaua la cabeça et dexaua a cada uno dezir su
villania« (S. 509). Seine rührende Anhänglichkeit an Sevilla und Loys
hat ihre Ergänzung in einem unerbittlichen Haß gegen die verräterische
Ganelon-Sippe. Die Liebe zum Königsgeschlecht ist in seinem natur-
haften Empfinden identisch mit dem unverbildeten Gefühl für das Recht.
Reichtum und Erhebung in den Ritterstand nimmt er als gebührenden
Dank für seine Dienste entgegen, ohne die Überheblichkeit, die noch
dem Varodier des Macaire eigen war. Dem freien »villano«, der nie-
24 »El villano que logra adquirir un buen caballo y se aventura a pelear, como jinete,
contra el moro, adquiere exenciones jurídico-políticas que acaban equiparándole
a los nobles de sangre. Y puede, como el hidalgo, mejorar de fortuna y trocar la
estrechez por la abundancia, si se aventura a habitar en las fronteras y a correr
los riesgos de la lucha continua contra los sarracenos. El solariego que abandona
su pegujar tranquilo de allende el Duero, o de allende los montes, y avanza a
colonizar en las ciudades fortalezas de la raya fronteriza del reino, puede esperar
convertirse en villano-caballero y abrir a sus hijos y a sus nietos los portones de
la riqueza y aun de la hidalguía« (a. a. 0., S. 46). Vgl. auch J. Vicens Vives, a. a. O.
I, S. 314 ff., und L. Garcia de Valdeavellano, Historia de España, I, Madrid
1952, S. 545 ff. - Für Hinweise auf die Darstellung der Rolle der »caballeros
villanos« durch spanische Historiker sind wir Herrn Dr. Berthold Beinert (Heidel-
berg) zu Dank verpflichtet.
25 Vgl. Sánchez Albornoz, a. a. 0., S. 102 f.
296
RITTERLICHE WELT UND »VILLANO«
mandes Arbeitssklave ist, der sich freiwillig dieser Freiheit begibt, wer-
den eine Dankbarkeit und eine Zuneigung zuteil, die auf Seiten der
Königsfamilie jedes Moment der Zweckhaftigkeit, und auf Seiten des
»villano« jedes Moment des sozialen Aufstiegswillens auf einer Ebene
menschlicher Gleichheit und sittlichen Adels aufheben. Die Dialektik im
Verhältnis von Herr und Knecht scheint still zu stehen in einer roma-
nesken Identität des Fühlens und Denkens, in einer idealen Harmonie,
zu der das Bewußtsein der gegenseitigen Angewiesenheit in einer be-
stimmten historischen Konstellation literarisch durchgedrungen ist. Das
Thema des »villano«, der nach einem im Walde verbrachten Leben in das
Schicksal des Reiches eingreift, um entscheidend an der Wiederherstel-
lung des Rechts und an der Sicherung des Königtums mitzuwirken,
dieses Thema, in Frankreich gegen 1200 möglich geworden, konnte im
Spanien des ausgehenden 14. Jahrhunderts eine besondere Resonanz
finden. Die mörderische Besessenheit Pedros des Grausamen hatte das
Volk nicht gehindert, in ihm den Verbündeten gegen eine die über-
lieferten Freiheiten bedrohende Feudalität zu sehen. Die gleiche Einsicht
in die Gefahr der völligen Ausschaltung des dritten Standes durch den
ökonomischen und politischen Machtzuwachs einer den König zum In-
strument erniedrigenden Hocharistokratie scheint uns hinter dem Um-
stand zu stehen, daß ein spanischer Autor zu dieser Zeit die französische
Chanson von der Königin Sibille und dem »vilain« Varocher in spanische
Prosa übertrug.
Man könnte, da es sich um eine ziemlich getreue Übersetzung der
Vorlage handelt, fragen, ob die Wahl gerade dieses Stoffes nicht ein
Zufall war — und als solcher wäre auch ein rein persönliches Gefallen
des Übersetzers zu werten —, der jede konkrete zeitgeschichtliche Be-
ziehung gegenstandslos macht. Daß dem nicht so ist, wird bei einer
Überprüfung der Abweichungen der spanischen Prosa von der Ale-
xandriner-Chanson deutlich. Ein Vergleich ist freilich nur auf Umwegen
möglich.
Hat der spanische Bearbeiter Änderungen oder Erweiterungen vorge-
nommen, die auf besonderes, von der geschichtlichen Situation Spaniens
bedingtes Interesse schließen lassen und unsere obigen Überlegungen
rechtfertigen? Die erhaltenen Fragmente der französischen Vorlage sind
für unsere Fragestellung unergiebig. Vergleichen wir indessen das nieder-
ländische Volksbuch von der Königin Sibylle und die Historie de la Reine
Sebile aus dem 15. Jahrhundert, die beide auf die Alexandriner-Chanson
297
SPANISCHE LITERATUR
zurückgehen 26 , mit dem Cuento, so ergibt sich, daß gerade Züge, die den
»villano« betreffen, im letzteren Werk verstärkt oder erweitert worden sind.
Das von Wolf (a. a. 0., S. 192) vollständig abgedruckte Schlußkapitel
des niederländischen Volksbuchs berichtet in sehr knapper Form von der
Bestrafung der Verräter und dem Friedensschluß zwischen Franzosen
und Griechen. Es ist dabei weder von Barroquer, noch von Griomoart,
noch von Joserant die Rede. Die Histoire de la Reine Sebile erzählt in
ihrem Schlußkapitel von den Versöhnungsfeierlichkeiten und — in sehr
summarischer Weise — wie die Familie Joserants aus Ungarn herbei-
geholt und ebenso wie Barroquer und die Seinen reich beschenkt und am
Hof behalten werden. Griomoart findet keine Erwähnung 27 . Wir dürfen
hieraus schließen, daß die französische Alexandriner-Fassung der Beloh-
nung Barroquers und Joserants weder an Umfang noch an Nachdruck
eine Bedeutung einräumte, die derjenigen der Schlußkapitel des Cuento
vergleichbar wäre. Dort tritt der Thronfolger Loys am Tage seiner Hoch-
zeit mit Barroquer vor Kaiser Karl, der den »villano« zu seinem Ober-
hofmarschall ernennt und ihn erblich mit einem Schloß belehnt. Kaiser
Richart schlägt Barroquer zum Ritter und setzt ihm eine hohe Rente aus.
Die Familie Barroquers wird mit hohen Ehren empfangen. Griomoart
wird von Loys zum obersten Mundschenk ernannt und gut verheiratet.
Joserant, der mit seiner Familie aus Ungarn herbeigeholt wird, erhält
zwei einträgliche Hofämter und eine Rente, seine Töchter werden vor-
nehm verheiratet. So schließt der Cuento de Carlos Maynes mit einer
eingehend geschilderten Belohnungs- und Beförderungsprozedur, welche
die soziale Aufwertung des dritten Standes programmatisch gleich an
drei Repräsentanten demonstriert: dem Holzfäller, dem einstigen Dieb,
dem Bürger. Die Absicht, die den spanischen Autor bei diesen Zusätzen
zu seiner Vorlage leitete, ist schwerlich zu verkennen.
26 Für die Histoire vgl. M. Roques, a. a. 0., 5. 13. — Das zu Beginn des 16. Jahr-
hunderts in Antwerpen von Vorstermann gedruckte niederländische Volksbuch
geht, wie F. Wolfs (Über die beiden wiederaufgefundenen niederländischen Volks-
bücher, S. 187 ff.) Vergleich mit dem Brüsseler Fragment zeigt, unmittelbar auf
die Alexandriner-Version zurück. R. Köhlers Annahme, das niederländische
Volksbuch sei »nur eine — allerdings stark verkürzte — Übersetzung des spani-
schen Volksbuchs« (d. h. der Fassung des 16. Jahrhunderts) (a. a. 0., 5. 288), ist
irrig. Wie Wolfs Gegenüberstellungen erkennen lassen, enthält die nieder-
ländische Fassung vieles, was in der Historia de la reyna Sebilla fehlt, wohl aber
im Cuento enthalten ist und somit auf die französische Alexandriner-Version als
gemeinsame Quelle weist.
27 Dieses Kapitel ist vollständig abgedruckt bei Gautier, a. a. 0., S. 701.
295
RITTERLICHE WELT UND »VILLANO«
299
SPANISCHE LITERATUR
31 Vgl. R. Köhler, a. a. 0., S. 287. Genaue Inhaltsangabe bei F. Wolf, über die
—
300
RITTERLICHE WELT UND »VILLANO«
hältnis zwischen Sancho und seinem Esel ist im Cuento vorgebildet (vgl. die Szene,
in welcher der Esel als einziger den verkleidet Heimkehrenden erkennt). Sancho
freilich kehrt nach seiner Tätigkeit als Gobernador zu seinem »villano«-Status
zurück, und diese Rückkehr erhält ihren dichtesten Ausdruck in der reuevollen
Rede, die er an sein geliebtes Tier richtet (II, 53). Für Barroquer dagegen bedeutet
der Aufstieg in den Adel die definitive Trennung von dem Tier, das sein
»villano«-Leben charakterisiert.
15. Wandlungen Arkadiens:
die Marcela-Episode des »Don Qujote« (1, 11-14)
1 Cervantes, Don Quijote, ed. F. Rodríguez Marin (=-- Clásicos Castellanos), Bd. I,
S. 165.
302
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
303
SPANISCHE LITERATUR
zwingen lassen will und die Liebe des Grisóstomo zu ihr unheilbar ist,
muß die arkadische Liebe diesmal zu einem tragischen Ende führen.
Cervantes, dessen Freiheitsbegriff neuerdings durch Luis Rosales eine
monumentale Darstellung erfahren hat7, nahm das Grundthema buko-
lischer Dichtung, die arkadische Freiheit, ernster als alle anderen Dichter
zuvor. Die Freiheit des Willens, die in einem idealen Arkadien, wo Wille
und Affekt zusammenfallen, durch kein Hindernis auf die Dauer ge-
fährdet werden kann, war in der Diana zu einem Problem der Hirten-
welt selbst geworden. Montemayor hat es am Zustand seines »Helden«
Sireno gleich zu Beginn der Diana thematisiert: »En el campo se crió, en
el campo apacentava su ganado y assí no salían del campo sus pensa-
mientos hasta que el crudo amor tomó aquella possessión de su
libertad, que él suele tomar de los que más libros se imaginan.« 8
Sirenos Leben bliebe hoffnungslos verdüstert ohne Felicias Eingreifen.
Allein der Zaubertrank vermag ihm die verlorene Freiheit wiederzugeben.
Wie eine Äußerung Herreras unter vielen anderen bezeugt, war Arka-
dien für die zeitgenössischen Leser das, was es vor allem seit Sannazaro
darstellt: ein Wunschland der Poesie, in dem Leben und Liebe identisch
sind, mit gedämpften Leidenschaften, ohne tragische Ereignisse, mit den
Sitten des Goldenen Zeitalters 9. Montemayor glaubte daher, die Kon.-
sequenz aus seinem Problem, dem Widerspruch zwischen schicksalbe-
stimmender willkürlicher Allmacht der Liebe und apriorischem Endglück,
nicht in aller Schärfe ziehen zu dürfen. Felicias Zaubertrank entschärft
den Konflikt. Ein Arkadien mit Tragik wäre ein Selbstwiderspruch. Nur
der Umstand, daß Sirenos Liebe sich in kalte Indifferenz, die Indifferenz
Dianas sich in neu erwachende Liebe verwandelt und beide somit als
einzige leer ausgehen, verrät, daß Montemayor sich der inneren Logik
des selbstgestellten Problems nicht völlig entziehen konnte".
S. 37). Wir dürfen gleichwohl annehmen, daß ihm in den verschiedenen Stadien
seiner Entwicklung auch im Hinblick auf die Hirtendichtung einzelne Aspekte
besonders wichtig erschienen.
7 Luis Rosales, Cervantes y la libertad, Madrid 1960.
8 Diana, a. a. 0., S. 10. — Auch für die Marcela Cervantes' ist die Freiheit definiert
durch die Beschränkung des Gedankenflugs auf den Umkreis der Felder und
Berge, dem einzigen Refugium ihrer Autonomie. (Don Quijote I, S. 324.)
9 »[. . .] amores, [. . .] pero simples i sin daño, no funestos, con rabia de celos, no
manchados con adulterios; competencia de rivales, pero sin muerte i sangre;
[. . .] Las costumbres representan el siglo dorado [. . .]« (Anotaciones de Herrera a
Garcilaso, zit. nach López Estrada, a. a. 0., S. IV).
10 Die in der Literatur über die Diana häufig gegebene, zuletzt besonders von Mia I.
304
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
Für Cervantes war dies nicht genug. Sein Austrag des Problems in der
Marcela-Episode wird radikal sein. Aber bereits die unmittelbaren Fort-
setzer der Diana, Alonso Pérez und Gaspar Gil Polo, konnten sich bei
der künstlich harmonisierenden Lösung nicht beruhigen, gerade weil sie
Montemayors vermeintlich oder tatsächlich unvollendetem Werk einen
Abschluß geben zu müssen glaubten. Beide führen Sireno und Diana
wieder zusammen, nachdem sie deren lästigen Gatten Delio rechtzeitig
haben sterben lassen. Wenn dies zunächst so aussieht, als ob die beiden
Fortsetzer nur die harmonische Lösung Montemayors zu Ende führen
wollten, so lehrt die nähere Betrachtung, daß beide Autoren die Rettung
der arkadischen Liebe auf sehr verschiedenen Wegen versuchen". Dem
Neuplatonismus Montemayors stellt Alonso Pérez eine ausgesprochen
naturalistisch-sensualistisde Liebesauffassung entgegen, die es seinen
Hirten erlaubt, nach eigenem Ermessen den Gegenstand der Liebe zu
wechseln, schlicht zu vergessen oder ihre Sehnsüchte rationell auf zwei
Personen zu verteilen — im Prinzip also das gleiche Verfahren einer
Gefühlsökonomie, das Tirsi und Dafne in Tassos Aminta propagieren.
werden. Die in Montemayors Diana von leiser Traurigkeit und Resig-
nation durchzogene Welt Arkadiens wird bei Alonso Pérez wieder
heiter 12 .
Gil Polo hat sich in seiner im gleichen Jahr (1564) erschienenen Diana
enamorada die Rettung arkadischer Liebe und Freiheit weniger leicht
gemacht als Alonso Pérez. Wie Montemayor — und mit dem Nachdruck
des Autors, der sich der Tragweite seiner Korrektur klar ist — stellt er
das Problem gleich zu Beginn seines Werkes. Er verwickelt die die un-
entrinnbare Allmacht beklagende und verherrlichende »malmaridada«
Diana in eine Diskussion mit einer neu eingeführten Hirtin, Alcida, die
wortreich ihre aus eigener Erfahrung bezogene Überzeugung vertritt, daß
305
SPANISCHE LITERATUR
13 Gil Polo, Diana enamorada, ed. R. Ferreres ( =-- Clásicos castellanos), S. 20.
14 A. a. 0., S. 26.
15 A. a. 0., S. 24; vgl. auch Alcidas Sonett (S. 25) :
No tiene Amor cadenas, ni saetas,
para prender y herir libres y sanos
que en él no hay más poder del que le damos.
16 »No hagas tan gran honra a quien tan poco la meresce, nombrando poderoso
al que tan fácilmente queda vencido, especialmente de los que eligen el medio
que tengo dicho, porque en él consiste la virtud, o donde ella está quedan los
coraçones contra el Amor fuertes y constantes.« (A. a. 0., S. 22 f.).
17 Diana, S. 170: »Porque como el amor sea virtud y la virtud siempre haga
assiento en el mejor lugar, está claro que las personas de suerte serán muy
mejor enamorados que aquellas en quien ésta falta.« — »[. . .] no deve admirarte,
aunque el perfecto amor sea hijo de razón, que no se govierne por ella, porque
no ay cosa que después de nacida, menos corresponda al origen de abonde
nació.« (A. a. 0., S. 197.)
Fast wörtliche Übersetzung des Textes von Leone Ebreo wie die letztzitierte
Stelle (vgl. López Estradas Kommentar) ist auch Silvanos Beschreibung des
eigenen Zustandes: »[. . .] verdaderamente ninguna cosa ay en mí que se pueda
governar por razón, ni aún la podrá aver en quien tan ageno estuviere de su
libertad, como yo; porque todas las subjeciones corporales dexan libre a lo
menos la voluntad, mas la subjeción de amor es tal que la primera cosa que
haze, es tomaros possessión della.« (A. a. 0., S. 200 f.).
306
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
trank. Ihre jetzige Gunst bewirkt nur, was die verliebten Hirten —
Felicias Worten zufolge — aus eigener Entschlußkraft hätten tun können
und sollen: »Tuviera por mejor que vosotros hubiéssedes vivido con
tanta discreción que no tuviérades necessidad de mis favores.« 18 Den
möglichen Einwänden begegnet die Felicia Gil Polos mit Worten, welche
die Felicia Montemayors entschieden zurückgewiesen hätte: »Diránme
los amadores que no está en su mano dexar de ser vencidos de Cupido y
andar hechos sus esclavos. A mí me paresce que quien le sirve, se le
obliga y somete de propria voluntad, pues no hay ánimo que de su
libertad no sea seflor.« 1 9 Diese Worte decken sich inhaltlich mit den
oben zitierten Alcidas. Der menschliche Wille ist frei genug, sich für oder
gegen die Liebe zu entscheiden.
Cervantes brauchte an Gil Polos Roman keine Abstriche zu machen.
Sein Lob der Diana enamorada ist ohne Einschränkung. Während der
Cura die Diana-Fortsetzung des Alonso Pérez aus begreiflichen Gründen
dem Feuer übergibt, befiehlt er, das Werk Gil Polos aufzubewahren,
»como si fuera del mesmo Apolo«20.
Die Position Gil Polos entspricht nach Cervantes' Auffassung dem
Idealzustand des Goldenen Zeitalters, in dem nach Don Quijotes Worten
die Mädchen sich — wenn überhaupt — nur aus eigener Neigung und
freiem Willen hingaben21, und sie entspricht auch dem arkadischen Be-
reich, den Marcela sich in der geschichtlichen Wirklichkeit als Fluchtraum
für ihre bedrohte Freiheit schafft. »[. . .] el verdadero amor [. . .] ha
de ser voluntario y no forzoso.«22 Marcelas »honra« beruht, wie die
»virtud« von Gil Polos Alcida, auf der freiwilligen Haltung zwischen
den Extremen von Liebe und Haß: »Tengo libre condición, y no gusto
de sujetarme; ni quiero ni aborrezco á nadie.«23 Die Konsequenz freilich,
daß die Wahrung absoluter Willensfreiheit tragische Folgen haben kann
— und im arkadischen Bereich nunmehr sogar haben muß —, hat erst
Cervantes selbst gezogen, und zwar nicht erst im Don Quijote, sondern
bereits, wenn auch gleichsam am Rande, in seiner Galatea.
307
SPANISCHE LITERATUR
Im VI. Buch der Galatea wird die sich wie üblich mit Gesängen er-
götzende Hirtengesellschaft durch Schreckensrufe aufgescheucht: der Hirt
Galercio hat in den Fluten des Tajo den Tod gesucht. Der Grund war,
wie Galercios Schwester Maurisa Auskunft gibt, der »desdén« und die
»crueldad« der Schäferin Gelasia, die ihren Anbeter ein für allemal ab-
wies und seine Entfernung verlangte. Plötzlich erscheint die Schuldige
selbst auf einem Felsenvorsprung und singt zum Klang ihres »rabel«
ein Sonett zu ihrer Rechtfertigung, die in den Schlußversen gipfelt:
24 Cervantes, La Galatea, ed. R. Schevill y A. Bonilla, Madrid 1914, Bd. II, S. 267.
25 A. a. 0., S. 273.
26 über die Beziehung zwischen Gelasia und Marcela ist kein Zweifel möglich.
Selbst wenn Gelasias Sonett nicht mit der langen Rechtfertigungsrede Marcelas
übereinstimmte, wären die strukturellen Parallelen bereits eindeutig: wie Mar-
cela erscheint Gelasia der klagenden Hirtenschaft auf einem Felsen; Lenio
versucht ihr nachzueilen wie mehrere der verliebten Hirten Marcela. Galercio
und Lenio gemahnen an Grisóstomo und Ambrosio. Galercios Abschiedslied
entspricht der »Canción desesperada« Grisóstomos.
308
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
309
SPANISCHE LITERATUR
schien ihm die fiktive arkadische Welt berufen zu sein — mittels ihrer
Konfrontation mit der Wirklichkeit in Gestalt ihrer Einpflanzung in
diese Wirklichkeit.
Der Abstieg Spaniens von der erschreckenden Höhe seiner Macht,
dessen Stationen keinem Denkenden entgehen konnten, erfaßt die Lite-
ratur des Siglo de oro in ihrer ganzen Breite und Tiefe. Er spiegelt
sich auch im Wandel der Bukolik. Lope de Vega zieht in der Desengaño-
Allegorie seiner Arcadia die Folgerung, daß nur noch Wissenschaft und
Künste über den Verlust harmonistischer Lebenserwartung hinweg-
trösten können. Die Gestalten der Werke des Cervantes, in ruheloser
Wanderschaft begriffen und die symptomatische Bedeutung der literari-
schen »peregrino«-Figur in ihrer eigenen Weise unterstreichend34, stoßen
immer wieder auf Inseln der Ruhe und des Friedens, die Welt und Zeit
für Menschen aussparen, die mit sich selbst durch Verzicht auf allen
Ehrgeiz ins reine gekommen sind. Im Idyll vollzieht sich — wie W. Krauss
es formuliert — für Cervantes die »Rückkehr zum Ursprung des Wesens
[. . 1 in dem das Sein und das Dasein sich umarmen«. »Die Bewegung
von Cervantes' Erzählung ist durchsetzt von idyllischen Pausen, von
Erlebnissen und Begegnungen mit Menschen, die den Frieden eines ver-
klärten Alltags gefunden haben. Einkehr und Rückkehr sind nicht nur
für die Technik der Erzählung Phasen der Beruhigung, sondern der
wesentlichen Zustände, in denen alle Dynamik sich aufzuheben trach-
tet.«35 Das Musterbild, zu dem sich das Thema »menosprecio de corte
y alabanza de aldea« bei Cervantes verdichtet, ist der Ritter im grünen
Mantel, dessen beschaulicher, Wunsch und Können in Übereinstimmung
bringender Lebensweise Don Quijote ebenso fassungslos wie fasziniert
gegenübersteht (II, 16-18). Die Welt der Gitanos erscheint in der Rede
des alten Zigeuners in der Novelle La Gitanilla wie eine Synthese von.
Elementen des Goldenen Zeitalters und der Pikareske, als eine Gesell-
schaft fern der Gesellschaft mit einem Höchstmaß von Ungebundenheit36,
und selbst die wenigen strengen Bräuche der Sippe lassen der Heldin
310
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
noch Raum für die Entfaltung ihres Anspruchs auf Freiheit und Selbst-
bestimmung. Preciosa, von den Zigeunern für Andrés Caballero be-
stimmt, stellt die Bedingung einer zweijährigen Probezeit. Ihre Begrün-
dung stimmt inhaltlich mit derjenigen überein, deren sich Marcela zur
Rechtfertigung ihres Verhaltens bedient37. Angesichts der durchaus ver-
gleichbaren Funktion, die der Zigeuner- und der Hirtenwelt im Werk
des Cervantes zukommt, liegt es nahe, auch in der Marcela-Episode den
Entwurf einer inselhaften Idylle des Friedens abseits vom Zwang der
Gesellschaft zu sehen, aber während Preciosas Willen zur Selbstbestim-
mung das gewünschte Liebesglück zuteil wird, schlägt der unbegrenzte
Freiheitsanspruch Marcelas in absolute Gesellschaftsferne und Indiffe-
renz gegenüber allem Menschlichen um. Die Marcela-Episode bezeichnet
jenen äußersten Grenzfall der nach Arkadien hineingetragenen Er-
nüchterung, an dem sich das von der schlecht gewordenen geschichtlichen
Wirklichkeit her überspannte bukolische Ideal selbst in sein Gegenteil
verkehrt, an dem Freiheit sich ausschließlich negativ bestimmt und un-
menschlich wird. Es ist mehr als nur zweifelhaft, daß ausgerechnet dies
die Absicht des Cervantes gewesen sein könnte. Daß es gleichwohl zu
dieser das Ideal selbst in dessen eigenem Bereich aufhebenden Kon-
frontation mit der Wirklichkeit kam, ist der vollendeten kompositori-
schen Leistung des Dichters zu danken. Zum vollen Verständnis dieser
Leistung müssen wir noch einen Blick auf das Verhältnis von Goldenem
Zeitalter und Arkadien werfen, wobei wir uns auf die Arbeiten von
B. Snell und H. Petriconi berufen können38.
37 »Puesto que estos seriores legisladores han hallado por sus leyes que soy tuya,
y que por tuya me han entregado, yo he hallado por la ley de mi voluntad, que
es la mis fuerte de todas, que no quiero serlo si no es con las condiciones
que antes que aquí vinieses entre los dos concertamos [...] Estos señores
bien pueden entregarte mi cuerpo; pero no mi alma, que es libre, y nació libre,
y ha de ser libre en tanto que yo quisiere.« (A. a. 0., S. 71.)
38 B. Snell, Arkadien, die Entdeckung einer geistigen Landschaft. In: B. Snell, Die
Entdeckung des Geistes, Hamburg 1948, S. 268 ff. — H. Petriconi, über die Idee
des goldenen Zeitalters als Ursprung der Schäferdichtungen Sannazaros und
311
SPANISCHE LITERATUR
Tassos. In: Die Neueren Sprachen, 38 (1930), S. 265. Ders., Das neue Arkadien.
In: Antike und Abendland, III (1948), S. 187 ff. Ders., Die verlorenen Paradiese.
In: Romanistisches Jahrbuch, IX (1959), S. 167 ff. — Vgl. auch E. Lipsker, Der
Mythos vom goldenen Zeitalter in den Schäferdichtungen Italiens, Spaniens
und Frankreichs zur Zeit der Renaissance, phil. Diss. Berlin 1933, und H. Wendel,
Arkadien im Umkreis bukolischer Dichtung in der Antike und in der fran-
zösischen Literatur, Gießen 1933 (= Gießener Beiträge zur Romanischen Philo-
logie, H. 26).
39 Snell, Arkadien, a. a. 0., S. 286.
40 H. Petriconi, Das neue Arkadien, a. a. 0., S. 190.
312
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
41 Wie Petriconi (a. a. 0., S. 191) wahrscheinlich macht, hat Sannazaro die Verse
63-64 von Tibulls 3. Elegie kühn umgedeutet.
42 Sannazaro, Arcadia, ed. Scherillo, Torino 1888, S. 107.
43 H. Petriconi, Die verlorenen Paradiese, a. a. 0., S. 180 f.
313
SPANISCHE LITERATUR
sich selbst wie eine Verwirklichung des Goldenen Zeitalters der Freiheit
und der Unschuld darstellen.
Seit Sannazaro, der seinen unglücklich verliebten Dichter Sincero
nach dem Vorbild des Vergilschen Gallus sich aus der Wirklichkeit nach
Arkadien flüchten läßt, bedingen sich Gegenwart beziehungsweise Eiser-
nes Zeitalter, Arkadien und Goldenes Zeitalter gegenseitig. Ihr kon-
stitutiver Charakter ist überall greifbar als unabdingbares Struktur-
element, und zwar auch dann, wenn Goldenes Zeitalter oder geschicht-
liche Wirklichkeit nicht eigens dargestellt oder genannt sind.
Der Schauplatz ist immer Arkadien. Das Goldene Zeitalter kann selber
nicht vorgeführt, sondern nur — fast stets mittels Klagen über seinen
Verfall — evoziert werden". Ob ausdrücklich in Erinnerung gerufen (wie
bei Sannazaro, Tasso, Cervantes) oder nicht (Montemayor und Fort-
setzer) — immer ist es existent als Urbild und Maßstab Arkadiens.
Arkadien, wo die vollkommene Unschuld dem Sündebewußtsein wei-
chen mußte, hat freilich dem Goldenen Zeitalter eines voraus: die Poesie,
die allein aus dem Gefühl des Verlusts erwächst, das von der geschicht-
lichen Wirklichkeit in eine Hirtenwelt projiziert wird, in welcher die
Kongruenz von Leben, Lieben und Dichten in ungestörter, ihr Mitgefühl
bekundender Natur die unverlorene Einheit des Wesens vorspiegelt.
Um Arkadien überhaupt als Zwischenbereich zwischen Mythos und
Wirklichkeit erschaffen zu können, hatte Vergil die Hirtenwelt ent-
historisieren müssen. Sannazaro hatte sich gehütet, sein Arkadien zu
lokalisieren. Montemayor hingegen verpflanzte es nach León, Cervantes
in der Galatea an die Ufer des Tajo, während Tasso seine arkadischen
Hirten in der Umgebung von Ferrara ansiedelt. Arkadien wird dadurch,
daß es »wirklicher« wird, nun erst recht »unwirklich«, das heißt zu-
nehmend unglaubwürdig45. Der Widerspruch zwischen dem wirklichen
und dem poetischen Hirtendasein war auch durch kunstvolle Motiva-
tionen nicht aus der Welt zu schaffen, und Cervantes selbst läßt im
Coloquio de los perros den einstigen Schäferhund Berganza der rauhen
Wirklichkeit des Hirtenlebens gegenüber die Schäferromane als »cosas
soñadas y bien escritas para entretenimiento de los ociosos, y no verdad
44 Weil Avalle Arce diese grundlegende Funktion dieser Klagen nicht erkannt hat,
nimmt er sie als Zeugnisse für den Verfall der Gattung des Schäferromans (La
novela pastoril, S. 188) oder für die »italianisierende« Tradition (S. 181).
45 Vgl. dazu die treffenden Bemerkungen H. Petriconis in: Das neue Arkadien,
a. a. 0., S. 196 f.
314
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
315
SPANISCHE LITERATUR
48 Vgl. Don Quijote I, S. 20, und II, S. 128: »Sancho amigo, has de saber que yo
nací, por querer del cielo, en esta edad de hierro, para resucitar en ella la de
oro, 6 la dorada, como suele llamarse.«
49 Don Quijote I, S. 246.
50 Vgl. hierzu und zum folgenden Petriconi, Das neue Arkadien, a. a. 0., S. 197 ff.
316
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
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SPANISCHE LITERATUR
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WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
und gebildet, ist ein begabter Dichter, den der Sinn für Schönheit für
die Liebe zu Marcela prädestiniert. Marcela bleibt ihm wie allen anderen
Bewerbern gegenüber kalt und abweisend, und eines Tages verbreitet
sich die erstaunliche Kunde, daß sie ihre bisherige Lebensweise auf-
gegeben habe und als Schäferin ihre Herde auf dem freien Lande hüte.
Ihre zahlreichen Bewerber folgen ihrem Beispiel, und so entsteht in der
spanischen Landschaft eine schäferliche Welt, deren männliche Bewohner
gleich arkadischen Hirten Berge und Täler von ihren Liebesklagen wider-
hallen lassen, die Nächte wie die Mittagshitze durchseufzen und Mar-
celas Namen in die Rinde der Bäume schneiden. Aber »frei und un-
beschwert« bewahrt Marcela die »schreckliche« Unzugänglichkeit, die
schließlich Grisóstomo zum Verhängnis werden sollte.
Soweit reicht die Kenntnis Pedros. Don Quijote, zur Teilnahme an
dem Begräbnis eingeladen, verbringt den größten Teil der Nacht im
Gedenken an seine Dulcinea, »á imitación de los amantes de Marcela«.
Die Schlaflosigkeit der verliebten Hirten wird für den »caballero an-
dante« zur Verpflichtung, ein Gleiches zu tun. Die Geschichte von
Grisóstomo und Marcela ist für ihn bis jetzt erst in dem Sinne »wirk-
lich«, als für ihn die Literatur »wirklich« ist. Pedros Bericht begreift
er als einen »sabroso cuento«, und wenn er die Erzählung des Hirten
immer wieder unterbricht, um dessen Verstümmelung von Bildungs-
wörtern zu korrigieren, so bezeugt er damit einmal mehr die ihm eigene
Kraft der Identifikation von Literatur und Leben, die indessen durch
seine Person selber Realitätscharakter erhält. In der schließlichen Unter-
lassung seiner störenden Unterbrechungen, welche die hergestellte
Parallele zwischen der »Zeit« der eingeschobenen Erzählung und der-
jenigen der Haupthandlung von der literarisch-utopischen Konzeption her
in Frage stellen, bekundet sich die Ohnmacht der bloß literarischen Per-
spektive vor der Wirklichkeit, in welche die klassische Schäfergeschichte,
auf die Don Quijote sich einstellte, sich unversehens verwandelt m.
Diese »Entfiktionalisierung« Arkadiens findet gerade in jenem (mitt-
leren) Teil der Marcela-Episode statt, der sich erzähltechnisch eines
traditionellen Verfahrens des Schäferromans bedient: der Erzählung in
der Erzählung mit dem Zweck, Vergangenes bekannt zu machen. Die
»Realisierung« Arkadiens, die Auslösung der Widersprüche des Ideals
51 Don Quijote hört mit seinen Verbesserungen erst auf, nachdem Pedro ihm
bedeutet hat, daß er unter solchen Umständen mit seiner Erzählung in einem
ganzen Jahr nicht zum Ende käme. (Don Quijote I. S. 268.)
319
SPANISCHE LITERATUR
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WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
Don Quijote eine Erklärung über die Aufgaben des Ritterordens, die in
Vivaldo die Lust erregt, noch mehr närrische Reden zu hören. Vivaldos
Vergleich zwischen dem entbehrungsreichen Dasein des fahrenden Ritters
und dem asketischen Leben der Kartäusermönche gibt Don Quijote
Gelegenheit, eine Rede über die Verdienstlichkeit der beiden Lebens-
formen zu halten, die sich mit dem Thema »vita activa — vita contem-
plativa« überschneidet. Vivaldo äußert Zweifel an der Frömmigkeit des
Rittertums: sich vor der Todesgefahr einer Dame zu empfehlen anstatt
Gott, rieche nach Heidentum. Don Quijote hilft sich mit der Behauptung,
es bleibe bei jedem Kampf Zeit genug übrig, auch noch an Gott zu
denken. Vivaldos weiterem Einwand, daß noch nicht alle fahrenden
Ritter eine Dame gehabt hätten, die sie liebten und der sie sich empfehlen
konnten, entgegnet Don Quijote schlicht: »Eso no puede ser [. . .] porque
tan proprio y tan natural les es á los tales ser enamorados como al cielo
tener estrellas [. . I « 52 Es kann nicht sein, was nicht sein darf. Ganz im
Sinne der höfisch-ritterlichen Tradition vertritt Don Quijote die Identität
von Leben und Liebe, und damit wird deutlich, daß auch dieses Gespräch
nicht zufällig im Zusammenhang der Marcela-Episode steht. Noch ein-
mal stellt Don Quijote das literarische Ideal gegen eine Wirklichkeit, die—
ähnlich wie im Bereich Arkadiens durch den tragischen Ausgang schäfer-
licher Liebe — hier durch Vivaldos Zweifel in die ideale Fiktion selbst
hineingetragen wird. Das harmonische Verhältnis von Liebe und Gegen-
liebe ist in Don Quijotes Vorstellung stillschweigend vorausgesetzt, das
heißt, es wird überhaupt nicht fraglich, und Don Quijote hütet sich wohl,
die Wirklichkeit seiner Dulcinea auf die Probe zu stellen — anders als
Gris6stomo, für den das Ideal grausame Realität geworden ist. Die
fiktive Dulcinea, die sich der Liebe ihres Ritters nicht erwehren kann,
wird zum Gegenpol der Marcela, in der die Fiktion zur Existenz gelangt.,
Die Idealität der vorgestellten Wunschwelt wird in dem Maße zer-
schlagen, als sie von ihrer Verwirklichung auf die Probe gestellt wird.
Die Irrealität des Ideals, die sich in Dulcinea verkörpert, wird durch die
Realisierung des vergleichbaren und von Don Quijote selbst mit jenem
verbundenen bukolischen Ideals in der »realen« Gestalt Marcelas selbst
erwiesen.
Vivaldos Vorwurf versteckten Heidentums im Rittertum trifft sich mit
dem Vorwurf, den die Geistlichkeit gegen das »heidnische« Begräbnis
52 A. a. 0., S. 294.
321
SPANISCHE LITERATUR
Nur die Bejahung des Todes erlaubt es, den durchschauten Wahn fest-
zuhalten, in den sich das arkadische Ideal verwandelt hat: die Liebe als
Inbegriff der Freiheit — jetzt verkehrt in den Inbegriff der Unfreiheit, die
den Tod als einzige Erlösung begrüßt. Gris6stomo ist gleichsam ein Opfer
der Literatur, deren Wunschbild, die Liebesfreiheit des Goldenen Zeit-
alters, Liebesglück, und das heißt Gegenliebe, so wenig in Frage stellte
wie die Freiheit. Die Verpflanzung Arkadiens aber, ohnehin nur Abglanz
der goldenen Zeit, in die Realität läßt die selbstverständliche Erwartung
der Gegenliebe zur unbilligen Forderung, ja zu einem Zwang werden,
der sich gegen das Prinzip der Freiheit wendet. Die Freiheit des Geliebten
ist eine andere als die des Liebenden.
Marcelas Rede, in der sie jede Schuld am Tode Gris6stomos zurück-
weist, beginnt folgerichtig mit der Widerlegung der Auffassung, daß sie
zur Gegenliebe verpflichtet sei, und gipfelt in der Begründung ihres
Rechts auf Freiheit. In einem realisierten Arkadien gelten die Gesetze der
Realität. Es gibt keine prästabilierte Harmonie mehr, und nicht einmal
die Besten und Schönsten sind mehr füreinander bestimmt. Marcela ist
eine unüberbietbare Schönheit an Körper und Seele und Gris6stomo eine
Summe aller guten Eigenschaften. Trotzdem wird er der unglücklichste
53 A. a. 0., S. 312 f.
322
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
aller Menschen: »[. . .1 sin segundo en todo lo que fué ser desdichado.« 54
Marcela leugnet nicht, daß alles Schöne liebenswert sei. Aber wenn ihr
der Himmel eine Schönheit geschenkt habe, die, wie alle sagen, zur Liebe
zwingt, so könne doch nichts sie dazu verpflichten, jeden wiederzulieben,
der sie liebt; und selbst den Fall vorausgesetzt, daß die Schönheiten gleich
seien, bewirkten doch nicht alle Liebe. Wäre dem so, dann würde infolge
der Vielzahl von Schönheiten ein Chaos unendlicher Wünsche und
Begierden herrschen 55 . Wahre Liebe ist jedoch unteilbar und kann nicht
erzwungen werden: »El verdadero amor no se divide, y ha de ser
voluntario, y no forzoso.« Für Marcela, die — hierin ganz konsequente
Platonikerin — »amor« und »deseo« nicht mehr unterscheidet, erscheint
die arkadisch vergeistigte Promiskuität des Goldenen Zeitalters als An-
archie, die der Freiheit der individuellen Entscheidung Gewalt antut.
Wenn ihr eigener egoistischer Freiheitsanspruch sie im Protest gegen den
gesellschaftlichen Zwang in die Einsamkeit des Hirtendaseins treibt, so
trägt sie doch mit diesem Widerspruch das Gesetz der historischen
Wirklichkeit in den arkadischen Fluchtraum selbst hinein. Die arkadische
Vorstellung vom Recht des Liebenden auf Gegenliebe wird für den seiner
Schönheit wegen Vielgeliebten zum unerträglichen Zwang. In den Gestalten
Gris6stomos und Marcelas ist die Disjunktion von Liebe und Freiheit, die
sich in dem gleichen Maße ankündigte, als Arkadien vom Goldenen Zeit-
alter weg der geschichtlichen Wirklichkeit angenähert wurde, endgültig
vollzogen. Marcelas Verhalten erklärt sich aus der Einsicht in die Un-
vereinbarkeit von Liebe und Freiheit und aus der daraus gezogenen
Konsequenz: für sie ist arkadische Freiheit nicht mehr als Liebesfreiheit,
sondern nur noch als Freiheit von der Liebe möglich. Der Zwangs-
charakter des Lebens in der Gesellschaft bewirkt es, daß Freiheit nur noch
durch eine Unabhängigkeit bestimmbar ist, die alle zwischenmenschliche
Bindung verneint — und damit Arkadien selbst negiert.
Um frei leben zu können, hat Marcela die Einsamkeit der Felder auf-
gesucht: »Yo nací libre, y para poder vivir libre escogí la soledad de los
323
SPANISCHE LITERATUR
campos: los árboles destas montañas son mi compañía; las claras aguas
destos arroyos mis espejos; con los árboles y con las aguas comunico mis
pensamientos y hermosura.« 56 »Soledad« ist für sie freiwilliges Exil zur
Bewahrung ihrer Autonomie, während sie bisher für alle arkadischen
Schäfer Fluchtraum für schmerzlich-süße Erinnerung an vergangenes
Liebesglück war, in dem eine mitfühlende Natur und die Gefühls-
gemeinschaft gleichgearteter Menschen die an die Liebe verlorene Freiheit
zum tröstlichen Seelenbad gedeihen ließen57. Anders als für den arka-
dischen Hirten ist für Marcela »soledad« der ideale Endzustand, jenseits
von jeglicher menschlicher Bindung, jenseits von Liebe und Haß — »ni
quiero ni aborrezco a nadie«. Marcelas Freiheit bestimmt sich als Freiheit
von allen Affekten, als wunschloses Glück, im Gegensatz zum arkadischen
Glück der Wunscherfüllung. Der absolute Freiheitsanspruch Marcelas ist,
weil geschichtlich bedingt, nur als absolute gesellschaftliche Unabhängig-
keit begreifbar und auf der Ebene der zwischenmenschlichen Verhältnisse
nur als absolute Indifferenz, die sich in Marcelas Unfähigkeit, Mitleid zu
empfinden, offenbart und dem bukolischen Topos von der menschen-
feindlichen »crueldad« der Geliebten erst sein Gewicht gibt: Marcela
wird in den Augen Grisóstomos und seiner Freunde zur »enemiga mortal
del linaje humano« 58 • Mit Recht spricht Rosales in diesem Zusammen-
hang von der »absoluta deshumanización, o, si se quiere, dessocialización
cervantina, del principio de libertad« 59.
Ein Freiheitsbegriff, der das Glück menschlicher Selbstverwirklichung
auf Wunschlosigkeit, absolute Bindungslosigkeit und Indifferenz gründet,
ist nichts anderes als die letzte positive Wendung, die das Individuum
seiner Resignation angesichts des offenkundigen Scheiterns der Vor-
stellungen von einer harmonischen Gesellschaftsordnung zu geben ver-
mag. Die Idylle scheint, selbst im Zeichen eines unsozial-egoistischen
Individualismus, zuweilen wie Cervantes' letzte naturrechtlich begrün-
dete Auskunft 6°. Die »naturaleza«, auf die Marcela sich für ihre Schön-
56 A. a. 0., S. 301.
57 Das gilt sogar für den durch Felicias Zauberwasser geheilten Sireno : »Y passando
por la memoria los amores de Diana, no dexava de causalle soledad el tiempo
que la avía querido. No porque entonces le diesse pena su amor, más porque
en todo tiempo la memoria de un buen estado causa soledad al que le a
perdido.« (Diana, ed. López Estrada, S. 269.)
58 Don Quijote I, S. 301.
59 Rosales, a. a. 0., Bd. I, S. 229.
60 Vgl. Rosales, a. a. 0., Bd. I, S. 259: »La reacción cervantina contra la sociedad
324
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
heit wie für ihren Anspruch auf absolute Freiheit beruft, ist dieselbe, die
Cervantes in der Galatea und im Persiles »mayordomo de Dios« nennt".
»Natur«-Recht ist für bukolische Dichtung von Sannazaro bis Tasso die
konfliktlose Liebesfreiheit des Goldenen Zeitalters, die allen zuteil wurde;
bei Cervantes ist sie zum Urgrund einer Freiheit des Individuums ge-
worden, die sich — selbst in Arkadien — nicht verwirklichen kann, ohne
anderen weh zu tun, ja andere zu töten. Die Wiedergewinnung der
Unschuld wird schuldig, obwohl sie auf ihr Naturrecht pocht, und zwar
deshalb, weil sie die Kriterien der Unschuld der geschichtlichen Welt zu
entnehmen gezwungen ist, denen sie Unschuld und Freiheit unter dem
Opfer der Vereinsamung und des Verzichts auf mitmenschliche Be-
ziehungen abringen muß.
Für Marcela ist wahre Schönheit bedingt durch Tugend: »La honra y
las virtudes son adornos del alma, sin las cuales el cuerpo, aunque lo sea,
no debe de parecer hermoso.« 62 Sie begreift Freiheit als Bewahrung von
»honra«, »virtud«, »limpieza«, mithin als Freiheit von Sünde. Damit ist
jedoch das arkadische Ideal selbst aufgegeben, für das Freiheit auch.
Freiheit vom Sündenbewußtsein war. Mit dem »heidnischen« Unschulds-
und Naturbegriff, dessen verführerische Töne noch in Don Quijotes Rede
auf das Goldene Zeitalter zu vernehmen waren, ist auch Arkadien
verleugnet. Marcelas Freiheit, die ihren Anspruch doch aus dem Natur-
recht des Individuums gegen die Gesellschaft herleitet, ist nicht mehr —
wie diejenige Arkadiens und des Wunschtraums der goldenen Zeit —
durch die entschiedene Negation der Wert- und Moralbegriffe der Gesell-
schaft bestimmt, sondern hat diese Begriffe selber zum Inhalt. Marcela
hat zuviel vom Baume historischer Erkenntnis gegessen, um Freiheit noch
als Freiheit vor dem Sündenfall begreifen zu können. Die Wertvorstel-
lungen einer Gesellschaft, die dem Individuum nur in der Flucht vor
dieser Gesellschaft authentischen Lebenswert versprechen, widerlegen
ihren Anspruch selbst und werden zu einer Abstraktion, die ihren
Charakter auch dem Freiheitsbegriff mitteilt.
Tasso hatte bei ähnlichen Voraussetzungen andere Konsequenzen
gezogen. Die »Ehre«, die Marcela mit der Freiheit identifiziert, erscheint
325
SPANISCHE LITERATUR
63 Schön war das Goldene Zeitalter nicht, weil die Natur in Fülle alles spendete,
die Tiere friedlich waren, ewiger Frühling herrschte und kein Krieg die Menschen
schreckte,
Ma sol perché quel vano
Nome senza soggetto,
Quell'idolo d'errori, idol d'inganno,
Quel che da'l volgo insano
Onor poscia fu detto,
Che di nostra natura il feo tiranno,
Non mischiava il suo affanno
Fra le liete dolcezze
De l'amoroso gregge;
Né fu sua dura legge
Nota a quell'alme in libertate avvezze;
Ma legge aurea e felice
Che Natura scolpì: S'ei piace, ei lice.
(Ed. L. Fass& Florenz 1927, S. 35 f.)
326
WANDLUNGEN ARKADIENS: DIE MARCELA-EPISODE DES »DON QUIJOTE«
gungslos auf die Seite Marcelas. Aber Don Quijote sucht die schöne Hirtin
vergeblich. Sie ist für ihn so fern und unerreichbar wie ihre Freiheit.
327
16. Der Padre Feij6o und das »no sé qué«1
Das Werk des Padre Benito Jerónimo Feige y Montenegro (1676 1764), -
1 Der vorliegende Aufsatz stellt eine Ergänzung meiner der französischen Tradition
des »nescio quid« gewidmeten Untersuchung dar: »Je ne sais quoi« — Ein
Kapitel aus der Begriffsgeschichte des Unbegreiflichen. In diesem Band. Vgl. dazu
den zu gleicher Zeit abgefaßten, wenig später erschienenen Aufsatz von Erich
Haase, Zur Bedeutung von »je ne sais quoi« im 17. Jahrhundert. In: ZFSL 67
(1956), S. 47-68. — Für freundliche Hinweise habe ich zu danken Herrn Prof.
Werner Krauss (Leipzig), Herrn Dr. Heinrich Bihler (München), Herrn Dr.
Gonzalo Sobejano (Köln), Herrn Dr. Hans Schneider, Herrn Dr. Johannes Klein-
stück, Frl. Dr. Margot Kruse, Herrn Dr. Alberto Porqueras Mayo (sämtlich
Hamburg).
2 S. Rudolf Grossmann, über Tradition und Pflege der Wissenschaft im spanischen
Kulturgebiet. In: RJb. V (1952), S. 138-160, bes. S. 141.
328
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
keinen Zweifel mehr. Der große Gelehrte aus Santander nennt sie in
seiner monumentalen Historia de las ideas estéticas »un verdadero
manifiesto romántico [. . 1, la profesión de libertad estética, la más
amplia y la más solemne del siglo XVIII« und möchte sie mit goldenen
Lettern gedruckt wissen 3 . Menéndez Pelayo hat an der gleichen Stelle
seiner Überzeugung Ausdruck gegeben, daß Feijóo trotz der unver-
kennbaren Anregungen, die er der französischen Literatur der Früh-
Aufklärung verdankt4 , gleichwohl auch mit seiner ästhetischen Theorie
stark in der spanischen Tradition wurzele. Menéndez Pelayo hat es
jedoch unterlassen, den traditionellen Charakter des schon im Titel
kenntlichen Grundbegriffs der Ästhetik Feij6os, eben des »no sé qué«,
historisch zu präzisieren. Im folgenden soll versucht werden, die spa-
nische Vorgeschichte jenes geheimnisvollen »Ich-weiß-nicht-was« zu
skizzieren und so den Anteil der spanischen Tradition an der ästhe-
tischen Theorie des Padre Feijóo und damit auch das Neue an ihr schärfer
zu bestimmen 5 .
3 Ed. nacional de las obras completas, t. III, Santander 1940, S. 105 ff.
4 Zu diesen Anregungen vgl. Robert E. Pellisier, The Neo-Classic movement in
Spain during the XVIIIth century, Stanford University Press (Cal.), 1918, S. 18 ff.
5 Eine stilgeschichtliche Wertung des »no sé qué« hat an Hand einiger weniger
Beispiele als erster Dámaso Alonso auf einigen Seiten seines Werkes: Poesie
Española (Madrid 1950, S. 248 ff.) unternommen. — Die ältesten Wörterbücher
verzeichnen die Wendung noch nicht. Nebrija, Dictionarium hispanicolatinum ...
Antverpiae 1560, gibt nur : »Nescio quis, de ignoto homme, sive ignobili dicitur«.
Auch C. Oudin bietet diese letztere pejorative Fassung in: Trésor des deux
langues espagnole et françoise, Paris 1660, S. 80, als einzige und nur für das
Französische: »vn ie ne Sçay qui .i. vn hombre vil y baxo«. — Ausführlicher
sind die neuen Wörterbücher. Sbarbi- García, Diccionario de refranes, prover-
bios . . . Madrid 1922, II, S. 139, unter »No« : »Tener no sé qué. — Estado especial
indefinible, por el cual una persona agrada o disgusta sin poder decir la razón
que nos impulsa hacia ella o nos rechaza. — Empléase también para indicar que
una persona se halla enferma o disgustada, sin saber en realidad lo que tiene.«
Eine längere Reihe von zum großen Teil nicht nachprüfbaren Beispielen bietet
J. Cejador y Frauca, Fraseología estilística castellana, t. VI, Madrid 1925, S. 485
—
86. Das Diccionario de la Real Academia Española, 17. Ausg., Madrid 1947, ver-
zeichnet unter »Saber« : »No si qué expr. Algo que no se acierta a explicar.
Usase más con el artículo un o el adjetivo cierto.« R. Caballero, Diccionario de
modismos, Buenos Aires 2 1947, S. 850: »no sé qué! Expresión familiar con que
rechazamos o renunciamos a una cosa que no queremos determinar.« J. M. Irri-
barren, El porqué de los dichos, Madrid 1955, S. 493, führt das »no sé qué«
unter »Curiosidades diversas« auf und erklärt: »Frase con la que suele expresarse
el extraño atractivo que poseen determinadas personas o cosas, atracción que
uno no acierta a explicarse. Se aplica, generalmente, hablando del encanto
329
SPANISCHE LITERATUR
La dama boquicerrada,
sorda y muda, no sé qué
no sé para que se fué
entre las otras criada.
La necia desamorada
que nada no da ni vende,
tirala dende 6.
Nun zeichnet sich diese Copla gewiß nicht durch tiefen gedanklichen
Ernst aus. Aber hinter der burlesken Verwendung des »no sé qué« steht
offenbar ein bereits gefestigter Bedeutungswert mit zugleich ästhetisch-
stilistischem Anspruch. Valdés bestätigt diesen Sachverhalt, wenn er sagt:
de ciertas mujeres: »No es guapa, pero tiene un no sé qué que la hace muy
sugestiva«.
6 Diálogo de la lengua, ed. José F. Montesinos, Madrid 1928 (= Clásicos Castel-
lanos), S. 147 f.
7 Sonett In nobil sangue.
8 Los cuatro libros del Cortesano ... trad. p. Boscán (Libros de Antafios III),
Madrid 1573, S. 53.
330
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
Nach Hernani Cidade 12 bildete dieses Sonett Boscáns auch den Aus-
gangspunkt für das Sonett Busque Amor novas artes von Cami5es:
9 Die Geschichte von italienisch »non so che« bleibt einer gesonderten Darstellung
vorbehalten, die ich in Kürze vorzulegen hoffe.
10 Dell'amore, Lezione I. In: Opere, Trieste 1859, II, S. 506.
U Menéndez Pelayo, Antología de poetas líricos castellanos, t. XIV, Madrid 1916,
S. 56. Vgl. noch:
Tengo en el alma puesto
su gesto tan hermoso . . .
y aquel saber estar adonde quiera;
el recoger honesto,
el alegre reposo
el no sé qué de no sé qué manera;
(a. a. 0., S. 62)
Gentil sei-iora mía,
Yo hallo en el mover de vuestros ojos
Un no sé qué: no sé cómo nombrallo,
Que todos mis enojos
Descarga de mi triste fantasia.
(a. a. 0., S. 64)
12 Luis de Camfies, I, 0 Lírico, Lisboa 1936, S. 148.
331
SPANISCHE LITERATUR
13 Lírica de Cam5es, ed. crít. p. José Maria Rodrigues e Afonso Lopes Vieira,
Coimbra 1932, S. 136. Vgl. noch:
Aquele no sei quê,
Que aspira nao sei como
Que, invisível saindo, a vista o va,
Mas para o comprender näo lhe acha tômo;
(Ode IX, a. a. 0., S. 269)
Um näo sei quê suave, respirando,
causava um desusado e novo espanto,
que as cousas insensíveis o sentiam;
(Kanz. II, a. a. 0., S. 337)
Cam6es bedurfte indessen für den Petrarkismus und Platonismus seiner Lyrik
nicht ausschließlich der Vermittlung Bosans (vgl. Hernani Cidade, a. a. 0.,
S. 124 ff. u. 154 ff.); er konnte sich für sein »näo sei qua« direkt an den Italienern
orientieren.
14 Zit. n. José Manuel Blecua, Historia de la literatura española, I, Zaragoza
1948, S. 111.
15 Relaciones espirituales, V. Obras Completas, Madrid: Aguilar 1942, S. 209. Vgl.
332
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
Vida, Cap. XXIX : »Busca [el alma] modos y maneras para hacer algo que sienta
por amor de Dios, mas es tan grande el primer dolor, que no sé yo qué tormento
corporal le quitase.«
16 Alonso, a. a. 0., S. 249 ff.
17 Nach D. Alonso, a. a. 0., S. 251, Anm., ist es ungewiß, ob diese Eingangsstrophe
von Pedro de Padilla selbst stammt. Sicher ist, daß sie popularisiert und mehr-
fach glossiert wurde. Als Beispiel zitiert D. Alonso die folgende Décima aus dem
Cancionero Antequerano, der gegen 1628 gesammelt wurde:
Dicen que por la hermosura
yo nunca me perderé,
sino por un no sé qué
que se halla por ventura:
a nosotros la dulzura
de un no sé qué nos llevó,
que mientras más se miró
era imán de nuestros ojos,
causándonos más antojos
que batla arenas el Po.
(Cancionero Antequerano, ed. p. Dámaso Alonso y Rafael Ferreras, Madrid 1950,
S. 197). Die frühe Substantivierung der spanischen Wendung scheint also rasch
eine parodistische Vulgarisierung hervorgerufen zu haben.
333
SPANISCHE LITERATUR
Juan de la Cruz brauchte, wie Dámaso Alonso zeigte, nur ein einziges
Wort von Padillas Eingangscopla zu verändern, um das profane Erlebnis
jener spirituellen Schönheit in die Sphäre der weltindifferenten Gottes-
berührung, des mystischen »Schmeckens« und »Kostens« der Gottheit
zu erheben:
Por toda /a hermosura
nunca yo me perderé
sino por un no sé qué
que se alcanza por ventura.
18 Die Verfasserschaft Juans de la Cruz ist nicht völlig gesichert, aber höchst wahr-
scheinlich; vgl. D. Alonso, a. a. 0., S. 251.
334
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
»porque no se sabe dezir, pero ello es tal, que haze estar muriendo al
alma de amor. [. . 3 este morir de amor se causa en el alma mediante un
toque de noticia suma de la diuinidad, que es el no sé qué, que dize en
esta Canción que quedan balbuciendo.«
»Y todos quantos vagan«, d. h. »las criaturas racionales, los ángeles
y los hombres«, vermitteln der Seele
»vn no sé qué, que se siente quedar por dezir, y vn subido rastro que
se descubre al alma de Dios quedándose por rastrear, y vn altissimo
entender de Díos que no se saue dezir que por esso lo llama no sé qué,
que si lo otro que entiendo me llaga y hiere de amor, esto que no acauo
de entender, de que altamente siento, me mata.«
335
SPANISCHE LITERATUR
Weiter konnte die Verwendung des »no sé qué« in der Sprache der
Mystiker nicht gehen. Sein Geltungsbereich deckt sich im profanen Be-
deutungsraum weitgehend mit demjenigen der »gracia« und des »do-
naire«. So heißt es bei Cabrera:
336
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
dor«, diese »gracia«, die jeder fühlt und niemand zu definieren vermag,
bleibt eine Grundidee der gesamten platonischen Schule, wie ein Blick
in Menéndez Pelayos Historia de las idéas estéticas zeigt. Malón de
Chaide identifiziert die wahre Schönheit mit einer »cierta gracia«, die
sich in den »ánimos«, den »cuerpos« und den »voces« findet, im Grunde
ein und dieselbe ist und deren Voraussetzung die »consonancia y ar-
monia de muchas cosas juntas« bildet 23 . Wo immer er auftritt, ist der
Glanz, der dem sinnlich wahrnehmbaren Schönen geheimnisvoll anhaftet
und es erst wahrhaft schön macht, echt platonisch an das Gute gebunden.
Das gilt auch für den Padre Juan Eusebio Nieremberg, der in seinem
Tratado de la hermosura de Dios von 1641 erklärt:
337
SPANISCHE LITERATUR
25 Vgl. auch Luis de Bavía, Historia pontifical (1608): »Se le echaba de ver un no
sé qué de no buena voluntad a aquellos príncipes«. Zit. n. Cejador y Frauca,
a. a. 0., S. 485.
26 Los trabajos de Persiles y Sigismunda, I, 10: »[...] los engaños, aunque sean
honrosos y provechosos, tienen un no sé qué de traición cuando se dilatan y
entretienen«.
338
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
339
SPANISCHE LITERATUR
Der Glanz des Wunderbaren liegt über dem Rittertum, aber in der
Unbestimmbarkeit, dem »no sé qué« seines Vorrangs, bekundet sich die
Fragwürdigkeit eines Geburtsadels, dem auch ein hochgezüchtetes, illu-
sorisch aufrechterhaltenes Berufsethos keine Legitimation mehr ver-
schaffen kann. Dabei ist es — worauf zu achten ist — wie immer bei
unserer Wendung, so auch hier ein »Ich«, das nicht mehr konkret »weiß«,
worauf es gründet, sich daher erst recht mit der kollektiven Würde
der ganzen Institution bekleidet und darin aufzugehen sucht, und sich
zugleich mit der Überzeugung bescheidet, für ein universales Geschenk
besonders offen zu sein — für »un s í sé qué de esplendor«. Dieser letztere
aber ist, wie wir wissen, die »gracia«, die weder Beruf noch Stand kennt.
Man wird in dieser Selbstaufhebung der ritterlichen Aspirationen in
Don Quijotes Mund ein hervorragendes Beispiel für die geniale dich-
terische Ironie des Cervantes erblicken dürfen.
Cervantes bedient sich indessen, wie wir schon sahen, des »no sé qué«
auch zum Ausdruck eines echten, reflektierten Nichtwissens. Das gilt
gewiß auch für das Col6quio de los perros, wo er den Hund Berganza
sagen läßt:
»[. . .1 parece que algunos han querido sentir que tenemos un natural
distinto, tan vivo y tan agudo en muchas cosas, que da indicios y seriales
28 Die antithetische Wendung »no sé qué — si sé qué« findet sich m. W. zum ersten-
mal im Lazarillo de Tormés: »Mas malas lenguas, que nunca faltaron ni faltaran,
no nos dexan viuir, diziendo no sé qué y si sé qué, de que veen á mi muger yrle
á hazer la cama y guisalle de comer«. (Ed. Cejador y Frauca [=--- Clásicos
Castillanos], S. 261).
In E. T. A. Hoffmanns Elixieren des Teufels findet sich gleichfalls ein — zweifellos
vom Don Quijote angeregtes — Gespräch über das Verhältnis von »armas y
letras«. Der Wortführer ist hier jedoch ein dem Bürgertum angehörender Mann
der Wissenschaft, und das »Ich-weiß-nicht-was«, das den Ritter auszeichnet,
ist zum Signum adliger Arroganz geworden: >des] mischt sich in das Betragen
des Adligen gegen den Bürger ein gewisses Etwas, das wie Herablassung, Dul-
dung des eigentlich Unziemlichen aussieht«. (Sämtliche Werke, Ausg. C. G. von
Maassen, München-Leipzig 1912, II, S. 229).
340
DER PADRE FEIJ00 UND DAS »NO SE QUE«
Die Parodie in diesen Versen zielt auf die preziöse Mystifikation der
platonischen Lehre vom Eros. Die platonisierende Ästhetik vererbt in-
dessen einem bedeutenden Zeitgenossen Tirsos den wunderbaren Glanz,
das transzendente Leuchten, das aus der Vollkommenheit strahlt. Für
Báltasar Gracián resultiert die Vollkommenheit des Individuums aus
einem besonderen Mischungsverhältnis der perfektionierenden Eigen-
schaften. Wo aber eine geheimnisvolle, nicht näher zu bestimmende
Zutat fehlt, haftet der besten Anlage ein fataler Mangel an, und es gibt
Menschen, denen immer »un algo« fehlt 32 , das Synonym von »un no
29 Novelas ejemplares, ed. Rodríguez Marín, Madrid 1917 (-= Clásicos Castellanos),
II, S. 210.
30 Vgl. meine Untersuchung: »Je ne sais quoi« — Ein Kapitel aus der Begriffs-
geschichte des Unbegreiflichen. In diesem Band, S. 230 ff.
31 Vgl. Tirso de Molina, a. a. 0., I, 1:
Ramiro, ¡gran mirador
estáis! Llegaos más, llegad,
que no os huele mal la moza.
El no sé qué que os retoza
en el alma he visto ya.
Beide Stellen zitiert bei Irribarren, a. a. 0., S. 495.
32 Vgl. die Hinweise von Werner Krauss, Graciáns Lebenslehre, Frankfurt a. M.
1947, S. 147, auf »un algo« : »Algunos nunca llegan a ser cabales: j. . 1 Liftales
siempre un algo«; (Oráculo manual, 5); »[. . .] aun les falta un algo, y a veces
lo mejor [. . .1« (El Discreto).
341
SPANISCHE LITERATUR
Sé qué« ist. »Im Bereich der geläufigen geistigen Werte ist es eine
exterritoriale Größe, ein Meteorstein, aus einem Niemandsland stam-
mend, aus einer Unendlichkeit, und es macht sich durch seine Wirkung
vertraut.«33 Dieses Geschenk des Himmels, gleich der »gracia«, erscheint
positiv als »despejo«, in dem die harmonisierten Eigenschaften in simul-
taner Wirkung gesammelt aufleuchten wie unter der Berührung eines
göttlichen Strahls. Der »despejo«
»Es vida de las prendas, aliento del dezir, alma del hazer, realce de los
mismos realces. Las demás perfecciones son ornato de la naturaleza, pero
el despejo lo es de las mismas perfecciones. «34
342
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
343
SPANISCHE LITERATUR
Das »no sé qué« meint, wie Feijcío weiter erklärt, dasselbe wie die
»manera« der Maler und die »charis« der Griechen, d. h. »una gracia
oculta, indefinible«. Trotzdem will Feijäo
41 Obras escogidas del Padre Fray Benito Jerónimo Feijóo y Montenegro, BAL 56,
Madrid 1863, S. 349.
344
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
Es ist dies das Strukturgesetz einer Schönheit, die, wenn sie auch die
Beigabe des »no sé qué« haben will, nicht eine regelmäßige, normative,
logisch berechnete sein darf. Das geheimnisvolle Ingrediens des »no sé
qué« entfaltet seine Wirkung nur bei einem jeweiligen, bestimmten,
einmaligen Proportionsverhältnis, einer mehr oder weniger ungreifbaren
Abweichung von der meßbaren Schönheit. Es ist eine »gracia oculta, no
sujeta á regla alguna«:
42 »Se deben considerar dos proporciones : la una de las partes entre si, la otra
de esta misma coleccion de las partes con la potencia, que viene ä ser proporcion
de aquella proporcion« (a. a. 0., S. 350).
345
SPANISCHE LITERATUR
»[...1 ese que llamas no sé qué, no es otra cosa que el ser individual del
mismo sonido, el cual perciben claramente tus oidos, y por medio de ellos
llega tambien su idea clara al entendimiento. Acaso te matas, porque no
puedes definir ni dar nombre á ese sonido, según su ser individual. Pero
no adviertes, que eso mismo te sucede con los sonidos de todas las demas
voces que escuchas? Los individuos no son definibles.« (S. 351)
»Todo le hizo segun regla; pero segun una regla superior, que existe en
su mente, distinta de aquellas comunes, que la escuela enseria.« (S. 253)
346
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
Und weiter:
»[.. .1 no hay cosa alguna en el mundo, que sea del gusto de todos;
lo cual no puede depender de otra cosa, que de que un mismo objeto tiene
pro porcion de congruencia respecto del temple, textura ó dis posicion de
los órganos de uno, y desproporcion respecto de los de otro.« (5. 351)
Während aber die »objetos simples« nur eine »proporcion« haben, die
vermöge ihres Spezies-Charakters alle anspricht, ist die besondere »Pro-
portion« der »objetos compuestos« diejenige der »partes con la potencia,
que viene á ser proporcion de aquella proporcion«. Damit ein »zusammen-
gesetztes Objekt« gefalle, muß es mit der Organisation des betrachtenden
Subjekts »kongruent« sein. Feij6o akzeptiert die Relativität des Ge-
schmacks in vollem Umfange und relativiert von der subjektiv-individuel-
len Seite her auch die Struktur der Schönheit des Objekts. Damit entfernt
er sich weit von der normativen Ästhetik des Klassizismus, und zwar
eindeutig im Interesse des Individuums, das im Kunstwerk das »no sé
qué« seines »ser individual«, d. h. sein eigenes, mehr geahntes als er-
kanntes Wesen sucht.
Die Fülle der Individualitäten, die sich auf diese Weise darbietet, ist
für Feij6o Zeugnis und Erzeugnis der unendlichen Schöpferkraft Gottes.
Gott kennt
Aber was für die Menschen ein »no sé qué« ist, ist es nicht für Gott,
vor dessen Schöpfungen alle Regeln versagen. Die »regla superior«, die
über das menschliche Vermögen hinausweist, wirkt im schaffenden Künst-
ler, und der beschränkte menschliche Kunstverstand nimmt für einen
347
SPANISCHE LITERATUR
Verstoß gegen die Regeln, was in Wahrheit ein »arte superior« ist 43 . Der
Künstler gehorcht einer irrationalen Inspiration. Die Wiederaufnahme
der platonischen Enthusiasmuslehre — denn um diese nie völlig unter-
gegangene Theorie handelt es sich — holt nun auch in der entschieden
religiösen Wendung des Padre Feijäo ihre Argumente aus einer Natur,
in welcher das neue Individuum seinen Rechtstitel zu finden vermeint.
Wenn die göttliche Idee schon im geschaffenen Kunstgegenstand wirksam
sein kann, wieviel mehr erst in der direkt von Gott geschaffenen Natur:
So enthält die Welt unendlich viele »no sé qué«, und das heißt: die
Fülle der Zeugnisse für die Unendlichkeit des göttlichen Wirkens. Die
Legitimation des Individuums an der Individualitätenfülle in Kunst und
Natur gipfelt in der Betrachtung des menschlichen Antlitzes:
Diese ganz besondere, alles andere übertreffende Anmut nun ist nichts
anderes als der Ausdruck der mystischen »schönen Seele«, die im deut-
schen Pietismus, bei Schiller und bei Goethe noch eine große Rolle spielen
wird.
43 Von einer vermeintlich regelwidrigen Musik sagt Feij6o : »Dirán que está
contra arte; mas, con todo, tiene un no sé qué que la hace parecer bien. Y yo
digo, que ese no sé qué no es otra cosa que estar hecha segun arte, pero segun
un arte superior al suyo« (a. a. 0., S. 353).
348
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
»Téngase siempre presente [...] que esta gracia, como todas las demas,
que andan rebozadas debajo del manto del no sé qué, es respectivo al
genio, imaginacion y conocimiento del que la percibe.« (S. 353)
349
SPANISCHE LITERATUR
44 Mit Feij6os Abhandlung gelangt die ästhetische und psychologische Rolle des
»no sé qué« auf ihren Höhepunkt und zugleich an ihr Ende. Wie in Italien und
Frankreich (vgl. E. Köhler, a. a. 0., in diesem Band S. 278 f.) scheint auch in Spanien
mit der beginnenden Herrschaft der romantischen Irrationalität der besondere
Ausdruck, der sie vorbereiten half, entbehrlich geworden zu sein. Das heißt
jedoch nicht, daß für das »no sé qué« als eine stilistische Konstante nicht in
einem begrenzten Bedeutungsbereich gelten könnte, was schon Juan de Valdés
von ihm sagte: »que tiene gracia, y muchas vezes se dize a tiempo que sinifica
mucho«.
Zwar heißt es bei Gonzalo Correas, Vocabulario, Madrid 1924, S. 635: »Un no
sé qué, por un es no es Por cosa leve, de poca monta«. — was den Eindruck
erweckt, als sei die Wendung in der neueren Zeit zum Ausdruck bloßer Belang-
losigkeit herabgesunken. Daß dem nicht so ist, vielmehr dem »no sé qué« aus
dem Moment der Unbestimmtheit eine neue Aussagekraft erwachsen kann,
mögen die im folgenden angeführten Beispiele zeigen.
Mit Staunen vermerkt Dámaso Alonso (Poesía española, S. 300) das Wieder-
350
DER PADRE FEIJO0 UND DAS »NO SE QUE«
aufleben der Wendung bei Juan Ramón Jiménez: »Y (quién lo diría!) a principios
del siglo XX sirve a los poetas otra vez para expresar vagas inefabilidades muy
del momento. Así es característica de una época de Juan Ramón Jiménez:
[. . .] vaga
no sé qué intacto y mate traje de desposada
(Aus Laberinto, Zit. v. Däm. Alonso, a. a. 0.)
Das »no sé qué« ist bei Juan Ramón Jiménez ein zumindest in seiner früheren
Periode so häufig auftretendes Stilmittel, daß man in ihm, zusammen mit den
bedeutungsnahen »algo« und »vago«, einen Grundton von Jiménez' ganzer Dich-
tung ausgedrückt sehen darf. Vgl. noch:
Y los ojos se vuelven, tristemente,
buscando no sé qué, que no está con nosotros,
algo que no hemos visto
y que no ha sido nuestro,
(Víspera, in: Segunda Antologia poética,
Madrid 1938, S. 266)
Más leve, más esbelto, más sedoso,
¿qué lirio? En el piano, lírico
como un adiós distante, se esfumaba
en yo no sé qué vago laberinto.
(Niño, a. a. 0., S. 61)
Entre la lluvia y la arboleda, Ios balcones
amarillos evocan no sé qué historia triste ...
[. • .]
La arena está mojada, y en lo solo de afuera,
por las ramas, se esconde no sé qué amor de llanto . . .
[. . I
Al fin de la avenida, se pierde un viejo coche
que se lleva ¡y por siempre! no sé qué madrigales.
(Parque, a. a. 0., S. 86)
Ein »no sé qué«, meist adjektivisch verwendet, versetzt alle seelische Zuständlidt-
keit und durch sie die Eindrücke der Außenwelt in die Atmosphäre des Ge-
heimnisvollen und artikuliert einen unerklärbaren Befund. Vgl.: »Y esa luz de
bruma y oro [...] irisa en mi corazón no sé qué ocultas bellezas« (a. a. 0., S. 25);
»no sé qué amores llorosos« (ibid.); »Lo que trae el carro es sueño de no sé qué
mano pródiga« (S. 53); »Revive no sé qué vago dejo de una voz« (S. 85); »[. . .] la
doliente luz que evoca no sé qué puertos entre los vasos de cafetín« (S. 178); »Y se
levanta de todo no sé qué hálito, que trae, triste de no morir aún más, la rosa«
(S. 237).— Die stilistische Bedeutung von »no sé qué«, »no sé quién«, »no sé
donde« und ihre Berührung mit ebenso häufigen »un algo« und »vago« bei
Jiménez ist erkannt und reich belegt bei Emmy Neddermann, Die symbolischen
Stilelemente im Werke von Juan Ramón Jiménez, Hamburg 1935 (= Hamburger
Studien z. Volkstum u. Kultur der Romanen, Bd. 20), S. 17 f., 97 u. bes. 112
Ramón Pérez de Ayala verwendet es in seinem Gedicht Crepúsculo, das den
bezeichnenden Untertitel El momento indeciso trägt:
El campo está claro, pulcro,
vitrificado, de esmalte.
Un crepúsculo venoso
y bruñido, como jade.
Hay un no sé qué en mi pecho.
Hay un no sé qué en el aire.
Todo está quieto, cual si
fuera a materializarse
eternamente ...
(Poesías completas, Col. Austral, 4a ed. S. 64)
351
SPANISCHE LITERATUR
352
IV. ITALIENISCHE LITERATUR
Da Schneiders Argumente für die von ihm vorher abgelehnte Autorschaft Dantes
(vgl.: Dante. Sein Leben und sein Werk, 4. Aufl., Weimar 1947, S. 47) sich mit den
hier vorgetragenen nur zu einem geringen Teil berühren, und — von beiläufigen
Stellungnahmen für oder wider Dantes Verfasserschaft abgesehen — die Fiore-
Frage u. W. in der Danteforschung seither nicht mehr Gegenstand spezieller
Untersuchungen war, kann unser Beitrag in unveränderter Form veröffentlicht
werden.
2 Vgl. die Einleitung A. Bassermanns zu seiner deutschen Ausgabe des Fiore,
Heidelberg 1926.
353
ITALIENISCHE LITERATUR
3 Der Rosenroman und der lateinische Averroismus des 13. Jahrhunderts, Frankfurt
a. M. 1947. - E. R. Curtius hat die Ergebnisse von Müllers Untersuchungen zu
Unrecht abgelehnt (Romanische Forschungen 60 (1947) S. 528 f.). Sie werden,
soviel hier auch noch im einzelnen zu tun bleibt, bereits durch den von A. Dempf
(Sacrum Imperium. Geschichts- und Staatsphilosophie des Mittelalters und dei
politischen Renaissance, München-Berlin 1929, S. 335 ff.) aufgezeigten Zusam-
menhang von philosophischer Renaissance und vulgarisierender Literatur nahe-
gelegt.
4 Vgl. zum Pariser Philosophenstreit des 13. Jahrhunderts P. Mandonnet, Siger et
l'averroïsme latin au XIII siècle, Louvain 21911, und M. Grabmann, Der lateini-
sche Averroismus des 13. Jahrhunderts und seine Stellung zur christlichen Welt-
anschauung, SB. der Bayer. Akad. d. Wissensch. phil.-hist. Abt. Jg. 1931, H. 2, Mün-
chen 1931.
354
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
5 Zur praktischen Deutung der averroistischen Lehren durch das Volk s. A. Dempf,
a. a. 0., S. 347.
6 Deutlich genug Fiore XXXIX und XL:
I'le dissi: »Ragion, or sie certana,
po'che Natura diletto vi mise
in quel lavor, ched ella noi v'assise
già per niente, chè non é si vana.
Ma per continuar la forma umana
si vuol ch'uon si diletti in tutte guise
per volontier tornar a quelle .vise,
ché'n dilettando sua semenza grana.«
355
ITALIENISCHE LITERATUR
7 Sonett CLXXXII spricht von dem eitlen Wahn des Ehemannes, der glaubt, seine
Frau allein zu besitzen. Daß hier ebenso wie im Rosenroman mehr als bloße
Fabliau-Erotik vorliegt, vielmehr das geltende Sittengesetz bestenfalls als eine die
Anarchie verhindernde Notstandsethik, als eine Art bedingte Wahrheit neben der
eigentlichen Wahrheit verstanden ist, zeigt recht eindeutig das unmittelbar
folgende Sonett (CLXXXIII) :
Da l'altra parte elle [die Frauen] son franche nate;
la legge si le tra' di lor franchezza,
dove natura per sua nobilezza
le mise, quando prima fur criate.
8 S. Dempf, a. a. O.
356
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
9 Vgl. die Aufstellungen Grabmanns, a. a. 0., bes.: »Quod felicitas habetur in ista
vita, non in alia. — Quod omne bonum, quod homini possibile est, consistit in
virtutibus intellectualibus. — Quod lex christiana impedit addiscere.«
10 Vgl. dazu Fiore CIX:
Io dico che'n si grande dannazione
va l'anima per grande povertade
come per gran ricchezza, in veritade;
i• • il
Chè que'c'ha gran ricchezza, si oblia
queche'l criä per lo su gran riccore,
di che l'anima mette in mala via.
Colui cui povertà tien in dolore,
convien che sia ladrone o muor d'envia,
o serä falsonier e mentitore.
357
ITALIENISCHE LITERATUR
358
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
359
ITALIENISCHE LITERATUR
16 über averroistische Elemente bei den Dichtern des »dolce stil nuovo« schon K.
Vossler, Die philosophischen Grundlagen zum »süßen neuen Stil« des Guido
Guinizelli, Guido Cavalcanti und Dante Alighieri, Heidelberg 1904.
17 Convivio IV, xvii, 9-12.
18 Vgl. dazu die Ausführungen H. Grundmanns (Deutsches Dante-Jahrbuch 14,
S. 239 f. u. 252 ff.) zu Par. XII, 118-124, wo in überzeugender Weise das begrenzte
Maß der joachimitisch-franziskanischen Einwirkungen auf Dante aufgezeigt wird.
360
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
19 Diese Einstellung Dantes zu den Bettelorden klingt in der Commedia nach. Die
Heuchler (Inf. XXIII, 61 ff.) erscheinen in den Kutten der Dominikaner (vgl. daz
Bassermann, a. a. 0., S. XIX). — Vossler vermutet, daß bei Dante »der Bette!--
mönch eigentlich doch eine Einrichtung zweiten Grades und sozusagen kein
vollständiger Mönch ist« (Die Göttliche Komödie, Entwicklungsgeschichte und
Erklärung, Heidelberg 1907, S. 403).
20 Vgl. hierzu G. Ledig, Vom Bankett des Geistes. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 28
(1949), S. 102.
361
ITALIENISCHE LITERATUR
362
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
»donna gentile« der Vita Nuova zur »gentildonna Filosofia« des Con-
vivio zu verstehen 21 .
Der Sprung vom sinnlichen Erlebniskreis zum philosophischen war
für Dante leichter als für seine modernen Interpreten, die anscheinend
an einen möglichen Zusammenhang von sittlicher und philosophischer
Verirrung nicht zu glauben vermögen. Angesichts der gemeinsamen
Grundlage beider Formen der Verirrung wird die von italienischen
Dantisten umstrittene Frage müßig, ob es sich bei Dantes Beichte im
Purgatorio um eine oder zwei Grundsünden handle. M. Barbi bestreitet
in seinen Untersuchungen über »Razionalismo e misticismo in Dante« 22
die Auffassung Pietrobonos, wonach die Vorwürfe Beatrices gegenüber
Dante (Purg. XXXIII, 85-90) Dantes einstige Bevorzugung der Ver-
nunft vor der Offenbarung zum Gegenstand hätten:
Barbi besteht darauf, daß die »scuola«, der Dante gefolgt ist, sich
ganz allgemein auf seine größere Liebe zu den irdischen Gütern als zu
Gott beziehe. Er stützt sich dabei auf die »falschen Abbilder des Guten«
aus den Versen, in denen Beatrice über Dantes Untreue klagt:
21 Wobei aber beachtet sein will, daß die »gentildonna Filosofia« des Convivio
bereits die durch (im Convivio selbst sich vollziehende) Überwindung der ratio-
nalistischen Periode geläuterte und ins richtige Verhältnis zur Offenbarung
gesetzte Philosophie darstellt.
22 Studi Danteschi XVII, 5 44 u. XXI, 1 91.
- -
363
ITALIENISCHE LITERATUR
»passi« sind die Schritte Dantes auf dem Weg zur Erkenntnis, die »via
non vera« der dem wahren, d. h. von Beatrice gezeigten Weg der Offen-
barung entgegengesetzte Weg der bloßen Vernunft. Die »false imagini
di ben« sind nichts anderes als die Scheinwahrheiten der Philosophie.
Wenn wir Barbis Deutung der genannten Stellen ablehnen23, so
erscheint uns doch auch Pietrobonos Auffassung zu einseitig, die den
Ausdruck »scuola« ausschließlich im Sinn eines rein intellektuellen Ver-
gehens versteht. Demgegenüber halten wir, von dem oben Gesagten
ausgehend und den dunklen Stellen des Purgatorio eine widerspruchs-
losere Erklärung gebend, daran fest, daß die rationalistische Verirrung
zugleich die sittliche oder, wenn man so will, die sittliche zugleich die
rationalistische Verirrung bedeutet. Dantes Sünde ist beides in einem.
Diese dem Wesen ihrer geistesgeschichtlichen Herkunft nach untrenn-
bare Doppelsünde hat literarischen Ausdruck im Fiore gefunden. In
derselben unteilbaren Einheit erscheint sie in den tadelnden Worten
Beatrices.
Noch ein anderer Umstand, auf den Bassermann bereits hingewiesen
hat, macht Dantes Verfasserschaft am Fiore wahrscheinlich: die Mög-
lichkeit, vom Fiore her eine Erklärung dafür zu finden, daß Dante den
führenden Geist des lateinischen Averroismus, Siger von Brabant, ins
Paradiso und dazu an die Seite seines großen Gegenspielers Thomas
versetzt hat (Par. X, 133 ff.). Von den vielen Deutungsversuchen be-
friedigt keiner so recht. Am ehesten scheint die von H. Grundmann24
auf den ähnlichen Fall Joachims von Floris und Bonaventuras ange-
wandte Auffassung von Dantes Streben nach universaler Konkordanz25
dem Problem gerecht zu werden. Sie soll im folgenden für unseren
Gegenstand erweitert und ergänzt werden.
23 Es ist kein stichhaltiger Einwand, wenn Barbi die »scuola«, die Pietrobono mit
mehr Recht (s. Purg. XXXIII, 85) als »dottrina« versteht, verallgemeinernd zur
»scienza« umdeutet (Studi Danteschi XXI, 29) und sie der »sapienza« unter-
geordnet sein läßt wie die Gestalt des Virgil der höheren Beatrice. Barbi hat dabei
übersehen, daß diese zur sinnvollen Einheit geschlossene Zuordnung eben erst
der Komödie angehört. Virgil und Beatrice, natürliche Vernunft oder lumen
naturale und Offenbarungswahrheit sind hier, in der die universale Einheit des
Seienden verwirklichenden Komödie im richtigen Verhältnis. Zur Zeit der Ver-
fehlung Dantes — und davon handelt ja unsere Stelle — sind sie es noch nicht.
24 Grundmann, im Dante-Jahrbuch 14, S. 210-256. Bei Grundmann ist auch eine
kurze Charakterisierung der bisherigen Deutungsversuche zu finden.
25 Die Formel von dem Streben nach universaler Konkordanz ist von A. Dempf für
die mittelalterlichen Summen geprägt worden in: Hauptform mittelalterlicher
Weltanschauung, München-Berlin 1925.
364
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
365
ITALIENISCHE LITERATUR
366
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
diso sowohl für sich selbst als für die Bedeutung von Sigers Lehre für
Dantes geistige Entwicklung und für die Frage der Fiore-Zuweisung
von Dantes Geschichtsphilosophie her verständlich, die, dialektisch wie
sie ist, auch für das Einzelleben gilt. Sigers Lehre ist für Dante eine
der — wenn auch seitwärts vom idealen Weg — verlaufenden Strömun-
gen, die in ihrem Wirken letztlich doch in das Ziel des göttlichen Heils-
plans einmünden und sei es nur, daß sie, wie in vorliegendem Fall, als
eine gestellte Frage die Antwort gewinnen lassen. So findet in Dantes
Geschichtsbild die scholastisch-dialektische Methode als Mittel der Aus-
gleichung von scheinbar absolut Gegensätzlichem in einer höheren Wahr-
heit, als Streben nach universaler Konkordanz ihre höchste Erfüllung.
Mit dieser Sinngebung der Geschichte wird nicht unternommen, den
Antinomien des geschichtlichen Daseins in ihren letztlich dem Zugriff der
Vernunft entzogenen, im unerforschlichen Ratschluß Gottes liegenden
Gründen nachzuspüren, wohl aber wird versucht, sie im Hinblick auf die
den Geschichtsprozeß bestimmende, alles umgreifende heilsgeschichtliche
Offenbarung vor der Philosophie, des Glaubens vor dem Wissen, mit diesem
Problem ist er noch nicht endgültig fertig. So wie er z. B. im Adelstraktat
Autorität gegen Autorität stellt, so setzt er durch das ganze Convivio hindurch
das Lob der Philosophie gegen deren Begrenzung durch den Glauben in dem
innersten und echt mittelalterlichen Bestreben, in der beständigen dialektischen
Entgegensetzung für den Leser — und wohl noch mehr für die eigene Person —
die Kompetenzen abzustecken, einander zuzuordnen und in wiederholtem Ansatz
zur Wahrheit zu gelangen. Diese Dialektik versetzt alles, was in ihren Problem-
kreis reicht, in einen antithetischen Zusammenhang, der bei aller bestimmten
Stellungnahme doch die Lösung als auf dialektischem Wege daraus hervorgehend
offenläßt. Dante hat sich in dem Streit zwischen Ratio und Auctoritas zur Höher-
schätzung der Letzteren durchgerungen, aber dieses Sichfinden muß für die eigene
Person wie für den Leser durch immer wieder aufgenommene Antithetisierung
bestätigt und gefestigt werden. Die Dialektik durchzieht im Convivio nicht nur
einzelne Abschnitte, sie umgreift vielmehr das Ganze, weniger deutlich erkennbar
nur deshalb, weil die Antithese nicht immer unmittelbar auf die These folgt,
sondern oft erst bei Gelegenheit eines geeigneten Kanzonenverses oder eines von
einem solchen ausgehenden Gedankenzusammenhanges erscheint. Das liegt in der
Natur der Kommentarform des Convivio. Aber gerade diese Form erweist sich bei
näherem Zusehen als Folge von Dantes Nicht-Fertigsein mit den Widersprüchen,
deren Streit er entschieden hat, mit denen er aber noch nicht ganz abgeschlossen
hat. Hier liegt das Geheimnis der besonderen Form des Convivio und seiner
Prosa. Die lockere Kommentarhülle, die alles, was den Dichter bewegt, mit Hilfe
der Allegorie in sich aufzunehmen vermag, und die in ihr beschlossene, scheinbar
zusammenhanglose Dialektik deuten darauf hin, daß die Auseinandersetzung
zwischen Glaube und Wissen Dante immer noch packt, daß er das ganze Convivio
durchzieht und ihm seinen besonderen Charakter verleiht. Umgekehrt darf man
sagen: gerade das Bedürfnis nach einer Ausdrucksform für ein den Dichter
beunruhigendes Anliegen führt zur Entstehung des Convivio. Wenn Barbi
(a. a. 0., S. 13) erklärt, daß Dante Beatrice im Convivio zugunsten der Philo-
sophie fallen ließ allein deshalb, weil Beatrice im Convivio dasselbe darstelle
367
ITALIENISCHE LITERATUR
wie in der Vita Nuova, nämlich nur eine »donna«, so muß man fragen, weshalb
im Purgatorio Beatrice dem Dichter vorwirft, mit der Untreue an ihr vom rechten
Weg der Wahrheitssuche abgewichen zu sein, wenn sie nicht schon im Anfang
mehr als nur eine »donna« war. Allerdings ist Beatrice im Convivio noch nicht die
göttliche Weisheit, genau so wenig wie in der Vita nuova, aber sie ist bereits der
Weg dazu, wie Dante in der Vita nuova wohl ahnt. Diese Erkenntnis zugunsten
der Philosophie verlassen zu haben ist Dantes Vergehen, das ihm aber verziehen
wird, weil sein Irrweg zur Philosophie notwendig schien und von ihm selbst über-
wunden wurde. Weil Dante den von Beatrice gewiesenen Weg verkannt hatte,
deshalb wäre seine Bevorzugung der Philosophie im Convivio nicht schon eine
für ihn unmögliche Entscheidung für die Philosophie gegen die Offenbarungs-
wahrheit gewesen, wie Barbi will, sondern Dante sah in der Philosophie eine
Erkenntnismöglichkeit, die ihn auf Grund ihrer rationalen Klarheit weiter-
bringen sollte als das noch undeutliche, nebelhafte Beatrice-Erlebnis der Vita
nuova, das mit größeren Kräften wiederaufzunehmen der Dichter am Schluß des
Jugendwerkes verspricht. Nicht Beatrice als »divina sapienza« verläßt er —
obgleich er diesen Charakter der Vita nuova später klar erkennt, aber auch nicht
Beatrice als bloße »donna« im Sinn des »dolce stil nuovo«, sondern Beatrice als
mystisch-visionäres Erleben, in dem er halb die Wahrheit ahnt, aber nicht zur
Klarheit gelangen kann, ohne vorher den Umweg über die Philosophie zu gehen.
363
DAS »FIORE«-PROBLEM UND DANTES ENTWICKLUNGSGANG
1 Zum Aufbau des Purgatorio und zur Bedeutung der Träume s. H. Rheinfelder,
Drei Purgatorionächte. In: Deutsches Dante-Jahrbuch 27 (1948) S. 81 89.
-
370
LEA, MATELDA UND OISEUSE. ZU DANTE, DIVINA COMMEDIA, PURGATORIO
2 Vgl. H. Gmelin, Kommentar zur »Göttlichen Komödie«, II, Stuttgart 1955, S. 428 ff.
3 »Wenn nun bald darauf Dante im Irdischen Paradies wirklich einer schönen Jung-
frau begegnet, die Blumen pflückend einsam über die Lichtung wandelt, und wenn
ihr Tun fast mit den gleichen Worten wie das Tun der Traumvision geschildert
wird, die sich Lia nannte — so weiß Dante nun (und der Leser mit ihm), daß auch
diese wirkliche Frau, Matelda, das tätige Leben darstellt. Und wenn dann, wie
eine Schwester Mateldas, Beatrice erscheint — was könnte sie anders sein als die
Beschauliche, die durch den Namen Rachel im Traum vorgedeutet war.« (Rhein-
felder, a. a. 0., S. 88 89).
-
4 Genesis 29, 17: »Sed Lia lippis erat oculis; Rachel decora facie, et venusto
aspectu.«
371
ITALIENISCHE LITERATUR
lächelnd in der Frische des Morgens wie eine Verkörperung eines idyl-
lischen Irdischen Paradieses einherschreitende Gestalt vor Augen tritt,
hat Dante wenigstens eine Quelle selber angegeben: die an einem Ort,
da ewiger Frühling herrscht, blumenpflückende Proserpina Ovids, Meta-
morphosen V, 391 ff. 5 . Man könnte für Lea, die Traumpräfiguration
Mateldas, die gleiche Quelle annehmen, wäre nicht das Spiegelmotiv.
Dantes Kunst erweist sich für deren Erklärer stets als ein kostbares,
feines Gewebe, in dem eine Vielzahl von Fäden aus allen Traditionen des
antiken und mittelalterlichen Schrifttums zusammengewirkt sind, im
Purgatorio vielleicht noch mehr als in anderen Teilen der »Göttlichen
Komödie«. Souverän hat er, hierin freilich jahrhundertelangem Brauch
folgend, das Irdische Paradies der Bibel mit den Vorstellungen des
Goldenen Zeitalters und der Elysischen Gefilde verschmolzen und dieses
Vorgehen ebenso souverän eingestanden: Matelda, die Dante das Ir-
dische Paradies erläutert, gibt das Goldene Zeitalter der antiken Dichter
als Vorahnung des Irdischen Paradieses des Christentums aus, und
Virgil und Statius, die mitbetroffenen Begleiter Dantes, lächeln zu-
stimmend 6 .
Zu diesen Bauelementen für das »paradiso terrestre« des Purgatorio
treten Motive des Minnesangs hinzu. Wie subtil Dante hier verfährt,
zeigt etwa der Umstand, daß er den Spiegel Leas mit »specchio« be-
zeichnet, für denjenigen Rachels aber — höchstwahrscheinlich angeregt
von einer berühmten Strophe des Trobadors Bernart von Ventadorn —
den das »miraculum« evozierenden Provenzalismus »miraglio« ver-
wendet 7 . Den Spiegel selber aber in der Hand einer Frau konnte Dante
weder in der Bibel, noch bei Ovid, noch bei den blumenpflückenden
372
LEA, MATELDA UND OISEUSE. ZU DANTE, DIVINA COMMEDIA, PURGATORIO
Damen des Minnesangs und des Dolce stil nuovo finden. Man wende
nicht ein, Frauen mit Spiegel habe Dante jeden Tag beobachten können:
sie pflegen gewöhnlich nicht den Weg zum Paradiese zu eröffnen. Lea
ist Traumgestalt Dantes am Eingang zum Irdischen Paradies, und die
Gestalt, die von ihr präfiguriert wird, Matelda, wird für Dante zur
Führerin im Irdischen Paradies und zu dessen Interpretin. Eine vergleich-
bare Funktion hat, soweit wir sehen, gegenüber einem literarischen
Traumwanderer nur noch die Oiseuse des ersten Teils des Rosenromans
von Guillaume de Lorris.
Das Dichter-Ich des Roman de la Rose gelangt im Traum an die Mauer
des Gartens des Deduit, eines höfisch konzipierten Irdischen Paradieses,
in dem ewiger Frühling, Tanz, Gesang und (im Sinne des Goldenen
Zeitalters) unschuldige Liebe herrschen. Die Pforte wird ihm aufgetan
von Oiseuse, der »Müßigen«, der Allegorie der Freude am Schönen, am
Sich-Schmücken, der Personifikation der paradiesischen Lebenslust im
Lande ewigen Frühlings und harmonischer Geselligkeit im Geiste sünde-
freier Liebe. Oiseuse, nach allen Regeln des mittelalterlichen Deskrip-
tionskanons beschrieben'', erklärt dem Traumbesucher, wie der Garten
des Deduit zustande kam°. Sie ist Traumerscheinung beim Betreten
des Gartens der Lust wie Lea vor dem Betreten des Irdischen Paradieses,
und sie ist Erklärerin des »parevis terrestre« wie die Matelda Dantes.
Sie pflückt im Text keine Blumen, aber sie hat es offensichtlich bereits
getan, denn
Un chapel de roses tot frois
Ot desus le cha pel d'orfrois.
(y. 555 f.)
373
ITALIENISCHE LITERATUR
Es ist nicht eigens gesagt, versteht sich aber von selbst, daß dieser
Spiegel für die sich den ganzen Tag mit der eigenen Schönheit beschäf-
tigende Oiseuse den gleichen Zweck hat wie für Lea:
j. . .] e vo movendo intorno
Le belle mani a farmi una ghirlanda.
(Purg. 27, v. 101 f.)
374
LEA, MATELDA UND OISEUSE. ZU DANTE, DIVINA COMMEDIA, PURGATORIO
375
ITALIENISCHE LITERATUR
Und so wie sich für Dante der Triumphzug der Kirche und die
Allegorie des Greifen ('----- Christus) hier im Irdischen Paradies wunder-
barerweise in den Augen Beatrices spiegeln und ihre Wahrheit offen-
baren 12 so hatte sich für den Amant des Rosenromans das Wesen des
,
12 Milli desiri più che fiamma caldi
Strinsermi gli occhi agli occhi rilucenti
Che pur sopra il grifon stavano saldi.
Come in lo specchio il sol, non altrimenti
La doppia fiera dentro vi raggiava
Or con uni, or con altri reggimenti.
Pensa, lettor, s'io mi maravigliava,
Quanto vedea la cosa in se star queta,
E nell' idolo suo si trasmutava.
(Purg. 31, v. 118 126)
-
376
V. LITERATURGESCHICHTLICHE
ESSAYS
19. Die provinzialische Literatur
In zwei Epochen ihrer langen Geschichte ist die provenzalische Literatur mit überragenden
Leistungen zum Rang der Weltliteratur aufgestiegen : im Mittelalter mit der Dichtung der
trobadors und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts mit dem Werk Frédéric MLSTRALS.
Ihr größter Ruhmestitel wird es stets bleiben, daß ihre Entstehung und erste Blüte zugleich
die Geburt der abendländischen Kunstlyrik und die Schöpfung der in nahezu alle Länder
Europas ausstrahlenden, bis heute wirksamen Kultur des Minnesangs bedeuten. Die eigen-
willig archaisierende Verdeutschung von Liedern der großen Trobadors durch Rudolf BOR-
CHARDT und die Verwendung ihrer Strophenformen im Werk Ezra POUNDS sind Zeichen für
die unverlorene Lebenskraft dieser Dichtung, die selbst noch fürs moderne literarische Be-
wußtsein fruchtbar gemacht werden kann.
Die Bezeichnung »provenzalisch« ist sowohl im Hinblick auf die Sprache wie auf die Literatur
insofern irreführend, als beide nicht auf die Provence beschränkt sind, sondern für das ganze
Gebiet gelten, in dem das vom keltischen Substrat veränderte Vulgärlatein in seiner Entwick-
lung zur romanischen Sprache durch die Westgoten mitbestimmt wurde. Neben der Provence
umfaßt dieses Gebiet auch Languedoc, Limousin, Gascogne, Auvergne, Périgord und Velay.
Vielfach wird deshalb heute die Bezeichnung »occitanisch« vorgezogen (nach der den genannten
Gebieten gemeinsamen Bejahungspartikel oc von lateinisch hoc; lengua d'oc im Gegensatz zur
langue d'oil — von lateinisch hoc ille — des Nordens).
Die Sprache der Trobadors erlaubt keine Rückschlüsse darauf, welcher Teil des provenzalischen
Sprachgebiets als Ursprungsbereich des Minnesangs gelten darf; sie ist eine literarische koinê,
deren sich alle Dichter bedienten, während die neuere provenzalische Literatur bis heute nicht
wieder zu einer einheitlichen Dichtersprache fand.
Auch am Anfang der provenzalischen Literatur stehen, wie bei fast allen neueren Literaturen,
Werke didaktischen und erbaulichen Charakters. Um die Jahrtausendwende entsteht der nur
als Fragment überlieferte Boeci, eine volkssprachliche Boethius-Vita in epischer Form; rund
dreißig Jahre später eine Verslegende vom Martyrium der heiligen Fides. Keine Spur aus jener
frühen Epoche deutet auf die kommende Blütezeit. Wie aus dem Nichts geboren scheinen dem
modernen Betrachter die ältesten überlieferten Minnelieder zu sein, die, um 1100 entstanden,
von WILHELM IX., Graf von Poitiers und Herzog von Aquitanien (1071-1126), stammen. In
der Strophenform noch verhältnismäßig einfach, enthalten die elf überlieferten Lieder dieses
fürstlichen Dichters doch bereits fast alle Elemente der höfischen Minnekonzeption .
Zwei Jahrhunderte hindurch entfaltet und vollendet sich nun eine lyrische Dichtung von
höchster Formkunst, und sie erschöpft sich erst, nachdem sie die aufkeimenden Literaturen
der Nachbarländer entscheidend befruchtet hat. Von den rund 2600 Liedern, die aus diesem
Zeitraum (ca. 1100-1300) erhalten sind, ist ein erheblicher Teil außerhalb Südfrankreichs
entstanden und erstmals vorgetragen worden, weil die Trobadors, fahrende Poeten aus Lust
und aus Not, ihre Reisen häufig bis nach Italien, Spanien und Nordfrankreich reisten und
einzelne sich zeitweilig an den Höfen Portugals und Deutschlands, ja sogar Ungarns auf-
hielten.
Ein halbes Jahrhundert nach der Entstehung des provenzalischen Minnesangs rief das Vorbild
der Trobadors in Nordfrankreich die Dichtung der trouvères auf den Plan. Der Schöpfer des
höfischen Romans, CHRATIEN DE TROYES (ca. 1135-1190), war auch der erste, der Liebes-
kanzonen in der Art der Trobadors dichtete. Selbst der deutsche Minnesang ist, so erfolgreich
er sich auch bemühte, neue Töne anzuschlagen, ohne die Anregung von seiten der Trobadors
und Trouvères, ohne die Entlehnung von Formen und Motiven, ja der Minne-Auffassung
selbst, so wenig vorstellbar wie die sizilianische Dichtung am Hofe Friedrichs II. und die
Poesie des dolce stil nuovo.
Die Trobadors — das Wort ist eine Ableitung von trobar, »finden«, »erfinden«, »dichten« —
führten die strenge Silbenzählung und den obligatorischen Reim in die Dichtung ein, schufen
neue lyrische Gattungen und entwickelten binnen weniger Jahrzehnte eine hohe, fast kultische
Formkunst. Sie entnahmen der Antike, besonders der Dichtung OVIDS, der mittellateinischen
Vagantenpoesie, ja möglicherweise der arabischen Dichtung gewisse Formen und Themen
und stellter. sie, abgewandelt, in den Dienst einer neuen Kunstübung, ja einer neuen Gesittung. 377
DIE PROVENZALISCHE LITERATUR
Aber der Trobador war nicht nur der Dichter, sondern auch der Komponist seiner Lieder,
die er entweder selbst vortrug oder durch einen von ihm unterhaltenen Spielmann (joglar)
vortragen ließ. Text und Musik bilden in seinen Liedern eine unabdingbare Einheit. Gleich-
wohl dürfte der Primat nicht der Musik, sondern dem Text gehört haben, was sich nicht nur
aus den persönlichen, ein hohes Stilbewußtsein bekundenden Äußerungen der Trobadors selbst
erschließen läßt, sondern auch aus der geringen Anzahl der überlieferten Melodien (rund 260).
Auch der Umstand, daß für ganze Gattungen Kontrafaktur, also Übernahme bereits vor-
handener Melodien, die Regel war, spricht eher gegen als für ein Vorwalten der Musik.
Was nun die Themen der Trobadordichtung betrifft, so paraphrasierte diese nicht nur eine
veredelte, eigenen Gesetzen unterstehende Form der Liebe, sondern sublimierte im zentralen
Begriff der »Höfischkeit«, der cortesia, die Lebensnormen der Feudalgesellschaft zu einem
Ideal menschlichen Verhaltens: Dem Sinnesleben sollte ein gewisser Zwang auferlegt, zugleich
aber soweit Spielraum verstattet werden, daß es im Prozeß individueller und gesellschaftlicher
Verfeinerung als Antriebskraft wirksam werden konnte. »Cortesia non es als mas mesura«
(»HOfischkeil ist nichts anderes als Maß«), so verkündete der Trobador FOLQUET DE MARSELHA
(1160-1231). Cortesia schloß, als Inbegriff des vollendeten »Maßes«, alle Tugenden ein; sie
war die Schule der äußeren und inneren Vervollkommnung. Ihre Quelle war die Liebe, eine
Liebe, deren erstes Gebot es war, sich der verehrten Frau würdig zu erweisen.
Die Wirkung dieser, ein ganz neues Lebensideal verkündenden Dichtung war so nachhaltig,
daß Dichter fremder Zunge sich des Provenzalischen bedienten. Von den rund 450 uns mit
Namen bekannten Trobadors sind 25 Italiener und 15 Katalanen. Der Umstand, daß uns
Gedichte auch von 20 weiblichen Autoren überliefert sind, zeigt deutlich, daß es bei diesem
>>Minnedienst« weniger um eine sehr reale persönliche Erfahrung als um eine ästhetische
Lebenslehre ging, die für alle dem adligen Stand Angehörigen verbindlich sein wollte.
Wenn andererseits die Trobadors selbst aus allen Schichten, aus dem Volk wie aus dem Ritter-
tum, aus dem Klerus wie aus dem Bürgertum, hervorgehen konnten, mußte sich bei ihnen auch
ein eigenes dichterisches Standesbewußtsein entwickeln, das seine Legitimation einmal aus
dem Gefühl, zum hohen Dienst an der Kunst berufen zu sein, zum andern aus der Über-
zeugung, Verkünder eines neuen Menschenideals zu sein, herleitete. Dementsprechend erfreute
sich der Trobador einer Wertschätzung, die ihn aller sozialen Diskriminierung enthob. Ein
manchmal bis zur Verschwendung gehendes Mäzenatentum auch an kleineren Höfen sicherte
ihm Auskommen und Ruhm. Zahlreiche Angehörige des Hochadels begnügten sich nicht
damit, die Trobadors zu fördern und sie zeitweilig in ihre Dienste zu nehmen, sondern ver-
suchten sich als ehrgeizige Amateure selbst am Minnesang, als Gleiche unter Gleichen mit
den Berufsdichtern wetteifernd.
Die Trobadordichtung ist eindeutig aristokratisch-höfisch orientiert, wobei freilich die Be-
handlung der zentralen Themen der Minne, des Adels, der höfischen Tugenden, des Stils, bei
aufmerksamer Betrachtung leicht erkennen läßt, aus welchen gesellschaftlichen und persön-
lichen Konflikten diese Dichtung ihre wesentlichen, auf eine ideale Harmonisierung gerichteten
Impulse empfängt. So erklärt sich auch das Paradoxon der höfischen Liebe, das seinen über-
zeitlichen Geltungsanspruch im Begriff des »ritterlichen« und »höflichen« Verhaltens noch
heute dokumentiert, aus dem grundlegenden Spannungsverhältnis zwischen Begehren und
Unerfülltheit, dessen Wirkung veredelnd und charakterbildend ist oder wenigstens in diesem
Sinne verstanden wird. Ja, die fina amor, die höfische Minne, gilt sogar als eine Liebe, bei der
auf Erfüllung bewußt verzichtet wird, weil diese das Ende der Anspannung aller geistigen und
sittlichen Kräfte bedeuten müßte. Sie ist daher - paradoxerweise - stets die Liebe zur Frau
eines anderen, ist als soziales Phänomen erwachsen aus der Huldigung für die »Herrin«, die
»Dame« (von lat. domina), die Frau des Lehnsherrn. Der deutsche Ausdruck »Verherrlichung«,
der die Haltung der Sänger der Minne treffend charakterisiert, weist noch eindeutiger auf die
soziologische Voraussetzung dieser Dichtung zurück als das provenzalische domneiar (Herrin-
nendienst leisten). Wenn scheinbar zwischen Frauendienst und Marienkult gewisse Analogien
bestehen, so gehen sie auf die der ganzen Epoche gemeinsamen, wesentlich von der kirchlichen
Bildungssprache beeinflußten Denk- und Ausdrucksformen zurück. Ein genetischer Zu-
sammenhang in dem Sinne, daß der Minnesang als eine Art verweltlichter Marienverehrung
verstanden werden könnte, läßt sich nicht aufweisen, zumal die Identifizierung der höfischen
»Herrin« mit der Gottesmutter erst bei den späten Trobadors anzutreffen ist.
HEINE, ROSTAND, CAR.DUCCI) fasziniert. Von jener läßt sich eine »realistische« Richtung unter-
scheiden: Sie setzt mit dem originellen Satiriker MARCABRU (ca. 1130-1150) und seiner sowohl
aus christlichem Rigorismus wie aus einer naturrechtlichen Ethik gespeisten Kritik an einer
Dichtung ein, die nunmehr als eine Poesie des idealisierten Ehebruchs scharf verurteilt wird.
Die für die Liebesdichtung der Trobadors grundlegende Antithese zwischen normativer,
»bildender« Minnetheorie und individuellem Affekt sublimiert sich bei BERNART DE VENTADORN
(ca. 1150-1180) zu einer vollkommenen Übereinstimmung von Form und Gefühl, und insofern
darf dieser Dichter als der »authentischste« Sänger der Minne gelten. RAimBiurr D'AURENGA
(ca. 1150-1175) treibt in intransigent-aristokratischer Stilgesinnung das trobar chis, den eso-
terischen, dunklen Stil, bis zur äußersten Grenze exklusiver Schwerverständlichkeit, während
GUIRAUT DE BORNELH (ca. 1165-1200) als Gegner des dunklen Stils die Theorie der höfischen
Minne und ihre Hauptthemen immer wieder durchleuchtet, BERTRAN DE BORN (ca. 1140-1210)
in seinen kraftvollen politischen Rügeliedern der im engeren Sinne feudal-gesellschaftlichen
Problematik Ausdruck verleiht, PEIRE CARDINAL (ca. 1225-1270) die geistige und politische
Erschütterung nach den Albigenserkriegen mit seinen satirischen Gedichten artikuliert. Der
gebürtige Italiener SORDEL (ca. 1225-1270) und GUILHEM DE MONTANHAGOL (ca. 1230-1260)
wiederum beginnen die höfische Minne in einer Weise zu spiritualisieren, die auf die Dichtung
des doke stil nuovo und auf DANTE vorausweist.
Dem hierarchisch-feudalen Menschen- und Weltbild der Trobadors entsprach ihre Stil-
gesinnung, die sich sowohl in der fortlaufenden Diskussion über die Berechtigung »hermetisch«.
esoterischen Dichtens wie in der zunehmenden Differenzierung der lyrischen Gattungen be-
kundet. Als höchste, allein für den obersten Dichterrang qualifizierende, hohen Stil, originale
und vollendete Form heischende Gattung galt die Kanzone, deren einziges Thema übrigens
das der Liebe war. Für die Minnekasuistik und Diskussion von Fragen höfischen Verhaltens
war das Streitgedicht (tenzone und joc partit), für politische, moralische und persönliche
Satire das Sirventes bestimmt. Tagelied (alba) - den Abschied eines Liebespaares bei Morgen-
grauen besingend - und Pastorela - mit dem Grundthema der Liebeswerbung eines Ritters
um eine Hirtin - sind Liedgattungen, die auf paradigmatische Situationen entweder der
höfischen oder aber der »niederen« Liebe festgelegt sind. Es erklärt sich wohl aus den Folgen
der Albigenserkriege (1209-1229), dem Verlust der politischen Unabhängigkeit des Südens,
dem Rückgang des höfischen Mäzenatentums und der Erschöpfung einer an sich schon be-
grenzten Thematik und Formenkunst, daß die Trobadorpoesie provenzalischer Sprache um
1300 in die keiner überragenden Leistung mehr fähige, im Formalistischen erstarrende Reim-
kunst des städtischen Bürgertums (Zentrum Toulouse) einmündete; und dies trotz der ver-
zweifelten Bemühungen der späten Trobadors, vor allem des »letzten« Trobadors, GUIRAUT
RIQUIER (1254-1282), die epigonal gewordenen dichterischen Traditionen zu neuer Blüte zu
führen.
Auch die schmale epische Tradition der occitanischen Dichtung, die mit dem Artusroman
Jaufre und dem kasuistisch-psychologischen Liebesroman Flamenca den Anschluß an die in-
zwischen aufgeblühte, große höfische Literatur Nordfrankreichs gefunden hatte, sollte, wie
die besonders im 13. Jahrhundert gepflegte didaktische Literatur ständisch-höfischen Charak-
ters, bald wieder abbrechen. In demselben Maße, in dem die französische Sprache unter der
politischen Vorherrschaft des Nordens an literarischem Prestige gewinnt, sinkt die provenzali-
sehe Dichtung auf das Niveau einer Literatur von bloß lokaler Wirkung und Bedeutung herab.
Diese Provinzialisierung währt Jahrhunderte; dichterische Qualitäten sind höchstens der
religiösen Literatur, vor allem den Weihnachtsspielen, und der sich im 16. Jahrhundert ent-
faltenden gascognischen Literatur zuzusprechen. Bis ins 19. Jahrhundert hinein gilt das Pro-
venzalische selbst seinen Verteidigern als ein nur für die leichteren poetischen Gattungen
taugliches Ausdrucksmittel, das einer gemeinsamen, das heißt nicht in Dialekte aufgesplitterten
Literatur nicht einmal bedarf.
Zweite Blüte
Erst der Romantik und ihrer Wiederentdeckung des Mittelalters ist es zu danken, daß man
sich von neuem auf die große Vergangenheit zu besinnen und von neuem auch der Kultur des
Südens als einer eigenständigen Spielart der lateinisch-mittelmeerländischen Zivilisation inne-
zuwerden beginnt. 1852 gibt der begabte und unermüdlich für heimische Sprache und heimi-
sches Volkstum kämpfende Joseph ROUMANILLE eine Anthologie provenzalischer Dichter
(Li prouvençalo) heraus, deren von dem Universitätsprofessor Saint-René taillandiet ver-
faßtes Vorwort die historische und wissenschaftliche Rechtfertigung der Erneuerungsbestre-
bungen enthält. Da Dichterkongresse in Arles und in Aix das Problem einer gemeinsamen
Orthographie nicht zu lösen vermögen und der Einheitsgedanke an unvereinbaren Sonder-
interessen regionaler wie auch politischer Natur scheitert, schließen sich 1854 die Dichter von
Avignon und Umgebung zum Bund des »Félibrige« zusammen. Von dieser Gruppe, der neben 379
DIE PROVENZALISCHE LITERATUR
ROUMANILLE und anderen die hochtalentierten Lyriker Theodore AUBANEL (1829-1886) und
Anselme MATHIEU angehören und die sich in dem bis heute existierenden >Provenzalischen
Almanach< ein einflußreiches Publikationsorgan schuf, gehen die entscheidenden Impulse für
die Renaissance der provenzalischen Dichtung aus. Mit dem Werk des überragenden Geistes
und leidenschaftlichen Wortführers dieser Gruppe, Frederic MISTRAL (1830-1914), erfolgt
der Durchbruch zur Weltliteratur, namentlich in dem Epos Mirdio (1859), dem vollendeten
Beispiel jener dichterischen Synthese von literarischer Tradition, volkstümlichem Geist und
Empfinden, klassischem Stilgefühl und moderner Ausdruckssprache, wie sie auch sonst Mistrals
episches und lyrisches Werk charakterisiert.
Die im »Félibrige« zusammengeschlossenen Dichter haben kraft der künstlerischen Qualität
ihrer Werke für den Ruhm der modernen provenzalischen Literatur und für das Bewußtsein
einer eigenständigen Kultur mehr getan als jede andere regionale Gruppenbildung des occi-
tanischen Sprachraums. Die meisten bedeutenderen Schriftsteller der folgenden Generation,
von Charles Ritu (1846-1924), Felix GRAS (1844-1901) und Jean-Henri FABRE (1823-1915)
über Valere BERNARD (1860-1936) bis zu Joseph D'ARBAUD (1874-1950), dem wohl legitimsten
unter den Erben Mistrals, stehen im Bannkreis der großen Beginner. Der Versuch des Fé-
librige, den Dialekt von Saint-Rémy zu der verbindlichen Literatursprache zu erheben,
mußte indessen auf die Dauer scheitern. Über dieser Streitfrage liegt seit Jahren ein Tabu,
das freilich bis jetzt die literarische Produktion eher begünstigt als behindert zu haben scheint -
jedenfalls in quantitativer Hinsicht. Ob die provenzalische Sprache und ihre Literatur ihren
in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts neu eroberten Rang werden behaupten können,
oder ob sie trotz des Eifers ihrer Verfechter und trotz ihrer Förderung durch den französischen
Staat wieder zu bloß regional-folldoristischer Bedeutung herabsinken werden, wie nicht wenige
pessimistische Stimmen voraussagen: das kann erst die Zukunft erweisen.
380
20. Die französische Literatur
Wer sich über das Wesen des »französischen Geistes« klarzuwerden sucht, braucht zunächst
nur die französische Literatur zu befragen. Denn diese Literatur nimmt im Kulturbild der
Nation eindeutig eine Vorrangstellung ein, die sie weniger ihren einzelnen Gipfelleistungen
verdankt, als ihrem im Lauf der Geschichte immer wieder manifest gewordenen und bis heute
sichtbar gebliebenen Modellcharakter — Modellcharakter in mehrfachem Sinne: dem der
Priorität, dem der Anverwandlung und Ausstrahlung einer Vielfalt an literarischen Formen
und Stilen, dem des Bewußtseins von der Verantwortlichkeit des Schriftstellers vor der Ge-
sellschaft, und schließlich im Sinne des Begriffs der Literatur selbst als der Einheit aller sprach-
lichen Kundgebungen, des Schrifttums in jeglicher Gestalt, in dem der Geist seinen Anspruch
in die Öffentlichkeit trägt.
Zeitlicher Vorsprung
Unter den romanischen Literaturen ist die französische die erstgeborene. Die französische
Sprache hat sich am schnellsten und am weitesten vom Latein entfernt und konnte somit
schon früher als andere, verwandte Sprachen dem Bedürfnis nach einer Literatur gerecht
werden, die keine Kenntnis des Lateins vorauszusetzen hatte. Wieviel ihr dabei auch an
Stoffen, Motiven und Formen aus der antiken Tradition, dem Mittellatein, der keltischen
Mythologie, ja der arabischen Dichtung zugeflossen sein mochte: alle diese Elemente sind in
Frankreich in etwas völlig Neuem aufgegangen, und die Entstehung der volkssprachlichen
Literatur erscheint dem über die Jahrhunderte zurückschweifenden Blick wie eine creatio
ex nihilo.
Frankreich war es jedenfalls, wo die Geschichte der großen mittelalterlichen Heldenepik
wie auch diejenige des Romans in Vers und Prosa begann. Das altfranzösische Heldenepos,
die chanson dé geste, setzte — nach nicht erhaltenen und deshalb strittigen Vorstufen — um 1100
sogleich mit seiner großartigsten Leistung ein, der Chanson de Roland ( Rolandslied), in der
die Idee der Universalität von Christenheit und Kaisertum, das Ethos der Kreuzzüge, das
kriegerische Menschenideal der vorhöfischen Feudalgesellschaft sowie die früheste Form des
Nationalbewußtseins zu einer nie wieder erreichten Synthese gediehen sind.
Ihr Zustandekommen läßt sich nur aus der vollendeten Auswertung aller künstlerischen
Möglichkeiten erklären, die einer noch auf ein =gebildetes Publikum angewiesenen, an me-
morierenden Gesangsvortrag gebundenen und noch alle Stände ansprechenden Dichtung
damals beschieden waren. Der höfische Versroman erlangte bei seinem Schöpfer CHRÉTIEN
DE TROYES (ca. 1135-1190) bereits seine endgültige Gestalt und fand seine großen, die höfisch-
ritterliche Dichtung Europas noch jahrhundertelang faszinierenden, die Forschung bis heute
erregenden Themen: Artusritterschaft sowie Aventure und Gral noch bei Chrétien selbst, den
Tristanstoff bei dem Anglonormannen THOMAS. Ja, die höfisch-ritterliche Welt ist in Frank-
reich und im französisch sprechenden England erstmals zum Bewußtsein ihrer geschichtlichen
Rolle und zum reifen literarischen Ausdruck ihrer idealen Selbstauslegung gelangt.
Daneben bildeten die französischen Trouvères, nach dem Vorbild der provenzalischen Tro-
badors, die für Jahrhunderte gültige Formensprache des Minnesangs aus. Es war, als hätten
die Völker des Abendlandes auf die Literatur des hochmittelalterlichen Frankreichs wie auf
die Mündigkeitserklärung ihrer eigenen Dichtung gewartet. Die Pariser Universität wurde
zum Zentrum der Theologie und Philosophie des Mittelalters. Sie ist gewiß — um nur die
größten »Ausländer« zu nennen — ohne den Deutschen ALBERTUS MAGNUS (1193-1280) und die
Italiener THomits VON AQUIN (1224/25-1274) und BONAVENTURA (1221-1274), ohne den von
den Arabern vermittelten AlusrcrrELEs (384-322 v. Chr.) und ohne AUGUSTINUS (354-430), ihrer
aller Wirkung aufs westliche Abendland, aber auch ohne Paris nicht zu denken. Neben der
lateinischen — oder ins Lateinische übersetzten — Philosophie wurde hier aber auch die rö-
mische Dichtkunst rezipiert: am beliebtesten, und nicht nur in Gelehrtenzirkeln, Ovm (dessen
Ars amatoria als erster CHRÉTIEN DE TROYES übersetzte). Die »Renaissance des 12. Jahr-
hunderts« wurde geradezu als ein »Zeitalter Ovids« bezeichnet. Auch sie trug, wie vor ihr
schon die sogenannte »Karolingische Renaissance«, nicht wenig dazu bei, die Kontinuität des
antiken Kulturerbes aufrechtzuerhalten. Die großen Mönchsorden als Erzieher der Feudal-
welt, die Kunststile der Romantik und Gotik, geistige Bewegungen wie Scholastik und Mystik,
aber auch Einzelschulen wie der Averroismus und endlich eschatologische Häresien wie die- 381
DIE FRANZÖSISCHE LITERATUR
jenige des JOACHIM FLORENSIS (ca. 1135-1202): das alles sammelte auf französischem Boden
seine abendländische Stoßkraft.
Während der - einen beispiellosen geistigen und künstlerischen Aufschwung verheißende -
i talienische Renaissance-Humanismus von der Gegenreformation zu formalistischen Aus-
flüchten gezwungen oder gar erstickt wurde, während die gleiche Gegenreformation in ihrem
Kernland Spanien dagegen das Goldene Zeitalter seiner Literatur heraufführen half, be-
reitete Frankreich, nach Abkehr von seiner eigenen Renaissanceliteratur, das zweite große
Zeitalter seiner Weltgeltung vor. Rund zwei Jahrhunderte lang prägten die französische
Klassik und ihre normative Ästhetik das Gesicht der »offiziellen« nationalen Literaturen.
Sogar ihre Abwehr durfte sich überall auf die Reaktion des französischen Geistes selbst
berufen. LESSING (1729-1781) bekämpfte die Herrschaft des zum Zwangskorsett gewordenen
französischen Klassizismus in Deutschland, indem er die nicht geringsten seiner Argumente
dem Werk DIDEROTS (1713-1784) entnahm. Die Aufklärung, nach einem berühmten Wort
KANTS der »Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit«, schmiedete
ihre schärfsten geistigen Waffen in dem Land, dessen große Revolution zum Fanal für das
ganze Abendland werden und das Bewußtsein von den unveräußerlichen Menschenrechten
für alle Folgezeit befestigen sollte.
Die französische Romantik, gespeist aus Rousseauismus, Auflehnung gegen Institutions-
und Regelzwang von seiten des Ancien Régime und der Klassik, aus deutschen Einflüssen
und aus dem bei Dichtern wie Victor HUGO (1802-1885) zu programmatischer Klarheit
gediehenen Gefühl, im Bereich der Literatur die Revolution nachvollziehen zu müssen, ent-
band bei dieser Literatur selbst die Kräfte, die, zum Unterschied etwa von Deutschland, der
Gefahr einer selbstgefälligen Vereinzelung des Individuums erfolgreich entgegenwirkten. Sie
nötigte sie zur Auseinandersetzung mit der modernen bürgerlichen Industriegesellschaft,
deren brutale kapitalistische Anfänge durch das Bündnis mit der Restauration das Land uni
alle Früchte seiner Opfer und Wagnisse zu bringen drohte. Später »unecht« und unverbind-
lich geworden, wurde die Romantik vom Realismus und Naturalismus assimiliert und zu-
letzt überwunden, wiederum der sonstigen europäischen Entwicklung voraus. Erstaunlicher-
weise war es von allen literarischen Gattungen die Lyrik, die, alles andere als »realistisch«,
mit BAUDELAIRE (1821-1867) aus der neuen Erfahrung der Großstadt und der Masse heraus
als erste den Schritt zur modernité vollzog.
Der Kreis der Nationalliteraturen, die die Entwicklung der Formen, Stile und Themen der
abendländischen Literatur bestimmen, hat sich im 19. und 20. Jahrhundert erheblich erwei-
tert. Die französische Literatur aber hat ihre Fähigkeit, die vorgeschobensten Positionen zu
beziehen und die aktuellste geschichtliche Situation künstlerisch zu artikulieren, bis heute
nicht verloren. Die von Symbolismus, Surrealismus und Verslibrismus geschaffenen Aus-
drucksmittel sind integrierender Bestandteil der modernen Dichtung geworden. Die französi-
sche Bühne, so lebendig wie je, ist heute noch immer die Stätte der Bewahrung klassischen
Bildungsguts und Schauplatz der kühnsten und bestürzendsten Experimente zugleich. Die
Kunst des »Neuen Romans« repräsentiert - so wenig Endgültiges sich über das Gelingen
seiner Absichten jetzt schon sagen läßt - die denkbar kritischste und radikalste Auflehnung
gegen die große Überlieferung der für die bürgerliche Gesellschaft so charakteristischen
Gattung des Romans. Aber gerade die Schärfe ihres Protests ist Beweis noch für die Lebens-
kraft des angeblich Antiquierten.
französischen Monarchie, der so früh den feudaled Partikularismus zugunsten der natio-
nalen Einheit überwinden sollte, hatte die Konzentration der hervorragendsten Köpfe zur
Folge. Die Napoleonische Ära mit ihrer straffen Vereinheitlichung von Verwaltung und Er-
ziehungswesen und die Republik, die nur kraft der gleichen Zentralisierung der Gewalten
ihren Feinden zu widerstehen vermochte, konnten diese Tendenz nur verstärken.
Wir haben es in Frankreich also mit einer geschichtlich bedingten, allmählich zur »Natur«
gewordenen Konstante zu tun, die immer wieder die Vergesellschaftung der Literatur er-
zwingt und damit auch deren aufregende Aktualität bewirkt. Nicht zufällig ist hier die Ge-
schichte der Literatur so unlösbar mit höfischen Mittelpunkten, hauptstädtischen Salons und
Cénacles verknüpft. Provinzielle Gruppenbildungen und Salons, wie die Lyoneser Dichter-
schule um Maurice SCÈVE im 16. Jahrhundert oder der Salon der Mme. de STAEL in Coppet,
blieben seit dem Mittelalter, das auch bürgerliche Dichterschulen in den auf blühenden
Provinzstädten kannte, Episoden. Wo wir derjenigen literarischen oder vielmehr im Fall
bedeutender Schriftsteller zur Literatur gewordenen Form begegnen, die räumliche Distanz
voraussetzt, nämlich der des persönlichen Briefs, drängt sich uns die Vermutung auf, daß
Schreiber oder Adressat zufällig auf Reisen oder aber in die Provinz verbannt war - eine
Vermutung, angesichts der Briefe der Mme. de SÉVIGNA (1626-1696) nicht weniger begründet
als im Hinblick auf jene FLAUBERTS (1821-1880). 383
DIE FRANZÖSISCHE LITERATUR
Sehen wir in diesem Zusammenhang von der Briefform als einem Mittel künstlerischer Dar-
stellung ab, wie es in Frankreich und anderswo der Briefroman des 18. Jahrhunderts ent-
wickelte (in den Liaisons dangereuses von CHODERLOS DE LACLOS, 1741-1803, dient sie ge-
radezu als Medium der Verführungs- oder vielmehr Korruptionsstrategie): seit PASCALS
Kampfschrift gegen die Jesuiten, den Lettres provinciales, wird sie zum Mittel der Publi-
zistik, zum Vehikel auch der Moral- und Gesellschaftskritik, von dem später die Aufklärer,
voran MONTESQUIEU (Lettres persanes), VOLTAIRE (Lettres philosophiques oder Lettres
anglaises) und ROUSSEAU (Lettre à d' Alembert, Lettres écrites de la montagne), einen überaus
wirkungsvollen Gebrauch machen. Stets bleiben solche »Briefe« Teil eines lautlosen, noch so
einseitig geführten Zwiegesprächs — des wortmächtigen Einzelnen mit der Gesellschaft.
Und die Gesellschaft ihrerseits antwortet, indem sie die vom Schriftsteller aufgeworfenen,
ihr gleichsam zugeworfenen Probleme öffentlich diskutiert. Autor und Gesellschaft also
begegnen sich in der »Sache«, und eben um der Sache willen sind sie zu gleichen Teilen
»betroffen«, sind sie stets aufeinander angewiesen.
Gewiß fehlt es nicht an Vertretern der Gegenposition, aber auch deren scheinbar antisoziale
Haltung gilt selten der Gesellschaft an sich. Wenn etwa ROUSSEAU (1712-1778) einer »ver-
derbten« Kultur das Idealbild des natürlichen, stadt- und zivilisationsfremden Einzelmenschen
gegenüberstellt, so deshalb, weil er an eine bessere Gesellschaft der Zukunft glaubt. Auch die
Bewegung des l'art pour l'art wendet sich primär nicht prinzipiell gegen die Gesellschaft als
solche, sondern nur gegen den utilitaristischen Mißbrauch der Kunst durch eine bestimmte
Gesellschaft. FLAUBERT leugnet bei seinem freiwilligen Rückzug in ein provinzielles Asketen-
dasein niemals dessen wahre Ursache ab, die permanente Provokation durch die bêtise
bourgeoise. DIDEROT hatte in einem Anflug von Pessimismus einmal den Schriftsteller-
Philosophen mit einem Flötenspieler verglichen, den die Menschen »mit Vergnügen oder
Verachtung anhören und trotzdem bleiben, was sie sind«. STENDHAL (1783-1842) widmet
seinen größten Roman »to the happy few« und charakterisiert seine Epoche als ein Zeitalter
der Hypokrisie. Die Schule des l'art pour l'art, FLAUBERT, die GONCOURTS zerschneiden in
geradezu beleidigender Form das Band zu einem Publikum, das eine sie immer wieder ent-
täuschende, von falscher Moral triefende, vom Gedanken ans Geld besessene Gesellschaft
repräsentiert, und doch machten sich die großen Realisten unverdrossen an die kritische,
von den modernen wissenschaftlichen Methoden inspirierte Analyse dieser Gesellschaft.
BAUDELAIRE geißelt in grimmiger Ironie die in der Entfremdung von Schriftsteller und
Publikum sichtbar werdende Selbstentfremdung des beginnenden Industriezeitalters, indem
er sich selber mit dem Leser identifiziert: »Hypocrite lecteur — mon semblable —, mon frère/«
Gesellschaftskritischer Alctualismus ist ein Grundzug auch der modernen französischen
Literatur, bei ihren illusionslosen Zeitanalytikern nicht weniger als bei ihren aktivistischen
»Engagierten«. Bei einem Marcel PROUST (1871-1922), dem nichts ferner lag als die Ab-
sicht eines Eingreifens und »Veränderns«, bestimmt sich die Kunst, der Gesellschaft das
Urteil sprechend, als einziges Mittel zur Behebung des heillosen Kommunikationsverlustes
zwischen Mensch und Mensch.
Nach alledem nimmt es auch kaum wunder, daß die »Stillen im Lande« in Frankreich alle-
zeit selten gewesen sind. Die authentische Poesie der Einsamkeit, die aus der Not der Ver-
einzelung fast eine Tugend macht, gedeiht hier schlecht. Selbst die Romantik hat die Ver-
einsamung des Individuums nur mit dem beständigen Blick auf deren Publikum verklärt. Sie
wirkt daher oft posenhaft, kann aber nur demjenigen unecht scheinen, der die Realität
— und poetische Realisierbarkeit — zweifelhafter Gefühle leugnet. In Madame Bovary sind
diese Ambivalenz und ihre kritische Durchleuchtung zum Gegenstand höchster Kunst er-
hoben. Wenn FLAUBERTS berühmte Romanheldin aus der Enge ihrer Verbannung immer
wieder in eine romantisch verklärte gesellschaftliche Welt auszubrechen sucht, so erscheint
sie geradezu als Empörerin gegen ein Schicksal, dem sich umgekehrt Flauberts passiver
Held der Éducation sentimentale resigniert unterwirft. Wo in der französischen Literatur des
19. und 20. Jahrhunderts das Thema der Verbannung auftaucht, handelt es sich keineswegs
immer um eine Vertreibung im politischen Sinn, sondern um einen im Lande selbst erfahre-
nen Leidenszustand, dem ein Konflikt zwischen Individuum und Gesellschaft zugrunde liegt.
Einsamkeit wird als unverständliche Strafe des Schicksals empfunden — wie in CHATEAU-
BRIANDS René (1805) — oder als Folge eines Verbrechens, das die böswillig-materialistische
Gesellschaft gerade an dem begabten Individuum begeht — so in VIGNYS Chatterton (1835).
Die französische Romantik hat niemals das Erbe der vielverlästerten Aufklärung und der
Revolution preisgegeben. Sie hat daher, anders als die entpolitisierte, »verinnerlichte« deut-
sche Romantik, die Revolte sowohl im sozialen und politischen wie im metaphysischen
Sinne (siehe CAMUS' L'homme révolté) lebendig erhalten und ihre Fackel weitergereicht.
Soweit von einer Flucht in die Innerlichkeit und in die Vergangenheit die Rede sein kann,
machte sie auf halbem Wege halt. Zwischen VOLTAIRES mutigem Eingreifen in die Affäre
384 Calas und ZOLAS unerschrockenem Artikel J'accuse, der, das Gewissen der Zeit wachrüttelnd,
DIE FRANZÖSISCHE LITERATUR
die Wendung im Dreyfus-Prozeß brachte, klafft keine Lücke. »Engagierte« Literatur kennt
Frankreich lang, bevor SARTRE ihr den Namen gab. Im Zeichen der Revolte gegen Gesell-
schaftsordnung, Natur, Gott begegnen sich Aufklärung, Romantik, Symbolismus, Sur-
realismus und Moderne, begegnet sich der Marquis de SADE mit NERVAL (1808-1855),
VIGNY (1797-1863), BAUDELAIRE (1821-1867), RIMBAUD (1854-1891), LAUTRÉAMONT (1846
bis 1870) und CAMUS (1913-1960). Prometheus, Luzifer, Kain, ja Christus selbst werden zu
Verkörperungen der von einem grausam-blinden Geschick mißhandelten Menschheit.
Bei seiner Auseinandersetzung mit der Gesellschaft und den in ihr herrschenden Mächten
darf freilich der französische Schriftsteller im allgemeinen auf eine andere Resonanz zählen
als etwa der deutsche. Geht er einmal von der in seinem Werk immanenten Kritik zur offenen,
unvermittelten Stellungnahme über, so wird dieses weder als »unkünstlerisch« gebrandmarkt
noch als »Irrweg« verharmlost, sondern als humane Gewissensäußerung der Nation ernst
genommen. Die ästhetische Bewertung eines literarischen Werks fragt nicht nach einer
»Zeitlosigkeit«, die dem Verzicht auf »Tendenz« und Aktualität gleichkäme. Der »Poesie«-
Begriff deckt noch heute die lyrische Form — und nur diese.
Der Aktualismus der französischen Literatur, das Bedürfnis des Lesers gerade nach diesem
Aktualismus, die Auffassung der Literatur als der berufenen Trägerin der »öffentlichen
Meinung« (der deutsche Ausdruck ist Lehnübersetzung aus dem Französischen): dies alles
gehört zum unverlierbaren Erbgut des 18. Jahrhunderts. Literarische Zeitschriften sind lang-
lebiger, die Buchbesprechungen in Tages- und Wochenzeitungen ausführlicher und inter-
essanter als überall sonst, und weder die »Dichter« noch die Akademiker scheuen sich, in
die »Niederungen« der journalistischen Publizistik hinabzusteigen.
Das gesellschaftskritische Element war bereits in mehreren Einzelgattungen der mittelalter-
lichen Literatur Frankreichs scharf ausgeprägt, darunter dem Tierepos ( Roman de Renart),
den fabliaux und den Farcen. Aber es begnügte sich noch damit, als einfacher — oft schonungs-
loser — »Ständespiegel« zu figurieren, als Satire sub specie aeternitatis, die nicht ernstlich an
einer angeblich naturgegebenen Hierarchie rüttelte. Lediglich in den von JEAN DE MEUNG
verfaßten Partien des Roman de la rose stellt — noch im 13. Jahrhundert — ein Radikalismus
averroistisch-häretischer Prägung die gesamte Stände- und Weltordnung in Frage. Auch die
Utopien des 16. und 17. Jahrhunderts sind, trotz der humanistisch-erasmischen Erneuerungs-
hoffnung, wie sie etwa in der von RABELAIS entworfenen Idealabtei Thelema Gestalt ange-
nommen hat, mehr in der Vorstellungswelt vom Goldenen Zeitalter angesiedelt als im Bereich
konkreter Zukunftserwartungen. Auf dem Höhepunkt der klassischen Dichtung und des
absolutistischen Staats unter Ludwig XIV. (1643-1715) bricht der große Moralist LA
BRUYÈRE (1645-1696) in die Klage aus, daß »einem Autor, der Christ und Franzose ist, die Be-
handlung aller großen Fragen versagt und ihm nur über Geringfügiges zu schreiben« möglich sei.
Derselbe La Bruyère hat freilich, wie BOILEAU (1636-1711), der »Gesetzgeber« der klassischen
Dichtung, und wie RACINE (1639-1699), ihr Vollender auf dem Theater, in der »Querelle des
anciens et des modernes« auf der Seite derjenigen gestanden, die in den dichterischen Schöp-
fungen der Antike ein ebenso unerreichbares wie stets nachzuahmendes Vorbild erblickten.
Aber er sah noch nicht, daß in diesem Literaturstreit sich der Geltungsanspruch neuer Denk-
weisen und neuer Formen zum Wort meldete, daß hier der Begriff des Fortschritts wenn nicht
zur Idee entwickelt, so doch erstmals eben als Begriff in die öffentliche Debatte geworfen
wurde. Einer der entschiedensten und wortmächtigsten Fürsprecher der »Modernen« und
ihrer Überlegenheit, FONTENELLE (1657-1757), ist neben Pierre BAYLE (1647-1706), dem
hochgelehrten Vorläufer der Enzyldopädisten, der einflußreichste Vertreter der Frühauf-
klärung, der als erster konsequent die jüngsten Erkenntnisse der Wissenschaft dem im Ver-
lauf des 17. Jahrhunderts aus Adel und Bürgertum, /a cour et la ville, hervorgegangenen
Publikum von Gebildeten zugänglich machte und somit den Weg einschlug, auf dem die Auf-
klärer ihr Ziel, den menschlichen Geist aus den dunklen Bereichen der Vorurteile und Dogmen
zum Licht (»Aufklärung« französisch: siècle des lumières) zu führen, verfolgen sollten.
Die Aufklärer wollten Schriftsteller und Philosophen zugleich sein. Diese durch die größten
unter ihnen — MONTESQUIEU, VOLTAIRE, DIDEROT, D'ALEMBERT glänzend repräsentierte, für
-
die ganze Epoche vorbildhafte Personalunion entspringt dem unverzagten Willen, die neu-
gewonnene Einsicht in die Veränderlichkeit der Gesellschaft und den Glauben an die Perfek-
tibilität des Menschen mit Hilfe philosophischer, historischer und naturwissenschaftlicher
Erkenntnisse für die Schaffung einer vorurteilsfreien, toleranten und menschenwürdigen
Gesellschaft fruchtbar zu machen. Die Überzeugung von der zugleich universalen und aktu-
ellen Aufgabe des Schriftstellers und von der objektiven Notwendigkeit, die Mitwelt mit den
Ideen der Aufklärung zu durchdringen, hat ihren monumentalen Ausdruck in der Gemein-
schaftstat der französischen Encyclopédie (1751-1772) gefunden. Die französische Literatur
hat im 18. Jahrhundert den ganzen Tiefenraum der Gesellschaft durchmessen, hat aktuali-
stisch auf deren Geschick eingewirkt und sich für alle Folgezeit das unbestrittene Recht auf
kritische Stellungnahme zu allen Erscheinungen des öffentlichen Lebens gesichert. 385
DIE FRANZÖSISCHE LITERATUR
Der Anspruch des Romans im 19. Jahrhundert, die zeitgenössische Gesellschaft in ihrer
Totalität zu erfassen und ihr Wesen kritisch, erbarmungslos kritisch bloßzulegen, ist ohne
jenen Vorgang nicht zu verstehen. STENDHAL will mit Le rouge et le noir (1830) die »Chronik«
seiner Epoche schreiben, BALZAC mit der Comédie humaine (1842-1848) der »Historiker«
der Gesellschaft seiner Zeit sein. Der Realismus, für den die Geschichte stets offen, die Ge-
sellschaft in dynamischer, allerdings meist pessimistisch gesehener Entwicklung begriffen ist,
verwirft die traditionelle Romanstruktur als das künstlerische Spiegelbild einer Scheinwahr-
heit. Der »Neue Roman« unserer Tage sucht, sich polemisch gegen den Realismus wendend
und ihn letztlich doch, nach FLAUBERT und PROUST, in gewissem Sinne weiterführend, wo
nicht gar überbietend, im äußersten Mißtrauen gegen die Fiktion eines seiner Geschicke
mächtigen Menschen noch die letzten Überreste der Fabel selbst zu zerstören.
Aus dem Bedürfnis des Lesepublikums, die Totalität der Gesellschaft kritisch dargestellt und
selbst ihre disparatesten Elemente in der ganzen Vielfalt ihrer Wechselbeziehungen zu einem
Gesamtbild vereinigt zu sehen, dürfte sich auch die Häufigkeit des Zyldenromans in Frank-
reich erklären. Waren die großen Vers- und Prosazyklen des Mittelalters idealisierende
Projektionen des zum Bewußtsein seiner geschichtlichen Führungsrolle und seiner Kultur-
aufgabe gelangenden, im Verfall sich schließlich selbst bespiegelnden Ritterstandes gewesen,
so waren die heroisch-galanten Mammutromane des 17. Jahrhunderts, im wesentlichen zur
Bekämpfung des ennui bestimmt, weniger Abbilder als Wunschbilder einer Welt, die noch und
nur von einem in Wahrheit funktionslos gewordenen Adel ihr Gepräge empfing. Und dürfen
die umfänglicheren unter den Romanen des 18. Jahrhunderts zum großen Teil als konfes-
sionshafte Bemühungen des einzelnen gelten, ein von Natur her unveräußerliches Eigenrecht
gegen die alte Gesellschaft zu verfechten, so sucht der Zyldenroman BALZACS (1799-1850)
und ZOLAS (1840-1902), aber auch derjenige Jules ROMAINS' (geb. 1885), DUHAMELS (geb.
1884), Romain ROLLANDS (1866-1944), Roger MARTIN DU GARDS (1881-1958) und PROUSTS
(1871-1922) von vornherein die Totalität der Gesellschaft mit dem Blick zu umspannen, und
das selbst da, wo deren Wesen, scheinbar ganz subjektiv, nur im Bewußtsein weniger einzelner
reflektiert wird.
Die Aufklärung, der die Literatur als Instrument zu einer Veränderung des Denkens und
der Gesellschaftsordnung galt, war überzeugt gewesen, daß die Sprache der Vernunft auch für
die Dichtung maßgeblich und verbindlich war. Der Mathematiker und Philosoph D'ALEM-
BERT durfte mit der Zustimmung vieler seiner Zeitgenossen rechnen, als er schrieb, es gebe
nichts, was sich nicht besser in Prosa als in Versen ausdrücken ließe. Demgemäß war auch
die Lyrik des 18. Jahrhunderts eine, wie man mit Recht gesagt hat, poésie sans poésie, keiner
neuen Impulse mehr fähig. Damals wurde eine tiefe Kluft zwischen Vers- und Prosakunst
aufgerissen, die bis heute nicht ganz überbrückt ist (auch wenn das Prosagedicht von BAUDE-
LAIRE bis SAINT-JOHN PERSE neben dem modernen Verslibrismus als ein — in seiner Art origi-
neller und bedeutsamer — Versuch gelten darf, eine prosaisch gewordene Welt zu poetisieren
und also Poesie und Prosa in einer »modernen« Eigengattung von neuem zu versöhnen).
Wenn aber Verfall und Vermischung der alten poetischen Gattungen und der Einbruch neuer
Gattungen nicht aufzuhalten waren — ein Prozeß, in dem sich die Auflösung des Ancien
Régime spiegelt —, so bleibt doch selbst in der zeitgenössischen Ästhetik und Poetik die Vor-
herrschaft der Vernunft nicht unangefochten. In seinen Reflexions critiques sur la poésie et
la peinture hatte der Abbé DUBOS bereits 1719 im sentiment einen sechsten Sinn entdeckt
und ihn zur wichtigsten ästhetischen Instanz erklärt, was — wie E. Cassirer meinte — einer
Überwindung DESCARTES' durch NEWTON gleichkam. Die Vernünftigkeit des Geschmacks-
urteils wurde also dem Gefühl des Individuums unterstellt oder vielmehr daraus abgeleitet —
daraus und nicht mehr aus einer ihm scheinbar übergeordneten ästhetischen Gesetzlichkeit.
Das Genie, noch im 17. Jahrhundert als »sublimierte Räson« mit der perfekten Einhaltung
der Regeln identisch, wird wieder, was es in der Renaissance gewesen war: Inbegriff des
schöpferischen, sich jeder Reglementierung souverän entziehenden Menschen. Die Einbil-
dungskraft, von MONTAIGNE als Defekt des Geistes, von PASCAL als mitschuldig an der falschen
Selbsteinschätzung des Menschen denunziert, von der Klassik als Prinzip der Verführung
zum Unwirklich-Romanesken bekämpft, wird vornehmlich bei DIDEROT und ROUSSEAU und
gleichzeitig im Einklang mit englischen und deutschen Theorien wieder zum Grundvermögen
des Genies.
Aber nicht nur im Zeitalter der Aufklärung lief neben dem Strom literarischen Schaffens ein
solcher der Reflexion über Sinn, Zweck, Technik und Wirkungsweise der Dichtung, ihre Stil-
und Gattungsprobleme, ihr Verhältnis zur Wirklichkeit und dergleichen her. Es gehört sogar
zu den Eigentümlichkeiten der französischen Literatur, daß hier, von den ersten Trobadors
386 bis zu den Autoren unserer Tage, in sehr viel höherem Grade als anderswo, die Dichter und
DIE FRANZÖSISCHE LITERATUR
»schöngeistigen« Schriftsteller selbst sich theoretisch über Art und Sinn ihrer Bemühungen
Rechenschaft abzulegen suchten. Zweifellos ist ihren Äußerungen häufig ein doktrinärer Zug
eigen, der sich bei näherem Zusehen meistens als Folge polemischer Auseinandersetzung mit
vorausgehenden Theorien oder herrschender Praxis erklären läßt, wie auch die leidenschaft-
liche Reaktion auf die jeweils herrschenden Verhältnisse sie oftmals zu zugespitzten Formu-
lierungen oder gar Formeln verführt haben mochte. Immer von neuem wurde jedenfalls von
den Autoren selbst der Versuch unternommen, gültige Maßstäbe zu errichten und Regeln
für ihre Anwendung zu fixieren.
Schon die Poetik- und Rhetoriktraktate des Mittelalters, ob lateinisch oder volkssprachlich
abgefaßt, sind samt und sonders normativ-didaktischer Natur. Sie lehren, wie Dichtung
»gemacht« wird, gemacht werden soll. Normativ und doktrinär in einem umfassenderen, um
die eigentlich ästhetische Problematik erweiterten Sinn ist die Poetik des 17. Jahrhunderts.
Ihre nach der Freizügigkeit der Renaissanceliteratur zunächst befremdliche Strenge wird uns
dann begreiflich, wenn man einen Seitenblick auf die allgemeine geschichtliche Entwicklung
wirft.
Die brudermörderischen Glaubenskämpfe des 16. Jahrhunderts hatten in allen Kreisen und
Schichten der Bevölkerung ein verstärktes Verlangen nach Ordnung und Sicherheit geweckt,
und eben dieses Verlangen nutzte Richelieu entschlossen als die psychologische Chance nicht
nur für die Befestigung der königlichen Zentralgewalt, sondern für die Einführung des Abso-
lutismus. Die gleichen Dichter, Grammatiker und Gelehrten, die mit der sprachlichen und
literarischen Tradition des 16. Jahrhunderts zugunsten von Ordnung und Klarheit brachen,
wurden willige Helfer des großen Kardinals, dessen Kulturpolitik 1635 in der Gründung der
Académie Française gipfelte. Was zunächst nur zweckmäßig oder opportun war, wurde in
den adligen Salons, voran demjenigen der Marquise de Rambouillet, der die Keimzelle der
Akademie wie des Preziösentums bildete, für die Umgestaltung einer ganzen Gesellschaft
fruchtbar gemacht: die sprachlichen Disziplinarmaßnahmen von MALHERBE (1555-1628) und
VAUGELAS (1585-1650) nicht weniger als die in Honoré D'URFÉS (1567-1625) Schäferroman
Astrée propagierten Umgangsformen. Hier kam es auch nach dem faszinierenden Vorbild von
CASTIGLIONES (1478-1529) II cortegiano (Der Hofmann) zur Ausprägung eines neuen mensch-
lichen Idealtyps, des honnête homme, ausgezeichnet durch eine von aller Affektiertheit freie,
zur Natur gewordene Kunst des Redens und Benehmens, vollendete Rücksichtnahme und
Höflichkeit und ausschließliche Verwendung jener von den Kritikern geforderten Sprache des
bon usage.
Auf Jahrzehnte zielte die Stoßkraft politischen Herrscherwillens in die gleiche Richtung wie
die Triebkraft der gesellschaftlichen und geistigen Entwicklung. Ludwig XIV., der ein Mäze-
natentum größten Stils über die Grenzen seines Reichs ausdehnen sollte, fand bei seinem
Regierungsantritt einen bereits domestizierten Adel vor, den er für den Verlust des politischen
Mitspracherechts durch eine glänzende höfische Statistenrolle entschädigte. Bei dem einstigen
Frondeur LA ROCHEFOUCAULD (1613-1680) wandelte sich gescheiterter politischer in litera-
rischen Ehrgeiz, aus dem heraus ihm eine stilistisch brillante Analyse menschlichenWesens
gelingt. Ein pessimistisches Menschenbild, nicht ohne Zusammenhang mit demjenigen der
Jansenisten, ist die Kehrseite des glänzenden Bildes, wie es Staat und Gesellschaft bieten.
Wer im Gefüge der von diesem gespiegelten Ordnung den ihm zugewiesenen Standort verläßt,
verfällt — wie in den Komödien MOLIÜRES tödlicher Lächerlichkeit, denn er verstößt zugleich
-
gegen die rationale Gesetzlichkeit einer höheren Ordnung, der der ewig gleichbleibenden
Natur, aus der jene andere ihren eigenen Sinn, ihr eigenes Recht herleitet. Auch beim einzelnen
kann und muß, wie DESCARTES' vielgelesener Traktat Les passions de l'âme verkündet, der stets
aufbegehrende, keine Grenze respektierende Trieb vom räsongeleiteten Willen gemeistert
werden.
Und das gleiche gilt für die Literatur. »Aimez donc la raison«— fordert der Kartesianer BOILEAU
(1636-1711). Im Namen von raison, bon sens, vérité, vraisemblance und bienséance werden in
seinem Art poétique die Regeln für Stil und Inhalt der Einzelgattungen wie für die Metrik
fixiert, werden Zensuren verteilt und fünf Jahrhunderte französischer Dichtung verdammt.
ARISTOTELES und HORAZ sind die Gewährsleute für Boileau, gesehen durch die Brille der italieni-
schen Kommentatoren und gemessen am rationalen Ordnungsbegriff der eigenen Zeit. Die
italienischen Theoretiker hatten die deskriptive Poetik des Aristoteles als eine normative ge-
deutet und nur zu ergänzen versucht. Die französische Klassik treibt dieses Mißverständnis
auf die Spitze. Sie macht die drei Einheiten des Orts, der Zeit und der Handlung für das
Drama zur Regel: daher die eigentümliche Struktur der klassischen Tragödie, die Strenge
ihres Aufbaus, das Beengte ihrer nur dank vertiefter Psychologie und verdichteter Dialog-
führung »wahrscheinlich« anmutenden Konflikte und Peripetien. Die Werke CORNEILLES
(1606-1684) und RACINES (1639-1699) repräsentieren nicht nur zwei große individuelle
Schöpfungen der französischen Klassik, sondern auch zwei Abschnitte ihrer geschichtlichen
Entfaltung. Beide orientieren sich an der Antike. Corneille eliminiert allerdings den antiken 387
DIE FRANZÖSISCHE LITERATUR
Schicksalsglauben zugunsten einer Freiheit des Willens, die dem verstaatlichten Menschen in
einem vermenschlichten Staat wieder Eigenrecht zu erwirken vermag. Die Gestalten Racines
hingegen gehen angesichts einer verhängnisvollen Leidenschaft an der Ohnmacht gerade ihres
Willens zugrunde, und sie müssen zugrunde gehen, weil jene Leidenschaft etwas von der Un-
erbittlichkeit des antiken Schicksals, der Gnadenlosigkeit des jansenistischen Gottes an sich
hat und es in einer keinen »staatsfreien« Raum, kein Außenseitertum duldenden Lebens-
ordnung nicht die Möglichkeit eines Ausweichens gibt. Der Protest des Individuums gegen
diese Lebensordnung wiederum bezeugte sich in einer Rechtfertigung, wo nicht Glorifizierung
der Leidenschaft: zunächst nicht in einem der unablässig den Konflikt raison - passion,
esprit - coeur abwandelnden Bühnenwerke oder Traktate, sondern in den - auch von RILKE
übersetzten - anonymen Portugiesischen Briefen (Lettres portugaises), die lange der portu-
giesischen Nonne Mariana Alcoforado (1640-1723) zugeschrieben worden waren, und in den
Schriften des Moralisten VAUVENARGUES (1715-1747).
Gelenkte Sprachentwicklung
Die französische Literatur des 17. Jahrhunderts wäre jedoch niemals zur »klassischen« ge-
worden, wäre nicht die Sprache in jener Zeit einem durchgreifenden Wandlungsprozeß unter-
legen, genauer gesagt : unterworfen worden, denn die Sprache der klassischen Epoche, die das
Französische entscheidend geprägt hat und das allgemeine Urteil über seinen Charakter noch
heute mitbestimmt, ist keine volkstümliche, naturhaft gewachsene, sondern ist eine »von oben«
her, von Grammatikern, von gebildeten Aristokraten und Bürgern und großen Schriftstellern
geschaffene Sprache. Ihre einzelnen Merkmale lassen auch noch etwas von der Stärke der
Einwirkungen erkennen, die das höfische Machtzentrum des Landes, fordernd und prägend,
auf sie ausübte: die Klarheit, Verständlichkeit, Gefälligkeit, Reinheit, Präzision, Nüchternheit,
Geschmeidigkeit ihrer Diktion und nicht zuletzt ihr allen zugänglicher Wortschatz. Diese
Sprache ist das Produkt einer Elite, die sich in der hochkultivierten Art des Sprechens und
Schreibens und in dem sie voraussetzenden »guten Geschmack« selbst erkennt, und sie wird,
getragen von der Bedeutung ihrer Literatur und von den Ideen der Aufklärung, für lange Zeit
zur europäischen Bildungssprache schlechthin. Sie hat die große Revolution nicht bloß über-
lebt, sondern ist dank dieser Revolution für das ganze Volk zum maßgeblichen Ausdrucksidiom
geworden, und dies nicht trotz, sondern infolge ihrer syntaktischen Strenge.
Sprachliche Zucht ist in Frankreich, was anderswo nur selten der Fall ist, fast selbstverständlich.
Man übertreibt nicht mit der Feststellung, daß auch der französische Durchschnittsliterat
einen ungleich besseren Stil schreibt als sein auf dem gleichen Niveau stehender Geistesbruder
in anderen Ländern. Dem engeren Verhältnis von Gesellschaft und Literatur entspricht in
Frankreich gleichzeitig ein vertieftes Sprachbewußtsein, Sprach-Verantwortungsbewußtsein,
und das bereits seit dem 17. Jahrhundert, dem jeder Leben oder Welt betreffende Gedanke
erst dann als verbindlich erschien, wenn er von einer durchreflektierten und stets erneut auf
die Probe gestellten Sprache Körper und Gestalt empfangen hatte. Ohne Wahrheit, Logik,
Ordnung und Klarheit war Schönheit nicht zu denken. Der beau désordre, in dem das 18. Jahr-
hundert eine neue irrationale, nur dem »sensiblen« Menschen zugängliche Schönheit ent-
deckte, beriihrte nicht die Struktur der Sprache selbst. DESCARTES' Discours de la méthode (1637)
gab dem sprachlichen Erziehungswerk der Grammatiker und der Dichter die philosophische
Weihe. Er gehört bis heute zum Grundbestand der Schullektüre.
Aus dem Bisherigen wird bereits deutlich geworden sein, wie eng das Geschick der französi-
schen Sprache mit der politischen Geschichte des Landes verflochten ist. Von Anfang an ent-
scheidend für ihre Entwicklung war die frühzeitige Gewinnung der nationalen Einheit.Während
in Italien das Toskanische, dank des Prestiges seiner überragenden Literatur (DANTE, PETRARCA
und BoccAcco), bald alle anderen Dialekte überflügelte, in Spanien das Kastilische sich mit der
vom Norden nach Süden verlaufenden Reconquista, der Rückeroberung der von den Arabern
beherrschten Gebiete, durchsetzte, verdankt die Mundart der He de France ihren Aufstieg zur
Nationalsprache der zentralistischen Machtpolitik der französischen Monarchie. An der
Literatur des 12. Jahrhunderts hat das Franzische, der Dialekt der He de France, noch kaum
Anteil. Die großen Dichter schreiben in pikardischer, champagnischer und anglonormanni-
scher Mundart. Bereits um 1200 aber klagt der Trouvère CoNoN DE BeHurNE darüber, daß er
am königlichen Hof seiner pilcardischen Mundart wegen getadelt worden sei. Und die hier
offenbar sich anbahnende Entwicklung wird abgeschlossen, als im Jahre 1540 das Französische
durch Franz' I. Ordonnanz von Villers-Cotterets zur Gerichtssprache für das ganze Reich
erhoben wird: Nun waren das Latein wie das Südfranzösische ausgeschaltet.
Mit dem Aufkommen des Humanismus war auch in Frankreich das Problem einer eigentlichen
Nationalsprache wieder akut geworden. Die Bestrebungen, dem Französischen und seiner
388 Literatur einen sowohl dem Italienischen wie dem Latein ebenbürtigen Rang zu verschaffen,
DIE FRANZÖSISCHE LITERATUR
führten nicht nur zur Abkehr von der eigenen - mittelalterlichen - Tradition, sondern zur
bewußten Bereicherung der heimischen Sprache, deren Programm in der berühmten Défense
et illustration de la langue française (1549) von Du BELLAY formuliert wurde. Die Klassik
jedoch, voran deren erster Lehrmeister MALHERBE (1555-1628), merzte die Mehrzahl von
Archaismen, Latinismen, Italianismen, Fachausdrücken und vor allem Dialektwörtern wieder
aus und zog erstmals aus dem schon im 13. Jahrhundert einsetzenden Verfall der Zweikasus-
flexion die volle Konsequenz für eine streng geregelte Syntax (Grundregel: Subjekt - Prädikat -
Objekt). Man vergleiche eine Seite aus dem Roman La princesse de Clèves der Mme. de
LAFAYETTE (1634-1693) mit einer Seite aus dem Werk von RABELAIS (1494-1553), um zu er-
messen, welchen Wandlungsprozeß das Französische in rund hundert Jahren durchlaufen hat.
Hier die strengste sprachliche Disziplin, dort noch die sprachliche Orgie. Was das Französische
an Kraft, Volkstümlichkeit, Reichtum des Wortschatzes, Anschaulichkeit, Freiheit der Satz-
bildung und Wortbildung verloren hat, das hat es an Präzision, an begrifflicher Durchsichtig-
keit, Flüssigkeit, Regelmäßigkeit und Eleganz gewonnen. Diese Eigenschaften, deren es auch
dann nicht verlustig ging, als es die strenge Vorschrift der Klassik gelockert oder, wie in der
Romantik, sogar widerrufen hatte, sind die Ursachen für seinen europäischen Primat und
seine noch heute bestehende Anziehungskraft. Bereits im Mittelalter hatte der Italiener
BRUNETTO LATINI, der Lehrer DANTES , ein enzyklopädisches Werk in französischer Sprache ab-
gefaßt, weil sie die »angenehmste und allen Leuten geläufigste« sei. Aus den gleich en Gründen
hatte Marco PoLo (1254-1324) seinen berühmten Reisebericht französisch diktiert. lm 18. Jahr-
hundert ist Französisch die zweite - wenn nicht sogar die erste - Sprache der gesamten euro-
päischen Bildungs- und Oberschicht. (Auch heute sind es gewiß nicht nur äußere Gründe,
die »Ausländer« wie IoNEsco und BECKETT zur Wahl des Französischen als der ihren künst-
lerischen Absichten gemäßesten Ausdruckssprache bewogen haben.)
Damals hatte die Berliner Akademie die Preisfrage stellen können (1782), was das Französische
zur europäischen Universalsprache gemacht habe und wodurch es diesenVorrang verdiene.
Gekrönt wurde zwei Jahre später RIVAROLS Schrift De l'universalité de la langue française,
die den berühmten Satz enthält: »Was nicht klar ist, ist nicht französisch.« (»Ce qui n'est
pas clair, n'est pas français.«) Rivarol (1753-1801) hätte als Franzose des 18. Jahrhunderts
die gleiche Formel auch auf den esprit, den goût und auf die gleiche formale Perfektion der
französischen Literatur anwenden und damit ebensoviel Wahres wie Einseitiges sagen können.
Erst als die Romantik sich allgemein gegen die »Seelenlosigkeit« des aufklärerischen Ratio-
nalismus verwahrte, wurde im Ausland das Prestige der französischen Sprache in Frage ge-
stellt. Das bewußte Streben nach Perfektion der künstlerischen Form wurde nun plötzlich als
Formalismus gebrandmarkt, die Klarheit als Beweis für mangelnde Tiefe angesehen. Aber
wenn Formalismus und Oberflächlichkeit für den um Form und Klarheit bemühten Geist
natürlicherweise eine gewisse Versuchung bedeuten, so läuft anderswo der auf formlose Tiefe
Bedachte Gefahr, einer in ihrer Art nicht weniger seichten Unklarheit zu verfallen. Die über-
ragenden künstlerischen Leistungen beruhen hier wie dort allein auf einer echten Synthese
von Gestalt und Gehalt.
Wenn jedenfalls die französische Literatur, dem Geist ihrer Sprache und dem ihrer Tradition
getreu, die Klarheit einer bis ins letzte durchgebildeten Form zur ersten Vorbedingung für ein
Schaffen erhebt, dem selbst das Dunkelste, Leidenschaftlichste, Tiefsinnigste nicht fremd zu
bleiben braucht, so hat sie nicht zuletzt damit einen unverwechselbaren, ja exemplarischer)
Beitrag zur Weltliteratur geleistet. Denn was, fragt, alle Zweifel und Vorbehalte beschwichti-
gend, PAUL VALÉRY — » Was gibt es Geheimnisvolleres als die Klarheit?«
Literaturhinweise
A. Bibliographien und Lexika
R. Bossuat, Manual bibliographique de la littérature française au moyen-âge, Melun 1951.
A. Cioranescu, Bibliographie de la littérature française du 16e siècle, Paris 1959.
Ders., Bibliographie de la littérature française du 17e siècle, 3 Bde., Paris 1965/66.
Ders., Bibliographie de la littérature française du 18e siècle, Paris 1969 ff.
Dictionnaire des lettres françaises, Paris 1954ff.
O. Klapp (Hg.), Bibliographie der französischen Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M. 1956ff.
H. Talvart u. J. Place, Bibliographie des auteurs modernes de la langue française, Paris 1930ff.
B. Woledge, Bibliographie des romans et nouvelles en prose antérieurs ii 1500, Genf 1954.
B. Literaturgeschichte
A. Adam, Histoire de la littérature française au XVIIe siècle, Paris 1962.
J. Bédier u. P. Hazard, Histoire de la littérature française illustrée, Paris 1948.
Ch. Beuchat, Histoire du naturalisme français, 2 Bde., Paris 1949.
A. Billy (Hg.), Histoire de la vie littéraire, Paris 1945ff.
P. de Boisdeffre, Histoire de la littérature contemporaine 1900-1962, Paris 1963.
Ders., Une histoire vivante de la littérature d'aujourd'hui 1938-1964, Paris 1964. 389
Drucknachweise
I. Provenzalische Literatur
1. Die Rolle des niederen Rittertums bei der Entstehung der Trobador-
lyrilc
Erschienen in: Cahiers de Civilisation Médiévale VII (1964),
S. 27-40.
3. No sai qui s'es — No sai que s'es (Wilhelm IX. von Poitiers und
Raimbaut von Orange)
Erschienen in: Mélanges de Linguistique romane et de Philologie
médiévale offerts à M. Maurice Delbouille. 2 Bde. Bd. II: Philo-
logie médiévale. Gembloux: Ed. J. Duculot 1964.
391
DRUCKNACHWEISE
6. Zur Diskussion über die Einheit von Chrestiens »Li Contes del
Graal«
Erschienen in: Zeitschrift für romanische Philologie 75 (1959),
S. 523-539.
392
DRUCKNACHWEISE
13. »Je ne sais quoi«. Ein Kapitel aus der Begriffs geschichte des Unbe-
greiflichen
Erschienen in: Romanistisches Jahrbuch 6 (1953/54), S. 21 59.
-
14. Ritterliche Welt und »villano«. Bemerkungen zum »Cuente del en-
perador Carlos Maynes e de la enperatris Seuilla«
Erschienen in: Romanistisches Jahrbuch 12 (1961), S. 229 241 -
393
DRUCKNACHWEISE
V. Literaturgeschichtliche Essasys
Danksagung
Der Verlag dankt dem Aula Verlag Wiesbaden und dem Kindler Verlag München
für die freundliche Unterstützung bei der Drucklegung des Werkes.
394
Die Aufsätze, Essays und Vorträge, die in diesem Band vereinigt
sind, behandeln Werke der französischen, provenzalischen, italieni-
schen und spanischen Literatur. Das Mittelalter ist mit der Dich-
tung der Trobadors, dem Rosenroman und Dante ebenso vertreten
wie die Renaissance mit Rabelais, das Goldene Zeitalter Spaniens
mit Cervantes, das 18. Jahrhundert mit dem Abl) Prvost, das
19. Jahrhundert mit Balzac und Flaubert und die Moderne mit Saint-
John Perse. So mannigfaltig wie die Gegenstände und Epochen sind
die literarhistorischen Fragestellungen. Neben Motivuntersuchun-
gen stehen bedeutungsgeschichtliche Aufsätze, neben Studien zur
Struktur literarischer Gattungen solche zu bedeutsamen Themen
der Weltliteratur und Essays über unausschöpfbare Werke wie Pr&
vosts -Marion Lescaut- und Flauberts »üducation sentimentale«.
Die in den meisten Aufsätzen angewandte historisch-soziologische
Methode erweist hier ihre Fruchtbarkeit für das Einzelproblem wie
für die Interpretation des Gesamtwerks, für die Erklärung des Mo-
tiv- und des Bedeutungswandels wie für die klassische Frage nach
der Entstehung der Minnedichtung.