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Zwischenraums
Der Schleier als Medium
und Metapher
Herausgegeben von
Johannes Endres, Barbara Wittmann
und Gerhard Wolf
Sorzderdmck
Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
JOHANNES ENDREs
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
MARY PARDO
Die Venus von Urløino verschleiern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . _ .
N1coLA SUTHOR
››Triumph, über das Auge, des Blicks<<.
Der opake Schleier in Jacques Lacans Bildtheorie . . . . . . . . . . _
UWE C. STEINER
Enthüllung zur Unzeit. Die Gegenwart des Schleiers und die
verschleierte Gegenwart bei Botho Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . .
]oHANNEs ENDRES
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
PATRICIA OSTER
Der Textschleier im Bild: Petrarca und Simone Martini . . . . _ _
FRANK FEHRENBACH
Veli sopra veli. Leonardo und die Schleier . . . . . . . . . . . . . . . . .
MAXIMILIAN BERGENGRUEN
Das Unsichtbare in der Schrift. Zur magischen Texttheorie
des Paracelsismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
DANIEL FULDA
›Der Wahrheit Schleier aus der Hand der Dichtung<.
Textilmetaphern als Vehikel und Reflexionsmedium ästhetisch-
Wissenschaftlicher Transferenzen um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . .
INHALT
NIKE BATZNER
Himmlisches Gewebe. Zu den Mosaiken des Chora-Klosters
in Istanbul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . _ .
JEANETTE KoHL
Schleier. Hülle. Schwelle. Verrocchios Bildstrategien . . . . . . .
DETLEE THIEL
Die Illusionen der Isis. Schleier zwischen Kant und Derrida .
GEoRGEs DIDI-HUBERMAN
Bewegende Bewegungen: Die Schleier der Ninfa nach
Aby Warburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
]osEI>I¬I IMoRDE
Schleier aus dem Nichts. Materialisationsphänomene und
ihre Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
RALPH UBL
Giorgio de Chirico: Exkarnation und Filiation der Malerei _ .
Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
NIcoLA SUTI-IoR
1 Die Sammlung des Parrbasios. Eine Installation von Susanne Weiricb, gezeigt in Galerie Vor-
setzen, Lichtschacht, Hamburg 21. Mai- 4. Juli 1992. Weiterführende Literatur zu Weirich vgl.
Weirich (1999).
»TRIUMPI-I, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS.. 37
Das Kunstexempel des Parrhasios liegt nicht in der Angleichung des Bildes an
die Natur. Diese mimetische Leistung, für welche Zeuxis' Kunst als beispiel-
haft gilt, täuscht vor allem die Natur selbst, wie der Psychoanalytiker Jacques
Lacan in seinem Exkurs über den antiken Künstlerwettstreit in seinem Semi-
naire XI hervorhebt. Die Demonstration der illusionären Kraft - der Legende
nach flogen Vögel auf Zeuxis Stilleben, um an ihm zu picken - führt dieses
Kunstexempel auf seine natürliche Täuschungsfunktion (leurre) zurück. Wäh-
rend demnach das Kunstexempel des Zeuxis als ein anlockender Köder (proie)
funktioniert, produziere allein der Schleier des Parrhasios einen trompe-
l”oez'l-Effekt, der strukturell auf einer ganz anderen Ebene den Blick - und zwar
den des Menschen - in die Falle gehen lässt, denn: ››Die Malerei eines Schlei-
ers stellt etwas her, jenseits dessen der Mensch zu sehen verlangt.«2 Das
menschliche Auge, dessen Funktion nicht allein instinktiv, sondern auch - und
das ist die entscheidende Differenz - reflexiv ist, und also nicht triebgesteuert
quasi automatisch in die Falle tappt, sieht sich viel eher durch ein Versprechen
getäuscht, das sein Begehren weckt über das Zusehengegebene hinaus auf et-
was Dahinterliegendes.
Die Szene des Agons, wie sie Lacan ausmalt, orientiert sich eng an der an-
tiken Quelle: die die berühmtesten antiken Künstlerlegenden überliefernde
Natur/eunde des Plinius. Hier gesteht Zeuxis seine Niederlage wie folgt ein:
››[...] als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm [Parrhasios] in aufrichtiger Be-
schämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber
ihn als Künstler habe täuschen kÖnnen.« Dass schließlich sein eigener künst-
lerischer Hochmut Zeuxis in die Falle eines Bildes hat gehen lassen, welches
auf den ersten Blick nichts als das bloße Versprechen eines anderen Bildes zu
bieten hatte, ist die Ironie der Geschichte. Bei Plinius heißt es, der »stolze Zeu-
2 »Mais l'exemple opposé de Parrhasios rend clair qu,à vouloir tromper un homme, ce qu”on lui
présente c”est la peinture d'un voile, c›est-à-dire de quelque chose au-delà de quoi il demande à
voir<<; Lacan (1973), S. 102.
38 NICOLA SUTHOR
xis« habe verlangt, ››man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das
Bild zeigen.<<3 Parrhasios' listige Berechnung der ungeduldigen Erwartung auf
Seiten seines Gegners, den Sieg aus der Kompetition fortzutragen, beschämt
schließlich den Blick des Zeuxis. Auf die Spezifik der Situation des Agon be-
zogen, bedient sich Parrhasios der List der Vorspiegelung falscher Tatsachen
als Kunstprinzip, wenn er das narzisstische Begehren der Selbstbestätigung
mit einem beschämend nichtigen Bild quasi ins Nichts stößt. Statt mit einem
täuschend echten Traubenstilleben a la Zeuxis, wird dieser mit einem schlich-
ten Vorhang als Bildmotiv konfrontiert, das dem Auge faktisch nichts zu prä-
sentieren scheint. Der agonale Blick, der von dem Wunsch gesteuert ist, dass
das Bild des Gegners sich als defizitär, wenn nicht gar als ›Nichts< im Vergleich
zu seinem Meisterstück entpuppt, wird durch diese treffende Adressierung
bloßgelegt. Die Ungeduld des Zeuxis drängt auf die Anerkennung, auf den
Besitz des entscheidenden surplus, das im Agon auf dem Spiel steht und ihm
symbolisch allein über die Selbstbespiegelung im Anderen bestätigt werden
kann. Der vom Narzissmus motivierte, von Ruhmsucht verblendete Blick des
Zeuxis verfängt sich in der Hinterhältigkeit des Vorhangmotivs. Als ironische
Pointe eines Künstlerwettstreits hält das von Parrhasios gewählte Bildsujet
›Nichts< in der Hinterhand und führt also allein den völligen Entzug an er-
warteter mimetischer Repräsentation, der erst den Wunsch zu sehen offen legt,
als illusionistisches Kunststück vor. Der Triumph über Zeuxis (››Parrhasios'
triomplae de lui«), der sich in dessen entlarvender, da den Sachverhalt verken-
nender Aufforderung: ››Nun und etztzeige du uns, was du dahinter gemacht
hast<<, artikuliert,4 bringt Lacan auf die sprechende Formulierung: ››Triomphe,
sur l'oeil, du regard«.5 Die deutsche Übersetzung »Triumph des Blicks über
das Auge« ist jedoch insofern vereinfachend, als die Logik der Geschichte eher
››Triumph, vermittels des Auges, über den Blick« nahe zu legen scheint, und
also die Bestimmung des Genitivs (subjectivus oder oløjectifvus) besser offen-
gelassen werden sollte, solange nicht klar ist, welcher Blick hier eigentlich tri-
umphiert.
Kommen wir auf Susanne Weirichs Installation zurück. Können wir hier in
der Inszenierung eine Instanz ausmachen, die über den Blick des Betrachters,
dessen Auge gefesselt auf die leeren F ensteröffnungen starrt, triumphiert? Die-
begreifen: die ››Nussschale<<, die sich in der treibenden Dose merkwürdig ge-
spiegelt sieht, die Befremdung des Außenstehenden, der sich in -einer natur-
belassenen Lebenswelt baden will, sich durch dieses Zeugnis der Industriali-
sierung edochaus dem Boot geworfen sieht, der Moment der Erbeutung der
Fische als der Augenblick, in welchem er selbst in die Fänge dieses Blickes ge-
rät, der über den Blickfang Sardinenbüchse hinter ebendieser zu imaginieren
ISII.
7 »Le tableau, certes, est dans mon oeil. Mais, moi, je suis dans le tableau«; ebd., S. 89. Vgl. hier-
zu den Artikel von Gondek (1997).
»TRIUMPI-I, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 41
den,8 da sie der geheime Fixpunkt des Begehrens ist.9 Signifikanterweise be-
zeichnet Lacan in der Anekdote, die die Blickfunktion illustrieren soll, die Sar-
dinendose als ››flottierend<<,1° der Fixierung des Blicks also entgleitend. Im vi-
suellen Feld ergreifen wir nicht die Dinge mit unserem Blick, sondern sind viel
eher von ihnen, von ihrer ihnen eigenen Blickmächtigkeit ergriffen. Die dy-
namis, die den Wahrnehmungsakt anstößt, scheint also von außen, vom Ge-
genstand her zu kommen, während wir unter dem befremdenden Blick, der
von den Dingen geworfen scheint, zum Bild erstarren bzw. in diesem Bild ››une
tache« (Fleck) bilden. Ich werde auf die merkwürdige Formulierung des
››Fleckmachens« zurückkommen.
3 ››[. . .] la profondeur de champ, avec tout ce qu'elle présente d'ambigu, de variable, de nullcment
maítrisé par moi<<; Lacan (1973), S. 89.
9 »Mais quel est-il, le désir qui se prend, qui se fixe dans le tableau?«; ebd., S. 86.
1° Ebendies gilt für den Totenschädel in Holbeins Die Gesanclten, d.h. also für die Objekte in sei-
nen beiden konkreten Beispielen, hinter denen der Blick imaginiert wird.
11 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Untersuchung von Baas (1998) und den Artikel von Melville
(19%).
12 Lacan (1973), S. 68.
13 Vgl. einleitend zum Kapitel ››L'Anamorphose<<: »[...] cette digression sur la fonction scopique
[...] - induite sans doute par l'oeuvre qui vient de paraítre de Maurice Merleau-Ponty, le Visi-
ble et l'In'uisible [...]«; ebd., S. 75.
14 Merleau-Ponty (1994), S. 173, 183. Lacan kommt hierauf explizit zu sprechen, vgl. Lacan (1973),
S. 86f.
15 ››[. _ _] le schema des deux triangles, qui s'inversent en même temps qu'ils doivent se superposer.
Ils vous donnent là l'exemple premier de ce fonctionnement d'entrelacs, d'entrecroisement, de
chiasme [...] et qui structure tout ce domaine«; Lacan (1973), S. 88.
42 NICOLA SUTHOR
ge) werfen, uns von ihnen herzurühren scheint«, eine Feststellung, an der er
den Narzissmus, der dem Sehen zugrunde liegt, festmacht, nimmt Lacan eben-
so auf wie die daraus folgende Konstatierung eines Verflochtenseins von Se-
hendem und Sichtbarem, einer wechselseitigen Vertauschung, so dass ››man
nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird«.11' Merleau-Pontys Fest-
stellung, dass ››der Sehende das Sichtbare nicht besitzen kann, außer er ist von
ihm besessen«,17 wird schließlich Lacans zentrales Argument, um die Psycho-
analyse in Anschlag zu bringen, denn die enteignende Eingelassenheit des Sub-
jekts in eine seiner Konstitution vorausliegende, es übersteigende Ordnungs-
struktur ist ihr erklärter Forschungsgegenstand.
Merleau-Pontys Insistieren auf der Körperlichkeit des Sehens, die Lacans
eigene Überlegungen angestoßen hat, macht sich an dem zentralen Begriff sei-
ner Phänomenologie der Un-Sichtbarkeit13 fest: dem Begriff ››la chair«
(Fleisch), der als das ››Aufklaffen (la déloiscence) des Sehenden im Sichtbaren
und des Sichtbaren im Sehenden« bestimmt wird.19 Dieser Begriff, der keine
Materie bezeichnet, substantialisiert vielmehr metaphorisch das Zwischen des
Sichtbaren und Unsichtbaren. Die Inkorporierung des Sichtbaren im Akt der
Anschauung in den Sehenden, wie vice 'versa des Sehenden in das Sichtbare,
die sich über das ››Fleisch<< vermittelt, führt Merleau-Ponty zufolge dazu, dass
wir die Dinge nicht »ganz nackt« sehen, »weil der Blick selbst sie umhüllt und
sie mit seinem Fleisch bekleidet«.-2° Merleau-Pontys Frage: »Woher kommt es,
dass unser Sehen (die Dinge) dabei an ihrem Orte belässt, dass der Blick, den
wir auf sie werfen, uns von ihnen herzurühren scheint?«,21 wird Lacan mit sei-
ner psychoanalytisch begründeten Blicktheorie zu beantworten suchen,22 die
sich explizit gegen Merleau-Pontys Phänomenologie richtet. Sie wird mit der
strukturellen Lokalisierung des Blicks im Feld der Anschauung geklärt.
Lacans Kritik an Merleau-Pontys Phänomenologie des Un-Sichtbaren be-
trifft den zentralen Begriff ››la chair« (Fleisch), in welchem er das Bestreben,
quasi über diesen zum ››Ursprungspunkt der Anschauung (le point originel de
la 'vision)« vorzudringen, als ››Suche nach einer Substanz, aus der ich mich als
23' ››Il semble qu'on voie ainsi, dans cet ouvrage inachevé, se dessiner quelque chose comme la re-
cherche d'une substance innommée d'oü moi-même, le voyant, je m'extrais«; ebd., S. 77.
24 »[...] une odeur sauvage [...]«; ebd.
25 Merleau-Ponty (1994), S. 199.
21* »La syntaxe, bien sür, est préconsciente. Mais ce qui échappe au sujet, c'est que sa syntaxe est
en rapport avec la réserve inconsciente. Quand le sujet raconte son histoire, agit, latent, ce qui
commande à cette syntaxe, et la fait de plus en plus serrée. Serrée par rapport ä quoi? - ä ce que
Freud, des le debut de sa description de la résistance psychique, appelle un noyau. Le
noyau doit être désigné comme du réel [...]«; Lacan (1973), S. 66. Vgl. auch Lacan (1975), S. 211ff.
(Le noyau de refoulement).
27 »[...] donner corps ä la réalité psychique sans la substantifier«; Lacan (1973), S. 69.
211 Ebd., S. 55, 57 u.ö. Auf der Ebene der skopischen Dimension findet sich nach Lacan die Funk-
tion des »objet a«, das den Mangel (manque) symbolisiere; vgl. ebd., S. 95.
29 Baas (1998), s. 51.
44 NICOLA SUTHOR
von Merleau-Ponty nicht die Verbindung sondern die Trennung, die Disjunk-
tion als Denkfigur zur Erfassung des Verhältnisses des Sichtbaren und Un-
sichtbaren, wobei er sich hier wiederum der Metaphorizität Merleau-Pontys
- ››Spaltung, Dehiszenz, Klaffe« - bedient. Die immanente ››Klaffe (l9e'ance)«
im Un/Sichtbaren überträgt Lacan auf die Spaltung (le sc/oize) des Auges und
des Blicks, in welcher sich ihm zufolge der Trieb auf der Ebene des Anschau-
ungsfeldes manifestiert. Die Verkennung der Spaltung von Blick und Auge ist
in der Vorstellung greifbar, dass wir uns sehend sehen (se voir se voir), eine
Vorstellung, die wie Merleau-Ponty bereits festgestellt hat, in der Simultanei-
tät eine Unmöglichkeit darstellt und Lacan zufolge die Bedingung ist für die
illusorische Transparenz in der eigenen Vorstellung als Bewusstsein.
Wenn Lacan beschreibt, dass die Verführungskraft des trompe-l'oeil den Be-
trachter in Jubel versetzt,3° dann legt er mit dieser Formulierung die Fährte für
den Narzissmus, der, wie wir bereits gesehen haben, dem Sehen zugrunde ge-
legt wird, denn es ist die (durchaus umstrittene) Pointe seines wohl bekanntes-
ten Aufsatzes Der Spiegel als Bildner der Ich-Funletion, dass das Kind angesichts
des eigenen Spiegelbildes in Jubel ausbricht. Die Identifizierung des körperlich
unausgebildeten Kleinkindes mit der spiegelbildlichen Gestalt erweckt jedoch
nur den Anschein von idealer Eigenständigkeit. Der Täuschungseffekt des Spie-
gels in diesem Moment der spektakulären ersten Selbstbegegnung bewirkt fort-
an die für das Ichselbstverständnis konstitutive Struktur der Verkennung.“ Die
Vorstellung der Spiegelfläche als verschleiernde, den notwendigen Selbstbetrug
produzierende Verblendung wird aufgerufen, wenn Lacan den Begriff »Obli-
vium« (Vergessen) von dem Begriff ››levis« und dessen Bedeutungsspektrum:
››blank, glatt, eben<< (poli, uni, lisse)<< herleitet. Die Funktion des ››Ausstreichens
(rayer)« und ››Versperrens (l9arrer)«, die für die Bildung des (Un-)Bewussteins
tragend ist, wird über den Spiegel als Instanz des Vergessenmachens beispiel-
haft in dem Moment der Produktion eines imaginären Bildes greifbar.32
Wie ist in der Legende um den Schleier des Parrhasios der Verkennungsakt
der Identifikation strukturiert? Der »Triumph des Blicks<< resultiert im Sinne
3° »Qu”est-ce qui nous séduit et nous satisfait dans le trompe-l'oeil? Quand est-ce qu”il nous cap-
tive et nous met en jubilation?«; Lacan (1973), S. 102.
31 Lacan äußert in seinem Vortrag Subversion du sujet et dialectique du désir dans l'inconscient
freudien (1960) bezüglich des Spiegelstadiums: »Hier fügt sich die Ambiguität eines Verkennens
(méconnaitre) wesentlich im Selbstverständnis (me connaitre) ein«; Lacan (1966), S. 808.
32 »Oblivium, c”est lëvis avec le e long - poli, uni, lisse. Olølivium, c'est ce qui efface - quoi? le signi-
fiant comme tel. Voilà oü nous retrouvons la structure basale, qui rend possible, de façon opératoire,
que quelque chose prenne la fonction de barrer, de rayer, une autre chose«; Lacan (1973), S. 28.
»TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 45
Lacans aus der Abspaltung des Blicks von Zeuxis' Auge. Die Vorspiegelung fal-
scher Tatsachen im raffiniert unscheinbaren Motiv des Vorhangs, das dem Au-
ge als Erkenntnisorgan nichts bieten kann, da es sich als Repräsentation unter-
schlägi, provoziert in Zeuxis das Verlangen zu sehen. In der Forderung, man
möge den Schleier lüften, manifestiert sich die für den Künstleragon entschei-
dende Täuschung: Zeuxis übersieht das Bild als Bild. Zeuxis” Verlangen verfehlt
folglich sein Objekt und sein Blick geht in dem für ihn schleierhaften Bild un-
ter. Im Augenblick der Erkenntnis des Irrtums wird ihm dieser verführte Blick
zurückerstattet, jedoch als entfremdeter: Das Vorhangmotiv funktioniert gegen-
läufig zum glänzenden Spiegelbild, in welchem ich mir als Gespiegelter selbst
transparent zu sein scheine und in dieser Illusion also der Spaltung in ein Sub-
jekt und Objekt meiner selbst (sie bildet die Struktur des Unbewussten aus) un-
wissentlich unterliege. Statt - positiv - die in der illusorischen Vorspiegelung
vorgestellte eigene autonome Gestalthaftigkeit in das Ichselbstverständnis (als
Objektivierung meiner selbst) hineinzuspiegeln, reflektiert der Schleier des Par-
rhasios - negativ, d.h. verzerrend - das in der narzisstischen Selbstbespiegelung
notwendig Ausbleibende: der die fingierte geschlossene Gestalthaftigkeit
zwangsläufig destabilisierende Blick als Begehrensfunktion, hier: die Missgunst,
im Duell den Gegner auszustechen, dessen Kunststück durch die Konfrontati-
on zu vernichten. Zeuxis rückt im Verhältnis zum fingierten Schleier, der ihn
durch den symbolischen Entzug auf sein unterschwelliges Begehren zurück-
wirft, in das selbstreflexive Bild des in seiner Ruhmsucht verblendeten Künst-
lers. Im Gegensatz zum versperrenden Spiegelbild scheint diese entschleiernde
Reflexionsfläche vielmehr etwas an die Oberfläche zu befördern, das in einer
narzisstischen Selbstbespiegelung zwangsläufig ausgeblendet ist: die Abhängig-
keit von einem Blick, der uns, von außen treffend, einer Subjektivierung unter-
wirft. Zeuxis fühlt sich also vom Vorhang aus ››angeblickt«, entlarvt, wie es nur
der Blick des Anderen vermag. Der Blick, der nie wirklich gesehen, sondern nur
quasi hinter einem opaken Schleier imaginiert werden kann, ist in jene für die
Subjektbildung so konstitutive Struktur der Verkennung als Unbewusstes ein-
gelassen. Im selbstgewissen Bewusstein verleugnet, bestimmt er als Abgetrenn-
tes, als im ›Nicht-Ich< verborgen, das Verhältnis zum Außen grundlegend.
33 Lacan referiert auf Baltrušaitis (1969). Vgl. hierzu u.a. Ferrier (1977); Bätschmann, Griener
(1997); Zwingenberger (1990).
46 NICOLA SUTHOR
struktur als zutiefst lustvolles Moment erlebt wird, welches vom Todestrieb
generiert ist. Das Augenmerk Lacans richtet sich in der Betrachtung des Ge-
mäldes auf ››das einzigartige, auf der ersten Bildebene flottierende Objekt, das
da zu sehen ist, um ich würde fast sagen: in die Falle gehen zu lassen (prend-
re au piège), den Betrachtenden, das heißt uns.« Dieses ››befremdliche, ausge-
setzte, d.h. in der Schwebe gehaltene, schiefe Objekt (objet étrange, suspendu,
oblique)«,34 das die Repräsentation des Doppelporträts unterschwellig heim-
sucht, wird sich schließlich als Totenschädel entpuppen. Es ist der einem ers-
ten Blick verborgene Totenkopf, der die malerische Inszenierung von Leben-
digkeit in dem lebensgroßen Porträt als bloßen Schein offen legt, da die
Realisierung der Anamorphose die Zentralperspektive in eine Schieflage
bringt, die uns die Flächigkeit des Bildes vor Augen stellt. Mit unserer Ab-
wendung von den Gesandten, die zwangsläufig aus der Faszination an der
Anamorphose, an der Entdeckung einer versteckten Gestalthaftigkeit in dem
für den Blick unbegreiflichen, da unförmigen Objekt resultiert, taucht im Per-
spektivwechsel, welcher der Repräsentation den Rücken kehrt, der Tod in der
Figuration des Schädels im Feld der Anschauung auf, um schlagartig unseren
Blick erneut an das Bild zu fesseln.
Für das Bild-Schema Lacans hat das Beispiel Holbeins demonstrative Funk-
tion. Über die Faszination an der Anamorphose als subversives, da desorga-
nisierendes Prinzip will Lacan die Geometrie als vorherrschende Konstrukti-
onsgrundlage des visuellen Raums entkräften. Für Lacan zeigt sich in der
Anamorphose eine exemplarische Struktur, da sie die geometrische Perspek-
tive, auf welche hin die Ordnung der Repräsentation entworfen ist, umkehrt.
Erst durch diese inversive Deformation, die die Paradoxie eines gespaltenen
Bildraumes über das Spiel mit zwei sich gegenseitig durchkreuzenden Perspek-
tiven herstellt, entsteht eine partikuläre Faszination an der Verzerrung der
Form - Lacan spricht vom »jeu délicieux« -, die Lacan zufolge dasjenige kom-
plementiert, was den geometrischen Untersuchungen über die Perspektive an
Seherfahrung (vision) entgeht. Dieses Faszinosum ist die »Erscheinung des
phallischen Phantoms«,35 mit der nun im Wechsel der Perspektiven im Sinne
des fort-da gespielt werden kann.3f' Die Verführungskraft des trompe-l”oeil,
die den Betrachter dann befriedigt, wenn sie ihn fesselt und in Jubel versetzt,
37 »Qu'est-ce qui nous séduit et nous satisfait dans le trompe-l'oeil? Quand est-ce qu'ils nous cap-
tive et nous met en jubilation? Au moment oü, par un simple déplacement de notre regard, nous
pouvons nous apercevoir que la representation ne bouge pas avec lui et qu'il n'y a là qu°un trom-
pe-l'oeil. Car il apparaít à ce moment-là comme autre chose que ce qu'il se donnait, ou plutôt il
se donne maintenant comme étant l'Idée. C'est parce que le tableau est cette apparence qui dit
qu'elle est ce qui donne l'apparence, que Platon s'insurge contre la peinture comme contre une
activité rivale de la sienne. Cet autre chose, c”est le petit a, autour de quoi tourne un combat
dont le trompe-l'oeil est l'âme«; ebd., S. 102f.
311 Diesen doppelten Boden des Bildes reflektiert das repräsentierte Bild selbst: Die gesamte Insze-
nierung der Gesandten wird von einem grünen Vorhang hinterfangen, der am rechten Bildrand
einen minimalen Spalt gelüftet ist und ein kleines perspektivisch stark verkürztes Kruzifix zu-
tage befördert. Der schleierhafte Hintergrund der Inszenierung, dem Lacan keine Beachtung
schenkt, erlaubt uns aber, dieses Bildbeispiel vor der Folie der Thematik des fingierten Vorhan-
ges zu beleuchten.
48 NICOLA SUTHOR
Form, in welcher ››Holbein die Frechheit hatte, mir meine weiche Uhr« zu
zeigen. Diese eigentümliche, auf die surrealen phallisch-organischen Objekte
Dalis anspielende Formulierung lässt durchblicken, dass mit dem in die sym-
bolische Ordnung der Repräsentation intervenierenden Sinnbild des Mangels
(hier symbolisch: des Todes), mit welchem der Betrachter über den Kunstgriff
der Anamorphose unvermittelt konfrontiert wird, die Festigkeit seines eige-
nen Blicks (von der aus sich das Bildfeld als ein geschlossenes und also er-
schließbares sichert) auf dem Spiel steht. Die kastrierende Wirkung dieses ob-
jet petit a besteht im Eingriff einer Begehrensstruktur in das Feld der
Anschauung. Diese Verstrickung mit dem Unbewussten kann Lacan in der
Umwendung der Perspektive veranschaulichen, darin also, dass sich das Bild
unvorhergesehen einer Beherrschung durch unseren Blick entzieht (das Bild
›erschlafft< in der Verzerrung), um diesen stattdessen hinterrücks an etwas zu
fesseln, was die Perspektivierung und Zentrierung des Bildes hin auf diesen
Blick als Ordnungsinstanz zu Fall bringt und unser Auge als Sinnesorgan ak-
tiviert. Das Lacansche objet petit a flottiert innerhalb der Verknüpfung der
symbolischen Ordnung, die das repräsentative Porträt ausbildet, mit der ima-
ginären Ordnung, die die Identifikation Bild-Betrachter im Austausch des
Blicks herstellt. Die hierfür konstitutive Betroffenheit des Betrachters (die Be-
schämung des Zeuxis, der Schauer im Anblick des Schädels) wird kraft der
Struktur des plötzlichen Umschlags (der tyc/oe als Einbruch des Realen) er-
zielt, der das Subjekt der Vorstellung, welches das Bildfeld (tableau) be-
herrscht, spaltet. Dieser ››schize<< konstituiert das Feld des Sichtbaren als Er-
fahrungsbereich des Unbewussten: Das Auge als passives Organ erliegt einem
visuellen Geschehen, anstatt dieses im Sinne einer Beherrschung zu fassen. Es
unterwirft sich einem Blick, der hinter den Dingen (dem Schädel, wie der Sar-
dinenbüchse), hinter dem Schleier des Parrhasios” imaginiert wird. Dieser
Blick artikuliert das Begehren, welches das Verhältnis zwischen Sehendem und
Sichtbarem unterschwellig motiviert und es kraft der Entdeckung enerHin-
tergründigkeit des Sichtbaren (als des für das Sichtbare konstitutiven Bereichs
des Unsichtbaren) vertieft.
Was verbindet das Bildmodell Der Gesandten mit demjenigen, welches die
Legende über Parrhasios” Schleier illustriert, und worin differieren beide
grundsätzlich? Die Stimulierung der Neugier des Betrachters, in beiden Fäl-
len durch eine List der Kunst provoziert, setzt den Anspruch, etwas geboten
zu bekommen, frei. Der Blick wird motiviert, sich verleiten zu lassen. Das
39 Lacans Vorstellung, dass der über das Auge des Betrachters triumphierende Blick des Künstlers
sich im Schleier verbirgt, hat bereits Sabartes (1957), S. 43, vorformuliert. Sabartes vergleicht die
Gemälde Picassos mit Spinnengeweben, die zum Beutefang gemacht sind. Picasso observiere
uns, unsere Wahrnehmung seines Werkes, durch sein Werk hindurch. (Von der Kenntnis dieser
Beschreibung ist auszugehen, da Lacan der Leibarzt von Picasso und seinen Frauen war.)
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 49
Trachten des Blicks wird nach Lacan mit der souveränen Geste des Malers be-
antwortet, die er folgendermaßen phrasiert: ››Du möchtest sehen (regarder),
also siehe (vois) das<<. In dieser Formulierung artikuliert sich die Herausfor-
derung einer Spaltung des Blicks (le regard) vom Auge explizit als künstleri-
sches Programm. Die Verweigerung des Kunstwerks, dem Wunsch des Be-
trachters nachzugehen, bindet dessen Blick in eine andere Triebökonomie ein:
die des Begehrens, die ein Jenseits des Verlangten eröffnet. Der Anspruch, der,
wie Lacan andernorts feststellt, im Wesentlichen ein Verlangen nach Liebe ist,
geht zwangsläufig fehl: Lacan formuliert die Frustration des Verlangens nach
dem Blick des Anderen in einem Vorwurf, der die Spaltung von Auge und Blick
in der Begegnung bemängelt: »Niemals erblickst du mich dort (jamais tu ne
me regardes la), wo ich Dich sehe (ou je te vois)«.4° Direkt hieran anschließend
bestimmt er das Verhältnis von Maler und ››amateur« (Liebhaber, Dilettant)
als »Spiel des Trompe-l'oeil«.41 Die grundsätzliche Verfehlung in der Begeg-
nung, die eine Entsprechung des Wunsches (la demande) unmöglich werden
lässt, setzt das Begehren frei, sich in den Anderen zu versetzen, um sich unter
seinem Blick quasi aufgehoben zu wissen. Die Mangelerfahrung innerhalb der
Begegnung ist für das Kunsterlebnis bzw. Liebesverhältnis insofern konstitu-
tiv, als sie erst das Begehren nach dem Anderen auslöst. Als Effekt der Nicht-
beantwortung - der Opazität des Schleiers, hinter dem die Präsenz des Ande-
ren imaginiert wird - wendet sich die zentrale Frage »Che vuoi? (Was willst
Du) ?«”12 auf das fragende Subjekt zurück: »Que me-veut-il? (Was will er mir?)«
Die elementare, da das Verhältnis Bild-Betrachter strukturierende Frage im
Angesicht eines jeden Kunstwerks ist mit Lacan folgendermaßen zu formu-
lieren: »Was will es mir bedeuten?« Diese Unterstellung, dass das Kunstwerk
uns einzigartige Zeichen gibt, um sich uns exklusiv mitzuteilen, die wir nur
entziffern müssen, führt dazu, dass wir Symptome des Bedeutens an der Ober-
fläche der Repräsentation zu erforschen suchen. Mit dieser Investition - die
der Glaube an adressierte Sinnhaftigkeit ist, die wir zu realisieren auserwählt
sind, da wir uns ›besonders angesprochen< fühlen - sind wir bereits (unbewusst
oder nicht) in die elementaren Strukturen eines ›Liebesverhältnisses< mit dem
Kunstwerk eingebettet.“
Statt dem Wunsch des Betrachterblicks zu entsprechen, bedient der Künst-
ler das Auge, gibt diesem Nahrung (Il donne quelque cbose en pature ii l'oeil),
um denjenigen, dem das Bild präsentiert wird, (dem Venus-Prinzip folgend)
einzuladen, »seinen Blick in ihm niederzulegen, wie man Waffen niederlegt.«
Etwas, wie Lacan folgert, ist weniger dem Blick als dem Auge gegeben, etwas,
das die Hingabe, die Hinterlegung (depôt) des Blicks nach sich zieht.“ Die-
sem spricht Lacan die ››pazifizierende, apollinische Wirkung (l ”ejfet pacifiant,
apollinien)« der Malerei zu, der die ››Blickzähmung (le dompte de regard)« pro-
duziert.
51 »Pour tout dire, le point de regard participe toujours de l'ambigu`ı`té du oyau«;Lacan (1973),
S. 90.
52 Caillois spricht vom »mimetisme morphologie« als einer ››veritable photographie«; Caillois
(2002), S. 102.
53 Ebd.
54 »Pour parvenir à cette fin, l'animal doit essentiellement perdre son individualité. [...] Il s'agit
toujours pour le vivant de ne pas décelcr sa présence«; ebd.
»TRIU1\/IPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 53
für das Verständnis Lacans wesentlich. Doch vor wem verbirgt Lacan im Mo-
ment der Erstarrung im Angesicht des Blicks, der den Automatismus des Fleck-
machens ausgelöst hat, seine Präsenz? Wer oder was wird in der Camouflage
abgeschirmt? Was verbirgt sich hinter dem Schleier?
Lacan stellt die zentrale Frage »Was ist ein Bild (Qu'est qu”un tableau)?« aus-
gehend von der Problematisierung des verschleierten Sinns (le sens voilé), wie
er sich in der Traumbildung manifestiert. Wir sind im Traum (als Handlungs-
subjekt) derjenige, der nicht sieht. Wir bleiben, im Traumgeschehen verstrickt,
in Unkenntnis über das, was es jenseits der Erscheinung - als ››sens voilé« -
(im Blick offenkundig) zu geben scheint. Der Appell der Mitteilung (ça mon-
tre), der vom Traumgeschehen ausgeht, erklärt Lacan mit der Präsenz eines
Blicks, der in der Realität elidiert ist. Doch entzieht sich dieses »ça« gleichsam
hinter einem Farbschleier, hinter dem Auftauchen der ››taches«. Lacan be-
schreibt an anderer Stelle, in seinem Seminar XIV: La Logique du Fantasme,
das Verhältnis des Unbewussten zum Trauminhalt als Relation ››tache sur fond
(Fleck auf Grund)<<. Die Maskierung der Realität des Blicks - sie projiziert
diesen Blick jenseits des Schleiers, den sie ausbildet - ist in dem Bewusstsein
des ››Ich träume nur (je rêve seulement)« greifbar. Das Bewusstsein von der
Fiktion, dass »alles nur ein Traum ist«, ist jedoch, wie Lacan feststellt, noch
lange kein Bewusstsein der Fiktion -55 die Erkenntnis des Schleiers erfasst nur,
dass und nicht was es dahinter gibt.
Das Objekt, nur insofern es als trügerisch aufgewertet ist (das Illusorische,
das am Objekt aufscheint, ist ein surplus),51° kann, wie Lacan in seinem Semi-
nar La relation d 'objet (1956f.) darstellt, zum Träger der Liebe, d.h. zum Fe-
tischobjekt werden. Lacan bezieht sich explizit auf Freuds Drei Abhandlun-
gen zur Sexualtbeorie (1905) und Fetiscbismus (1927). Der Fetisch, der laut
Freud »etwas Verlorenes vor dem Untergang bewahrt«,57 ist ein Schutzkleid,
welches das Subjekt vor der Kastrationsangst abschirmt. Die Funktionsweise
des Fetischs, die Freud an die Arretierung der Erinnerung bei traumatischer
Amnesie gemahnt, lässt ››das Interesse unterwegs stehen bleiben«, und zwar
bezeichnenderweise an dem Punkt, wo sich die Enthüllung des traumatischen
Kerns ankündigt, ohne vollzogen zu sein. Lacan bezeichnet das Fetischobjekt
als ››ein Instrument, das den fundamentalen Grund der Angst, welcher den
55 »L'objet est instrument à masquer, ä parer, le fond fondamental d'angoissc [...]«; Lacan (1994),
S. 22 (Introduction).
59 »L'objet enferme le sujet dans un certain cercle, un rempart, à l'intérieur duquel celui-ce se met
ä l'abri de ses peurs«; ebd.
511 Freud, Fetischismus (2000), S. 386.
51 Freud, Die sexuellen Abirrungen (2000), S. 66.
52 Lacan (1994), S. 152.
55 Ebd., S. 155.
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 55
gramm das ››Objekt« vor dem ››Nichts<<), wird der Betrachter sich des fort im
da (d.h. der Kastrationsangst) latent gewahr, ohne es offenkundig zu erken-
nen: Die unseren Blick gefangennehmende Faszination am ›› Glanz« (dem Bei-
spiel Freuds folgend: auf der Nasenspitze) lässt uns vergessen, weshalb wir
ihm erliegen, da die Erinnerung arretiert und damit der Bezug zur symboli-
schen Ordnung eliminiert ist. Wir erfahren das durch eine fundamentale Ab-
wesenheit markierte Objekt als präsent in einem gesteigerten Sinne, da etwas
unterschwellig das Objekt durchwirkt, ihm eine Textur auferlegt. Die latente
Möglichkeit der Enthüllung einer verborgenen Wirklichkeit flicht sich unter-
schwellig als Faszinationsmoment in den Objektbezug ein. Die Entrückung
des Objekts durch seine illusionäre Überformung in der Fetischisierung - kraft
des für die Schleierbildung konstitutiven Wissens um die Illusion - eröffnet
ein Jenseits im Diesseits, das Bild im Objekt: Das Diesseitige, das Objekt, wird
ins Jenseits, hinter den Schleier versetzt. Das Begehren fixiert sich nicht auf
das Objekt, sondern auf das Bild, das sich auf dem Schleier abzeichnet und ein
zu enthüllendes Dahinter verspricht (das Objekt bereichert durch den ››sens
voilé«). Zugleich wird das Objekt ›erleichtert< durch den Aspekt des ››fort<<;
so kann der paradoxen Erfahrung in der Ästhetik zufolge der Betrachter das
Bild eines Gegenstandes genießen, der für sich genommen abstoßend wäre.
Diese Attraktion, die die Präsentation gegenüber ihrem repräsentativen Soll
ausspielt, erklärt sich mit Lacan gerade in der Befreiung, die die Fetischisie-
rung bedeutet: Es gibt einen Genuss am Verbot vorbei, das die Kastrations-
drohung bedeutet, gerade weil der Grund der Lust verschleiert ist. Die At-
traktion besteht also im latent virulenten Dahinter, das an der Oberfläche des
Objekts Blüten treibt, einen Fleckenschirm ausbildet, der fasziniert und
schließlich die Niederlage des Betrachterblicks verursacht.
Wie im Mimikry-Exkurs bereits dargestellt, verselbständigt sich die Projek-
tion, wird Überfluss, Luxus. Das ››Rieseln, Glitzern der Oberfläche (ruisselle-
ment d 'une surface)« nimmt den Blick des Betrachters gefangen. Die reale Ge-
fahr (gefressen bzw. traumatisiert zu werden) verschwindet hinter einem
imaginären Spektakel, das eine Attraktion auf uns ausübt, der wir scheinbar
willenlos, da quasi ›automatisch< (im Sinne der unmittelbaren Reaktion auf die
Mimikry) erlegen sind. Diese Überwältigung unseres Blicks setzt ein genui-
nes Genießen am Schein frei: das Auge weidet sich selbstvergessen an dem sur-
plus, das die Oberfläche schließt, den Schleier bildet.
Lacan erkennt den bezaubernden Wert der Malerei (la valeur de cbarme de
la peinture) in diesem Nähren des Auges, das dessen körperliche Funktion als
Wahrnehmungsorgan stimuliert. Die Milchigkeit des Lichts, das im Gegen-
zug zur geometrischen Ordnung der Repräsentation den visuellen Raum aus-
bildet, und zwar als Feld der ››vision<<, auf dem die Subjektivierung des Be-
trachters über die Unterwerfung des Blicks ausgetragen wird, verbindet Lacan
56 NICOLA SUTHOR
mit der Vorstellung des Appetits des Auges (cet appétit de l'oeil), der sich an
den ››taches<< sättigt, die der Blick hinterlassen hat, um hinter ihnen zu ver-
schwinden. Lacans Wortwahl - statt vom ››Lichtkegel (le cône lumineux)«
spricht er vom ››milchigen Kegel (cône laiteux) - rückt das Bild in strukturel-
le Beziehung zur Mutterbrust. Diese Vorstellung, die schließlich Jean Luc
Nancy weiter treiben wird,54 erklärt, inwieweit im Feld der Anschauung sich
die imaginäre Ordnung in die symbolische verknotet, inwieweit sich in die
Repräsentation eine Präsenz als Gegensichtbarkeit einschreibt, in welcher sich
das Begehren verschleiert, erklärt die sinnlich erfahrbare Attraktion des Bil-
des, die sich in der unmittelbaren Ergriffenheit des Betrachters im Akt der An-
schauung äußert.
54 Das Bild bietet sich Nancy (1996), S. 38, zufolge gleichsam als (Mutter-)Brust an: ››La peinture
montre les seins et en les montrant elle se montre aussi elle-même: la tache de couleur oü le con-
tour s'achève et se perd. Mais elle montre encore la monstration des seins, la femme présentant
sa gorge, et jusqu'ä dépouiller le moindre prétexte mythologique et nourricier pour montrer
seulement que le modèle montre ses seins à la demande du peintre - Raphael, Tintoret, Corot,
Manet, Gauguin - ne cherchant pas d'autre titre que 'la femme aux seins nus' - mais cela même
est encore un prétexte le plus dissimulé, car ce titre est lui-même comme une auréole de gloire
de leur art, l'exposition du relief essentiel et l°image immobile de la mobilité du pinceau«.
55 Lacan (1973), S. 93.
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 57
Literatur
Plinius, Naturkunde, hg. und übersetzt v. Roderich König, Düsseldorf u.a. 1997.
Jaime Sabartes, Dans l'atelier de Picasso, Paris 1957.
Nicola Suthor, Augenlust bei Tizian. Zur Konzeption der Malerei in der Frühen Neu-
zeit, München 2004.
Susanne Weirich, Imaginary Landscape. Anbei das Paradies, Berlin 1999.
Janette Zwingenberger, Holbein der Jüngere, London 1990.
Abbildungsnachweis