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Ikonologie des

Zwischenraums
Der Schleier als Medium
und Metapher

Herausgegeben von
Johannes Endres, Barbara Wittmann
und Gerhard Wolf

Sorzderdmck

Wilhelm Fink Verlag


Inhalt

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

I. TEXTUREN DER OPAZITÄT

JOHANNES ENDREs
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

MARY PARDO
Die Venus von Urløino verschleiern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . _ .

N1coLA SUTHOR
››Triumph, über das Auge, des Blicks<<.
Der opake Schleier in Jacques Lacans Bildtheorie . . . . . . . . . . _

UWE C. STEINER
Enthüllung zur Unzeit. Die Gegenwart des Schleiers und die
verschleierte Gegenwart bei Botho Strauß . . . . . . . . . . . . . . . . .

VALESKA voN RosEN


Verschleierungen. Frauen im Tschador in Shirin Neshats
Photoarbeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

II. ALLEGORIEN DES SEHENS/LESENS

]oHANNEs ENDRES
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

PATRICIA OSTER
Der Textschleier im Bild: Petrarca und Simone Martini . . . . _ _

FRANK FEHRENBACH
Veli sopra veli. Leonardo und die Schleier . . . . . . . . . . . . . . . . .

MAXIMILIAN BERGENGRUEN
Das Unsichtbare in der Schrift. Zur magischen Texttheorie
des Paracelsismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

DANIEL FULDA
›Der Wahrheit Schleier aus der Hand der Dichtung<.
Textilmetaphern als Vehikel und Reflexionsmedium ästhetisch-
Wissenschaftlicher Transferenzen um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . .
INHALT

III. TEXTILE scI-IWELLENRÄUME


BARBARA \WITTMA1\IN
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

NIKE BATZNER
Himmlisches Gewebe. Zu den Mosaiken des Chora-Klosters
in Istanbul . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . _ .

JEANETTE KoHL
Schleier. Hülle. Schwelle. Verrocchios Bildstrategien . . . . . . .

STEFAN NEUNER / WOLERAM PICHLER


Tintorettos Schwellenkunde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

KRISTINE PATZ / ULRIKE MÜLLER HoEsTEDE


Anziehende Natürlichkeit. Zur Grazienkonzeption bei
J. Winckelmann . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IV. VOM TUCI-I DER GESPENSTER


BARBARA WITTMANN
Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . _

DETLEE THIEL
Die Illusionen der Isis. Schleier zwischen Kant und Derrida .

GEoRGEs DIDI-HUBERMAN
Bewegende Bewegungen: Die Schleier der Ninfa nach
Aby Warburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

]osEI>I¬I IMoRDE
Schleier aus dem Nichts. Materialisationsphänomene und
ihre Dokumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

RALPH UBL
Giorgio de Chirico: Exkarnation und Filiation der Malerei _ .

Namenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
NIcoLA SUTI-IoR

››Triumph, über das Auge, des Blicks<<


Zu Jacques Lacans Bildbegriff als Theorie des Schleiers

I. Der versteckte Blick in Susanne Weirichs Installation


Die Sammlung des Parr/oasios

Eingetreten in die Räumlichkeit der Sammlung des Parrlaasiosfl ausgestattet


mit einem die einzelnen Werke kommentierenden Walkman, findet sich der
Besucher in einem Lichtschacht wieder (Abb. 1). Über mehrere Etagen öff-
nen sich vermauerte Fenster auf diesen engbegrenzten Außenraum. Die Fei-
erlichkeit der Inszenierung - der rote, einladend zurückgezogene Vorhang, die
ebenfalls rote Kordel, die den Besucher zur respektvollen Distanz zum Kunst-
werk zwingt, die goldfarbene Rahmung der Fenster und die die Kostbarkeit
der Ausstellungsstücke unterstreichende Überwachungskamera - mobilisiert
den Ausstellungsbesucher, die tatsächliche Situation des Schachts zu ignorie-
ren und sich dem hier fingierten Zeremoniell der Museumsführung spielerisch
zu beugen. Der karge Außenraum wird in ein Interieur umgewidmet, das in
den wenigen signifikanten Zeichensetzungen die Örtlichkeit einer Gemälde-
galerie simuliert. Eine wohl tönende männliche Stimme unterrichtet uns via
Walkman, dass ››Mr. Parrhasios« hier »dreißig illusionistische Gemälde mit
Draperien<< versammelt habe, um demjenigen Motiv kunsthistorisch zu hul-
digen, das der antiken Legende nach Schlüssel des Erfolgs war, den Parrhasi-
os im Künstlerwettstreit über den weit berühmteren Zeuxis errang. Dieser
nämlich wollte, dass man den gemalten Vorhang zur Seite ziehe, um das ver-
meintlich dahinter liegende Bild zu begutachten. Es folgen Kurzbeschreibun-
gen der dreißig Bilder. Die akustische Bespielung der blinden Fensteröffnun-
gen des Lichtschachtes mit Bildkommentaren, die das jeweils Spektakuläre der
einzelnen, uns edoch nicht sichtbaren Gemälde evozieren, weckt den Wunsch,
dass wir das zu sehen bekommen, was uns die Ekphrasen suggerieren. Die Ein-
bildungskraft, angestachelt, sich an den zugemauerten Fensteröffnungen fest-
zuheften, um sich die abwesenden Bilder geistig vor Augen zu führen, wird
also irre geleitet, wenn in dem Augenblick, in welchem wir in jene Vorstel-
lungswelten eingetreten sind, der Blick ins Leere geht. Eingetaucht in einen
Redefluss, der sinnlich intensive Fiktionen heraufbeschwört, die sich gleich-

1 Die Sammlung des Parrbasios. Eine Installation von Susanne Weiricb, gezeigt in Galerie Vor-
setzen, Lichtschacht, Hamburg 21. Mai- 4. Juli 1992. Weiterführende Literatur zu Weirich vgl.
Weirich (1999).
»TRIUMPI-I, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS.. 37

sam zu einem Schleier vor unseren Augen kondensieren, unterliegen wir


zunehmend der Begehrenslogik, die auch den antiken Maler Zeuxis blind
machte für die artifizielle List seines Kontrahenten. Denn Parrhasios° Augen-
täuschung hat ihre Pointe eben nicht in der illusionistischen Malerei, für die
der Name Zeuxis steht, sondern in der Vorspiegelung falscher Tatsachen auf
einer ganz anderen Ebene. Anstatt auf Mimesis zu beruhen, heißt sein Täu-
schungsprinzip Simulation.

II. Lacan liest Plinius

Das Kunstexempel des Parrhasios liegt nicht in der Angleichung des Bildes an
die Natur. Diese mimetische Leistung, für welche Zeuxis' Kunst als beispiel-
haft gilt, täuscht vor allem die Natur selbst, wie der Psychoanalytiker Jacques
Lacan in seinem Exkurs über den antiken Künstlerwettstreit in seinem Semi-
naire XI hervorhebt. Die Demonstration der illusionären Kraft - der Legende
nach flogen Vögel auf Zeuxis Stilleben, um an ihm zu picken - führt dieses
Kunstexempel auf seine natürliche Täuschungsfunktion (leurre) zurück. Wäh-
rend demnach das Kunstexempel des Zeuxis als ein anlockender Köder (proie)
funktioniert, produziere allein der Schleier des Parrhasios einen trompe-
l”oez'l-Effekt, der strukturell auf einer ganz anderen Ebene den Blick - und zwar
den des Menschen - in die Falle gehen lässt, denn: ››Die Malerei eines Schlei-
ers stellt etwas her, jenseits dessen der Mensch zu sehen verlangt.«2 Das
menschliche Auge, dessen Funktion nicht allein instinktiv, sondern auch - und
das ist die entscheidende Differenz - reflexiv ist, und also nicht triebgesteuert
quasi automatisch in die Falle tappt, sieht sich viel eher durch ein Versprechen
getäuscht, das sein Begehren weckt über das Zusehengegebene hinaus auf et-
was Dahinterliegendes.
Die Szene des Agons, wie sie Lacan ausmalt, orientiert sich eng an der an-
tiken Quelle: die die berühmtesten antiken Künstlerlegenden überliefernde
Natur/eunde des Plinius. Hier gesteht Zeuxis seine Niederlage wie folgt ein:
››[...] als er seinen Irrtum einsah, habe er ihm [Parrhasios] in aufrichtiger Be-
schämung den Preis zuerkannt, weil er selbst zwar die Vögel, Parrhasios aber
ihn als Künstler habe täuschen kÖnnen.« Dass schließlich sein eigener künst-
lerischer Hochmut Zeuxis in die Falle eines Bildes hat gehen lassen, welches
auf den ersten Blick nichts als das bloße Versprechen eines anderen Bildes zu
bieten hatte, ist die Ironie der Geschichte. Bei Plinius heißt es, der »stolze Zeu-

2 »Mais l'exemple opposé de Parrhasios rend clair qu,à vouloir tromper un homme, ce qu”on lui
présente c”est la peinture d'un voile, c›est-à-dire de quelque chose au-delà de quoi il demande à
voir<<; Lacan (1973), S. 102.
38 NICOLA SUTHOR

xis« habe verlangt, ››man solle doch endlich den Vorhang wegnehmen und das
Bild zeigen.<<3 Parrhasios' listige Berechnung der ungeduldigen Erwartung auf
Seiten seines Gegners, den Sieg aus der Kompetition fortzutragen, beschämt
schließlich den Blick des Zeuxis. Auf die Spezifik der Situation des Agon be-
zogen, bedient sich Parrhasios der List der Vorspiegelung falscher Tatsachen
als Kunstprinzip, wenn er das narzisstische Begehren der Selbstbestätigung
mit einem beschämend nichtigen Bild quasi ins Nichts stößt. Statt mit einem
täuschend echten Traubenstilleben a la Zeuxis, wird dieser mit einem schlich-
ten Vorhang als Bildmotiv konfrontiert, das dem Auge faktisch nichts zu prä-
sentieren scheint. Der agonale Blick, der von dem Wunsch gesteuert ist, dass
das Bild des Gegners sich als defizitär, wenn nicht gar als ›Nichts< im Vergleich
zu seinem Meisterstück entpuppt, wird durch diese treffende Adressierung
bloßgelegt. Die Ungeduld des Zeuxis drängt auf die Anerkennung, auf den
Besitz des entscheidenden surplus, das im Agon auf dem Spiel steht und ihm
symbolisch allein über die Selbstbespiegelung im Anderen bestätigt werden
kann. Der vom Narzissmus motivierte, von Ruhmsucht verblendete Blick des
Zeuxis verfängt sich in der Hinterhältigkeit des Vorhangmotivs. Als ironische
Pointe eines Künstlerwettstreits hält das von Parrhasios gewählte Bildsujet
›Nichts< in der Hinterhand und führt also allein den völligen Entzug an er-
warteter mimetischer Repräsentation, der erst den Wunsch zu sehen offen legt,
als illusionistisches Kunststück vor. Der Triumph über Zeuxis (››Parrhasios'
triomplae de lui«), der sich in dessen entlarvender, da den Sachverhalt verken-
nender Aufforderung: ››Nun und etztzeige du uns, was du dahinter gemacht
hast<<, artikuliert,4 bringt Lacan auf die sprechende Formulierung: ››Triomphe,
sur l'oeil, du regard«.5 Die deutsche Übersetzung »Triumph des Blicks über
das Auge« ist jedoch insofern vereinfachend, als die Logik der Geschichte eher
››Triumph, vermittels des Auges, über den Blick« nahe zu legen scheint, und
also die Bestimmung des Genitivs (subjectivus oder oløjectifvus) besser offen-
gelassen werden sollte, solange nicht klar ist, welcher Blick hier eigentlich tri-
umphiert.

III. Der Blick von Außen

Kommen wir auf Susanne Weirichs Installation zurück. Können wir hier in
der Inszenierung eine Instanz ausmachen, die über den Blick des Betrachters,
dessen Auge gefesselt auf die leeren F ensteröffnungen starrt, triumphiert? Die-

3 Plinius (1997), S. 67f. (35. Buch).


4 >›Alors, et maintenant, montre-nous, toi, ce que tu as fait derrière ça«; Lacan (1973), S. 95.
5 Ebd.
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 39

se das Feld der Anschauung beherrschende Funktion übernimmt zweifelsoh-


ne eine Überwachungskamera, welche die Szene der Ausstellungsbesichtigung
registriert. Sie unterstreicht die Determination der aufgerufenen Bilder von ei-
ner uns uneinsehbaren Außeninstanz, die als Blickregime funktioniert. Als
Objekt dieses anonymen Blicks scheinen wir als Betrachter der Sammlung von
außen kontrolliert zu sein. Das in der Observationstechnik inkarnierte Auge,
das sich - erst einmal erkannt - zum beklemmenden, über uns erhabenen
Fluchtpunkt der Ausstellungsinszenierung auswächst, zeigt sich bereits ange-
nehm verhüllt im eingesprochenen Meisterdiskurs, der unternimmt, uns da
Augen einzusetzen, wo es nichts zu sehen gibt, indem er unsere Vorstellungs-
kraft gefangen nimmt. Uns im Visier habend, enthüllt das anonyme Kamera-
auge unsere eigene Entblößung in dieser widersinnigen Situation (die darin
besteht, keinen Anhaltspunkt für unser Sozialverhalten zu haben), spätestens
wenn wir aus dem Raum heraustreten und die Übertragung des Kamerabil-
des auf einem Monitor erblicken. Bezeichnenderweise befindet sich der von
außen beobachtete Betrachter in diesem Bild, hinter dem Vorhang, da durch
eine Spiegelung der schwere Vorhang am Eingang vor die Szene geschoben ist.
Die lächerliche Figur, die wir in dem ›Festzug um des Kaisers neue Kleider<
gemacht haben, wird uns bewusst, wenn wir uns über das Verhalten der noch
im Bild befindlichen Besucher belustigen. Wie stark edochdieser (H)Aha-Ef-
fekt von der Befreiung aus dem unheimlichen Gefühl der Befremdung be-
stimmt ist, kann uns eine Anekdote Lacans erläutern, die die Instanz des Blicks
als subjektivierendes Moment im Feld der Anschauung, wie sie die Anekdo-
te über Parrhasios” Schleier aufgeworfen hat, näher zu bestimmen sucht.
Im Alter um die Zwanzig habe er, Lacan, als junger Intellektueller den Kon-
takt mit der Landbevölkerung gesucht, um sich in einer direkten, ländlichen
Lebenspraxis zu ››baden<<. Eines schönen Tages habe er sich einer Fischer-
familie angeschlossen und sei in einem kleinen Boot, das er mit einer
Nussschale vergleicht, zum Fischen ausgefahren. Dabei soll sich Folgendes er-
eignet haben: Just in dem Moment, in welchem die Fangnetze eingezogen
werden sollten, stößt der kleine Jean die Insassen des Bootes auf etwas, das auf
den Wellen treibt: eine kleine Sardinendose, Zeugnis der Konservenindustrie,
die sich in der Sonne spiegelt. Auf den Zuruf des kleinenJean hin: »Siehst Du,
die Dose? Siehst Du sie? Nun, sie, sie sieht Dich nicht!«, kommt Lacan ins
Grübeln. »Falls das einen Sinn hat, was Petit-Jean mir sagt, dass die Dose mich
nicht sieht, dann weil sie in einem bestimmten Sinn trotzdem mich anblickt.
Sie blickt mich auf der Ebene des Lichtpunktes an, wo alles ist, was mich an-
blickt und das ist keine Metapher.«6 Natürlich ist die ganze komisch anmu-
tende Geschichte (cette loumoristique, ironique, /oistoire) selbst sinnbildlich zu

6 Lacan (1973), S. 88f.


40 NICOLA SUTI-IOR

begreifen: die ››Nussschale<<, die sich in der treibenden Dose merkwürdig ge-
spiegelt sieht, die Befremdung des Außenstehenden, der sich in -einer natur-
belassenen Lebenswelt baden will, sich durch dieses Zeugnis der Industriali-
sierung edochaus dem Boot geworfen sieht, der Moment der Erbeutung der
Fische als der Augenblick, in welchem er selbst in die Fänge dieses Blickes ge-
rät, der über den Blickfang Sardinenbüchse hinter ebendieser zu imaginieren
ISII.

Den Moment des Erfasstseins durch einen befremdenden Blick - in Susan-


ne Weirichs Installation mittels der Überwachungskamera vergegenständlicht
-, der sich über das Spiegeln in der Sonne, d.h. über das Licht Bahn bricht, be-
greift Lacan als Bildwerdung. So gab er seines Erachtens in der beschriebenen
Szene einen derart unbeschreiblichen Anblick ab, dass er im Bild aus dem Rah-
men fiel. Die erste Formulierung »je faisais tableau (wörtlich: ich machte
Bild)<< konkretisiert er also mit der zweiten »je faisais tant soit peu tache dans
le tableau (wörtlich: ich machte ein ganz klein wenig Fleck im Bild)«. Auch
der Betrachter der Sammlung des Parrhasios ist in der Installation ›im Bild<.
Wie in den beschriebenen Gemälden befindet er sich hinter einem beiseite ge-
zogenen Vorhang, der die Szene durch diese Präsentation theatralisiert. Lacan
fokussiert hier eine Austauschfunktion, die den Prozess der Anschauung (vi-
sion) wesentlich strukturiert: ››Das Bild, sicher, ist in meinem Auge.iAber ich,
ich bin im Bild.«7 In der darauffolgenden Sitzung seines Seminars illustriert
Lacan anhand eines Diagramms die Verblendung des geometrischen Raums
mit dem visuellen Raum, der sich Lacan zufolge über die Dimension des Lichts
vermittelt, welche den Betrachter ins Bild zieht. Während der Betrachter im
perspektivisch konstruierten Raum außen vor bleibt, d.h. ihn aus der Distanz
beherrscht, da die Illusion auf ihn hin entworfen ist, sich auf sein Auge hin zu-
spitzt, ist die beherrschende Instanz im visuellen Raum der Blickpunkt, dem
sich der Betrachter als ››tableau« (Bild, Gemälde) gegenübergestellt sieht und
durch den er auf sein Bildsein fixiert ist. Die Verschränkung dieser beiden tri-
angulären Systeme, die nach Lacan die Registrierarbeit in der Anschauung leis-
tet, führt zur Überlagerung der ››image« (Bild) als Bildträger mit seiner kor-
relativen Instanz, die Lacan ››ecran<< (Schirm) nennt. Diese über das Licht
verdichtete ››médiation<< (Vermittlung), die den visuellen Raum ausbildet,
wird, inversiv zur ››image<<, die überschreitbar ist, als opak beschrieben. Über
diesen Bildschirm interveniert etwas im Feld der Anschauung, das in der geo-
metrischen Relation getilgt ist: die Tiefe des visuellen Feldes im ››Rieseln, Glit-
zern der Oberfläche (ruissellement d'une surface)«, die meinen Blick gefangen
nimmt. Sie kann, wie Lacan feststellt, in keiner Weise von mir beherrscht wer-

7 »Le tableau, certes, est dans mon oeil. Mais, moi, je suis dans le tableau«; ebd., S. 89. Vgl. hier-
zu den Artikel von Gondek (1997).
»TRIUMPI-I, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 41

den,8 da sie der geheime Fixpunkt des Begehrens ist.9 Signifikanterweise be-
zeichnet Lacan in der Anekdote, die die Blickfunktion illustrieren soll, die Sar-
dinendose als ››flottierend<<,1° der Fixierung des Blicks also entgleitend. Im vi-
suellen Feld ergreifen wir nicht die Dinge mit unserem Blick, sondern sind viel
eher von ihnen, von ihrer ihnen eigenen Blickmächtigkeit ergriffen. Die dy-
namis, die den Wahrnehmungsakt anstößt, scheint also von außen, vom Ge-
genstand her zu kommen, während wir unter dem befremdenden Blick, der
von den Dingen geworfen scheint, zum Bild erstarren bzw. in diesem Bild ››une
tache« (Fleck) bilden. Ich werde auf die merkwürdige Formulierung des
››Fleckmachens« zurückkommen.

IV. Lacan liest Merleau-Ponty

Um die philosophische Profilierung von Lacans Blicktheorie, die zugleich ei-


ne des Bildes ist, annähernd einschätzen zu können, müssen wir die Folie, vor
der Lacan diese entwickelt, ausgehend von seinen verstreuten Hinweisen nä-
her beleuchten.“ Maurice Merleau-Pontys posthum in jenen Tagen des Semi-
nars erschienene, unvollendet edierte Untersuchung Das Sicløtløare uncl das
Unsichtbare, die Lacan als »terminal und inaugural in einem« bezeichnet,12
war, wie er sagt, Auslöser seiner eigenen »Abschweifung<< über die Blickfunk-
tion.13 Der Kerngedanke Merleau-Pontys, der im Hauptkapitel Ifentrelacs-le
c/viasme verhandelt wird -14 das Verhältnis des Sichtbaren und Unsichtbaren
als eines der Verflechtung (entrelacs) oder des »Chiasmus<< zu denken -, spie-
gelt sich zeichenhaft auch in Lacans Diagramm. So soll schließlich die dop-
pelte Überschneidung der triangulären Systeme Lacan zufolge ››die Funkti-
onsweise der Verflechtung, der Überkreuzung, des Chiasmus« illustrieren.15
Merleau-Pontys Ausgangsbeobachtung, ››dass der Blick, den wir auf (die Din-

3 ››[. . .] la profondeur de champ, avec tout ce qu'elle présente d'ambigu, de variable, de nullcment
maítrisé par moi<<; Lacan (1973), S. 89.
9 »Mais quel est-il, le désir qui se prend, qui se fixe dans le tableau?«; ebd., S. 86.
1° Ebendies gilt für den Totenschädel in Holbeins Die Gesanclten, d.h. also für die Objekte in sei-
nen beiden konkreten Beispielen, hinter denen der Blick imaginiert wird.
11 Vgl. hierzu die ausgezeichnete Untersuchung von Baas (1998) und den Artikel von Melville
(19%).
12 Lacan (1973), S. 68.
13 Vgl. einleitend zum Kapitel ››L'Anamorphose<<: »[...] cette digression sur la fonction scopique
[...] - induite sans doute par l'oeuvre qui vient de paraítre de Maurice Merleau-Ponty, le Visi-
ble et l'In'uisible [...]«; ebd., S. 75.
14 Merleau-Ponty (1994), S. 173, 183. Lacan kommt hierauf explizit zu sprechen, vgl. Lacan (1973),
S. 86f.
15 ››[. _ _] le schema des deux triangles, qui s'inversent en même temps qu'ils doivent se superposer.
Ils vous donnent là l'exemple premier de ce fonctionnement d'entrelacs, d'entrecroisement, de
chiasme [...] et qui structure tout ce domaine«; Lacan (1973), S. 88.
42 NICOLA SUTHOR

ge) werfen, uns von ihnen herzurühren scheint«, eine Feststellung, an der er
den Narzissmus, der dem Sehen zugrunde liegt, festmacht, nimmt Lacan eben-
so auf wie die daraus folgende Konstatierung eines Verflochtenseins von Se-
hendem und Sichtbarem, einer wechselseitigen Vertauschung, so dass ››man
nicht mehr weiß, wer sieht und wer gesehen wird«.11' Merleau-Pontys Fest-
stellung, dass ››der Sehende das Sichtbare nicht besitzen kann, außer er ist von
ihm besessen«,17 wird schließlich Lacans zentrales Argument, um die Psycho-
analyse in Anschlag zu bringen, denn die enteignende Eingelassenheit des Sub-
jekts in eine seiner Konstitution vorausliegende, es übersteigende Ordnungs-
struktur ist ihr erklärter Forschungsgegenstand.
Merleau-Pontys Insistieren auf der Körperlichkeit des Sehens, die Lacans
eigene Überlegungen angestoßen hat, macht sich an dem zentralen Begriff sei-
ner Phänomenologie der Un-Sichtbarkeit13 fest: dem Begriff ››la chair«
(Fleisch), der als das ››Aufklaffen (la déloiscence) des Sehenden im Sichtbaren
und des Sichtbaren im Sehenden« bestimmt wird.19 Dieser Begriff, der keine
Materie bezeichnet, substantialisiert vielmehr metaphorisch das Zwischen des
Sichtbaren und Unsichtbaren. Die Inkorporierung des Sichtbaren im Akt der
Anschauung in den Sehenden, wie vice 'versa des Sehenden in das Sichtbare,
die sich über das ››Fleisch<< vermittelt, führt Merleau-Ponty zufolge dazu, dass
wir die Dinge nicht »ganz nackt« sehen, »weil der Blick selbst sie umhüllt und
sie mit seinem Fleisch bekleidet«.-2° Merleau-Pontys Frage: »Woher kommt es,
dass unser Sehen (die Dinge) dabei an ihrem Orte belässt, dass der Blick, den
wir auf sie werfen, uns von ihnen herzurühren scheint?«,21 wird Lacan mit sei-
ner psychoanalytisch begründeten Blicktheorie zu beantworten suchen,22 die
sich explizit gegen Merleau-Pontys Phänomenologie richtet. Sie wird mit der
strukturellen Lokalisierung des Blicks im Feld der Anschauung geklärt.
Lacans Kritik an Merleau-Pontys Phänomenologie des Un-Sichtbaren be-
trifft den zentralen Begriff ››la chair« (Fleisch), in welchem er das Bestreben,
quasi über diesen zum ››Ursprungspunkt der Anschauung (le point originel de
la 'vision)« vorzudringen, als ››Suche nach einer Substanz, aus der ich mich als

16 Merleau-Ponty (1994), S. 173, 183.


17 Ebd., S. 177.
18 Die Differenz zwischen Lacans und Merleau-Pontys Konzeption des visuellen Feldes soll im
Folgenden an der Schreibweise anschaulich gemacht werden: Während für Merleau-Ponty das
Zusammenspiel von Sichtbarem und Unsichtbarem über den Bindestrich angezeigt sein soll
(»Un`-Sichtbarkeit<<), soll der Schrägstrich den ››schize«, d.h. den immanenten Riss, der die Sicht-
barkeit durchzieht und das Unsichtbare abspaltet, sinnfällig machen (»Un/Sichtbarkeit«).
19 Merleau-Ponty (1994), S. 201. Vgl. auch den Exkurs zum Begriff ›chair< bei Merleau-Ponty im
Nachwort meiner Untersuchung Suthor (2004).
2° Merleau-Ponty (1994), S. 173.
21 Ebd.
22 »[...] il est tout à fait clair que je vois au-debors, que la perception n'est pas en moi, qu'elle est
sur les objets qu'elle appréhende«; Lacan (1973), S. 76.
»TRIUMPI-I, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 43

Sehender herausziehe, extrahiere<<, abweist.23 Denn aus dieser Quasi-Substanz


strömt für Lacan ein »wilder Geruch« aus,2“1 von dem er Merleau-Ponty in sei-
ner eigenen Lektüre reinigen möchte, wenn er etwa auf die Verbindung des
››Fleisches« mit einer Idealität dringt, wie sie Merleau-Ponty selbst schon an
einigen Stellen konturiert hat. Merleau-Ponty schreibt beispielsweise: »Es gibt
also eine Idealität, die dem Fleisch nicht fremd ist, sondern ihm seine Achsen,
seine Tiefe und seine Dimensionen verleiht.«25 Diese Vorstellung einer Idea-
lität, an welcher das ››Fleisch« konsubstantiell teilhat, kann Lacan in sein Kon-
zept der Verschränkung der imaginären in die symbolische Ordnung, die für
ihn das Feld der Anschauung markiert, integrieren und damit strukturell in
seinem Sinne korrigieren.
Lacans Korrektur an Merleau-Ponty tauscht diesen ihm problematischen
Begriff ››chair<< durch den des Unbewussten aus. Merleau-Pontys Phänome-
nologie wird also am entscheidenden Punkt mit Lacans eigener Freudlektüre
abgefangen, die die Resistenz des Subjekts im Diskurs über die Knotenbildung
nachvollziehbar gemacht hat (von der aus Lacan nun die Verflechtung des
Sichtbaren und Unsichtbaren denkt).26 Die Leistung Freuds erkennt er vor al-
lem darin an, dass dieser der psychischen Realität »Körper gegeben habe, oh-
ne sie zu substantivieren«.27 Der traumatische Kern, der die Bildung des
Schirms auslöst, ist für Lacan nicht die Berührung des Sichtbaren und Sehen-
den über die sie im Akt der Anschauung umhüllende Substanz des ››Fleisches«,
sondern liegt in seiner konstitutiven Unmöglichkeit, in der ››rencontre man-
quée<< (verfehlten Begegnung), die der Schirm verhüllt.23 Merleau-Pontys phä-
nomenologische Untersuchung der Grenzen der visuellen Erfahrung - wobei
die Unsichtbarkeit auch immer die virtuelle Sichtbarkeit bzw. die Bedingung
ihrer Möglichkeit impliziert, das eine in das andere umschlagen kann etc. -
zielt auf eine Ontologie des ››Fleisches«, die in der Spaltung des Sichtbaren
und des Unsichtbaren das Verbindende, sie Überspannende eröffnet. Lacan
hingegen bevorzugt, wie Bernard Baas dargestellt hat,29 in klarer Absetzung

23' ››Il semble qu'on voie ainsi, dans cet ouvrage inachevé, se dessiner quelque chose comme la re-
cherche d'une substance innommée d'oü moi-même, le voyant, je m'extrais«; ebd., S. 77.
24 »[...] une odeur sauvage [...]«; ebd.
25 Merleau-Ponty (1994), S. 199.
21* »La syntaxe, bien sür, est préconsciente. Mais ce qui échappe au sujet, c'est que sa syntaxe est
en rapport avec la réserve inconsciente. Quand le sujet raconte son histoire, agit, latent, ce qui
commande à cette syntaxe, et la fait de plus en plus serrée. Serrée par rapport ä quoi? - ä ce que
Freud, des le debut de sa description de la résistance psychique, appelle un noyau. Le
noyau doit être désigné comme du réel [...]«; Lacan (1973), S. 66. Vgl. auch Lacan (1975), S. 211ff.
(Le noyau de refoulement).
27 »[...] donner corps ä la réalité psychique sans la substantifier«; Lacan (1973), S. 69.
211 Ebd., S. 55, 57 u.ö. Auf der Ebene der skopischen Dimension findet sich nach Lacan die Funk-
tion des »objet a«, das den Mangel (manque) symbolisiere; vgl. ebd., S. 95.
29 Baas (1998), s. 51.
44 NICOLA SUTHOR

von Merleau-Ponty nicht die Verbindung sondern die Trennung, die Disjunk-
tion als Denkfigur zur Erfassung des Verhältnisses des Sichtbaren und Un-
sichtbaren, wobei er sich hier wiederum der Metaphorizität Merleau-Pontys
- ››Spaltung, Dehiszenz, Klaffe« - bedient. Die immanente ››Klaffe (l9e'ance)«
im Un/Sichtbaren überträgt Lacan auf die Spaltung (le sc/oize) des Auges und
des Blicks, in welcher sich ihm zufolge der Trieb auf der Ebene des Anschau-
ungsfeldes manifestiert. Die Verkennung der Spaltung von Blick und Auge ist
in der Vorstellung greifbar, dass wir uns sehend sehen (se voir se voir), eine
Vorstellung, die wie Merleau-Ponty bereits festgestellt hat, in der Simultanei-
tät eine Unmöglichkeit darstellt und Lacan zufolge die Bedingung ist für die
illusorische Transparenz in der eigenen Vorstellung als Bewusstsein.

V. Die Spaltung des Blicks

Wenn Lacan beschreibt, dass die Verführungskraft des trompe-l'oeil den Be-
trachter in Jubel versetzt,3° dann legt er mit dieser Formulierung die Fährte für
den Narzissmus, der, wie wir bereits gesehen haben, dem Sehen zugrunde ge-
legt wird, denn es ist die (durchaus umstrittene) Pointe seines wohl bekanntes-
ten Aufsatzes Der Spiegel als Bildner der Ich-Funletion, dass das Kind angesichts
des eigenen Spiegelbildes in Jubel ausbricht. Die Identifizierung des körperlich
unausgebildeten Kleinkindes mit der spiegelbildlichen Gestalt erweckt jedoch
nur den Anschein von idealer Eigenständigkeit. Der Täuschungseffekt des Spie-
gels in diesem Moment der spektakulären ersten Selbstbegegnung bewirkt fort-
an die für das Ichselbstverständnis konstitutive Struktur der Verkennung.“ Die
Vorstellung der Spiegelfläche als verschleiernde, den notwendigen Selbstbetrug
produzierende Verblendung wird aufgerufen, wenn Lacan den Begriff »Obli-
vium« (Vergessen) von dem Begriff ››levis« und dessen Bedeutungsspektrum:
››blank, glatt, eben<< (poli, uni, lisse)<< herleitet. Die Funktion des ››Ausstreichens
(rayer)« und ››Versperrens (l9arrer)«, die für die Bildung des (Un-)Bewussteins
tragend ist, wird über den Spiegel als Instanz des Vergessenmachens beispiel-
haft in dem Moment der Produktion eines imaginären Bildes greifbar.32
Wie ist in der Legende um den Schleier des Parrhasios der Verkennungsakt
der Identifikation strukturiert? Der »Triumph des Blicks<< resultiert im Sinne

3° »Qu”est-ce qui nous séduit et nous satisfait dans le trompe-l'oeil? Quand est-ce qu”il nous cap-
tive et nous met en jubilation?«; Lacan (1973), S. 102.
31 Lacan äußert in seinem Vortrag Subversion du sujet et dialectique du désir dans l'inconscient
freudien (1960) bezüglich des Spiegelstadiums: »Hier fügt sich die Ambiguität eines Verkennens
(méconnaitre) wesentlich im Selbstverständnis (me connaitre) ein«; Lacan (1966), S. 808.
32 »Oblivium, c”est lëvis avec le e long - poli, uni, lisse. Olølivium, c'est ce qui efface - quoi? le signi-
fiant comme tel. Voilà oü nous retrouvons la structure basale, qui rend possible, de façon opératoire,
que quelque chose prenne la fonction de barrer, de rayer, une autre chose«; Lacan (1973), S. 28.
»TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 45

Lacans aus der Abspaltung des Blicks von Zeuxis' Auge. Die Vorspiegelung fal-
scher Tatsachen im raffiniert unscheinbaren Motiv des Vorhangs, das dem Au-
ge als Erkenntnisorgan nichts bieten kann, da es sich als Repräsentation unter-
schlägi, provoziert in Zeuxis das Verlangen zu sehen. In der Forderung, man
möge den Schleier lüften, manifestiert sich die für den Künstleragon entschei-
dende Täuschung: Zeuxis übersieht das Bild als Bild. Zeuxis” Verlangen verfehlt
folglich sein Objekt und sein Blick geht in dem für ihn schleierhaften Bild un-
ter. Im Augenblick der Erkenntnis des Irrtums wird ihm dieser verführte Blick
zurückerstattet, jedoch als entfremdeter: Das Vorhangmotiv funktioniert gegen-
läufig zum glänzenden Spiegelbild, in welchem ich mir als Gespiegelter selbst
transparent zu sein scheine und in dieser Illusion also der Spaltung in ein Sub-
jekt und Objekt meiner selbst (sie bildet die Struktur des Unbewussten aus) un-
wissentlich unterliege. Statt - positiv - die in der illusorischen Vorspiegelung
vorgestellte eigene autonome Gestalthaftigkeit in das Ichselbstverständnis (als
Objektivierung meiner selbst) hineinzuspiegeln, reflektiert der Schleier des Par-
rhasios - negativ, d.h. verzerrend - das in der narzisstischen Selbstbespiegelung
notwendig Ausbleibende: der die fingierte geschlossene Gestalthaftigkeit
zwangsläufig destabilisierende Blick als Begehrensfunktion, hier: die Missgunst,
im Duell den Gegner auszustechen, dessen Kunststück durch die Konfrontati-
on zu vernichten. Zeuxis rückt im Verhältnis zum fingierten Schleier, der ihn
durch den symbolischen Entzug auf sein unterschwelliges Begehren zurück-
wirft, in das selbstreflexive Bild des in seiner Ruhmsucht verblendeten Künst-
lers. Im Gegensatz zum versperrenden Spiegelbild scheint diese entschleiernde
Reflexionsfläche vielmehr etwas an die Oberfläche zu befördern, das in einer
narzisstischen Selbstbespiegelung zwangsläufig ausgeblendet ist: die Abhängig-
keit von einem Blick, der uns, von außen treffend, einer Subjektivierung unter-
wirft. Zeuxis fühlt sich also vom Vorhang aus ››angeblickt«, entlarvt, wie es nur
der Blick des Anderen vermag. Der Blick, der nie wirklich gesehen, sondern nur
quasi hinter einem opaken Schleier imaginiert werden kann, ist in jene für die
Subjektbildung so konstitutive Struktur der Verkennung als Unbewusstes ein-
gelassen. Im selbstgewissen Bewusstein verleugnet, bestimmt er als Abgetrenn-
tes, als im ›Nicht-Ich< verborgen, das Verhältnis zum Außen grundlegend.

VI. Holbeins Anamorphose

Lacan veranschaulicht anhand der Anamorphose in dem Doppelporträt Die


Gesanclten von Holbein,33 wie die fragmentierte Freilegung der Verkennungs-

33 Lacan referiert auf Baltrušaitis (1969). Vgl. hierzu u.a. Ferrier (1977); Bätschmann, Griener
(1997); Zwingenberger (1990).
46 NICOLA SUTHOR

struktur als zutiefst lustvolles Moment erlebt wird, welches vom Todestrieb
generiert ist. Das Augenmerk Lacans richtet sich in der Betrachtung des Ge-
mäldes auf ››das einzigartige, auf der ersten Bildebene flottierende Objekt, das
da zu sehen ist, um ich würde fast sagen: in die Falle gehen zu lassen (prend-
re au piège), den Betrachtenden, das heißt uns.« Dieses ››befremdliche, ausge-
setzte, d.h. in der Schwebe gehaltene, schiefe Objekt (objet étrange, suspendu,
oblique)«,34 das die Repräsentation des Doppelporträts unterschwellig heim-
sucht, wird sich schließlich als Totenschädel entpuppen. Es ist der einem ers-
ten Blick verborgene Totenkopf, der die malerische Inszenierung von Leben-
digkeit in dem lebensgroßen Porträt als bloßen Schein offen legt, da die
Realisierung der Anamorphose die Zentralperspektive in eine Schieflage
bringt, die uns die Flächigkeit des Bildes vor Augen stellt. Mit unserer Ab-
wendung von den Gesandten, die zwangsläufig aus der Faszination an der
Anamorphose, an der Entdeckung einer versteckten Gestalthaftigkeit in dem
für den Blick unbegreiflichen, da unförmigen Objekt resultiert, taucht im Per-
spektivwechsel, welcher der Repräsentation den Rücken kehrt, der Tod in der
Figuration des Schädels im Feld der Anschauung auf, um schlagartig unseren
Blick erneut an das Bild zu fesseln.
Für das Bild-Schema Lacans hat das Beispiel Holbeins demonstrative Funk-
tion. Über die Faszination an der Anamorphose als subversives, da desorga-
nisierendes Prinzip will Lacan die Geometrie als vorherrschende Konstrukti-
onsgrundlage des visuellen Raums entkräften. Für Lacan zeigt sich in der
Anamorphose eine exemplarische Struktur, da sie die geometrische Perspek-
tive, auf welche hin die Ordnung der Repräsentation entworfen ist, umkehrt.
Erst durch diese inversive Deformation, die die Paradoxie eines gespaltenen
Bildraumes über das Spiel mit zwei sich gegenseitig durchkreuzenden Perspek-
tiven herstellt, entsteht eine partikuläre Faszination an der Verzerrung der
Form - Lacan spricht vom »jeu délicieux« -, die Lacan zufolge dasjenige kom-
plementiert, was den geometrischen Untersuchungen über die Perspektive an
Seherfahrung (vision) entgeht. Dieses Faszinosum ist die »Erscheinung des
phallischen Phantoms«,35 mit der nun im Wechsel der Perspektiven im Sinne
des fort-da gespielt werden kann.3f' Die Verführungskraft des trompe-l”oeil,
die den Betrachter dann befriedigt, wenn sie ihn fesselt und in Jubel versetzt,

34 Lacan (1973), S. 82.


35 Ebd.
31* Vgl. Lacans Freudkritik zumfort-da: »Freud, lorsqu'il saisit la répétition dans le jeu de son pe-
tit-fils, dans le fort-da réitéré, peut bien souligner que l'enfant tamponne l”effet de la dispari-
tion de sa mère en s'en faisant l'agent - ce phénomène est sécondaire. Cette bobine, ce n'est
pas la mère réduite ä une petite boule par je ne sais quel jeu digne des Jivaros - c'est un petit
quelque-chose du sujet qui se détache tout en étant encore bien à lui, encore retenu. C'est le lieu
de dire, ä l'imitation d'Aristote, que l'homme pense avec son objet. A cet objet, nous don-
nerons ultérieurement son nom d°algèbre lacanicn -le petit a«; ebd., S. 60.
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 47

wird durch eine einfache Blickverschiebung freigesetzt. Aus der geometrischen


Raumachse austretend, sich neben den idealen Betrachterstandpunkt stellend,
werden wir im Moment der Realisierung der Anamorphose der unbelebten
Starrheit der Repräsentation gewahr. Diese schräge Perspektive auf das Bild
enthüllt nicht nur die Illusion des Bildes als trompe-l'oeil, sondern zieht das
››tableau<< als das, was die Erscheinung gibt, in die Sichtbarkeit” Es scheint,
als würde unser Ausbruch aus der geometrischen Ordnung des Bildes den
symbolischen Tod der Porträtierten bedeuten, und wenden wir uns dem Bild
erneut zu, bleibt unser Blick auf dieses Irritationsmoment fixiert und die un-
förmige, da unkonkrete Unsichtbarkeitsstelle des Bildes lässt den Tod, als zwi-
schen uns und den Porträtierten schwebend, latent anwesend sein, um nach
Lacan unsere eigene Nichtigkeit zu reflektieren. In dem Moment, in welchem
der Schädel das visuelle Feld beherrscht, wird unser eigener Blick auf das Por-
trät aus der Bahn geworfen und folglich zunichte gemacht. Das uns auf den
ersten Blick Verborgene, zwischen Bild und uns ››flottierend«, zerreißt im Mo-
ment seiner ›Aufrichtung< das ››tableau« und setzt uns stattdessen als Subjekt
ins Bild. Die Hinwendung zum ››tableau<< deformiert den Totenkopf erneut,
der nun aber als geheimer Fluchtpunkt der Sinnbildung das Bild latent durch-
wirkt. Die anamorphotische Blickfalle funktioniert als eine die täuschende Re-
präsentation unterlaufende Einrichtung einer Metaebene, welcher sich die
symbolische Ordnung der Repräsentation unterordnet, da jene das absolute
Zeichen (der Tod als Nullstelle von Sinn) als dezentrierenden Fluchtpunkt al-
ler Bedeutung einsetzt. Dadurch fesselt der anamorphotische Schädel den
Blick des Betrachters erneut an das repräsentative Bildnis, indem nun alle sei-
ne Elemente dahingehend motiviert werden, unter diesem Vorzeichen einen
Hintersinn zu generieren.“
Inwieweit jedoch die Anamorphose für eine Bildtheorie grenzwertig ist
(und durch diese Marginalität natürlich besonders konturierend), zeigt Lacans
Bemerkung, dass der Blick nicht das Auge sei, außer unter der fliegenden

37 »Qu'est-ce qui nous séduit et nous satisfait dans le trompe-l'oeil? Quand est-ce qu'ils nous cap-
tive et nous met en jubilation? Au moment oü, par un simple déplacement de notre regard, nous
pouvons nous apercevoir que la representation ne bouge pas avec lui et qu'il n'y a là qu°un trom-
pe-l'oeil. Car il apparaít à ce moment-là comme autre chose que ce qu'il se donnait, ou plutôt il
se donne maintenant comme étant l'Idée. C'est parce que le tableau est cette apparence qui dit
qu'elle est ce qui donne l'apparence, que Platon s'insurge contre la peinture comme contre une
activité rivale de la sienne. Cet autre chose, c”est le petit a, autour de quoi tourne un combat
dont le trompe-l'oeil est l'âme«; ebd., S. 102f.
311 Diesen doppelten Boden des Bildes reflektiert das repräsentierte Bild selbst: Die gesamte Insze-
nierung der Gesandten wird von einem grünen Vorhang hinterfangen, der am rechten Bildrand
einen minimalen Spalt gelüftet ist und ein kleines perspektivisch stark verkürztes Kruzifix zu-
tage befördert. Der schleierhafte Hintergrund der Inszenierung, dem Lacan keine Beachtung
schenkt, erlaubt uns aber, dieses Bildbeispiel vor der Folie der Thematik des fingierten Vorhan-
ges zu beleuchten.
48 NICOLA SUTHOR

Form, in welcher ››Holbein die Frechheit hatte, mir meine weiche Uhr« zu
zeigen. Diese eigentümliche, auf die surrealen phallisch-organischen Objekte
Dalis anspielende Formulierung lässt durchblicken, dass mit dem in die sym-
bolische Ordnung der Repräsentation intervenierenden Sinnbild des Mangels
(hier symbolisch: des Todes), mit welchem der Betrachter über den Kunstgriff
der Anamorphose unvermittelt konfrontiert wird, die Festigkeit seines eige-
nen Blicks (von der aus sich das Bildfeld als ein geschlossenes und also er-
schließbares sichert) auf dem Spiel steht. Die kastrierende Wirkung dieses ob-
jet petit a besteht im Eingriff einer Begehrensstruktur in das Feld der
Anschauung. Diese Verstrickung mit dem Unbewussten kann Lacan in der
Umwendung der Perspektive veranschaulichen, darin also, dass sich das Bild
unvorhergesehen einer Beherrschung durch unseren Blick entzieht (das Bild
›erschlafft< in der Verzerrung), um diesen stattdessen hinterrücks an etwas zu
fesseln, was die Perspektivierung und Zentrierung des Bildes hin auf diesen
Blick als Ordnungsinstanz zu Fall bringt und unser Auge als Sinnesorgan ak-
tiviert. Das Lacansche objet petit a flottiert innerhalb der Verknüpfung der
symbolischen Ordnung, die das repräsentative Porträt ausbildet, mit der ima-
ginären Ordnung, die die Identifikation Bild-Betrachter im Austausch des
Blicks herstellt. Die hierfür konstitutive Betroffenheit des Betrachters (die Be-
schämung des Zeuxis, der Schauer im Anblick des Schädels) wird kraft der
Struktur des plötzlichen Umschlags (der tyc/oe als Einbruch des Realen) er-
zielt, der das Subjekt der Vorstellung, welches das Bildfeld (tableau) be-
herrscht, spaltet. Dieser ››schize<< konstituiert das Feld des Sichtbaren als Er-
fahrungsbereich des Unbewussten: Das Auge als passives Organ erliegt einem
visuellen Geschehen, anstatt dieses im Sinne einer Beherrschung zu fassen. Es
unterwirft sich einem Blick, der hinter den Dingen (dem Schädel, wie der Sar-
dinenbüchse), hinter dem Schleier des Parrhasios” imaginiert wird. Dieser
Blick artikuliert das Begehren, welches das Verhältnis zwischen Sehendem und
Sichtbarem unterschwellig motiviert und es kraft der Entdeckung enerHin-
tergründigkeit des Sichtbaren (als des für das Sichtbare konstitutiven Bereichs
des Unsichtbaren) vertieft.
Was verbindet das Bildmodell Der Gesandten mit demjenigen, welches die
Legende über Parrhasios” Schleier illustriert, und worin differieren beide
grundsätzlich? Die Stimulierung der Neugier des Betrachters, in beiden Fäl-
len durch eine List der Kunst provoziert, setzt den Anspruch, etwas geboten
zu bekommen, frei. Der Blick wird motiviert, sich verleiten zu lassen. Das

39 Lacans Vorstellung, dass der über das Auge des Betrachters triumphierende Blick des Künstlers
sich im Schleier verbirgt, hat bereits Sabartes (1957), S. 43, vorformuliert. Sabartes vergleicht die
Gemälde Picassos mit Spinnengeweben, die zum Beutefang gemacht sind. Picasso observiere
uns, unsere Wahrnehmung seines Werkes, durch sein Werk hindurch. (Von der Kenntnis dieser
Beschreibung ist auszugehen, da Lacan der Leibarzt von Picasso und seinen Frauen war.)
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 49

Trachten des Blicks wird nach Lacan mit der souveränen Geste des Malers be-
antwortet, die er folgendermaßen phrasiert: ››Du möchtest sehen (regarder),
also siehe (vois) das<<. In dieser Formulierung artikuliert sich die Herausfor-
derung einer Spaltung des Blicks (le regard) vom Auge explizit als künstleri-
sches Programm. Die Verweigerung des Kunstwerks, dem Wunsch des Be-
trachters nachzugehen, bindet dessen Blick in eine andere Triebökonomie ein:
die des Begehrens, die ein Jenseits des Verlangten eröffnet. Der Anspruch, der,
wie Lacan andernorts feststellt, im Wesentlichen ein Verlangen nach Liebe ist,
geht zwangsläufig fehl: Lacan formuliert die Frustration des Verlangens nach
dem Blick des Anderen in einem Vorwurf, der die Spaltung von Auge und Blick
in der Begegnung bemängelt: »Niemals erblickst du mich dort (jamais tu ne
me regardes la), wo ich Dich sehe (ou je te vois)«.4° Direkt hieran anschließend
bestimmt er das Verhältnis von Maler und ››amateur« (Liebhaber, Dilettant)
als »Spiel des Trompe-l'oeil«.41 Die grundsätzliche Verfehlung in der Begeg-
nung, die eine Entsprechung des Wunsches (la demande) unmöglich werden
lässt, setzt das Begehren frei, sich in den Anderen zu versetzen, um sich unter
seinem Blick quasi aufgehoben zu wissen. Die Mangelerfahrung innerhalb der
Begegnung ist für das Kunsterlebnis bzw. Liebesverhältnis insofern konstitu-
tiv, als sie erst das Begehren nach dem Anderen auslöst. Als Effekt der Nicht-
beantwortung - der Opazität des Schleiers, hinter dem die Präsenz des Ande-
ren imaginiert wird - wendet sich die zentrale Frage »Che vuoi? (Was willst
Du) ?«”12 auf das fragende Subjekt zurück: »Que me-veut-il? (Was will er mir?)«
Die elementare, da das Verhältnis Bild-Betrachter strukturierende Frage im
Angesicht eines jeden Kunstwerks ist mit Lacan folgendermaßen zu formu-
lieren: »Was will es mir bedeuten?« Diese Unterstellung, dass das Kunstwerk
uns einzigartige Zeichen gibt, um sich uns exklusiv mitzuteilen, die wir nur
entziffern müssen, führt dazu, dass wir Symptome des Bedeutens an der Ober-
fläche der Repräsentation zu erforschen suchen. Mit dieser Investition - die
der Glaube an adressierte Sinnhaftigkeit ist, die wir zu realisieren auserwählt
sind, da wir uns ›besonders angesprochen< fühlen - sind wir bereits (unbewusst
oder nicht) in die elementaren Strukturen eines ›Liebesverhältnisses< mit dem
Kunstwerk eingebettet.“
Statt dem Wunsch des Betrachterblicks zu entsprechen, bedient der Künst-
ler das Auge, gibt diesem Nahrung (Il donne quelque cbose en pature ii l'oeil),
um denjenigen, dem das Bild präsentiert wird, (dem Venus-Prinzip folgend)
einzuladen, »seinen Blick in ihm niederzulegen, wie man Waffen niederlegt.«

4° Merleau-Ponty (1994), S. 95.


41 Ebd.
"12 Die italienische Formulierung (Que veut-tu?) erklärt sich als Referenz auf ein italienisches Mär-
chen, Der verliebte Teufel von Cazotte; vgl. Lacan (1994), S. 169.
43 Vgl. Deleuze (1993).
50 NICOLA SUTHOR

Etwas, wie Lacan folgert, ist weniger dem Blick als dem Auge gegeben, etwas,
das die Hingabe, die Hinterlegung (depôt) des Blicks nach sich zieht.“ Die-
sem spricht Lacan die ››pazifizierende, apollinische Wirkung (l ”ejfet pacifiant,
apollinien)« der Malerei zu, der die ››Blickzähmung (le dompte de regard)« pro-
duziert.

VII. Lacan liest Caillois

Die intentionale Außerkraftsetzung des Betrachterblicks erläutert Lacan mit


dem Automatismus der Mimikry, wie ihn Roger Caillois in seinem viel beach-
teten Buch Meduse et compagnie dargestellt hat. Caillois unterscheidet drei
Fälle von Mimikry: Verkleidung (travesti), Einschüchterung (intimidation)
und Tarnung (camouflage).45 Den Blick bestimmt Lacan als ›>camoufliert<<,
wenn er feststellt, dass in unserem Verhältnis zu den Dingen, insofern es über
den Weg der Anschauung konstituiert und in den Figuren der Repräsentati-
on eingerichtet ist, »etwas entgleitet, vorbeizieht, übergeht, (quelque cbose glis-
se, passe, se transmet) von Stufe zu Stufe, um dort zu einem bestimmten Grad
immer umgangen (éludé) zu sein.« Er schließt diese Anmerkung mit der Dar-
legung: »Es ist das, was sich Blick nennt«.46 Zur Klärung, inwiefern dieses Ent-
gleitende, dessen Erfassung das Auge beschäftigt, sich aus der Niederlage des
Blicks versteht, ziehen wir noch einmal die Bildmodelle Lacans heran. Wie
lässt sich deren jeweilige Trompe-l'oeil-Technik (Augentäuschung) vor der Fo-
lie von Caillois' Meduse et companie differenzieren?
Der Schleier des Parrhasios kann sinnvoll als Travestie bestimmt werden.
Wie das Tier, das in der Verkleidung sich für einen Vertreter einer anderen Art
ausgibt,47 so beruht auch die totale Täuschung des Schleierbildes in der voll-
ständigen Verstellung des Bildes als Vorhang. Die spezielle Neigung zur Ver-
schleierung (déguisement), welche die ››travestie« nach Caillois auszeichnet,
äußert sich in der Aneignung einer anderen, klar bestimmten Erscheinung. Im
Falle des antiken Kunstexempels bedarf sie sogar keiner substantiellen Ver-
stellung, schließlich wird die Leinwand hinter der Fiktion einer fingierten Fal-
tung eines Vorhangs aus Leinen verhüllt. (Die Beschämung des Blicks liegt
nicht zuletzt in diesem mimetischen Minimalaufwand.)

*14 Lacan (1973), S. 93.


4-9 Die Verknüpfung einer Malereitheorie mit der Tarnung als Strategie, sich im Feld des Sichtba-
ren zu invisibilisieren, wie sie Lacan im Anschluss an Caillois vertritt, bestätigt kurioserweise
eine kunsthistorisch interessante Begebenheit: Vertreter des Kubismus haben die ›Camouflage<
als Verteidigungsstrategie im ersten Weltkrieg entwickelt und auch ausgeführt.
11* Lacan (1973), S. 70.
46 Ebd. '
17 Caillois (1960), S. 77.
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 51

Holbeins Gemälde Die Gesandten hingegen ist der Mimikry-Strategie der


››intimidation« zuzuordnen. Der Schrecken, den der fliegende Schädel im un-
wägbaren Zwischen, das den Betrachter zum Bild auf Abstand hält, im Mo-
ment seiner Realisierung provoziert, findet bei der Einschüchterung seine
Entsprechung in der bodenlosen Darbietung von visuellen Elementen, die ei-
ne petrifizierende Wirkung (puissance médusante) auf sein Gegenüber aus-
üben. Diese durch bloße List erzielte Umkehrung der Inbesitznahme - der
als potentielle Beute Gefährdete verpuppt sich als Bedrohungsinstanz für den
Angreifer, kann ihn sogar in die Flucht schlagen - stimmt mit der Pointe in
Lacans Holbein-Lektüre überein. Hier führt das der Repräsentation Aufge-
setzte, das (um eine Entsprechung zu suchen) also im Sinne der Gestalthaf-
tigkeit nicht ›organisch< ausgebildet ist, zum Verlust der Blickherrschaft über
das Bild. Lacans Feststellung, dass der Blick nicht das Auge sei, außer unter
der fliegenden Form, in welcher ››Holbein die Frechheit hatte, mir meine wei-
che Uhr« zu zeigen, lässt sich mit dem Automatismus der Mimikry verbin-
den: Als ein zentrales Beispiel für die ››intimidation« führt Caillois die Au-
genbildung auf den Flügeln von Schmetterlingen an. Gaillois stellt heraus, dass
es sich bei den Ozellen nicht um tatsächliche Augen handelt, sondern um ››et-
was Glänzendes, Enormes, Unbewegliches, Kreisförmiges<<, das, von einem
Lebendigen getragen, ohne Auge zu sein, zu blicken scheint.43 Die faszinie-
rende Macht der Ozellen beruht auf einem spezifischen »Mechanismus der
Ausstellung«: Wie der Totenkopf im Gemälde Holbeins müssen sie in dem
Moment des Aufschlags (der Flügel bzw. des Umschlags der Perspektive)
plötzlich und unvermittelt aus dem Nichts erscheinen, um die Schlagkraft des
»bösen Blicks<< auszuspielen.49 Dieser optische Effekt, den Caillois bezeich-
nenderweise mit ››der Starre und befremdenden Perfektion der Figuren der
Geometrie« verbindet, produziert den paralysierenden Effekt eines ››hyper-
bolischen Schreckens« auf der Seite des Angreifers oder der Beute, der mit-
nichten durch eine ihm entsprechende Gefahr gerechtfertigt ist. Diese Bo-
denlosigkeit eines »Angesichts des Grauens« (le visage de l'épouvante), das
aus dem Unsichtbaren schlagartig auftaucht und den »Platz des Nichts« ein-
nimmt,5° provoziert eine »reine Bedrohung (menace pure)«, da sie nichts als
imaginär ist.
Die doppelbödige Strategie der ››travesti« und ››intimidation«, sich den Bli-
cken zu entziehen, indem man ein ›falsches< Spektakel aufführt, welches den
Mangel an Wehrhaftigkeit verbirgt, macht deutlich, dass Mimikry das gierige,
gefräßige Verlangen, das sich im Blick manifestiert, subvertiert. Der Blick des
Räubers dissimuliert sich ebenso in der Mimikry wie der Blick, den die Beu-

'111 Ebd., S. 120.


49 Ebd., S. 137.
511 Ebd., S. 138.
52 NICOLA SUTHOR

te zurückwirft. Die Mimikry bildet insofern eine Verteidigungsmaßnahme wie


auch eine perfide Angriffstaktik aus, die eine mögliche Protektion durch die
Dissimulierung der tatsächlichen Gefährlichkeit außer Kraft setzt. Ihr zent-
rales Ziel besteht also in der Aneignung der Blickfunktion und zwar durch das
Umgehen des Blicks. Dass dieser Automatismus jedoch kaum Wirkung zei-
tigt - wie Caillois und im Anschluss Lacan meinen, bietet die Mimikry nach-
weisbar keinen Schutz des Lebens - führt zum zentralen Argument für die
Verknüpfung der Mimikry mit der Malerei. Caillois folgert knapp: »[...]
schließlich hat man es mit Luxus zu tun«. Dementsprechend erklärt Lacan,
dass der Blickpunkt, der mich ins Bild setzt, etwas von der Ambiguität eines
Juwels habe.51
Lacans seltsame Formulierung des ››Fleckmachens«, die den Caillois-Exkurs
ankündigt, lässt sich vor der Folie des Mimikry-Automatismus erhellen. Die
Erstarrung, die Lacan im Angesicht des ››Blicks<< der Sardinendose erfährt, ist
einerseits dem »bösen Blick<< der Industrialisierung geschuldet, welcher sich
hier unerwartet im Objekt der Büchse inkarniert. Andererseits ist die Unbe-
weglichkeit, die er unter diesem unheimlichen, da anonymen Blick von Au-
ßen im Innersten des Dinges erleidet, die Voraussetzung dafür, dass er nicht
aus dem Bild fällt, sondern sich in das Szenario - obzwar als »Fleck des Bil-
des« - einfügt. Lacan benutzt hier, auf Caillois zurückgreifend, das Bild des
››Photographiertseins«,52 um den in der Erstarrung wirksamen ›Automatis-
mus< anzusprechen. Die Immobilität, die ihn mit dem Milieu, in welchem er
sich befand, vermengt hat, funktioniert Caillois zufolge als beste Form der
Blickabwehr. Doch wenn Lacan feststellt, dass er ››nur ein klein wenig Fleck
machte«, dann wird deutlich, dass die Invisibilisierung kraft der Mimikry nur
ansatzweise eingesetzt hat. Die Assimilation an das Umfeld, wie sie die Ca-
mouflage ausbildet, ist hier nicht so weit gediehen, dass eine Depersonalisie-
rung, eine Auflösung der Individualität in Kraft tritt. Vielmehr steht sie in der
Schwebe, wird suspekt.
Die Zielvorstellung, die sich Caillois zufolge mit der Camouflage als dritte
Mimikry-Ausprägung verbindet, ist die Suche nach Unsichtbarkeit, der Ver-
lust der eigenen Konturen, welche für einen gleichförmigen oder buntschecki-
gen Grund derart zugerichtet werden, dass sie sich nicht mehr abheben.53 Die
Aussage Caillois”, dass es für den Lebenden in diesem erstrebten Individuali-
tätsverlust immer darum geht, seine Gegenwart nicht erkennen zu lassen,54 ist

51 »Pour tout dire, le point de regard participe toujours de l'ambigu`ı`té du oyau«;Lacan (1973),
S. 90.
52 Caillois spricht vom »mimetisme morphologie« als einer ››veritable photographie«; Caillois
(2002), S. 102.
53 Ebd.
54 »Pour parvenir à cette fin, l'animal doit essentiellement perdre son individualité. [...] Il s'agit
toujours pour le vivant de ne pas décelcr sa présence«; ebd.
»TRIU1\/IPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 53

für das Verständnis Lacans wesentlich. Doch vor wem verbirgt Lacan im Mo-
ment der Erstarrung im Angesicht des Blicks, der den Automatismus des Fleck-
machens ausgelöst hat, seine Präsenz? Wer oder was wird in der Camouflage
abgeschirmt? Was verbirgt sich hinter dem Schleier?

VIII. Die Schleierhaftigkeit des Blicks

Lacan stellt die zentrale Frage »Was ist ein Bild (Qu'est qu”un tableau)?« aus-
gehend von der Problematisierung des verschleierten Sinns (le sens voilé), wie
er sich in der Traumbildung manifestiert. Wir sind im Traum (als Handlungs-
subjekt) derjenige, der nicht sieht. Wir bleiben, im Traumgeschehen verstrickt,
in Unkenntnis über das, was es jenseits der Erscheinung - als ››sens voilé« -
(im Blick offenkundig) zu geben scheint. Der Appell der Mitteilung (ça mon-
tre), der vom Traumgeschehen ausgeht, erklärt Lacan mit der Präsenz eines
Blicks, der in der Realität elidiert ist. Doch entzieht sich dieses »ça« gleichsam
hinter einem Farbschleier, hinter dem Auftauchen der ››taches«. Lacan be-
schreibt an anderer Stelle, in seinem Seminar XIV: La Logique du Fantasme,
das Verhältnis des Unbewussten zum Trauminhalt als Relation ››tache sur fond
(Fleck auf Grund)<<. Die Maskierung der Realität des Blicks - sie projiziert
diesen Blick jenseits des Schleiers, den sie ausbildet - ist in dem Bewusstsein
des ››Ich träume nur (je rêve seulement)« greifbar. Das Bewusstsein von der
Fiktion, dass »alles nur ein Traum ist«, ist jedoch, wie Lacan feststellt, noch
lange kein Bewusstsein der Fiktion -55 die Erkenntnis des Schleiers erfasst nur,
dass und nicht was es dahinter gibt.
Das Objekt, nur insofern es als trügerisch aufgewertet ist (das Illusorische,
das am Objekt aufscheint, ist ein surplus),51° kann, wie Lacan in seinem Semi-
nar La relation d 'objet (1956f.) darstellt, zum Träger der Liebe, d.h. zum Fe-
tischobjekt werden. Lacan bezieht sich explizit auf Freuds Drei Abhandlun-
gen zur Sexualtbeorie (1905) und Fetiscbismus (1927). Der Fetisch, der laut
Freud »etwas Verlorenes vor dem Untergang bewahrt«,57 ist ein Schutzkleid,
welches das Subjekt vor der Kastrationsangst abschirmt. Die Funktionsweise
des Fetischs, die Freud an die Arretierung der Erinnerung bei traumatischer
Amnesie gemahnt, lässt ››das Interesse unterwegs stehen bleiben«, und zwar
bezeichnenderweise an dem Punkt, wo sich die Enthüllung des traumatischen
Kerns ankündigt, ohne vollzogen zu sein. Lacan bezeichnet das Fetischobjekt
als ››ein Instrument, das den fundamentalen Grund der Angst, welcher den

55 Lacan (1973), S. 72.


51° »[...] en tant que valorisé comme illusoire«; Lacan (1994), S. 155 (La fonction du voile).
57 Freud, Fetiscbismus (2000), S. 383.
54 NICOLA SUTHOR

Weltbezug bestimmt, maskiert, ausschmückt.«58 Das Objekt schließt das Sub-


jekt in einen »gewissen Zirkel« ein. Lacan beschreibt diese Einschließung mit
dem Bild eines Walls (un rempart), in dessen Innenbereich das Subjekt vor sei-
nen eigenen Ängsten in Deckung gehen kann.59 Der letzte Schleier - Freud
führt das als Fetisch favorisierte Wäschestück an, das den Moment der Ent-
kleidung arretiert, ››den letzten, in dem man das Weib noch für phallisch hal-
ten durfte<< -5° ist in seiner raffiniertesten Form dubliert: Sowohl die Verleug-
nung als auch die Behauptung der Kastration - ››die wunschgerechte und die
realitätsgerechte Einstellung« - sind hier verschlungen. In seinen Drei Ab-
bandlungen reiht Freud die Schaulust, die den Fetischismus motiviert, unter
die »sexuellen Abirrungen<< ein. Die Perversion im Einhalten bei dieser »in-
termediären<< Sexualbeziehung, die Fixierung der Libido auf die Schaulust, lässt
laut Freud schließlich ››das Sexualobjekt sich zur Schönheit entwickeln«.51
Dieses suıjblus, das die Faszinationskraft des Objektes ausmacht, ist Effekt des
Wechselspiels ›fort-da<, das sich im Intermediären aufbaut. Das derart in der
Schwebe gehaltene Fetischobjekt ist zugleich absent wie präsent: es ist abwe-
send in der Anwesenheit, anwesend in seiner Abwesenheit.52
In der paradoxen Zwischenposition des ›fort-da< eröffnet der Fetisch die
Perspektive auf ein Jenseits (au-dela), die das Objekt übersteigt.“ Als Para-
digma dieses Interpositionsverhältnisses bestimmt Lacan ››den Schleier, den
Vorhang (le voile, le rideau)<<. Der synonyme Gebrauch macht deutlich, dass
kein struktureller Unterschied zwischen Schleier und Vorhang besteht. Laut
Lacan erlaubt der verschleiernde Vorhang, sich besser die fundamentale Situa-
tion der Liebe vorzustellen. Die hier aufgeworfene Frage »Was will er mir?<<
bringt die Erfahrung der grundsätzlichen Opazität des Anderen für uns zum
Ausdruck. Die Undurchsichtigkeit des Anderen produziert zwangsläufig die
Suggestion eines verschleierten, uns verborgenen Sinns, der das Liebesverhält-
nis motiviert. Auf dem Schleier verwirklicht sich das Uneinsehbare als Bild
(image), das das Abwesende anwesend sein lässt.
Lacan definiert in einem Schema die Funktion des Schleiers als diejenige In-
stanz, vermittels derer sich an das Objekt der Aspekt des Nichts knüpft. Fas-
ziniert von der ›schleierhaften< Oberfläche des Fetischs, dessen Funktion die
Verleugnung des fundamentalen Mangels ist (deshalb befindet sich im Dia-

55 »L'objet est instrument à masquer, ä parer, le fond fondamental d'angoissc [...]«; Lacan (1994),
S. 22 (Introduction).
59 »L'objet enferme le sujet dans un certain cercle, un rempart, à l'intérieur duquel celui-ce se met
ä l'abri de ses peurs«; ebd.
511 Freud, Fetischismus (2000), S. 386.
51 Freud, Die sexuellen Abirrungen (2000), S. 66.
52 Lacan (1994), S. 152.
55 Ebd., S. 155.
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 55

gramm das ››Objekt« vor dem ››Nichts<<), wird der Betrachter sich des fort im
da (d.h. der Kastrationsangst) latent gewahr, ohne es offenkundig zu erken-
nen: Die unseren Blick gefangennehmende Faszination am ›› Glanz« (dem Bei-
spiel Freuds folgend: auf der Nasenspitze) lässt uns vergessen, weshalb wir
ihm erliegen, da die Erinnerung arretiert und damit der Bezug zur symboli-
schen Ordnung eliminiert ist. Wir erfahren das durch eine fundamentale Ab-
wesenheit markierte Objekt als präsent in einem gesteigerten Sinne, da etwas
unterschwellig das Objekt durchwirkt, ihm eine Textur auferlegt. Die latente
Möglichkeit der Enthüllung einer verborgenen Wirklichkeit flicht sich unter-
schwellig als Faszinationsmoment in den Objektbezug ein. Die Entrückung
des Objekts durch seine illusionäre Überformung in der Fetischisierung - kraft
des für die Schleierbildung konstitutiven Wissens um die Illusion - eröffnet
ein Jenseits im Diesseits, das Bild im Objekt: Das Diesseitige, das Objekt, wird
ins Jenseits, hinter den Schleier versetzt. Das Begehren fixiert sich nicht auf
das Objekt, sondern auf das Bild, das sich auf dem Schleier abzeichnet und ein
zu enthüllendes Dahinter verspricht (das Objekt bereichert durch den ››sens
voilé«). Zugleich wird das Objekt ›erleichtert< durch den Aspekt des ››fort<<;
so kann der paradoxen Erfahrung in der Ästhetik zufolge der Betrachter das
Bild eines Gegenstandes genießen, der für sich genommen abstoßend wäre.
Diese Attraktion, die die Präsentation gegenüber ihrem repräsentativen Soll
ausspielt, erklärt sich mit Lacan gerade in der Befreiung, die die Fetischisie-
rung bedeutet: Es gibt einen Genuss am Verbot vorbei, das die Kastrations-
drohung bedeutet, gerade weil der Grund der Lust verschleiert ist. Die At-
traktion besteht also im latent virulenten Dahinter, das an der Oberfläche des
Objekts Blüten treibt, einen Fleckenschirm ausbildet, der fasziniert und
schließlich die Niederlage des Betrachterblicks verursacht.
Wie im Mimikry-Exkurs bereits dargestellt, verselbständigt sich die Projek-
tion, wird Überfluss, Luxus. Das ››Rieseln, Glitzern der Oberfläche (ruisselle-
ment d 'une surface)« nimmt den Blick des Betrachters gefangen. Die reale Ge-
fahr (gefressen bzw. traumatisiert zu werden) verschwindet hinter einem
imaginären Spektakel, das eine Attraktion auf uns ausübt, der wir scheinbar
willenlos, da quasi ›automatisch< (im Sinne der unmittelbaren Reaktion auf die
Mimikry) erlegen sind. Diese Überwältigung unseres Blicks setzt ein genui-
nes Genießen am Schein frei: das Auge weidet sich selbstvergessen an dem sur-
plus, das die Oberfläche schließt, den Schleier bildet.
Lacan erkennt den bezaubernden Wert der Malerei (la valeur de cbarme de
la peinture) in diesem Nähren des Auges, das dessen körperliche Funktion als
Wahrnehmungsorgan stimuliert. Die Milchigkeit des Lichts, das im Gegen-
zug zur geometrischen Ordnung der Repräsentation den visuellen Raum aus-
bildet, und zwar als Feld der ››vision<<, auf dem die Subjektivierung des Be-
trachters über die Unterwerfung des Blicks ausgetragen wird, verbindet Lacan
56 NICOLA SUTHOR

mit der Vorstellung des Appetits des Auges (cet appétit de l'oeil), der sich an
den ››taches<< sättigt, die der Blick hinterlassen hat, um hinter ihnen zu ver-
schwinden. Lacans Wortwahl - statt vom ››Lichtkegel (le cône lumineux)«
spricht er vom ››milchigen Kegel (cône laiteux) - rückt das Bild in strukturel-
le Beziehung zur Mutterbrust. Diese Vorstellung, die schließlich Jean Luc
Nancy weiter treiben wird,54 erklärt, inwieweit im Feld der Anschauung sich
die imaginäre Ordnung in die symbolische verknotet, inwieweit sich in die
Repräsentation eine Präsenz als Gegensichtbarkeit einschreibt, in welcher sich
das Begehren verschleiert, erklärt die sinnlich erfahrbare Attraktion des Bil-
des, die sich in der unmittelbaren Ergriffenheit des Betrachters im Akt der An-
schauung äußert.

IX. Der Triumph, über das Auge, des Blicks

Die Blickzähmung, die die Hingabe des Betrachterblicks provoziert, passiert


über die Täuschung des Auges. Indem das Bild statt dem Wunsch des Betrach-
ters zu entsprechen, dessen Hinblick auf etwas außer Kraft setzt, bringt es das
Auge als vom Betrachterblick losgelöste Instanz ins Spiel. Die Zähmung des
Betrachterblicks (le dompte de regard), die daraus resultiert, dass etwas, wie
Lacan folgert, weniger dem Blick als dem Auge gegeben ist, etwas, das die Hin-
gabe, die Hinterlegung (depôt) des Blicks nach sich zieht,55 löst das Auge vom
Blick. Dieser Triumph über den Blick des Betrachters kraft der Fesselung sei-
nes Auges produziert schließlich die Spaltung des Augen-Blicks. Der inten-
tionale, das Feld der Anschauung beherrschen wollende Blick, dem mit der
Herstellung eines geometrischen Raums entsprochen wird, geht fehl. Der Be-
trachter verliert sich in der Unwägbarkeit der malerischen Oberfläche, die
durch keine Perspektivkonstruktion, die seinen Blick arretiert und damit sta-
bilisiert, ausgemessen ist. Das Auge, das im Bild frei ›vagabundiert<, fasziniert
das schillernde Kolorit. Es fühlt sich ›angesprochen< von dem Glanz des Lichts,
in den das repräsentative Bild abgetaucht ist und aus dem heraus sich eine über-
raschende Figuration verspricht. Statt also einen eigenen Anspruch an das Bild
heranzutragen, ist der Betrachter selbst der Angesprochene.

54 Das Bild bietet sich Nancy (1996), S. 38, zufolge gleichsam als (Mutter-)Brust an: ››La peinture
montre les seins et en les montrant elle se montre aussi elle-même: la tache de couleur oü le con-
tour s'achève et se perd. Mais elle montre encore la monstration des seins, la femme présentant
sa gorge, et jusqu'ä dépouiller le moindre prétexte mythologique et nourricier pour montrer
seulement que le modèle montre ses seins à la demande du peintre - Raphael, Tintoret, Corot,
Manet, Gauguin - ne cherchant pas d'autre titre que 'la femme aux seins nus' - mais cela même
est encore un prétexte le plus dissimulé, car ce titre est lui-même comme une auréole de gloire
de leur art, l'exposition du relief essentiel et l°image immobile de la mobilité du pinceau«.
55 Lacan (1973), S. 93.
››TRIUMPH, ÜBER DAS AUGE, DES BLICKS« 57

Die Doppeldeutigkeit der lacanschen Formulierung ››Triumph, über das


Auge, des Blicks (Triompbe, sur l ”oeil, du regard)« lässt beide Lesarten des Ge-
nitivs als subjectivus und objectivus zu. Die Kommata, die den ››Triumph« vom
››Blick« trennen, markieren in der Syntax der Formulierung nachdrücklich die
Abspaltung des Blicks vom Auge. Die Fütterung des Auges, das den Blick ent-
machtet, löst eine Regression aus: die imaginäre Ordnung durchkreuzt die
symbolische. Der Betrachterblick als die das Feld der Anschauung bestimmen-
de Instanz geht ins Leere. Als hierin abgetaucht und auf den Grund gegangen
schlägt er schließlich überraschend als subversive Instanz zurück: Aus dem
Hinterhalt der malerischen Oberfläche bemächtigt er sich als dissoziierter, frei
flottierender Blick des Auges, schlägt dieses in Bann, indem er die Hintergrün-
digkeit des Sichtbaren offenbart: die Subjektivierung des Blicks durch die ei-
gene Begehrenslogik, die die Verschleierung auslöst.

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58 NICOLA SUTHOR

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Janette Zwingenberger, Holbein der Jüngere, London 1990.

Abbildungsnachweis

Abb. 1: Wiedergabe mit freundlicher Erlaubnis der Künstlerin.

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